Protokoll:
18164

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 18

  • date_rangeSitzungsnummer: 164

  • date_rangeDatum: 14. April 2016

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:01 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 21:56 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 18/164 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 164. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 14. April 2016 Inhalt: Würdigung von Bundesminister a. D. Hans-Dietrich Genscher und Bundesminister a. D. Dr. Guido Westerwelle . . . . . . . . . . . . . 16071 A Nachruf auf den Literaturnobelpreisträger Imre Kertesz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16072 B Gedenken an die Opfer der Anschläge in Brüs- sel und Lahore . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16072 B Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16072 C Tagesordnungspunkt 3: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes Drucksachen 18/6988, 18/8102 . . . . . . . . . . . 16073 B in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 2: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Verkehr und digitale Infrastruk- tur zu dem Antrag der Abgeordneten Stephan Kühn (Dresden), Tabea Rößner, Matthias Gastel, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Fluglärm wirksam reduzieren Drucksachen 18/4331, 18/5247 . . . . . . . . . . . 16073 C Alexander Dobrindt, Bundesminister BMVI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16073 C Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 16075 C Arno Klare (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16076 C Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16077 D Peter Wichtel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 16079 A Sabine Leidig (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 16081 B Andreas Rimkus (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16082 A Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16083 B Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 16084 B Ulli Nissen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16085 D Kirsten Lühmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 16086 C Tagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Caren Lay, Herbert Behrens, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Bun- desweiten Aktionsplan für eine gemeinnüt- zige Wohnungswirtschaft auflegen Drucksache 18/7415 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16088 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 3: Antrag der Abgeordneten Christian Kühn (Tü- bingen), Britta Haßelmann, Sven-Christian Kindler, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die neue Wohnungsgemeinnützigkeit – Fair, gut und günstig wohnen Drucksache 18/8081 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16088 A Heidrun Bluhm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 16088 A Sylvia Jörrißen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 16089 D Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2016II Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16091 C Florian Pronold, Parl. Staatssekretär BMUB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16092 D Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16093 B Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU) . . . . 16094 C Caren Lay (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 16096 C Klaus Mindrup (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16097 B Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . 16098 B Dr. Anja Weisgerber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 16099 C Claudia Tausend (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16101 B Christian Haase (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 16102 A Detlev Pilger (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16103 D Michael Groß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16105 A Tagesordnungspunkt 5: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der beruflichen Weiterbildung und des Versicherungsschutzes in der Ar- beitslosenversicherung (Arbeitslosenversi- cherungsschutz- und Weiterbildungsstär- kungsgesetz – AWStG) Drucksache 18/8042 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16105 D Anette Kramme, Parl. Staatssekretärin BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16106 A Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16107 A Karl Schiewerling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 16108 C Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16110 A Michael Gerdes (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16111 D Albert Weiler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 16113 A Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16114 A Jana Schimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 16115 A Stephan Stracke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 16116 A Tagesordnungspunkt 24: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- ten Gesetzes zur Änderung des Buch- preisbindungsgesetzes Drucksache 18/8043 . . . . . . . . . . . . . . . . . 16117 B b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- ten Gesetzes über die weitere Bereini- gung von Bundesrecht Drucksache 18/7989 . . . . . . . . . . . . . . . . . 16117 B c) Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig, Ralph Lenkert, Caren Lay, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Drohende Streckenstilllegungen verhin- dern – Regionalisierungsmittel erhöhen Drucksache 18/8074 . . . . . . . . . . . . . . . . . 16117 C d) Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig, Herbert Behrens, Caren Lay, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Bundesverkehrswegeplan 2030 zurück- ziehen – Klimaschutz- und sozialökolo- gische Nachhaltigkeitsziele umsetzen Drucksache 18/8075 . . . . . . . . . . . . . . . . . 16117 C Zusatztagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Peter Meiwald, Kordula Schulz-Asche, Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gewässer vor Medikamentenrückständen schützen Drucksache 18/8082 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16117 D Tagesordnungspunkt 25: a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD und BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- wurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes Drucksachen 18/7873, 18/8104 . . . . . . . . . 16118 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Menschenrechte und humani- täre Hilfe zu dem Antrag der Abgeordne- ten Kordula Schulz-Asche, Tom Koenigs, Peter Meiwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten Stefan Liebich, Wolfgang Gehrcke, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Der Völkermord in Ruanda und die deutsche Politik 1990 bis 1994 – Unabhängige historische Aufarbeitung Drucksachen 18/4811, 18/7905 . . . . . . . . . 16118 B Zusatztagesordnungspunkt 5: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Verkehr und digitale Infrastruktur: zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung gemeinsamer Vorschriften für die Zivilluftfahrt und zur Errichtung einer Agentur der Europäischen Union für Flugs- icherheit sowie zur Aufhebung der Verord- nung (EG) Nr. 216/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates – KOM(2015) 613 endg.; Ratsdok. 14991/15 – hier: Stellung- nahme gegenüber der Bundesregierung ge- mäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes Drucksachen 18/7422 Nr. A.22, 18/8103 16118 C Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2016 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2016 III Zusatztagesordnungspunkt 6: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Frakti- on BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Haltung der Bundesregierung zu den gesundheits- gefährdenden Abgasbelastungen in vielen deutschen Städten Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16118 D Marie-Luise Dött (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 16119 C Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 16120 C Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin BMUB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16121 C Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16123 B Thomas Lutze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 16124 D Ulli Nissen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16125 D Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16126 D Karsten Möring (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 16128 A Arno Klare (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16129 B Artur Auernhammer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 16130 B Detlev Pilger (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16131 B Oliver Wittke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 16132 C Tagesordnungspunkt 6: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einstufung der Demokratischen Volksre- publik Algerien, des Königreichs Marokko und der Tunesischen Republik als sichere Herkunftsstaaten Drucksache 18/8039 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16134 B Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16134 C Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 16135 D Sebastian Hartmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 16136 D Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 16138 B Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16139 C Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . 16140 D Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16141 B Nina Warken (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 16142 B Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . 16142 D Tagesordnungspunkt 7: a) Antrag der Abgeordneten Renate Künast, Uwe Kekeritz, Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Kleidung fair produzieren – EU-Richtlinie für Trans- parenz- und Sorgfaltspflichten in der Textilproduktion schaffen Drucksache 18/7881 . . . . . . . . . . . . . . . . . 16143 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu dem Antrag der Abgeordneten Niema Movassat, Caren Lay, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Unternehmen in die Ver- antwortung nehmen – Menschenrechts- schutz gesetzlich regeln Drucksachen 18/5203, 18/6181 . . . . . . . . . 16144 A Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16144 A Mechthild Heil (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 16145 C Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 16147 B Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 16147 D Elvira Drobinski-Weiß (SPD) . . . . . . . . . . . . . 16148 D Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär BMZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16149 C Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . 16150 D Klaus Barthel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16151 B Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . 16152 B Jan Metzler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 16153 B Tagesordnungspunkt 8: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung von Korruption im Gesundheitswesen Drucksachen 18/6446, 18/8106 . . . . . . . . . 16154 B b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucher- schutz zu dem Antrag der Abgeordne- ten Kathrin Vogler, Sabine Zimmermann (Zwickau), Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LIN- KE: Korruption im Gesundheitswesen effektiv bekämpfen Drucksachen 18/5452, 18/8106 . . . . . . . . . 16154 C Christian Lange, Parl. Staatssekretär BMJV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16154 D Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 16155 C Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU) . . . . . . . . 16156 C Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16158 C Dirk Wiese (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16160 A Alexander Hoffmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . 16160 D Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2016IV Dr. Edgar Franke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 16161 C Rudolf Henke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 16162 C Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . 16164 A Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16165 D Tagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Harald Petzold (Havelland), Sigrid Hupach, Nicole Gohlke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Filmförderung – Impulse für mehr Innovation statt Kommerz, für soziale und Gendergerechtigkeit und kulturelle Vielfalt Drucksache 18/8073 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16164 B Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE) . . . 16164 B Marco Wanderwitz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 16168 B Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16170 C Burkhard Blienert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 16171 B Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU) . . . . . . . 16172 D Hiltrud Lotze (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16174 A Tagesordnungspunkt 10: Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streit- kräfte an der Militärmission der Europäi- schen Union als Beitrag zur Ausbildung der malischen Streitkräfte (EUTM Mali) auf Grundlage des Ersuchens der Regierung von Mali an die EU sowie der Beschlüs- se des Rates der EU 2013/87/GASP vom 18. Februar 2013, zuletzt geändert mit dem Beschluss des Rates der EU 2016/446/GASP vom 23. März 2016 in Verbindung mit den Resolutionen des Sicherheitsrates der Ver- einten Nationen 2071 (2012) vom 12. Okto- ber 2012 und folgender Resolutionen, zu- letzt 2227 (2015) vom 29. Juni 2015 Drucksache 18/8090 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16175 B Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16175 C Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 16176 C Michael Roth, Staatsminister AA . . . . . . . . . . 16177 C Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16179 A Jürgen Hardt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 16180 A Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 16181 A Tagesordnungspunkt 11: Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, Kordula Schulz-Asche, Claudia Roth (Augs- burg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zivilgesell- schaftliches Engagement braucht Raum – Anti-NGO-Gesetze stoppen, Menschen- rechtsverteidiger stärken Drucksache 18/7908 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16182 A Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16182 A Dr. Bernd Fabritius (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 16182 D Annette Groth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 16184 B Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16185 A Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der durch die Europäische Union geführten Operation EU NAVFOR Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias auf Grundlage des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen (VN) von 1982 und der Resolu- tionen 1814 (2008) vom 15. Mai 2008 und weiterer Resolutionen, zuletzt 2246 (2015) vom 10. November 2015 und nachfolgender Resolutionen des Sicherheitsrates der VN in Verbindung mit der Gemeinsamen Akti- on 2008/851/GASP des Rates der Europäi- schen Union (EU) vom 10. November 2008, dem Beschluss 2009/907/GASP des Rates der EU vom 8. Dezember 2009 und weiterer Beschlüsse, zuletzt dem Beschluss 2014/827/ GASP vom 21. November 2014 Drucksache 18/8091 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16186 D Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16186 D Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE) . . . . . . . . 16188 A Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16189 A Doris Wagner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16190 A Thorsten Frei (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 16191 A Dirk Vöpel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16192 B Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 16193 A Tagesordnungspunkt 13: Antrag der Abgeordneten Halina Wawzyniak, Frank Tempel, Ulla Jelpke, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Netz- neutralität im Rahmen der Vorgaben der EU-Verordnung gesetzlich absichern Drucksache 18/6876 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16193 D Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2016 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2016 V Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 16194 A Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 16194 D Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16195 D Klaus Barthel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16196 D Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . 16197 C Thomas Jarzombek (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 16198 C Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16199 B Tagesordnungspunkt 14: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Novellierung von Fi- nanzmarktvorschriften auf Grund europä- ischer Rechtsakte (Erstes Finanzmarktno- vellierungsgesetz – 1. FiMaNoG) Drucksachen 18/7482, 18/7826, 18/8099 . . . . 16200 D Matthias Hauer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 16201 A Susanna Karawanskij (DIE LINKE) . . . . . . . . 16202 C Christian Petry (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16203 C Sarah Ryglewski (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 16204 C Tagesordnungspunkt 15: Antrag der Abgeordneten Kordula Schulz- Asche, Uwe Kekeritz, Ulle Schauws, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Die AIDS-Epidemie in Deutschland und weltweit bis 2030 beenden Drucksache 18/6775 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16205 C Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16205 C Emmi Zeulner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 16206 C Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE) . . . 16207 C Mechthild Rawert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 16208 B Dr. Georg Kippels (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 16209 B Tagesordnungspunkt 16: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der Investmentbesteuerung (Inves- tmentsteuerreformgesetz – InvStRefG) Drucksache 18/8045 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16210 C Dr. Michael Meister, Parl. Staatssekretär BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16210 C Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 16211 D Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . . 16212 C Fritz Güntzler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 16213 D Tagesordnungspunkt 17: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Geset- zes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften Drucksache 18/8034 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16215 C Tagesordnungspunkt 18: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aktualisierung der Strukturreform des Ge- bührenrechts des Bundes Drucksache 18/7988 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16215 C Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16215 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . . 16217 A Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Ursula Groden-Kranich, Dr. Heribert Hirte, Jan Metzler, Karsten Möring und Elisabeth Winkelmeier-Becker (alle CDU/CSU) zu der Abstimmung über den von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurf eines Fünfzehn- ten Gesetzes zur Änderung des Luftverkehrs- gesetzes (Tagesordnungspunkt 3) . . . . . . . . . . 16217 C Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) zu der Ab- stimmung über den von den Fraktionen CDU/ CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (Tagesord- nungspunkt 25 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16218 A Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Harald Weinberg (DIE LINKE) zu der Ab- stimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Be- kämpfung von Korruption im Gesundheitswe- sen (Tagesordnungspunkt 8 a) . . . . . . . . . . . . 16218 C Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Ersten Gesetzes zur Novellierung von Finanzmarktvorschriften auf Grund euro- päischer Rechtsakte (Erstes Finanzmarktno- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2016VI vellierungsgesetz – 1. FiMaNoG) (Tagesord- nungspunkt 14) Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16218 D Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Reform der Invest- mentbesteuerung (Investmentsteuerreformge- setz – InvStRefG) (Tagesordnungspunkt 16) Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16219 D Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschrif- ten (Tagesordnungspunkt 17) Michael Hennrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 16220 D Hubert Hüppe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 16222 A Martina Stamm-Fibich (SPD) . . . . . . . . . . . . . 16223 C Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 16224 D Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16225 C Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aktualisierung der Strukturreform des Gebührenrechts des Bundes (Tagesordnungspunkt 18) Oswin Veith (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 16226 B Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 16227 A Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 16227 D Frank Tempel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 16228 A Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16228 D (A) (C) (B) (D) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2016 16071 164. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 14. April 2016 Beginn: 9.01 Uhr
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    1) Anlage 7 2) Anlage 8 Fritz Güntzler (A) (C) (B) (D) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2016 16217 Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.04.2016 Bär, Dorothee CDU/CSU 14.04.2016 Barthle, Norbert CDU/CSU 14.04.2016 Beck (Köln), Volker BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.04.2016 Ernstberger, Petra SPD 14.04.2016 Gehrcke, Wolfgang DIE LINKE 14.04.2016 Huber, Charles M. CDU/CSU 14.04.2016 Jung, Andreas CDU/CSU 14.04.2016 Jung, Dr. Franz Josef CDU/CSU 14.04.2016 Kaster, Bernhard CDU/CSU 14.04.2016 Koenigs, Tom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.04.2016 Kotting-Uhl, Sylvia BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.04.2016 Kühn (Tübingen), Christian BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.04.2016 Launert, Dr. Silke CDU/CSU 14.04.2016 Lerchenfeld, Philipp Graf CDU/CSU 14.04.2016 Maisch, Nicole BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.04.2016 Müller-Gemmeke, Beate BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.04.2016 Müntefering, Michelle SPD 14.04.2016 Nietan, Dietmar SPD 14.04.2016 Pfeiffer, Dr. Joachim CDU/CSU 14.04.2016 Schmitt, Ronja CDU/CSU 14.04.2016 Steinbach, Erika CDU/CSU 14.04.2016 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Thönnes, Franz SPD 14.04.2016 Veit, Rüdiger SPD 14.04.2016 Wicklein, Andrea SPD 14.04.2016 Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Ursula Groden-Kranich, Dr. Heribert Hirte, Jan Metzler, Karsten Möring und Elisabeth Winkelmeier-Becker (alle CDU/ CSU) zu der Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurf eines Fünf- zehnten Gesetzes zur Änderung des Luftverkehrs- gesetzes (Tagesordnungspunkt 3) Dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Luftver- kehrsgesetzes stimmen wir zu. Mit dem heutigen Beschluss stärken wir die Öffent- lichkeitsbeteiligung beim Fluglärmschutz. Das Bundes- verwaltungsgericht hatte im Juli 2012 klargestellt, dass die Umweltverträglichkeitsprüfung bei der Planfeststel- lung eines Flughafens den gesamten Einwirkungsbereich des Flughafens erfassen muss. Dazu gehören auch künf- tig mögliche Änderungen der Flugrouten, die sich auf bis dahin nicht betroffene Bereiche um einen Flughafen aus- wirken können. Die Gesetzesänderung stellt sicher, dass die Prüfung der Umweltauswirkungen eines Flughafens auch die Bereiche in Betracht zieht, in denen An- und Abflugverkehr nicht ausgeschlossen werden kann. Über die Konsultations- und Anhörungsverfahren bei der Um- weltverträglichkeitsprüfung werden auch die Interessen der Bevölkerung stärker in die Planungen von Flughäfen und Flugrouten eingebunden. Bei diesen rechtlichen Anpassungen dürfen wir es allerdings nicht bewenden lassen. Die öffentliche Anhö- rung im federführenden Ausschuss für Verkehr und digi- tale Infrastruktur hat klar gezeigt, dass noch Handlungs- spielraum zur weiteren Lärmentlastung bei Anwohnern von Flughäfen besteht. Dies betrifft insbesondere die gültigen Grenzwerte im Fluglärmschutzgesetz. Gleichzeitig verweisen wir auf die Vereinbarung im Koalitionsvertrag, wonach wir noch in dieser Wahlperio- de eine stärkere Differenzierung nach Flugzeugtypen und eine deutlichere Spreizung der Tag- und Nachttarife bei lärmabhängigen Flughafenentgelten rechtlich verankern werden. Aspekte des Fluglärms und der Lärmentlastung bei Anwohnern von Flughäfen sollten sich auch an zen- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 201616218 (A) (C) (B) (D) traler Stelle im nationalen Luftverkehrskonzept der Bun- desregierung widerspiegeln. Hier besteht noch dringen- der Handlungsbedarf. Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Dr. Reinhard Brandl (CDU/ CSU) zu der Abstimmung über den von den Frak- tionen CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Geset- zes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (Tages- ordnungspunkt 25 a) Die Zahl der deutschen Bevölkerung im Wahlkreis 217 Ingolstadt (künftig 216) überschreitet zum Stichtag 30. Juni 2015 die durchschnittliche Zahl je Wahlkreis um 27,6 Prozent. Die maximal zulässige Abweichung von ±25 Prozent wird damit überschritten, und eine Neuein- teilung ist zwingend erforderlich. Das Gesetz zur Ände- rung des Bundeswahlgesetzes folgt dem Vorschlag der Wahlkreiskommission und ordnet die zum Landkreis Neuburg-Schrobenhausen gehörende Stadt Schroben- hausen sowie die Verwaltungsgemeinschaft Schroben- hausen, bestehend aus den Gemeinden Berg im Gau, Brunnen, Gachenbach, Langenmosen und Waidhofen, dem Wahlkreis 215 Freising (künftig 214) zu. Der Ab- weichungswert des Wahlkreises Ingolstadt kann dadurch auf 18,0 Prozent gesenkt werden. Der Abweichungswert des Wahlkreises Freising beträgt danach 15,9 Prozent. Mit Blick auf ganz Oberbayern führt diese Lösung, in Kombination mit der Bildung eines neuen Wahlkreises im Südwesten Oberbayerns, nur zu geringen Veränderun- gen in den bestehenden Wahlkreisen und trägt damit dem Prinzip der Wahlkreiskontinuität Rechnung. Ich trage die Änderung des Bundeswahlgesetzes deshalb mit. Aus Sicht des Landkreises Neuburg-Schrobenhausen darf dies aber kein Dauerzustand bleiben. Der Landkreis Neuburg-Schrobenhausen wurde erst bei der Gebietsre- form 1972 neu gebildet. Bis heute bemüht sich die Kom- munalpolitik, die Einheit des Landkreises zwischen den beiden Mittelzentren Neuburg und Schrobenhausen her- zustellen. Eine Trennung des Landkreises in zwei Wahl- kreise ist vor diesem Hintergrund absolut kontraproduk- tiv. Der Landkreis Neuburg-Schrobenhausen trägt bei dieser Lösung die Last dafür, dass andere Wahlkreise in Oberbayern nicht neu zusammengesetzt werden müssen. Es wäre heute schon möglich, in der Region 10 aus den Landkreisen Neuburg-Schrobenhausen, Pfaffenhofen an der Ilm, Eichstätt sowie der Stadt Ingolstadt zwei Wahl- kreise zu bilden. Eine solche Lösung würde auch dem starken Wachstum der Region gerecht werden. Aufgrund der langfristigen Bevölkerungsentwicklung ist es absehbar, dass Oberbayern bei einer der zukünfti- gen Bundestagswahlen einen weiteren Wahlkreis erhalten wird. Ich bitte den dann amtierenden Deutschen Bundes- tag, die Einheit des Landkreises Neuburg-Schrobenhau- sen im Wahlkreis wiederherzustellen und erwarte in die- sem Fall von den möglicherweise negativ betroffenen Landkreisen in Oberbayern die gleiche Solidarität, die mit diesem Gesetz jetzt dem Landkreis Neuburg-Schro- benhausen abverlangt wird. Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Harald Weinberg (DIE LINKE) zu der Abstimmung über den von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung von Korruption im Gesundheitswe- sen (Tagesordnungspunkt 8 a) Ein Gesetz, welches Korruption im Gesundheitssys- tem und speziell bei der Ärzteschaft regelt, ist spätestens seit dem Urteil des Bundesgerichtshofs 2012 überfällig. Denn das Gericht stellte fest, dass mit den geltenden Ge- setzen Ärztinnen und Ärzte nicht wegen Bestechlichkeit verurteilt werden können. Das wird der herausragenden Verantwortung und der vertrauensvollen Rolle dieser Be- rufsgruppe in der Gesellschaft nicht gerecht. Der nun vorliegende Gesetzentwurf ist aber leider nicht zustimmungsfähig. Denn er schützt nicht die Pati- entinnen und Patienten, sondern stellt nur Regeln gegen unlauteren Wettbewerb im Gesundheitssystem auf. So soll es Ärztinnen und Ärzten verboten sein, Vorteile von einzelnen Wettbewerbern entgegenzunehmen und dann diese mit ihrem Verordnungsverhalten zu unterstützen. Wenn es aber gar keine Wettbewerber gibt, sondern nur einen Monopolisten, zum Beispiel weil auf das Medika- ment noch Patentschutz gilt oder weil es keine Behand- lungsalternative gibt, dann bleibt Vorteilsnahme weiter- hin erlaubt. Hersteller und Anbieter haben damit Anreize, weiterhin auf die Ärzteschaft zuzugehen und Einfluss zu nehmen. Ärztinnen und Ärzte haben weiterhin den An- reiz, bei ihren Verordnungen großzügig zu sein und auch den Patientinnen und Patienten eine Therapie angedeihen zu lassen, die eigentlich keine brauchen. Wir fordern als Linke, dass Vorteilsnahme und Be- stechlichkeit bei Ausübung jedes Berufes unter Strafe gestellt wird, sei es bei Ärztinnen und Ärzten oder an- deren Berufen. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Novellierung von Finanzmarktvorschriften auf Grund europäischer Rechtsakte (Erstes Finanz- marktnovellierungsgesetz – 1. FiMaNoG) (Tages- ordnungspunkt 14) Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): „Rigorose und abschreckende Sanktionen, die auch effektiv durchgesetzt werden“, so lautete die Ziel- vorgabe, welche die EU-Expertengruppe um Jaques de Larosière 2009 unter dem Eindruck der Finanzkrise ver- fasste. Finanzmarktregulierung und -aufsicht sollten ge- stärkt, Sanktionssysteme vereinheitlicht und Bußgeldan- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2016 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2016 16219 (A) (C) (B) (D) drohungen deutlich erhöht werden. Diese Erkenntnisse mündeten in der Marktmissbrauchsrichtlinie, um deren Umsetzung es heute geht. Bei dieser Umsetzung zeigt sich: Genau wie beim Ak- tionismus in Folge der Panama Papiere, genau wie bei der jahrelang verschleppten Geldwäschebekämpfung, genau wie beim Abschlussprüfungsreformgesetz: Der Bundesfinanzminister geht die schwierigen systemischen Probleme im Finanzsystem erst auf äußeren Druck hin an und setzt nur das in nationales Recht um, wozu Deutsch- land international verpflichtet ist. So sind beispielsweise die Anpassungen der Vor- schriften im Bereich Marktmissbrauch an neue techno- logische Entwicklungen wie den Hochfrequenzhandel notwendig. Auch die Erweiterung des Regelungsregimes über Eigengeschäfte von Führungskräften – Directors’ Dealings –, beispielsweise auf Anleihen des Unterneh- mens, sowie die Einführung von Basisinformationsblät- tern für verpackte Anlageprodukte für Kleinanleger und Versicherungsanlageprodukte sind zu begrüßen. Aber wann immer es zulässig ist, beschränkt sich Schäuble da- rauf, bestenfalls den Mindestanforderungen gerecht zu werden, und vereitelt so eine effektive Umsetzung der Marktmissbrauchsrichtlinie. Warum nutzt eigentlich die Bundesregierung nicht die Möglichkeiten, die die Richtlinie bieten würde, um in Deutschland scharfe Sanktionen einzuführen und wirk- sam durchzusetzen? Nach der Richtlinie genügt bereits das Geben falscher oder irreführender Signale für eine Strafbarkeit wegen Marktmanipulation. Der Regierungs- entwurf sieht dagegen vor, dass es zu einer Einwirkung auf den Marktpreis gekommen sein muss. Das heißt, die Ermittlungsbehörden müssen neben einer Manipulations- handlung zusätzlich den oft schwierigen Nachweis eines Manipulationserfolges erbringen. Eine Versuchsstrafbar- keit soll zwar endlich eingeführt werden, sich aber auf bestimmte Manipulationshandlungen beschränken. Ich frage mich: Warum sieht der Gesetzentwurf bezüglich Waren eine generelle Strafbarkeit vor, im Falle von vor- sätzlichen Fehlinformationen bei Aktien aber nur, wenn es wirklich die Erlangung eines großen Vermögensvor- teils gegeben hat? Den großen Manipulationsskandalen der jüngeren Zeit ist gemein, dass sie, selbst wenn deutsche Wirtschafts- oder Finanzmarktunternehmen betroffen waren, nicht in Deutschland aufgedeckt wurden. Beim Libor-Skan- dal waren es die britischen und amerikanischen, beim Volkswagen-Skandal nur die amerikanischen Behörden. In Anbetracht dieses offensichtlich bestehenden großen Handlungsbedarfs in Deutschland kann es nicht ausrei- chen, nur die Mindestanforderungen einer EU-Richtlinie zum Marktmissbrauch in das deutsche Recht umzuset- zen. Stattdessen muss man gerade die deutschen Proble- me endlich angehen. Dazu müssen die Ziele, die auf EU-Ebene zum Richt- linienerlass geführt haben, auch in Deutschland beherzigt werden. Das zulässige Höchstmaß für Geldbußen gegen Unternehmen muss ganz massiv heraufgestuft werden. Bis 2013 lag es nach dem Gesetz über Ordnungswidrig- keiten selbst bei vorsätzlichen Taten bei nicht mehr als 1 Million Euro; für leichtfertiges Handeln durften so- gar nur 500 000 Euro verhängt werden. Heute liegt es auf Druck der Organisation für wirtschaftliche Zusam- menarbeit und Entwicklung im Falle von vorsätzlichen Straftaten bei immerhin 10 Millionen Euro. Aber wie abschreckend wirkt eine Höchststrafe von 10 Millionen Euro wohl für Unternehmen wie die Deutsche Bank mit über 1,5 Billionen Euro Bilanzsumme und 30 Milliarden Euro Umsatz? Die Kosten selbst für vorsätzliche Straf- taten lassen sich da als Rundungsdifferenzen einpreisen. Zudem darf individuelle Verantwortung nicht in Un- ternehmensstrukturen verloren gehen. Das Spiel des absichtlichen Nichtwissens von Vorgesetzten und Ent- scheidungsträgern, das regelmäßig vor strafrechtlichen Verurteilungen schützt, muss unterbunden werden. Im britischen Parlament sind hierfür überzeugende Vor- schläge gemacht worden. Für die einzelnen Unterneh- mensbereiche soll zum Beispiel jeweils ein Vorstand auch strafrechtlich verantwortlich sein und die Beweis- last für aktive Compliance tragen. Ich frage mich: Wa- rum sehen wir so etwas hier im Bundestag nicht als Ge- setzesinitiative von Ihnen? Gleichzeitig müssen aufrichtige, ehrliche Mitarbeiter, die schmutzige Geschäfte von Unternehmen öffentlich machen, geschützt werden. Die Bundesanstalt für Fi- nanzdienstleistungsaufsicht, BaFin, hat im Internet eine Meldeplattform für Whistleblower eingerichtet. Das ist sicher kein falscher Schritt, aber ebenso sicher nicht ge- nug. Während auf europäischer Ebene vorgeschlagen wurde, finanzielle Anreize für Whistleblower zu setzen, um deren drohenden Arbeitsplatzverlust abzumildern, sieht der Gesetzentwurf keine proaktive Lösung zum Schutz von Whistleblowern vor. Die jüngsten gesetzge- berischen Aktivitäten, insbesondere die Einführung des neuen Straftatbestands der Datenhehlerei, führen viel- mehr zu einer weiteren Kriminalisierung von Whistle- blowern. Schließlich enthält der Gesetzentwurf auch kein Re- gime, nach dem Whistleblower bei Untätigkeit der Ba- Fin an die Öffentlichkeit gehen dürfen. Insbesondere die Panama Papiere zeigen aber, dass in manchen Situatio- nen nur durch Öffentlichkeit Missstände beseitigt werden können. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des von der Bundesregierung einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der Investmentbesteuerung (Investmentsteuerreform- gesetz – InvStRefG) (Tagesordnungspunkt 16) Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Um seine Steuerbelastung erheblich zu senken, muss man heutzutage keine Briefkastenfirma in Panama oder einem anderen Offshore-Finanzzentrum gründen. Für große Vermögen setzen die Experten deutscher Banken gern auch einen deutschen Publikumsfonds mit nur ei- nem Anleger auf. Dabei ist das deutsche Investmentsteu- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 201616220 (A) (C) (B) (D) errecht fast genauso komplex und damit für Außenste- hende undurchsichtig wie das nun aufgedeckte Geflecht von Briefkastenfirmen. Die mit der Komplexität ver- bundene Gestaltungsanfälligkeit nutzen die wenigen Experten in deutschen Banken und großen Steuer- und Rechtsberaterkanzleien schonungslos für aggressive Steuergestaltungen aus. Die dabei entstehenden Trans- aktionskosten für komplexe Gestaltungen können sich in der Regel nur sehr große Vermögen leisten. Bei 2,6 Bil- lionen Euro in Investmentfonds investierten Vermögen lohnt es sich jedoch für die Gestaltungsindustrie, immer neue Gestaltungsmodelle zu entwickeln und gewinnbrin- gend zu verkaufen. Der im Grundgesetz verankerte Grundsatz der Gleich- mäßigkeit der Besteuerung ist damit für große Kapital- vermögen aufgehoben. Reiche sind damit steuerrechtlich gleicher als der Normalbürger. Das Steuerrecht verstärkt durch seine Gestaltungsanfälligkeit die in den letzten Jahrzehnten stark gestiegene Einkommens- und Vermö- gensungleichheit. Seit 2000 ist das Unternehmens- und Vermögenseinkommen um 64 Prozent gewachsen, die Arbeitnehmerentgelte hingegen nur um 38 Prozent. Das Phänomen „Die Reichen werden immer reicher“ erfährt eine erhebliche Verstärkung, wenn mit geschickter Ge- staltung die eh schon niedrigere Besteuerung von Un- ternehmensgewinnen und Kapitaleinkünften weiter ge- drückt werden kann. Im Ergebnis dieser Entwicklung wird der notwendige Zusammenhalt in unserer Gesellschaft gefährdet. Es ist daher höchste Zeit, im Steuerrecht den verlorengegangen Gleichheitsgrundsatz wiederherzustellen. Der Ansatz des von der Bundesregierung vorgelegten Entwurfes zur Reform der Investmentbesteuerung ist daher zwar zu begrüßen: Einzelne erkannte aggressive Steuergestaltungen sollen verhindert werden, und die Gestaltungsanfälligkeit des Investmentsteuerrechts soll insgesamt reduziert werden. Der Bundesregierung meint es jedoch mit den The- men Steuergerechtigkeit und gleichmäßige Besteuerung nicht ernst. Dies wird an drei Punkten offensichtlich: Erstens. Das Gesetz kommt zu spät. Die Bundesre- gierung hat jahrelang bei zahlreichen Steuerbetrügereien und aggressiven Steuergestaltungen über Investment- fonds zugeschaut. Leaks wurden nur zögerlich und im Wege der Flickschusterei geschlossen. Teilweise wurden diese Leaks erst durch Flickschusterei an anderer Stelle erzeugt. Dass mit Flickschustereien dem Hase-und-Igel- Spiel im Investmentsteuerrecht nicht beizukommen ist, konnte die Bundesregierung jedenfalls spätestens mit dem Bericht der Arbeitsgruppe zur „Neukonzeption der Investmentbesteuerung“ Anfang 2012 nicht mehr igno- rieren. Dort heißt es explizit, dass immer wieder neue Gestaltungen und Umgehungen auf Grundlage des beste- henden Investmentsteuerrechts auftreten werden, wenn man nicht die grundlegenden Angriffspunkte des Invest- mentsteuersystems angeht. Die Bundesregierung muss sich daher an dieser Stel- le fragen lassen: Wieso haben Sie vier Jahre gebraucht, um bei dieser Ausgangslage einen Reformvorschlag zu machen? Schlimmer noch: Als zweiten Hauptkritikpunkt muss sich die Bundesregierung fragen lassen, wieso sie vier Jahre gebraucht hat, um bei dieser Ausgangslage einen Reformvorschlag zu machen, der in der Fachliteratur bereits jetzt zerrissen wird. Die vorgeschlagene Reform sei zu komplex. Die generelle Anfälligkeit des Invest- mentsteuerrechts für Gestaltungen werde mit ihr nicht ausgeräumt werden, ist da zu lesen. Auch der Versuch, sogenannte Cum/Cum-Geschäfte zu unterbinden, droht zu scheitern: Im Fernsehen erklären bereits jetzt Steuer- experten, wie man die dazu vorgesehenen Regelungen umgehen kann. Soweit man hört, sind auch ein Teil der Länder mit der Lückenhaftigkeit der vorgeschlagenen Cum/Cum-Regelung nicht glücklich. Insofern ist zu er- warten, dass auch der Bundesrat hier Nachbesserungen fordern wird. Es ist jedoch an dieser Stelle müßig, die vielen un- zureichenden Regelungen des Reformvorschlages aufzu- zählen. Generell – und damit bin ich bei meinem dritten Kritikpunkt – stellt sich vielmehr die Frage: Warum hat die Bundesregierung nicht hier und heute einen – gege- benenfalls auch längerfristig umzusetzenden – Reform- vorschlag vorgelegt, wie das überkomplexe System der Kapitalertragsteuer und der grenzüberschreitenden Ka- pitaleinkommensbesteuerung reformiert wird. Zinsen, Dividenden und Veräußerungsgewinne unterliegen alle unterschiedlichen Besteuerungsregimen. Gestaltungs- willige lassen daher ihre Kapitalerträge in der jeweils steuergünstigsten Form anfallen. Dies ist ein zentraler Ausgangspunkt auch für die Probleme im Investment- steuerrecht, die Sie mit dem vorliegenden Entwurf ver- suchen in den Griff zu bekommen. Statt das Problem an der Wurzel zu packen, verlieren Sie sich dabei jedoch in neuer Komplexität. Mit der vorgesehenen Differenzie- rung zwischen Publikums- und Spezialfonds, den Aus- nahmeregelungen für begünstigte Anleger und dem nach Anlageklassen differenzierenden Teilfreistellungssystem schlagen Sie Pflöcke für neue Gestaltungsmodelle ein. Wenn man erkennt, dass die Komplexität eines Systems zu massiven Gestaltungsproblemen führt, kann die Lö- sung nicht ein noch komplexeres System sein. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung einge- brachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Än- derung arzneimittelrechtlicher und anderer Vor- schriften (Tagesordnungspunkt 17) Michael Hennrich (CDU/CSU): Nach langer Zeit beraten wir heute wieder einmal arzneimittelpolitische Themen im Deutschen Bundestag. Gegenstand der Beratung ist das Vierte Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschrif- ten. Schwerpunkt dieses Gesetzes ist die Transformation europarechtlicher Vorgaben in nationales Recht. Hierbei ist wichtig, dass wir den uns zustehenden Spielraum des europäischen Normgebers richtig nutzen. Gerade beim Thema klinische Forschung und deren Voraussetzungen Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2016 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2016 16221 (A) (C) (B) (D) dürfen wir unsere Rechtstradition sowie unser ethisches Fundament, welches sich über Jahrzehnte ausgeprägt und ausgeformt hat, nicht einfach beiseiteschieben und blind irgendwelchen europäischen Idealvorstellungen folgen – trotz allen berechtigen Wünschen nach einem einheitli- chen europäischen Rahmen. Hier gibt es unterschiedliche Vorstellungen in Europa, und das müssen auch die Eu- ropäische Kommission und der europäische Normgeber akzeptieren. Es geht darum, europäisches Denken in Ein- klang zu bringen mit unseren Traditionen und Wertvor- stellungen. Aber auch die Themen Lieferengpässe, Strahlen- schutzverordnung und Medikamente, Berufsbild des Apothekers oder das Arzt-Patienten-Verhältnis bei der Arzneimitteltherapie sind Regelungsbereiche, mit denen wir uns bei dieser AMG-Novelle befassen. Diese Bera- tungen finden vor dem Hintergrund der Veröffentlichun- gen der Ergebnisse des Pharmadialogs statt, die ja am letzten Dienstag präsentiert wurden. Wenn es im Gesetzesentwurf heißt, dass das Arznei- mittelgesetz an eine EU-Verordnung angepasst werden soll, darf das nicht darüber hinwegtäuschen, dass es um gewichtige Fragen geht. Gerade die Rolle der Ethikkom- missionen bei der Genehmigung von Arzneimittelstudien ist ein Punkt, mit welchem wir uns auch im Gesetzge- bungsverfahren auseinandersetzen müssen. Insofern will ich auch noch einmal deutlich herausstellen, dass die Fra- gen nach dem Zusammenspiel zwischen Ethikkommis- sionen und Bundesoberbehörden ein Schwerpunkt der parlamentarischen Beratung sein werden. Da geht es nicht um die zwei Institutionen und die Frage, wer welche Kompetenzen hat. Da geht es um den bestmöglichen Schutz der Probanden und um die effek- tive Wahrnehmung von deren Rechte und Interessen. In- sofern danke ich auch der Bundesärztekammer und der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft für exzellente Darstellung der Situation und der Problembe- schreibung. Ich tue das gerade vor dem Hintergrund, dass es in Europa Tendenzen gibt, arzneimittelrechtliche Zu- lassungen schneller als bisher zu erteilen. Die Stichworte sind: Conditional Approval und Adaptive Pathways. Hier stehen wir in besonderer Verantwortung. Dabei müssen wir deutlicher machen, dass es nicht um Industrieinteres- sen geht, sondern um den schnelleren Zugang der Patien- ten zu Innovationen. Auch die Einrichtung einer Bundesethikkommission ist vor diesem Hintergrund einer kritischen Bewertung zu unterziehen. Es ist wichtig, dass wir deutlich machen, dass die Interessen der Patienten nicht hinter die Inte- ressen der Industrie zurücktreten. Wir müssen gewähr- leisten, dass die Ethikkommissionen auch in Zukunft unabhängig und im Interesse der Probanden tätig wer- den. Deswegen sehe ich das Gesetz auch noch einmal als Chance, mit allen Beteiligten ins Gespräch zu kommen und diesen zentralen Punkt noch einmal von allen Seiten zu beleuchten. Ich habe bewusst gleich zu Beginn auf den zentralen, kritischen Punkt hingewiesen. Ich will aber auch deutlich machen, dass wir mit dem Gesetz mehr Transparenz sowie erweitere Veröffentlichungspflichten schaffen, die ja gerade dem Schutz der Versicherten, Pa- tienten und Probanden dienen. Ich will im Rahmen meiner Rede auf zwei Punkte des Gesetzes eingehen, die mir persönlich sehr wichtig sind: Erstens. Die Neufassung des § 48 des Arzneimittelgeset- zes, wonach Arzneimittel nicht abgegeben werden dür- fen, wenn vor der ärztlichen Verschreibung offenkundig kein direkter Kontakt zwischen Patient und Arzt stattge- funden hat. Zweitens. Die Änderung der Bundes-Apo- thekerordnung, mit welcher wir das Berufsbild der Apo- theker umfassender beschreiben. Direkter Kontakt zwischen Arzt und Patient vor Ver- schreibung: Natürlich kann man sich die Frage stellen, ob dies im Zeitalter von Telemedizin, E-Health etc. noch zeitgemäß ist. Die Diskussion um Dr. Ed hat ja gezeigt, wie schnell man da auf eine schiefe Ebene geraten kann: Telefonkontakt nach England mit anschließender Ver- schreibung. Das kann nicht unser Anspruch an eine qua- litativ hochwertige medizinische Versorgung sein. Das Arzt-Patienten-Verhältnis ist geprägt von persönlichem Vertrauen und von Zuwendung. In jüngster Zeit haben wir immer wieder beklagt, dass zu wenig Zeit für das Gespräch bleibe. Außerdem haben wir gerade in jüngster Zeit in unserer Politik Wert darauf gelegt, dass die spre- chende Medizin aufgewertet wird. Da ist es nur konse- quent, wenn wir dies auch zum Maßstab nehmen bei der Verschreibung von Medikamenten. Wir haben natürlich im Blick, dass es Folgeverschrei- bungen gibt und dass wir Routinearbeiten nicht unnötig blockieren dürfen. Deswegen haben wir ja auch die Mög- lichkeit geschaffen, dass in begründeten Ausnahmefäl- len davon abgewichen werden darf, insbesondere dann, wenn aus einem vorausgegangenen Kontakt der Patient dem Arzt bekannt ist. Insofern haben wir eine Regelung mit Augenmaß gefunden, die aus meiner Sicht der Fort- entwicklung von telemedizinischen Leistungen nicht im Wege steht. Ein weiterer Punkt, den ich noch ansprechen will, ist die Änderung der Bundes-Apothekerordnung, wo wir das Berufsbild der Apothekerinnen und Apotheker noch umfassender beschreiben. Wir kommen damit einer Bit- te des Bundesrates nach und halten Wort gegenüber den Apothekern, denen wir versprochen hatten, nach der Um- setzung der Berufsanerkennungsrichtlinie die Tätigkei- ten der Pharmazeuten noch einmal zu präzisieren bzw. zu erweitern. Insofern möchte ich meinem Kollegen Rudolf Henke danken, dem das ein persönliches Anliegen war. Die nähere Beschreibung der Tätigkeiten hat noch ein- mal deutlich gemacht, wie wichtig die Apothekerinnen und Apotheker im Versorgungsalltag sind. Wir sollten uns auch die Frage stellen, ob wir in der Politik dieser Tätigkeit auch die Würdigung zuteilwerden lassen, die dieser Berufsstand unzweifelhaft verdient hat. Insofern gehe ich davon aus, dass diese Tätigkeitsbeschreibung nur ein erster Aufschlag ist. Spannend wird es auch sein, zu sehen, ob wir das Thema „Apotheken – Fragen rund um die Vergütung“ sowie das leidige Thema „Retaxati- onen“ im Spätsommer noch einmal aufgreifen werden. Viele andere Dinge, die wir noch regeln, lasse ich unerwähnt. Insgesamt geht es hier um viele technische Detailfragen. Aber gerade das Thema Ethikkommissio- nen zeigt, dass wir auch hier besondere Aufmerksamkeit walten lassen müssen. Insofern freue ich mich auf die Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 201616222 (A) (C) (B) (D) weitere Beratung des Gesetzes und lade alle Beteiligten zum konstruktiven Dialog mit uns ein. Hubert Hüppe (CDU/CSU): Bislang gibt die EU-Richtlinie 2001/20/EG den EU-weiten Rahmen für klinische Arzneimittelprüfungen vor. Wir haben sie vor zwölf Jahren in deutsches Recht umgesetzt. Das damals eingeführte Verfahren mit klaren Zuständigkeiten, mit Genehmigung der Bundesoberbehörde und mit zustim- mendem Votum einer Ethikkommission hat sich seither bewährt. So bestätigte der Verband Forschender Arzneimittel- hersteller, vfa, in einer Kurzstellungnahme 2012, dass aufgrund der Erfahrungen seiner Mitgliedsunternehmen die Arbeit der Bundesoberbehörden und Ethikkommis- sionen positiv zu bewerten sei. Dies sei, so der vfa wei- ter, mit ein Grund, warum Deutschland bei der Anzahl klinischer Studienprojekte seit einigen Jahren führend in Europa ist. Im gerade vorgelegten Bericht über die Ergebnisse des Pharmadialogs heißt es, dass in den vergangenen zehn Jahren deutsche Forscherinnen und Forscher an mehr als 10 000 klinischen Prüfungen beteiligt waren. Dank guter Rahmenbedingungen liege Deutschland sowohl bei der Zahl der klinischen Prüfungen als auch bei der Zahl der Prüfstätten weltweit auf Platz zwei. Nur die USA, ein hochentwickeltes Land mit einer immerhin viermal grö- ßeren Bevölkerung als Deutschland, liegen noch vor uns. Es ist also nicht zutreffend, dass völlig verfehlte Regu- lierungsansätze die klinischen Arzneimittelprüfungen in Scharen aus Deutschland heraus in Drittländer vertrieben hätten. Das Gegenteil ist der Fall. Der internationale Spitzenplatz Deutschlands in der klinischen Prüfung belegt, dass unser hohes, ethisch und grundrechtlich gebotenes Schutzniveau für Patienten und Probanden kein Forschungshindernis ist. Vielmehr schafft ein solches Schutzniveau das Vertrauen, dass klinische Prüfungen unter ethisch und wissenschaftlich einwandfreien Bedingungen stattfinden. Dies wiederum ist eine notwendige Voraussetzung für Teilnahmebereit- schaft und zügige Rekrutierung von Probanden bzw. Pa- tienten in klinischen Studien. Das Schutzniveau ist ein Standortfaktor. Dennoch war Ausgangspunkt des 2012 veröffent- lichten Vorschlags der EU-Kommission für die neue EU-Verordnung die Annahme, die Richtlinie 2001/20/EG habe maßgeblich zum EU-weiten Rückgang der Zahl der Anträge für klinische Prüfungen im Zeitraum von 2007 bis 2011 um 25 Prozent beigetragen. Dass in die- sem Zeitraum eine schwere weltweite Wirtschaftskrise zu einem massiven Rückgang von Investitionen in allen Wirtschaftsbereichen führte und dies mutmaßlich auch Produktentwicklungsprogramme der pharmazeutischen Industrie betroffen haben könnte, bezog die Kommission nicht in ihre Überlegungen ein. Vielmehr erkannte sie in den geltenden Bestimmungen der Richtlinie 2001/20/EG eine Behinderung klinischer Prüfungen in Europa und er- klärte daher Handlungsbedarf. Zum Kommissionsvorschlag von 2012 wurden mit dem Beschluss des Bundestages vom 31. Januar 2013, Drucksache 17/12183, sowie dem Beschluss des Bun- desrates vom 12. Oktober 2012, Drucksache 413/12, we- sentliche Änderungen verlangt. Kernpunkte waren dabei unter anderem das Fehlen der obligaten Einbeziehung einer Ethikkommission, unangemessen kurze Geneh- migungsfristen und ethische Fragen wie die Forschung an nichteinwilligungsfähigen Erwachsenen ohne direk- ten individuellen Nutzen. Es ist der Bundesregierung in den anschließenden Verhandlungen gelungen, zahlreiche der von Bundesrat und Bundestag geforderten Ände- rungen durchzusetzen bzw. dort, wo dies nicht möglich war, immerhin Opt-out-Regelungen zu erreichen, die es Deutschland erlauben, sein derzeitiges Schutzniveau für Patienten und Probanden beizubehalten. Die Verordnung ist unmittelbar geltendes Recht und erlaubt bei der nationalen Umsetzung nur dort Spielraum, wo dieser ausdrücklich vorgesehen ist. Unser nationales Recht zur klinischen Prüfung von Arzneimitteln muss umfangreich angepasst werden. Es gibt Änderungen vor allem im Arzneimittelgesetz, AMG, die Abschaffung der GCP-Verordnung sowie eine Reihe von Folgeänderun- gen der Arzneimittel- und Wirkstoffherstellungsverord- nung, AMWHV, der Verordnung über radioaktive oder mit ionisierenden Strahlen behandelte Arzneimittel, AMRadV, der DIMDI-Arzneimittelverordnung der Apo- thekenbetriebsordnung, ApBetrO, und der Arzneimittel- farbstoffverordnung, AMFarbV. Nach bisherigem Recht werden multinationale klini- sche Studien in jedem Mitgliedstaat einzeln genehmigt. Kern der EU-Verordnung ist hingegen, dass es bei mul- tinationalen klinischen Studien nur noch einen einzigen Antrag über das Internet-EU-Portal“ gibt – dies wird von der Europäischen Arzneimittelagentur EMA bereitge- stellt –, der eine zentrale Bewertung durchläuft. „Betrof- fene Mitgliedstaaten“ sind alle Mitgliedstaaten, in denen Prüfzentren liegen, an denen die Studie durchgeführt werden soll. „Berichterstattender Mitgliedstaat“ ist ein vom Sponsor der klinischen Prüfung vorgeschlagener be- troffener Mitgliedstaat, der eine zentrale Bewertung vor- nimmt. Der berichterstattende Mitgliedstaat erstellt Teil I des Bewertungsberichts – Nutzen-Risiko-Abwägung – im Benehmen mit den betroffenen Mitgliedstaaten. Alle betroffenen Mitgliedstaaten sind grundsätz- lich an diesen Bewertungsbericht gebunden, sofern sie nicht abschließend aufgezählte Opt-out-Gründe geltend machen, wie zum Beispiel, dass Patienten in der Studie eine schlechtere Therapie erhalten als im MS üblich, ein nationales Verbot von bestimmten Stammzellen, Abtrei- bungs- und Betäubungsmitteln; formal erhobene Ein- wände gegen die Sicherheitsbewertung aus Teil I. Jeder betroffene Mitgliedstaat erstellt Teil II des Bewertungs- berichts unter anderem zu Patienteninformation, Einwil- ligung, Qualifikation der Prüfer, Eignung der Prüfstelle, Versicherung und erteilt eine nationale Genehmigung. Ethikkommission und zuständige Behörde wirken bei der Bewertung zusammen. Am Ende gibt es je betroffe- nem Mitgliedstaat nur eine Genehmigung. Im Gegensatz dazu sind derzeit in Deutschland sowohl die „zustimmen- de Bewertung“ der Ethikkommission als auch die Geneh- migung der Bundesoberbehörde separat erforderlich. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2016 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2016 16223 (A) (C) (B) (D) Es gibt im Gesetzentwurf einige Punkte, die wir im Verfahren genauer zu diskutieren haben werden. Dies be- trifft zum einen das Verhältnis zwischen Ethikkommis- sion und Bundesoberbehörde, die nicht nur die klinische Prüfung genehmigt, sondern auch das zu prüfende Arz- neimittel gegebenenfalls zulässt. Es geht um die Unab- hängigkeit der Ethikkommission, um die Frage, welche Ethikkommission jeweils zuständig ist, und darum, wie verbindlich ihre Stellungnahme für die Genehmigung der Behörde ist. Zum Zweiten betrifft es die Frage der fremdnützigen Forschung an Nichteinwilligungsfähigen, die für den betroffenen Patienten keinen Nutzen hat, die aber Erkenntnisse zugunsten der Krankheitsgruppe er- bringen soll; es geht um die sogenannte gruppennützige Forschung. Um vorab einem eventuellen Missverständnis vorzu- beugen: Bereits heute darf selbstverständlich an Nicht- einwilligungsfähigen geforscht werden, unter der Vo- raussetzung, dass sie selbst einen möglichen eigenen therapeutischen Nutzen davon haben; diese Regelung findet sich in § 41 Absatz 3 AMG. Das findet in der Praxis vielfach statt. Diese Menschen sind keine „For- schungswaisen“. Der ethische Knackpunkt ist, dass ein Nichteinwilli- gungsfähiger per definitionem unfähig ist, seine höchst- persönliche informierte Einwilligung, den „informed consent“, in eine für ihn nicht auch eigennützige Studie zu erteilen. Wir werden im Verfahren zwei Aspekte zu klären ha- ben: Erstens. Es muss zunächst eine überzeugende Begrün- dung geben, dass eine unabweisbare Notwendigkeit für Forschung an Nichteinwilligungsfähigen ohne direkten Nutzen für diese Patienten besteht. Bisher habe ich eine Begründung, dass eine solche Absenkung unseres bis- herigen Schutzniveaus erforderlich und alternativlos ist, nicht gefunden. Auch die forschenden Arzneimittelher- steller haben rein gruppennützige Forschung an Nicht- einwilligungsfähigen nicht gefordert. Zweitens. Wenn diese Notwendigkeit rein gruppen- nütziger Forschung an Nichteinwilligungsfähigen bejaht wird, muss geklärt werden: Was sind die Mindestanfor- derungen an eine Patientenverfügung, mit der jemand vorab in zukünftige lediglich gruppennützige Studien- teilnahmen für den Fall seiner Nichteinwilligungsfähig- keit einwilligt? Denn einem durchschnittlichen Laien kann keineswegs unterstellt werden, dass er Kenntnisse hinsichtlich klinischer Studien im Allgemeinen sowie des Merkmals der Gruppennützigkeit besitzt, die den in Artikel 29 der EU-Verordnung beschriebenen Aufklä- rungsinhalten vor einer Einwilligung entsprechen. Zuletzt eine Anmerkung zu einem schon lange be- stehenden Ärgernis in der klinischen Forschung: Seit Jahren beklagen die Sponsoren von klinischen Studien, in denen aufgrund studienbedingter Begleitdiagnostik – Röntgen – eine Strahlenschutzgenehmigung erforderlich ist, überlange Genehmigungsdauern des Bundesamtes für Strahlenschutz, BfS. In anderen EU-Mitgliedstaaten werden Strahlenschutzgenehmigungen synchron mit der Genehmigung der klinischen Studie erteilt, sodass dann sofort mit der Rekrutierung von Patienten begonnen wer- den kann. In Deutschland hingegen muss die BfS-Geneh- migung abgewartet werden, bevor der erste Patient rekru- tiert werden kann. Das macht die Einbeziehung deutscher Prüfstellen in multinationale Studien mit studienbeding- ter Strahlendiagnostik fast unmöglich. In der Praxis führt das nach übereinstimmenden Aussagen von Industrie und akademischer Forschung dazu, dass in Deutschland solche Studien nicht mehr beantragt werden, sondern im Wesentlichen nur noch im Ausland durchgeführt werden. Eine fehlende Frist für die Strahlenschutzgenehmigung bedeutet faktisch den Ausschluss Deutschlands von ei- nem Teil hochrangiger klinischer Forschung. Nun sieht der vorliegende Gesetzentwurf keine Lösung dieses Problems vor. Sie wird aber in einem Strahlenschutzgesetz angegangen, das anstelle des ver- einfachten Genehmigungsverfahrens nach der Strahlen- schutzverordnung und der Röntgenverordnung ein An- zeigeverfahren mit Fristen vorsieht, die den Fristen der EU-Verordnung nicht zuwiderlaufen. Dies ist im Grund- satz zu begrüßen. Allerdings sollte anstelle eines reinen Anzeigeverfahrens eine Genehmigungsfiktion gewählt werden, um der Behörde für den Notfall und im Sinne des Patientenschutzes die Möglichkeit des Widerrufs bzw. der Rücknahme offenzuhalten. Martina Stamm-Fibich (SPD): Diese Woche steht für mich ganz unter dem Zeichen „Arzneimittel“. Am Montag hat der Petitionsausschuss in einer öffentlichen Sitzung über die Nutzenbewertung bei Epilepsie-Medi- kamenten beraten. Am Dienstag folgte die Präsentation der Ergebnisse des Pharmadialogs. Heute nun Teil drei: Die erste Lesung des Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vor- schriften, kurz: die 4. AMG-Novelle. Mit ihr setzen wir die EU-Verordnung 536/2014 in nationales Recht um. Ich denke, dieses Haus hat schon über strittigere Gesetze debattiert. Dennoch möchte ich einige Punkte heraus- greifen, über die ein Nachdenken lohnt. Regelung zu Liefer- und Versorgungsengpässen: Eine Umfrage im November 2015 hat ergeben, dass 94 Pro- zent der Apotheker mehrmals in der Woche Medikamen- te nicht auftreiben können. „Hersteller defekt“ heißt es dann auf den Zetteln an leeren Regalfächern in den Medi- kamentenlagern. Besonders betroffen sind die Impfstof- fe: 24 listet das Paul-Ehrlich-Institut aktuell auf seiner Liste. Diese Liste beruhte bislang auf einer freiwilligen Meldung der Arzneimittelhersteller. Doch Lieferengpäs- se können Leben gefährden. Denn Krankheiten richten sich nicht nach der Verfügbarkeit von Arzneimitteln auf dem Markt. Die 4. AMG-Novelle schafft nun die Rechtsgrundlage für mehr Transparenz über die verfügbaren Arzneimittel- chargen. Die Ständige Impfkommission und die medi- zinischen Fachgesellschaften sollen künftig Handlungs- empfehlungen zum Umgang mit Lieferengpässen geben können. Das ist richtig und wichtig. Denn wer nicht weiß, was fehlt, kann auch keine Schritte zur Vermeidung eines Lieferengpasses in die Wege leiten. Transparenz und die Veröffentlichung von Informationen sind ein wichtiger Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 201616224 (A) (C) (B) (D) Schritt, um Versorgungsengpässe künftig vermeiden zu können. Klinische Studien: Auch die Verfahren bei klinischen Studien werden in der 4. AMG-Novelle neu geregelt. Neue Medikamente können ein großer Fortschritt sein. Aber ob neue Arzneimittel Fluch oder Segen sind, weiß man erst, nachdem sie getestet wurden. Klinische Stu- dien sind immer auch Experimente am Menschen. Dass Experimente schiefgehen können, hat vor nicht allzu lan- ger Zeit ein Todesfall in Frankreich gezeigt. Das Wohl der Probanden, die an klinischen Studien teilnehmen, muss an erster Stelle stehen. Deshalb brau- chen wir klare und verbindliche Regelungen für die Ge- nehmigung, Durchführung und Überwachung klinischer Studien. Wir brauchen klare Regeln, die zu allererst dem Schutz der Patienten dienen. Das Ziel der EU-Verordnung 536/2014 ist es, die Genehmigung klinischer Prüfungen durch die Arznei- mittelbehörden europaweit zu vereinheitlichen und zu beschleunigen. Die Beschleunigung der Verfahren darf aber am Ende nicht dazu führen, dass Patienten unnöti- gen Risiken ausgesetzt werden. Bislang sind die Ethik- kommissionen strenge Prüfer der Anträge. Häufig ver- langen sie Änderungen zum Schutze der Probanden. Ihre Unabhängigkeit ermöglicht einen sorgfältigen Blick auf die Risiken klinischer Studien. Mit der 4. AMG-Novelle werden Bedingungen defi- niert, die Ethikkommissionen erfüllen müssen, um sich registrieren lassen zu können. Einheitliche Kriterien halte ich für sinnvoll. Neu wird die Einrichtung einer Bundesethikkommission sein. Diese Kommission wird durch das BMG per Rechtsverordnung eingesetzt. Eine Zustimmung des Bundesrates ist nicht erforderlich. Au- ßerdem soll die zuständige Bundesoberbehörde die Stel- lungnahmen der Ethikkommissionen nur „maßgeblich zu berücksichtigen“ haben. Das darf aber nicht dazu führen, dass die zuständigen Ethikkommissionen nichts mehr zu sagen haben. Hier müssen wir jetzt genau prüfen, wie wir die Unabhängigkeit der Ethikkommissionen auch weiter- hin gewährleisten. Auch die sogenannte gruppennützige Forschung an nicht einwilligungsfähigen Patienten regelt die 4. AMG-Novelle. Sie bleibt auch künftig grundsätzlich verboten. Sie ist nur dann zulässig, wenn es eine Patien- tenverfügung ausdrücklich gestattet und der gesetzliche Betreuer in die konkrete klinische Prüfung einwilligt. Voraussetzung hierfür ist die umfassende Aufklärung des gesetzlichen Betreuers. Arzt-Patienten-Kontakt: Dr. Ed wird sich in Zukunft neue Patienten suchen müssen. Denn die 4. AMG-No- velle stärkt den direkten und persönlichen Arzt-Patien- ten-Kontakt. Schon jetzt regelt die Musterberufsordnung für Ärzte die Rechte und Pflichten von Ärzten gegenüber ihren Patienten. § 7 Absatz 4 legt fest, dass Ärztinnen und Ärzte die Behandlung nicht ausschließlich über Print- und Kommunikationsmedien durchführen dürfen. Es besteht zwar kein ausdrückliches „Fernbehandlungs- verbot“; einer Fernbehandlung sind aber schon jetzt sehr enge Grenzen gesetzt. Die 4. AMG-Novelle geht nun einen Schritt weiter: Künftig sind sogenannte Fernverschreibungen verboten, wenn zwischen Arzt und Patient noch niemals ein direk- ter Kontakt bestand. Konkret bedeutet das: Wer sich von Dr. Ed oder anderen Anbietern telemedizinischer Leis- tungen behandeln lässt, kann sein Rezept in der Apothe- ke nicht mehr einlösen. Diese Regelung ist richtig. Denn Tests haben erge- ben, dass das Risiko von Fehldiagnosen und damit von Falschbehandlungen erheblich steigt, wenn der persön- liche Arzt-Patienten-Kontakt fehlt. Meist reicht ein Fra- gebogen nämlich nicht aus, um eine Diagnose stellen zu können. Um hier Falschbehandlungen zu vermeiden, sind klare Regelungen zum Arzt-Patienten-Kontakt sinn- voll. Die Regelung führt aber auch zu Konflikten: Im anstehenden parlamentarischen Beratungsver- fahren müssen wir prüfen, ob die Regelung gegen EU- Recht verstößt. Denn das Verbot von Fernverschreibun- gen kommt mit zwei EU-Richtlinien in Konflikt: mit der Richtlinie zur wechselseitigen Anerkennung von Arz- neimittelverschreibungen aus anderen Behandlungsmit- gliedstaaten und mit der Patientenmobilitätsrichtlinie. Darüber hinaus wollen wir ja eigentlich den Ausbau der Telemedizin in Deutschland stärken. Dafür haben wir im letzten Jahr das E-Health-Gesetz auf den Weg gebracht. Gerade im ländlichen Raum brauchen wir den Ausbau der Telemedizin. Denn Menschen nutzen die Möglichkeiten, die das Internet bietet. Sie sorgen selbst für kürzere Wartezeiten in Arztpraxen, wenn sie Arzt- praxen gar nicht erst aufsuchen. Und ja: Bevor jemand Dr. Google befragt, soll er lieber per Videokonsultation einen echten Arzt fragen. Der ist zwar weit weg, aber er ist Arzt. Wir müssen aufpassen, dass wir mit dem Gesetz eine positive Entwicklung nicht ausbremsen, dass wir die Möglichkeiten der Telemedizin nicht abschreiben, bevor wir sie überhaupt nutzen. Aber die 4. AMG-Novelle erlaubt hier eine sinnvolle Ausnahme: Eine Fernverschreibung ist möglich, wenn der Patient dem Arzt aus einem vorangegangenen Kon- takt hinreichend bekannt ist. Die Erstdiagnose erfordert einen direkten Arzt-Patienten-Kontakt. Das schützt den Patienten und ist deshalb richtig. Denn der persönliche Kontakt schließt viel mehr Möglichkeiten einer Diagnose ein als die Kommunikation über Video oder Fragebogen. Die Weiterbehandlung nach einem persönlichen Kontakt kann aber durchaus per Fernbehandlung erfolgen. Gera- de für chronisch Kranke kann dies eine immense Erleich- terung bedeuten. Die offenen Fragen werden wir im nun anstehenden parlamentarischen Verfahren kritisch angehen; denn am Ende soll das Gesetz den Menschen Nutzen bringen und kein Hindernis sein. Kathrin Vogler (DIE LINKE): Heute diskutieren wir eine Novelle zum Arzneimittelgesetz, die vor allem euro- päisches Recht umsetzen soll und in der vieles, aber lei- der nicht alles unstrittig ist. Die Vorgeschichte zu diesem Gesetzentwurf ist eine EU-Verordnung zur Durchfüh- rung von klinischen Studien. In diesem Zusammenhang Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2016 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2016 16225 (A) (C) (B) (D) möchte ich an etwas erinnern, was es in diesem Hause nicht alle Tage gibt: Unter den Gesundheitspolitikern konnten wir uns nämlich vor drei Jahren auf gemeinsame Forderungen ei- nigen, für die sich die Bundesregierung in Brüssel bei der Erstellung dieser EU-Verordnung einsetzen sollte. Dabei waren sich alle Fraktionen des Hauses einig. Gemeinsam kritisierten wir damals – ich zitiere aus den wortgleichen Anträgen von CDU/CSU, SPD, FDP, Grünen und Lin- ken –: „Der Verordnungsvorschlag sieht nicht länger das zustimmende Votum einer unabhängigen, interdiszipli- när besetzten Ethikkommission verpflichtend vor. Somit muss das geplante Forschungsvorhaben nicht zwingend vor seinem Beginn einer von der Zulassungsbehörde un- abhängigen Einrichtung zur Beratung und Zustimmung vorgelegt werden.“ Und darum forderten alle Fraktionen dieses Hauses: „Unabhängige, interdisziplinär besetzte Ethikkommissionen müssen weiterhin in das Genehmi- gungsverfahren … einbezogen werden. Dabei darf die Genehmigung nur erteilt werden, wenn die Ethikkom- mission die im Antrag enthaltenen ethischen Aspekte … zustimmend bewertet hat.“ Herr Minister Gröhe, Sie waren damals nicht für Ge- sundheitspolitik zuständig und können sich deshalb viel- leicht nicht an diese einstimmige Entscheidung erinnern. Aber trotzdem wundert es mich, warum Sie nun gleich an zwei Stellen diesen erklärten Willen des Bundestages ignorieren: Erstens wollen Sie mit dem vorliegenden Gesetzent- wurf die Genehmigung klinischer Studien nicht mehr zwingend von der zustimmenden Stellungnahme der zuständigen Ethikkommission abhängig machen. Einem solchen Rückfall hinter die einst gemeinsam gefassten Beschlüsse wird meine Fraktion nicht zustimmen kön- nen. Zweitens wollen Sie die Unabhängigkeit der Ethik- kommissionen beschneiden, indem sie das Bundesins- titut für Arzneimittel und Medizinprodukte für die Re- gistrierung von Ethikkommissionen zuständig machen wollen. Warum ist dies eine Gefahr für deren Unabhängigkeit? Weil das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizin- produkte gleichzeitig für die Genehmigung der Studien zuständig ist. Die Verquickung, dass ein und dieselbe Bundesbehörde dafür zuständig sein soll, Studien zu überwachen, zu genehmigen und gleichzeitig deren ethi- sche Kontrolle zu regulieren, ist ein potenzielles Einfalls- tor für Korruption und wird deshalb von uns abgelehnt. Belassen Sie es doch bei dem bewährten Zwei-Säu- len-Prinzip, bei dem ein Antrag auf Durchführung einer klinischen Prüfung unabhängig voneinander durch eine Bundesoberbehörde und durch nach Landesrecht ge- formte Ethikkommissionen bewertet wird. Darüber hinaus möchte ich Sie aber auch auffordern, diese Gesetzesnovelle zu nutzen, um einige wichtige und drückende Probleme im Arzneimittelbereich anzugehen: Erstens. Machen Sie nicht weiter die Augen zu vor den Gefahren der Lieferengpässe. Im Pharmadialog haben Sie mit den Unternehmen lediglich regelmäßige Gesprächstermine verabredet. Was wir aber benötigen, wären zumindest eindeutige Meldepflichten! Zweitens. Verschließen Sie auch die Augen nicht wei- ter vor den Bemühungen der Pharmakonzerne, Einfluss auf das Verordnungsverhalten von Ärztinnen und Ärz- ten zu nehmen. Im Antikorruptionsgesetz fehlt jeglicher Hinweis auf diejenigen Anwendungsbeobachtungen, die in großem Stile reine Marketingmaßnahmen der Indus- trie sind. Etwa 100 Millionen Euro jährlich fließen hier weitgehend unkontrolliert und unbeobachtet von der Pharmaindustrie an die beteiligten Ärzte. Dieses Pro- blem lösen Sie mit dem heute verabschiedeten Antikor- ruptionsgesetz nicht, und auch im Pharmadialog haben Sie nicht eine Runde darauf verschwendet. Es wird al- lerhöchste Zeit, dass hier ein Riegel vorgeschoben wird und zur Überwachung von Arzneimittelwirkungen auch nach der Zulassung nur noch ordentliche Studien nach wissenschaftlichen Kriterien erlaubt werden. In diesem Sinne hoffe ich, dass das Gesetz in den an- stehenden Beratungen noch verbessert wird. Die Linke wird sich dafür starkmachen. Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Wir reden heute über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Anpassung im Arzneimittelgesetz, die durch die EU-Verordnung 536/2011 notwendig ge- worden ist. Aus grüner Sicht gibt es noch erheblichen Diskussionsbedarf. Wir teilen dabei weitgehend die Be- denken, die auch schon vom Arbeitskreis medizinischer Ethikkommissionen und der Bundesärztekammer geäu- ßert wurden. Das gilt in erster Linie für alle Vorschlä- ge, die die Arbeit der unabhängigen Ethikkommissionen betreffen. Diese in Deutschland sehr bewährten Kom- missionen haben die Aufgabe, Wissenschaft in ethischer und rechtlicher Hinsicht zu beraten, zu kontrollieren und zu beaufsichtigen und so Rechte und Sicherheit der Pro- bandinnen und Probanden im Sinne der Deklaration von Helsinki zu schützen. Wir sehen die Harmonisierung auf EU-Ebene als wichtig; aber sie darf nicht zulasten der Ethikkommissionen, nicht zulasten der Unabhängigkeit und nicht zulasten der Studienteilnehmer gehen. Die vorgesehenen Eingriffe, wie die Auswirkungen auf die Arbeitsweise der Kommissionen in den Bun- desländern, die zentrale Registrierung und Lizensierung durch das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinpro- dukte und das Paul-Ehrlich-Institut sowie die Einrichtung einer Bundes-Ethikkommission, scheinen problematisch. Für die Gewährleistung der Sicherheit von klinischen Studien sind die Unabhängigkeit und Interdisziplinarität der Ethikkommission sicherzustellen, und es müssen alle Phasen von Arzneimittelprüfungen mit gesunden und kranken Menschen genauestens geregelt werden. Wie wichtig eine gute Kontrolle bereits im Studiendesign ist, zeigt sich derzeit auch bei der aktuellen Diskussion über nichtinterventionelle Studien, sogenannte Anwendungs- studien, unter anderem durch die Notwendigkeit zur Auf- klärung und schriftlicher Zustimmung der Patientinnen und Patienten sowie durch Auswertung und Veröffentli- chung durch ein ebenfalls unabhängiges Institut. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 201616226 (A) (C) (B) (D) Wir unterstreichen, dass grundsätzlich niemand ohne seine freiwillige Zustimmung medizinischen oder wis- senschaftlichen Versuchen unterworfen werden darf. Ein weiterer kritischer Punkt sind deshalb aus unserer Sicht die Voraussetzungen für gruppennützige Forschungen mit nichteinwilligungsfähigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Hier sehen wir aus ethischer Sicht sehr präzisen Klärungsbedarf, um die Patientenrechte zu ge- währleisten. Ein weiterer sehr sensibler Punkt ist das Verbot von Fernbehandlungen bzw. Fernverschreibungen. Ob Aus- nahmen, zum Beispiel bei bestimmten Erkrankungen, für höhere Sicherheit und Versorgungsqualität von chronisch Kranken oder von Patienten in Dauertherapie möglich sind, ist zu diskutieren. Und auch die Frage: Können wir durch eine Lockerung vielleicht auch Versorgungsdefizi- te im ländlichen Raum vermeiden? Wie verträgt sich das Verbot mit neuen Versorgungskonzepten im E- Health- Bereich? Dies sind nur einige Fragen, die sich aus den Vorschlä- gen der Bundesregierung für das Arzneimittelgesetz er- geben. Ohne jeden Zweifel befindet sich der Arzneimit- telbereich derzeit vor großen Herausforderungen. Umso wichtiger ist es, Unabhängigkeit und Patientenrechte in den Mittelpunkt zu stellen. Die flächendeckende gute Versorgung mit Arzneimit- teln aller Patientinnen und Patienten ist unser Ziel. Wir sind gespannt auf die weiteren Beratungen; denn in der heutigen Form können wir dem Gesetz nicht zustimmen. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aktualisie- rung der Strukturreform des Gebührenrechts des Bundes (Tagesordnungspunkt 18) Oswin Veith (CDU/CSU): Bereits in der vorangegan- genen Wahlperiode haben wir die Grundlagen für eine umfassende und zukunftsorientierte Fortentwicklung des Gebührenrechts des Bundes gelegt. Unser Anliegen – damals wie heute – ist, Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen vor kostenüberdeckenden Gebühren zu schützen. Warum wollen wir davor schützen? Weil der öffentliche Dienst und seine Dienstleistungen einen er- heblichen Standortvorteil für Deutschland bedeuten, und diesen gilt es zu bewahren. Öffentliche Dienstleistungen haben in Deutschland eine sehr hohe Qualität, und unse- re effiziente und gut organisierte Verwaltung bietet dabei vor allem Anreize für Unternehmen, hier zu investieren. Um einen leistungsfähigen und verlässlichen öffent- lichen Dienst weiterhin garantieren zu können, müssen wir uns – neben der Bereitstellung von funktionierenden Verwaltungsstrukturen und gut ausgebildetem Perso- nal – auch mit den jeweiligen Gebührenordnungen der Verwaltungen und Ministerien beschäftigen. Sicher gibt es spannendere Betätigungsfelder, aber ein ausgewogen gestaltetes Gebührenrecht ist von erheblicher Bedeutung. Strukturierte und nachvollziehbare Gebührenordnungen führen zu mehr Transparenz und weniger Kosten. Zen- trales Ziel ist es, sicherzustellen, dass Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen einen bezahlbaren Zugang zu Verwaltungsleistungen des Bundes haben. Bereits 2013 haben wir angefangen, die in circa 200 Gesetzen und Verordnungen geregelten Verwaltungsge- bühren des Bundes in einheitlich aufgebaute Gebühren- ordnungen der Bundesministerien zusammenzufassen. Dazu gehören auch übersichtliche Gebührenverzeichnis- se. Klarer Vorteil der damals angestoßenen Reform ist die Ausrichtung der Gebührenkalkulation auf betriebswirt- schaftliche Grundsätze. Gebühren werden somit grund- sätzlich auf Grundlage von Kostenpauschalen ermittelt. Die Berechnung der Gebühren für Leistungen wird da- durch einfacher und rechtssicherer. Für unsere Bürge- rinnen und Bürger, Unternehmen und Verwaltungen be- deutet dies eine Entlastung von Rechtsverfolgungskosten und einen erheblicher Abbau des Verwaltungsaufwandes. In einem ersten Schritt ging es um die Gestaltung einer allgemeinen Gebührenordnung. Ziel war es, ein- heitliche und anwenderfreundliche Vorgaben für die Kalkulation von kostendeckenden Gebühren zu schaffen. Dies ist uns schon einmal gelungen. Die Allgemeine Ge- bührenordnung sollte durch die Besonderen Gebühren- verordnungen der Bundesministerien ergänzt werden. Dabei ist geplant, die Besonderen Gebührenordnungen der Bundesministerien auf Grundlage der allgemeinen Gebührenordnungen neu zu bestimmen. Die gebühren- rechtlichen Bestimmungen sollen möglichst gebündelt werden, um diese für jeden nachvollziehbarer zu machen. Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen sollen sich möglichst schnell und ohne großen Aufwand über die relevanten Gebühren informieren können. Eine geringe Anzahl an relevanten Gebührenordnungen schafft größt- mögliche Anwenderfreundlichkeit. Betrachtet man das Innenressort, muss die hierfür gültige Besondere Gebührenordnung 250 Gebühren- tatbestände in neun Rechtsgebieten umfassend regeln. Das bedeutet einen nicht zu unterschätzenden Abstim- mungsprozess. Was ich damit sagen will, ist, dass wir auch bei dieser hohen Anzahl an Gebührentatbeständen den Anspruch haben, eine ausgewogene Gestaltung der Besonderen Gebührenordnung für das Innenressort zu gewährleisten, und das dauert seine Zeit, wie dieser Ge- setzentwurf zeigt. Geplant war, dass die Besondere Gebührenordnung des Bundesinnenministeriums bis zum 14. August 2016 in Kraft treten soll. Vor drei Jahren waren wir der Ansicht, dass die Besondere Gebührenordnung des Bundesminis- teriums des Innern zu diesem Zeitpunkt fertiggestellt werden kann. Die Mühlen der Justiz mahlen bekannt- lich langsam; die Mühlen des Gesetzgebers manchmal noch langsamer. Wie ich bereits erwähnt habe, handelt es sich bei den Gebührentatbeständen im Innenressort um 250 an der Zahl. Nun müssen wir feststellen, dass unsere Annahme überambitioniert war und weitere Abstimmun- gen notwendig sind. Dafür benötigen wir mehr Zeit. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf tragen wir die- ser Notwendigkeit Rechnung und verlängern diese Frist Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2016 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2016 16227 (A) (C) (B) (D) auf den 1. Oktober 2019. Von dieser Fristverlängerung betroffen ist vorerst nur die Besondere Gebührenordnung des Bundesministeriums des Innern. Sollte sich die Not- wendigkeit ergeben, auch die Fristen für die übrigen Res- sorts zu verlängern, werden wir dies in einem späteren Schritt ebenfalls tun. Eine gute Nachricht habe ich dennoch: Finanziell ent- steht durch diese Fristverlängerung keinerlei Nachteil, da die Allgemeine Gebührenordnung eine rechtssiche- re Kalkulation von fachbezogenen Gebührenregelun- gen vorgibt. Dass wir uns für die Ausgestaltung dieser Besonderen Gebührenordnung Zeit nehmen und nichts überstürzen, hat vor allem den Hintergrund, dass diese Besondere Gebührenordnung als Leitbild und Modell für die Besonderen Gebührenordnungen der übrigen Res- sorts dienen soll. Wenn wir also sicherstellen, dass die Besondere Gebührenordnung des Bundesministeriums des Innern möglichst eine einheitliche und transparente Struktur und Methodik zugrunde gelegt wird, schaffen wir auch für alle weiteren Besonderen Gebührenordnun- gen eine sehr gute Grundlage. Am Ende wird auch hier gelten: Was lange währt, wird endlich gut. – Ich bitte um Ihre Unterstützung. Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Wir beraten heu- te den Entwurf eines Gesetzes zur Aktualisierung der Strukturreform des Gebührenrechts des Bundes. Inhalt- lich geht es um Gebühren. Der Gesetzentwurf trägt eine größere Reichweite in sich, als es auf den ersten Blick erscheint. Zunächst möchte ich festhalten, dass der Staat als eine wesentliche Einnahmequelle die Gebühren kennt. Ge- bühren werden von der Verwaltung für die Inanspruch- nahme einer tatsächlichen Leistung erhoben. Der breiten Öffentlichkeit sind besonders die Gebühren für Abwasser oder für die Ausstellung eines Reisepasses bekannt. Die Gebühr erhält ihre Berechtigung durch den Mehrwert der staatlichen Leistung, die dem Bürger zufließt. Die Ver- fassung verpflichtet den Staat zu Sparsamkeit und Wirt- schaftlichkeit, sodass die Gebühr geeignet sein muss, die Kosten der erbrachten Leistung abzudecken. In diesem Zusammenhang muss auch erwähnt werden, dass der Staat als großer wirtschaftlicher Akteur mit einem Anteil von über 40 Prozent in unserer Volkswirtschaft handelt. Die Gebühr als Einnahmequelle des Staates entfaltet da- her eine grundlegende Berechtigung. Mit diesem Gesetzentwurf zum Gebührenrecht des Bundes wird mehr Transparenz und Rechtssicherheit ge- schaffen. In der noch zu erlassenden Gebührenordnung des Bundesministeriums des Innern werden 17 Gesetze und Verordnungen zusammengefasst. Alle Gebührentat- bestände werden sich aus einer einzigen Regelung able- sen lassen. Dies führt zu einer einheitlichen Struktur und zur Anwendung gleicher Methodikgrundsätze. Damit schaffen wir einen weiteren Schritt zu einer verbesserten Normenklarheit. Die Normenklarheit wird auch die Rechtssicherheit erhöhen. Der Rechtsanwender erhält einen vereinfachten Zugang zur Regelung, wenn sich die Gebühren aus ei- ner einzigen Verordnung entnehmen lassen. Die Rechts- sicherheit wird aufseiten des Gebührenschuldners, aber auch der Verwaltungsmitarbeiter gestärkt. Darüber hi- naus führt die einheitliche Regelung zu einer verein- fachten Normenpflege. Allgemeine Veränderungen oder Aktualisierungen im Gebührenrecht sind nur in einer ein- heitlichen Gebührenverordnung vorzunehmen. Diese Gebührenordnung soll zugleich einen Modell- entwurf für die anderen Bundesressorts und die Länder darstellen. Dem Gebot der Normenklarheit wird durch eine einheitliche Regelung auf Bundesebene damit noch weiter gehend Rechnung getragen. Eine einheitliche Re- gelung wird letztendlich zu weniger Abstimmungspro- blemen zwischen den einzelnen Ressorts führen, wenn die Grundlage von Gebühren eine einzige Verordnung sein wird. Eine einheitliche Gebührenordnung schafft die Grund- lage für einen weiteren Schritt zu einer funktionierenden, digitalen Verwaltung. Die Gesellschaft digitalisiert zu- nehmend. Zigtausende von Kaufverträgen werden tag- täglich über das Internet abgewickelt. Der Staat darf bei dieser Entwicklung nicht ins Hintertreffen geraten. Die Strukturen von E-Government sind bereits geschaffen. Die Gebührenordnung wird eine weitere Grundlage zur Abwicklung staatlicher Dienstleistungen in der digitalen Welt darstellen. Die Einführung einer einheitlichen Gebührenordnung trägt zu einer Verbesserung des Rechtsstaats bei. Mehr Normenklarheit und Rechtssicherheit dienen dem Staat, der Verwaltung und der Gesellschaft. Um eine reibungs- lose Umsetzung zu gewährleisten, ist eine Verzögerung des Inkrafttretens der Gebührenordnung hinnehmbar. Gabriele Fograscher (SPD): In der letzten Wahl- periode hat der Deutsche Bundestag eine umfassende Strukturreform des Gebührenrechts des Bundes be- schlossen. Diese war und ist mehr als überfällig; denn das Verwaltungsgebührenrecht findet man derzeit noch in mehr als 200 Gesetzen und Verordnungen. Es ist auf- grund der stark zersplitterten Struktur für Bürgerinnen und Bürger sowie Wirtschaft und Verwaltung intranspa- rent und kaum nachvollziehbar. Ziel des 2013 beschlossenen Gesetzes ist es, das Ge- bührenrecht zu bündeln, es einfacher und unbürokrati- scher zu machen und das Bund-Länder-Recht zu entflech- ten, was auch Intention der Föderalismuskommission II war. Künftig werden das Kostendeckungsprinzip und die Ausrichtung der Gebührenkalkulation auf betriebswirt- schaftliche Grundsätze vorherrschen, das heißt, die Kos- ten für die Verwaltungsleistung dürfen nicht höher sein als die Kosten, die der Verwaltung in Form von Perso- nal- und Sachkosten entstehen. Hohe Gebühren, die die wirklichen Kosten übersteigen, soll es nicht mehr geben. Ausnahmen vom Kostendeckungsprinzip soll es nur geben, um sozialen Belangen Rechnung zu tragen. Nie- mand soll aufgrund der Höhe der Gebühren von einer Verwaltungsleistung ausgeschlossen werden. Zudem sol- len die Gebühren für Verwaltungsleistungen der Länder durch Landesrecht geregelt werden. Damit werden die Rechtsanwendung erleichtert und langwierige Abstim- mungen zwischen Bund und Ländern vermieden. Nur bei Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 201616228 (A) (C) (B) (D) den Gebühren, bei denen eine bundeseinheitliche Rege- lung gewünscht ist, bestimmt weiterhin der Bund, in Ab- stimmung mit den Ländern, die Gebühren. Die gebührenrechtlichen Bestimmungen im Bereich des Bundesinnenministeriums sollten, so der Gesetzes- beschluss von 2013, am 14. August 2016 zugunsten einer Besonderen Gebührenordnung außer Kraft treten. Leider hat sich nun gezeigt, dass dieses Vorhaben nicht bis Mit- te August umgesetzt werden kann. In der Begründung des vorliegenden Gesetzentwurfes heißt es, der erhöhte Zeitbedarf ergebe sich, weil vor dem Erlass der Beson- deren Gebührenverordnung weitere mit intensiven Ab- stimmungsprozessen verbundene Rechtsakte nötig seien. Deshalb soll mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die Frist für das Erlassen der Besonderen Gebührenverord- nung im Bereich des Bundesinnenministeriums bis zum 1. Oktober 2019 verlängert werden. Da die Besondere Gebührenordnung des BMI Modelcharakter für die ande- ren Ressorts haben soll und dieselbe Methodik zugrunde gelegt wird, muss die Frist für die anderen Ressorts folg- lich bis zum 1. Oktober 2021 verlängert werden. Durch die Fristverlängerung entsteht fiskalisch kein Nachteil, da die Gebührenerhebung weiterhin durch die Allgemeine Gebührenverordnung gewährleistet ist. Frank Tempel (DIE LINKE): Das Gesetz zur Struk- turreform des Gebührenrechts des Bundes von 2013 sah vor, dass die bisherigen gebührenrechtlichen Bestim- mungen am 14. August 2016 zugunsten der bis dahin zu erlassenden Besonderen Gebührenordnung des BMI außer Kraft treten sollten. Der nun vorliegende Gesetz- entwurf regelt im Wesentlichen, dass die Frist zum Erlass dieser Besonderen Gebührenordnung auf den 1. Oktober 2019 verschoben wird. Die Frist für die gebührenrechtli- chen Bestimmungen im Zuständigkeitsbereich der übri- gen Ressorts und der Länder soll vom 14. August 2018 auf den 1. Oktober 2021 verschoben werden. Es ist dann wieder einmal ein Vorhaben, das von der laufenden Wahl- periode in die nächste Wahlperiode verschoben wird. Der Plan, eine einheitliche Gebührenordnung zu erlassen und in die Zuständigkeit der Fachressorts zu geben, ist von der Fraktion Die Linke im Bundestag grundsätzlich be- grüßt worden. Die bisher in rund 200 Fachgesetzen und Verordnungen enthaltenen Gebührenregelungen in einem einheitlichen Gesetz zu bündeln, kann zu mehr Transpa- renz für Bürgerinnen und Bürger, im innerbehördlichen Finanzgebaren und für die Wirtschaft führen. Mit der Verschiebung auf 2019 bzw. 2021 bleiben die verschie- denen Baustellen im Bereich des Gebührenrechts also bestehen. Das kann man durchaus als Arbeitsverweige- rung seitens der Bundesregierung sehen. Andererseits hatte die Fraktion der Linken im Bundes- tag in der Debatte um das Gesetz zur Strukturreform des Gebührenrechts in der letzten Wahlperiode erhebliche Bedenken formuliert. Diese Kritik gilt es zu erneuern: Da wäre die Ausgestaltung der Eigenständigkeit des Bundes und der Länder bei der Gebührenfestsetzung zu nennen. Wie immer läuft es auf eine Stärkung des Wett- bewerbs zwischen den Ländern hinaus, eines Wettbe- werbs, der letztlich die reichen Länder stärkt und arme Länder schwächt. Reiche Länder können Gebühren mo- derater gestalten, zum Beispiel als indirekte Wirtschafts- förderung oder aus sozialen Gründen. Ärmere Länder werden die maximal möglichen Gebühren nehmen müs- sen. Sie müssen ihre klammen Kassen füllen und Vor- würfen bei neuen Runden des Länderfinanzausgleiches aus dem Weg gehen, sie hätten sich nicht um mögliche Einnahmen bemüht. Die meisten Bundesländer werden aufgrund der un- gerechten Finanzverteilung in Deutschland, der zumeist nicht vorhanden Pensionsrücklagen und der massiv steigenden Kosten für ausscheidende Beamtinnen und Beamte in den kommenden Jahren massive Haushalts- probleme bekommen. So ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, dass die Entscheidungsfreiheit für die Länder im Wesentlichen darauf setzt, mittels Durchset- zung des Kostendeckungsprinzips das Gebührenaufkom- men insgesamt zu erhöhen, anstatt durch effizientere Strukturen staatliche Leistungen kostengünstiger vorhal- ten zu können. Vermutlich wird aber das Gegenteil der Fall sein: weniger Leistungen mit höheren Gebühren und häufigere Kostensteigerungen bzw. Gebührenerhöhun- gen. Die geringeren Leistungen sind schon deshalb zu erwarten, weil die Bundesländer in den letzten Jahren bis auf wenige Ausnahmen den öffentlichen Dienst personell ausgedünnt und auch keine Einstellungskorridore prakti- ziert haben, die das Ausscheiden Zehntausender Beschäf- tigter aus Altersgründen auffangen könnten. Ein schnell schrumpfender öffentlicher Dienst kann kaum gleiche Leistungen aufrechterhalten. Auch die volle Ausnutzung des Kostendeckungsprin- zips ist zwiespältig und kann bei falscher Anwendung be- denkliche soziale Folgen haben. Erst einmal ist es richtig, Klarheit zu den Kosten eines Verwaltungsvorganges zu haben. So werden zum Beispiel den Kommunen immer wieder Verwaltungsaufgaben überantwortet, ohne dass eine ausreichende Gegenfinanzierung durch die Länder oder den Bund gegeben ist. Mit einer exakten Kosten- ermittlung dürfte eine Delegation von Aufgaben ohne Kostenausgleich argumentativ schwierig werden. An- dererseits besteht die Gefahr, Kostendeckung als Legiti- mation unsozialer Gebühren ohne die konkrete Situation von Bevölkerungsgruppen, zum Beispiel Behinderter, zu berücksichtigen. Weiterhin ist die Kostendeckung ein dynamischer Pro- zess. Die Lohnkosten steigen, auch die Kosten für Ver- brauchsmaterial, Strom usw. Ein ununterbrochener Pro- zess an Kostensteigerungen bei Gebühren müsste dann an die Bürgerinnen und Bürger weitergegeben werden. Wir schlagen vor, dass Zeiträume definiert werden, nach denen neue Kostensteigerungen erst möglich werden. Wissend, dass solch eine einheitliche Gebührenord- nung von Nöten ist, und bedenkend, dass viele Punkte des Gesetzes problematisch sind, werden wir uns bei der Abstimmung zur Aktualisierung des Gesetzes erneut ent- halten. Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In sei- ner Unterrichtung aus dem Jahr 2009 verwies der Bun- desrechnungshof darauf, dass das Bundesinnenminis- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2016 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2016 16229 (A) (C) (B) (D) terium den Reformbedarf anerkannt habe und auf seine Empfehlung hin eine grundlegende Reform des Gebüh- renrechts vorbereite. Wer an dieser Stelle ein ungeschrie- benes „endlich“ mitliest, kann sich dabei zumindest auf die vorangegangenen Diskussionen berufen. Der Weg war jedenfalls bereits ein längerer, als drei Jahre später – im Jahr 2012 – der „Entwurf eines Gesetzes zur Struk- turreform des Gebührenrechts des Bundes“ vorgelegt worden ist. Doch es ist nicht nur die Länge des Weges, auf die ich hier hinweisen will; denn zur Rechtfertigung der durch den vorliegenden Antrag bezweckten Verschiebung des Inkrafttretens der „Besonderen Gebührenverordnung des Bundesministeriums des Innern“ um drei Jahre auf das Jahr 2019 beruft sich die Bundesregierung wiederum auf den Bundesrechnungshof, und ich frage mich, ob das ganz redlich ist. In der Begründung heißt es jedenfalls, die Verschiebung sei nötig, weil nach Auffassung des Bundesrechnungshofs auch die Gebührenerhebung der Bundespolizei in die Besondere Gebührenverordnung des Bundesinnenministeriums einbezogen werden soll; dafür müsse zunächst die erforderliche Rechtsgrundlage geschaffen werden. Wie kann es eine entsprechende Ergänzung rechtfer- tigen, ein solches Großprojekt um weitere drei Jahre zu verschieben? Das Ziel der Strukturreform ist schließlich eine Systematisierung bestehender und nicht die Schaf- fung neuer Gebührentatbestände. Da wäre es schon inte- ressant, zu erfahren, für welche Leistungen hier zukünf- tig Gebühren erhoben werden sollen, zumal die bisherige Gebührenpraxis im Bereich der Bundespolizei eher Spe- zialmaterien betrifft. Wir werden daher sehr aufmerksam beobachten, welche Ziele die Bundesregierung hier ver- folgt. Den Bundesrechnungshof in der vorliegenden Sache zum Befürworter einer Verschiebung der Reform zu erklären, finde ich aber auch deshalb kritisch, weil die entsprechenden Prüfungen des Rechnungshofs, auf die sich die Bundesregierung in ihrer Begründung bezieht, der Öffentlichkeit nicht zugänglich sind. Das halte ich für undemokratisch. Wir brauchen eine gut informier- te Öffentlichkeit. Die Ergebnisse der abgeschlossenen Prüfungen des Rechnungshofs sollten der Öffentlichkeit grundsätzlich zugänglich gemacht werden. Aber das ist in diesem Zusammenhang nur ein Rand- thema. Entscheidend ist, dass die Bundesregierung ihr selbst gestecktes Umsetzungsziel verfehlt hat. Der vom Bundesrechnungshof 2009 geforderte Reformimpuls ist anscheinend ausgeblieben. Das ist sehr bedauerlich. Im- merhin geht es bei der Reform um mehr Transparenz und mehr materielle Gerechtigkeit. Die Bemessung von Ge- bühren nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen und eine grundsätzliche Ausrichtung am Kostendeckungs- prinzip sind wichtig. Immerhin verschaffen die aller- meisten Verwaltungsleistungen den Antragstellern große finanzielle Vorteile. Da ist es unangemessen, wenn die- se geldwerten Leistungen zusätzlich aus Steuergeldern subventioniert werden. Ein konsistentes und lückenloses Gebührenrecht ist auch aus haushalterischen Gründen geboten. Systematische Regelungsstrukturen erleichtern dabei auch die Herstellung und Wahrung sozialer Ge- rechtigkeit. Wenn also heute eine Fristverlängerung um weitere drei Jahre beschlossen wird, sage ich: Nutzt die Zeit. Wir werden die Bundesregierung an den Ergebnis- sen dieser Bemühungen messen. Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de 164. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 3, ZP 2 Änderung des Luftverkehrsgesetzes TOP 4, ZP 3 Aktionsplan für gemeinnützige Wohnungswirtschaft TOP 5 Stärkung der beruflichen Weiterbildung TOP 24, ZP 4 Überweisungen im vereinfachten Verfahren TOP 25, ZP 5 Abschließende Beratungen ohne Aussprache ZP 6 Aktuelle Stunde zu gesundheitsgefährdenden Abgasbelastungen in vielen Städten TOP 6 Einstufung von Algerien, Marokko und Tunesien TOP 7 Menschenrechtsschutz bei Produktion im Ausland TOP 8 Bekämpfung von Korruption im Gesundheitswesen TOP 9 Gendergerechte und soziale Filmförderung TOP 10 Bundeswehreinsatz EUTM Mali TOP 11 Schutz des zivilgesellschaftlichen Engagements TOP 12 Bundeswehreinsatz EU NAVOR Atalanta vor Somalia TOP 13 Netzneutralität TOP 14 Erstes Finanzmarktnovellierungsgesetz TOP 15 Beendigung der Aids-Epidemie bis 2030 TOP 16 Reform der Investmentbesteuerung TOP 17 Arzneimittelrechtliche Vorschriften TOP 18 Gebührenrecht des Bundes Anlagen Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3 Anlage 4 Anlage 5 Anlage 6 Anlage 7 Anlage 8
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1816400000


Die Sitzung ist eröffnet. Ich darf Sie bitten, von den
Plätzen erhoben zu bleiben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 31. März ver-
starb mit 89 Jahren Hans-Dietrich Genscher. Bereits
am 18. März erlag Guido Westerwelle seiner schweren
Krankheit; er wurde nur 54 Jahre alt.

Dass Hans-Dietrich Genscher 1998 das letzte Mal im
Deutschen Bundestag das Wort ergriff, als nach eintä-
giger, historischer Debatte die Einführung des Euro be-
schlossen wurde, war wohl mehr als ein Zufall. Er selbst
sah, dass sich hier ein Kreis schloss. In seiner von vielen
als politisches Vermächtnis verstandenen Rede erinner-
te er daran, wie – Zitat – „nationalistische Verblendung
und verbrecherischer Vernichtungswille gegen andere
Völker“ die staatliche Einheit Deutschlands zerstört und
einen ganzen Kontinent verwüstet hatten. Als Luftwaf-
fenhelfer und Frontsoldat im Kampf um Berlin hatte er
diese blindwütige Zerstörung mit erleiden müssen. Da-
rauf erlebte er als Hallenser, der er in seinem Herzen im-
mer geblieben ist, die Enge der Diktatur in der DDR –
prägende Erfahrungen für ein ganzes Leben.

1998 erinnerte Hans-Dietrich Genscher im Bundes-
tag vor allem daran, dass die Deutschen ihre staatliche
Einheit nur als Demokraten und als – Zitat – „gute Eu-
ropäer“ wiedererlangen konnten. Genscher wusste, dass
nationale Einheit und europäische Einigung zwei Seiten
der gleichen Medaille sind. „Europa ist unsere Zukunft.
Wir haben keine andere“ – das war sein Credo; es wach-
zuhalten – auch in Krisenzeiten –, hat er uns aufgegeben.

Hans-Dietrich Genscher verstand in der bipolaren
Welt wie kaum ein Zweiter, zwischen den Blöcken zu
vermitteln. Mit trockenem Humor und einer schon le-
gendären Freude am Witz baute Genscher über alle po-
litischen Spannungen und ideologischen Gräben hinweg
Nähe und Vertrauen auf. Seine Außenpolitik war fest in
den westlichen Bündnissen verwurzelt und zugleich der
neuen Ostpolitik verpflichtet. So gestaltete er maßgeblich
den KSZE-Prozess und trug zum veränderten Klima bei,
das den Kalten Krieg überwinden half.

Früher als viele andere hatte er den Reformwillen
Gorbatschows erkannt. Im entscheidenden historischen
Moment schrieb Hans-Dietrich Genscher Weltgeschich-
te: In den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen ebnete er di-
plomatisch den Weg zur deutschen Einheit. Unvergess-
lich bleibt seine Ansprache auf dem Balkon der Prager
Botschaft, deren erster Halbsatz weit über den Kreis der
Betroffenen hinaus eine fast explosionsartige Wirkung
erzeugte.

1992 gab er zur Überraschung auch seiner engsten
Mitarbeiter und Freunde die Leitung des Auswärtigen
Amtes ab, als dienstältester europäischer Außenminister,
hochgeachtet in Deutschland und in der ganzen Welt, zu
einem Zeitpunkt, als sich die Außenpolitik angesichts der
Herausforderungen einer gründlich veränderten Welt neu
orientieren musste.

In mehr als der Hälfte der damals 43 Jahre Bundes-
republik hatte er bis dahin Regierungsverantwortung
getragen, zunächst als Innen-, dann als Außenminister,
unter drei Bundeskanzlern in zwei verschiedenen Koali-
tionen, in nicht weniger als neun Kabinetten. Als er 1998
auch den Bundestag verließ, endeten 33 Jahre Abgeord-
netentätigkeit, ein Leben im Dienst des Vaterlandes, wie
sich Genscher selbst gern ausdrückte, eine herausragende
politische Lebensleistung.

Genscher war es auch, der früh die politische Bega-
bung eines jungen liberalen Nachwuchspolitikers er-
kannt hatte, der wiederum in ihm sein großes politisches
Vorbild fand: Guido Westerwelle.

Die Nachricht von seinem Tod hat viele Menschen ge-
rade wegen der Willensstärke und Zuversicht tief getrof-
fen, die Westerwelle ausstrahlte, als er sich im vergange-
nen Herbst mit einem Buch über seinen Kampf gegen die
schwere Erkrankung in der Öffentlichkeit zurückmelde-
te, um Betroffenen Mut zu machen und andere zu ermun-
tern, Knochenmark in einer Spenderkartei typisieren zu
lassen.

Unser Land verliert mit Guido Westerwelle einen Par-
lamentarier von großer öffentlicher Präsenz. Über viele
Jahre hat er als herausragender Redner die Debattenkul-
tur in diesem Haus wesentlich bestimmt. Dem Deutschen






(A) (C)



(B) (D)


Bundestag gehörte Guido Westerwelle von 1996 bis 2013
an; von 2006 an stand er an der Spitze der FDP-Bundes-
tagsfraktion. Westerwelle focht für seine liberalen Über-
zeugungen, streitlustig, schlagfertig und scharfzüngig,
dabei oft witzig, mitunter beinhart in der Argumentation;
er teilte aus und musste einstecken. Sein Verständnis vom
Liberalismus wusste er in griffige Formeln zu kleiden,
und selbstbewusst ging er, um seinen Themen öffentliche
Aufmerksamkeit zu verschaffen, auch ungewöhnliche
Wege.

Manche Übertreibungen haben ihn schnell eingeholt.
Es sagt viel über seinen Charakter, dass er diese im Nach-
hinein bisweilen selbstkritisch hinterfragte. Während er
als Politiker in der Öffentlichkeit polarisierte, bleibt er
allen, die ihn persönlich kannten, als warmherzig, be-
scheiden, humorvoll und kunstinteressiert in Erinnerung.
Das haben viele bewegende Nachrufe, auch von Kolle-
gen in diesem Haus über alle Fraktionsgrenzen hinweg,
eindrücklich gezeigt.

Der FDP verhalf Guido Westerwelle 2009 zu einem
historisch beispiellosen Wahlergebnis und damit zu neuer
Regierungsverantwortung. Nicht zuletzt seinem Vorbild
Genscher folgend, suchte er die kräftezehrende, neue He-
rausforderung im Auswärtigen Amt. Der auf diese Weise
entwickelten Leidenschaft für die internationale Verstän-
digung ging er auch nach seinem Ausscheiden aus der
aktiven Politik weiter nach. Die Westerwelle Foundation
ist das ambitionierte, bleibende Vermächtnis einer Per-
sönlichkeit, die sich um unser Land verdient gemacht hat.

Der Deutsche Bundestag wird Hans-Dietrich Genscher
und Guido Westerwelle ein ehrendes Andenken bewah-
ren. Ihren Angehörigen gehört unser Mitgefühl.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, am 31. März ist
der ungarische Literaturnobelpreisträger Imre Kertesz
gestorben – eine außergewöhnliche Persönlichkeit,
Überlebender des Holocaust, der als 15-Jähriger von
Budapest nach Buchenwald und dann nach Auschwitz
verschleppt wurde, dessen Hinwendung zum demokrati-
schen Deutschland nach den schrecklichen persönlichen
Erfahrungen in der Zeit der nationalsozialistischen Ter-
rorherrschaft ein bewundernswertes Zeichen menschli-
cher Größe gewesen ist.

2002 hat er seinen Lebensmittelpunkt nach Deutsch-
land verlegt und bis 2012 in Berlin gewohnt. 2007 hat er
auf unsere Einladung am Gedenktag für die Opfer des
Nationalsozialismus hier im Deutschen Bundestag bewe-
gende, bleibende Worte an uns gerichtet. Im selben Jahr,
2007, rief Imre Kertesz dazu auf, den – Zitat – „furchtba-
ren Fanatismen in der Welt“ zu begegnen, „mit Kraft, mit
Vertrauen in sich selbst und in ein Europa, das weiß, was
es will und welche Werte es vertritt“.

Die anhaltende Bedrohung durch den islamistischen
Fanatismus haben uns verheerende Anschläge in den ver-
gangenen Wochen vor Augen geführt. Während bei den
Attacken auf den Brüsseler Flughafen und die U-Bahn
der Stadt erneut Europa, die Werte der westlichen Welt
und unser Verständnis von einem freien Leben im Faden-
kreuz der Attentäter standen, richtete sich in Lahore, in
Pakistan, der Terror ausdrücklich gegen die christliche

Minderheit im Land. Willentlich wurden besonders viele
Frauen und Kinder getroffen.

Dass sich der verblendete Hass der Islamisten auch
und gerade gegen Muslime selbst richtet, zeigten einmal
mehr die Anschläge im Irak, unter anderem auf ein Fuß-
ballspiel, bei dem wahllos Dutzende Menschen in den
Tod gerissen wurden.

Wir fühlen mit den Angehörigen aller Opfer. Und wir
bleiben alle aufgefordert, diesem mörderischen Fanatis-
mus entgegenzutreten – mit der Kraft des Rechtsstaates,
vor allem aber mit Vertrauen in uns selbst und in ein ge-
eintes Europa, das weiß, was es will und welche Werte
es vertritt.

Ich danke Ihnen.


(Die Anwesenden nehmen Platz)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt eine inter-
fraktionelle Vereinbarung, unsere Tagesordnung um die
in der Zusatzpunkteliste aufgeführten Punkte zu erwei-
tern:

ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und SPD:

Mehr Transparenz bei Steueroasen und Brief-
kastenfirmen durch international abgestimm-
tes Vorgehen durchsetzen


(siehe 163. Sitzung)


ZP 2 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr und digitale
Infrastruktur (15. Ausschuss) zu dem Antrag der
Abgeordneten Stephan Kühn (Dresden), Tabea
Rößner, Matthias Gastel, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Fluglärm wirksam reduzieren

Drucksachen 18/4331, 18/5247

ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Christian Kühn (Tübingen), Britta Haßelmann,
Sven-Christian Kindler, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Die neue Wohnungsgemeinnützigkeit – Fair,
gut und günstig wohnen

Drucksache 18/8081
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit (f)

Innenausschuss
Finanzausschuss

ZP 4 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver-
fahren


(Ergänzung zu TOP 24)


Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Meiwald, Kordula Schulz-Asche, Annalena
Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Gewässer vor Medikamentenrückständen
schützen

Präsident Dr. Norbert Lammert






(A) (C)



(B) (D)


Drucksache 18/8082
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit (f)

Ausschuss für Gesundheit

ZP 5 Weitere abschließende Beratung ohne Aus-
sprache


(Ergänzung zu TOP 25)


Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr und digitale
Infrastruktur (15. Ausschuss)


zu dem Vorschlag für eine Verordnung des
Europäischen Parlaments und des Rates
zur Festlegung gemeinsamer Vorschriften
für die Zivilluftfahrt und zur Errichtung ei-
ner Agentur der Europäischen Union für
Flugsicherheit sowie zur Aufhebung der
Verordnung (EG) Nr. 216/2008 des Euro-
päischen Parlaments und des Rates
KOM(2015) 613 endg.; Ratsdok. 14991/15

hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesre-
gierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes

Drucksachen 18/7422 Nr. A.22, 18/8103

ZP 6 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:

Haltung der Bundesregierung zu den gesund-
heitsgefährdenden Abgasbelastungen in vielen
deutschen Städten

ZP 7 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:

Aktuelle Tarifrunde im Bund und in den
Kommunen – Den öffentlichen Dienst gerecht
entlohnen

Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratung,
soweit erforderlich, abgewichen werden. Ich möchte Sie
fragen, ob Sie damit einverstanden sind. – Das ist offen-
sichtlich der Fall. Dann können wir so verfahren.

Dann rufe ich nun Tagesordnungspunkt 3 sowie den
Zusatzpunkt 2 auf:

3. Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Fünf-
zehnten Gesetzes zur Änderung des Luftver-
kehrsgesetzes

Drucksache 18/6988

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Verkehr und digitale Infrastruktur

(15. Ausschuss)


Drucksache 18/8102

ZP 2 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr und digitale
Infrastruktur (15. Ausschuss) zu dem Antrag der
Abgeordneten Stephan Kühn (Dresden), Tabea

Rößner, Matthias Gastel, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Fluglärm wirksam reduzieren

Drucksachen 18/4331, 18/5247

Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen
ein Änderungsantrag und ein Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen
Vereinbarung sind für die Aussprache 77 Minuten vorge-
sehen. – Auch das findet offenkundig allgemeine Zustim-
mung. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
zuständigen Bundesminister Dobrindt.

Alexander Dobrindt, Bundesminister für Verkehr
und digitale Infrastruktur:

Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wir haben es heute mit einer Änderung
des Luftverkehrsgesetzes zu tun, auf die in den vergan-
genen Monaten ganz viele sehnsüchtig gewartet haben,
weil dadurch Rechtssicherheit geschaffen wird; denn
zukünftig können an unseren medizinischen Einrichtun-
gen – an Krankenhäusern in den Landkreisen bzw. in der
Fläche – die Landestellen für die Rettungshubschrauber
weiter betrieben werden. Es ist ein wichtiges Signal,
weil wir in den vergangenen Monaten mit Blick auf die
Krankenhauslandschaft in starkem Maße Diskussionen
darüber hatten – resultierend aus einer EU-Rechtsver-
ordnung –, ob die medizinische Versorgung zukünftig
auch über den Hubschraubertransport sichergestellt wer-
den kann. Das gelingt uns jetzt mit diesem Gesetz. Wir
schaffen die Rechtssicherheit, dass die Nutzung von Lan-
destellen für Rettungshubschrauber gesichert ist, meine
Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wie Sie wissen, bestand lange Unsicherheit hinsicht-
lich des regelmäßigen Anflugs vieler Hubschrauberlande-
stellen von medizinischen Einrichtungen. Grundsätzlich
bedürfen Flugplätze – und damit auch Landestellen der
Luftrettung mit Hubschraubern – einer Genehmigung,
wofür eine ganze Reihe von Anforderungen zu erfüllen
sind. Stark bebaute, hindernisreiche Regionen stellen je-
doch eine besondere Herausforderung beim Landen und
Starten von Rettungshubschraubern dar und machen die
Erteilung einer solchen Genehmigung gerade in inner-
städtischen Bereichen oftmals schwierig.

Deshalb haben wir mit unserem Zukunftsplan dafür
gesorgt, dass die bisherigen Landestellen in sogenannte
Landestellen von öffentlichem Interesse umgewandelt
werden, dass weiterhin jede Landestelle bei einer un-
mittelbaren Notlage eines Patienten angeflogen werden
kann, wenn der Pilot dies als sicher einschätzt. Wir ha-
ben jetzt erstmal eine Liste aller zukünftigen und be-
stehenden Landestellen an Krankenhäusern erstellt, wo
grundsätzlich eine entsprechende Nutzung gegeben ist.
Mit dieser zukunftssicheren Rechtsgrundlage können die
Lande stellen langanhaltend genutzt werden und unter-
liegen keiner Genehmigungspflicht als klassischer Flug-
platz mehr.

Präsident Dr. Norbert Lammert






(A) (C)



(B) (D)


Das heißt, die Botschaft an die Regionen, die Land-
kreise und die Städte, welche Krankenhäuser mit Lande-
stellen betreiben, lautet: Alle Hubschrauberlandestellen
an den Krankenhäusern können weiterbetrieben werden.
Keine einzige muss geschlossen werden, meine Damen
und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Weiterhin haben wir in diesem Gesetz auch eine Re-
gelung aufgenommen, die dazu beiträgt, dass die Zu-
kunftsfähigkeit des Luftverkehrs insgesamt – gerade im
Hinblick auf den wachsenden Personenverkehr – gesi-
chert wird. Wir alle wissen, dass es nach den Prognosen
ansteigende Passagierzahlen in den nächsten Jahren – sie
werden sich danach fast verdoppeln – geben wird. Das
heißt, es wird auch eine deutliche Steigerung der Flugbe-
wegungen geben.

Angesichts einer solchen Prognose muss man darauf
achten, dass vor allem die Akzeptanz in der Öffentlich-
keit für Flughäfen, für den Flugverkehr und auch für die
steigende Zahl von Starts und Landungen beim Luftver-
kehr bestehen bleibt. Um diese Akzeptanz langfristig zu
erhöhen, werden wir mit der in diesem Gesetz enthalte-
nen Neuregelung sicherstellen, dass zukünftig beim Bau
zusätzlicher Start- und Landebahnen oder beim Neubau
von Flughäfen die gesamte räumliche Entwicklung in die
Umweltverträglichkeitsprüfung einbezogen wird. Damit
erfassen wir auch jene Bereiche, in denen Beeinträchti-
gungen, vor allem natürlich durch Lärm beim An- und
Abflugverkehr, zukünftig nicht ausgeschlossen werden
können.

Das ist eine grundlegend andere Herangehensweise
als in der Vergangenheit. In der Vergangenheit haben wir
sehr klar definiert: Wo wird durch welche Flugbewegun-
gen Lärm produziert werden? Genau das ist dann auch
geprüft und genehmigt worden. Jetzt ist unsere Herange-
hensweise davon geprägt, dass auch möglicher zukünf-
tiger Lärm aufgrund von Veränderungen am Flugplatz
schon im Planfeststellungsverfahren mit berücksich-
tigt werden muss. Damit schaffen wir für die betroffe-
nen Anwohner deutlich mehr Sicherheit vor zukünftig
entstehendem Lärm. Das heißt, auch die Prognosen zu
Lärmbelastungen spielen zukünftig eine Rolle, wenn es
um die Genehmigung geht. Damit werden Konflikte, die
wir heute oftmals erleben, von vornherein ausgeschlos-
sen. Die Bevölkerung wird informiert. Dadurch wird die
Akzeptanz für Flughäfen und Flugbewegungen erhöht,
meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben in diesem Gesetz zur Änderung des Luft-
verkehrsgesetzes auch Regelungen gefunden, die Aus-
fluss intensiver Debatten der in meinem Haus nach dem
Absturz der Germanwings-Maschine eingesetzten Task-
force sind. Wir haben mit dieser Taskforce sowohl die
Unternehmen als auch die Wissenschaft, die Verwaltung
und die Politik zusammengebracht, um Sicherheitsre-
gelwerke, die wir im Bereich des Luftverkehrs haben,
weiterzuentwickeln. Diese Taskforce, in der alle ge-
meinsam – die Fluggesellschaften, das Ministerium, das
Luftfahrt-Bundesamt, die Berufsverbände, die Flugme-

diziner – viele Wochen lang unter dem Dach des Bun-
desverbands der Deutschen Luftverkehrswirtschaft eine
Debatte geführt haben, hat uns eine Weiterentwicklung
unserer Regeln empfohlen. Diese Empfehlung wollen
wir mit diesem Gesetz umsetzen.

Der Abschlussbericht hat sich intensiv mit der Frage
befasst: Können wir Verbesserungen bei den Kontroll-
mechanismen im Bereich des Luftverkehrs durchsetzen?
Wir haben uns in intensiven Beratungen mit den Kolle-
ginnen und Kollegen aus dem Verkehrsausschuss – übri-
gens auch innerhalb der Koalition – mit dem Abschluss-
bericht beschäftigt. Ich möchte allen Kolleginnen und
Kollegen meinen ausdrücklichen Dank aussprechen, die
in einer nicht ganz einfachen Situation bereit waren, ge-
meinsame Lösungen zu finden, und jetzt auch bereit sind,
sie mit dem Gesetzeswerk konsequent umzusetzen.

Ein zentraler Punkt war, dass wir zukünftig Piloten
stichprobenartig auf den Konsum von Alkohol, Drogen
und Medikamenten kontrollieren werden. Meine Damen
und Herren, Experten weltweit gehen davon aus, dass
stichprobenartige Kontrollen des Konsums von Alkohol,
Drogen und Medikamenten im Flugverkehr einen posi-
tiven Effekt haben und die betriebliche Sicherheit in der
Luftfahrt erhöhen. Genau das ist unser Beweggrund. Es
geht nicht um Verdächtigungen gegenüber Pilotinnen
und Piloten, sondern schlichtweg darum, dass wir mit
einer Kontrollinstanz dafür sorgen, dass ein Stück mehr
Sicherheit entsteht; denn die Kontrollen führen natürlich
dazu, dass auch untereinander eine stärkere Beobachtung
des Verhaltens stattfindet. Verhaltensweisen können in-
nerhalb der Luftfahrtunternehmen mit Vertrauensperso-
nen besprochen werden. Damit kann ein möglicher Scha-
den präventiv ausgeschlossen werden.

Meine Damen und Herren, wir wissen, dass die Luft-
fahrtunternehmen hier in der Verantwortung stehen,
diese Regelungen auch umzusetzen. Wir verpflichten
deswegen die Luftfahrtunternehmen, vor Dienstbeginn
stichprobenartig Kontrollen durchzuführen. Bisher fehlt
es im Luftverkehr an solchen ausdrücklichen und sank-
tionsbewehrten Verboten, wie wir sie im Bereich Stra-
ßenverkehr haben. Das ändern wir jetzt. Darüber hinaus
wird das Luftfahrt-Bundesamt ermächtigt, solche Kon-
trollen unangemeldet und bei allen in Deutschland täti-
gen Luftfahrzeugführern durchzuführen und Verstöße
mit Bußgeld zu ahnden. Ich bin überzeugt: Mit dieser
Kombination aus gemeinsamer unternehmerischer und
behördlicher Verantwortung leisten wir einen wichtigen
Beitrag zur weiteren Stärkung der Verkehrssicherheit in
der Zivilluftfahrt.

Zusätzlich richten wir eine flugmedizinische Daten-
bank über die Tauglichkeit von Piloten ein und stellen
damit eine lückenlose und nachvollziehbare Aufsicht
durch die anerkannten flugmedizinischen Sachverstän-
digen und flugmedizinischen Zentren sicher. Zugleich
passen wir damit unsere luftrechtlichen Bestimmungen
in Bezug auf das fliegende Personal in der Zivilluftfahrt
an. Untersuchungsergebnisse zur Tauglichkeit werden –
unter Einhaltung des Datenschutzes – personenbezogen
gespeichert und dem ärztlichen Personal in den Luft-
fahrtbehörden uneingeschränkt übermittelt.

Bundesminister Alexander Dobrindt






(A) (C)



(B) (D)


Die Änderungen im vorliegenden Gesetzentwurf sind
für uns in der Tat ein bedeutender Schritt. Eine entspre-
chende Diskussion gibt es nicht erst seit wenigen Mona-
ten oder einem Jahr, sondern der Prozess dauert schon
viele Jahre an. Es geht um die Abwägung zwischen dem
Interesse von Behörden, Daten zu sammeln, und der be-
rechtigten Forderung der Betroffenen nach Datenschutz.
Die Fachkolleginnen und -kollegen des Deutschen Bun-
destages haben sich in der Vergangenheit immer wieder
mit dieser Frage auseinandergesetzt. Die aktuelle Rechts-
lage war das Ergebnis einer intensiven Debatte. Das Er-
gebnis war eine Pseudonymisierung der Daten, sodass
den Behörden nur anonymisierte und keine personenbe-
zogen Daten vorliegen.

Wir haben uns jetzt entschlossen, einen anderen Weg
zu gehen. Es wird eine flugmedizinische Datenbank ein-
gerichtet, in der alle Tauglichkeitszeugnisse und medizi-
nischen Untersuchungsbefunde gespeichert werden, und
zwar personenbezogen. Zugriff auf diese Datenbank ha-
ben ausschließlich die medizinischen Sachverständigen
des Luftfahrt-Bundesamtes und deren Mitarbeiter. Dabei
ist zu betonen, dass wir mit der Einführung der Daten-
bank die Flugmediziner in die Lage versetzen, festzustel-
len, ob ein sogenanntes Ärztehopping stattfindet. In der
Vergangenheit wurde vielfach kritisiert, dass Ärzte nicht
in die Lage versetzt werden, festzustellen, ob ein Patient
schon vielfache medizinische Untersuchungen an ande-
ren Stellen vornehmen ließ, dies aber dem zuletzt unter-
suchenden Arzt nicht zur Kenntnis gebracht hat.

Das kann durch die neue Regelung ausgeschlossen
werden. Wir versetzen die Ärzte in die Lage, festzustel-
len, ob Ärztehopping stattfindet. Wir versetzen die Ärzte
in die Lage, festzustellen, ob ihr Patient Voruntersuchun-
gen hatte. Wenn sich daraus ein Verdacht ergibt, dann
kann sich ein Arzt an das LBA wenden, das auf die Da-
tenbank zugreifen und nachschauen kann. So kann man
klären, ob es sich möglicherweise um eine Gefährdungs-
situation handelt, bei der man einschreiten muss.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Ich weiß, dass die Diskussion und der Abwägungspro-
zess zwischen Datenschutz und einem Mehr an Trans-
parenz den Kolleginnen und Kollegen viel abverlangt
hat. Ich weiß, dass es nicht ganz einfach ist, all die Ar-
gumente, die in der Vergangenheit gegolten haben, mit
neuen Argumenten anzureichern, um zu einer anderen
Entscheidung zu kommen. Aber ich weiß, dass dies der
richtige Weg ist.

Ich möchte mich ausdrücklich bei Ihnen allen für die
Diskussion und die Begleitung der Taskforce bedanken.
Die neuen Regelungen sind ein richtiger Schritt, um die
Sicherheit im Flugverkehr zu stärken und um das Ver-
trauen in die Luftfahrt aufrechtzuerhalten.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1816400100

Das Wort hat nun der Kollege Herbert Behrens für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Herbert Behrens (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1816400200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das

Luftverkehrsgesetz soll in vielen Punkten verändert wer-
den, aber ich will mich auf zwei Punkte beschränken, um
etwas mehr Zeit zum Argumentieren zu haben.

Die Überwachung der Gesundheit ist der erste Punkt.
Es wurde eben noch einmal deutlich hervorgehoben, dass
wir uns mit der Flugtauglichkeit der Pilotinnen und Pi-
loten befassen müssen, nachdem wir das schreckliche
Unglück der Germanwings-Maschine zu konstatieren
hatten. Es hat eine umfassende Aufarbeitung und Be-
arbeitung gegeben. Ich glaube, wir haben uns im Aus-
schuss in verantwortungsbewusster Weise mit dieser
Frage beschäftigt. Wir sind dabei zu unterschiedlichen
Ergebnissen gekommen, und ich will gern begründen,
warum das der Fall gewesen ist.

Wir stellen fest, dass der Wettbewerbsdruck in der
Luftverkehrswirtschaft enorm ist. Er hat sich langsam
bis in die Flugzeugkanzeln hineingefräst. Es gibt Ge-
schäftsmodelle, bei denen Piloten nur noch dann bezahlt
werden, wenn sie auch tatsächlich fliegen. Das übt na-
türlich einen enormen Druck auf die Beschäftigten aus,
die aufpassen müssen, wie viele Erkrankungen und wie
viele Auszeiten sie sich nehmen können. „Pay per Flight“
heißt dieses Geschäftsmodell, das wir verurteilen.


(Beifall bei der LINKEN)


Aus diesem Grund, aber auch aufgrund der German-
wings-Katastrophe, war es nötig, uns mit den Sicherheits-
anforderungen und den Gesundheitsanforderungen an
die Piloten zu befassen. Wie kann sichergestellt werden,
dass nur körperlich und seelisch wirklich gesunde Piloten
in der Kanzel ihren Dienst tun? Der Verkehrsminister hat
es eben erwähnt: Er setzt auf lückenlose Kontrolle auch
der Gesundheitsdaten und auf zusätzliche unangekündig-
te Zufallskontrollen. Dann wissen die Piloten, dass sie
nicht ungestraft oder nicht ohne die Gefahr, erwischt zu
werden, diese Substanzen zu sich nehmen dürfen. Das
kennen wir aus dem Straßenverkehr. Das ist okay, denn
es geht um die Gesundheit der in der Luftverkehrswirt-
schaft tätigen Menschen.

Aber wir müssen wissen, was diese lückenlose Über-
wachung der Gesundheitsdaten auch nach sich zieht. Das
heißt, zu fragen ist: Gibt es Möglichkeiten, diese zu um-
gehen, wenn sich jemand nicht so wohl fühlt oder wenn –
wie ich es eben gesagt habe – ein bestimmtes Geschäfts-
modell dahintersteckt, das jemanden sogar dazu zwingt,
nach Umgehungstatbeständen zu suchen?

Darum haben wir versucht, mit unseren Vorschlägen
in die Debatte einzugreifen und insbesondere dieses Ar-
gument aufzugreifen. Wir sind da nicht ganz allein. Auch
die Europäische Agentur für Flugsicherheit, EASA, hat
in ihrem Abschlussbericht zum Germanwings-Unglück
festgestellt, dass es durch verschiedene Programme mög-
lich sein muss, auf die Piloten einzuwirken, sodass sie

Bundesminister Alexander Dobrindt






(A) (C)



(B) (D)


wirklich nur dann ihren Dienst antreten, wenn sie körper-
lich und auch seelisch topfit sind.

Wir haben auch den Vorschlag gemacht: Lasst uns
doch Regelungen finden, durch die wir in der Lage sind,
ganz dicht an die Beschäftigten selbst über Tarifverträge
und Betriebsräte heranzukommen. Nicht nur wachsende
Bürokratie sorgt für mehr Sicherheit, sondern auch ganz
dicht an den Beschäftigten ansetzende Programme, die
es ihnen erleichtern, sich zu offenbaren, wenn es ihnen
nicht gutgeht. Das ist im Gesetzentwurf nicht enthalten,
darum werden wir diesen Gesetzentwurf auch ablehnen
müssen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, der heute
Morgen noch keine Rolle gespielt hat, nämlich die Ver-
ordnung über Bodenabfertigungsdienste auf Flugplätzen.
Dazu haben wir einen Entschließungsantrag vorgelegt.
Auch hier ist erkennbar, dass aufgrund der Liberalisie-
rung des Marktes seitens der EU-Kommission und der
nachfolgenden Gesetzentwürfe der Bundesregierung der
Deregulierung Tür und Tor geöffnet sind. Diese reicht bis
zu den Bodenabfertigungsdiensten. Inzwischen ist es den
Flughafenbetreibern untersagt, ausschließlich und allein
für den Flughafen und die damit im Zusammenhang
stehenden Bodenabfertigungsdienste verantwortlich zu
sein. Darum sind sogenannte Drittabfertiger zugelassen,
die in einer Anlage zur Verordnung genannt werden.

Nun hat man in Düsseldorf diese Bodenabfertigungs-
dienste ausgeschrieben, obwohl für Düsseldorf festgelegt
wurde, dass nur zwei Drittabfertiger auf dem Vorfeld und
in den Diensten eingesetzt werden dürfen. In Düsseldorf
sucht man einen dritten Anbieter und hat diese Aufgabe
ausgeschrieben. Jetzt versucht man hier, mit einer ent-
sprechenden Maßnahme dieses illegale Handeln auf dem
Düsseldorfer Flughafen zu legitimieren. Das dürfen wir
nicht zulassen.


(Beifall bei der LINKEN – Peter Wichtel [CDU/CSU]: Das ist doch Quatsch!)


Das ist nachträgliches Legalisieren einer nichtlegalen
Handlung. In Schönefeld haben wir übrigens das gleiche
Verfahren. Auch dort wird die Obergrenze, die in der Ver-
ordnung festgelegt ist, überschritten.

Es ist nicht in Ordnung, dass das Thema Sicherheit an
dieser Stelle nicht angemessen berücksichtigt wird. Ha-
ben wir denn mehr Sicherheit, wenn mehr Firmen für die
Bodenabfertigungsdienste auf den Flughäfen zuständig
sind? Ist es nicht vielmehr so, dass wir mit gut kontrol-
lierten Unternehmen, die qualitativ hochwertige Arbeit
leisten und die tariflichen Standards einhalten, für ein
hohes Maß an Sicherheit auf den Flughäfen sorgen? Ich
meine, das ist der richtige Weg. Ein hohes Maß an Si-
cherheit gibt es nur mit guten Arbeitsbedingungen. Gute
Arbeit und Sicherheit gehören zusammen.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Helga Kühn-Mengel [SPD])


Liebe Kolleginnen und Kollegen, als die EU-Kom-
mission eine Ausweitung des Wettbewerbs und mehr
Konkurrenz in diesem Bereich forderte, waren wir uns

im Ausschuss einig. Wir haben die Gefahren gesehen und
einhellig gesagt: Nein, wir wollen den Wettbewerb be-
grenzen. Hier aber wird einfach so getan, als ob ein Mehr
an Bodenverkehrsdiensten nicht zu einer Liberalisierung
führt. Das ist nicht in Ordnung. Darum sage ich: Nehmen
Sie unseren Entschließungsantrag ernst. Greifen Sie die
darin genannten Vorschläge auf, damit es auf den Flughä-
fen, auch in den dem Flugfeld vorgelagerten Bereichen,
wirklich sicher ist; denn Sicherheit ist das höchste Gebot
in der Luftfahrt. Wie gesagt: Gute Arbeit und mehr Si-
cherheit sind zwei Seiten einer Medaille.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1816400300

Arno Klare ist der nächste Redner für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Arno Klare (SPD):
Rede ID: ID1816400400

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist parlamenta-
rische Primetime, und wir reden über Luftverkehr. Das
kommt nicht so oft vor, muss ich feststellen. Als Bericht-
erstatter für diesen Bereich füge ich selbstbewusst hinzu:
Der deutschen Luftverkehrswirtschaft steht, um in der
metaphorischen Diktion zu bleiben, dieser prominente
Sendeplatz durchaus zu.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wir reden heute über die 15. Novelle des Luftver-
kehrsgesetzes. Das hört sich ziemlich trocken an, aber
wir reden über das Basisgesetz der Luftverkehrswirt-
schaft in Deutschland. Aus diesem Luftverkehrsgesetz
sind alle anderen Gesetze, die mit Luftverkehr zu tun ha-
ben, entweder abgeleitet, oder sie beziehen sich darauf,
so zum Beispiel das Luftsicherheitsgesetz – ein Entwurf
der Novelle liegt vor; jetzt steht die Ressortabstimmung
an –, das Fluglärmgesetz, das 2017 evaluiert werden soll,
und natürlich auch die Verordnungen wie die Luftver-
kehrs-Ordnung und die Luftverkehrs-Zulassungs-Ord-
nung. Das alles sind sehr abstrakt klingende Begriffe,
aber all das ist aus diesem Basisgesetz abgeleitet. Inso-
fern nehme ich mir in meiner noch knapp fünfminütigen
Redezeit das Recht, ein paar Worte über den allgemeinen
Zustand, über die allgemeine Lage der Luftverkehrswirt-
schaft in Deutschland zu sagen; denn es geht darum, dass
dieses Basisgesetz geändert wird, und wenn wir schon
einmal zur Primetime debattieren, dann muss man das
auch einmal tun.

Allgemein gilt: Die Luftverkehrswirtschaft in der
Bundesrepublik Deutschland hat eine sehr hohe ökono-
mische Bedeutung. Aber sie hat auch – auch dieser As-
pekt gehört dazu – einen durchaus schweren Stand, und
zwar auf nationaler und internationaler Ebene. Auf natio-
naler Ebene geht es dabei um die Akzeptanz – das Thema
ist gerade schon vom Minister angesprochen worden –,
und auf internationaler Ebene geht es um die internatio-
nale Konkurrenz.

Herbert Behrens






(A) (C)



(B) (D)


Ich fange mit der nationalen Akzeptanz an. Im letzten
Jahr wurde die NORAH-Studie veröffentlicht. Dies ist
weltweit die größte Studie zur Lärmwirkung. Sie wur-
de übrigens zum größten Teil von der Luftverkehrswirt-
schaft selbst finanziert; auch das muss man sagen. In die-
ser Studie ist den Bewohnern der Anrainerregionen des
Frankfurter Flughafens zum Beispiel die Frage gestellt
worden, inwieweit sie sich durch den Luftverkehrslärm
belästigt fühlen. Das Ergebnis aus dieser Befragung in
den Jahren 2011, 2012 und 2013 ist mit dem Ergebnis
einer Studie verglichen worden, die aus dem Jahr 2005
stammt.

Von 2005 bis zu der Befragung 2011, 2012, 2013
haben die Flugbewegungen am Frankfurter Flughafen
deutlich abgenommen – die Passagierzahlen sind gestie-
gen, aber die Flugbewegungen haben abgenommen –,
die Flugzeuge sind leiser geworden – das kann man an
den Messpunkten und den Protokollen der Messpunkte
eindeutig ablesen –, und – ein Weiteres kommt noch hin-
zu – die Nachtruhe ist eingeführt worden. Gleichwohl ist
die Zahl derjenigen Menschen, die geäußert haben, dass
sie von dem Fluglärm sehr belästigt werden, gegenüber
2005 um 11 Prozent gestiegen. Weniger Flüge, leisere
Flüge und Nachtruhe – trotzdem 11 Prozent mehr.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was wollen Sie uns damit sagen?)


Das zeigt: Die Luftverkehrswirtschaft und der Luftver-
kehr haben in der Tat ein Akzeptanzproblem, das wir an-
gehen müssen.

Hinzu kommt, dass der Luftverkehr in einer globalen
Konkurrenz steht und für die deutsche Luftverkehrswirt-
schaft kein Level Playing Field in dieser Welt besteht.
Anders als andere Verkehre ist Luftverkehr durchaus
verlagerbar. Istanbul ist von München, dem zweiten gro-
ßen Hub nach Frankfurt, einen Steinwurf weit entfernt.
Dort können genau die Verkehre abgewickelt werden,
die in München abgewickelt werden. Von Frankfurt ist es
auch nicht wahnsinnig weit weg. Das heißt, die Wachs-
tumsdynamik ist, wenn man den deutschen mit dem in-
ternationalen Luftverkehr vergleicht, bei uns durchaus
schwach. Dankenswerterweise haben wir als Grundlage
für das Luftverkehrskonzept, das jetzt zur Beratung und
Entwicklung ansteht, eine Expertise von, ich glaube,
700 Seiten vorliegen, in der das deutlich und in Zahlen
ausgedrückt wird. Ich bin durchaus dankbar dafür, dass
solch eine Riesenexpertise vorliegt; denn sie fasst – zu-
mindest für mich – einmalig all das zusammen, was man
sich sonst mühsam zusammensuchen müsste.

Die Luftverkehrswirtschaft ist ein volkswirtschaft-
liches Essential in Deutschland, und sie ist hochgradig
innovativ mit großen Spin-off-Effekten für andere Berei-
che. Ich möchte nur eines herausgreifen. Ich war in der
letzten Woche in Ottobrunn bei München auf dem Ludwig
Bölkow Campus von Airbus. Dort haben zwei ganz große
deutsche Firmen, nämlich Siemens und Airbus – nicht zu
ganz gleichen Teilen; Airbus steckt da mehr rein –, den
Grundstein für ein E-Aircraft System House gelegt, einer
Forschungseinrichtung, die elektrisches Fliegen mög-
lich machen will. Einen solchen Flieger gibt es übrigens
schon. Das ist der E-Fan. Er ist relativ klein. Er würde

hier vorne in den Saal gut hineinpassen. Das gibt es also
schon. Das ist keine völlige Utopie. Die wollen das jetzt
in großem Stile organisieren und daran forschen. Das ist
ein 450-Millionen-Euro-Investment. Das sollte man viel-
leicht einmal würdigen, wenn man darüber redet, ob man
Flugverkehre und die Luftverkehrswirtschaft weiterhin
restriktiv und beschneidend angehen will. Da ist ein ganz
großes innovatives Potenzial enthalten.

Nicht weit davon entfernt ist das Bauhaus Luftfahrt –
über diesen Punkt habe ich hier schon einmal geredet –,
die SOLAR-JET entwickelt haben, ein Kerosin, das aus
schlichten Teilen besteht, nämlich einfach nur aus CO2,
aus Wasser und als Energiezufuhr Sonnenlicht. Daraus
wird völlig klimaneutral, völlig CO2- und THG-neutral
ein Kerosin hergestellt.


(Beifall der Abg. Ulli Nissen [SPD])


Das ist auch im industriellen Großmaßstab machbar.
Wenn beides zusammenkommt, elektrisches Fliegen plus
dieses Kerosin – es geht ja um ein Hybridflugzeug –, dann
fliegen wir klimaneutral. Das ist ein wirklich sehr gro-
ßer innovativer Schritt. Wenn man dieses SOLAR-JET
herstellen kann, dann kann man das im Prinzip auch
auf andere Spritarten übertragen, zum Beispiel die, die
wir im Straßenverkehr verwenden. Das meine ich mit
Spin-off-Effekten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zusammenfassend muss man sagen: Wir sollten die
immense Bedeutung der Luftverkehrswirtschaft in un-
serer gesamten Volkswirtschaft ernst nehmen, und wir
sollten bedenken – ich habe jetzt nur ganz wenige Punkte
genannt –, wie hochgradig innovativ die Luftverkehrs-
wirtschaft ist und wie viel Geld und Forschungskapazität
darin stecken.

Danke, dass Sie mir zugehört haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1816400500

Oliver Krischer ist der nächste Redner für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816400600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

ist schon angesprochen worden: Dieser Gesetzentwurf
betrifft eine ganze Reihe von Aspekten. Ich erspare es
mir, hier darüber zu reden, dass Rechtssicherheit für
Hubschrauberlandeplätze an Krankenhäusern geschaffen
wird. Dass da Rechtssicherheit geschaffen wird, ist ei-
gentlich selbstverständliches Regierungshandeln.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das kann man nicht ernsthaft infrage stellen. Damit kann
man sich auch nicht brüsten. Das bedarf also eigentlich
keiner weiteren Erwähnung.

Wir finden es im Grundsatz richtig, dass auch Kon-
sequenzen aus dem Germanwings-Absturz gezogen

Arno Klare






(A) (C)



(B) (D)


werden, dass hier gehandelt wird; mein Kollege Stephan
Kühn wird gleich noch Näheres dazu sagen.

Ich möchte mich auf einen Aspekt konzentrieren, der,
glaube ich, zwischen uns kontrovers ist, was diesen Ge-
setzentwurf angeht – er war auch der ursprüngliche An-
lass dafür, dass dieses Gesetz geändert wird –: auf das
Thema Fluglärm. Herr Klare, Sie haben von Akzeptanz-
problemen gesprochen. Das klang so, als ob rund um die
Großflughäfen alles gut wäre. – Wo ist er denn? Ich sehe
ihn gar nicht.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Tja, nicht mehr da!)


– Er ist wieder gegangen, gut. – Er hat, wie gesagt, so
getan, als ob alles gut wäre.


(Ulli Nissen [SPD]: Er musste weg! Wir geben es weiter!)


– Aha. – Aber wenn man sich einmal die Situation rund
um die deutschen Großflughäfen ansieht, stellt man fest:
Es ist eine unglaubliche Belastung, die die Menschen
dort aushalten müssen, im Minutentakt, oft noch nachts.
Ich sage ganz offen: Wenn die Luftverkehrswirtschaft,
wie Herr Klare eben gesagt hat, so wichtig ist, so sehr
prosperiert und so stark ist, dann muss es doch eigentlich
eine Selbstverständlichkeit sein, dass die Bundesregie-
rung alles unternimmt, um die Belastungen durch Flug-
lärm zu reduzieren.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Herbert Behrens [DIE LINKE] – Sören Bartol [SPD]: Das machen wir doch! Aber ihr wollt doch gar nichts! Wenn es nach euch ginge, gäbe es kein Flugzeug mehr! Das ist Steinzeit!)


Meine Damen und Herren, da kann man wirklich nur
mit dem Kopf schütteln. Sie legen hier einen Gesetzent-
wurf vor, der im Kern als einzige Änderung im Hinblick
auf den Fluglärm vorsieht, dass dann, wenn neue Lande-
bahnen oder Flughäfen in Deutschland gebaut werden,
eine UVP-Pflicht besteht. Mir ist nicht bekannt, wo in
Deutschland im Moment ein großer Verkehrsflughafen
oder auch nur eine Landebahn geplant wird – es sei denn,
es gibt einen Geheimplan von Herrn Dobrindt, um sein
Mitscheitern beim BER ganz neu aufzulösen. Aber Sie
machen hier ein Gesetz für etwas, was in den nächsten
Jahren keine Rolle spielen wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist doch absurd. Das hat nichts mit dem Schutz vor
Fluglärm zu tun. Das ist im Off.

Was wir tatsächlich bräuchten – da machen Sie über-
haupt nichts; das packen Sie an dieser Stelle überhaupt
nicht an –, ist, dass dann, wenn an Flughäfen die Flug-
routen geändert werden und Genehmigungsänderungen
anstehen, eine UVP-Pflicht besteht und Vorprüfungen
durchgeführt werden. Das haben Sie andeutungsweise
sogar in Ihrem Koalitionsvertrag stehen. Meine Damen
und Herren von der Großen Koalition, warum machen

Sie das nicht, wo Sie dieses Gesetz jetzt anpacken? Ich
habe dafür kein Verständnis.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist, ehrlich gesagt, ein Witz. Das ist ein Hohn gegen-
über den Millionen von Fluglärm betroffenen Menschen
in Deutschland.

Sie handeln überhaupt nur deshalb, weil die EU-Kom-
mission Sie dazu zwingt. Sie würden das, was Sie jetzt
ändern, weil sich Deutschland einem Vertragsverlet-
zungsverfahren gegenübersieht, sonst gar nicht ändern.
Das ist nicht angemessen. Das ist nicht die Lösung, die
wir brauchen. Wenn, wie es Herr Klare eben gesagt hat,
die Flughäfen, der Luftverkehr und der Flugverkehr,
den wir alle nutzen, mehr Akzeptanz finden sollen, dann
brauchen wir eine ganze Menge Änderungen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen vor allen Dingen klare Abwägungskri-
terien. So wie es heute vonstattengeht, ist das absolut in-
transparent; denn in jeder Region und an jedem Standort
wird irgendwie ein bisschen vor sich hin gewurschtelt.
Nachher können die Betroffenen überhaupt nicht nach-
vollziehen, warum man sich für welche Route entschie-
den hat. Das klären Sie nicht.


(Sören Bartol [SPD]: Was macht denn Herr Al-Wazir in Hessen?)


Sie hätten jetzt die Gelegenheit, das hier einzubringen
und es in diesen Gesetzentwurf einzubauen. Das machen
Sie aber nicht. Warum schreiben Sie so etwas in den Ko-
alitionsvertrag, wenn Sie dieses Thema dann, wenn es,
wie hier, konkret ansteht, überhaupt nicht anpacken?
Meine Damen und Herren, das ist organisiertes Nicht-
handeln. Das ist eine reine Shownummer.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, was wir endlich auch brau-
chen, sind klare Lärmgrenzwerte für den Luftverkehr.
Es kann doch nicht sein, dass es für jede Diesellok und
jedes Auto entsprechende Regelungen gibt, dass es aber
für den Luftverkehr – die NORAH-Studie hat uns wieder
vor Augen geführt, dass es hier gesundheitliche Folgen
gibt, dass Depressionen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen
und andere Zivilisationskrankheiten Folgen der Lärm-
belastung sind – keine klaren Grenzwerte gibt. Auch da
könnten Sie handeln. Auch da tun Sie nichts.


(Sören Bartol [SPD]: Quatsch!)


Meine Damen und Herren, last, not least: Thema
Nachtflug. Von den Maschinen, die nachts starten, sind
die Menschen am allermeisten betroffen. Das darf, ehr-
lich gesagt, nicht sein. Hier müssen wir tatsächlich zu
einer Reduzierung der Belastungen kommen. Was den
Flughafen Köln/Bonn betrifft, hat die Landesregierung
Nordrhein-Westfalen bzw. die Region die Bundesregie-
rung und den Verkehrsminister aufgefordert, wenigstens
für den Passagierflugbereich ein Nachtflugverbot durch-
zusetzen. Das könnten Sie jetzt hier auch machen. Sie
tun das aber nicht, obwohl die Menschen dort und die
zuständige Landesregierung das wollen.

Oliver Krischer






(A) (C)



(B) (D)


Ich sage Ihnen: Wenn es um Fluglärmbetroffene geht,
dann sind Sie auf beiden Augen blind. Sie haben am Ende
nur die Interessen der Luftverkehrswirtschaft im Auge.
Das haben Ihnen die Sachverständigen in der Anhörung
am Ende auch ins Stammbuch geschrieben.

Meine Damen und Herren, bitte haben Sie Verständnis
dafür, dass wir einem solchen Gesetzentwurf, der im Be-
reich des Fluglärms nichts verbessert, nichts löst und im
Sinne der Betroffenen voranbringt, unsere Zustimmung
nicht erteilen können.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Sören Bartol [SPD]: Das überrascht uns aber total! Damit haben wir jetzt gar nicht gerechnet!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1816400700

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Peter

Wichtel das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Peter Wichtel (CDU):
Rede ID: ID1816400800

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der letzten Sit-
zungswoche des vergangenen Jahres haben wir hier im
Plenum des Deutschen Bundestages die erste Lesung des
geplanten Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Luft-
verkehrsgesetzes durchgeführt. Damals haben wir uns
darauf verständigt, dass wir uns vor dem Hintergrund des
Germanwings-Unfalls Zeit nehmen und intensiv prüfen
wollten, ob das eingebrachte Änderungsgesetz an der
einen oder anderen Stelle noch verbessert werden kann.

Nach intensiven Beratungen und in enger Abstim-
mung mit unserem Koalitionspartner haben wir nun ei-
nen Änderungsantrag verfasst, der das vorliegende Än-
derungsgesetz an einigen Stellen angemessen unterstützt.
Durch die Eingaben, die wir gemacht haben, und mit der
heute vorgesehenen Verabschiedung dieses Gesetzent-
wurfs werden wir alle Akteure im Feld der Luftfahrt –
Passagiere, Beschäftigte und die Unternehmen der
Luftverkehrswirtschaft – mit einem klaren luftverkehrs-
rechtlichen Rahmen und einer nachhaltigen und verant-
wortungsbewussten Luftverkehrspolitik unterstützen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bun-
desregierung hat die vorliegende Gesetzesänderung ins-
besondere auch deswegen in das Parlament eingebracht,
um auf mehrere Vorgaben der Europäischen Kommission
einzugehen und die bestehenden gesetzlichen Regelun-
gen anzupassen. Die EU-Kommission ist nämlich zum
Beispiel der Auffassung, dass das geltende deutsche
Luftrecht hinter den Anforderungen der europäischen
Gesetzgebung zurückbleibt, weil in den Verfahren zur
Festlegung von Flugverfahren weder eine Umweltver-
träglichkeitsprüfung noch eine Prüfung der Auswirkun-
gen auf Natura-2000-Gebiete durchgeführt wird.

Die EU-Kommission hat vor diesem Hintergrund be-
reits im Jahr 2013 sogar ein Vertragsverletzungsverfah-

ren gegen die Bundesrepublik Deutschland eingeleitet.
Parallel dazu hat die höchstrichterliche Rechtsprechung
in Deutschland bestätigt, dass UVPs bereits im Zulas-
sungsverfahren für Flughäfen umfassend durchgeführt
werden müssen. Die UVP müsse sich auf den gesamten
Einwirkungsbereich des Flughafens erstrecken. Dabei
sollen die abwägungserheblichen Auswirkungen geprüft
werden.

Die Bundesregierung hat diesen Einwänden mit dem
Gesetzentwurf nun Rechnung getragen. Auch wir sorgen
mit unserem Änderungsantrag noch einmal für Klarheit
und betonen beispielsweise im Hinblick auf die Ände-
rung in § 8 des Luftverkehrsgesetzes, dass die Untersa-
gung der Abwicklung von An- und Abflugverkehr über
bestimmten Gebieten durch die Planfeststellungsbehörde
keinesfalls die Befugnisse der Fluglotsen zu verkehrslen-
kenden Maßnahmen aus dringenden Sicherheitsgründen
nach § 31 Absatz 3 Luftverkehrs-Ordnung einschränkt.
Unmittelbar verkehrsregelnde Maßnahmen bleiben der
Planfeststellungsbehörde also auch weiterhin untersagt.

Bei einer weiteren unklaren Rechtssituation, die es
aufzulösen galt, ging es um die Landeplätze für Heli-
kopter. Im Gegensatz zu meinem Vorredner halte ich das
deutsche Rettungswesen für wichtig.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist absolut wichtig! Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass man dafür Rechtssicherheit schafft!)


In der Vergangenheit gab es keine entsprechende Rege-
lung, und es wurde geduldet, dass Rettungsflüge statt-
finden. Herr Krischer hat hier laut und deutlich in den
Raum gestellt, dass wir eine solche auch nicht brauchen
und dass das eine Selbstverständlichkeit ist. Bis dato war
es aber eben nicht selbstverständlich. Wir haben uns des-
halb bewusst damit befasst, und es hat einige Zeit gedau-
ert, bis wir zu den richtigen Maßnahmen und Schritten
gekommen sind.

Der Hintergrund ist: Nach den gesetzlichen Vorgaben
soll der Betrieb von Luftfahrzeugen grundsätzlich auf
Flugplätzen abgewickelt werden. Durch das Inkrafttreten
der EU-Verordnung 965/2012 ergibt sich nun die Mög-
lichkeit, den Hubschrauberbetrieb der Luftrettung von
und zu sogenannten Örtlichkeiten von öffentlichem In-
teresse zuzulassen, worunter auch Krankenhäuser fallen.

Meine Damen und Herren, aber auch das war noch
nicht alles. Die Krankenhäuser waren der Meinung: Das
klappt dann überall. – Wir mussten in der Diskussion mit
dem Verband in der Anhörung feststellen, dass hier wei-
tere Debatten und auch unsere Unterstützung notwen-
dig waren. Dazu haben wir in unserem Antrag einiges
dargelegt. Wir haben zum Beispiel aufgenommen, dass
Dachlandeplätze nicht einfach von der neuen Regelung
ausgenommen und damit gestrichen werden, sondern je-
weils eine Einzelfallprüfung stattfindet.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Andreas Rimkus [SPD])


In diesem Zusammenhang darf ich auf Folgendes hin-
weisen: Es war nicht klar, dass Hubschrauberlandeplätze,
die nicht eingerichtet und auch nicht genehmigt sind, als

Oliver Krischer






(A) (C)



(B) (D)


sogenannte Notlandeplätze auch mehrfach angeflogen
werden können. Deswegen haben wir gestern im Aus-
schuss bewusst und gezielt noch einmal angesprochen,
dass Landeplätze dort, wo Gefahr für Leib und Leben
besteht, regelmäßig und mehrfach angeflogen werden
dürfen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Mit zwei ganz entscheidenden Änderungen in einem
anderen Bereich haben die Koalitionsfraktionen dafür
gesorgt, dass im Gesetz Klarstellungen hinsichtlich der
Kontrolle von Luftfahrzeugführern im Zusammenhang
mit Alkohol, Drogen und Medikamenten vorgenommen
werden. Die Dienstfähigkeit, die durch die betäubende,
bewusstseinsverändernde oder aufputschende Wirkung
von Medikamenten beeinträchtigt werden könnte, soll
kontrolliert werden. Verantwortlich hierfür sollen die
Luftfahrtunternehmen sein, die eine seitens des Luft-
fahrt-Bundesamtes anerkannte Niederlassung oder den
Hauptsitz in Deutschland haben. Zudem hat das LBA nun
selbst auch die Möglichkeit, stichprobenartig zu kontrol-
lieren. Also können von ihm neben der bisher bestehen-
den rechtlichen Möglichkeit, technische und betriebliche
Zustände von Luftverkehrsfahrzeugen im Rahmen von
§ 29 des Luftverkehrsgesetzes zu überprüfen, nun auch
die stichprobenartigen Untersuchungen und Verdachts-
kontrollen mit Blick auf die Dienstfähigkeit durchgeführt
werden.

Ein weiterer Baustein war, das heute schon hohe Si-
cherheitsniveau durch die Einführung einer flugmedizi-
nischen Datenbank weiter heraufzusetzen. Wir sind der
festen Überzeugung, dass wir nach langer Diskussion
den richtigen Weg gefunden haben. Ergänzend haben wir
die Behörde ermuntert, tätig zu werden und diese Daten-
bank zu beurteilen. Wir haben uns darauf verständigt,
dass die Tauglichkeitszeugnisse, so wie es der Minister
ausgeführt hat, als medizinische Befunde der Bewerber
personenbezogen gespeichert werden.

Den Zugriff auf diese Datenbank erhalten ausschließ-
lich die dafür zuständigen medizinischen Mitarbeiter des
Luftfahrt-Bundesamtes. Die Pseudonymisierung wird
aufgehoben. Somit kann in Zukunft genau festgestellt
werden, wie die Entwicklung bei jedem Einzelnen ver-
läuft und ob es Probleme gibt oder nicht. Ich denke, wenn
man sich das genau ansieht, dann erkennt man, dass wir
dem Thema Datenschutz besondere Aufmerksamkeit
geschenkt haben. Nun sollen als Muster für diese Neu-
regelungen die datenschutzrechtlichen Regelungen zur
Seediensttauglichkeit dienen, wo heute schon die Ge-
sundheitsdaten der Seeleute personenbezogen in das See-
diensttauglichkeitsverzeichnis übermittelt werden.

Meine Damen und Herren, diese notwendigen Rege-
lungen sollen natürlich auch vor dem Hintergrund gese-
hen werden, dass die Fluggesellschaften weiterhin das
anbieten, was sie schon heute anbieten, nämlich Pilo-
ten, die Probleme haben, den ungehinderten Zugang zu
Ärzten im Rahmen von Beratungen und Prävention zu
ermöglichen. Wir fordern die Bundesregierung auf, die
Regelung, die es bei deutschen Luftverkehrsgesellschaf-

ten gibt, auf europäischer Ebene und auf der Ebene der
IATA ebenfalls einzuführen,


(Beifall des Abg. Andreas Rimkus [SPD])


sodass es im Luftverkehr insgesamt zu mehr Sicherheit
kommen kann.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Nun wurde vorhin der Vorwurf geäußert, es sei nichts
zum Thema Bodenverkehrsdienste gesagt worden. In
der letzten Legislaturperiode, Herr Kollege Behrens und
Herr Krischer, gab es einen eindeutigen Beschluss des
Deutschen Bundestages, die deutsche Bundesregierung
aufzufordern, dass über die zwei Abfertiger hinaus, die
die Regelungen vorsehen, keine weiteren zugelassen
werden sollen. Die Bundesregierung hat auf Einwand
und Nachfrage der Koalition erklärt: Dieses Thema ge-
hört nicht ins Gesetz. Deswegen ist es herausgenommen
worden. Diese Frage kann durch das Ministerium im
Wege einer Verordnung geklärt werden, wenn die bishe-
rige Regelung nicht dem Willen der Mehrheit der Mit-
glieder des Deutschen Bundestages entspricht. Ich sehe
dort niemanden, der das machen will.

Wir werden also, wie von mir vorgetragen, dem heu-
te vorliegenden Gesetzentwurf mit den vorgenommenen
Änderungen ausdrücklich zustimmen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist überraschend!)


Ich sage noch einmal sehr deutlich, dass die Thematik
Lärm bzw. Fluglärm nicht Inhalt dieses Gesetzvorhabens
ist, weil wir diese Thematik überhaupt nicht auf der Ta-
gesordnung hatten. Das wird in einer künftigen Novelle
des Luftverkehrsgesetzes berücksichtigt werden.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie haben eine Vereinbarung im Koalitionsvertrag!)


Sie tun ja so, als wenn es keine Lärmgrenzen gäbe.
Das ist bei uns in Deutschland geregelt, und diese Rege-
lungen werden eingehalten.

Sie haben in den Raum gestellt, dass bei heutigen
Flugroutenänderungen mehr Bevölkerung von Lärm be-
troffen sei. Ich kenne in Deutschland keine einzige be-
ratende Fluglärmkommission, die nicht dem Grundsatz
folgt, dass Änderungen nur vorgenommen werden, wenn
dadurch weniger Menschen belastet werden.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist am Flughafen Düsseldorf aber anders!)


– Herr Krischer, Sie sind kein Verkehrspolitiker, sondern
in anderen Bereichen tätig. Deswegen liegen Sie an die-
ser Stelle schlichtweg falsch.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1816400900

Herr Kollege.

Peter Wichtel






(A) (C)



(B) (D)



Peter Wichtel (CDU):
Rede ID: ID1816401000

Herr Präsident, ich habe gesehen, dass meine Redezeit

abgelaufen ist. Mein Minister sollte 15 Minuten lang re-
den, hat aber nur 10 Minuten lang geredet.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb ist er auch gegangen!)


Deswegen dachte ich, dass ich wenigstens 2 Minuten von
dieser Zeit bekommen könnte. Ich komme jetzt aber zum
Schluss.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1816401100

Herr Kollege Wichtel, wenn es so wäre, wie Sie ver-

muten, wäre die Situation nicht ganz so kompliziert, wie
sie ist. Sie sind aber offensichtlich im Finale. Das beru-
higt mich schon einmal.


Peter Wichtel (CDU):
Rede ID: ID1816401200

Den Anträgen der Linken können wir nicht zustim-

men. Auch dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen,
über den wir schon im letzten Jahr diskutiert haben und
in dem wir außer Verboten und sonstigen Themen nichts
gefunden haben, können wir nicht zustimmen. Wir sind
der Auffassung, dass das, was derzeit mit Blick auf Flug-
lärm sowie Flugroutenfestlegungen und -veränderungen
gemacht wird, in einem sehr geordneten und guten Rah-
men gemacht wird. Deswegen werden wir dem Gesetz-
entwurf der Bundesregierung zustimmen und die Anträ-
ge ablehnen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1816401300

Nun erhält die Kollegin Sabine Leidig für die Fraktion

Die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Sabine Leidig (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1816401400

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Herr Minister Dobrindt hat vorhin von der Zukunftsfä-
higkeit des Luftverkehrs gesprochen. Eigentlich wollte
die Bundesregierung in diesem Frühjahr ein Luftver-
kehrskonzept vorlegen. Das hat sie bisher aber nicht ge-
macht.


(Stephan Kühn [Dresden] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist auch besser so!)


Stattdessen haben die Umwelt- und Verkehrsverbände
gemeinsam in einer großen Allianz ein solches Kon-
zept vorgelegt, für das es auch höchste Zeit ist; denn
der Flugverkehr ist inzwischen ein wachsender Treiber
des Klimawandels, der allein in Deutschland jedes Jahr
10 Milliarden Euro Subventionen verschlingt, die wir
Bürgerinnen und Bürger aufbringen müssen.

Eine dreiviertel Million Bürgerinnen und Bürger sind
hierzulande von Fluglärm betroffen. Es geht also nicht
um eine Lappalie. Die Verbände haben sehr schön dar-
gelegt, wie man Umweltkosten durch eine Klimaabgabe
vermeiden kann, wie man unnötige Flüge vermeidet und

die vorhandenen Flughafenkapazitäten besser ausnutzt,
wie man gesundheitsschädlichen Fluglärm vermindert
und die Nachtruhe schützt. Hätten Sie sich doch daran
einmal ein Beispiel genommen. Das wäre sehr gut ge-
wesen.


(Beifall bei der LINKEN)


Stattdessen haben Sie Vorschläge für einen Flicken-
teppich an Änderungen am Luftverkehrsgesetz vorge-
legt, die zumindest mit Blick auf den Fluglärm ein Ar-
mutszeugnis sind. Worum geht es dabei?

Beim BER-Flughafen war das Planfeststellungsver-
fahren – vielleicht erinnern sich einige daran – mitsamt
Umweltverträglichkeitsprüfung und Einspruchsmöglich-
keiten abgeschlossen, und danach sind die Flugrouten
festgelegt worden, die so überhaupt nicht geplant wa-
ren. Über das Erholungsgebiet Müggelsee beispielswei-
se sollten zentrale Flugrouten gehen. Es sind zahlreiche
Klagen dagegen vor Gericht verhandelt worden. Zudem
hat die EU-Kommission gefordert, einen solchen absur-
den Missstand zu beheben. Deshalb haben Sie die Ände-
rungen vorgenommen und nicht aus freien Stücken.

In Ihrem Gesetzentwurf ist nun vorgesehen, dass bei
neuen Flughäfen oder bei einer erheblichen Erweiterung
der ganze Einwirkungsbereich in die Umweltverträglich-
keitsprüfung einbezogen werden muss. So weit, so gut.
Aber es wird praktisch keine neuen Flughafenbauten
geben, und auch die Planungen für die dritte Landebahn
in München, das Terminal 3 in Frankfurt und auch für
einige Erweiterungen beim BER sind schon längst abge-
schlossen. Ihre Regelungen werden also ins Leere laufen.

Was wirklich nottut – dafür streiten wir als Linke,
und dafür haben wir auch unseren Änderungsantrag ein-
gebracht –, ist, dass die Flugrouten selber auf ihre Um-
weltverträglichkeit bzw. auf ihre Lärmbelastung geprüft
werden.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Entscheidend ist, über welche Wohngebiete die Flugzeu-
ge tatsächlich fliegen, und zwar nicht irgendwann in der
Zukunft, sondern jetzt.

In meiner Heimatregion, dem Rhein-Main-Gebiet,
sind über 80 Bürgerinitiativen gegen Flughafenausbau,
für ein Nachtflugverbot und gegen Fluglärmbelastung
aktiv. Diese 80 Bürgerinitiativen haben Ihnen eine ge-
meinsame Stellungnahme geschickt und Wort für Wort
erklärt, welche Punkte und Unterpunkte in Ihren Paragra-
fen geändert werden müssten, damit das, was am Ende
herauskommt, eine sinnvolle Wirkung zum Schutz von
Menschen und Natur hat.

Das alles haben Sie ignoriert. Welche Interessen ver-
treten Sie eigentlich? Wir als Linke-Fraktion haben je-
denfalls mit unserem Änderungsantrag die Interessen der
Bürgerinnen und Bürger vertreten.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir haben das Ziel, die tatsächliche Belastung unter
den wirklichen Flugrouten zu bewerten und auf dieser
Grundlage Alternativen zu prüfen. Wir wollen weg von






(A) (C)



(B) (D)


der Schallschutzfenstermentalität, dass die Menschen
im Haus bleiben sollen, damit sie nicht vom Lärm krank
werden. Wir wollen, dass es am Himmel leiser wird als
heute.


(Beifall bei der LINKEN)


Dazu muss auch das Umweltbundesamt gestärkt wer-
den. Dazu müssen die Bürgerinnen und Bürger gestärkt
werden. Wir brauchen eine bessere Bürgerbeteiligung,
damit der Lärm- und Gesundheitsschutz nicht immer
wieder den Gewinninteressen der Luftverkehrsindustrie
geopfert wird. Diesem Anliegen sollten alle Volksvertre-
ter und Volksvertreterinnen zustimmen.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1816401500

Nächster Redner ist der Kollege Andreas Rimkus für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Andreas Rimkus (SPD):
Rede ID: ID1816401600

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf und dem
Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen wird ein The-
ma ganz großgeschrieben: Sicherheit. Ich fliege gerne
und viel, meistens zwischen Wahlkreis und Hauptstadt.
Ich weiß aber auch, dass das Fliegen immer mit Ängsten
und Unsicherheiten verbunden ist. Buchstäblich den Bo-
den unter den Füßen zu verlieren und der Schwerkraft zu
trotzen, flößt nicht jedem ein Gefühl von Freiheit ein, wie
Reinhard Mey in seinem Song „Über den Wolken“ singt.

Für die Politik heißt das, den Menschen auf der einen
Seite das Gefühl von Sicherheit zu vermitteln, sie aber
auf der anderen Seite auch vor tatsächlichen Gefahren
zu schützen. Um auch in Zukunft die Sicherheit zu ge-
währleisten, dürfen wir aber nicht nur auf Deutschland
blicken. Luftverkehr kennt nämlich keine geografischen
Grenzen. Er funktioniert im besten Falle global, min-
destens aber europäisch. So wird mit der Regelung zum
EASA-Zeugnis für Flugplatzbetreiber ein europäischer
Rahmen zur Zertifizierung von Flugplätzen umgesetzt.
Das sollte aber nicht nur ein Schritt zur Harmonisierung
des europäischen Luftverkehrs sein, sondern es soll auch
mehr Vergleichbarkeit in Europa schaffen. Hier gilt, wie
wir bereits gestern im Ausschuss deutlich gemacht ha-
ben, wegen der bereits zertifizierten deutschen Flughä-
fen, dass Mehrfachzertifizierungen möglichst vermieden
werden sollten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch die Änderun-
gen im Bereich der Anforderungen an Landestellen von
Rettungshubschraubern führen zu mehr Vergleichbarkeit
in der EU und zur Schaffung einheitlicher Standards.
Doch eines darf dabei nicht vergessen werden – Peter
Wichtel hat es schon gesagt –: Die Luftrettung muss in
jedem Fall in ihrer heutigen Form erhalten werden. Des-
halb haben wir als Parlamentarier der Koalitionsfrakti-
onen in unserem Änderungsantrag deutlich gemacht,

dass Dachlandeplätze auf Krankenhäusern, wenn sie die
entsprechenden Sicherheitsstandards erfüllen, selbstver-
ständlich für die Luftrettung freigegeben werden müssen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Eine gute Luftrettung zu erhalten und dafür zu sorgen,
dass Menschen, die Hilfe brauchen, diese auch bekom-
men, sollte unser erstes Interesse sein. Die Bundesrepu-
blik hat im Vergleich zu ihren Nachbarländern ein sehr
sicheres und gut funktionierendes Luftrettungssystem,
das ein Garant für gute medizinische Versorgung ist.

Neben den technischen Anforderungen an Landestel-
len und Flugplätze brauchen wir natürlich Sicherheit in
den Abläufen. Dazu gehört auch das Personal am Boden
und in der Luft. Die Kolleginnen und Kollegen sind der
Ankerpunkt eines gut funktionierenden Luftverkehrs.
Dabei tragen sie vor allem in der Luft eine sehr große
Verantwortung, nämlich Verantwortung für die Unver-
sehrtheit der Menschen an Bord. Dies verdient unser al-
ler Anerkennung und Respekt. Im Lichte des Absturzes
der Germanwings-Maschine, der sich gerade jährte, wird
uns noch einmal besonders klar, welche Bedeutung diese
Verantwortung hat.

Die Rahmenbedingungen für gute Arbeitsplätze und
eine zuverlässige medizinische Betreuung der Beleg-
schaft zu schaffen, ist dabei eine zentrale Aufgabe der
Politik. Wie wichtig dies beispielsweise im Bereich der
medizinischen Betreuung von Belegschaften ist, wurde
uns am 24. März letzten Jahres deutlich vor Augen ge-
führt. Ich bin froh, dass wir nach der Germanwings-Ka-
tastrophe – als Düsseldorfer Abgeordneter hat mich die-
se besonders betroffen – nicht in blinden Aktionismus
verfallen sind. Kluge und versierte Köpfe haben sich in
einer Taskforce zusammengeschlossen, uns Orientierung
gegeben und Empfehlungen erarbeitet. Mit dem vorlie-
genden Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen tragen
wir dem Rechnung und haben, wie ich finde, maßgebli-
che und gute Verbesserungen im Fall der medizinischen
Versorgung von Pilotinnen und Piloten erreicht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Durch eine flugmedizinische Datenbank lassen sich
nun Krankheitsverläufe besser nachvollziehen. Sie trägt
zur Früherkennung von Krankheiten bei, die die Flug-
tauglichkeit infrage stellen. Diese Früherkennung stei-
gert nicht nur die Sicherheit im Luftverkehr, sondern
sorgt auch dafür, dass den Betroffenen früher geholfen
werden kann. Besonders wichtig war uns dabei, den not-
wendigen Durchblick zu gewährleisten und gleicherma-
ßen hohe Datenschutzanforderungen zu formulieren. Die
Zufallskontrollen sollen nicht nur verhindern, dass nicht
flugtaugliches Personal im Cockpit sitzt, sondern natür-
lich auch helfen, frühzeitig zu erkennen, ob eine Pilotin
oder ein Pilot mit Suchtproblemen oder psychischen Pro-
blemen kämpft. So erschütternd das genannte Ereignis
war, bleibt es doch ein äußerst seltener Fall. Nicht ohne
Grund ist das Flugzeug einer der sichersten Verkehrsträ-
ger weltweit.

Sabine Leidig






(A) (C)



(B) (D)


All die Menschen, die zum Erfolg des Flugverkehrs
beitragen und dafür sorgen, dass Menschen und Güter
sicher und zuverlässig befördert werden, verdienen gute
und sichere Arbeitsverhältnisse.


(Beifall bei der SPD)


Dazu gehört auch, zu verhindern, dass Mitarbeiter einer
Sucht verfallen. Wir haben in unserem Änderungsantrag
deutlich gemacht, dass auch überbetriebliche Verein-
barungen zur Suchtprävention zu treffen sind. Ziel soll
sein, eine regelmäßige Aufklärung und Sensibilisierung
der Mitarbeiter über Gefahren und Risiken des Sucht-
mittelkonsums zu gewährleisten. Darüber hinaus wollen
wir das Thema nach Europa tragen. Europaweit sollen
Beratungsstellen – genauso wie in Deutschland – dafür
Sorge tragen, dass mitarbeitende Kolleginnen und Kolle-
gen nicht alleine gelassen werden und sich vertrauensvoll
an eine solche Stelle wenden können, wenn sie psychi-
sche Probleme oder Suchtprobleme haben; denn nur eine
europäische Regelung wird dafür sorgen, dass wir die
notwendige Flächendeckung bei den Beratungsstellen
erzielen.


(Beifall bei der SPD)


Neben diesen Sicherheitsfragen haben wir Änderun-
gen bei der Erfassung von Fluglärm vorgenommen. Mit
der Novellierung wird bei der Planung von Flugrouten
noch stärker die Betroffenheit der Bevölkerung in den
Blick genommen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich bin überzeugt, dass wir mit dieser Novelle deutliche
Verbesserungen der notwendigen europäischen Normie-
rung erzielen und auch dem Sicherheitsanspruch von uns
Passagieren gerecht werden und dass wir so zumindest
politisch alles dafür getan haben, dass man über den
Wolken vielleicht doch grenzenlose und sichere Freiheit
verspürt.

Schönen Dank.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1816401700

Ich erteile das Wort dem Kollegen Stephan Kühn für

die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Experten, die
die Bundesregierung beraten, der Sachverständigenrat
für Umweltfragen der Bundesregierung, kamen 2014 in
ihrem Gutachten zu dem Ergebnis – Zitat –:

Die gesetzliche Regelung der Fluglärmproblematik
im Luftverkehrsrecht ist unterentwickelt.

Das wird sich mit der aktuellen Änderung des Luftver-
kehrsgesetzes nicht ändern.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schlimm!)


Ob das Festschreiben der aktuellen Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichts reicht, die EU-Kom-

mission zu überzeugen, das Vertragsverletzungsverfah-
ren aufzuheben, darf bezweifelt werden. Die Pflicht zur
Durchführung der Umweltverträglichkeitsprüfung und
zur Prüfung der Auswirkungen auf Natura-2000-Gebiete
gehört in das Verfahren zur Festlegung von Flugrouten
und nicht nur in das Zulassungsverfahren für Flughäfen;


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


denn die Gesetzgebung, wie Sie sie heute vorschlagen,
wird nur einen begrenzten Anwendungsbereich haben.
Substanzielle Verbesserungen für die lärmgeplagten An-
wohnerinnen und Anwohner an den Hotspots in Deutsch-
land? Fehlanzeige.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wo bleibt die im Koalitionsvertrag versprochene ver-
besserte Transparenz und Beteiligung der Kommunen
und der Öffentlichkeit bei der Festlegung von Flugrou-
ten? Im Zusammenhang mit der Festlegung von Flug-
verfahren fehlen weiterhin jegliche Bewertungskriterien.
Nicht einmal das Wenige, das Sie im Koalitionsvertrag
aufgeschrieben haben, setzen Sie um.

Bei der Festlegung von Flugrouten sollte nach dem
Koalitionsvertrag eigentlich der Lärmschutz insbeson-
dere in den Nachtstunden verbessert werden. Nichts ist
passiert. Die Ergebnisse der NORAH-Studie, der Lärm-
wirkungsstudie, zeigen den dringenden Handlungsbe-
darf. Bei allen Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöht sich
das Risiko, insbesondere durch nächtlichen Fluglärm.
Das sollte uns zum Denken und vor allen Dingen zum
Handeln bringen. Was eigentlich zu tun wäre, haben wir
in unserem Antrag „Fluglärm wirksam reduzieren“ auf-
geschrieben, über den wir heute mit abstimmen werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Mit der Novelle des Luftverkehrsgesetzes werden wir
aber heute auch die notwendigen luftverkehrsrechtlichen
Konsequenzen aus dem tragischen Absturz der German-
wings-Maschine am 24. März 2015 in den französischen
Alpen ziehen. Zwei Kommissionen haben sich insbeson-
dere mit Maßnahmen beschäftigt, die die Feststellung
und Überprüfung der Flugtauglichkeit von Piloten ver-
bessern. Dazu gehört insbesondere der schon angespro-
chene Aufbau einer flugmedizinischen Datenbank, den
wir für geboten halten, wie der Fall Lubitz auch zeigt.

Allerdings: Die Unzulänglichkeiten bei den flugmedi-
zinischen Tauglichkeitsprüfungen waren bereits vor dem
Absturz der Germanwings-Maschine bekannt. Die eu-
ropäische Flugaufsichtsbehörde EASA hat zuletzt 2014
an der Arbeit des Luftfahrt-Bundesamtes als zuständiger
Aufsichtsbehörde im Zusammenhang mit den flugmedi-
zinischen Tauglichkeitsuntersuchungen deutliche Kritik
geäußert: zu wenig Personal, fehlende fachliche Qualifi-
kation der Sachverständigen beim Luftfahrt-Bundesamt,
fehlende elektronische Dokumentation der Tauglich-
keitsuntersuchungen. Nichts ist passiert.

Ich hatte die Bundesregierung gefragt, wie viele
Tauglichkeitsuntersuchungen für Berufspiloten in den
Jahren 2012 bis 2014 durchgeführt und wie viele Be-
rufspiloten zeitweise oder dauerhaft für fluguntauglich
erklärt wurden. Man hat mir daraufhin mitgeteilt, dass

Andreas Rimkus






(A) (C)



(B) (D)


für die Beantwortung meiner Anfrage von einer Bear-
beitungszeit von mehreren Jahren auszugehen sei, weil
die Unterlagen nur in Papierform vorliegen würden. Es
kann doch nicht sein, dass die Bundesregierung bei ei-
ner so sicherheitsrelevanten Frage nicht weiß, wie viele
Flugtauglichkeitsuntersuchungen in den letzten Jahren in
Deutschland durchgeführt wurden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unglaublich!)


Dass all diese Daten offensichtlich nur handschriftlich
vorliegen, ist in Zeiten der elektronischen Datenverarbei-
tung unfassbar. Wir brauchen die Datenbank, damit die
Vorgeschichte der Piloten vollständig dokumentiert und
vor allen Dingen einsehbar ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Bisher sind beim Luftfahrt-Bundesamt in der flugme-
dizinischen Abteilung gerade einmal zwei Personen mit
der Beurteilung der Tauglichkeit befasst. Die Untersu-
chungen selber machen die Flugmediziner, aber für die
Aus- und Weiterbildung sowie die Qualitätskontrolle der
Flugmedizin ist das Luftfahrt-Bundesamt zuständig. Der
Verband der Fliegerärzte fordert zu Recht mehr Fortbil-
dung für Fliegerärzte. Erst in diesem Jahr soll das Perso-
nal der zuständigen Abteilung im Luftfahrt-Bundesamt
auf sechs Personen aufgestockt werden.

Wichtig sind aus unserer Sicht die Beratungs- und
Anlaufstellen für Airlinecrews, damit insbesondere psy-
chische Probleme früh bemerkt werden können. Die Re-
gierungsfraktionen wären klug beraten, die Einrichtung
dieser Angebote verbindlich zu regeln, so wie das der
Änderungsantrag der Fraktion Die Linke fordert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Verkehrsminister Dobrindt muss jetzt in Brüssel aktiv
werden und sich dafür einsetzen, dass die Vorschläge der
nationalen Kommission zum einheitlichen europäischen
Standard werden. Die hohen Sicherheitsstandards, meine
Damen und Herren, müssen dem hohen Wettbewerbs-
druck standhalten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Minister Dobrindt muss endlich dafür sorgen,
dass die lange bekannten Probleme beim Luftfahrt-Bun-
desamt gelöst werden. Da hat die Arbeit erst begonnen.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1816401800

Nächster Redner ist der Kollege Ulrich Lange für die

CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1816401900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Kollege Kühn, wir sind uns sehr sicher und sind

sehr guten Mutes, dass das Vertragsverletzungsverfahren
der EU mit diesem Gesetz, in dem wir unsere Rechtspre-
chung zur Umweltverträglichkeit kodifizieren, erledigt
sein wird.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie mit der Pkw-Maut!)


Liebe Kollegin Leidig, Ihnen muss ich zumindest mit
einem Satz antworten: Wenn Sie meinen, allein die In-
teressen der Bürgerinnen und Bürger der Regionen um
die Flughäfen zu vertreten, dann erlaube ich mir, darauf
hinzuweisen, dass wir das in den Reihen der Union durch
unsere mit Mehrheit direkt gewählten Abgeordneten tun.


(Beifall bei der CDU/CSU – Stephan Kühn [Dresden] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist das ein starkes Argument! – Weitere Zurufe)


– Man muss durchaus auch einmal sagen dürfen, dass
man über den Alleinvertretungsanspruch, wie Sie ihn
vorhin geltend gemacht haben, sehr wohl streiten kann.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute ist ein sehr
guter Tag für die Sicherheit im Luftverkehr. Lieber Kol-
lege Krischer,


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich dachte schon, ich komme gar nicht vor!)


Sie gehen immer von Selbstverständlichkeiten aus. Sie
sollten also durchaus würdigen, was wir hier – die Re-
gierung mit dem Bundesminister, das Parlament mit dem
Ausschuss –, auch mit Hilfe und Unterstützung einer
wirklich guten Taskforce, vorgelegt haben. Ich kann mich
an kaum einen Prozess, an ein Gesetzgebungsverfahren
erinnern, in dem wir so intensiv und, ich sage auch mal,
so sehr im Detail über einzelne Dinge diskutiert haben,
uns Gedanken gemacht haben und – das zeigt auch die
Anzahl der Änderungsanträge und Änderungen – immer
wieder nachgesteuert haben, weil wir als Parlament das
Gefühl hatten: Da könnte man noch ein bisschen mehr
machen und dabei den reibungslosen Ablauf all dieser
komplexen Systeme gewährleisten und trotzdem alles
unter der Priorität der Sicherheit halten. Dafür, liebe Kol-
leginnen und Kollegen, all den schon Angesprochenen
ein herzliches Dankeschön!

Eine der wichtigsten Botschaften betrifft sehr wohl
die Hubschrauberlandeplätze; denn die Aufregung vor
Ort, in den Wahlkreisen, bei den Krankenhäusern, die
Dachlandeplätze haben, die bisher angeflogen worden
sind, war natürlich sehr groß. Man konnte ein gewisses
Entsetzen im Gesicht sehen, warum es aufgrund einer
EU-Regelung nicht mehr möglich sein sollte, dass ein
Rettungshubschrauber dort landet, wo er seit Jahren und
Jahrzehnten landen konnte. Deshalb haben wir Sorge
dafür getragen, dass diese Rettungskette, das funktionie-
rende Rettungswesen der Luftrettung, aufrechterhalten
bleibt, ja, gesichert bleibt, und zwar gesichert sowohl für
die Krankenhäuser und für die Patienten als auch für die
Piloten, damit nicht der, der das Medizinische am we-
nigsten beurteilen kann, entscheiden muss, ob er landen
darf oder nicht landen darf. Das ist ein ganz großer Teil

Stephan Kühn (Dresden)







(A) (C)



(B) (D)


dieses Gesetzes, das wir verabschieden, und das ist heute
ein ganz großer Schritt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Gleiches gilt für die Dachlandeplätze; das war uns
als Parlament besonders wichtig, auch wenn die Anzahl
übersichtlicher ist. Zu den Krankenhäusern ist man seit
Jahren, Jahrzehnten mit dem Hubschrauber gekommen.
Auch da bleibt die Einzelfallgenehmigung möglich. Wir
denken, es ist dem LBA sehr wohl zumutbar, das zu
überprüfen, und wir werden – davon bin ich überzeugt –
Lösungen finden, die es ermöglichen, dass auch diese
Krankenhäuser weiter im Sinne der Patienten, im Sinne
der Menschen angeflogen werden können. Das zeigt, wie
wichtig uns Luftrettung und Luftsicherheit sind.

Wir haben aber auch etwas geregelt – darüber wurde
heute schon mehrfach gesprochen –, was eigentlich für
jeden, der Auto fährt, selbstverständlich ist – wir disku-
tieren beim Radfahren darüber, aber bisher nicht beim
Luftverkehr –: dass der, der alkoholisiert ist, der Drogen
genommen hat oder aus welchen Gründen auch immer
Medikamente nimmt oder nehmen muss, ein Luftfahr-
zeug nicht führen darf. Wir haben das, was in anderen
Ländern bereits gängige, bewährte und erfolgreiche Pra-
xis ist, kodifiziert. Und auch da haben wir als Parlament
sehr genau hingeschaut, wie denn diese Kontrolle statt-
finden soll. Es ist in unseren Augen absolut richtig, dass
dies auf der einen Seite über die Unternehmen erfolgt,
damit die Unternehmen in Tarifverträgen oder Betriebs-
vereinbarungen genau diese Dinge regeln können und
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die von solchen
persönlichen Problemstellungen betroffen sind, gehol-
fen werden kann. Auf der anderen Seite ist ein solches
System immer nur dann schlüssig, wenn es auch einer
Gesamtkontrolle unterliegt. Diese Gesamtkontrolle in
Form einer stichprobenartigen Kontrolle wird durch das
Luftfahrt-Bundesamt durchgeführt werden. Wir glauben,
dass genau dieses Zusammenspiel – die Unternehmen
auf der einen Seite, das Luftfahrt-Bundesamt auf der an-
deren Seite – ein schlüssiges Konzept ist und dass wir
mit dem heutigen Gesetz einen großen Fortschritt in der
Luftverkehrssicherheit erreichen werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Stichwort „flugmedizinische Datenbank“: Ja, richtig;
ja, wichtig. Wir alle wissen, dass wir absolute Sicherheit
nicht erreichen können, dass es diese im Leben nicht
gibt und dass wir leider immer wieder solchen traurigen
Ereignissen ausgesetzt sein können, wie wir es mit dem
schrecklichen Absturz erleben mussten. Aber wir han-
deln nicht reflexartig, sondern überlegt, und wir versu-
chen – das hat der Kollege Rimkus vorhin, glaube ich,
sehr beeindruckend gesagt –, mit dieser Regelung ein
Stück mehr Sicherheit in die Kette Luftverkehr zu brin-
gen, ein Stück mehr Sicherheit, die wir auch den Men-
schen geben. Wenn sie in das Flugzeug steigen, wissen
sie: Wir haben, so gut wir denken und so gut wir es uns
vorstellen können, alles getan, um die Möglichkeiten der
flugmedizinischen Untersuchungen deutlich zu optimie-
ren, um Ärztehopping oder einen Tauglichkeitstourismus

auszuschließen. Ich gebrauche diese Worte ungern, weil
sie sehr negativ sind und etwas unterstellen, was ich ei-
gentlich niemandem unterstellen möchte; aber tragische
Ereignisse zeigen, dass so etwas doch vorkommt. Wir
haben uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, bei dieser
flugmedizinischen Datenbank intensive Gedanken ge-
macht über den Piloten, den Arzt und die Ausgestaltung
des Vertrauensverhältnisses zwischen beiden, aber auch
über die Datensicherheit, und darüber, wie wir beides
bestmöglich schützen können und trotzdem das Ziel, das
wir erreichen wollen, erreichen. Ich denke, dass die Lö-
sung, die wir in das Gesetz aufgenommen haben, genau
dem gerecht wird, angelehnt an das, was wir aus der See-
schifffahrt kennen.


(Beifall der Abg. Kirsten Lühmann [SPD])


All dies zusammen macht – da komme ich zur Über-
schrift meiner heutigen Rede – einen guten Tag für die
Luftverkehrssicherheit, ein gelungenes Gesamtwerk, in
dem viele Rädchen aus Außenministerium, aus Parla-
ment, aus Sachverständigen vorbildlich ineinanderge-
griffen haben. Mit diesem Gesetz sind wir einen guten
Schritt vorangekommen und machen unseren Luftver-
kehr noch ein Stück vertrauenswürdiger.

Wir haben, glaube ich, die bestmögliche Balance ge-
funden. Wir freuen uns, dass wir nach diesen Beratungen
ein gutes Gesetz verabschieden. Heute ist – noch ein-
mal – ein guter Tag für die Luftverkehrssicherheit.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1816402000

Nun erhält Ulli Nissen das Wort für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Ulli Nissen (SPD):
Rede ID: ID1816402100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich verrate Ihnen sicherlich kein Geheimnis,
wenn ich offenlege, dass ich durchaus das eine oder an-
dere Mal andere Vorstellungen beim Thema Luftverkehr
habe als beispielsweise meine Kolleginnen und Kolle-
gen aus dem Wirtschafts- oder Verkehrsausschuss. Als
Umweltpolitikerin und Abgeordnete aus dem Wahlkreis
Frankfurt am Main liegt dies auch nahe.

Sie können sich sicherlich auch denken, dass bei mir
in Frankfurt die Themen „Flugrouten“, „Fluglärm“ und
„Nachtflugverbot“ Dauerthemen sind. Die Ohrstöpsel
„Zeit für Dich“ waren der große Renner bei der Kommu-
nalwahl Anfang März.


(Zuruf des Abg. Dr. Johann Wadephul [CDU/ CSU])


Bei dem heute debattierten Luftverkehrsgesetz und
unserem Änderungsantrag geht es allerdings nur am
Rande um diese Themen. Ich würde mir wünschen, dass
es mehr um sie ginge. Es geht vielmehr darum, dass wir
damit auf ein Vertragsverletzungsverfahren der Europä-
ischen Kommission reagieren. Das Vertragsverletzungs-
verfahren läuft gegen uns, weil bisher bei der Festlegung

Ulrich Lange






(A) (C)



(B) (D)


von Flugverfahren weder eine Umweltverträglichkeits-
prüfung noch eine Prüfung der Auswirkungen auf Natu-
ra-2000-Gebiete durchzuführen sind. Darauf reagieren
wir nun und stellen klar, dass dies schon umfassend bei
den Zulassungsverfahren für Flughäfen passiert.

Wenn wir das Luftverkehrsgesetz schon anfassen,
regeln wir jetzt auch Weiteres. Zwei Punkte sind mir
aus Umweltsicht besonders wichtig. Wir erhöhen das
Bußgeld bei Verstößen gegen das Nachtflugverbot –
das ist auch höchste Zeit –, damit folgen wir der Anre-
gung des Bundesrats. Das Bußgeld wird künftig auf bis
zu 50 000 Euro angehoben. Bisher waren es maximal
10 000 Euro.

Natürlich könnten wir jetzt hier auch die Frage eines
generellen Nachtflugverbotes von 22 bis 6 Uhr diskutie-
ren, aber darum geht es – ich sage: leider – heute nicht.
Meine Position dazu ist ja bekannt.

Zurück zum Text. Die Erhöhung des Bußgeldrahmens
ist wichtig und ein deutliches Signal; denn oftmals rech-
nete es sich ja noch, das Nachtflugverbot zu brechen und
das Bußgeld in Kauf zu nehmen. Das war oftmals immer
noch günstiger und wirtschaftlicher als eine Annullierung
des Fluges, unter anderem verbunden mit den Übernach-
tungskosten für die Passagiere sowie weiteren Kosten in
beträchtlicher Höhe. Ich hoffe sehr, dass dieses Bußgeld
auch das Ziel erreicht – wie es so schön heißt –, „die
Anreize zu regelungskonformem Verhalten“ zu stärken.


(Beifall bei der SPD)


Ich habe selbst extra mal im lärmgeplagten Gebiet
im Frankfurter Süden übernachtet – Dank an Monika
Plottnik für die Gastfreundschaft – und festgestellt, dass
mit dem Ende des Nachtflugverbots um 5 Uhr die Nacht-
ruhe brutal vorbei ist. Wenn es Nachtflugverbote gibt,
müssen diese auch eingehalten werden. Wir wissen, dass
Fluglärm krankmachen kann. Deshalb ist es für die Be-
völkerung in Flughafennähe sehr wichtig, zumindest in
den Nachtzeiten mal Ruhe zu haben. Ich hoffe, dass das
erhöhte Bußgeld dazu beiträgt.

Jetzt komme ich zum zweiten wichtigen Punkt: Flug-
routen und vor allem die Einzelfreigaben. Flugrouten
sind ein sehr emotionales Thema. Wir wissen, welche
Rolle die Flugrouten bei der Optimierung von Fluglärm
spielen können. Dazu gibt es gute Ausarbeitungen, unter
anderem vom Sachverständigenrat für Umweltfragen. Er
hat die Bedeutung in einem Sondergutachten „Fluglärm
reduzieren: Reformbedarf bei der Planung von Flughäfen
und Flugrouten“ deutlich gemacht. Wir stellen nun klar:
Schutzwürdige Gebiete sind und bleiben schutzwürdig.
Selbstverständlich geht die Sicherheit immer vor; das
heißt, wenn es aus Sicherheitsgründen dringend geboten
ist, dürfen diese Gebiete natürlich überflogen werden.
Aber oft geschehen Einzelfreigaben und Abweichungen
von den festgelegten Flugrouten eben nicht aus Sicher-
heitsgründen, sondern eher aus wirtschaftlichen Gründen,
weil damit weniger Kerosin verbraucht wird oder man
Verspätungen vielleicht aufholen kann. Das widerspricht
natürlich dem Sinn und Zweck von vorher als schutzwür-
dig festgelegten Gebieten. Deshalb ist es gut, dass wir in
der Begründung noch einmal feststellen: Sicherheit geht
immer vor. Aber: Wirtschaftlichkeit darf nicht auf Kos-

ten des Schutzes der Bevölkerung vor Fluglärm gehen.
Hier komme ich wieder zum Thema Verlässlichkeit und
Akzeptanz: Genau wie beim Nachtflugverbot brauchen
die Menschen die Sicherheit, dass festgelegte Flugrouten
auch eingehalten werden; denn nur das schafft Akzeptanz
und berücksichtigt die Anliegen der Anwohner.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1816402200

Und ich bedanke mich für die Einhaltung einer ohne-

hin knapp bemessenen Redezeit.


(Ulli Nissen [SPD]: Perfekt gelaufen!)


Das wird der Kollegin Kirsten Lühmann sicher auch ge-
lingen, die nun als letzte Rednerin für die SPD-Fraktion
das Wort erhält.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Kirsten Lühmann (SPD):
Rede ID: ID1816402300

Verehrter Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kollegin-

nen! Stellen Sie sich folgende Situation vor: Eine Polizis-
tin steht an einer Tankstelle und betankt ihren Streifen-
wagen. Neben ihr steht ein vollbesetzter Reisebus. Der
Busfahrer steigt aus. Die Polizistin stellt bei ihm eine
Alkoholfahne fest. – Uns allen ist klar, was passiert: Es
wird ein Bußgeld verhängt, und der Busfahrer darf natür-
lich nicht weiterfahren.

Wenn ihr Kollege, der auf einem Flughafen Streife
geht, einen Piloten feststellt, der gerade aus einem Flug-
zeug kommt und auch nach Alkohol riecht, ist es wesent-
lich komplizierter. Natürlich gibt es bereits einen Straf-
tatbestand; aber der ist sehr schwer zu beweisen. Von
daher bedurfte es dringend einer Änderung.

Schon jetzt nehmen die Fluggesellschaften in
Deutschland ihre Verantwortung für Sicherheit sehr ernst
und führen anlassbezogene Kontrollen durch. Wenn da-
bei festgestellt wird, dass ein Pilot oder eine Pilotin unter
dem Einfluss von Alkohol oder Drogen steht, spricht be-
reits die Firma ein Flugverbot aus. Aber verdachtsunab-
hängige Stichprobenkontrollen sind weder vorgeschrie-
ben noch erlaubt. Die Koalitionsfraktionen haben in
ihrem Änderungsantrag diese Lücke endlich geschlossen
und stichprobenartige Kontrollen vorgeschrieben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die deutschen Fluggesellschaften regeln die Durch-
führung dieser Kontrollen in Zusammenarbeit mit den
Gewerkschaften und Betriebsräten. Das ist gut und rich-
tig so. Aber wir haben natürlich auch Piloten und Pi-
lotinnen, die Deutschland anfliegen und nicht für eine
deutsche Fluggesellschaft arbeiten. Auch die müssen wir
kontrollieren. Dafür ist das Luftfahrt-Bundesamt zustän-
dig, das diese Kontrollen durchführen kann.

Wir haben zusätzlich Regelungen eingeführt, wie sie
auch für Busfahrer gelten. Also: Wer zukünftig versucht,
unter dem Einfluss von Alkohol, Drogen oder problema-

Ulli Nissen






(A) (C)



(B) (D)


tischen Medikamenten ein Flugzeug zu steuern – das gilt
auch für den Fall, dass er es bereits gesteuert hat –, und
dabei erwischt wird, muss – jetzt endlich gilt das auch
im Flugverkehr – mit einem Bußgeld und Flugverbot
rechnen. Während der Nachweis von Alkohol oder auch
Drogen relativ einfach mit einem Schnelltest möglich
ist – einige von uns haben vielleicht schon einmal gepus-
tet; bei einem Drogenschnelltest kann man allein durch
das Wischen über die Haut feststellen, ob die getestete
Person Drogen konsumiert hat oder nicht –, ist dies bei
Medikamenten deutlich schwieriger. Aber Medikamen-
tenmissbrauch ist genauso gefährlich.

Eine Langzeitstudie aus den USA hat festgestellt, dass
Medikamentenmissbrauch bei Piloten und Pilotinnen in
den letzten Jahren stark zugenommen hat. Das gilt für ver-
schiedene Substanzen. Ich möchte nur eine exemplarisch
anführen: Bei circa 20 Prozent der tödlich verunglückten
Piloten und Pilotinnen wurde festgestellt, dass sie in star-
kem Maße unter dem Einfluss von Beruhigungsmitteln,
sogar unter dem Einfluss von verschreibungspflichtigen
Schlafmitteln standen. Ich finde das erschreckend.


(Beifall bei der SPD)


Aber nicht alle Medikamente sind problematisch. Und
bei den problematischen Medikamenten kommt es auf
die Dosis an. Daher wird das Luftfahrt-Bundesamt eine
Liste für alle Kontrollierenden erstellen, in der beide
Punkte aufgeführt sind.

Dabei sollten wir aber nicht aus den Augen verlieren,
dass Missbrauch von Medikamenten, Drogen oder Al-
kohol eine Krankheit darstellt und dass die Betroffenen
Hilfe brauchen. Sehr gut finde ich daher, dass alle deut-
schen Fluggesellschaften bereits Anlaufstellen für die
Betroffenen geschaffen haben, die nicht das Ziel haben,
die betroffenen Menschen möglichst schnell aus dem Ar-
beitsverhältnis hinauszudrängen, sondern im Gegenteil
dafür sorgen wollen, dass die Beschäftigten in die Lage
versetzt werden, ihren Beruf gefahrlos auszuüben. Und
das ist der richtige Weg.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Erlauben Sie mir zum Schluss den Hinweis, dass Be-
rufe mit besonderer Verantwortung – wie zum Beispiel
Piloten, Ärzte, Polizisten, aber auch Politiker – beson-
ders anfällig für Suchterkrankungen sind. Das sollten wir
nicht totschweigen. Wir dürfen aber auch die Betroffenen
nicht stigmatisieren und ausgrenzen. Es werden Hilfsan-
gebote gebraucht, wie sie von den Fluglinien und vielen
anderen Arbeitgebern gemacht werden.

Ich möchte – da sind wir uns, denke ich, einig – nicht
nur in einer sicheren Gesellschaft leben, sondern auch in
einer menschlichen. Dieser Gesetzentwurf wird dazu ei-
nen Beitrag leisten.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1816402400

Ich schließe die Rednerliste und damit die Debatte zu

diesem Tagesordnungspunkt.

Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Än-
derung des Luftverkehrsgesetzes. Dazu liegen mir zahl-
reiche Erklärungen nach § 31 der Geschäftsordnung vor,
die wir wie immer dem Protokoll beifügen.1)

Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Druck-
sache 18/8102, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf der Drucksache 18/6988 in der Ausschussfassung an-
zunehmen.

Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die
Linke auf der Drucksache 18/8107 vor, über den wir
zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsan-
trag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stim-
me? – Damit ist der Änderungsantrag mit der Mehrheit
der Koalition abgelehnt.

Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Wer ist dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist
der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den gleichen
Mehrheitsverhältnissen angenommen.

Wir kommen zur

dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer möchte sich der Stimme
enthalten? – Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stim-
men der Koalition gegen die Stimmen der Opposition
angenommen.

Wir stimmen nun noch über den Entschließungsantrag
der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 18/8108 ab.
Wer möchte diesem Entschließungsantrag zustimmen? –
Wer möchte dagegenstimmen? – Wer möchte sich enthal-
ten? – Enthaltungen keine. Der Entschließungsantrag ist
mehrheitlich abgelehnt.

Wir kommen nun unter dem Zusatzpunkt 2 zur Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr und
digitale Infrastruktur zu dem Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen mit dem Titel „Fluglärm wirksam
reduzieren“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf der Drucksache 18/5247, den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der
Drucksache 18/4331 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit Mehr-
heit angenommen.

Damit ist dieser Tagesordnungspunkt abgeschlossen.

Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 4 und Zu-
satzpunkt 3:

4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun
Bluhm, Caren Lay, Herbert Behrens, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Bundesweiten Aktionsplan für eine gemein-
nützige Wohnungswirtschaft auflegen

1) Anlage 2

Kirsten Lühmann






(A) (C)



(B) (D)


Drucksache 18/7415
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss

ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Christian Kühn (Tübingen), Britta Haßelmann,
Sven-Christian Kindler, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Die neue Wohnungsgemeinnützigkeit – Fair,
gut und günstig wohnen

Drucksache 18/8081
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit (f)

Innenausschuss
Finanzausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll auch
diese Aussprache 77 Minuten dauern. – Dagegen meldet
sich niemand mit erkennbaren Einwänden. Also können
wir so verfahren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der
Kollegin Heidrun Bluhm für die Fraktion Die Linke das
Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Heidrun Bluhm (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1816402500

Guten Morgen, sehr geehrter Herr Präsident! Guten

Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen
uns heute mit dem Antrag, den wir vorgelegt haben, der
Wohnungsgemeinnützigkeit zuwenden. Ich denke, dass
wir mit diesem Antrag im gesamten Parlament offene
Türen einrennen; denn selbst der Kollege Ullrich von der
CDU/CSU-Fraktion hat in seiner Rede am 28. Januar an-
geregt – ich zitiere –, „über Fragen der Gemeinnützigkeit
im Wohnungsbau“ nachzudenken.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aus dessen Mund eine Drohung!)


Die Sinnesäußerung des Kollegen Ullrich hat der Kolle-
ge Groß dann auch noch untersetzt, indem er zum Aus-
druck brachte: „Ja, tun wir das, machen wir das …“

Wir haben das gemacht.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Ergebnis ist der Antrag, der Ihnen heute vorliegt.

Meine Damen und Herren, seit langem schon denkt
man bei uns in der Fraktion und in außerparlamentari-
schen Kreisen, insbesondere auch beim Mieterbund, da-
rüber nach, wie aus einer jahrzehntelangen wohnungs-
politischen Agonie der Bundesregierung aktiv sozial
gestaltende Wohnungspolitik gemacht werden könnte.
Auch die Grünen sind in das Thema eingestiegen und ha-
ben dazu – wie wir – ein wissenschaftliches Sachverstän-
digengutachten in Auftrag gegeben, das nun vorliegt, und
ebenfalls heute einen entsprechenden Antrag vorgelegt.

All das sollten aus meiner Sicht optimale Voraussetzun-
gen dafür sein, heute hier in dieser Frage den Durchstoß
zu machen und endlich dafür Sorge zu tragen, dass im In-
teresse von Millionen Mieterinnen und Mietern, die ver-
zweifelt nach bezahlbarem Wohnraum suchen, eine neue,
sozial orientierte Wohnungspolitik auf den Weg gebracht
werden kann –


(Beifall bei der LINKEN)


wohlgemerkt: Wohnungspolitik im Interesse von Millio-
nen Mieterinnen und Mietern, nicht Wohnungsmarktpo-
litik im Interesse von Millionären oder Immobilienspe-
kulanten, die nach Subventionen schreien und nachher,
wenn sie mit Subventionen investiert haben, auch noch
die Mieterinnen und Mieter zur Kasse bitten. Das ist es
nämlich, was die Bundesregierung seit der Abschaffung
der Wohnungsgemeinnützigkeit 1990 eingeleitet und mit
der Föderalismusreform 2006 zementiert hat.

Die Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit war
die Abkehr von der Idee einer sozialen Marktwirtschaft
und damit die Hinwendung zum blanken Neoliberalis-
mus auch in der Wohnungspolitik. Sie war eben nicht,
wie immer kolportiert wird, durch den Skandal um die
Neue Heimat gerechtfertigt. Der diente eigentlich nur als
Vorwand, um die Abschaffung des Wohnungsgemeinnüt-
zigkeitsgesetzes durchzusetzen, und zwar entgegen den
Empfehlungen zweier Untersuchungsausschüsse – einer
des Bundestages und einer des Landtags NRW –, gegen
die Abstimmung im Bundesrat, gegen den Widerstand
der gemeinnützigen Wohnungsunternehmen und gegen
die öffentliche Bestandsgarantie des damaligen Baumi-
nisters Schneider.

Der ehemalige Bauminister Ravens hat die Auswir-
kungen der beabsichtigten Abschaffung der Wohnungs-
gemeinnützigkeit schon 1987 geradezu beschwörend auf
den Punkt gebracht – ich zitiere ihn –:

Die Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit
wäre m. E. nicht nur wohnungspolitisch falsch,
sie wäre auch wirtschaftspolitisch eine schlichte
Dummheit. Über das Wohngeld würde der Staat
zu einem Vielfachen von dem an Subventionen ge-
zwungen, was die Gemeinnützigkeit an Steueraus-
fällen kostet.

Er hat ja so Recht behalten. Und dennoch: Schon da-
mals, genau wie heute, hat sich der Finanzminister gegen
den Bauminister durchgesetzt. Oder sollte man besser
sagen: Die kleine, aber starke Lobby der privaten Woh-
nungswirtschaft hat die Wohnungspolitik einkassiert und
bestimmt von da ab den politischen Kurs, gegen jeden
volkswirtschaftlichen und sozialpolitischen Sachver-
stand, mit desaströsen Folgen, die sich seither aufgebaut
haben und mit denen wir uns heute auseinanderzusetzen
haben.

Der Wegfall der Wohnungsgemeinnützigkeit hat
sprunghafte Mietsteigerungen und einen bis heute an-
haltenden Mieterhöhungswettbewerb ausgelöst. Der so-
ziale Wohnungsbau wurde drastisch zurückgefahren und
konnte den Verlust an sozial gebundenen Wohnungen
nicht mehr ausgleichen. Durch 25 Jahre uneingeschränk-
te Marktherrschaft hat sich damit eine krisenhafte Si-

Präsident Dr. Norbert Lammert






(A) (C)



(B) (D)


tuation auf dem Wohnungsmarkt aufgebaut, in der sich
7,1 Millionen Mieterhaushalte darum reißen, in den noch
bestehenden 1,4 Millionen verbliebenen Sozialwohnun-
gen wohnen zu dürfen. Das sind alarmierende Missver-
hältnisse. Das hat die Pestel-Studie bereits im Jahre 2012
aufgezeigt, also schon lange, bevor unser Problem auf
dem Wohnungsmarkt durch die Flüchtlinge noch weiter
verschärft wurde.

Der Markt alleine wird es eben nicht richten. Deshalb
braucht er ein Korrektiv, einen Sektor in der Wohnungs-
wirtschaft, der nicht nur naturgemäß renditegetrieben,
sondern vor allem dem Gemeinwohl verpflichtet ist.


(Beifall bei der LINKEN)


Wie es sie in vielen anderen europäischen Ländern gibt –
ohne dass das von der Europäischen Kommission oder
vom Europäischen Gerichtshof als wettbewerbsfeindlich
oder beihilferechtlich bedenklich eingestuft wäre –, brau-
chen wir auch in Deutschland eine neue gemeinnützige
Wohnungswirtschaft. Der Wissenschaftliche Dienst des
Bundestags hat gerade, wie für den heutigen Tag be-
stellt, unter dem Titel „Gemeinnütziger Wohnungsbau in
EU-Mitgliedstaaten“ eine umfängliche Sachstandsanaly-
se vorgelegt. Ich empfehle Ihnen, diese zu lesen.

So wie wir das in dem hier vorliegenden Antrag be-
schrieben und ausführlich erläutert haben, soll die neue
gemeinnützige Wohnungswirtschaft Menschen mit ge-
ringen und unsicheren Einkommen und Personen, die
aus anderen Gründen als Marktteilnehmer diskriminiert
werden, mit bedarfsgerechten, bezahlbaren Wohnungen
versorgen. Die gemeinnützige Wohnungswirtschaft soll
sich dauerhaft gemeinnützigen Wirtschaftsgrundsätzen
verpflichten wie der Mietpreisbindung auf Grundlage
des Kostendeckungsprinzips, einer Beschränkung des
Geschäftskreises auf die Zielgruppe mittlerer und nied-
riger Einkommen sowie einer strikten Vermögens- und
Zweckbindung. Im Gegenzug soll sie dauerhaft – das ist
vor allem wichtig – Aufgaben im öffentlichen Interesse
übernehmen und dafür mit öffentlichen Privilegien aus-
gestattet werden.

Wir denken, dass eine Privilegierung der neuen ge-
meinnützigen Wohnungsunternehmen wie folgt aus-
sehen könnte: eine Körperschaftsteuerbefreiung, eine
ganze oder teilweise Befreiung von der Gewerbesteuer,
ein reduzierter Umsatzsteuersatz bei der Herstellung und
Erhaltung von sozialen Wohnbauten, ein bevorzugter Zu-
gang zu Städtebaufördermitteln und öffentlichen Grund-
stücken und gegebenenfalls eine Grunderwerbsteuerbe-
freiung. So wären Bund, Länder und Kommunen bei der
Förderung gleichermaßen heranzuziehen. Diese zunächst
zusätzlichen Aufwendungen der öffentlichen Hand und
die aus Steuerbefreiungen resultierenden Steuerminder-
einnahmen führen auf der anderen Seite zu erheblichen
Einsparungen beim Wohngeld, bei den Kosten der Un-
terkunft und anderen Transferleistungen, sodass sich
unter dem Strich betriebs- und volkswirtschaftlich eine
Win-win-Situation für alle Beteiligten ergeben würde.
Und nicht nur das: Menschen, die bisher auf eben diese
Zuwendungen angewiesen sind, müssen sich nicht mehr
als Verlierer, als Bittsteller oder als Almosenempfänger

vorkommen. Kommunen hätten wieder die Möglichkeit,
aktiv gestaltete Daseinsvorsorge zu betreiben.

Meine Damen und Herren, der Unterschied zur alten
Gemeinnützigkeit und zu bisherigen Marktanreizpro-
grammen besteht darin, dass öffentliche Mittel dauerhaft
im öffentlichen Interesse genutzt werden und im gemein-
nützigen Zweckbetrieb verbleiben. Die Sozialbindung
der gemeinnützigen Wohnungen soll daher nicht wie bis-
her an befristete Förderungen oder zinsverbilligte Kredi-
te gebunden werden – was heute ohnehin kein besonde-
rer Anreiz ist –, sondern sie soll dauerhaft dinglich, also
auch durch Grundbucheintrag, gesichert werden, damit
nicht – wie bisher üblich – über kurz oder lang öffentli-
che Gelder am Ende in privaten Taschen landen.

Natürlich bedarf ein solcher gemeinnütziger Sektor in
der Wohnungswirtschaft – auch das ist eine Lehre aus
der Geschichte der gemeinnützigen Wohnungsunterneh-
men – einer starken, transparenten innerbetrieblichen
und öffentlichen Kontrolle.

Meine Damen und Herren, in den Eckpunkten zum
Haushalt 2017 werden weitere Haushaltsmittel für den
Wohnungsbau und die „Soziale Stadt“ in Höhe von
800 Millionen Euro im Jahr veranschlagt. Dieses Geld,
kombiniert mit dem Geld, das bereits heute im Haus-
halt 2016 für den sozialen Wohnungsbau steht, wäre eine
Anschubfinanzierung, die zwar noch nicht in der Höhe
wäre, wie wir sie gern hätten, aber eine Anschubfinanzie-
rung, um die Gemeinnützigkeit tatsächlich herzustellen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1816402600

Frau Kollegin.


Heidrun Bluhm (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1816402700

Meine Damen und Herren, mein letzter Satz. Die Hal-

tung der demokratischen Parteien zur Wohnungsgemein-
nützigkeit – das prophezeie ich Ihnen schon heute – wird
spätestens im Bundestagswahlkampf im nächsten Jahr
ein wesentliches Entscheidungskriterium für die Wäh-
lerinnen und Wähler dabei sein, wem sie ihre Stimme
schenken.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1816402800

Für die CDU/CSU-Fraktion erhält die Kollegin Sylvia

Jörrißen das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Sylvia Jörrißen (CDU):
Rede ID: ID1816402900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Woh-

nen ist einer der privatesten und intimsten Bereiche in
unserem Leben. Ich jedenfalls lasse nicht jeden in meine
Wohnung. In unseren eigenen vier Wänden haben wir
unseren Lebensmittelpunkt. Hier leben wir mit unseren
Familien, hier treffen wir unsere Freunde, hierhin kehren

Heidrun Bluhm






(A) (C)



(B) (D)


wir nach einem Arbeitstag zurück. Die Wohnung bietet
uns Schutz und Geborgenheit. Sie ist Voraussetzung für
Beruf, Gesundheit und gesellschaftliche Teilhabe.

Frau Bluhm, ich bin froh, dass wir den Menschen in
Deutschland gute Voraussetzungen bieten. Wir haben ei-
nen im Großen und Ganzen gut funktionierenden Woh-
nungsmarkt, der auf Angebot und Nachfrage reagiert,
wie andere Märkte auch. Auch in Berlin können Sie
eine bezahlbare Wohnung finden. Nur: Wer unbedingt in
Mitte wohnen möchte, muss bereit sein, etwas mehr zu
bezahlen. Und wenn unter Ihrer Regierungsbeteiligung
mehr Geld oder mehr Steine für den sozialen Wohnungs-
bau gekommen wären, wäre die Situation zugegebener-
maßen in Berlin noch etwas entspannter, Frau Bluhm.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)


Sie verbreiten mit Ihrem Antrag nur Angst. Ich möch-
te gern von der Panikmache in Ihrem Antrag Abstand
nehmen, und ich möchte erst recht von der vollständigen
Verstaatlichung des Wohnungsmarktes Abstand nehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Als Baupolitikerin sehe ich die zentrale Herausforde-
rung – auch ohne Ihre Nachhilfe –, insbesondere in den
Ballungsräumen zielgruppengerechten und bezahlbaren
Wohnraum zu schaffen: für Familien, für Alleinlebende,
für Senioren, für Studenten und für Asylberechtigte.

Wir kennen die maßgeblichen Faktoren, die unsere
Wohnungspolitik bestimmen. Die demografische Ent-
wicklung in unserem Land erfordert, dass wir zukünftig
deutlich mehr kleinere, barrierearme und altersgerechte
Wohnungen bauen. Wir können auch den Klimawandel
nicht ignorieren. Er erfordert das Einhalten energetischer
Standards im Neubau und im Bestand bei gleichzeiti-
ger Abwägung der Wirtschaftlichkeit. Wir befinden uns
in einer Zeit zunehmender Verstädterung, die die Woh-
nungslandschaft in Deutschland sehr heterogen macht.
Wir haben strukturschwache Regionen mit Wohnungs-
leerständen und Ballungszentren mit überhitzten Woh-
nungsmärkten.

Meine Damen und Herren, Sie sehen, die Herausfor-
derungen sind nicht eindimensional und erfordern daher
differenzierte Lösungen. Das Realisieren der von Ihnen
vorgeschlagenen sozialistischen Wohnungswirtschaft
hilft den strukturschwachen Regionen nicht, attraktiver
zu werden. Es hilft auch den Städten nicht, ihre Probleme
zu lösen. Kurzum: Es hilft uns nicht.

Ich erkenne an, dass der soziale Wohnungsbau bei der
Bereitstellung von bezahlbarem Wohnraum eine wichti-
ge Rolle spielt.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt das Aber!)


Aber die öffentliche Wohnraumförderung allein ist nicht
das Allheilmittel für unsere Probleme. Wir können un-
sere Ziele nur erreichen, wenn wir alle Akteure ins Boot
holen und in die Pflicht nehmen.

Wir reagieren bereits auf diese Situation:

Wir haben die Kompensationsmittel für den sozialen
Wohnungsbau verdoppelt. Von 2016 bis 2019 erhalten
die Länder insgesamt mehr als 4 Milliarden Euro. Diese
Mittel müssen jetzt aber auch von den Ländern zweckge-
bunden verwendet werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir haben die Wohngeldnovelle beschlossen. Seit
2016 ist das Wohngeld deutlich erhöht. 870 000 Haus-
halte profitieren davon. Über ein Drittel derer beziehen
wieder oder erstmals Wohngeld.

Seit dem letzten Jahr stellt der Bund durch die BImA
Grundstücke für Maßnahmen im Rahmen der Flücht-
lingsunterbringung und für den sozialen Wohnungsbau
zur Verfügung.


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht nur auf dem Papier!)


Bei mir zu Hause in Hamm sind heute bereits
800 Flüchtlinge in einer ehemaligen, umgebauten Kaser-
ne untergebracht. Eine Erweiterung findet gerade statt.
Sie sehen, wir haben schnell gehandelt.


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht beim sozialen Wohnungsbau!)


Wir wollen, dass für Studierende und Auszubildende
mehr gebaut wird. Deshalb haben wir im Zukunftsinves-
titionsprogramm 120 Millionen Euro Fördermittel für
innovative bauliche Konzepte bereitgestellt.

Meine Damen und Herren, lassen Sie uns jetzt einen
Blick nach vorne richten: Das beste Rezept bei Woh-
nungsnot ist noch immer der Bau neuer Wohnungen.
Hierzu brauchen wir ein baufreundliches Klima, nicht
nur für den öffentlich geförderten, sondern auch für den
genossenschaftlichen und privaten Wohnungsbau.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir wollen eine befristete und regionalisierte Sonderab-
schreibung einführen.


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die kriegen gerade die Genossenschaften nicht!)


Diese wirkt schnell und zielgerichtet genau dort, wo
der Druck auf die Wohnungsmärkte am größten ist. Wir
brauchen sie dringend, um den privaten Mietwohnungs-
bau anzukurbeln. Die Bundesregierung hat bereits gelie-
fert – ein großer Erfolg und ein wichtiger Impuls.

Viel zu kurz kommt mir immer die Betrachtung des
selbstgenutzten Wohneigentums. Deutschland liegt mit
seiner Eigentumsquote im europäischen Vergleich an
vorletzter Stelle.


(Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Das ist traurig!)


Sylvia Jörrißen






(A) (C)



(B) (D)


Dabei hat gerade das selbstgenutzte Wohneigentum
mehrfache soziale Wirkungen:


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Heidrun Bluhm [DIE LINKE]: Hat aber nichts mit dem Thema zu tun!)


Selbstgenutztes Wohneigentum stabilisiert Wohnquartie-
re, fördert Integration und ist Schutz vor Gentrifizierung.
Selbstgenutztes Wohneigentum ist vor allem für Bezie-
her unterer und mittlerer Einkommen eine ganz wichtige
Form der privaten Altersvorsorge.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die können sich das nicht leisten!)


Nicht zuletzt wird durch Umzugsketten beim Bau von
selbstgenutztem Wohneigentum immer auch eine Miet-
wohnung frei.

Für Haushalte mit kleinen und mittleren Einkommen
muss daher die Wohneigentumsförderung gestärkt wer-
den. Ich möchte, dass die Wohnungsbauprämie auf den
Stand der heutigen Zeit gebracht wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die letzte Anpassung der Einkommensgrenze erfolgte
vor 20 Jahren. Das hat dazu geführt, dass allein aufgrund
tariflicher Lohnerhöhungen viele Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer aus der Förderung herausgefallen
sind. Das kann nicht sein. Durch eine Anpassung würden
wir gerade die unteren Einkommensklassen fördern.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Lassen Sie mich zum Schluss noch zu einem wichti-
gen Punkt kommen, zu den Baukosten. Es ist klar, dass
nur gebaut wird, wenn eine Wirtschaftlichkeit gegeben
ist. Das gilt im Übrigen sogar für kommunale Wohnungs-
baugesellschaften. Die Baukosten sind in den vergange-
nen Jahren stark gestiegen. Dadurch verteuern sich auch
die Mietpreise. Also müssen die Kostentreiber angegan-
gen werden. Hier hat die Baukostensenkungskommissi-
on gute und realisierbare Punkte identifiziert, die jetzt zü-
gig umgesetzt werden müssen. Über die Ergebnisse des
Bündnisses für bezahlbares Wohnen und Bauen haben
wir bereits in der letzten Sitzungswoche ausgiebig de-
battiert. Deshalb nenne ich jetzt nur wenige Stichpunkte:
Das Normungswesen muss überarbeitet werden; Kosten-
und Nutzenaspekte müssen besser abgewogen werden.
Ich denke vor allem auch an die Energieeinsparverord-
nung. Die EnEV 2016 treibt, laut Branchenberechnun-
gen, die Baukosten um 8 Prozent in die Höhe, bei einem
Nutzen, der kaum noch messbar ist. Die CO2-Emissionen
sinken lediglich um 0,02 Prozent. Hier muss das Ende
der Fahnenstange erreicht sein.

Bleiben wir bei der EnEV und der für dieses Jahr an-
gestrebten strukturellen Neukonzeption und Zusammen-
legung mit dem Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz.
Hierzu hat das Wirtschaftsministerium ein Gutachten
beauftragt. Die Sonderbauministerkonferenz, die gestern
tagte, hat erhebliche Zweifel an den Annahmen, die dem
Wirtschaftlichkeitsgutachten zugrunde liegen, und sie
hat auch Zweifel daran, dass die Ende 2015 formulierten

Forderungen hinsichtlich Wirtschaftlichkeit, Technolo-
gieoffenheit und Vereinfachung erfüllt sind.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich fordere daher unser Bauministerium auf, das Gutach-
ten kritisch zu überprüfen und gegebenenfalls ein weite-
res in Auftrag zu geben.

Sie sehen: Wir haben bereits vieles getan, und es gibt
immer noch vieles zu tun. Aber die Weichen sind gestellt,
und wir sind auf einem richtigen Weg.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1816403000

Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin

Britta Haßelmann.


Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816403100

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und

Herren! Frau Jörrißen, wer angesichts der Problemlage
des Wohnungsmarktes in Deutschland sagt, dass wir auf
einem guten Weg sind, dass wir eigentlich schon alles
machen und dass das ganz gut so ist, der oder die negiert
doch vollkommen die Realität und die Faktenlage.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Schauen Sie sich die Situation in Groß- und Universi-
tätsstädten an. Es mangelt an bezahlbarem Wohnraum
für Menschen mit kleinem Einkommen. Der Druck ist
immens hoch.


(Zuruf des Abg. Ulrich Petzold [CDU/CSU])


– Jetzt tun Sie doch bitte nicht so, als wäre die Frage mit
Ihrem kleinen Zwischenruf nach dem Motto „Wer regiert
da gerade?“ zu lösen. Wir hier im Deutschen Bundestag
haben eine Verantwortung für das Thema „bezahlbares
Wohnen“, und auch die Länder haben eine Verantwor-
tung für dieses Thema.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Zuruf der Abg. Dr. Anja Weisgerber [CDU/CSU])


– Ich verstehe gar nicht, warum Sie da so schreien. Ich
dachte, das wäre ein Thema, über das wir gemeinsam re-
den können und bei dem wir gemeinsam nach Lösungen
suchen können.

Wir müssen neben den Instrumenten, die heute bereits
bestehen, sagen: Wir als Deutscher Bundestag haben er-
kannt, dass es hier um eine neue soziale Frage geht. Das
Thema „bezahlbares Wohnen“ und die Tatsache, dass wir
verhindern sollten, dass Menschen einen Großteil ihres
Einkommens für Wohnen ausgeben müssen, müssen uns
doch alle beschäftigen. Wir müssen gemeinsam überle-
gen, was wir bei dem Thema tun können. Entschuldi-

Sylvia Jörrißen






(A) (C)



(B) (D)


gung, aber da reichen die Instrumente, die Sie gerade
aufgezählt haben, nicht aus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Natürlich investieren wir und fördern wir den sozialen
Wohnungsbau. Natürlich gibt es Programme zur Städte-
bauförderung. Wir haben gemeinsam an einem Strang
gezogen, um die Mittel dafür zu erhöhen. Es gibt den
Vorschlag für die Sonder-AfA; aber, sorry, Frau Jörrißen,
schauen Sie sich einmal an, für wen die Sonder-AfA ist.


(Zuruf von der CDU/CSU: Für mehr Wohnungen!)


Wir fördern damit doch nicht in einem Segment, in dem
es um bezahlbaren Wohnraum geht. Ich bitte Sie: Be-
schäftigen Sie sich einmal mit den Modalitäten und den
Voraussetzungen für die Sonder-AfA. Das hat nichts mit
dem Bereich bezahlbarer Sozialwohnungen zu tun. Das
ist eine Förderung in einem anderen Segment. Sie kön-
nen sagen, dass es in manchen Bereichen gebraucht wird;
aber bitte negieren Sie nicht, dass damit das Thema „so-
zialer Wohnungsbau“ nicht gelöst wird. Das weiß jede
und jeder, der oder die in diesem Bereich aktiv ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


2002 gab es noch 2,5 Millionen Sozialwohnungen.
Inzwischen sind es noch 1,5 Millionen. Jährlich fallen
60 000 Sozialwohnungen aus der Bindung. Dabei wer-
den jährlich 100 000 zusätzlich gebraucht. Wir bauen un-
gefähr zwischen 9 000 und 12 000; das ist die Zahl, die
immer genannt wird. Da wollen Sie sagen, dass wir kein
Problem haben? Wir haben da ein riesiges Problem. Das
ballt sich in manchen Regionen enorm.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)


In dieser Situation würde ich Sie gerne dafür gewin-
nen, zu sagen: Da viele Menschen erkannt haben, dass
es eine neue soziale Frage ist, gibt es neben den Instru-
menten, die wir haben, vielleicht die Chance, neue Ideen
einzubringen oder an alten Ideen wieder zu arbeiten.

Ein Thema ist der gemeinnützige Wohnungsbau. Wa-
rum können wir nicht einfach einmal darüber diskutie-
ren? Wir können doch aus den Fehlern, die damals bei
der Neuen Heimat gemacht und im Untersuchungsaus-
schuss aufgearbeitet worden sind, lernen. Wir können
im Rahmen eines Sofortprogramms sozialen Wohnraum
zur Verfügung stellen – durch Ankauf, durch Konversi-
on, durch Umbau –, und wir können im Hinblick auf die
Förderung gerade von Genossenschaften, von Gemein-
nützigen, von Initiativen, die sich in diesem Bereich zu-
sammentun, für Bezieher mittlerer und kleiner Einkom-
men und für den sozialen Wohnungsbau wirklich etwas
schaffen, indem wir zum Beispiel private Vermieter mit
bis zu 20 Prozent der Neubaukosten fördern oder bei
der Wohnraumförderung 10 Prozent der Gesamtkosten
übernehmen. Hier könnten wir durch Steueranreize und
Gutschriften einen Impuls geben. Wir könnten in diesem
Bereich versuchen, durch den Neubau von bezahlbarem

Wohnraum und durch neue Initiativen und neue Ideen im
Hinblick auf die neue Wohnungsgemeinnützigkeit etwas
zu tun. Wir müssen kommunale Akteure, Wohnprojekte
und Bauvereine oder auch private Vermieter dafür ge-
winnen, sich stärker dafür zu interessieren und sich am
Markt zu beteiligen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich glaube, das könnte wirklich eine Chance sein. Des-
halb fordere ich Sie alle auf: Lassen Sie uns darüber
nachdenken und gemeinsam darüber diskutieren!

Wohnraumförderung muss nachhaltig sein. Eines der
Probleme bei all den Instrumenten, über die wir bisher
reden, ist die kurze Sozialbindung. Nach zehn Jahren fal-
len die sozial geförderten Wohnungen aus der Bindung,


(Christian Haase [CDU/CSU]: Aber sie sind immer noch da!)


und wir kommen in die Schwierigkeit, vor der wir in
vielen mittelgroßen und großen Städten stehen. Deshalb
ist der Anknüpfungspunkt, durch die Wohnungsgemein-
nützigkeit langfristig und dauerhaft eine Förderung zur
Verfügung zu stellen, aber auch langfristig zu binden, ein
interessanter Impuls, eine interessante Idee. Ich würde
mich freuen, wenn Sie Interesse daran haben, diese Idee
als eine ernstzunehmende neue Idee aufzugreifen. Aus
den Fehlern der Vergangenheit kann man hier lernen.
Lassen Sie uns darüber diskutieren!

Viele wissen, dass bezahlbares Wohnen für die Men-
schen in ihrem Alltagsleben mittlerweile zu einem gro-
ßen Thema geworden ist und dass dies eine neue soziale
Frage ist, der wir uns stellen müssen, und das nicht nur
mit den üblichen bisherigen Instrumenten. Das machen
die Zahlen zum fehlenden Wohnraum deutlich.

Danke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1816403200

Für die Bundesregierung hat jetzt Herr Parlamentari-

scher Staatssekretär Florian Pronold das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Fl
Florian Pronold (SPD):
Rede ID: ID1816403300


Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Eine ganze Menge Menschen in Deutschland
haben derzeit Sorge, wie sie heute oder in Zukunft be-
zahlbaren Wohnraum finden. Diese Sorge nehmen wir
alle in diesem Hohen Hause sehr ernst. Ich glaube daher,
es würde der Debatte sehr gut tun, wenn man nicht in
das übliche Spiel zwischen Opposition und Regierung
verfällt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben ja die Rede von Frau Jörrißen gehört!)


Britta Haßelmann






(A) (C)



(B) (D)


Man könnte vonseiten der Opposition anerkennen,
dass diese Bundesregierung und die sie tragenden Frak-
tionen im Hinblick auf bezahlbaren Wohnraum deutlich
mehr gemacht haben, als in den letzten Legislaturperi-
oden getan wurde, und dass wir mehr gemacht haben,
als im Koalitionsvertrag steht, weil wir erkannt haben,
dass es in Studierendenstädten und Metropolregionen ein
Marktversagen gibt, das wir ohne Intervention nicht auf-
lösen können.

Was so abstrakt klingt, heißt ganz konkret, dass wir
für die Rentnerin, die in eine kleinere Wohnung ziehen
will, bezahlbaren Wohnraum haben, dass wir für einen
ganz normalen Krankenpfleger, der heute eine Wohnung
in Berlin sucht, ein Angebot haben, das er sich leisten
kann, und dass wir für die Polizeibeamtin eine Wohnung
in der Stadt haben, sodass sie nicht jeden Tag 30, 40 Ki-
lometer von ihrer Wohnung bis zur Arbeit fahren muss.
Das ist doch das, was wir gemeinsam wollen: bezahlba-
ren Wohnraum auch in angespannten Wohnungsmärkten
vorhalten.

Dafür haben wir eine ganze Fülle von Maßnahmen
durchgeführt, zum Beispiel in den Bereichen der sozi-
alen Wohnraumförderung und der Städtebauförderung,
die Zurverfügungstellung von Bundesgrundstücken mit
einem Preisnachlass für den sozialen Wohnungsbau, die
Erhöhung des Wohngeldes usw.


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht eine Wohnung! Nicht einen Vertrag! Nur auf dem Papier!)


Man könnte also auch einmal anerkennen, dass wir hier
eine ganze Menge auf den Weg gebracht haben,


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das funktioniert nicht!)


obwohl für diese Dinge nach unserem Grundgesetz der
Bund fast keine Zuständigkeiten mehr hat, weil die große
Verantwortung bei den Ländern liegt.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Es ist aber in Ordnung, dass wir über weitere Instru-
mente diskutieren und uns Gedanken darüber machen,
was wir tun können, um unser gemeinsames Ziel zu
erreichen. So unterscheidet sich der Wohnungsmarkt in
Deutschland zum Beispiel von dem Wohnungsmarkt in
Österreich durch eine andere Tradition.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1816403400

Herr Kollege Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwi-

schenfrage der Kollegin Paus?

Fl
Florian Pronold (SPD):
Rede ID: ID1816403500


Sehr gerne.


Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816403600

Herr Staatssekretär, Sie haben sich jetzt genauso wie

Frau Jörrißen wieder selber gelobt.

Fl
Florian Pronold (SPD):
Rede ID: ID1816403700


Sie machen es ja leider nicht.


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)



Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816403800

Sie haben gesagt, dass die BImA, die Bundesanstalt

für Immobilienaufgaben, jetzt Grundstücke für den sozi-
alen Wohnungsbau abgibt, weil der Haushaltsausschuss
das beschlossen hat. Ich gehe davon aus, dass Ihnen wie
mir bekannt ist, dass es bisher nicht einen einzigen Ver-
trag gibt. Kein einziges Grundstück und keine einzige
Wohnung ist bisher von der BImA an welche Kommune,
welche Region und welches Land in der Bundesrepublik
auch immer für den sozialen Wohnungsbau zur Verfü-
gung gestellt worden. Von daher ist das bisher schlicht
ein Beschluss des Haushaltsausschusses. Deswegen
möchte ich Sie fragen, wie Sie trotzdem sagen können,
schon unglaublich viel auf den Weg gebracht zu haben.

Daneben will ich Sie heute konkret fragen, was Sie
dafür tun wollen, dass die BImA tatsächlich Grundstü-
cke für den sozialen Wohnungsbau abgibt und die Län-
der, Kommunen und Regionen endlich davon profitieren
können.

Fl
Florian Pronold (SPD):
Rede ID: ID1816403900


Um den ersten Teil Ihrer Frage zu beantworten: Wir
haben die Mittel für die soziale Wohnraumförderung, die
über die Länder ausgegeben werden, verdoppelt, und wir
haben jetzt in den Haushaltsverhandlungen zusätzliches
Geld für die soziale Wohnraumförderung zur Verfügung
gestellt.

Zweitens. Es ist eine Sonder-AfA für Wohnungen im
mittleren Segment in angespannten Wohnungsmärkten
auf dem Weg. Daneben haben wir für die Flüchtlingsun-
terbringung eine verbilligte und teilweise sogar kostenlo-
se Überlassung von BImA-Grundstücken vereinbart. Die
ersten BImA-Programme sind von den Kommunen übri-
gens nicht angenommen worden, weil wir parallel dazu
für die Flüchtlingsunterbringung entsprechende Liegen-
schaften des Bundes – oft nach notwendigen Renovie-
rungsarbeiten – umsonst zur Verfügung gestellt haben.
Ich weiß, dass es derzeit eine ganze Menge Verhandlun-
gen zwischen den Kommunen und der BImA über das
vom Haushaltausschuss beschlossene Programm und die
von uns allen begrüßte Entscheidung gibt,


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist noch nichts passiert!)


dass nun auch öffentliche Liegenschaften des Bundes
preisgünstig für den sozialen Wohnungsbau abgegeben
werden. Diese Verhandlungen laufen, und wir können
bald darüber berichten. Auch im Fachausschuss haben
wir mit der BImA bereits über diese Fragen gesprochen,
und unser Ministerium hält hier ständigen Kontakt. Ich
habe überhaupt keinen Zweifel daran, dass sich hier der

Parl. Staatssekretär Florian Pronold






(A) (C)



(B) (D)


Wille des Gesetzgebers bzw. des Haushaltsgesetzgebers
durchsetzen wird.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich glaube, es geht jetzt darum, zu schauen, welche
Fehler in der Vergangenheit gemacht worden sind, Feh-
ler, die übrigens von allen – auch von allen, die hier sit-
zen – gemacht wurden. Man ist nämlich von falschen
Prognosen ausgegangen. Karl Valentin hat einmal ge-
sagt: Das Gefährliche an Prognosen ist, dass sie auf die
Zukunft gerichtet sind. – Da hatte er recht. In der Woh-
nungswirtschaft gilt das besonders. Nach dem Skandal
um die Neue Heimat wurden verschiedene Weichenstel-
lungen vorgenommen, durch die sich unser Wohnungs-
markt anders entwickelt hat als zum Beispiel der Woh-
nungsmarkt in Österreich. Ein Unterschied zwischen
Wien und München ist, dass sich in Wien 70 Prozent
der Mitwohnungen in der Hand von Genossenschaften
oder in kommunaler Hand befinden; in München sind es
vielleicht 10 bis 15 Prozent. In München beträgt die Be-
standsmiete für Wohnungen in der Hand von Genossen-
schaften oder kommunalen Wohnungsbaugesellschaften
ungefähr 6,50 Euro bis 7 Euro pro Quadratmeter, wäh-
rend die durchschnittliche Miete in München mittler-
weile bei weit über 14 Euro liegt. Das heißt: Der heute
immer noch existierende ehemalige gemeinnützige Sek-
tor, bestehend aus Genossenschaften und kommunalen
Wohnungsbaugesellschaften, ist weiterhin sehr wichtig,
weil sich die Polizeibeamtin oder der Krankenpfleger in
Städten wie München sonst überhaupt keine bezahlbare
Wohnung mehr leisten könnten.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Im Grunde ist es richtig, zu überlegen, wie wir den
gemeinnützigen Sektor wieder stärken. Ich bin der fel-
senfesten Überzeugung, dass wir neben den Maßnah-
men, die ich beschrieben habe, auch darüber nachden-
ken müssen, den nicht profitorientierten Sektor auf dem
Wohnungsmarkt Stück für Stück auszuweiten. Deswegen
macht es Sinn, über die Frage einer neuen Gemeinnützig-
keit nachzudenken. Dabei muss man aber ehrlicherweise
einige Dinge berücksichtigen:

Erstens braucht es Wohnungsbaugesellschaften, die
mit Blick auf diesen neuen Gemeinnützigkeitsbegriff tat-
sächlich bauen wollen.

Zweitens darf man die Fehler, die in der Vergangenheit
gemacht worden sind, nicht wiederholen, etwa bezüglich
der Instandhaltung oder der fehlenden Mieterbeteiligung.

Drittens wird eine Frage aufgeworfen, die uns sehr
bald beschäftigen wird; denn es kann sein, dass wir recht-
lich weniger ein Problem mit Europa haben werden – das
sehe ich in dieser Frage überhaupt nicht; das schaffen
wir –, sondern als Bundesgesetzgeber. Solange nämlich
die Verantwortung für die soziale Wohnraumförderung
weiterhin alleine bei den Ländern liegt und der Bund kei-
ne Mitzuständigkeit hat, wird, wenn wir alle miteinander
zu dem Ergebnis kommen, den nicht profitorientierten,
gemeinnützigen Sektor auszuweiten, das schwierig um-
zusetzen sein. Deswegen kann ich an Sie nur appellieren:
Wir brauchen die Gesetzgebungskompetenz dafür. In
diesem Punkt sind sich fast alle Fachpolitiker in diesem

Raum einig. In den Ländern wird das aber noch nicht so
gesehen. Das Land Berlin hat sich aber bereits positiv
dazu geäußert.

Wir können ab 2019, auch wenn wir das als Bund
wollten, nicht einmal mehr die soziale Wohnraumför-
derung weiterführen, weil dies eine Übergangsregelung
ist. Deswegen ist die Voraussetzung, um bei dem Thema
Gemeinnützigkeit weiterzukommen, dass wir als Bund
wieder eine Mitverantwortung für die soziale Wohn-
raumförderung haben. Dafür sollten wir gemeinsam in
diesem Haus kämpfen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1816404000

Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Volkmar

Vogel.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Volkmar Uwe Vogel (CDU):
Rede ID: ID1816404100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir haben in der letzten Sitzungswoche die Ergebnisse
des Bündnisses für bezahlbares Wohnen und Bauen de-
battiert. Ich denke, das war ein wichtiger Meilenstein in
der Umsetzung des Koalitionsvertrages zwischen CDU,
CSU und SPD.


(Zuruf der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Ergebnisse liegen auf dem Tisch. Wir sind sehr froh
darüber, dass die Ergebnisse durch die Behandlung im
Kabinett ressortübergreifend in der Verantwortung der
Bundesregierung liegen. Das macht die Bedeutung be-
sonders deutlich.

Heute debattieren wir über je einen Antrag von den
Linken und von den Grünen zur gemeinnützigen Woh-
nungswirtschaft.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1816404200

Herr Kollege Vogel, gestatten Sie eine Zwischenfrage

der Kollegin Haßelmann?


Volkmar Uwe Vogel (CDU):
Rede ID: ID1816404300

Vielleicht später, jetzt nicht. – Liebe Kolleginnen und

Kollegen, lassen Sie mich in der heutigen Debatte mit
den Gemeinsamkeiten beginnen. Ich glaube, wir alle sind
uns darin einig, dass Wohnen eine soziale Frage ist, wenn
nicht sogar die soziale Frage. Es ist wichtig, dass in unse-
rem Land jeder die Möglichkeit hat, eine bezahlbare und
von der Qualität her ansprechende Wohnung zu haben.
Diese gemeinsame Anstrengung können die Kommunen
nicht alleine leisten; das ist eine gemeinschaftliche Auf-
gabe von Bund, Ländern und Kommunen. Ich denke, wir
sind uns auch darin einig, dass das in der Vergangenheit
in der Verantwortung der Länder, gelinde gesagt, diffe-
renziert wahrgenommen worden ist. Über die Ergebnisse
debattieren und streiten wir heute natürlich auch. Trotz

Parl. Staatssekretär Florian Pronold






(A) (C)



(B) (D)


der erheblichen Kosten, an denen wir uns als Bund be-
teiligt haben, sind die Ergebnisse leider nicht entspre-
chend. Das liegt meiner Meinung nach – auch das ist Teil
unserer gemeinsamen Auffassung – an der mangelnden
Zweckbindung und Verwendung der Mittel.

Eines aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, gefällt
mir an dem Antrag der Linken und auch der Grünen
nicht. Sie sind, auf den Punkt gebracht, der Auffassung:
Gemeinnütziger Sektor ist gut, alles andere ist schlecht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? Wo steht das?)


Das stimmt mitnichten. Ein Blick auf die Struktur zeigt,
dass zwei Drittel aller Vermieter sogenannte Kleinver-
mieter und private Haushalte sind. Ungefähr 12 Prozent
sind private Unternehmen, 10 Prozent sind kommunale
Unternehmen, 10 Prozent sind Genossenschaften. Sie
wollen doch nicht ernsthaft behaupten, dass 70 Prozent
der Vermieter, also alle Kleinvermieter, Miethaie sind,
gegen die wir etwas tun müssten.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch unter Ihrem Niveau! Wo steht denn, dass wir das gesagt haben! Das ist doch alles großer Mumpitz! Zitieren Sie doch mal bitte! Peinliche Behauptungen sind das! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo?)


Wenn es so wäre, dann wäre der soziale Frieden in unse-
rem Land schon lange gestört.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer sagt das?)


Außerdem vermisse ich in Ihrem Antrag eine Aner-
kennung der Leistungen der gesamten Wohnungswirt-
schaft in der Vergangenheit. Auch wenn – das möchte ich
betonen – es denen, die Probleme haben, eine bezahlbare
Wohnung zu finden, nicht hilft,


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen bildet! Das sollten Sie einmal tun!)


können wir in unserem Land nicht von Wohnungsnot im
Allgemeinen sprechen, sondern nur von einem Mangel
an bezahlbarem Wohnraum in den Ballungsgebieten, in
den Universitätsstädten, in bestimmten Hotspots. Daran
müssen wir arbeiten. Dafür müssen wir gemeinsam et-
was tun. Die Ergebnisse des Bündnisses für bezahlbares
Wohnen und Bauen bringen uns auf den richtigen Weg.
Diesen Weg werden wir weiter gehen. Unserer Auffas-
sung nach ist es wichtig, dass die von mir geschilderten
Strukturen gestärkt werden. Das bedeutet Krisenfestig-
keit und Stabilität auch bei geänderten Marktsituationen
und bei Problemen beispielsweise die Demografie betref-
fend.


(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ CSU])


Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sylvia
Jörrißen hat es bereits angedeutet: Wir müssen auch da-
für sorgen, dass sich die Wohneigentumsquote erhöht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Jeder, der in ein eigenes Haus zieht, jeder, der eine ei-
gene Eigentumswohnung bezieht, macht Platz frei in ei-
ner Mietwohnung und trägt somit zur Entspannung des
Wohnungsmarktes bei. In diesem Bereich sind unsere
Anstrengungen noch nicht ausreichend; wir müssen sie
dahin gehend vorantreiben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben im Bünd-
nis für bezahlbares Wohnen und Bauen eine intensive
Diskussion geführt. Ich kann vor dem Antrag der Linken
nur warnen und die Kollegen der Grünen dringend darum
bitten, nicht nur das negative Beispiel der Neuen Heimat
ins Feld zu führen. Ich glaube, das war noch beherrsch-
bar. Das war noch abzufedern in einem ansonsten stabi-
len Wohnungsmarkt in der Bundesrepublik Deutschland.
Die Linken schlagen nun eine staatliche Wohnungswirt-
schaft vor.


(Zurufe von der LINKEN: Oh! – Sabine Leidig [DIE LINKE]: Vielleicht sollten Sie ihn erst lesen!)


Ich finde, da sollten wir aus der Vergangenheit gelernt
haben. Schauen wir uns einmal den Wohnungsmarkt der
ehemaligen DDR an. Dieser war geprägt von willkürli-
cher staatlicher Wohnungspolitik. Die Innenstädte waren
verfallen. Es fehlte bis zum Schluss an Wohnraum, vor
allen Dingen an vernünftigem Wohnraum. Letztlich – das
muss man sagen – war das auch ein Grund, warum die
DDR untergegangen ist. Der bauliche Zustand der Ge-
bäude war so schlecht, dass die Leute vom dritten Stock
in den zweiten Stock gezogen sind, weil es durchs Dach
regnete. Dann sind sie ins Erdgeschoss gezogen. Als auch
das nicht mehr ging, sind sie auf die Straße gegangen und
haben zu Recht gesagt: Wir sind das Volk. – Deswegen
noch einmal die eindringliche Warnung und die Bitte an
die Kollegen von den Grünen, diesen Weg nicht mitzu-
gehen, sondern den Weg weiterzugehen, den wir gemein-
sam gehen wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie gehen gar keinen Weg! Das ist das Problem! – Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie treten auf der Stelle!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen Inves-
titionen in den Neubau und in den Bestand. Deswegen
ist es richtig, steuerliche Anreize zu setzen. Wir wissen
auch, dass steuerliche Anreize nicht jedem helfen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach!)


Wir müssen auch mehr tun – das möchte ich betonen; das
fehlt auch in Ihrem Antrag – für die kleinen Leute, die
jeden Tag zur Arbeit gehen


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann tun Sie doch was! – Zuruf von der LINKEN: Wer regiert denn? Guten Morgen!)


Volkmar Vogel (Kleinsaara)







(A) (C)



(B) (D)


und wenig Spielraum haben, aber trotzdem etwas auf die
Seite legen wollen, um ihren Traum vom eigenen Haus
bzw. von der eigenen Wohnung zu verwirklichen. Es ist
wichtig und geboten, die Wohnungsbauprämie und die
Arbeitnehmersparzulage zu erhöhen, damit die Men-
schen das notwendige Eigenkapital ansparen können.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Es ist auch richtig, dass wir die Städtebauförderung
kontinuierlich weiter ausbauen. Wir haben die Mittel
dafür auf rund 800 Millionen Euro erhöht. Außerdem
haben wir die Kompensationsmittel für den sozialen
Wohnungsbau der Länder um das Doppelte erhöht. Man
muss natürlich die Frage stellen, ob diese Gelder auch
abfließen. In der Vergangenheit sind sie nicht abgeflos-
sen. Unter anderem deshalb sind wir jetzt in bestimm-
ten Gebieten in der Situation, dass es keinen bezahlbaren
Wohnraum gibt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie sind,
zum Beispiel in Thüringen, selber in Regierungsverant-
wortung. Es geht doch nicht an, dass es zwei Jahre gedau-
ert hat, bis die Wohnraumförderprogramme entsprechend
angepasst worden sind. Das ist erst in den letzten Wochen
geschehen. Ich halte es auch nicht für richtig, dass der
Fonds, der unter dem vorigen Minister angespart worden
ist, jetzt aufgelöst wird und die Mittel in den allgemeinen
Haushalt einfließen, sodass sie nicht mehr zweckgebun-
den für die Wohnraumförderung zur Verfügung stehen.
So viel zum Thema Zweckbindung. So viel Ehrlichkeit
muss sein. Hier müssen wir intervenieren. Das darf nicht
so weitergehen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir
auf der einen Seite finanzielle Unterstützung leisten, dann
kommt es auf der anderen Seite aber auch darauf an, dass
Bauen preiswert bleibt. Bauen muss preiswert bleiben,
und zwar zum einen durch Fördermittel und zum anderen
dadurch, dass die Standards und Vorschriften nicht weiter
verschärft werden. Man kann es auf den Punkt bringen:
Derjenige, der in der Lage ist, preiswert zu bauen, kann
auch preiswert vermieten, wenn die Marktbedingungen
dazu passen.

Ich stelle abschließend fest: Es ist richtig und wich-
tig, dass wir die bewährten und krisenfesten Strukturen
in Deutschland erhalten, unterstützen und mit entspre-
chenden Fördermitteln weiterentwickeln. Des Weiteren
müssen wir dafür sorgen, dass in Gebieten, in denen tat-
sächlich ein Mangel an bezahlbarem Wohnraum besteht,
Abhilfe geschaffen wird, um damit auch den sozialen
Frieden insgesamt in unserem Land zu erhalten.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1816404400

Danke auch, Herr Kollege Vogel. – Nächste Rednerin

ist die Kollegin Caren Lay für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Caren Lay (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1816404500

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ich muss feststellen: Das Eigenlob, das sich die
Union für die Wohnungspolitik ausstellt, steht in krassem
Gegensatz zur realen Mietentwicklung in Deutschland
und zur Wahrnehmung der Menschen. Dafür habe ich
überhaupt kein Verständnis.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich frage mich, ob Sie es schon mitbekommen haben:
Wir haben in deutschen Großstädten in den letzten fünf
Jahren Mietsteigerungen von 30, 40 oder 50 Prozent.
Daran haben weder Ihr Bündnis für bezahlbares Woh-
nen noch das Mietpreisbremschen irgendetwas geändert,
nicht zuletzt dadurch, dass die gute Idee der Mietpreis-
bremse von Ihrer Fraktion so durchlöchert wurde, dass
sie am Ende zum Rohrkrepierer wurde. Wenn Sie nach
diesem Vorgang jetzt die Länder beschimpfen, sie wür-
den sie nicht schnell oder gut genug umsetzen, dann kann
ich nur lachen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Abgesehen davon gibt es auch einige unionsgeführte
Länder, die bis heute die Umsetzung der Mietpreisbrem-
se verweigern. Sie sind wirklich nicht in der Position, mit
dem Finger auf andere zu zeigen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich denke manchmal, man müsste Sie einfach ein-
mal mitnehmen. Machen wir doch eine Exkursion, um
zu sehen, was auf dem deutschen Wohnungsmarkt los
ist. Dafür müssen wir nicht weit gehen. In Berlin, etwa
200 Meter vom Deutschen Bundestag entfernt, gibt es
in der Wilhelmstraße ein großes Mietwohnhaus mit
100 Wohnungen zu einem Mietpreis von 5 Euro pro Qua-
dratmeter. Dieses Haus soll jetzt abgerissen werden. Dort
sollen Luxuseigentumswohnungen entstehen, von denen
die billigste eine halbe Million Euro kostet. Das ist doch
völliger Unsinn. Da greifen sich die Leute zu Recht an
den Kopf.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Das Problem ist, dass der Wohnungsmarkt in Deutsch-
land zu einem Eldorado für Spekulanten und große priva-
te Anbieter geworden ist. Das wollen wir ändern.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie fordern immer: Bauen! Bauen! Bauen! Bauen al-
leine ist aber kein Programm. Es wird schon ganz schön
viel gebaut in Deutschland. Es wird für Reiche und für
Besserverdienende gebaut. Aber niemand baut für Stu-
dierende, Rentner, Erwerbslose und Familien mit kleinem
Einkommen. Genau darum geht es doch. Selbst kommu-
nalen Unternehmen wird zunehmend vorgeworfen, dass
sie nicht mehr für die soziale Versorgung einstehen. Ich
kann nur sagen: Die Abschaffung der Wohngemeinnüt-
zigkeit war ein großer Fehler der Vergangenheit. Diesen

Volkmar Vogel (Kleinsaara)







(A) (C)



(B) (D)


Fehler wollen wir korrigieren. Wir müssen endlich wie-
der eine zweite Säule auf dem Wohnungsmarkt schaffen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es geht im wahrsten Sinne des Wortes ums Prinzip.
Der Markt alleine richtet es hier offenbar nicht. Der
Markt alleine hat nicht dafür gesorgt, dass Wohnen be-
zahlbar bleibt. Der Markt alleine hat dafür gesorgt, dass
die Renditen privater Investoren zunehmend in die Höhe
steigen. Deshalb brauchen wir eine zweite Säule der Ge-
meinnützigkeit. Ich möchte Sie bitten, unseren Antrag
wirklich zu lesen. Nicht nur kommunale Wohnungsun-
ternehmen und Genossenschaften, sondern auch private
Initiativen würden davon profitieren. Also hören Sie bitte
auf, einen Popanz aufzubauen und zu sagen, wir Linken
wollten wieder verstaatlichen und die DDR einführen.
Sie haben unseren Antrag nicht gelesen. Machen Sie bitte
Ihre Hausaufgaben!


(Beifall bei der LINKEN)


Das Prinzip der Gemeinnützigkeit ist deutlich und
klar. Gemeinnützige Unternehmen verzichten auf hohe
Renditen. Sie verpflichten sich der Sozialbindung und
dem Allgemeinwohl. Dafür bekommen sie steuerliche
Anreize, steuerliche Privilegien im Gegenzug für soziale
Verpflichtungen. Was Sie mit Ihrem Gesetzentwurf, über
den wir in zwei Wochen beschließen sollen, planen, ist
das glatte Gegenteil. Herr Schäuble verfolgt das gegen-
teilige Modell: steuerliche Privilegien ohne soziale Ver-
pflichtung. Das ist doch völliger Unsinn.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie wollen ein Gesetz beschließen, das faktisch Steuer-
ausfälle in Milliardenhöhe für die Länder bedeutet. Die
Wohnungen, die mithilfe steuerlicher Anreize gebaut
werden sollen, gehören uns am Ende nicht. Die Sozial-
bindung entfällt nach zehn Jahren. Auch Mietobergren-
zen soll es nicht geben. Das, was die Koalition, vor allem
die Union, plant, ist Geldverschwendung in Milliarden-
höhe. Das ist keine neue Gemeinnützigkeit. Nur eine
neue Gemeinnützigkeit wird dafür sorgen, dass Wohnen
in Deutschland langfristig bezahlbar bleibt.

Stimmen Sie also dem guten Vorschlag der Linken zu,
und lassen Sie uns gemeinsam eine neue Gemeinnützig-
keit einführen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1816404600

Für die SPD spricht jetzt der Kollege Klaus Mindrup.


(Beifall bei der SPD)



Klaus Mindrup (SPD):
Rede ID: ID1816404700

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Gestatten Sie mir eingangs ein paar persön-
liche Vorbemerkungen. Seit 16 Jahren bin ich zuerst
Beirat, dann Aufsichtsrat der vor 16 Jahren gegründeten
Wohnungsbaugenossenschaft „Bremer Höhe“. Wir sind
eine Graswurzelgenossenschaft in Prenzlauer Berg und

sind dem Gemeinwohl verpflichtet. Wir haben einen
Kernbestand von ungefähr 450 Wohnungen in Prenz-
lauer Berg. Wir sind eine Dachgenossenschaft, unter
deren Dach weitere Projekte realisiert werden können.
Zuletzt ist das bekannte Georg-von-Rauch-Haus unter
unser Dach geschlüpft. Wir bieten bezahlbare Mieten, im
Schnitt 5,50 Euro pro Quadratmeter in Prenzlauer Berg.
Wir haben eine Förderung von Berlin bekommen. Dafür
haben wir Berlin Belegungsbindung gegeben. Eigentlich
könnten wir diese jetzt zurückgeben. Aber wir haben uns
freiwillig entschlossen, Berlin weiterhin einen Teil ein-
zuräumen, weil wir etwas von dem zurückgeben wollen,
was wir vom Staat bekommen haben. Wir haben geringe
Nebenkosten und sind dem Klimaschutz verpflichtet, un-
ter anderem durch Mieterstrommodelle.

Wir machen schon seit langer Zeit keine Wartelisten,
weil wir wissen, wie die Mietsituation in Berlin ist; das
haben wir schon sehr früh mitbekommen. Wir sind aber
keine Vermietungsgenossenschaft, die steuerbefreit ist;
das ist der letzte Rest aus der Gemeinnützigkeit. Wir ha-
ben darüber diskutiert. Aber die Überführung ist viel zu
kompliziert. Wenn wir hier voranschreiten wollen, müs-
sen wir schauen, dass wir die Überführung in steuerbe-
freite Formen erheblich vereinfachen und die Genossen-
schaften keinen großen Risiken aussetzen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben Glück gehabt. Wir hatten die Hilfe der Po-
litik. Andere haben diese Hilfe nicht gehabt. Hier wur-
de schon häufiger über die Kopenhagener Straße 46 in
Prenzlauer Berg diskutiert. Ich war am letzten Samstag
wieder dort. Dazu ist zu sagen: Der Schutz von Be-
standswohnungen ist, wenn man preiswerte Mietwoh-
nungen haben will, ganz entscheidend. Die Mietstruktur
in Berlin ist dadurch gekennzeichnet, dass die Miete bei
Bestandswohnungen im Schnitt bei 5,80 Euro pro Qua-
dratmeter liegt. Neubau kann man nicht unter 10 Euro
pro Quadratmeter realisieren. Das heißt, wenn man be-
zahlbaren Wohnraum kostengünstig erhalten will, muss
man sich um den Bestand kümmern. Wie gesagt, über die
Kopenhagener Straße wurde hier schon oft diskutiert. Ich
möchte allerdings auf einen Aspekt hinweisen, über den
noch nicht diskutiert wurde. Damals wurde eine energeti-
sche Sanierung vom neuen Eigentümer angekündigt, der
die Mieten um 10 bis 16 Euro pro Quadratmeter erhöhen
wollte. Heute stellt sich heraus, dass diese angekündigte
energetische Sanierung gar nicht realisiert wurde. Das
Haus wurde in Eigentumswohnungen umgewandelt, und
es wurde nicht das gemacht, was angekündigt wurde.
Alle Mieter bis auf zwei Parteien wurden verdrängt. Das
sind Modelle der Täuschung. Das ist grauer Baumarkt.
So etwas müssen wir stoppen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Berlin wurde in der Vergangenheit heftig kritisiert,
auch hier im Haus. Seit 2011 haben wir die Privatisie-
rung gestoppt mit der Berliner Immobilien Holding, die
die Linke damals noch privatisieren wollte; daran möchte
ich erinnern. Es war die SPD, die das gestoppt hat. Seit-

Caren Lay






(A) (C)



(B) (D)


dem sind wir vorangekommen. Wir haben im letzten Jahr
das Umwandlungsverbot eingeführt, und wir haben eine
Einigung mit den Initiatoren des Mietenvolksentscheids
in Berlin erzielt.

Wir haben ungefähr 300 000 Wohnungen in städti-
scher Hand. Zukünftig werden 55 Prozent dieser Woh-
nungen an Menschen mit Wohnberechtigungsschein
vermietet, 20 Prozent sind für besondere Sozialfälle vor-
gesehen. Das heißt, wir haben mit einem Schlag 165 000
neue Sozialwohnungen geschaffen. Das ist vorbildlich,
auch für andere Städte in Deutschland.


(Beifall bei der SPD)


Wenn wir jetzt hier diskutieren, wie wir weiter voran-
kommen, dann muss eines klar sein: Die Sicherung und
Schaffung von bezahlbarem Wohnraum ist eine Gemein-
schaftsaufgabe von Bund, Ländern und Gemeinden. Die
Menschen im Land interessiert es nicht, ob es die Bun-
despolitiker, die Landespolitiker oder die Kommunalpo-
litiker sind. Sie wollen Lösungen haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Insofern sollten wir das, was hier schon Staatssekretär
Pronold angedeutet hat, angehen, nämlich die Änderung
des Grundgesetzes. Wir sind den Menschen verpflichtet.
Die Schaffung sozialen Wohnraums ist auch Aufgabe des
Bundes; denn es geht hier nicht nur um vier Wände, es
geht um die Würde und das Leben von vielen Menschen
in unserem Land.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1816404800

Nächste Rednerin ist die Kollegin Lisa Paus, Bünd-

nis 90/Die Grünen.


Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816404900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das war

durchaus ein Hoffnungsschimmer. Ich freue mich dann
auch auf die entsprechende Debatte und die Auseinan-
dersetzung im Detail in den Ausschüssen. Die CDU
macht mir da allerdings noch erhebliche Sorgen.


(Zurufe von der CDU/CSU: Nicht nötig!)


Ich dachte, wir seien uns zumindest in der Analyse, dass
wir ein Problem haben, einig. Das haben verschiedene
Kollegen schon angesprochen. Trotzdem scheint das bei
Ihnen noch nicht wirklich angekommen zu sein. Ich ma-
che einen letzten Versuch.

Selbst die Bundesbank, die für die Union eine rela-
tiv heilige Institution ist, hat inzwischen festgestellt,
dass wir es in den Ballungsgebieten in Deutschland mit
Immobilienblasen zu tun haben und man deswegen ge-

gensteuern muss. Unser Antrag zur neuen Wohnungsge-
meinnützigkeit ist auch dazu ein Beitrag.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir brauchen eine Trendwende am Wohnungsmarkt.
Das ist der entscheidende Punkt. Ich möchte mit Ihnen
zusammen darum ringen, wie wir das schaffen. Wir sa-
gen: Ohne die Wiedereinführung der Wohnungsgemein-
nützigkeit wird es in Deutschland nicht gehen;


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


denn wir haben explodierende Mieten, wir haben noch
stärker steigende Kaufpreise. Aktuell ist in Berlin zum
Beispiel eine Wohnung für 19 018 Euro pro Quadratme-
ter über den Tisch gegangen. Das ist zurzeit der Spitzen-
preis.


(Klaus Mindrup [SPD]: Ich hoffe, es hat kein Grüner gekauft!)


Auch das wird nicht das letzte Wort sein. Garantiert wer-
den wir in den nächsten Monaten von neuen Preisen hö-
ren. Das kann nicht sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der Preis war natürlich nicht für eine Sozialwohnung,
aber er zeigt klar, dass die Immobilien- und Mietpreis-
situation in Deutschland in den Ballungsgebieten völlig
aus dem Ruder läuft und sich in die falsche Richtung ent-
wickelt.

Wir müssen Maßnahmen ergreifen, damit Familien
mit Kindern, Studentinnen und Studenten, Rentnerinnen
und Rentner nicht die Erfahrung machen müssen, dass es
kaum eine Wohnung auf dem Markt gibt, die sie sich leis-
ten können. Es muss auch klar sein, dass die Wohnungs-
knappheit nichts mit den Geflüchteten zu tun hat. Diese
Entwicklung auf den Wohnungsmärkten gibt es in den
Ballungsgebieten seit mehreren Jahren. Sie war schon
vorher da und ist zu einem großen Teil hausgemacht.

Auch ich möchte noch einmal in Erinnerung rufen:
Der Kardinalfehler der Wohnungspolitik in Deutschland
war die Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit
1990 im Zuge des Skandals um die Neue Heimat. Diese
Chance nutzte die schwarz-gelbe Bundesregierung, um
die steuerliche Förderung des sozialen Wohnungsbaus,
die ihr ein Dorn im Auge war, schlichtweg zu beseitigen,
anstatt das an sich richtige Instrument zu reformieren.

Wir sehen inzwischen die Konsequenzen. Seitdem
sind über 2 Millionen dieser günstigen Sozialwohnun-
gen verloren gegangen, und zwar durch Privatisierung
und das Auslaufen der Sozialbindung. Etliche von die-
sen Wohnungen finden wir inzwischen in börsennotier-
ten Wohnungsunternehmen, die Renditeinteressen haben
und die Spekulation weiter anheizen. Jedes Jahr fallen
weitere 60 000 Wohnungen aus der Sozialbindung he-
raus. Das heißt, wir brauchten, um aus der Krise heraus-
zukommen, jedes Jahr mindestens 100 000 neue Woh-
nungen mit dauerhafter Bindung.

Wir sind davon überzeugt, dass wir den riesigen Boom
an sozialem Wohnungsbau, den wir jetzt brauchen, mit
den bisherigen Mitteln allein nicht hinbekommen, ins-

Klaus Mindrup






(A) (C)



(B) (D)


besondere nicht durch eine Sonderabschreibung für den
Wohnungsbau, die die Große Koalition vor wenigen Wo-
chen hier vorgestellt hat und die wir in diesem Monat
noch diskutieren werden. Sie wissen selber: Das ist im
Wesentlichen ein Geschenk für die Immobilienwirtschaft
und für die Einkommensmillionäre. Insbesondere wird
sie für Sozialwohnungen nichts, aber auch wirklich gar
nichts leisten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das Problem wird auch nicht allein durch die klas-
sischen sozialen Wohnungsbauunternehmen gelöst. Die
können ihre Baukapazitäten aus dem Stand gar nicht in
der notwendigen Größenordnung vervielfachen und wür-
den auch nicht die Vielfalt generieren, die wir brauchen.
Wir brauchen tatsächlich ein neues Instrument, mit dem
wir ganz neue Akteure für den sozialen Wohnungsbau
gewinnen können, und deswegen brauchen wir die Woh-
nungsgemeinnützigkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Idee der Wohnungsgemeinnützigkeit ist, dass
der Bauträger sich verpflichtet, die Wohnung dauerhaft
sozial gebunden zu vermieten. Dafür erhält er wirklich
spürbare steuerliche Erleichterungen oder eine Investiti-
onszulage als Steuergutschrift von – so unser Vorschlag –
bis zu 20 Prozent. Damit wird das Bauen von sozialem
Wohnraum auch für Wohnungsgenossenschaften, Ver-
eine, Baugruppen, Wohnprojekte und private Vermieter
interessant. Also: klare soziale Bindung, aber es muss
sich auch rechnen. Wir machen einen entsprechenden
Vorschlag.

Die Wohnungsgemeinnützigkeit soll nach grünen Vor-
stellungen nicht nur für Neubauten, sondern auch für die
Umnutzung von schon vorhandenem Wohnraum genutzt
werden können, beispielsweise für umgebaute und dann
dauerhaft sozial vermietete Wohnräume. Sie ließe sich
auch auf einzelne Wohnungen in Gebäudekomplexen an-
wenden. So ist sie sehr geeignet, um gerade die soziale
Mischung in Wohngebieten zu fördern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE])


Deshalb bringen wir heute unseren Antrag ein; er be-
ruht auf einem ausführlichen Gutachten zu dem Thema.
Es ist ein Antrag, der die Schlüsse aus den Fehlern der
Vergangenheit zieht, der die mittlerweile geltenden eu-
ropäischen Regeln beachtet, der die Erfahrungen unseres
Nachbarlandes Holland mit einbezieht, wo mehr als ein
Drittel der Wohnungen in Wohnungsgemeinnützigkeit
errichtet worden sind – ein Konzept, das Transparenz in
die Konstruktion bringt, sodass sich die Fehler der Neuen
Heimat nicht wiederholen können.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1816405000

Frau Kollegin Paus, Sie erinnern sich an die verein-

barte Redezeit.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Erinnern schon!)



Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816405100

Ja, ich komme zum Schluss, Herr Präsident.

Unser Vorschlag liegt vor. Ich hoffe, dass wir tatsäch-
lich zu einer vernünftigen Debatte miteinander kommen.
Es ist an Ihnen, sich damit ernsthaft auseinanderzusetzen.
Die Familien, die Rentnerinnen und Rentner, die Studie-
renden werden es Ihnen danken, meine Damen und Her-
ren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1816405200

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Anja Weisgerber

für die CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Anja Weisgerber (CSU):
Rede ID: ID1816405300

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und

Kollegen! Die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum
ist eine der größten Herausforderungen für uns Baupo-
litiker. Der Bedarf ist aktuell und in den nächsten Jahren
sehr hoch. Das Bauministerium prognostiziert, dass wir
pro Jahr mindestens 350 000 neue Wohnungen brauchen.
Selbstverständlich benennen auch wir das ganz klar. Wir
brauchen dafür aber genau die richtigen Rahmenbedin-
gungen, die richtigen politischen Weichenstellungen. So
viel vorab: Die Vorschläge, die Sie in Ihren Anträgen ge-
macht haben, sind sicherlich nicht die richtigen Instru-
mente, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Was brauchen wir? Wir müssen Investitionen anrei-
zen; denn der beste Mieterschutz – das ist und bleibt
richtig; das kann ich nicht oft genug sagen – ist: Bauen,
Bauen, Bauen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Jede Wohnung, jede Mietwohnung, jede Eigentumswoh-
nung oder jedes Eigenheim entlastet den Wohnungs-
markt, der im Übrigen durch Angebot und Nachfrage
bestimmt wird. Aber das Prinzip der sozialen Marktwirt-
schaft ist bei der Fraktion Die Linke vielleicht noch nicht
komplett angekommen. Teile Ihres Antrags lesen sich
nämlich eher wie eine Rückkehr zu sehr bürokratischen
Instrumenten mit teilweise – ich formuliere das einmal
vorsichtig – planwirtschaftlichen Ansätzen. Genau das
wollen wir nicht, meine Damen und Herren!


(Beifall bei der CDU/CSU – Heidrun Bluhm [DIE LINKE]: Es darf hier jeder seine Meinung haben, aber Ahnung muss man haben!)


Der Antrag erweckt außerdem den Eindruck, dass wir
in Deutschland keine funktionierenden Wohnungsmärk-
te haben. Aber wie wir alle doch wissen, ist die Situati-
on in Deutschland sehr unterschiedlich. Wir haben die
Metropolen; ich nenne jetzt einmal Beispiele: Berlin,
München, Hamburg. In Ballungsgebieten, in Hochschul-
städten haben wir deutliche, sehr starke Engpässe an den
Wohnungsmärkten. Aber im ländlichen Raum, wo ich
zum Beispiel herkomme, haben wir in vielen Regionen
eine sehr gute und hochwertige Wohnraumversorgung.

Lisa Paus






(A) (C)



(B) (D)


Wir haben in manchen Gegenden, zum Beispiel in Nord-
bayern und in Sachsen, sogar eher die Situation, dass wir
gegen Abwanderung und gegen Wohnungsleerstände an-
kämpfen müssen. Das heißt also: Die Wohnungsmärkte
sind regional sehr unterschiedlich, und genau das muss
sich in unserer Politik niederschlagen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Eines ist auch klar: Eine einseitige Konzentration der
Förderung auf Mietwohnungen greift sicher zu kurz. Wir
brauchen auch die Eigentumsförderung. Es gibt eben
nicht nur die eine Maßnahme, das eine Instrument. Viel-
mehr brauchen wir ein Bündel von Maßnahmen. Wir
brauchen klare Signale für mehr und bezahlbaren Wohn-
raum. Da ist und bleibt – das möchte ich noch einmal
wiederholen – unser wohnungspolitischer Dreiklang si-
cherlich die richtige Antwort und das geeignete Leitbild.

Erstens: richtige Investitionsanreize setzen. Der Staat
allein kann den notwendigen Bedarf an Wohnraum nicht
decken; das muss jedem hier im Raum klar sein. Der
Gesetzentwurf zur steuerlichen Förderung des Mietwoh-
nungsbaus setzt hier genau die richtigen Anreize. In den
ersten drei Jahren können insgesamt bis zu 35 Prozent
der Kosten abgeschrieben werden. Das ist ein wichtiges
Signal an die Investoren, den notwendigen Wohnraum zu
schaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir müssen aber noch an weiteren Stellschrauben
drehen. Die Baukostensenkungskommission im Rahmen
des Bündnisses für bezahlbares Wohnen und Bauen hat
ganz klar zum Ausdruck gebracht: Wir müssen die Bau-
kosten senken, damit wieder investiert wird. Diese Inves-
titionen benötigen wir ganz dringend. In der Diskussion
um Gesetzesänderungen, zum Beispiel auch in puncto
Energieeffizienz, ist es eben wichtig, dass wir Kosten
und Nutzen gegenüberstellen. Es wurde bereits gesagt:
Es gibt Expertenberechnungen zur EnEV, die seit 2016 in
Kraft ist, die sagen: Die Baukosten steigen um 7 Prozent.
Auf der anderen Seite haben wir eine Einsparung von nur
0,02 Prozent. Das stellt die Wirtschaftlichkeit infrage, die
wir immer eingefordert haben und nach wie vor ganz klar
einfordern.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Bei der Überarbeitung der EnEV ist es nicht nur wich-
tig – das sage ich auch als Klimapolitikerin –, die Klima-
ziele einzuhalten, sondern damit auch die Erreichung der
Klimaziele zu unterstützen. Genau deswegen brauchen
wir in diesem Zusammenhang eben auch einen effekti-
ven Klimaschutz, effektive Instrumente und effektive
Maßnahmen. Wir müssen bei dieser Überarbeitung na-
türlich auch die Notwendigkeit von bezahlbarem Wohn-
raum im Blick behalten. Genau das muss der Maßstab
sein, und darauf werden wir alle achten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Michael Groß [SPD])


Zum zweiten Punkt des wohnungspolitischen
Dreiklangs: den sozialen Wohnungsbau wiederbeleben.
Auch da haben wir einiges in die Tat umgesetzt. 2016
bis 2019 gibt es 2 Milliarden Euro mehr für die Wohn-

raumförderung. Damit wurden die Kompensationsmittel
verdoppelt. Die Eckpunkte des Haushaltes 2017 sehen
nochmals 500 Millionen Euro mehr für den Wohnungs-
bau vor.


(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ CSU])


Jetzt habe ich eine klare Hoffnung, die ich einfach einmal
so zum Ausdruck bringen möchte, ohne das jetzt gleich
wieder in einen Angriff umzumünzen. Ich habe die Hoff-
nung, dass die Mittel von den Bundesländern zweckge-
bunden für den sozialen Wohnungsbau eingesetzt wer-
den. Ich kann an dieser Stelle positiv sagen: Bayern hat
mit dem Wohnungspakt Bayern die Mittel, die vom Bund
kommen, noch einmal deutlich – sehr deutlich – aufge-
stockt. Daran können sich andere Länder


(Michael Groß [SPD]: Nordrhein-Westfalen auch!)


– es wurde gerade gesagt: es gibt auch noch andere Län-
der – durchaus ein Beispiel nehmen, um das ganz positiv
zu formulieren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Zum dritten und letzten Punkt des wohnungspoliti-
schen Dreiklangs: die ausgewogene mietrechtliche und
sozialpolitische Flankierung der Wohnungspolitik. Auch
daran arbeiten wir. Die Wohngeldreform und die Miet-
preisbremse wurden umgesetzt. Ich möchte an dieser
Stelle ganz klar sagen: Wir haben mit der Mietpreisbrem-
se einen Schwerpunkt verfolgt. Die Mietpreisbremse soll-
te so ausgestaltet werden, dass die Deckelung der Miete
gewährleistet ist; aber das allein reicht eben nicht, um die
Mieter zu entlasten. Wir müssen auch weiterhin in den
Bau neuer Wohnungen investieren, um zu verhindern,
dass die Mietpreisbremse zu einer Investitionsbrem-
se wird. Deswegen haben wir wichtige Änderungen im
Rahmen der Gesetzgebung zur Mietpreisbremse durch-
gesetzt, nämlich dass die Neubauten ausgenommen wer-
den und dass in Gebieten, in denen die Mietpreisbremse
gilt, auch konkrete Maßnahmenpläne erstellt werden, um
den Engpässen entgegenzuwirken. Das waren konstruk-
tive Verbesserungsvorschläge, so möchte ich es an dieser
Stelle einmal formulieren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dann möchte ich sagen: Zum zweiten Mietrechtspa-
ket liegen uns ja jetzt neue Vorschläge von Justizmi-
nister Maas vor. Da hätten wir schon erwartet, dass die
auch dem Koalitionsvertrag entsprechen. Das ist nicht
der Fall. Der Vorschlag – wie auch schon die Eckpunk-
te – schießt über das Ziel hinaus. Die Absenkung der
Modernisierungsmieterhöhung auf 8 Prozent ist nur ein
Beispiel. Das verhindert notwendige Investitionen in den
Wohnungsbau und die energetische Sanierung.


(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ CSU])


Meine Damen und Herren, ich möchte an dieser Stelle
sagen: Es kann doch nicht sein, dass auf der einen Sei-
te – das ist gut so – der Finanzminister den Wohnungs-
bau steuerlich fördert, die Bau- und Klimaministerin die
Mittel für den sozialen Wohnungsbau aufstockt und die

Dr. Anja Weisgerber






(A) (C)



(B) (D)


Energieeffizienzmaßnahmen voranbringt und dass auf
der anderen Seite ein Justizminister jetzt ein zweites
Mietrechtspaket vorschlägt, das Investitionen und ener-
getische Sanierung ausbremst. Das tragen wir so nicht
mit, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Hier fordern wir eine klare Umsetzung des Koalitions-
vertrages.

Zum Abschluss möchte ich noch zum Ausdruck brin-
gen, dass meist nur der Mietwohnungsbau im Fokus steht.
Wir müssen aber auch daran arbeiten, dass mehr Men-
schen zu Wohnungseigentum kommen. Das ist wichtig
für die Altersvorsorge. Es ist natürlich auch so, dass jede
selbstgenutzte Wohnung eine Mietwohnung frei macht.


(Beifall des Abg. Dr. Georg Nüßlein [CDU/ CSU])


Deswegen brauchen wir neben den Maßnahmen zur För-
derung des Mietwohnungsbaus auch die Eigentumsför-
derung. Deswegen werden wir nicht lockerlassen, was
die Anpassung der Wohnungsbauprämie an die Einkom-
mensentwicklung angeht.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1816405400

Die Kollegin Claudia Tausend spricht jetzt für die

SPD.


(Beifall bei der SPD)



Claudia Tausend (SPD):
Rede ID: ID1816405500

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Nirgend-

wo in Deutschland wächst die Bevölkerung schneller
als in meiner Heimatstadt München. Allein in den letz-
ten vier Jahren ist die Einwohnerzahl Münchens um
100 000 Menschen gestiegen. Wir rechnen bis 2030 mit
weiteren 230 000 Menschen allein in der Kernstadt und
mit weiteren 200 000 Menschen im Umland.

Die Probleme, die viele Kommunen in Deutschland
bei der Schaffung von neuem bezahlbarem Wohnraum
haben, betreffen München also in ganz besonderer Wei-
se. Wir haben zwei wichtige Aufgaben. Die eine ist die
Sicherung von bezahlbaren Mieten, die andere ist die
Schaffung von bezahlbarem Wohnraum. Für München
ist die Mietpreisbremse elementar. Kolleginnen und
Kollegen, 20 Jahre lang hat unser Altoberbürgermeister
Christian Ude für die Einführung dieses Instruments ge-
kämpft. Wir freuen uns, dass uns die Durchsetzung jetzt
gelungen ist.


(Beifall bei der SPD)


Freilich werden die Mieten dadurch nicht sinken,
aber wir können wenigstens die Dynamik des Mietan-
stiegs bremsen. In diesem Zusammenhang unterstützen
wir, sehr verehrte Kollegin Weisgerber, ausdrücklich
die Reform des Mietspiegels; ebenfalls eine langjährige
Forderung aller Mieterverbände und aller Großstadtober-

bürgermeister, die mit dem Thema der bezahlbaren Mie-
ten zu tun haben. Der Ausweitung des Berechnungszeit-
raums für die ortsübliche Vergleichsmiete von vier auf
acht Jahre wird weiter preisdämpfend wirken. Auch hier-
von werden die Mieten natürlich nicht sinken, aber wir
könnten damit die Dynamik des Mietanstiegs bremsen.

In München ist es vor allem wichtig, für den Erhalt der
sozialen Mischung gerade auch in den Innenstadtquartie-
ren zu sorgen, wo wir heute in den besseren Lagen – das
ist heute schon vom Kollegen Pronold gesagt worden –
15 Euro zahlen. 15 Euro! Das ist eine Größenordnung, die
sich Durchschnittsverdiener, auch nicht einmal Gutver-
diener, wirklich nicht mehr leisten können. Ich befürch-
te übrigens nicht, dass die Reform des Mietspiegels die
Aktivitäten im Wohnungsneubau erlahmen lassen wird.
Wir werden gleichzeitig die degressive Sonder-AfA, wie
von Ihnen ausgeführt, wieder einführen und damit den
Neubau von Mietwohnungen weiter anregen. Es wäre
allerdings noch besser, wenn wir dieses Instrument der
Steuererleichterung an einen Mietpreisdeckel koppeln
würden;


(Beifall bei der SPD)


denn die Verteilungswirkung ist ohne einen Mietpreisde-
ckel nicht zu steuern und die Gefahr von Mitnahmeeffek-
ten wirklich hoch.

Ich begrüße ausdrücklich – auch darauf ist hingewie-
sen worden – die Verdopplung der Kompensationsmittel
im sozialen Wohnungsbau. Wir unterstützen ausdrück-
lich eine weitere Verdopplung.


(Beifall des Abg. Klaus Mindrup [SPD])


Das wäre für München ein wichtiger Impuls. Ich möchte
einfach die Zahlen in ein Verhältnis setzen. Wir geben
derzeit bundesweit 1 Milliarde Euro, München gibt –
und das seit vielen Jahren – im letzten Handlungszeit-
raum 2012 bis 2016 800 Millionen städtische Euro für
den geförderten Wohnungsbau aus. Das noch einmal zur
Verhältnismäßigkeit der kommunalen Leistung und zur
Unterstützung von Bundesseite.


(Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Sie müssen auch das Verhältnis zu den Steuereinnahmen der Städte sehen!)


Wir haben ein weiteres Sofortprogramm aufgelegt,
das dazu dienen soll, bereits in diesem Jahr 1 000 neue
Wohnungen zu bauen, vorzugsweise von unseren eigenen
städtischen Wohnungsbaugesellschaften. Diese Wohnun-
gen sollen unteren Einkommensgruppen, aber natürlich
auch den Flüchtlingen zugutekommen. Wir versuchen
das in serieller bzw. modularer Bauweise. Auch das ist,
glaube ich, eine wichtige Anregung, die wir vonseiten
des Bundes hier mitbringen.


(Beifall bei der SPD)


Ich muss langsam zum Schluss kommen und will nur
noch auf ein Thema hinweisen, das vor allem für Groß-
städte sehr wichtig ist. Es geht um den Versuch, eine neue
Gebietskategorie – das „urbane Gebiet“ – in der Baunut-
zungsverordnung zu etablieren. Das „urbane Gebiet“
würde die Kommunen, was die Baulandausweisung an-
belangt, drastisch unterstützen.

Dr. Anja Weisgerber






(A) (C)



(B) (D)


Ein letzter Gedanke: Wir – Bund, Länder und Ge-
meinden – müssen viel tun. Es gibt aber auch noch die
Privatwirtschaft. Damit komme ich zum Werkswoh-
nungsbau. Es gab in den letzten Jahren die traurige Ent-
wicklung, dass sich fast alle Großunternehmen von ihren
Wohnungsbeständen getrennt haben. Nicht alle dieser
Wohnungsbestände wurden an sozial orientierte große
Unternehmen verkauft. Insofern ist auch hier sehr viel
bezahlbarer Wohnraum verloren gegangen. Ich meine,
dass man hier auch die Unternehmen wieder in die Pflicht
nehmen muss. Allein werden wir es wahrscheinlich nicht
schaffen, auch für die Fachkräfte bzw. Auszubildenden
ausreichend Wohnungen zur Verfügung zu stellen. Wir
müssen also alle zusammenhalten und kräftig anpacken.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1816405600

Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Christian

Haase.


Christian Haase (CDU):
Rede ID: ID1816405700

Verehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Plattenbaupro-
gramm der DDR – daran hat mich der vorliegende An-
trag der Linken erinnert.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Damals, 1973, wurde von oben herab ein Wohnungsbau-
programm mit dem einzigen Ziel verordnet, 3 Millionen
neue Wohnungen zu bauen – unabhängig vom Bedarf,
von der Effizienz und den Wünschen der Bürgerinnen
und Bürger, die nachher in diesen Wohnungen wohnen
mussten. In der Bundesrepublik machen wir heute zum
Glück eine andere Politik. Es gibt keine Bevormundung,
sondern Vielfalt – Vielfalt, was Miete und Wohneigen-
tum anbelangt, und Vielfalt auf der Investorenseite. Dort,
wo sie gewachsen und sinnvoll ist, haben wir schon heute
eine gemeinnützige Wohnungswirtschaft, die meist gut
funktioniert. Als ehemaliges Aufsichtsratsmitglied eines
solchen Unternehmens weiß ich, worüber ich spreche.

Die Linken fordern dagegen einen gigantischen staat-
lichen Wohnungsbausektor – egal wo und egal wie teu-
er. Sie trauen sich erst gar nicht, eine Summe für die
angedachte Gemeinschaftsaufgabe zu nennen. Es wird
aber wohl ein zweistelliger Milliardenbetrag sein. Dazu
kommt, dass als Ersatz für die bisherigen Kompensati-
onsmittel 5 Milliarden Euro an die Länder fließen. Das
wäre fünfmal mehr als bisher. Weiterhin gehen 2 Milliar-
den Euro als Ersatz für die Städtebaumittel an die Länder.
Mit weiteren 5 Milliarden Euro soll der Energie- und Kli-
mafonds reich beschenkt werden. Das sind dann zusam-
men noch einmal 12 Milliarden Euro – und das pro Jahr.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken,
Ihre Luftschlösser nehmen damit gigantische Ausmaße
an. Die Finanzierung bleibt komplett im Nebel. Frau
Bluhm, das ist keine Win-win-Situation, sondern eine
Wind-Wind-Situation. Eine verantwortungsvolle Politik
sieht sicherlich ganz anders aus.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, auch inhalt-
lich gibt es drei entscheidende Argumente gegen eine
rein staatliche oder gemeinnützige Wohnungswirtschaft:

Erstens. Die Politik hätte durch die gewaltigen staat-
lichen Subventionen und Fördergelder einen enormen
Einfluss auf diese gemeinnützigen Unternehmen. Ein gu-
ter Politiker ist aber noch lange kein guter Manager von
Wohnungsbauunternehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wohin das führt, haben wir oft genug erlebt. Der riesige
Wohnungsbaukonzern Neue Heimat, der ja auch in Ih-
rer Antragsbegründung Erwähnung findet, sollte uns da
ein mahnendes Beispiel sein. Dieses Gewerkschaftsun-
ternehmen betrieb unter dem Deckmantel der Gemein-
nützigkeit jahrzehntelange Misswirtschaft. Die Linken
fordern nun die Auferstehung dieses Geschäftsmodells.

Zweitens. Es käme zu einer staatlich geförderten
Gettoisierung durch Großsiedlungen dort, wo Durch-
mischung gefragt wäre. Das können wir doch nicht
ernsthaft wollen. Die Negativbeispiele Duisburg-Marx-
loh oder Berlin-Neukölln geistern seit langem durch die
Presse.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1816405800

Kollege Haase, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Bluhm?


Christian Haase (CDU):
Rede ID: ID1816405900

Nein, ich bin gerade im Schwung. – Man könnte

hier noch viele andere Stadtteile aus ganz Deutschland
nennen. In diesen Vierteln haben wir gewaltige Proble-
me: religiöse Radikalisierung, Bandenkriminalität und
rechtsfreie Räume. Das sind die Sorgen der Menschen in
unserem Land. Liebe Freunde, wir müssen etwas gegen
diese Gettos tun und dürfen sie nicht auch noch staatlich
fördern.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Drittens. Es wäre ein weiteres Ergebnis dieses An-
trages, dass die Kommunen faktisch gezwungen wären,
solche Unternehmen zu gründen. Ansonsten würden
sie keine Unterstützung mehr erhalten, wenn sie die
Wohnungsnot vor Ort bekämpfen wollen. Diese Bevor-
mundung ist keine Unionspolitik. Wir wollen, dass die
Kommunen selber entscheiden können, wie sie dem
Wohnungsmangel begegnen. Denn darüber sind wir uns
ja offensichtlich einig: Natürlich herrscht in vielen Groß-
städten ein Mangel an Wohnraum. Natürlich müssen wir
Politiker hier Lösungen finden. Aber genau das tun wir
auch. Die Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoa-
lition haben die Punkte benannt. Ich will auch daran erin-
nern, dass wir in den 90er-Jahren jedes Jahr 600 000 neue
Wohnungen gebaut haben – ohne ein solches Programm
wie in Ihrem Antrag.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt müssen wir
diese Politik in der Praxis wirken lassen. Denn ein kurz-
fristig und unangemessen aufgeheizter Wohnungsbau-
markt treibt zunächst einmal die Baupreise nach oben.
Damit würde wieder viel Geld verbrannt. Was wir brau-

Claudia Tausend






(A) (C)



(B) (D)


chen, sind Kontinuität und Verlässlichkeit, damit die
Wohnungswirtschaft Kapazitäten aufbaut. Denn gerade
in der Baupolitik sind langfristiges Denken und Finger-
spitzengefühl gefragt. Konsequenzen der Baupolitik se-
hen wir oft erst nach vielen Jahren. Dann können manche
demografische Trends schon wieder vorbei sein.

Drei kurze Beispiele. Die Erstsemesterzahlen gehen
nach neuesten Studien viel stärker zurück, als es die Kul-
tusministerkonferenz erwartet. Wie lange hält also der
Bedarf an mehr Studentenwohnungen an? Oder wie vie-
le Wohnungen für Flüchtlinge brauchen wir tatsächlich?
Wird die Urbanisierung anhalten? Diese Fragen zeigen,
dass wir in jedem Fall durchdachte und flexible Konzepte
brauchen. Alles andere ist nicht nachhaltig. Jetzt einen
milliardenschweren öffentlichen Wohnungssektor zu for-
dern, ist unter diesen Gesichtspunkten völlig unverant-
wortlich.

Gerade als Vertreter kommunalpolitischer Interessen
kann ich wirklich nur davor warnen, den Kommunen
diese gewaltige Aufgabe aufzubürden, deren Umset-
zung per Definition – so schreiben Sie es ausdrücklich
in Ihrem Antrag – unrentabel wäre. Bei den Kommunen
würde sie aber dennoch Personal und Geld binden. Dabei
sind schon jetzt viele kommunale Haushalte auf Kante
genäht. Für andere wichtige Investitionen stünde dann
automatisch weniger Geld zur Verfügung. Wir sprechen
in Deutschland von einem kommunalen Investitionsstau
von 130 Milliarden Euro. Während wir mit dem Kommu-
nalinvestitionsförderungsgesetz dagegenhalten, wollen
Sie neue Investitionspflichten festzurren.

Sollten wir nicht den Kommunen vor Ort die Ent-
scheidung überlassen, wo sie ihre Ressourcen einsetzen?
Der vorliegende Antrag zwingt die Kommunen, alles auf
eine Karte zu setzen. Wir wollen den Kommunen die
Wahl lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Denn kommunale Wohnungsunternehmen sind bereits
ein wichtiger Teil der deutschen Wohnungswirtschaft.
Sie bieten bezahlbare Mieten und tragen so zu einer
ausgewogenen Stadtentwicklung bei. Laut Städte- und
Gemeindebund sind es über 700 Unternehmen, die circa
2,5 Millionen Wohnungen in Deutschland besitzen. Die-
se Möglichkeit wird also schon intensiv genutzt, überall
dort, wo es sinnvoll ist.

Auch genossenschaftliche Modelle leisten einen
wichtigen Beitrag, wenn es um bezahlbaren Wohnraum
geht. Es lassen sich viele positive Beispiele nennen, etwa
der Schalker Bauverein aus Gelsenkirchen. Hier müssen
wir schauen, wie wir die Wohnungsbaugenossenschaften
besser unterstützen können. Herr Mindrup hat eben an
seinem Beispiel deutlich gemacht, dass das unter den ge-
gebenen Rahmenbedingungen gut funktioniert.


(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ CSU] und Detlev Pilger [SPD])


Diesen gut funktionierenden Unternehmen wollen
die Linken nun mit ihrem Antrag auch noch die Arbeit
erschweren. Die Liste der zusätzlichen Pflichten und
Regeln für gemeinnützige Unternehmen ist lang, der
Kontrollmechanismus ist aufgebläht. Ein wenig mehr

Vertrauen auch in die kommunale Familie wäre da bes-
ser. Aber wenn man planlos Milliarden in ein System
pumpt, ist eine entsprechende Überprüfung natürlich nö-
tig. Die beschriebene „Vier-Ebenen-Kontrolle“ wird es
allerdings zum Nulltarif nicht geben. Also wieder einmal
mehr Bürokratie! Noch viel schlimmer wäre allerdings
die Gängelung der betroffenen Unternehmen. So behe-
ben wir die Wohnungsnot in Deutschland nicht.


(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ CSU] – Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Sie sind echt innovativ!)


Ein letzter Aspekt ist: Viele Kommunen haben gar
keine Wohnungsnot. Ganz im Gegenteil: Viele Kommu-
nen in ländlichen Räumen leiden unter einem Bevölke-
rungsrückgang. Dieses Ungleichgewicht müssen wir viel
stärker in den Blick nehmen. Wenn wir die Attraktivität
kleinerer Städte erhöhen, unterstützen wir nicht nur die
Menschen, die dort leben, sondern verringern auch den
Zuzug in die Ballungsräume.


(Beifall bei der CDU/CSU)


In diesem Zusammenhang ist auch die Wohnsitzauf-
lage für Flüchtlinge zu nennen. Ich leite derzeit eine Ar-
beitsgruppe der Kommunalpolitischen Vereinigung zum
Thema Integration. Alle Bürgermeister bestätigen mir,
wie wichtig die Wohnsitzauflage für eine Planungssicher-
heit bei der Integration ist. Viele Flüchtlinge zieht es in
die Großstädte, wo schon Landsleute oder Verwandte le-
ben. Das erschwert die Durchführung einer planmäßigen
Integration massiv und verstärkt die Wohnungsknapp-
heit. Mit einer Wohnsitzauflage beugen wir deshalb auf
einen Streich zwei Problemen vor.

Natürlich müssen wir Flüchtlingen, die auf dem Land
bleiben, eine Perspektive bieten – eine ideale Gelegen-
heit, die Strukturförderung im ländlichen Raum voran-
zutreiben.

Die heutige Debatte hat zweierlei klargemacht: Ers-
tens, in der Baupolitik ist Fingerspitzengefühl gefragt.
Zweitens, die deutsche Wohnungswirtschaft ist vielfäl-
tig. Das sollten wir beibehalten und mit Augenmaß wei-
ter fördern. Wahlfreiheit statt Bevormundung – das ist
und bleibt unsere Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1816406000

Der Kollege Detlev Pilger spricht jetzt für die SPD.


(Beifall bei der SPD)



Detlev Pilger (SPD):
Rede ID: ID1816406100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu-

nächst möchte ich feststellen, dass die Kolleginnen und
Kollegen der Linken den Finger in eine bestehende Wun-
de legen: Es fehlt an bezahlbarem Wohnraum. Nur: Ob
die Instrumente, die sie benutzen wollen, passen, darüber
müssen wir uns unterhalten.


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Sehr gern!)


In der Tat besteht eine zugespitzte Wohnungsnot, vor
allen Dingen in Großstädten und Ballungsräumen. Man

Christian Haase






(A) (C)



(B) (D)


kann nahezu von einem Teufelskreis sprechen: Der vor-
handene Wohnraum wird immer begehrter und damit in
den Ballungszentren immer teurer. Das ist so. Das ist
sehr bedauerlich; denn solides Wohnen ist kein Luxus,
sondern ein elementares Gut, auf das jeder ein Recht ha-
ben sollte.


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Eigentlich!)


Bundesweit gibt es gegenwärtig – es wurde betont –
circa 1,5 Millionen Sozialwohnungen. Das reicht aber
bei weitem nicht aus. Experten schätzen den tatsächli-
chen Bedarf auf circa 4 Millionen Sozialwohnungen.
Aufgrund des hohen Bedarfs stellt sich die Frage: Wer
sind denn die Menschen, die diese Wohnungen so drin-
gend brauchen?

Zunächst einmal gibt es die Gruppe der Armen. In un-
serem reichen Land sind 15 bis 20 Prozent der Menschen
arm oder von Armut bedroht. Sie finden auf keinem an-
deren Wohnungsmarkt als auf dem sozialen Wohnungs-
markt eine Wohnung. Aber – Staatssekretär Pronold hat
es betont – mittlerweile sind auch ganze Berufsgruppen
betroffen, normale Berufsgruppen wie Polizeibeamte,
Krankenschwestern und Krankenpfleger.

Sprechen Sie doch einmal mit den Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeitern des Fahrdienstes, die uns so nett
chauffieren. Fragen Sie die einmal, wo sie wohnen. Sie
wohnen nicht mehr im Zentrum von Berlin, sondern weit
außerhalb. Damit sind höhere Anfahrtskosten verbunden.
Das geht effektiv zulasten der Lebensqualität, weil für
die Anfahrt Zeit verloren geht, die für anderes genutzt
werden könnte. Wir müssen in Bezug auf die Stadtzen-
tren also dringend umdenken.

Wir dürfen auch die Menschen nicht vergessen, die
überhaupt keine Chance auf dem Wohnungsmarkt ha-
ben – wir sprechen hier immer über Resozialisierung –,
nämlich die Obdachlosen. Versuchen Sie einmal, für ei-
nen Obdachlosen eine Wohnung zu finden. Das geht mit
Beziehungen kaum und ohne Beziehungen gar nicht.

Ich hatte einen jungen Mann als Schüler, der in die
Abwärtsspirale geraten ist. Das geht sehr viel schneller –
wir alle kennen entsprechende Beispiele –, als wir uns
das vorstellen. Er hatte seine Haftstrafe verbüßt, er hatte
ein Suchtprogramm absolviert, und er wollte wieder in
die Gesellschaft integriert werden. Er kam zu mir und
bat mich händeringend: Besorg mir eine Wohnung! Ich
habe das mit allen Mitteln versucht, auch mithilfe der
Behörden. Die haben mir gesagt: Herr Pilger, man kann
nichts anderes tun, als in der Zeitung, in dem Fall in der
Rhein-Zeitung, Inserate herauszusuchen. Man kann sich
vorstellen, welche Chancen der junge Mann auf dem
Wohnungsmarkt hatte, nämlich keine. Am Rande darf er-
wähnt werden, dass die Zahl der Wohnungslosen in den
letzten zwei Jahren auf 350 000 Menschen angestiegen
ist. Das entspricht einer Erhöhung um 20 Prozent.

Ich sage noch einmal: Sie beschreiben die Situation
richtig. Die Situation ist dramatisch. Aber wir müssen
uns überlegen: Was ist der richtige Weg? Die Länder
sind für den Wohnungsmarkt zuständig, das ist so. Mit
vielem, was im Zuge der Föderalismusreform vereinbart
wurde, bin ich nicht einverstanden, insbesondere was das

Bildungswesen betrifft. Aber es ist nun einmal so: Wir
sind zunächst nicht zuständig. Man hat das auch nicht
unbedarft geregelt, sondern man war der Meinung: Die
Länder wissen über die Bedarfe am besten Bescheid, und
darum sollen die Länder die zugewiesenen Mittel ent-
sprechend verwenden. Über diese Regelung kann man
durchaus noch einmal nachdenken.

Wir haben 1,3 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt.
Das sollte die Opposition, insbesondere die Grünen,
anerkennen. Ich weiß, das fällt immer schwer. Aber es
muss betont werden: Das ist eine enorme Leistung. Es
ist nicht so einfach, die Mittel zur Verfügung zu stellen.
Bitte honorieren Sie das Bemühen insbesondere unserer
Umwelt- und damit Bauministerin.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. MarieLuise Dött [CDU/CSU])


In den vergangenen Jahren wurden 250 000 Wohnun-
gen fertiggestellt. Das sind immerhin zwei Drittel mehr
als im Jahr 2010. Aber wir sind uns sicherlich einig: Die-
se Zahl muss noch deutlich erhöht werden.

Herr Staatssekretär Pronold hat gesagt, das EU-Bei-
hilferecht wäre kein Problem. Liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Linken, aber trotzdem muss überprüft
werden, ob eine Bezuschussung, ob die Unterstützung
einer Unternehmensgruppe mit dem EU-Beihilferecht
kompatibel ist.


(Heidrun Bluhm [DIE LINKE]: Haben wir schon!)


Sie sehen, es gibt einiges zu tun und einiges, worüber
nachgedacht werden kann und muss. Die Koalition tut
das, und wir, die Sozialdemokraten, die älteste Partei
in diesem Hause, haben uns schon immer um die Woh-
nungsnot der Menschen gesorgt. Es ist ein ureigenes
Ziel, das die Sozialdemokratie hat, Menschen mit bezahl-
barem und gutem Wohnraum zu versorgen.


(Beifall bei der SPD)


Ich komme zum Schluss: Wir haben mit den Woh-
nungsbaugenossenschaften und den kommunalen Wohn-
bauanbietern eine gute Struktur. Diese muss ausgebaut
und gestärkt werden. Ich bin selbst seit 20 Jahren Mit-
glied einer großen Wohnungsbaugenossenschaft, davon
war ich 15 Jahre lang Aufsichtsratsvorsitzender. Ich
weiß, welche soziale Leistung die kommunalen Anbieter
und die Genossenschaften erbringen. Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ein herzlicher Appell an die Opposition:
Lassen Sie uns die vorhandenen Strukturen stärken.
Dann werden wir sehen, dass wir den Wohnungsmarkt
weiter beleben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1816406200

Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der

Kollege Michael Groß für die SPD.


(Beifall bei der SPD)


Detlev Pilger






(A) (C)



(B) (D)



Michael Groß (SPD):
Rede ID: ID1816406300

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist sozusagen
ein Spannungsbogen entstanden. Frau Bluhm, Sie haben
mich zu Beginn angesprochen und gesagt, Herr Ullrich
von der CSU – ich glaube, er ist heute nicht da – und ich
hätten in der letzten Rede zum Thema Wohnungsmangel
in Deutschland – ich meine, das war zum Thema Ob-
dachlosigkeit – gesagt: Lassen Sie uns das mit der Ge-
meinnützigkeit machen. Ich hoffe, Sie haben an der Rede
des Staatssekretärs, die ich in Gänze unterstützen kann,
erkannt, dass wir Parlamentarier von der SPD gearbeitet
haben und gemeinsam mit dem BMUB deutlich machen,
dass wir einen Prüfauftrag sehen, um alle Instrumente in
Deutschland zu nutzen, um das bezahlbare Wohnen und
Mieten in Deutschland zu ermöglichen.


(Beifall bei der SPD)


Ich möchte Herrn Pronold noch einmal dafür danken,
dass er in dieser Art und Weise darauf eingegangen ist.
Die Kollegin Haßelmann – sie musste leider weg; das
ist aber keine Kritik – hat zu Beginn eine sehr gute Rede
gehalten. Sie hat nämlich gesagt: Wir müssen gemeinsam
darum ringen, dass die Menschen im Bereich des Woh-
nens und des Wohnumfelds eine Daseinsvorsorge erle-
ben, die ein gutes und ein selbstständiges Leben ermög-
licht. Das ist eine Aufgabe, der wir uns in den nächsten
Wochen stellen müssen.

Es sind große Spannungsbögen und Unterschiede
deutlich geworden. Die einen werfen den anderen vor,
es solle zurück zu einer Planwirtschaft oder zu einer so-
zialistischen Wohnungsbaupolitik gehen. Die anderen ar-
gumentieren, wir hätten jahrelang nichts getan. Ich glau-
be, beide Seiten liegen in ihrer Beschreibung insgesamt
falsch.

Wir haben in der Koalition 2013 wohlweislich zum
Beispiel die Mietpreisbremse beschlossen. Unser da-
maliger Kanzlerkandidat Peer Steinbrück hat im Wahl-
kampf gesagt, dies sei ein Riesenthema für die Menschen
in Deutschland. Wir haben dies gemeinsam beschlossen,
und wir haben jetzt ein zweites Mietrechtspaket vor uns.
Die Mietpreisbremse und die Begrenzung der Moderni-
sierungsumlage bedeuten auch, dass die Renditen und
die Gewinne derjenigen, die spekulativ unterwegs sind,
gebremst werden sollen. Das ist ein wichtiger Schritt.
Deswegen unterstütze ich Heiko Maas im zweiten Re-
formpaket zur Mietrechtsreform. Er schlägt nämlich vor:
Eine 8-prozentige Modernisierungsumlage soll die Gren-
ze sein, damit wir niemanden aus seiner Wohnung ver-
treiben, der eine Modernisierung erleben muss.


(Beifall bei der SPD)


Es wurde heute schon mehrfach angesprochen: Die
soziale Wohnraumförderung ist verdoppelt worden. Es
sollen noch einmal 500 Millionen Euro bereitgestellt
werden, um soziale Brennpunkte wie auch immer zu ent-
wickeln und um Wohnungen zu bauen. Ich glaube, das
ist ein Erfolgsmodell, obwohl ständig kritisiert wird, dass
die Länder diese Mittel in der Vergangenheit nicht da-
für eingesetzt haben, sozialen Wohnraum zu schaffen. In
NRW gibt es zum Beispiel eine Wohnungsbauoffensive,

durch die im letzten Jahr die Anzahl der Wohnungen in
der sozialen Wohnraumförderung um 37 Prozent zuge-
nommen hat. Im Bereich des studentischen Wohnens,
im Heimbereich, ist eine Zunahme der abgerufenen För-
dermittel von über 300 Prozent feststellbar. Ich glaube
also, es ist unbedingt notwendig, dass der Bund weiterhin
diese Mittel zur Verfügung stellt, auch um Planungssi-
cherheit für die Länder, für die Akteure und Wohnungs-
unternehmen und letztendlich auch für die Menschen
sicherzustellen.

In den letzten Monaten haben wir in vielen Bereichen,
die nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Gemeinnüt-
zigkeit eine wichtige Rolle spielen, viel getan, um das
Thema „bezahlbares Wohnen“ auf einen guten Weg zu
bringen. Es ist aber immer noch nicht genug geschehen.
Der Kollege Pilger – ich unterstütze deine Analyse völ-
lig – hat beschrieben, wo wir noch Lücken haben, was
wir noch tun müssen. Ich glaube, dass vieles schon getan
worden ist. Das ist ein bunter Strauß an Maßnahmen, die
in der Summe letztlich eine Antwort auf das Problem sein
können. Ich glaube aber auch, dass wir die Maßnahmen
mit Blick auf die Gemeinnützigkeit noch einmal überprü-
fen müssen, dass wir Prüfaufträge vergeben müssen und
dass wir dafür sorgen müssen, dass der Bund gemeinsam
mit den Ländern Verantwortung übernimmt. Letztendlich
brauchen wir eine Gemeinschaftsaufgabe des Bundes,
der Länder und der Kommunen. Für uns Sozialdemokra-
ten ist klar: Der Mensch steht im Mittelpunkt. – Jetzt ist
meine Zeit abgelaufen.

Glück auf! Danke schön.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1816406400

Herr Kollege Groß, nicht Ihre Zeit ist abgelaufen, al-

lenfalls die Redezeit.


(Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])


Damit schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/7415 und 18/8081 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –
Ich sehe hier nur Einverständnis.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Unverständnis!)


Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung
der beruflichen Weiterbildung und des Versiche-
rungsschutzes in der Arbeitslosenversicherung

(Arbeitslosenversicherungsschutzund Weiterbildungsstärkungsgesetz – AWStG)


Drucksache 18/8042
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz






(A) (C)



(B) (D)


Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Widerspruch
dagegen erhebt sich keiner. Dann ist das so beschlossen.

Deshalb eröffne ich die Aussprache und erteile zu Be-
ginn dieser Debatte das Wort für die Bundesregierung der
Parlamentarischen Staatssekretärin Anette Kramme.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


A
Anette Kramme (SPD):
Rede ID: ID1816406500


Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Jemand Kluges hat einmal gesagt: Lernen ist
wie das Rudern gegen den Strom. Sobald man aufhört,
treibt man zurück. – Dieser Satz, der natürlich immer
schon richtig war, hat durch die rasante technologische
Entwicklung, die wir aktuell erleben, eine neue Rele-
vanz erfahren. Tatsächlich ist die Digitalisierung – um
im Bild des Ruderers zu bleiben – ein gewaltiger Strom.
Wir brauchen eine hohe Schlagzahl, um mit den schnel-
len Veränderungen in der Arbeits- und Lebenswelt mit-
zuhalten; denn nicht nur unsere Art des Einkaufens und
unseres Kommunizierens ändert sich, sondern auch, wie
wir arbeiten.

Weiterbildung und Qualifizierung werden deshalb für
jede und für jeden von uns immer wichtiger. Weiterbil-
dung und Qualifizierung sind dabei logischerweise die
beste Versicherung gegen Arbeitslosigkeit. Das ist der
Grundgedanke, der Kern unseres Gesetzentwurfs. Dabei
haben wir insbesondere zwei Gruppen im Blick: gering-
qualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und
Menschen, die schon lange vergeblich Arbeit suchen.
Für sie verbessern und erweitern wir die Fördermög-
lichkeiten. Sie bekommen eine bessere Chance auf einen
Berufsabschluss und damit auf eine gute und dauerhafte
Beschäftigung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Qualifizierung lohnt sich aber nicht nur für den Ein-
zelnen. Qualifizierung ist auch eine Zukunftsinvestition
für das Land. Unsere Wirtschaft wird mehr Fachkräfte
brauchen, als künftig zur Verfügung stehen, und die Wirt-
schaft braucht Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die
mit ihrer Qualifizierung auf der Höhe der Zeit sind. Da-
bei können wir auf niemanden verzichten.

Was machen wir nunmehr mit diesem Gesetzentwurf?
Das Gesetz, dessen Entwurf wir heute beraten, wird die
Weichen so stellen, dass Lernen und Qualifizierung ganz
selbstverständlich etwas Lebenslanges sind. Das gilt für
die Menschen, die hier leben, das gilt aber genauso für
die, die bei uns Schutz suchen und einen Neustart in
Deutschland wagen wollen. Auch Flüchtlingen soll die
Tür offen stehen, sich zu qualifizieren und damit auf dem
deutschen Arbeitsmarkt langfristig Fuß zu fassen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Was schlagen wir in diesem Entwurf konkret vor?

Erstens. Wir sagen denen, die Schwierigkeiten bei
Grundkompetenzen wie Lesen, Schreiben, Mathematik
oder IT haben, dass das kein Hindernis mehr sein soll.
Bei Bedarf können sie das vor oder begleitend zu einer
Weiterbildung nachholen.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Endlich!)


Deutschland hat hier auch international Aufholungsbe-
darf.

Zweitens. Wir wollen Bildungserfolge belohnen. Mit
Erfolgsprämien wollen wir Anreize setzen, eine mehrjäh-
rige Weiterqualifizierung auch bis zum Berufsabschluss
durchzuhalten und abzuschließen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU])


Heute bricht nahezu jeder Vierte vorzeitig seine berufs-
abschlussbezogene Weiterbildung ab. Das führt nicht nur
zu Frustrationen bei den Leuten selbst, sondern es kostet
natürlich auch eine Menge Geld. Darum bin ich mir si-
cher: Erfolgsprämien lohnen sich für alle.


(Beifall bei der SPD)


Drittens. Wir wollen Weiterbildung gerade in kleinen
und mittleren Unternehmen erleichtern. Deshalb sollen
in Betrieben mit weniger als 250 Beschäftigten auch
Weiterbildungen gefördert werden, die außerhalb der
Arbeitszeit liegen. Das ist ein echtes Anliegen des Mit-
telstands.

Viertens. Für Menschen, die nur sehr schwer in Ar-
beit zu vermitteln sind, verlängern wir die Möglichkeit,
sich im Arbeitsalltag im Betrieb zu erproben. Konkret
geht es hier um Maßnahmen zur Aktivierung und be-
ruflichen Eingliederung, die bei oder von einem Arbeit-
geber durchgeführt werden. Ihre Dauer soll in Zukunft
zwölf statt bislang sechs Wochen betragen können. Das
ist besonders für langzeitarbeitslose Menschen eine gute
Chance, um in die berufliche Praxis wieder reinzukom-
men. Aber es ist zugleich auch eine gute Möglichkeit für
Flüchtlinge, in unsere Arbeitswelt hineinzufinden. Damit
verbindet sich nicht zuletzt die Chance, schneller und
besser Deutsch zu lernen und sich zu integrieren. Als
Kollegin oder Kollege gehört man schließlich zum Team.

Fünftens. Wir verbessern den Schutz für berufliche
Auszeiten bei Weiterbildung oder Kindererziehung nach
dem dritten Lebensjahr. Wir schaffen die Möglichkeit zur
freiwilligen Weiterversicherung, um Lücken im Versi-
cherungsschutz zu vermeiden. Damit tragen wir auch der
Entwicklung Rechnung, dass die Lebensläufe schlicht-
weg vielfältiger werden.

Wir wollen Weiterbildung möglichst attraktiv gestal-
ten – für Arbeitgeber und für Beschäftigte. Denn wir sit-
zen im gleichen Boot. Wenn sich alle gemeinsam in die
Riemen legen, kommen wir insgesamt schneller voran.
Das wollen wir mit diesem Gesetzesentwurf erreichen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Vizepräsident Johannes Singhammer






(A) (C)



(B) (D)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1816406600

Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt die Kollegin

Sabine Zimmermann.


(Beifall bei der LINKEN)



Sabine Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1816406700

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Nichts schützt so sehr vor Erwerbslosigkeit
wie eine gute, solide Ausbildung. Zu diesem Ergebnis
kommen viele Studien. Heute werden es viele von Ih-
nen sagen. Ich glaube, jeder hier in diesem Hause weiß
das. Über diese Einsicht sollte es auch hier in diesem
Hause keine Meinungsunterschiede geben. Das Risiko,
erwerbslos zu sein, hängt also eng mit der Qualifikation
zusammen. Je niedriger sie ist, desto schlechter sind die
Chancen auf dem Arbeitsmarkt.

Nun dürfen wir verblüfft feststellen, dass dies auch
in der Begründung des vorliegenden Gesetzesentwurfes
ausgeführt wird: Qualifikation sei der beste Schutz vor
Erwerbslosigkeit, und dies unterstreiche den Stellenwert
von Aus- und Weiterbildung.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Stofffestigung durch Wiederholung!)


– Ja, Kollege Zimmer. – Das ist sehr, sehr schön, und
das würden wir Linke auch sofort unterschreiben. Aber
bei Ihnen – das muss ich Ihnen sagen – ist es einfach nur
leeres Geschwätz.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Das kennen wir von Ihnen ja auch!)


Weder in Ihrer bisherigen Arbeitsmarktpolitik hat sich
diese Erkenntnis wiedergefunden noch prägt sie dieses
Gesetz. Da können Sie sich empören, wie Sie möchten.
Das ist alles überflüssig; denn das Einzige, was Sie mit
diesem Gesetz tun, ist, Aktivitäten vorzutäuschen.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Aber das Vortäuschen ist doch auch eine Aktivität!)


Ich sage Ihnen auch, warum. Das ist ein weiteres Mal
eine reine Ankündigungspolitik ohne jede Substanz, ei-
gentlich so, wie wir es schon immer von dieser Bundes-
regierung zum Thema Arbeitsmarktpolitik gewohnt sind.


(Zuruf von der SPD: Also wirklich!)


Aktuell verfügen 46 Prozent aller Erwerbslosen über
keine abgeschlossene Berufsausbildung. Im Bereich des
SGB II sind es sogar 57 Prozent. Allein im SGB II hatten
wir im Jahr 2015 1,1 Millionen erwerbslose Menschen
ohne Berufsausbildung. Dem stehen nach den aktuellsten
Zahlen im Hartz-IV-Bereich 27 835 geförderte Teilneh-
merinnen und Teilnehmer an Maßnahmen zur Erlangung
eines Berufsabschlusses gegenüber. So unterstreicht die
Bundesregierung den Stellenwert von Aus- und Weiter-
bildung in der Arbeitsmarktpolitik. Die Linke sagt: Sie
täuschen die Bürgerinnen und Bürger mit schönen Wor-
ten, und es folgen keine Taten.


(Beifall bei der LINKEN)


Warum machen Sie den Menschen, den über 1 Million
Menschen, kein Angebot, Herr Zimmer?


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Ich kann das doch gar nicht!)


Ich sage es Ihnen. Sie haben die Erwerbslosen aufs Ab-
stellgleis geschoben. Das ist Ihre Arbeitsmarktpolitik
der letzten Jahre. Da wird die Linke nie mitmachen. Das
muss an dieser Stelle gesagt werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Und nicht nur das. Sie verweigern auch eine effekti-
ve Unterstützung. Ihre Alternative – die nenne ich Ihnen
jetzt auch – ist, die Menschen zu drangsalieren,


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Wie bitte?)


zu sanktionieren und ihnen in vielen Fällen sogar das
Existenzminimum zu verweigern. Das ist unmenschlich,
und das muss hier deutlich gesagt werden, meine Damen
und Herren.


(Beifall bei der LINKEN – Katja Mast [SPD]: Das ist alles widerlegt!)


Dass Sie sich auch noch trauen, hier von einer Ver-
besserung des Schutzes in der Arbeitslosenversicherung
zu schwafeln, grenzt schon etwas an Volksverdummung.
Von den Punkten, die Sie, Frau Kramme, genannt haben,
sind viele freiwillig. Das, was sich jemand im Niedrig-
lohnbereich freiwillig leisten kann, darf er dann noch von
seinem Lohn bezahlen. Das ist für mich keine wirkliche
Verbesserung der Arbeitslosenversicherung.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Was wollen Sie denn, Frau Kollegin?)


Weil Sie anscheinend auch jeden Bezug zur Lebens-
realität vieler Erwerbsloser verloren haben, schildere ich
Ihnen einmal die Situation dieser Menschen. Sie berich-
ten mir nämlich oft von ihren frustrierenden Erfahrun-
gen. Viele möchten sich weiterbilden und qualifizieren.
Sie haben sich genaue Gedanken darüber gemacht, was
für einen neuen Job sie suchen und was dabei helfen
könnte. Aber es kommt die Ernüchterung, wenn sie zum
Amt kommen, zum Jobcenter oder zum Arbeitsamt, wo
man ihnen dann sagt: Weiterbildung? Für Sie nicht.

Ursache ist die extreme Unterfinanzierung der Ar-
beitsmarktpolitik, der Kahlschlag, der im Jahre 2010 von
Ihnen so richtig eingeleitet wurde. Wenn Arbeitsmarkt-
politik keine Chancenverhinderungspolitik sein soll, wie
es momentan aufgrund Ihrer Politik der Fall ist, muss sie
ausfinanziert sein. Nehmen Sie endlich Geld in die Hand,
um Weiterbildung zu finanzieren, statt einfach nur he-
rumzuschwafeln!


(Beifall bei der LINKEN)


Investieren Sie in die Menschen, anstatt sie zu demora-
lisieren! Unterstützen Sie die Stärken und die vorhande-
nen Potenziale, statt sie den Erwerbslosen abzusprechen!
Unterstützen Sie die gute Beschäftigung! Stoppen Sie
endlich die verdeckte Förderung der Wirtschaft im Zu-






(A) (C)



(B) (D)


sammenhang mit Dumpinglöhnen und der Aufstockung
durch Hartz IV! Das darf es nicht mehr geben.


(Beifall bei der LINKEN)


Für die Förderung muss deutlich mehr Geld zur Verfü-
gung gestellt werden; aber das muss man natürlich auch
wollen. Die Linke fordert dies seit vielen Jahren. Wenn
Sie nicht bereit sind, für eine ordentliche Finanzierung
in der Weiterbildung zu sorgen, dann wird sich hier auch
nichts ändern. Notwendig ist ein Rechtsanspruch auf be-
rufliche Weiterbildung. Sie würden staunen, wie viele Er-
werbslose davon Gebrauch machen würden. Die Linke
sagt deutlich: Es geht nicht nur um Weiterbildungsange-
bote, sondern hier muss auch an anderen Stellschrauben
gedreht werden. Zum Beispiel muss dafür gesorgt wer-
den, dass Alleinerziehende, die eine Weiterbildung ma-
chen wollen, mit einem Kitaplatz versorgt sind. Das ist
auch sehr wichtig.

Jetzt wollen Sie eine Weiterbildungsprämie für das
Bestehen der Zwischenprüfung und der Abschlussprü-
fung einführen.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Ist das eine Verschlechterung oder eine Verbesserung?)


Das ist ein richtiger Schritt; das spreche ich Ihnen auch
gar nicht ab.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Na endlich! – Weitere Zurufe von der SPD: Oh!)


Aber das Entscheidende ist doch – da müssen Sie mir
auch zuhören –, dass die Berufsqualifizierung durch ei-
nen Bildungszuschuss begleitet wird, wodurch geringere
Einkommen gerade während dieser Zeit ausgeglichen
werden. Und da geht es nicht um große Beträge. Für vie-
le Menschen entscheidet sich das an wenigen Euro, ob
genug Geld vorhanden ist, um den Alltag bewältigen zu
können, wenn sie eine Weiterbildung machen.

Es gibt auch noch andere Faktoren, die hier wichtig
sind. In Ihrem Gesetzentwurf findet sich dazu aber lei-
der nichts. Fehlanzeige! Der Handlungsbedarf ist riesig,
doch die Bundesregierung bewegt sich hier bestenfalls
um einige Millimeter. Dazu gehört auch, dass Sie in Ihre
Überlegungen zum Beispiel überhaupt nicht mit einbe-
ziehen, dass Weiterbildungsinitiativen mit einem öffent-
lich geförderten Beschäftigungssektor flankiert werden
müssen; denn nach wie vor gibt es doch bei uns Regio-
nen, in denen es zu wenige Arbeitsplätze gibt, aber wich-
tige gesellschaftliche Aufgaben vorhanden sind.

Meine Damen und Herren, mittlerweile werden über
zwei Drittel der Erwerbslosen nicht mehr durch die
Erwerbslosenversicherung betreut, sondern im Hartz-
IV-System. Fast ein Viertel der Beschäftigten, die er-
werbslos werden, fallen direkt in Hartz IV. Diese Zahlen
machen doch ganz deutlich, dass die Arbeitslosenversi-
cherung in dieser Form zum Auslaufmodell geworden
ist. Nun aufgrund von minimalen Detailregelungen von
einer Stärkung durch den vorliegenden Gesetzentwurf zu
sprechen, ist aus unserer Sicht wirklich eine Frechheit.

Soll die Arbeitslosenversicherung wieder vom Son-
derfall zum Regelfall werden, muss unter anderem die

Rahmenfrist wieder von zwei auf drei Jahre erweitert
werden


(Beifall bei der LINKEN)


und der Anspruch auf Arbeitslosengeld bereits nach vier
Monaten Beitragszeit entstehen. Außerdem müssten äl-
tere Erwerbslose einen Anspruch darauf haben, länger
Arbeitslosengeld zu erhalten.

Ich komme zum Schluss: Nichts von alledem findet
sich in Ihrem Gesetzentwurf. Aber das sind eigentlich
elementare Punkte sozialer Gerechtigkeit und des sozia-
len Friedens. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Das sind, wie
ich glaube, Worte, die Sie hier in diesem Hause schon
lange vergessen haben.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1816406800

Der Kollege Karl Schiewerling spricht jetzt für die

CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Karl Schiewerling (CDU):
Rede ID: ID1816406900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol-

leginnen und Kollegen! Wir beraten den vorliegenden
Gesetzentwurf in der ersten Lesung auf dem Hintergrund
einer sich in Deutschland verändernden Arbeitswelt.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vor dem Hintergrund!)


Dadurch müssen wir eine höhere Flexibilität an den Tag
legen und uns stärker auch auf die Bereiche der beruf-
lichen Bildung und der beruflichen Integration konzen-
trieren.

Es ist mein Schicksal, dass ich immer nach den Lin-
ken reden darf


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist wirklich ein Drama!)


und jedes Mal das große Glück habe, ihnen sagen zu
müssen und zu dürfen – lassen Sie mich das, Frau Kol-
legin Zimmermann, auch jetzt zunächst am Anfang sa-
gen –, dass ihre Realitäten mit unseren Realitäten nicht
übereinstimmen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das glauben wir!)


Unsere Realität lautet: Wir haben eine hohe Beschäfti-
gung, wir haben eine niedrige Arbeitslosigkeit.


(Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Viel zu viele in Langzeitarbeitslosigkeit!)


Ich darf Sie darauf hinweisen, dass über 1 Million Men-
schen in den letzten Jahren zusätzlich in eine sozialversi-
cherungspflichtige Beschäftigung gekommen sind


(Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Manche haben drei Jobs!)


Sabine Zimmermann (Zwickau)







(A) (C)



(B) (D)


und dass wir diesen Schritt gegangen sind, ohne dass es
nötig war, dass die Bundesagentur für Arbeit oder wer
auch immer Geld in die Hand nehmen musste, weil sie
ganz einfach alleine ihren Weg in den Arbeitsmarkt ge-
funden haben. Die Gleichung „Weniger Mittel gleich
weniger Beschäftigung“ ist falsch; das ist eine linke Ar-
gumentation. Mit der Realität hat sie allerdings nichts zu
tun.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich will Sie auf einen zweiten Punkt hinweisen: Na-
türlich haben wir die Mittel im Bereich der Arbeitsmarkt-
politik,


(Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Für Weiterbildung!)


die wir aufgrund der Finanzkrise und der gestiegenen Ar-
beitslosigkeit nach dem Crash im Jahr 2007 erhöht hat-
ten, seit 2010 wieder reduziert. Dies war möglich, weil
wir einen Aufwuchs an Beschäftigung hatten und Men-
schen wieder in Arbeit gekommen sind.

Mit dem Gesetzentwurf, den wir jetzt vorlegen, wol-
len wir gezielt dafür sorgen, dass das, was uns die Ber-
telsmann-Stiftung heute in einer Stellungnahme bestätigt
hat, nämlich dass Deutschland im internationalen Ver-
gleich hinsichtlich Aufstiegsmobilität recht gut dasteht,


(Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Auch bei der Armut und bei niedrigen Löhnen!)


dass Menschen, die zunächst eine befristete Beschäfti-
gung haben, in Deutschland eine gute Perspektive haben,
in ein unbefristetes Beschäftigungsverhältnis zu kommen,
und dass das, was wir an Flexibilität am Arbeitsmarkt
haben, jetzt durch entsprechende Hilfen im Bereich der
beruflichen Qualifizierung unterlegt werden muss. Des-
wegen, meine Damen und Herren, müssen wir uns den
neuen Anforderungen des Arbeitsmarktes stellen. Hier
geht es nicht um Überlegungen aus der Steinzeit. Hier
geht es darum, dass die neuen Entwicklungen – Stich-
worte sind hier etwa Digitalisierung, Flexibilisierung,
Arbeit 4.0 – bei den Beschäftigten und bei den Betrieben
neue Arbeitssituationen erfordern. Diesen Herausforde-
rungen stellt sich der vorliegende Gesetzentwurf.

Ich halte es für einen guten und für einen wichtigen
Schritt, wenn wir zum Beispiel kleinen und mittleren Be-
trieben einen Weg eröffnen, dass sie dann, wenn sie ihr
Personal außerhalb der Beschäftigungszeit qualifizieren
und schulen, dafür auch Unterstützung durch die Agentur
für Arbeit bekommen können. Das ist ein wichtiger Hin-
weis. Wir helfen auch kleinen und mittleren Betrieben im
Bereich der beruflichen Qualifizierung. Das ist wichtig
für den Schutz und zum Erhalt von Arbeitsplätzen, ein
nicht zu unterschätzender Aspekt vor dem Hintergrund
der internationalen Entwicklung, die wir im Augenblick
erleben.

Meine Damen und Herren, wir wollen mit diesem
Gesetzentwurf natürlich auch etwas für Menschen ohne
Berufsabschluss tun. Frau Kollegin Zimmermann hat da-

rauf hingewiesen, wie viele Menschen das sind. Darauf
reagieren wir im Augenblick,


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


indem wir dabei helfen, dass auch Kulturtechniken wie
Rechnen, Schreiben und Lesen vermittelt werden. Wir
wollen genau in diesem Bereich einen Ansatz finden. Ich
kann beim besten Willen – so viel dazu zu sagen, sei mir
gestattet – nicht erkennen, was daran ernsthaft zu kriti-
sieren ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ein weiterer Punkt, den wir mit dem Gesetz umset-
zen, ist die Weiterbildungsprämie für Menschen, die sich
schwertun, sich zu motivieren, die Ausbildung, die sie
begonnen haben, tatsächlich zu beenden. Auch das ist ein
Teil der Wahrheit. Nicht alle, die jetzt langzeitarbeitslos
sind und ein Angebot der Agentur für Arbeit oder des
Jobcenters erhalten, nehmen dies, aus welchen Gründen
auch immer, an. Wir haben hier unterschiedliche Lebens-
wirklichkeiten und Lebensrealitäten. Wir machen keine
Gleichmarschpolitik, sondern wir müssen sehen, wie wir
den jeweiligen Bedarfslagen der Menschen entgegen-
kommen können.

Einen Punkt, der ebenfalls im Gesetzentwurf steht,
halte ich dabei auch für wichtig: Wir haben den Blick
auch auf diejenigen gerichtet, die kurzfristig beschäf-
tigt sind, weil ihre berufliche Tätigkeit eine kurzfristige
Beschäftigung impliziert. In der Situation befinden sich
zum Beispiel die Künstlerinnen und Künstler. Wir alle
schauen abends gespannt auf den jeweiligen Kommissar
des Tatorts oder auf einen anderen Star, der gerade die
Täter ermittelt. Aber all diejenigen, die im Hintergrund
im künstlerischen Bereich tätig sind und nur ein kurzfris-
tiges Arrangement haben, sehen wir nicht. Diese zahlen
zwar für die sechs Wochen, die sie dort tätig sind, in die
Arbeitslosenversicherung ein, haben aber aufgrund der
Gestaltung kaum eine Möglichkeit, daraus Geld zu be-
kommen, wenn sie tatsächlich einmal kein Arrangement
haben. Hierfür haben wir im Gesetz eine Regelung, die
wir bis Mitte 2018 verlängern werden.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch unwirksam, Karl!)


Unser erklärtes Ziel ist es darüber hinaus, in diesem Be-
reich zu dauerhaften Regelungen zu kommen. Ich per-
sönlich halte das für einen wichtigen Punkt zur Förde-
rung und Unterstützung gerade der Menschen, die im
Kulturbereich tätig sind.

Der heute vorliegende Gesetzentwurf dient dem
Zweck, die berufliche Qualifizierung und Weiterbildung
zu stärken, dient dazu, die Arbeits- und Beschäftigungs-
situation zu verbessern und zu verstetigen, und dient
letztendlich dazu, denjenigen, die der Hilfe dringend be-
dürfen, die entsprechende Unterstützung zu geben. Inso-
fern ist das eine gute Entwicklung, die wir hier für die
Menschen einleiten.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Karl Schiewerling






(A) (C)



(B) (D)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1816407000

Nächste Rednerin ist die Kollegin Brigitte Pothmer,

Bündnis 90/Die Grünen.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816407100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol-

leginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen!
Liebe Bundesregierung! Sie haben recht


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Bis jetzt war es richtig!)


– mehr Beifall! –: Der deutsche Arbeitsmarkt ist ein
Fachkräftemarkt. Das ist auch der Grund, warum, Herr
Schiewerling, die Geringqualifizierten und die Langzeit-
arbeitslosen nicht von der guten Arbeitsmarktsituation
profitieren.

Sie haben recht, wenn Sie sagen – das beschreiben
Sie selbst –, dass besonders diejenigen, die eine Weiter-
bildung nötig hätten, in den entsprechenden Angeboten
nicht zu finden sind bzw. vollkommen unterrepräsentiert
sind. Das muss sich ändern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Richtig ist auch, dass die Arbeitslosenversicherung
den immer bunter werdenden Erwerbsverläufen Rech-
nung tragen muss. Flexibel arbeitende Menschen brau-
chen nicht weniger, sondern mehr Schutz.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Mit dieser Erkenntnis laufen Sie bei uns und insbeson-
dere bei mir wirklich offene Türen ein. Sie sehen also, in
Bezug auf die Problembeschreibung passt kein Blatt Pa-
pier zwischen uns. Was die Lösungsansätze angeht, steht
allerdings ein ganzer Bücherschrank zwischen uns.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Große Worte, Frau Pothmer! – Weitere Zurufe von der CDU/ CSU: Oh!)


Frei nach Erich Kästner: „Wo bleibt denn das Positive,
Frau Pothmer?“, möchte ich zunächst zwei Punkte her-
vorheben, die ich ausdrücklich unterstütze. Dies ist der
Vorrang der Weiterbildung vor Vermittlung,


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


zumindest bei Arbeitslosen ohne eine Berufsausbildung.
Das haben wir immer gefordert. Ich freue mich, dass Sie
sich dieser Forderung inzwischen angeschlossen haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Besser spät als nie!)


Gut finde ich auch – das hat Herr Schiewerling er-
wähnt –, dass es nach dem vorliegenden Gesetzentwurf
die Möglichkeit gibt, auch Grundkompetenzen wie Le-
sen und Schreiben zu unterstützen und zu fördern.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Wenn wir diese Grundkompetenzen nicht fördern, dann
ist alles andere, was dem folgt, natürlich wirkungslos.

Meine Damen und Herren, richtig schlecht finde ich
aber, dass Sie die Weiterbildung jetzt auch für Vergabe-
verfahren öffnen wollen. Das ist nichts anderes als ein
Billigmacher.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das schreiben Sie in Ihrem Gesetzentwurf ja auch, wenn
Sie in diesem Zusammenhang ausdrücklich von deutlich
kostenmindernder Wirkung sprechen. Dieser Billigma-
cher wird uns noch teuer zu stehen kommen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir wissen doch, dass genau solche Ausschreibungen
zu einem Preisdruck führen, der erheblich zulasten der
Qualität geht. Das kennen wir bereits von allen anderen
arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Wir haben das Vergaberecht doch gerade erst reformiert!)


Ich kann nicht verstehen, dass Sie diesen Fehler in die-
sem Rahmen wiederholen wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seit Jahrzehnten!)


Ganz grundsätzlich gibt es in Ihrem Gesetzentwurf ein
riesiges Gap zwischen der Problemlage, die Sie selbst,
wie ich finde, richtig beschreiben und analysieren, und
der Dimension der Lösung, die Sie für diese Probleme
anbieten. Dabei liegen die Fakten auf dem Tisch.

Erstens. Sie sprechen selbst von der Tatsache, dass
die Digitalisierung die Halbwertszeit von Wissen noch
einmal rapide absenken wird. Regelmäßige Weiterbil-
dung und regelmäßige Qualifizierung werden deswegen
in Zukunft genauso wichtig sein wie die Erstausbildung.
Aber dazu bietet Ihr Gesetzentwurf überhaupt gar keine
Antworten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE])


Zweitens. Geringe Qualifikation, prekäre Beschäf-
tigung und Langzeitarbeitslosigkeit gehen bekannter-
maßen Hand in Hand. Trotzdem bleiben gerade bei der
Weiterbildung diejenigen außen vor, die es am nötigsten
hätten. Das betrifft sowohl die Gruppe der Beschäftigten
als auch die Gruppe der Arbeitslosen und insbesondere
die SGB-II-Bezieher. Frau Kramme, dabei geht es auch
nicht einfach nur ums Durchhalten. Das hat nämlich
Gründe, meine Damen und Herren, die die Betroffenen
selbst gar nicht zu verantworten haben.

Fast die Hälfte aller betroffenen Arbeitslosen sagt, sie
könnten sich eine Fortbildung schlicht und ergreifend
nicht leisten, weil sie über einen so langen Zeitraum hin-






(A) (C)



(B) (D)


weg mit ihren Familien nicht vom Arbeitslosengeld oder
von Hartz IV leben können.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alles bekannt!)


Das werden Sie mit Ihrer Weiterbildungsprämie, die zur
Halbzeit der Ausbildung und bei Abschluss bezahlt wird,
auch nicht in den Griff bekommen. Es ist doch eine ab-
surde Situation, dass diejenigen, die einem 1-Euro-Job
nachgehen, monatlich mehr Geld in der Tasche haben als
diejenigen, die sich einer Fort- und Weiterbildung unter-
ziehen, sich also einer anstrengenden Aufgabe widmen.
Ich frage Sie wirklich: Was setzen Sie hier eigentlich für
Anreize?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wenn Sie da weiterkommen wollen, dann brauchen
wir eine monatliche Prämie; denn die Miete ist monatlich
fällig, die Kosten fallen monatlich an. Ich glaube, nur so
können Sie an dieser Stelle weiterkommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Weiterbildung muss sich lohnen, und zwar von Anfang
an. Sie muss so ausgestaltet sein, dass die Teilnehmerin-
nen und Teilnehmer eben nicht gezwungen werden, den
erstbesten Hilfsarbeiterjob anzunehmen. Wir wissen
doch, dass das nicht nachhaltig ist und die Betroffenen
in kürzester Zeit wieder vor der Tür der Jobcenter stehen
werden.

Ein anderes Beispiel, das ich Ihnen nennen möch-
te, betrifft die Frauen. Ein Drittel aller Frauen sagt, sie
könnten wegen der Kinder oder der Pflege von Alten an
keiner Weiterbildung teilnehmen. Ich frage Sie: Womit
wird denn jetzt auf die individuellen Bedürfnisse dieser
Frauen Rücksicht genommen?

Ich prognostiziere Ihnen: Mit diesem Gesetzentwurf
werden Sie eben nicht erreichen, dass diese Kerngruppe,
die wir unterstützen müssen, in die Fort- und Weiterbil-
dung kommt, sondern dieser Personenkreis wird weiter-
hin durchs Raster fallen.

Ein richtiges Armutszeugnis – und das haben Sie auch
noch positiv hervorgehoben, Herr Schiewerling – ist die
weitere Verlängerung der erwiesenermaßen vollkommen
wirkungslosen Sonderregelung für kurzfristig Beschäf-
tigte. 0,7 Prozent der Gruppe derjenigen, die Sie selbst
als betroffen definiert haben, erreichen Sie mit dieser
Maßnahme, und dann heben Sie das auch noch positiv
hervor. Herr Schiewerling, ich kann jetzt nicht schon
wieder mit der lachenden Koralle kommen. Aber drin-
gend notwendig wäre es.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])


Ich finde, es ist ein Grund zum Fremdschämen, lie-
be Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion,
wenn dieses Politikversagen von Herrn Kapschack und
Herrn Blienert in einer Pressemitteilung noch als sozi-
al- und kulturpolitischer Fortschritt gefeiert wird. Herr

Kapschack, das ist kein sozial- und kulturpolitischer
Fortschritt, sondern es ist eine Beerdigung dritter Klasse
Ihrer eigenen Koalitionsvereinbarung.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Diese Regelung ist und bleibt Murks. Das hat Ihnen der
Bundesrat ja auch in Ihrer Stellungnahme noch einmal
attestiert.


(Dr. Martin Rosemann [SPD]: In seiner Stellungnahme!)


Die Arbeitslosenversicherung muss genauso flexibel
sein, wie die Menschen heute längst arbeiten. Sie muss
diejenigen absichern, die abhängig beschäftigt sind, die
selbstständig sind, die unbefristet, auf Zeit, in Projekten
oder auf mehreren Stellen gleichzeitig arbeiten. Das leis-
tet dieser Gesetzentwurf nicht.

Die Arbeitsministerin hat den von ihr entwickelten
Dialogprozess „Arbeiten 4.0“ angeschoben, und sie will
Zukunftsszenarien entwickeln. Meine Damen und Her-
ren, die Zukunft hat längst begonnen. Mit diesem Ge-
setzentwurf werden Sie nicht einmal dem gerecht, was
wir jetzt an Realitäten vorfinden. Zukunftstauglich ist der
jedenfalls nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE])


Meine Damen und Herren, früher hieß es ja immer:
„Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“.
Das ist weder richtig, noch ist es zeitgemäß. Deswegen
sage ich Ihnen: Wir brauchen einen anderen Gesetzent-
wurf. Wir brauchen einen Gesetzentwurf, der die Zu-
kunftsfragen wirklich beantwortet. Ich hoffe, dass wir
da im Beratungsprozess noch ein wenig was verbessern
können. Ich hoffe, da gibt es noch Bewegung.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1816407200

Der Kollege Michael Gerdes spricht als Nächster für

die SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Michael Gerdes (SPD):
Rede ID: ID1816407300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Frau Pothmer, ja, wir haben
Antworten. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung
bringt neuen Schwung in die aktive Arbeitsmarktpolitik:
bestehende Instrumente werden erweitert, gute Ansätze
in der Weiterbildungsförderung werden ausgebaut. Da-
mit reagieren wir auf die Erkenntnis, dass einer durchaus
großen Gruppe von Arbeitnehmern Grundkompetenzen
oder ein Berufsabschluss fehlen. Der Zusammenhang
liegt auf der Hand: Je geringer die Qualifikation, desto
schlechter stehen die Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Es
gilt auch der Umkehrschluss: Wer erwerbstätig ist und
damit regelmäßig gefordert ist, hat durchschnittlich mehr
Kompetenzen als Menschen in Langzeitarbeitslosigkeit.

Brigitte Pothmer






(A) (C)



(B) (D)


Das ist nachvollziehbar. Wissen, das nicht angewendet
wird, verblasst.

Je nach Beruf kann Wissen aber auch schnell veraltet
oder überholt sein. Man denke an technische Berufe, die
dem steten Fortschritt ausgesetzt sind. Die Ausbildung
eines Elektroinstallateurs im Jahre 2000 unterscheidet
sich massiv vom heutigen Berufsalltag. Neue Technolo-
gien bestimmen heute das Tun. Der Laptop ersetzt weit-
gehend den Schraubendreher.

Arbeitsförderung mit Zukunft heißt also für uns: Be-
schäftigungsfähigkeit sichern. Das geht nicht ohne Bil-
dung. Das geht nicht ohne stetige Auffrischung und Er-
weiterung des eigenen Könnens. Die Verantwortung für
berufliche Weiterbildung ruht auf mehreren Schultern.
Staat, Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen ihren Bei-
trag leisten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ja, auch die Arbeitnehmer sind gefordert, eigenverant-
wortlich zu handeln.

Unser Beitrag, also der des Gesetzgebers, besteht da-
rin, den Rahmen der Arbeitsförderung an den Wandel
der Arbeitswelt anzupassen. Die größte Herausforderung
sehe ich in der Passgenauigkeit von Bildungsangeboten.
Weiterbildung muss auf die Bedürfnisse bzw. Kompeten-
zen der Arbeitnehmer zugeschnitten sein. Und Weiter-
bildung muss zu den Anforderungen des Arbeitsmarktes
passen.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Es macht keinen Sinn, Menschen zum Gabelstaplerkurs
zu schicken, wenn diese Qualifikation auf dem Arbeits-
markt aktuell keine Rolle spielt. Es gilt, den Arbeitsmarkt
vorausschauend zu beobachten und dann bedarfsgerecht
zu qualifizieren. Nur so haben die Menschen eine Chan-
ce, in Arbeit zu kommen und in Arbeit zu bleiben.

Der Gesetzentwurf nimmt die Perspektive der Gering-
qualifizierten ein. Das ist genau der richtige Ansatz; denn
genau für diese Personengruppe müssen wir die Chancen
auf dem Arbeitsmarkt verbessern.


(Beifall bei der SPD)


Unsere Botschaft: Wir schreiben niemanden ab, erst recht
nicht dann, wenn es um grundlegendes Handwerkszeug
wie Lesen, Schreiben oder Rechnen geht. Wir unterstüt-
zen aber auch kleine und mittlere Unternehmen, die ih-
ren Mitarbeitern Weiterbildungslehrgänge anbieten. Die
Förderung wird ausgeweitet und kann deshalb bald auch
außerhalb der Arbeitszeit stattfinden. Das ist gerade für
kleine und mittlere Unternehmen wertvoll. Mit dieser Art
der Förderung bauen wir vor und können Fachkräfteman-
gel an der einen oder anderen Stelle vermeiden.

Wir wollen möglichst viele zum Nachholen eines
Schul- oder Berufsabschlusses motivieren. Dabei darf
das Alter der Arbeitnehmer aus meiner Sicht nur eine un-
tergeordnete Rolle spielen. Grundkompetenzen helfen in
jeder Lebensphase.


(Beifall bei der SPD)


An dieser Stelle müssen wir auch sensibilisieren und
mehr Arbeitnehmer davon überzeugen, dass Weiterbil-
dung Perspektiven schafft. Bildung ist Kapital!

Neu ist, dass wir Bildungserfolge bei abschlussbezo-
gener Weiterbildung honorieren. Eine Geldprämie kann
durchaus ein Anreiz beim Lernen sein. Weiterbildung
muss sich inhaltlich, aber auch monetär lohnen.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Mindestens genauso wichtig wie die finanziellen An-
reize sind mir aber auch die begleitenden Hilfen, und
damit meine ich die soziale Ansprache von Geringquali-
fizierten oder Langzeitarbeitslosen. Lernen fällt den we-
nigsten leicht. Lernen kostet Kraft und funktioniert nur
mit Engagement. Oftmals müssen Lern- und Arbeitstech-
niken von Grund auf neu vermittelt werden. Das kostet
Kraft, das bringt aber auch Ängste mit sich, die abgebaut
werden müssen. Und manchmal fehlt es an Durchhalte-
vermögen, manchmal schrecken auch Formalitäten und
Strukturen ab. Hier brauchen wir Lotsen, die mit Rat und
Tat zur Seite stehen und Fortbildungswillige durch den
Lernprozess begleiten: Warum soll ich mich überhaupt
weiterbilden? Welche Ziele hat die Weiterbildung? Wer
fördert was? Wie komme ich erfolgreich durch meine
Fortbildung?

Wir brauchen mehr Weiterbildungsberatung. Die be-
rufliche Weiterbildung ist für Nichtexperten ein Dschun-
gel: intransparente Förderwege, unübersichtliche Ange-
bote. Die Bundesagentur für Arbeit hat an verschiedenen
Standorten Pilotprojekte zur Weiterbildungsberatung
durchgeführt. Die bisher gesammelten Erfahrungen ma-
chen Mut. Individuelle Beratung kann den Weg in den
Arbeitsmarkt ebnen und beugt Arbeitslosigkeit vor.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetzentwurf
gehen wir konsequent den eingeschlagenen Weg der För-
derung von Beschäftigten weiter. Es ist ja nicht so, dass
wir unsere Hausaufgaben bisher nicht gemacht hätten,
Frau Zimmermann. Ich erinnere daran, dass wir erst vor
einigen Wochen mit dem Meister-BAföG eine erhebli-
che Verbesserung geschaffen haben. Mit der assistierten
Ausbildung helfen wir sowohl den Azubis ins Berufsle-
ben als auch den Ausbildungsbetrieben. Ich glaube, dabei
wird es nicht bleiben. Angesichts der künftigen Heraus-
forderungen – Stichwort „Arbeit 4.0“ – haben wir noch
viel Arbeit vor uns. Wir müssen die berufliche Bildung
mehr und mehr ausbauen.

Herzlichen Dank und Glück auf!


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1816407400


Nächster Redner ist der Kollege Albert Weiler für die
CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Michael Gerdes






(A) (C)



(B) (D)



Albert Weiler (CDU):
Rede ID: ID1816407500

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem
vorgelegten Gesetzentwurf zur Stärkung der beruflichen
Weiterbildung und des Versicherungsschutzes in der Ar-
beitslosenversicherung setzen wir nun als Koalition aus
Union und SPD ein gemeinsames Vorhaben aus unserem
Koalitionsvertrag um.

Unser Arbeitsmarkt ist aufnahmefähig wie selten zu-
vor. Die Nachfrage nach Fachkräften ist aufgrund des
wirtschaftlichen, technischen und qualifikationsspezifi-
schen Strukturwandels enorm hoch und stetig wachsend.
Das sollte eigentlich Chancen bei der Bekämpfung der
Langzeitarbeitslosigkeit eröffnen. Leider müssen wir
aber zusehends feststellen, dass Personen, die seit vielen
Jahren arbeitslos sind, bisher selten Zugang zum ersten
Arbeitsmarkt finden.

Deswegen haben wir uns vorgenommen, erstens ge-
ringqualifizierte Langzeitarbeitslose verstärkt in exis-
tenzsichernde Arbeit zu vermitteln, zweitens sie passge-
nau zu qualifizieren und zu begleiten sowie drittens sie
bei Bedarf auch nachhaltig zu betreuen und dafür die
notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen.

Der Gesetzentwurf listet eine ganze Reihe von mei-
nes Erachtens geeigneten Maßnahmen auf. Der Zugang
zur beruflichen Weiterbildung für geringqualifizierte Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Langzeitarbeitslose
und Ältere wird verbessert, und damit wird die berufli-
che Qualifikation enorm erhöht. Ich halte es persönlich
für sehr wichtig, dass wir vor allem die meist jungen
Erwerbstätigen ohne Berufsabschluss in den Fokus neh-
men. Zwar ist in der Gruppe der 25- bis 34-Jährigen der
Anteil der Personen ohne abgeschlossene Berufsausbil-
dung in den letzten Jahren von 17,8 auf 13,9 Prozent ge-
sunken; das ist aber leider immer noch zu viel. Vor dem
Hintergrund unseres enormen Fachkräftemangels brau-
chen wir einfach alle Menschen in unserem Land und
müssen helfen, sie erfolgreich zu einem Berufsabschluss
zu führen.

Mit dem geplanten Gesetz wollen wir alles dafür tun,
die Menschen erstens in Arbeit zu bringen, zweitens in
Arbeit zu halten und drittens – sehr wichtig – schon vor
eventuell drohender Arbeitslosigkeit in ihren Betrieben
zu schulen, umzuschulen und weiterzubilden. Wie wer-
den wir das erreichen?

Wir werden beispielsweise bei einer betrieblichen
Umschulung umschulungsbegleitende Hilfen erbringen,
um einen erfolgreichen Ausbildungsabschluss zu unter-
stützen. Frau Pothmer, wenn Sie jetzt aufhören, mit Ih-
rem Handy zu hantieren, und zuhören, dann erhalten Sie
noch mehr Lösungen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich bin multitaskingfähig!)


Wir werden die Weiterbildungsförderung für Beschäf-
tigte in kleinen und mittleren Unternehmen weiter fle-
xibilisieren, die für jüngere Arbeitnehmerinnen und Ar-
beiternehmer unter 45 Jahren bis Ende des Jahres 2020
befristet ist.

Wir werden die Förderung von Qualifizierung wäh-
rend des Bezugs von Transferkurzarbeitergeld einführen.

Um die Eingliederung von Langzeitarbeitslosen und
Arbeitslosen mit schwerwiegenden Vermittlungshemm-
nissen zu verbessern, werden wir die mögliche Dauer
von Maßnahmen verlängern. Die Hilfen zur Aktivierung
und zur beruflichen Eingliederung von Langzeitarbeits-
losen, die bei oder von einem Arbeitgeber durchgeführt
werden, sollen von sechs auf zwölf Wochen ausgedehnt
werden.

Es ist zwar Aufgabe der Länder, jungen Menschen
Grundkompetenzen zu vermitteln, aber trotzdem ist es
zielführend, dass wir Förderleistungen zum Erwerb not-
wendiger Grundkompetenzen in den Bereichen Lesen,
Schreiben, Mathematik und Informations- und Kommu-
nikationstechnologien anbieten.

Ich muss ehrlicherweise gestehen, dass ich mit der so-
genannten Weiterbildungsprämie zur Motivation meine
Probleme habe. Verkürzt kann man sagen, dass Leute, die
nicht motiviert sind, Geld bekommen sollen. Also: Un-
motivierte bekommen Geld, Motivierte kein Geld. Schon
Maslow hat gesagt, dass Geld kein Motivationsfaktor ist.
Das sehe ich genauso. Deshalb sollte man an der Stelle
noch einmal darüber nachdenken. Aber wir sind auch erst
in der ersten Lesung.

Das, meine Damen und Herren, ist der Unterschied,
und das hat auch die Anhörung am Montag noch einmal
klargemacht: Grüne und Linke wollen Arbeitslosigkeit
vor allem teuer verwalten und stellen Anträge, ohne Kos-
ten und Nutzen, geschweige denn den Bedarf richtig zu
ermitteln.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Luft wird dünn. Frau Zimmermann, wenn auch Sie
einmal kurz aufpassen könnten: Sie haben keine Argu-
mente genannt. Sie haben uns Dinge unterstellt und nur
gesagt, dass wir es nicht ernst meinten. Das ist Ihr Argu-
ment. Aber dem kann ich entgegentreten. Wir meinen es
ernst, und wir werden es tun.

Die BA hat deutlich herausgearbeitet, dass eine gleich-
zeitige Erweiterung der Rahmenfrist und Reduzierung
der Anwartschaftszeit hohe Zusatzkosten verursachen
würde. Bei einer Rahmenfristverlängerung auf drei Jahre
bei gleichzeitiger Reduzierung der Anwartschaftszeit auf
vier Monate, wie von der Opposition vorgeschlagen,


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von den Linken vorgeschlagen, Herr Weiler, nicht von uns!)


würde die Arbeitslosenversicherung mit schätzungsweise
1,3 Milliarden Euro belastet werden – und das jährlich.
1,3 Milliarden Euro! Mit der Verlängerung der Rahmen-
fristen bekämpft man aber nur die Symptome; die Ur-
sache von Arbeitslosigkeit bleibt dabei unberücksichtigt.

Wir, Union und SPD, stärken mit unserem Gesetz das
Ziel einer breiteren und stärkeren Partizipation von Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmern an Fort- und Wei-
terbildung. Wir erhöhen zudem die Durchlässigkeit für
einen beruflichen Aufstieg. Wir verbessern damit die
Teilhabe am Arbeitsleben und in der Gesellschaft. Mit






(A) (C)



(B) (D)


der Möglichkeit der freiwilligen Weiterversicherung in
der Elternzeit oder bei beruflicher Weiterbildung leisten
wir zudem einen wichtigen Beitrag zur Vereinbarkeit
von Familie und Beruf. Mit der weitreichenden Versi-
cherungspflicht für Pflegepersonen verbessern wir den
Versicherungsschutz in der Arbeitslosenversicherung für
Übergangsprozesse am Arbeitsmarkt erheblich.

Meine Damen und Herren, ich freue mich auf die
kommenden Beratungen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Bernd Rützel [SPD])



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1816407600

Vielen Dank. – Als Nächste hat Katja Mast von der

SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katja Mast (SPD):
Rede ID: ID1816407700

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Die IG Metall hat einen ihrer Aktionstage mit „Bildung.
Macht. Zukunft“ überschrieben. Ich finde, besser hätte
man das, was wir heute diskutieren, nicht auf den Punkt
bringen können; denn es geht bei diesem Gesetzentwurf,
den wir heute in erster Lesung beraten, um ein Chancen-
und Ermöglichungsgesetz, damit mehr Menschen in der
Bundesrepublik Deutschland an Weiterbildung und Aus-
bildung teilhaben können.


(Beifall bei der SPD)


Warum sind Bildung und Weiterbildung, die damit le-
bensphasenorientierter möglich sind, so wichtig für uns?
Das Wichtigste, was wir in der Bundesrepublik Deutsch-
land haben, sind die Menschen, die hier leben, und ihre
Gestaltungskraft. Wir alle wissen, dass wir diese Gestal-
tungskraft mit Bildung und Weiterbildung fördern müs-
sen. Wir alle wissen, dass in Zeiten von Digitalisierung,
demografischem Wandel und großen Herausforderungen
wie der Fachkräftesicherung und der Globalisierung die
Halbwertszeit des Wissens, das wir mit einer Berufsaus-
bildung oder mit einem Studium einmal erworben haben,
immer kleiner wird. Das heißt, das Wissen veraltet immer
schneller. Deshalb ist dies eine Antwort der Bundesregie-
rung auf die Frage, wie wir in der Arbeitsmarktpolitik
Aus- und Weiterbildung künftig besser fördern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich will schon sagen, dass das für uns Sozialdemo-
kratinnen und Sozialdemokraten ein wichtiger, ein we-
sentlicher Schritt in die richtige Richtung ist. Aber bei
dem, was am Ende herauskommen soll, da denken wir
viel weiter. Wir sind der festen Überzeugung, dass wir
nicht nur eine Bundesagentur für Arbeit brauchen, son-
dern dass wir eine Bundesagentur für Arbeit und Qualifi-
zierung brauchen.


(Beifall bei der SPD)


Wir sind der festen Überzeugung, dass wir aus der Ar-
beitslosenversicherung eine Arbeitsversicherung machen
müssen, eine Versicherung, die noch stärker als heute
vorsorgend agiert und die darauf setzt, dass über die gan-
ze Erwerbsbiografie die Erwerbsfähigkeit erhalten und
ausgebaut wird. Darauf ist die wichtigste Antwort: Bil-
dung und Weiterbildung über das ganze Leben.


(Beifall bei der SPD)


Ich will schon noch sagen, Frau Pothmer: Wenn man
hier meinen Kollegen Kapschack zitiert, sollte man die
ganze Pressemitteilung gelesen haben. In der Pressemit-
teilung steht sehr deutlich, dass wir dringend eine Nach-
folgeregelung bei den Rahmenfristen brauchen


(Zuruf der Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


und dass gerade die SPD bereit wäre, wenn denn die
Union mitmachte, die Rahmenfrist von 24 Monaten auf
36 Monate zu verlängern.


(Beifall bei der SPD)


Das haben wir bis jetzt leider nicht zusammen hinbekom-
men. Aber wir bleiben dran.

Lassen Sie mich noch einmal zum Arbeitslosenver-
sicherungsschutz- und Weiterbildungsstärkungsgesetz
kommen, ein ziemlich komplizierter Begriff, abgekürzt
AWStG – das geht ein bisschen schneller über die Lip-
pen –, aber im Kern wird da schon das Richtige gesagt.
Wir verfolgen mit diesem Gesetz eine Doppelstrategie,
nämlich die einen so qualifiziert wie möglich in Arbeit
zu halten – das ist der Gedanke der Arbeitsversicherung,
über den ich schon gesprochen habe – und gleichzeitig
die Chancen derjenigen zu verbessern, die gar nicht in
Arbeit und Ausbildung sind. So qualifiziert wie möglich
zu arbeiten, wird durch viele Regelungen in dem Gesetz
unterstützt; aber lassen Sie mich zwei Punkte besonders
betonen.

Künftig wird es so sein, dass auch Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter in kleinen und mittelständischen Unter-
nehmen, die jünger als 45 Jahre sind, ihre Weiterbildung
von der Bundesagentur für Arbeit mitfinanziert bekom-
men, auch wenn diese Qualifizierung außerhalb der Ar-
beitszeit stattfindet. Bisher ist dies nur in der Arbeitszeit
möglich. Jedem, der an einen kleinen Betrieb denkt, ist
klar: Das ist eine wichtige Regelung.

Umschulungsbegleitende Hilfen können gefördert
werden, und diejenigen, die nicht in Ausbildung und
Arbeit sind, können künftig Weiterbildungsprämien be-
kommen. Das ist wahnsinnig wichtig, weil 1 000 oder
1 500 Euro richtig viel Geld für diese Leute sind und wir
damit einen Anreiz setzen, eine begonnene Ausbildung
abzuschließen. Wir reden da ja insbesondere über Men-
schen, die eine zweite oder dritte Chance bekommen und
schon am Arbeitsmarkt tätig waren. Diese fangen norma-
lerweise gar keine Ausbildung mehr an, wenn es nicht ei-
nen zusätzlichen finanziellen Anreiz gibt. Wir alle haben
einen Mehrwert davon.

Wir können Grundkompetenzen fördern. Alle wissen
doch: Damit ich eine Ausbildung erfolgreich abschließen
kann, –

Albert Weiler






(A) (C)



(B) (D)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1816407800

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.


Katja Mast (SPD):
Rede ID: ID1816407900

– muss ich lesen, rechnen und schreiben können. In-

sofern ist es wichtig, dass das jetzt endlich auch in der
Arbeitsmarktpolitik verankert wird.

Ich freue mich auf die Debatte im Ausschuss zu die-
sem Gesetz. Ich bin stolz, dass meine Bundesregierung
dieses Gesetz vorlegt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1816408000

Als nächste Rednerin hat Jana Schimke von der CDU/

CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Jana Schimke (CDU):
Rede ID: ID1816408100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehr-

te Gäste auf den Besuchertribünen! Unser Arbeitsmarkt
befindet sich schon seit einigen Jahren in einer guten Ver-
fassung; das konnten wir in der heutigen Debatte schon
mehrfach hören. Die Zahl der Arbeitslosen stabilisiert
sich auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau, und
im europäischen Vergleich zählen die Arbeitslosenquote
und auch die Jugendarbeitslosigkeit hierzulande zu den
geringsten.

Dennoch widmet sich der heute diskutierte Gesetzent-
wurf Fragen der Weiterbildung und der Qualifizierung
sowie dem verbesserten Schutz in der Arbeitslosenversi-
cherung. Warum machen wir das? Wir machen das, weil
es trotz der guten Arbeitsmarktlage immer noch Men-
schen in unserem Lande gibt, denen der Zugang zum Ar-
beitsmarkt schwerfällt. Die Gründe dafür sind vielfältig.
Doch fest steht eines: Bildung ist der Schlüssel zum Weg
in den Arbeitsmarkt. Sie ist Voraussetzung für eine kon-
tinuierliche Erwerbsbiografie und damit auch für soziale
Stabilität und Wohlstand.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, die Statistiken zeigen: Wer
einen Berufsabschluss hat, ist seltener arbeitslos und fin-
det auch schneller wieder eine Anschlussbeschäftigung.
Und weil die Rente immer auch Ausdruck von geleisteter
Arbeit und gezahlten Beiträgen ist, nimmt Bildung eben
auch einen entscheidenden Einfluss auf die Absicherung
im Alter – ein wichtiger Fakt gerade auch mit Blick auf
die aktuelle Rentendiskussion. Hinzu kommt der wach-
sende Bedarf der Wirtschaft nach Fachkräften. Auch des-
halb müssen wir alles daransetzen, die Hemmnisse bei
der Arbeitsplatzvermittlung abzubauen.

Vielerorts werden die Unternehmen sogar selbst tä-
tig. Wenn ein junger Bewerber beispielsweise nicht die
Voraussetzungen zur Aufnahme einer Ausbildung mit-
bringt, wird dies durch eigene Qualifizierungsangebo-
te der Unternehmen ausgeglichen. Nicht selten stellen
Mittelständler sogar eigene Lehrer ein, die das, was die
Bewerber in der Schulzeit versäumt haben, ausgleichen

sollen. Im Unternehmen werden also schon heute mitun-
ter Personalstellen geschaffen, die mit dem eigentlichen
Kerngeschäft nichts zu tun haben. Viele Unternehmen
berichten, dass es Bewerbern immer öfter auch an den
grundlegendsten Eigenschaften fehlt, die ein vertrauens-
volles Arbeitsverhältnis begründen und damit letztend-
lich auch den Weg aus der Arbeitslosigkeit aufzeigen:
Motivation, Pünktlichkeit, Verlässlichkeit.

Um hier keinen falschen Eindruck zu erwecken,
meine Damen und Herren: Dieses Engagement ist be-
merkenswert, aber es zeigt auch, wo, wann und wie wir
ansetzen müssen, um einem Abrutschen in den dauerhaf-
ten Leistungsbezug und in die Langzeitarbeitslosigkeit
vorzubeugen, nämlich frühzeitig. Das ist eine Aufgabe
an Schulen und damit auch eine Aufgabe der Bundeslän-
der. Es ist aber auch eine Aufgabe an der Schnittstelle
zwischen Schule und Beruf und damit auch eine Aufgabe
der Arbeitsagenturen. Deshalb begrüße ich die derzeitige
Einrichtung der sogenannten Jugendberufsagenturen in
den Jobcentern vor Ort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetz-
entwurf unterstützt Menschen, die bereits im erwerbs-
fähigen Alter sind. Er zielt darauf ab, zum Beispiel mit
der Förderung von Grundkompetenzen einmal mehr den
Weg aus der Arbeitslosigkeit zu unterstützen. Er zielt
aber auch darauf ab, den Weg in Arbeitslosigkeit zu ver-
hindern, indem Betriebe und Beschäftigte bei Maßnah-
men zur Weiterbildung unterstützt werden. Dem Prinzip
„Aufstieg durch Bildung“ wird mit dem vorliegenden
Maßnahmenkatalog Rechnung getragen.

Ich möchte aber zum Abschluss noch eine kritische
Anmerkung machen. Es gilt auch, das Prinzip „Fordern
und Fördern“ in einem ausgewogenen Maße zu betrach-
ten. Da möchte ich gerne auf die Ausführungen meines
Kollegen Albert Weiler Bezug nehmen. Unsere Solidar-
gemeinschaft unternimmt viel, um den Menschen zu hel-
fen, den Weg aus dem Leistungsbezug zu finden und ein
selbstständiges Erwerbsleben zu führen. Doch es muss
auch klar sein, dass das Ziel, einen Berufsabschluss zu
erzielen und ein selbstbestimmtes und eigenverantwort-
liches Leben zu führen, nichts ist, worum man gebeten
werden muss. Es ist eine Selbstverständlichkeit. In Ge-
sprächen mit den Kollegen der Jobcenter vor Ort wird
immer wieder deutlich, dass zu viel des Guten gerade
auch im Bereich der Arbeitsmarktpolitik kontraproduktiv
sein kann.

Gestern wie heute gilt: Wer sich anstrengt, wird am
Ende dafür belohnt: durch den Stolz auf das, was man
selbst imstande zu leisten war, und im besten Fall auch
durch eine Arbeitsstelle. Ich möchte deshalb dafür wer-
ben, die Einführung einer sogenannten Weiterbildungs-
prämie, die uns bis 2019 jährlich immerhin 82 Millionen
Euro kosten wird, zu überdenken. Ich bin der Auffassung,
es wäre falsch, die einen mit Prämien für etwas zu beloh-
nen, was andere von selbst und ohne Prämie zu leisten in
der Lage sind.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1816408200

Vielen Dank. – Als nächster Redner spricht Stephan

Stracke, ebenfalls von der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stephan, was sagst du denn jetzt zur Weiterbildungsprämie?)



Stephan Stracke (CSU):
Rede ID: ID1816408300

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Die Arbeitsmarktentwicklung ist in der Tat er-
freulich; die Vorrednerin hat darauf hingewiesen. Der
Arbeitsmarkt in Deutschland ist nach wie vor in hervor-
ragender Verfassung.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist er nicht!)


Das gilt in besonderem Maße für Bayern; denn das
Jahr 2015 war ein Jahr der Rekorde. 3,6 Prozent ist die
niedrigste Jahresquote seit Beginn der entsprechenden
Erfassungen im Jahr 1994.

Die gute Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt kommt
auch bestimmten Zielgruppen zugute: Ältere, aber auch
diejenigen, die gehandicapt sind, und Langzeitarbeitslose
profitieren von dieser Entwicklung. Uns ist es in Bayern
in den letzten zehn Jahren gelungen, die Zahl der Arbeits-
losen um knapp 50 Prozent zu reduzieren. Das zeigt, dass
Bayern ein Job- und Wachstumsmotor ist. Der BA-Chef
geht davon aus, dass sich der Arbeitsmarkt weiter gut
entwickeln wird, obwohl sich bereits heute zeigt, dass
sich immer mehr Flüchtlinge arbeitslos melden werden.

In diesem erfreulichen Umfeld setzen wir an für Men-
schen, die es auf dem Arbeitsmarkt schwerer haben als
andere. Im Koalitionsvertrag haben wir dazu vereinbart,
die Arbeitsförderung weiter zu verbessern. Mit dem vor-
liegenden Gesetzentwurf setzen wir diese Vereinbarung
für eine präventive und aktive Gestaltung der Arbeits-
marktpolitik um. Ausdrückliches Ziel ist ein verbesserter
Zugang von gering qualifizierten Arbeitnehmern sowie
Langzeitarbeitslosen zu einer abschlussbezogenen Wei-
terbildung.

Aus aktuellem Anlass ein Wort im Hinblick auf die
gestrige Einigung der Spitzen der Regierungskoalition
auf Eckpunkte für ein Integrationsgesetz. Gegenstand der
Einigung sind unter anderem weitere Verbesserungen für
die Ausbildungsförderung von Flüchtlingen. Damit wer-
den die bestehenden Instrumente passgenau für Flücht-
linge mit guter Bleibeperspektive weiterentwickelt. Die
Eckpunkte sind an dieser Stelle tatsächlich sehr konkret.

Das beweist: Wir spielen nicht Flüchtlinge gegen
einheimische langzeitarbeitslose Menschen aus – oder
umgekehrt. Wir müssen jetzt endlich mit der Neiddis-
kussion Schluss machen, die von einigen geführt wird.
Dabei handelt es sich um eine Debatte, die zum Ziel hat,
Gruppen gegeneinander auszuspielen. Wir haben nicht
nur 1 Million Flüchtlinge, sondern auch knapp 1 Million
Arbeitslose im SGB-II-Bezug. Alle brauchen gleicher-
maßen unsere Unterstützung. Keiner wird aus dem Blick

geraten, keiner geht verloren. Das ist das Markenzeichen
unserer Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Genau deshalb ist es richtig, verstärkt auch in die be-
rufliche Weiterbildung zu investieren. Sie stellt eine der
Säulen der Fachkräftesicherung dar. Deswegen stärken
wir auch die Instrumente der Weiterbildung. Dabei neh-
men wir insbesondere folgende Gruppen in den Blick:
Die Arbeitnehmer, die noch nicht über einen Berufsab-
schluss verfügen, sollen die notwendigen Grundkompe-
tenzen wie Lesen, Rechnen und Schreiben erhalten. Wei-
terhin geht es um die jüngeren Arbeitnehmer in kleinen
und mittleren Unternehmen. Wir bezuschussen deren
berufliche Weiterbildung, die außerhalb der Arbeitszeit
stattfindet. Außerdem fördern wir auch ältere Arbeitneh-
mer, die beispielsweise in Transfergesellschaften tätig
sind, damit sie die notwendige Qualifizierung erhalten.
Dabei muss sich auch der Arbeitgeber mit mindestens
50 Prozent an den Lehrgangskosten beteiligen.

Auch Langzeitarbeitslose und Arbeitslose mit schwer-
wiegenden Vermittlungshemmnissen lassen wir nicht aus
dem Blick. Für sie verlängern wir die Maßnahmen zur
Aktivierung und beruflichen Eingliederung von sechs
auf zwölf Wochen. Schließlich stellt die Vermittlung in
Ausbildung eine ganz wichtige Weichenstellung dar. Bei
Langzeitarbeitslosen kommt es insbesondere darauf an,
dass sie geeignet sind und das notwendige Durchhalte-
vermögen aufweisen. Wir wissen, dass nur 10 bis 20 Pro-
zent der Langzeitarbeitslosen tatsächlich die notwendi-
gen Voraussetzungen erfüllen. Frau Staatssekretärin hatte
zu Beginn dieser Debatte darauf hingewiesen, dass jeder
Vierte seine Ausbildung abbricht. Es gibt also in diesem
Bereich eine besorgniserregende Entwicklung.

Die Koalition hat sich darauf geeinigt, einer solchen
Entwicklung mit einer Weiterbildungsprämie entspre-
chend zu begegnen. Ich will nicht verhehlen, dass ich
dieses Instrument insgesamt eher kritisch beurteile, weil
es auch eine Frage der Fairness ist; denn andere Auszu-
bildende erhalten eine solche Prämie nicht. Sie müssen
ihre Prüfungen bestehen, ohne eine Prämie zu bekom-
men. Wir haben uns aber darauf geeinigt, dass wir die-
ses Instrument befristen und auch evaluieren. Nach Ab-
schluss der Evaluation sollten wir uns genau anschauen,
ob sich das Instrument tatsächlich bewährt hat.

Der zweite wichtige Teil des Gesetzentwurfes betrifft
die Verbesserung des Versicherungsschutzes in der Ar-
beitslosenversicherung. Das klingt meist profan oder
technisch; für die Betroffenen aber ist das von zentraler
Bedeutung, um ihren Arbeitslosenversicherungsschutz
zu erhalten. Das wird beim Thema der verkürzten An-
wartschaftszeit für überwiegend kurzzeitig befristet Be-
schäftigte besonders deutlich. An dieser Stelle geht es
vor allem um die soziale Absicherung von Künstlern und
Kulturschaffenden.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 0,7 Prozent!)


In diesem Bereich hätte ich mir sicherlich mehr vor-
stellen können. Die Alternative für die Koalition wäre
eine generelle Verlängerung der Rahmenfrist gewesen.






(A) (C)



(B) (D)


Auch von den Kulturschaffenden wird das nicht ge-
wünscht. Es würde auch zu weitreichenden Konsequen-
zen führen und würde, insbesondere was die finanziel-
len Aspekte anbelangt, mit großen Mehrkosten für die
Bundesagentur für Arbeit verbunden sein. Natürlich ist
es auch in der Sache falsch. Wir brauchen in diesem Be-
reich keine Lockerungen, um die Arbeitslosigkeit zu ver-
walten, sondern wir benötigen flächendeckende Lösun-
gen zum Abbau vor allem der Langzeitarbeitslosigkeit.
Deswegen wäre dieser Vorschlag auch ein Fremdkörper
gewesen. Aus diesem Grunde ist es gut, dass dieser Punkt
bereits bei der Befassung durch das Kabinett gestrichen
wurde und die Bundesregierung entsprechende Avancen
des Bundesrates in dieser Hinsicht abwehrt.

Es gibt sicherlich noch viele Gesprächspunkte. Die
Bundesländer haben noch Änderungswünsche. Einen
davon habe ich gerade angesprochen. Die Opposition
glänzt, was eigenständige Vorlagen zum Gesetzentwurf
betrifft, nicht gerade mit eigenen Vorschlägen für die ge-
nannten Bereiche.

Wir werden jetzt eine Sachverständigenanhörung be-
schließen. Ich freue mich auf die intensiven Debatten
zu diesem Gesetzentwurf. Ich meine, dass er insgesamt
ausgewogen und gut ist. In diesem Sinne wollen wir die
entsprechenden Anhörungen auch durchführen.

Ein herzliches Dankeschön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1816408400

Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/8042 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 d sowie
Zusatzpunkt 4 auf:

24. a) Erste Beratung des von der Bundesregie-
rung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Buchpreis-
bindungsgesetzes

Drucksache 18/8043
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Kultur und Medien

b) Erste Beratung des von der Bundesregie-
rung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes über die weitere Bereinigung
von Bundesrecht

Drucksache 18/7989
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Sabine Leidig, Ralph Lenkert, Caren Lay,

weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Drohende Streckenstilllegungen verhin-
dern – Regionalisierungsmittel erhöhen

Drucksache 18/8074
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reak-
torsicherheit
Haushaltsausschuss

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Sabine Leidig, Herbert Behrens, Caren Lay,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Bundesverkehrswegeplan 2030 zurück-
ziehen – Klimaschutz- und sozialökologi-
sche Nachhaltigkeitsziele umsetzen

Drucksache 18/8075
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f)

Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reak-
torsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Peter Meiwald, Kordula Schulz-Asche,
Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN

Gewässer vor Medikamentenrückstän-
den schützen

Drucksache 18/8082
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reak-
torsicherheit (f)

Ausschuss für Gesundheit

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Damit sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a und 25 b sowie
Zusatzpunkt 5 auf. Es handelt sich um die Beschlussfas-
sung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgese-
hen ist.

Ich weise darauf hin, dass eine Erklärung zur Abstim-
mung gemäß § 31 der Geschäftsordnung des Abgeordne-
ten Dr. Reinhard Brandl zum Tagesordnungspunkt 25 a
vorliegt.1)

Ich komme zunächst zum Tagesordnungspunkt 25 a:

Zweite und dritte Beratung des von den Frakti-
onen CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE

1) Anlage 3

Stephan Stracke






(A) (C)



(B) (D)


GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Ge-
setzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes

Drucksache 18/7873

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)


Drucksache 18/8104

Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 18/8104, den Gesetzentwurf
der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und des Bündnis-
ses 90/Die Grünen auf Drucksache 18/7873 anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Enthält sich jemand? – Damit ist der Gesetzentwurf in
zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition und den
Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stim-
men der Fraktion Die Linke angenommen worden.

Wir kommen zur

dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Enthält sich jemand? – Damit ist der
Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalition und von
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke angenommen worden.

Ich komme zum Tagesordnungspunkt 25 b:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Kordula Schulz-Asche, Tom
Koenigs, Peter Meiwald, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN sowie der Abgeordneten Stefan Liebich,
Wolfgang Gehrcke, Dr. Dietmar Bartsch, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Der Völkermord in Ruanda und die deutsche
Politik 1990 bis 1994 – Unabhängige histori-
sche Aufarbeitung

Drucksachen 18/4811, 18/7905

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 18/7905, den Antrag der Frak-
tionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke auf
Drucksache 18/4811 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Gibt
es eine Enthaltung? – Das ist nicht der Fall. Damit ist
diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koa-
lition gegen die Stimmen der Opposition angenommen
worden.

Ich komme zum Zusatzpunkt 5:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr und digitale
Infrastruktur (15. Ausschuss)


zu dem Vorschlag für eine Verordnung des
Europäischen Parlaments und des Rates
zur Festlegung gemeinsamer Vorschriften
für die Zivilluftfahrt und zur Errichtung ei-

ner Agentur der Europäischen Union für
Flugsicherheit sowie zur Aufhebung der
Verordnung (EG) Nr. 216/2008 des Euro-
päischen Parlaments und des Rates
KOM(2015) 613 endg.; Ratsdok. 14991/15

hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesre-
gierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes

Drucksachen 18/7422 Nr. A.22, 18/8103

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/8103, in Kenntnis der Unter-
richtung eine Entschließung gemäß Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Damit ist diese Beschlussempfehlung mit
den Stimmen der Koalition bei Enthaltung der Oppositi-
on angenommen worden.

Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:

Aktuelle Stunde

auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Haltung der Bundesregierung zu den gesund-
heitsgefährdenden Abgasbelastungen in vielen
deutschen Städten

Ich eröffne die Aussprache zu dieser Aktuellen Stunde
und erteile Herrn Peter Meiwald von der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen als erstem Redner das Wort.


Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816408500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Seit Jahren werden von Deutschland die gel-
tenden EU-Luftqualitätsgrenzwerte für Feinstäube und
Stickoxide nicht eingehalten. Angesichts der Gefahren für
die Gesundheit durch Feinstäube können wir mit unserer
Luft – ich glaube, das ist unumstritten – nicht zufrieden
sein. Das UBA rechnet allein mit 47 000 Feinstaubtoten
pro Jahr in Deutschland; eine Zahl, die wir uns angesichts
der Gedanken, die wir uns um die vielen Verkehrstoten
machen, zu Gemüte führen sollten.

Auch Stickoxide sind mittlerweile ein riesiges Pro-
blem. Die EU-Grenzwerte für NO2 werden in Deutsch-
land an mehr als der Hälfte der verkehrsnahen Mess-
stationen überschritten. Dies hat zu mittlerweile zwei
Vertragsverletzungsverfahren der EU gegen Deutschland
geführt. Hinzu kommen zahlreiche Gerichtsurteile und
Vollstreckungsverfahren gegen Kommunen und Bundes-
länder. Betroffen sind Kommunen im gesamten Bundes-
gebiet, von Aachen über München bis Wiesbaden, aber
auch die Länder Bayern, Baden-Württemberg, Hamburg
oder Hessen. Es besteht ein bundesweites Problem, des-
sen Behebung einer konzertierten Aktion bedarf.

Mit der Aufdeckung des Dieselskandals – nicht
etwa durch die deutschen Behörden, sondern durch die
US-Umweltbehörde – ist klar geworden, dass die Kom-
munen bei aller Anstrengung nicht mit einer Verbesse-
rung der Belastungssituation rechnen können; denn die
Automobilindustrie, zumindest Teile von ihr, hatte mit

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn






(A) (C)



(B) (D)


der Manipulation der Abgaswerte dafür gesorgt, dass die
Autos die Schadstoffgrenzwerte zwar theoretisch einhal-
ten, aber praktisch die Stickoxidemissionen in den Städ-
ten nicht abnehmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Luftreinhaltepläne der Kommunen konnten also
auch nur theoretisch zu Ergebnissen führen. Das hilft uns
beim Atmen nicht; denn wer will schon nur theoretisch
gute Luft atmen? Die Zeche zahlen die Bürgerinnen und
Bürger, die an den Hauptverkehrsstraßen mit hohen Luft-
belastungen wohnen. Von Teilen der Automobilindustrie
wird das offensichtlich billigend in Kauf genommen. Das
grenzt schon an Körperverletzung.

„Volle Transparenz“ hatte die Bundeskanzlerin dazu
am 22. September 2015 versprochen. Was macht unser
Verkehrsminister? Er steckt den Kopf in den Sand oder
man könnte auch sagen: ins Auspuffrohr der Automobil-
industrie. Minister Dobrindt verweigert die Aufklärung
des Skandals; von zügiger Aufklärung will ich nach mehr
als einem halben Jahr gar nicht mehr reden. Er verweigert
die Arbeit und keilt nun auch noch gegen die Einführung
der blauen Plakette. Herr Minister – schade, dass er nicht
da ist –, Ihre Verkehrspolitik ist unausgegoren, verkorkst,
umwelt- und am Ende auch mobilitätsfeindlich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Ralph Lenkert [DIE LINKE])


Das zeigt – nur am Rande bemerkt – auch der unlängst
vorgelegte Entwurf des Bundesverkehrswegeplans, in
dem keine Ambitionen deutlich werden, etwas zu ver-
bessern.

Sogar die Ergebnisse einer kompletten Sonder-Um-
weltministerkonferenz sind ignoriert worden.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist eine Einzelmeinung!)


Da kann ich unsere Umweltministerin – schön, dass Sie
da sind, Frau Hendricks – nur auffordern, das Heft des
Handelns selber in die Hand zu nehmen und es nicht die-
sem Verkehrsminister zu überlassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Legen Sie ein Aktionsprogramm „Saubere Luft für
Deutschland“ auf, und weisen Sie Ihren arbeitsverwei-
gernden Kabinettskollegen in die Schranken.

Ab 2025 sollten nur noch Autos mit Strom- oder Was-
serstoffantrieb neu zugelassen werden. Sorgen Sie end-
lich auch für niedrigere Emissionen durch Dieselloks,
Baumaschinen, Lkw- oder Schiffsverkehr. Wir brauchen
eine Novellierung der Bundesimmissionsschutzverord-
nung, sodass Kommunen Durchfahrverbote in Umwelt-
zonen erlassen können, um die Belastung der Luft mit
Stickoxiden zu senken. Legen Sie ein Nachrüstungspro-
gramm zur Abgasreduzierung bei Taxis, Transportern
und Bussen auf. Machen Sie mit der Ausweitung des
E-Carsharing ernst; da gibt es viele Möglichkeiten. För-
dern Sie Elektromobilität und Lastenfahrräder im inner-
städtischen Logistikverkehr. Legen Sie ein zeitlich befris-
tetes Marktanreizprogramm für Elektronahverkehrsbusse
und Elektroautos auf. Zur Finanzierung könnte man zum

Beispiel an der Beendigung der Steuerprivilegierung für
Diesel ansetzen. Damit wäre einiges Geld vorhanden, das
wir für diese Maßnahmen nutzen können.

Ein zentraler Punkt für uns ist, dass wir jetzt nicht nur
auf die Autohersteller blicken und sagen: Es gibt eini-
ge wenige schwarze Schafe. – Vielmehr müssen wir das
System insgesamt in den Blick nehmen. Wir müssen
überlegen: Wie können wir die Stickoxid- und Feinstaub-
belastung aufgrund der Mobilität gerade in unseren Städ-
ten in den Griff bekommen? Auf den Verkehrsminister
zu warten und auf ihn zu vertrauen, ist offensichtlich
hoffnungslos. Deswegen setzen wir unser Vertrauen im
Moment eher in Sie, Frau Hendricks, und in dieses Par-
lament.

Wir zeigen der Regierung deutlich die Schranken auf
und sagen: Wir haben eine Verantwortung für die Ge-
sundheit der Menschen in unserem Land. Wir haben eine
große Verantwortung für die Luft.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1816408600

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Marie-Luise

Dött von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Marie-Luise Dött (CDU):
Rede ID: ID1816408700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Vorschläge zur Weiterentwicklung der Fünfunddrei-
ßigsten Verordnung zur Durchführung des Bundes-Im-
missionsschutzgesetzes haben in den letzten Tagen für
erhebliche Diskussionen gesorgt. Deshalb ist es erforder-
lich, sich noch einmal mit den Hintergründen zu befas-
sen. Ziel ist die Verbesserung der Luftqualität vor allem
in den Ballungsräumen und Großstädten.

Wir haben in den vergangenen Jahren insbesondere
die Feinstaubbelastung in den Städten im Fokus gehabt.
Genau darauf zielte die grüne Plakette. An vielen Orten
ist die Feinstaubbelastung durch den Straßenverkehr
nach Einführung der Umweltzonen zurückgegangen. Es
gibt aber ein weiteres Problem. Wir haben in den Städten
auch erhebliche Stickoxidbelastungen, und zwar vor al-
lem an stark befahrenen Straßen.

2015 waren die Stickoxidwerte an 60 Prozent der Luft-
messstellen an den durch Verkehrsemissionen belasteten
Straßen in den Ballungsräumen zu hoch. Stickstoffdioxid
ist gesundheitsschädlich, weil es die Atemwege reizt und
zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen kann. Dieser
Aspekt wird von den bisherigen Feinstaubplaketten nicht
hinreichend berücksichtigt. Es besteht also Handlungs-
bedarf, und den sieht auch die Europäische Kommission.

Gegen Deutschland läuft ein Vertragsverletzungsver-
fahren. Deshalb ist es richtig, das Problem anzugehen,
und deshalb war es auch richtig, das Thema auf der Son-
dersitzung der Umweltministerkonferenz auf die Tages-
ordnung zu setzen. Worüber ich mich allerdings wundere,
meine Damen und Herren, ist die Tatsache, wie schnell
man sich auf ein Instrument, nämlich auf die Einfüh-

Peter Meiwald






(A) (C)



(B) (D)


rung der blauen Plakette einigen konnte, wie schnell das
Gremium sicher war, dass man mit der Weiterentwick-
lung der 35. BImSchV das richtige Instrument gefunden
hat. Ich bin der Auffassung, dass die Fünfunddreißigste
Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissions-
schutzgesetzes zwar ein mögliches Instrument ist, aber
die Einführung der grünen Plakette hat auch gezeigt, dass
die am Ende daraus resultierenden Fahrverbote für be-
stimmte Fahrzeuge zu erheblichen Belastungen für die
Bürger und die Wirtschaft führen. Genau an dieser Stelle
hätte ich mir gewünscht, dass man mit diesem Instrument
vorsichtiger umgeht, statt die Bürger mit der Ankündi-
gung der Einführung einer blauen Plakette, also der An-
drohung neuer Fahrverbotszonen, zu überraschen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Viele Besitzer von Dieselfahrzeugen, von denen sich
so mancher für den Diesel entschieden hat, weil er kli-
maverträglicher ist als ein Benziner, erfahren über die
Presse am Wochenende, dass ihr Auto künftig nur noch
eingeschränkt nutzbar ist.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Quatsch!)


Wie viele Handwerksmeister und Mittelständler haben
am Wochenende überlegt, wie sie mit ihrem Fuhrpark
künftig in die Innenstädte zu ihren Kunden kommen sol-
len? Und wie viele Bürgerinnen und Bürger haben über-
legt, wie sie mit ihrem Euro-5-Diesel künftig die Kinder
transportieren, den Einkauf bewältigen oder nur zu ihrer
Wohnung in der Innenstadt gelangen sollen? Mit solchen
politischen Überraschungseffekten bekommen wir für
die erforderlichen Reduzierungen der Schadstoffbelas-
tungen keine Unterstützung.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich sage das nicht nur der Bundesumweltministerin,
sondern auch den Länderumweltministern, von denen die
Initiative auf der Sondersitzung der Umweltministerkon-
ferenz des Bundes und der Länder in der vergangenen
Woche ausging. Es ist ja richtig, dass die Bundesumwelt-
ministerin den Auftrag aus der Umweltministerkonferenz
zumindest wohlwollend prüfen muss. Und dass sich das
BMUB der Problematik bewusst ist, kann man an den
Ausführungen des Umweltministeriums zu den Kernfra-
gen ablesen: Da informiert das Ministerium auf seiner
Website darüber, dass der Zeitpunkt der Einführung der
Plakette noch nicht feststeht, dass das Bundesumweltmi-
nisterium mit den Ländern und den anderen Ressorts die
Ausgestaltung genau prüfen wird, dass nur Dieselfahr-
zeuge mit hohem Stickoxidausstoß betroffen sein werden
und dass es Ausnahmeregelungen geben soll, um soziale
Härten zu vermeiden. Da lese ich also ein deutliches Pro-
blembewusstsein heraus.

Meine Damen und Herren, wichtiger als über neue
Fahrverbotszonen für die Bürger nachzudenken, ist es,
sich anzuschauen, worüber auf der Sondersitzung der
Umweltministerkonferenz noch diskutiert wurde. Da
ging es nämlich um die Manipulationsvorwürfe bei Die-
sel-Pkws, die illegalen Abschalteeinrichtungen in Fahr-
zeugen, um die Überwachung der Immissionen und um
neue europäische Abgaskontrollen. Hier liegen für mich

die Handlungsschwerpunkte der Politik. Hier muss es
schnell vorangehen – mit härteren Kontrollen und mit
mehr Ehrlichkeit


(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie das irgendwann schon mal dem Verkehrsminister gesagt?)


statt mit neuen Fahrverboten. Der erste Adressat, wenn es
um Fortschritte bei der Luftreinhaltung und beim Klima-
schutz geht, sind die Hersteller, nicht der Bürger und der
Handwerker, die sich auf hohe Immissionsstandards bei
ihren Euro-5-Dieseln verlassen haben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Axel Schäfer [Bochum] [SPD])



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1816408800

Vielen Dank. – Als nächster Redner spricht Ralph

Lenkert von der Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Ralph Lenkert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1816408900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen

und Kollegen! Abgastests unter realen Bedingungen des
Verkehrs wurden jahrelang verhindert. Die Bundesre-
gierung hat durch Mittelkürzungen die Möglichkeiten
des Kraftfahrt-Bundesamtes zu eigenen Fahrzeug- und
Abgastests eingeschränkt und sich auf die Angaben der
Automobilhersteller verlassen und letztendlich sogar die
Testverfahren nach deren Wünschen verändert.

Drei Jahre lang arbeitete ich in der Entwicklungsab-
teilung eines Zulieferers für die Automobilindustrie und
weitere zweieinhalb Jahre als Qualitätsmanager in einem
Zulieferwerk. Die Autohersteller kennen ganz genau die
Belastungen ihrer Fahrzeuge. Sie wissen, wie Pkws in
Städten und auf dem Land in Europa oder den USA üb-
licherweise genutzt werden und wie sie sich verhalten.
Wenn Bundesregierung, EU-Kommission und Herstel-
ler das gewollt hätten, gäbe es seit Jahren Abgastests im
realen Fahrbetrieb. Jetzt gibt es den Abgasskandal, und
es wird klar, warum trotz Umweltzonen, trotz Euro-4-
und Euro-5-Normen zu hohe Stickoxid- und zu hohe
Feinstaubbelastungen in unseren Innenstädten auftreten.

Die Bürgerinnen und Bürger haben das Grundrecht
auf körperliche Unversehrtheit und ein Anrecht auf
Mobilität. Die Bundesregierung steht nun vor einem
selbstverschuldeten Dilemma. Ignoriert sie die Gesund-
heitsgefahren für die Bevölkerung, oder schränkt sie die
Mobilität von über 13 Millionen Nutzerinnen und Nut-
zern von Diesel-Pkws ein?

Die aktuelle Debatte zur blauen Umweltplakette und
zur Euro-6-Norm sehen wir kritisch. Diesel-Pkws, die
die Euro-6-Norm im Teststand erfüllen, erfüllen im Re-
albetrieb nicht einmal die Euro-5-Norm. Wieso sollen
die Fahrerinnen und Fahrer von Benzin- und Gasfahr-
zeugen eigentlich mitbestraft werden, und wieso sollen
die 13 Millionen Fahrerinnen und Fahrer älterer Diesel-
fahrzeuge mit der Aussperrung aus Umweltzonen für den
Betrug durch die Autolobby bestraft werden? Die Linke

Marie-Luise Dött






(A) (C)



(B) (D)


lehnt es ab, die Betrugsopfer mit Mobilitätseinschrän-
kungen zu bestrafen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir fordern eine Kompensation durch die Verursacher.

Mobilität ermöglichen jedoch nicht nur Pkws. Die
Linke setzt sich seit Jahren für einen besseren öffentli-
chen Personenverkehr ein. Der derzeitige Vorschlag der
Bundesregierung zu den Regionalisierungsmitteln im
Bahnverkehr bedeutet eine Kürzung dieser Mittel für
die Ostländer. Für meine Heimat Thüringen bedeutet
das, dass bis 2030 über 500 Millionen Euro weniger für
den Schienenverkehr, für Regionalbahn- und Regional-
expresszüge, zur Verfügung stehen. Das bedeutet: Die
Menschen müssen zwangsläufig zusätzlich ein Auto nut-
zen.

Deshalb bringt die Linksfraktion heute einen Antrag
zur Erhöhung der Regionalisierungsmittel auf 8,5 Milli-
arden Euro ein.


(Beifall bei der LINKEN)


Mit dieser Summe kann es in Ballungszentren mehr
Schienenverkehr geben und das Angebot in der Fläche,
insbesondere in Ostdeutschland, erhalten bleiben. Pend-
ler könnten weiterhin öfter Züge als Pkws nutzen, was
die Stickoxid- und Feinstaubbelastung reduziert. Die
Bundesregierung könnte somit eine Teilwiedergutma-
chung für ihr Versagen bei der Kontrolle der Autoindus-
trie leisten.

Außerdem muss das Kraftfahrt-Bundesamt wieder in
die Lage versetzt werden, realitätsnahe Abgastests selbst
durchzuführen; denn bevor eine Plakette für eine Euro-6-
Norm verbindlich eingeführt wird, braucht es reale Ab-
gasmessungen.

Die Automobilhersteller müssen Verantwortung für
ihre falschen Angaben übernehmen und die Folgen ihres
Handelns kompensieren. Klar ist: Eine eventuelle Nach-
rüstung der Dieselflotte dauert Jahre und ist vielleicht
gar nicht möglich. So lange will die Linke nicht warten.
Deshalb müssen Automobilhersteller über andere Maß-
nahmen an der Einhaltung der Grenzwerte für Feinstaub
und Stickoxide in unseren Städten mitwirken. Eine Vari-
ante wäre, dass die Autohersteller zur Kompensation die
Elektrifizierung von Bahnstrecken übernehmen. In Jena
könnte beispielsweise durch die Elektrifizierung der Mit-
te-Deutschland-Verbindung sowohl die Feinstaub- als
auch die Stickoxidbelastung deutlich reduziert werden.
Eine weitere Möglichkeit wäre, die Autohersteller zum
Unterhalt, zum Bau und zur Pflege von Grünanlagen
in Städten zu verpflichten. Dies würde den betroffenen
Menschen vor Ort zugutekommen. Diese und weitere
Kompensationsauflagen müssen gelten, bis alle Fahrzeu-
ge die Norm, und zwar im Realbetrieb, einhalten.

Liebe Koalitionäre, entwickeln wir gemeinsam un-
konventionelle Lösungen, um Gesundheitsschutz und
Mobilität zu sichern und die Produktverantwortung auch
für Automobilfirmen endlich durchzusetzen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1816409000

Vielen Dank. – Die Bundesministerin Dr. Hendricks

hat jetzt das Wort für die Bundesregierung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-
welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
rund 60 Gebieten in Deutschland – das entspricht übri-
gens auch etwa 60 Prozent der innerstädtischen Mess-
stellen – wurde zwischen 2010 und 2013 der zugelassene
Jahresmittelgrenzwert an Stickstoffdioxid deutlich über-
schritten. Als Hauptursache für die schlechte Luftqualität
in diesen Gebieten gelten die Abgase aus Dieselfahrzeu-
gen. In der vergangenen Woche hat sich die Umweltmi-
nisterkonferenz auf einer Sondersitzung – Frau Kollegin
Dött hat es bereits erwähnt – mit diesem Thema befasst.
Dort wurde zum einen über die Abgasmanipulationsvor-
würfe gesprochen, aber auch darüber, wie die schädli-
chen Emissionen im Straßenverkehr verringert werden
können. Die Umweltminister aus allen 16 Bundesländern
waren sich völlig einig, dass die Situation in diesen Ge-
bieten verbessert werden muss, und zwar nicht nur aus
zwingenden rechtlichen Gründen, sondern auch – das
bitte ich alle Autofreunde unter uns zur Kenntnis zu neh-
men –, weil Stickstoffdioxid eine sehr ernstzunehmende
Gefahr für die Gesundheit der dort lebenden Menschen
darstellt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


In der Tat, Frau Dött, die Umweltminister haben auch
andere Alternativen erwogen. Denn im Vertragsverlet-
zungsverfahren, das die EU im vergangenen Sommer
gegen uns eröffnet hat, sind mehrere Möglichkeiten auf-
gezeigt. Aber, Kollege Meiwald, auch das grün regierte
Baden-Württemberg hat sich zum Beispiel gegen eine
Abschaffung der Dieselsteuerprivilegien ausgesprochen.
Das hat dort kein Einvernehmen, aber auch keine Mehr-
heit gefunden.


(Ulli Nissen [SPD]: Hört! Hört! Herr Meiwald, was jetzt?)


Verständigt hat man sich aber darauf, mir sozusagen zu
empfehlen, die blaue Plakette jetzt einzuführen. Das will
ich in dem Zusammenhang sagen.

Weil das so ist, weil die Gesundheit tatsächlich be-
einträchtigt wird, hilft es nicht, sich einerseits gegen alle
denkbaren möglichen Einschnitte auszusprechen, um
sich bei den Autofahrern zu profilieren, und sich dann an
anderer Stelle über Gesundheitsgefahren durch schlechte
Luftqualität zu beschweren. Ich danke Ihnen sehr dafür,
Frau Dött, dass Sie meine abgewogenen Äußerungen auf
der Homepage meines Hauses gelesen haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Es hat ja am Wochenende Skandalisierungen gegeben, an
denen mehrere beteiligt waren, um es einmal vorsichtig
auszudrücken.

Ralph Lenkert






(A) (C)



(B) (D)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, im vergangenen
Jahr wurde der Grenzwert an mehr als der Hälfte der
verkehrsnahen Messstellen in Innenstädten immer noch
überschritten. Das muss jeden alarmieren, der sich mit
den gesundheitlichen Auswirkungen befasst hat. Die
EU-Kommission hat ja, wie ich eben schon sagte, ein
Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland ein-
geleitet. Das muss uns mindestens genauso alarmieren,
abgesehen davon, dass wir selbstverständlich verpflichtet
sind, diese Verträge zu erfüllen.

Trotz strengerer Abgasnormen haben auch neue Die-
sel-Pkw immer noch deutlich höhere reale Emissionen
als Benzin-Pkw. Übrigens haben wir im Mai des vergan-
genen Jahres, Herr Kollege Lenkert, mit dafür gesorgt,
dass die Richtlinie zum Messverfahren zu den Real Dri-
ving Emissions auf der europäischen Ebene endlich auf
den Weg gebracht wird. Der technische Ausschuss hat
sich dann erst nach den VW-Ereignissen, um es einmal
so zu sagen, im zweiten Schritt mit der Emissionsbegren-
zung befasst, aber die Richtlinie ist voriges Jahr im Mai
auf den Weg gebracht worden. In Verbindung mit dem
steigenden Anteil an Diesel-Pkw führen die hohen Re-
alemissionen dazu, dass die Belastungen in den Innen-
städten nach wie vor deutlich zu hoch sind. Das müssen
wir ganz offenbar ändern. Welche Maßnahmen wir dazu
ergreifen, wird sich zeigen; aber wir müssen es auf jeden
Fall ändern.

Der Gesundheitsschutz sollte übrigens auch bei den
Automobilherstellern oberste Maxime sein. Sie müssen
die Dieselfahrzeuge so schnell wie möglich wirklich sau-
ber auf die Straße bringen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nur auf diese Weise kann auch das Vertrauen der Kunden
in die Dieseltechnologie schrittweise zurückgewonnen
werden. Daran liegt mir sehr, dass das Vertrauen zurück-
gewonnen wird.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die neuen Regelun-
gen auf EU-Ebene und die zukünftigen Messungen auf
der Straße haben wir ja maßgeblich von Deutschland
aus forciert. Wir setzen uns außerdem dafür ein, dass die
verbesserten Fahrzeuge erheblich früher auf den Markt
kommen als bisher vorgesehen. Wir wissen aber auch,
dass es ohne weitere Maßnahmen immer wieder zu ört-
lichen Überschreitungen des Grenzwertes kommen wird.
Die Umweltministerkonferenz hat daher eingefordert,
dass die Manipulationsvorwürfe umfassend aufgeklärt
werden und sichergestellt wird, dass Manipulationen in
Zukunft nicht mehr auftreten können, dass alle betrof-
fenen Fahrzeuge ohne Kosten und Nachteile für die Au-
tobesitzer vorschriftenkonform nachgebessert werden,
dass die EU-Abgasvorschriften wasserdicht ausgestaltet
werden


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


und die Nichteinhaltung der Vorschriften entsprechend
sanktioniert wird.


(Ulli Nissen [SPD]: Ganz wichtig!)


All diesen Vorschlägen kann ich mich sehr wohl an-
schließen.

In diesem Zusammenhang – Herr Lenkert, Sie haben
dem Kollegen Dobrindt Untätigkeit vorgeworfen; waren
Sie es, oder war es Herr Meiwald? –


(Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich!)


– Sie waren es, Herr Meiwald; ich bitte um Entschuldi-
gung –:


(Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kein Problem!)


Am Wochenende hat mich der Kollege Dobrindt ja nicht
so lieb behandelt. Aber ich stehe nicht an, zu sagen: Er ist
tatenlos geblieben. In relativ überschaubarer Zeit wird er
die Ergebnisse seiner Arbeit vorlegen können.


(Beifall der Abg. Ulli Nissen [SPD] – Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh, da sind wir sehr gespannt! – Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Nein, ich verstehe das sehr wohl.

Der Herr Staatssekretär hat auf der Sondersitzung der
Umweltministerkonferenz berichtet. Er hat einen sehr
ausführlichen mündlichen Bericht abgegeben, der bisher
nicht schriftlich vorliegt. Ich finde, er hat zu Recht da-
rauf hingewiesen, dass eine NGO wie zum Beispiel die
Deutsche Umwelthilfe durchaus Gutachten und Messer-
gebnisse veröffentlichen kann – was auch immer –, dass
aber, wenn der Staat das tut, diese wirklich wasserdicht
sein und auch der Überprüfung durch Verwaltungsge-
richte standhalten müssen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Deswegen habe ich Verständnis dafür, dass die Sorgfalt
in diesem Zusammenhang vorgeht. – Jetzt habe ich beim
Kollegen Dobrindt aber einen gut, oder? Das müsste ei-
gentlich so sein.


(Beifall bei der SPD – Zurufe von der CDU/ CSU: Ja! – Wir werden es ihm sagen! – Wir setzen uns dafür ein! – Ulli Nissen [SPD]: Das muss ins Protokoll!)


Auch durch Elektromobilität kann die Qualität unse-
rer Luft spürbar verbessert werden. Abgesehen davon
ist natürlich auch ein gut ausgebauter ÖPNV dabei sehr
hilfreich. Die Umweltminister haben die Bundesregie-
rung außerdem gebeten, die Kennzeichnungsverordnung
so fortzuschreiben, dass neben Benzin- und Elektro-
fahrzeugen mittelfristig und stufenweise nur noch Die-
selfahrzeugen mit niedrigen Emissionen die Einfahrt in
belastete Gebiete erlaubt wird. Dieses Anliegen wird von
mir durchaus unterstützt. Denn irgendeine der denkbaren
Maßnahmen werden wir wohl ergreifen müssen. Das ist
immer nur ein Hilfskonstrukt. Besser wäre es natürlich,
wir hätten gleich saubere Autos; das ist ja klar.

Darüber, wie die Kennzeichnung von Fahrzeugen mit
geringerem Schadstoffausstoß am Ende aussehen könnte,
ist natürlich noch zu diskutieren. Es gibt also wirklich

Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks






(A) (C)



(B) (D)


keinen Anlass zur Panik. Leider hat es hierzu eine völ-
lig unnötige und völlig übertriebene Darstellung in ei-
nigen Medien gegeben, insbesondere was die Zahl der
potenziell betroffenen Fahrzeuge angeht. Die betroffenen
Gebiete werden sicher nicht die Größe der heutigen Um-
weltzonen haben. Eine neue Umweltplakette ist nämlich
nur für kleinräumige, besonders stark befahrene Gebiete
gedacht. An diesen Straßen leben meistens Menschen,
die sich die teuren Wohnlagen nicht leisten können. Auch
das bitte ich unter sozialen Gesichtspunkten mit ins Auge
zu fassen.


(Beifall bei der SPD)


Das Ob und das Wann werden dann später vor Ort
entschieden, genauso wie die Übergangsphasen mit Aus-
nahmeregelungen für Anwohner und Gewerbetreibende.
Denn natürlich wollen die Umweltminister der Länder –
ich selbstverständlich auch – soziale und wirtschaftliche
Härten vermeiden. Ich persönlich habe übrigens genug
Vertrauen in die Kommunen, dass sie hier mit Augenmaß
vorgehen werden. Es geht ja darum, den Kommunen eine
Rechtsgrundlage an die Hand zu geben, mit der sie ein
solches Verfahren sicher einleiten können. Die Kommu-
nen, die für sich keine andere Möglichkeit sehen, als das
Problem über Fahrbeschränkungen in besonders belas-
teten Gebieten zu lösen, benötigen eine solche Rechts-
grundlage. Wir müssen sie ihnen zur Verfügung stellen.
Andernfalls würden wir auch gar keine Chance haben,
das EU-Vertragsverletzungsverfahren abzuwenden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich werde mich in-
nerhalb der Bundesregierung für eine vernünftige und
sachgerechte Regelung einsetzen, die der einstimmigen
Aufforderung seitens der Länder folgt und neben allen
anderen Interessen auch die Gesundheit der Bürgerinnen
und Bürger mit im Blick behält.

Liebe Mitglieder der Fraktion der Grünen, da Sie
mich – so das Thema der Aktuellen Stunde – nach der
Haltung der Bundesregierung gefragt haben: Selbstver-
ständlich ist der Gesundheitsschutz der Bevölkerung ein
Anliegen der gesamten Bundesregierung. Ich bin mir si-
cher, dass alle Mitglieder dieses Hohen Hauses das eben-
so uneingeschränkt unterstützen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr Wort in Gottes Ohr!)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1816409100

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Carsten Müller

von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Carsten Müller (CDU):
Rede ID: ID1816409200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine

moderne, umweltbewusste Mobilitätspolitik kann nicht
alleine auf Verbote und Einschränkungen setzen. Hier

brauchen wir deutlich mehr, und die Unionsfraktion
macht dafür gute Vorschläge.


(Stephan Kühn [Dresden] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo denn? – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erzählen Sie doch einmal etwas von den guten Vorschlägen!)


Es ist hilfreich, im Rahmen dieser Aktuellen Stunde
auch noch einmal einen Blick darauf zu werfen, wo wir
herkommen und wo wir heute stehen.

Der Ausstoß an schädlichen Stickoxiden ist in den
vergangenen Jahren erheblich reduziert worden. Wir ha-
ben hier enorme Fortschritte erreicht. Die Stickstoffoxid-
emissionen sind von 1990 bis 2013 um 56 Prozent zu-
rückgeführt worden. Das entspricht einem Volumen von
1,6 Millionen Tonnen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Den maßgeblichen Anteil an dieser drastischen Reduzie-
rung hat der Verkehrsbereich mit einem Minus von fast
1 Million Tonnen geliefert – und das im Übrigen trotz
nicht unerheblich gestiegener Verkehrsleistungen.

Trotzdem ist eines klar: Die Stickstoffoxidemissionen
müssen weiterhin abgesenkt werden. Dafür ist nach un-
serer und nach meiner Auffassung das Aussperren von
Diesel-Pkws aus den Innenstädten allerdings nicht hilf-
reich. Ich halte einen solchen Bann für unsozial. Das ist
heute interessanterweise auch einmal in einem Beitrag
der Linksfraktion angeklungen. Er schränkt die Mobilität
ein und verursacht einen nicht unerheblichen finanziel-
len Schaden für Handwerksfirmen, Mittelständler – mei-
ne Kollegin Marie-Luise Dött hat darauf richtigerweise
schon hingewiesen – und sozial schwächer gestellte Pri-
vathaushalte.


(Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist die gleiche Argumentation wie bei der Einführung des Katalysators!)


Mich stört an der Zielrichtung des am Wochenende
zur Diskussion gestellten Vorschlages vor allen Dingen
eines, nämlich die Unklarheit, die damit bewirkt worden
ist. Es ist eben leider nicht ganz konkret gesagt worden,
was eigentlich intendiert ist und wie es erreicht werden
soll.

Bei aller grundsätzlichen Zustimmung will ich inso-
fern auch etwas Kritik an Ihnen, Frau Bundesumweltmi-
nisterin, üben. Ich finde, die Ausführungen auf der Inter-
netseite Ihres Hauses sind hier nicht hilfreich. Auf die
Frage, für welche Fahrzeuge es in Zukunft Beschränkun-
gen geben soll, wird dort wortwörtlich ausgeführt – ich
zitiere –:

Das steht noch nicht endgültig fest. Das Bundesum-
weltministerium wird das mit den Ländern und den
anderen Ressorts genau prüfen. Betroffen sein wer-
den Dieselfahrzeuge mit hohem Stickoxidausstoß.
Es wird Ausnahmeregelungen geben, um soziale
Härten zu vermeiden.


(Ulli Nissen [SPD]: Wir wollen doch auch beteiligt werden, oder nicht?)


Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks






(A) (C)



(B) (D)


Das ist zwar in der Sache richtig, aber eines ist doch
vollkommen klar: Wenn man eine solch unklare Position
schriftlich niederlegt, dann führt das genau zu den Reak-
tionen, die wir am vergangenen Wochenende in der Öf-
fentlichkeit erlebt haben.


(Ute Vogt [SPD]: Quatsch!)


Das war vorhersehbar, und deswegen halte ich das für
verkehrt. Das ist der sachlichen Diskussion im Übrigen
auch sehr abträglich.


(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was wollen Sie denn machen? Erzählen Sie einmal, was Sie machen! Wie wollen Sie denn die Gesundheit der Menschen schützen?)


Meine Damen und Herren, wir dürfen eines nicht voll-
kommen aus dem Blick verlieren: Wir reden hier über
die Mobilität von rund 13 Millionen Fahrern eines Die-
selfahrzeugs, und es ist durchaus nicht auszuschließen,
dass auch 3 Millionen Fahrer etwas älterer Fahrzeuge mit
einem Ottomotor ebenfalls betroffen sein werden. Des-
wegen ist diese öffentliche Diskussion, wie gesagt, nicht
vollkommen überraschend.


(Dr. Matthias Miersch [SPD]: Was wollen Sie denn?)


Ich fand im Übrigen die Einlassung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen ganz interessant. Die Kollegin
Haßelmann – ich kann sie gerade nicht sehen – hat am
12. April 2016 eine interessante Pressemitteilung dazu
verbreitet. Das Bemerkenswerte an dieser Pressemittei-
lung ist Folgendes: Abweichend von allen bisherigen
Redebeiträgen taucht ein Begriff in dieser Pressemittei-
lung überhaupt nicht auf, nämlich der Begriff „Gesund-
heitsschutz“. Diesen lesen Sie in dieser Pressemitteilung
nicht. Es geht vielmehr um ein weiteres Skandalisieren
der Vorgänge bei VW. Dafür verwenden Sie im Grunde
genommen die gesamte Pressemitteilung.


(Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine dünne Argumentation!)


Ich halte das auch insofern für nicht geboten, weil ei-
nes vollkommen unbestritten ist: Die Aufklärungsarbeit,
die die Bundesregierung leistet, ist besonders zu loben.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo leistet die Bundesregierung Aufklärungsarbeit?)


Sie aber verunsichern mit einer solchen Stellungnahme
vor allen Dingen die 620 000 Beschäftigten bei Volkswa-
gen und die vielen Hunderttausend Beschäftigten bei den
Zulieferunternehmen. Ich glaube, man kann heute sagen,
dass Volkswagen die Lektion gelernt hat.


(Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! – Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Insofern braucht es einer solchen Diffamierung nicht.

Meine Damen und Herren, wir sagen: Finger weg von
dieser nicht ausgegorenen Idee einer Plakette.


(Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was wollen Sie denn?)


Wir sagen auch, dass es andere Bereiche gibt, denen wir
uns eher zuwenden sollten. Die Kollegin Nissen, die
mich so ambitioniert anschaut, und ich haben das Thema
von in Bezug auf Emissionen vollkommen unregulierten
Nebenaggregaten bei Kühlfahrzeugen diskutiert; darüber
sind wir uns im Übrigen einig. Ein solches Aggregat hat
den fast zweihundertfachen Stickoxidausstoß, den ein
moderner Diesel-Pkw hat. Ich glaube, es lohnt sich, auch
dort einmal anzusetzen.


(Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen Sie doch! Sie stellen doch die Regierung!)


Das sind unsere Vorschläge.

In aller Kürze zusammengefasst:

Erstens. Eine moderne und umweltbewusste Mobili-
tätspolitik darf sich eben nicht nur auf Verbote und Ein-
schränkungen beziehen. Wir wollen die Bürgerinnen und
Bürger nicht verunsichern.

Zweitens. Wir müssen einen klugen und diskriminie-
rungsfreien Ansatz wählen.

Drittens. Eins ist vollkommen klar: Transparenz bei
Prüfwerten nachhalten, ambitionierte, aber erreichbare
Emissionsvorgaben, intelligente Verkehrssteuerung, ein
attraktiver öffentlicher Personennahverkehr sowie das
Fordern und Fördern von emissionsarmen Fahrzeugen
sind der richtige Weg. Den wollen wir als Unionsfraktion
beschreiten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1816409300

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat der Kollege

Lutze von der Fraktion Die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Thomas Lutze (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1816409400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir sind uns sicherlich darin einig, dass Feinstaub und
Stickoxide für die Gesundheit von uns Menschen alles
andere als förderlich sind, im Gegenteil. Aber manch-
mal zeigt allein schon die Verwendung eines Begriffs
wie Feinstaub, dass das Problem und die Brisanz eher
verharmlosend wahrgenommen werden. In der gesell-
schaftlichen Wahrnehmung gelten nämlich die Gefahren
von Feinstaub oftmals als klein, weil darin eben das Wort
„fein“ steckt. Dabei sind Feinstaub und vor allen Dingen
zunehmend auch die Stickoxide für die Menschen le-
bensgefährlich. Daher ist alles zu unternehmen, dass die
Konzentrationen, gerade in den Innenstädten, wo viele
Menschen leben, deutlich gesenkt werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Carsten Müller (Braunschweig)







(A) (C)



(B) (D)


Wenn man sich heute zum Beispiel eine Schachtel Zi-
garetten kauft, dann weiß man in der Regel, was man sei-
nem Körper mit dem Rauchen antut. Man muss nur auf
die Schachtel gucken. Wenn man aber, ohne zu rauchen,
durch eine Innenstadt läuft, kann man nur erahnen, was
danach in der eigenen Lunge passiert. Das ist für mei-
ne Begriffe ein unmöglicher Zustand, weil beide Sachen
fast gleich gefährlich sind.

Doch was passiert in der verkehrspolitischen Realität?
Während die Autos, glaubt man der Automobilindustrie,
immer sauberer werden, nimmt die Stickoxidkonzen-
tration in vielen Städten eher zu. Vielerorts werden die
gesetzlichen Grenzwerte dauerhaft und deutlich über-
schritten, teilweise sogar um ein Vielfaches. Um dieses
Problem zu lösen, helfen uns keine neuen Plaketten, Um-
weltzonen oder halbherzige Fahrverbote. Wir brauchen
vielmehr ein Umdenken in der Verkehrspolitik.


(Beifall bei der LINKEN – Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Beides!)


Drei Punkte: Erstens. Mobilität kann für meine Be-
griffe nicht bedeuten, dass ich mit meinem Auto jeder-
zeit überall hinfahren kann. Aber nicht Fahrverbote sind
letztendlich zielführend, sondern ein attraktives Angebot
im ÖPNV. Solange Busse und Bahnen von vielen Men-
schen als zu teuer wahrgenommen werden, bleiben diese
leider Gottes nun einmal hinter ihrem eigenen Lenkrad
sitzen. Um den ÖPNV flexibel und flächendeckend zu
gestalten, muss der Bund endlich mehr Geld in die Hand
nehmen. Die Umweltminister der Länder haben auf ihrer
Konferenz zum Thema „Automobile Abgasemission mi-
nimieren“ deutlich gemacht, dass hier der Bund gefragt
ist.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Aber auch eine Politik der kurzen Wege ist wichtig.
Eine Politik, die kurze Wege und regionale Wirtschafts-
kreisläufe fördert, kann helfen, Verkehr zu vermeiden
und damit die Umweltbilanz zu verbessern. All das pas-
siert leider Gottes in der Großen Koalition derzeit nicht.

Zweitens. Wir brauchen eine echte Förderung der so-
genannten E-Mobilität im Pkw-Bereich. Da helfen uns
keine Kaufprämien für vollkommen überteuerte E-Au-
tos. Da müssen schärfere Gesetze und klarere Regeln her.

Ein kleines Beispiel für ein kleines Segment: Was
spricht denn dagegen, dass man ab 2017 keine Taxis neu
zulässt, die noch einen Dieselmotor haben, oder ab 2019
überhaupt keine Taxis mehr neu zulässt, die noch einen
Verbrennungsmotor haben?

Ich gebe Ihnen Brief und Siegel: Der Marktführer im
Taxiautomobilebereich, Mercedes Benz, braucht keine
14 Tage, um ein marktfähiges Auto auf die Straße zu stel-
len. Wenn wir das aber nicht machen, werden wir noch
zehn Jahre darauf warten, bis diese Firma tatsächlich
Elektroautomobile herstellt, die konkurrenzfähig sind
und als Taxi genutzt werden können.

Drittens. Die Dieselsubventionen. Dass Dieselabgase
deutlich gefährlicher sind als die von anderen Verbren-
nungsmotoren, hat sich herausgestellt und ist unstrittig.

Trotzdem ist die Energiesteuer – früher Mineralölsteu-
er – für Dieselfahrzeuge circa 17 Cent pro Liter niedriger
als für Benzin.

Warum nutzen wir nicht die Chance der derzeitig
niedrigen Kraftstoffpreise und gleichen die Steuersätze
an? Um eines ganz deutlich zu sagen: Damit es zu keiner
zusätzlichen Belastung der Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer kommt, die täglich auf ihr Auto angewiesen
sind und noch einen Diesel haben, kann man problemlos
in einem zweiten Schritt den Kfz-Steuersatz für Diesel-
fahrzeuge auf den für Benzinautos senken.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


– Dieser Vorschlag ist auch bei der Linken nicht ganz
unumstritten.

Ich glaube, dass solch ein Schritt dazu führen würde,
dass viele Menschen, die sich ein neues Auto kaufen,
ernsthaft darüber nachdenken, ob es tatsächlich ein Die-
sel sein muss oder ob man nicht auch auf eine andere
Antriebsart setzen kann.

Mein Fazit ist: Ich denke schon, dass wir im Bundes-
tag das Problem erkannt haben. Da muss man schon blind
sein, sollte man behaupten, dass das nicht der Fall ist.
Zudem besteht Einigkeit darüber, dass gehandelt werden
muss. Damit sich aber die Luft in unseren Innenstädten
tatsächlich deutlich verbessert, ist Handeln gefragt. Die
Oppositionsparteien haben Vorschläge hierzu gemacht.
Jetzt muss auch die Regierung handeln.

Ein herzliches Glückauf! Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1816409500

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin spricht die Kol-

legin Ulli Nissen von der SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Ulli Nissen (SPD):
Rede ID: ID1816409600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Wir besprechen in der heutigen Aktuellen
Stunde das wichtige Thema der gesundheitsgefährdenden
Abgasbelastung in vielen deutschen Städten. Ich bin der
Ministerin Barbara Hendricks und der Umweltminister-
konferenz dankbar, dass sie sich auf ihrer Sonderkonfe-
renz dem Thema „Automobile Abgasemission minimie-
ren, Luftreinhaltepolitik konsequent weiterentwickeln,
Verantwortung für den Gesundheitsschutz ernst nehmen“
gewidmet haben. Das Thema Gesundheitsschutz hat für
mich eine ganz hohe Priorität.

Wir sprechen hier nicht zum ersten Mal über das Pro-
blem der Luftverschmutzung in unseren Städten. Das
Thema ist seit „Dieselgate“ immer mehr in den Fokus
gerückt. Die Abgasmanipulationen hatten zur Folge, dass
die Grenzwerte zwar im Test, aber nicht in der Realität
eingehalten werden. Das bedeutet, dass die Schadstoff-
belastung natürlich höher ist.

An zwei Drittel aller verkehrsnahen Messstationen
wurde 2015 der EU-Grenzwert von Stickstoffdioxid von

Thomas Lutze






(A) (C)



(B) (D)


40 Mikrogramm pro Kubikmeter überschritten. Bundes-
weit liegt Stuttgart bei NOX mit 87 Mikrogramm an der
Spitze. Aber auch in der Friedberger Landstraße, mitten
in meinem Frankfurter Landkreis, lagen die Werte mit
53 Mikrogramm deutlich über den Grenzwerten.


(Zuruf von der SPD: Das ist bei Preungesheim!)


In vielen Städten gab es Feinstaubalarm, in diesem Jahr
sogar schon mehrfach in Stuttgart. Wegen der Über-
schreitung der Grenzwerte läuft auch ein Vertragsverlet-
zungsverfahren der EU gegen Deutschland.

Grenzwerte gibt es nicht aus Spaß, sondern aus einem
wichtigen Grund. Grenzwerte gibt es, weil deren Über-
schreitung eine extreme Belastung für die Gesundheit ist.
Traurige Wahrheit ist auch, dass es mehr Tote durch Ver-
kehrsabgase als durch Verkehrsunfälle gibt. Die EU geht
davon aus, dass jedes Jahr mehr als 10 000 Menschen in
Deutschland vorzeitig an den Folgen von NOX-Konzen-
trationen in der Atemluft sterben. Mehr als 10 000 Men-
schen werden also schmerzlich vermisst von ihren Ange-
hörigen und Freunden. Auch denen gegenüber haben wir
eine Verantwortung, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Wir wissen, dass nicht nur die Dieselfahrzeuge für die
Emissionen verantwortlich sind, aber diese verursachen
die meisten NOX-Emissionen. Will man die Emissionen
senken, muss man auch an die Hauptverursacher gehen.
Das heißt, wir brauchen schnellstmöglich saubere Fahr-
zeuge.

Was können wir tun? Die Sonder-Umweltministerkon-
ferenz hat eine Reihe von Vorschlägen formuliert. Sie hat
unter anderem vorgeschlagen, dass Manipulationen auf-
geklärt werden sollen, dass Vorschriften auf EU-Ebene
wasserdicht verfasst und dann auch eingehalten werden
sollen, dass Sanktionen ausgesprochen werden sollen,
wenn das nicht passiert. Außerdem sollen die Hersteller
in die Pflicht genommen werden. Sie müssen die Kosten
für die Kontrollen übernehmen.

Ich glaube, hierüber müssen wir nicht diskutieren. Das
unterstützen sicherlich alle. Klar ist: Wir müssen handeln.
Die Fahrzeuge und die Städte müssen sauberer werden.

Zunächst sehe ich ganz klar die Automobilindustrie,
also die Hersteller, in der Pflicht. Dies sehe ich aber nicht
als Belastung, sondern als Herausforderung und als gro-
ße Chance, die unsere großartige deutsche Automobilin-
dustrie sicherlich hervorragend bewältigen wird. Denn
eine emissionsarme oder sogar emissionsfreie Mobilität
ist die Zukunft. Das sollten wir alle inzwischen begriffen
haben und es als große Chance sehen, welche internatio-
nale Vorreiterrolle wir hier einnehmen können.

Wir brauchen emissionsarme Technologien. Das kön-
nen alternative Kraftstoffe oder Antriebe wie bei der
E-Mobilität sein. Ich versuche meinen Teil zur Luftrein-
heit beizutragen. Ich bin auch im Winter, gut warm ange-
zogen, meist mit meinen Elektrofahrzeugen – dem Roller
oder dem Twizy – unterwegs.

Wir müssen sicherlich weitere Schadstoffquellen iden-
tifizieren und auch dort ansetzen. Baumaschinen, Busse
und andere Nutzfahrzeuge sollten wir ebenfalls betrach-
ten. Ich hatte Kontakt zu einem Hersteller – Herr Müller,
ich glaube, Sie hatten auch Kontakt zu ihm –, der emis-
sionsfreie Kühlanlagen für Kühltransporte entwickelt.
Auch Busse fahren teilweise schon mit emissionsfreien
Klimaanlagen. Das sind zwar alles nur kleine Schritte,
aber daran müssen wir arbeiten. Solche Technologien
müssen wir unterstützen, damit sie weiterentwickelt wer-
den können.


(Beifall bei der SPD)


Wir brauchen aber auch neue, kluge Verkehrskonzep-
te mit weniger Autos in den Städten. Das geht aber nur
mit einem besseren ÖPNV. Wollen wir weiter jahrzehn-
telang Autoschlangen, die morgens in die Ballungsräume
hi neinkriechen und abends wieder hinaus? Wollen wir
Innenstädte, in denen in Stoßzeiten jeder Fahrradfahrer
schneller ist als die Autofahrer, die im Stau stehen? Ist das
eine moderne, innovative, nachhaltige und umweltfreund-
liche Verkehrspolitik? Sind das die Städte der Zukunft?

Nein, wir brauchen insgesamt weniger Autos in den
Städten. Wir brauchen nicht nur weniger Dieselfahrzeu-
ge, sondern allgemein einen besseren, verlässlicheren
ÖPNV. Wenn der ÖPNV gut funktioniert, lassen vie-
le Menschen gerne ihre Autos stehen. Hier müssen wir
mehr Geld in die Hand nehmen. Hier sollten die Kommu-
nen auch die nötige Unterstützung bekommen, um das zu
leisten. Denn wir müssen etwas tun. Es gibt viele Stellen,
an denen wir ansetzen können, damit Mobilität moder-
ner, innovativer und vor allem auch umweltfreundlicher
wird. Das ist unser aller Aufgabe.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Thomas Lutze [DIE LINKE])



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1816409700

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat der Kollege

Oliver Krischer von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816409800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich glaube, man muss noch einmal klar sagen, worüber
wir gerade reden: Es geht um 10 000 Menschen jährlich
in Deutschland, die vorzeitig sterben, weil wir zu hohe
Emissionen im Verkehrssektor haben. Ich finde, jede Bun-
desregierung und jeder Minister dieser Bundesregierung
müsste alles Notwendige tun, damit diese Zahl zurück-
geht. Das ist die Herausforderung, vor der wir stehen. Da-
rum müssen wir uns kümmern, aber dazu kann ich bisher
vonseiten dieser Bundesregierung nur sehr, sehr wenig
feststellen. Das muss einmal klar gesagt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Thomas Lutze [DIE LINKE])


Herr Müller, Sie haben eben gesagt, die Stickoxid-
emissionen in Deutschland seien seit 1990 gesunken. Ja,

Ulli Nissen






(A) (C)



(B) (D)


sie sind gesunken, aber nur auf dem Papier. In der Reali-
tät sind sie gestiegen, weil die Fahrzeuge diese Werte nur
auf dem Rollenprüfstand einhalten. Aber wenn sie drau-
ßen auf den Straßen in den Innenstädten fahren, steigen
die Emissionen. Genau das ist das Problem. Dass Sie das
immer noch nicht kapiert haben und weiter das Märchen
vom sauberen Diesel erzählen, zeigt, dass immer noch
nicht bei Ihnen angekommen ist, wo das Problem liegt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich sage an der Stelle: Das Problem, dass wir in den
deutschen Städten diese hohe Stickoxidbelastung ha-
ben, verantwortet Alexander Dobrindt. Denn er hätte als
Verkehrsminister in der Vergangenheit jede Möglichkeit
gehabt, auf die Hinweise einzugehen, sie zu überprüfen
und Veränderungen vorzunehmen. Das hat er aber nicht
getan, meine Damen und Herren. Damit trägt er die poli-
tische Verantwortung dafür, was dort passiert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ulli Nissen [SPD]: Da hast du nicht ganz unrecht!)


Frau Hendricks, ich hatte, ehrlich gesagt, vor, Sie zu
loben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ulli Nissen [SPD]: Dann mach das auch!)


Ich finde es gut, dass Sie die 16 Umweltministerinnen
und Umweltminister der Länder – übrigens parteiüber-
greifend; darunter sind auch zwei von der CDU, und es
gibt sogar eine CSU-Umweltministerin; ich dachte, in
Bayern haben die so etwas gar nicht –


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Wir haben es erfunden, Herr Krischer!)


unterstützt haben, weil nämlich in dem zuständigen Res-
sort der Bundesregierung nicht gehandelt wird. Das war
in Ordnung. Jetzt sagen Sie: Herr Dobrindt macht schon
seine Arbeit. – Meine Damen und Herren, wir müssten
nicht über eine blaue Plakette reden, würde Herr Dobrindt
seine Arbeit machen. Das ist die Wahrheit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Dass Sie sich jetzt vor ihn stellen, lässt mich daran zwei-
feln, dass Sie tatsächlich ernsthaft handeln wollen. Ich
frage mich, ob das wieder nur eine Shownummer ist:
Man hat zwar etwas gefordert, aber am Ende setzt sich
der Kabinettskollege in der Verkehrspolitik durch. Das
darf nicht sein. Es muss an dieser Stelle endlich voran-
gehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich finde es gut, dass die Umweltminister 32 Punk-
te beschlossen haben. Einer davon ist die blaue Plaket-
te. Angesichts der Pöbeleien von Herrn Dobrindt, der
meint, das sei mobilitätsfeindlich und es gehe hier um
eine soziale Frage, bekommt man ein Déjà-vu. Die glei-
chen Debatten haben wir geführt beim Katalysator, beim
Rußfilter und bei der grünen Plakette. Am Ende wurde
alles eingeführt, weil es notwendig war. Das hat Erfolge
bei der Bekämpfung des Feinstaubs gebracht. Deshalb
werden wir nun auch an dieser Stelle Druck machen. Es

geht doch nicht darum, die Autos aus den Städten zu ver-
bannen, sondern darum – das sagt auch die CSU-Minis-
terin aus Bayern, Herr Kollege Straubinger –, dass die
Kommunen endlich ein Instrument in die Hand bekom-
men, mit dem sie handeln können, wenn die Grenzwerte
überschritten werden; das ist der entscheidende Punkt.
Das macht Sinn. Wenn Herr Dobrindt seinen Job machen
würde, erledigte sich das Problem von alleine. Dann
brauchen wir gar keine blaue Plakette.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Der macht den schon!)


Wie wenig Herr Dobrindt seinen Job macht, möchte
ich anhand eines aktuellen Beispiels aufzeigen. Die Au-
tomobilunternehmen in Deutschland sagen ganz offen:
Unter 10 Grad Außentemperatur wird die Abgasreini-
gungseinrichtung in Dieselfahrzeugen ganz oder teil-
weise abgeregelt. Wir haben in Deutschland eine Durch-
schnittstemperatur von 10 Grad. Das heißt, sechs Monate
im Jahr funktionieren die Abgasreinigungseinrichtungen
nicht. Wir haben den Wissenschaftlichen Dienst des
Bundestages beauftragt, das rechtlich zu bewerten. Der
Dienst sagt glasklar: Das ist mit EU-Recht nicht verein-
bar; das ist illegal. – Nun habe ich Herrn Dobrindt und
sein Ministerium gefragt, was die Bundesregierung tut
und welche Aktivitäten entfaltet werden. Die Antwort,
die mir gestern gegeben wurde, lautete, man habe sich
damit noch nicht befasst und müsse sich das nun erst ein-
mal anschauen. Frau Hendricks, wenn Sie sich ein sol-
ches Verhalten zu eigen machen, dann verlieren Sie jede
Glaubwürdigkeit bei diesem Thema.


(Ulli Nissen [SPD]: Wann hat sie das gemacht?)


Der Kollege Dobrindt will nicht aufklären, sondern die
Probleme aussitzen. Da erwarte ich von Ihnen, dass Sie
Ihre Rolle als Umweltministerin ernst nehmen und nicht
nur in der Öffentlichkeit sagen, dass wir etwas tun müs-
sen, sondern sich endlich auch mit Ihren Umweltminis-
terkollegen in den Ländern gegen den Herrn Bundesver-
kehrsminister durchsetzen. Das ist die Herausforderung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich komme zu meiner Schlussbemerkung. Wir brau-
chen neben Aufklärung und Transparenz endlich nach-
haltige Mobilität. Wir brauchen eine Verkehrspolitik,
die Umweltprobleme und Klimaschutz berücksichtigt.
Wir brauchen mehr Elektromobilität. Wir brauchen neue
Technologien und den ÖPNV. Heute Morgen haben wir
über den Flugverkehr diskutiert. Aber egal worüber wir
diskutieren, das Verkehrsministerium reagiert nicht ent-
sprechend. Es geht ausschließlich in die falsche Rich-
tung. Das ist eine falsche Politik. Ich habe inzwischen
die Hoffnung aufgegeben, dass der Mut noch einmal Ein-
zug in dieses Verkehrsministerium hält. Frau Hendricks,
ich würde mich freuen, wenn Sie sich durchsetzten. Aber
nach Ihrem heutigen Redebeitrag bin ich noch skepti-
scher geworden.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Oliver Krischer






(A) (C)



(B) (D)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1816409900

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat der Kollege

Karsten Möring von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Karsten Möring (CDU):
Rede ID: ID1816410000

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich
mir die Rede von Herrn Krischer vor Augen führe, dann
stelle ich fest: Er arbeitet sich wieder einmal an seinem
Lieblingsfeind, dem Bundesverkehrsminister, ab. Aber
wir sprechen nun über ein umweltpolitisches Problem.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist der Gabriel, mein Lieblingsfeind!)


– Das dürfen Sie. Wenn das für Ihre seelische Hygiene
notwendig ist, dann bitte schön. Er wird das aushalten
können.


(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, Sie irren sich! Wenn, dann ist es Herr Gabriel!)


– Wenn Sie zwei zur Auswahl haben, dann haben Sie es
ja gut. Wenn es nicht mehr sind, dann sind wir auch zu-
frieden, Herr Hofreiter.

Es geht um die umweltpolitischen Fragen im Zu-
sammenhang mit den Abgasproblemen im Verkehr. Ich
möchte eines vorausschicken: Ich hätte mir nicht vorstel-
len können, dass ich einmal – und sei es nur partiell – mit
der Fraktion Die Linke bzw. einem Teil der Fraktion Die
Linke – in diesem Fall muss ich Herrn Lenkert nennen –
übereinstimme.


(Ulli Nissen [SPD]: Das ist jetzt aber gefährlich!)


Denn es geht tatsächlich darum, die Schadstoffwerte zu
senken. Es geht aber nicht darum, die Autofahrer, die im
Vertrauen auf die Rahmenbedingungen, die wir als öf-
fentliche Hand bei der Besteuerung von Diesel gesetzlich
gesetzt haben – wir haben diese Rahmenbedingungen
nicht ohne Grund gesetzt –, bestimmte Autos gekauft,
ihre Mobilität entsprechend ausgerichtet und darauf ihr
Pendlerverhalten abgestimmt haben, zum Beispiel durch
eine Steuererhöhung zu bestrafen, Herr Lutze. Was ma-
chen Sie denn, wenn die Preise wieder einmal steigen?
Das ist doch keine Lösung.

Warum haben wir denn Diesel auf diese Weise be-
günstigt? Doch deswegen, weil er andere Vorteile bietet.
Wir schauen jetzt auf die Nachteile, was NOX angeht,
haben aber aus dem Blick verloren, dass die geringeren
Verbrauche, die CO2-Emissionen, bei Diesel eben auf
der Vorteilsseite stehen. Nun hindert uns niemand daran,
täglich klüger zu werden. Aber wenn wir das über Jahre
hinweg so praktiziert haben, dann können wir das nicht
von einem Tag auf den anderen ändern. Wir können auch
keinem Pendler sagen: Du bekommst keine blaue Plaket-
te und darfst deshalb genau in den Bereich der Stadt nicht
fahren, in dem dein Arbeitsplatz liegt, aber die 50 Kilo-
meter bis zur Stadt darfst du fahren; dann musst du um-
steigen.

Erhöhung der Regionalisierungsmittel hin oder her,
ÖPNV-Verbesserungen hin oder her, beides finde ich
richtig, für beides trete auch ich ein, nur: Das löst un-
ser Problem nicht. Was löst unser Problem? Wir müssen
uns auf eine ganze Reihe von Maßnahmen verständigen.
Die Umweltministerkonferenz – Herr Krischer, Sie ha-
ben es eben gesagt – hat 32 Maßnahmen genannt. Eine
davon ist die blaue Plakette. Ich meine, das ist nicht die
erste Wahl. Es geht sicher darum, technische Fortschritte
in der Automobilerzeugung, in der Filtertechnik und all
diesen Dingen zu machen, um das Problem in den Griff
zu bekommen. Es gibt aber darüber hinaus Dinge, die die
Kommunen machen können.

Ich will einen kurzen Ausflug in meine Heimatstadt
Köln machen. Auch wir haben das Problem mit der Um-
weltzone. Wir haben das Problem mit dem Feinstaub
gehabt, wir haben das Problem mit Stickoxid, und wir
haben Hotspots wie manche andere Städte auch. An ei-
nem dieser Hotspots wird eine intelligente Lösung aus-
probiert, nämlich eine umweltsensitive Ampelanlage, die
den Verkehrsstrom in Abhängigkeit von der Schadstoffsi-
tuation steuert; denn ein entscheidender Punkt beim Ver-
kehr in der Stadt ist doch, dass die wesentlich höheren
Emissionen bei stehenden Fahrzeugen im Leerlauf redu-
ziert werden müssen.

Das heißt also: Ein wesentlicher Punkt ist, dass wir den
Verkehr verflüssigen. Das machen wir mit vielen kleinen
Maßnahmen. Eine Abbiegespur, die einen Rückstau ent-
schärft, bringt schon eine ganze Menge, daneben brau-
chen wir eine konstruktive und kreative Straßenplanung
und Ampelplanung in der Kommune.

Ich nenne noch ein Zweites. Liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen, ich weiß nicht, warum Sie
nicht darauf gekommen sind: mehr Grün in die Stadt,
nicht mehr Grüne in die Stadt.


(Ulli Nissen [SPD]: Mehr Rot in die Stadt! Völlig richtig!)


– Okay, in Grenzen. In Köln haben wir beides. Wir ar-
beiten dort auch mit den Grünen seit einiger Zeit sehr gut
zusammen.

Mehr Grün in die Stadt heißt zum Beispiel: Eine aus-
gewachsene Buche hat 15 000 Quadratmeter Blattober-
fläche und filtert so viele Schadstoffe aus der Luft, wie
ein Pkw mit 20 000 Kilometer Fahrleistung in einem Jahr
erzeugt. Köln hat 76 000 Straßenbäume; wir haben kein
Feinstaubproblem, nicht nur wegen der Straßenbäume,
aber auch deswegen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Damit hat Konrad Adenauer angefangen!)


– Konrad Adenauer hat das schon vor hundert Jahren in
die Wege geleitet und richtig gesagt: Grün in der Stadt
erhöht den Lebenswert.

Wo man keine Straßenbäume pflanzen kann, kann
man Dachbegrünung und Fassadenbegrünung in Angriff
nehmen. Mehr Grün in die Stadt – das ist ein wesentli-






(A) (C)



(B) (D)


cher Punkt. Das geht schneller als alle anderen mögli-
chen Maßnahmen.


(Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bis eine Buche ausgewachsen ist, dauert es eine ganze Zeit!)


– Natürlich, aber alle Maßnahmen außer einem Fahr-
verbot brauchen eine gewisse Zeit, auch technische Ent-
wicklungen.

Wenn sich ein Problem über eine bestimmte Zeit auf-
baut, brauchen wir in der Regel genauso viel Zeit, um es
wieder abzubauen. An dieses Problem gehen wir heran,
und zwar mit Kreativität. Die erwarten wir von den Fahr-
zeugherstellern, und die erwarten wir von den Planern
auf der kommunalen Ebene. Das ist der Schlüssel zur Lö-
sung. Wenn wir über andere Quellen reden wie Bauma-
schinen und mobile Geräte – da hat die EU-Kommission
jetzt gerade etwas auf den Weg gebracht –, dann können
wir auch außerhalb des Verkehrs die Quellen erfassen,
die einen wesentlichen Beitrag leisten.

Mein Appell heißt: Mehr Kreativität. Dann kommen
wir ein ganzes Stück voran in dieser Frage.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1816410100

Vielen Dank. – Bevor als nächster Redner Arno Klare

von der SPD-Fraktion das Wort ergreift, möchte ich aus
gegebenem Anlass die Redner bitten, die Redezeit wirk-
lich einzuhalten.


(Arno Klare [SPD]: Das tue ich!)


– Arno Klare, das wird Ihnen gelingen; genau. – Bitte.


(Beifall bei der SPD)



Arno Klare (SPD):
Rede ID: ID1816410200

Frau Präsidentin, ich werde mich an die Redezeit hal-

ten, die jetzt gerade zu laufen angefangen hat.

Wir müssen uns einmal die Fakten anschauen. Es
gibt 514 Messstationen in der Bundesrepublik Deutsch-
land. Sie stehen natürlich an verkehrlichen und Emissi-
ons-Hotspots; so ist die Verteilung. An 73 Prozent dieser
Messstationen wurde im letzten Jahr – das kann man
beim Umweltbundesamt nachlesen; die Statistik kann
man sich über die Exceltabelle und Auswertungsfilter an-
zeigen lassen – der Grenzwert unterschritten. In 27 Pro-
zent wurde der Grenzwert von 40 Mikrogramm NOX im
Jahresdurchschnitt überschritten.

67 Prozent – ein bisschen viele Zahlen, ich weiß; aber
ab und zu muss es mal sein – der NOX-Belastung resul-
tieren aus dem Verkehr. Wenn das so ist, dann muss man
sich klarmachen: 33 Prozent kommen nicht aus dem Ver-
kehr, sondern aus anderen Quellen. Auch die muss man
betrachten. Also: Es ist nicht nur der Minister für Verkehr
zuständig – er ist schon für einen großen Teil zuständig –,
es sind auch noch andere zuständig.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber in den hochbelasteten Innenstädten ist es der Verkehr!)


71 Prozent von diesen 67 Prozent resultieren aus dem
Pkw-Verkehr und nur ein kleinerer Teil, 22 Prozent, aus
den Nutzfahrzeugen. Die Busse im öffentlichen Verkehr


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind schon lange Elektrobusse!)


sind relativ vernachlässigbar; ihr Anteil liegt nämlich bei
nur 5 Prozent. Gleichwohl gibt es relativ viele, die sich
darüber Gedanken machen. Die gerade schon erwähnte
Stadt Köln zum Beispiel – da bin ich vor einiger Zeit
gewesen – hat Elektrobusse eingeführt, um genau auf
den hauptbelasteten Strecken Entlastung zu schaffen –
zusätzlich zu den vielen Buchen und anderen Bäumen,
die da stehen.


(Kirsten Lühmann [SPD]: Hamburg hat Wasserstoffbusse!)


– Hamburg hat Wasserstoffbusse. – In Hannover – da bin
ich jetzt auch gewesen; Barbara Hendricks war ebenfalls
da – sind auch Elektrobusse eingeführt worden. Das ist
ein Weg, den man gehen muss.

Kirsten Lühmann, die den Zwischenruf gemacht hat,
hat mir gerade ein Buch geschenkt, das von Wasserstoff
handelt, von der Wasserstofftechnologie der Zukunft. Auf
einer Seite ist ein wunderschönes Bild: ein Ortsschild,
das besagt: Man muss von „Kurzfristig“ nach „Nachhal-
tig“ kommen. – Das ist der Punkt. Deshalb habe ich gera-
de davon geredet, dass die Einführung von Elektrobussen
ein Schritt ist, der gegangen werden muss; viele andere
Schritte sind auch schon genannt worden.

Ich bin nicht so weit, obwohl ich mich ein bisschen
mit Quantenphysik auskenne, dass ich weiß, dass Mess-
verfahren Zustände verändern können. Ich glaube nicht,
dass wir durch Messen oder durch RDE und all das die
NOX-Belastung reduzieren werden.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nachweisen, dass sie überschritten wird!)


Wer das glaubt, liegt wahrscheinlich völlig falsch. Wir
müssen sie real reduzieren. Reale Reduktion tritt nur ein,
wenn man ein ganzes Bündel von Maßnahmen ergreift,
das am Ende auch Wirkung erzeugt; vieles von dem ist
gerade schon genannt worden.

Die Ministerin hat dankenswerterweise darauf hin-
gewiesen, dass auch der öffentliche Verkehr gefördert
werden muss. Wir tun das; denn wir haben die Regiona-
lisierungsmittel von 7,3 Milliarden Euro auf 8 Milliarden
Euro hochgefahren. Wir haben die Dynamisierungsquote
auf 1,8 Prozent hochgefahren. All das ist Realität. Die
Forderung, auf 8,5 Milliarden Euro zu gehen, ist nicht
ganz unvernünftig. Wir haben die Mittel jedenfalls hoch-
gefahren. Wir haben auch die Mittel zur Verbesserung
der H2-Infrastruktur hochgefahren; das ist für die Zu-
kunft wichtig. Wir werden in dieser Legislaturperiode
die Gewährung des Steuervorteils für Gasfahrzeuge ver-
längern, über das Datum in 2018 hinaus. Auch das ist ein
wichtiger Beitrag. Wir werden so etwas wie Incentives,
Anreize, für den Einstieg in die E-Mobilität setzen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darauf warten wir seit zwei Jahren!)


Karsten Möring






(A) (C)



(B) (D)


Das ist nicht nur etwas für reiche Leute. Wir müssen die-
sen Markt öffnen. Die Niederlande machen es vor. Die
Niederlande, ein Nachbarland von Nordrhein-Westfa-
len – deshalb kenne ich mich da ganz gut aus –, haben
mehr E-Fahrzeuge auf den Straßen als wir in Deutsch-
land, und die Niederlande sind nur ungefähr so groß wie
Nordrhein-Westfalen.

Wir brauchen natürlich auch integrierte regionale
Mobilitätskonzepte, die die Umsteigemöglichkeiten zwi-
schen den einzelnen Mobilitätsformen verbessern, damit
es für die Bürger leichter wird. Deswegen werden wir
in dieser Legislaturperiode in allernächster Zukunft auch
ein Carsharing-Gesetz vorlegen, das sicherstellt, dass das
rechtssicher in die Mobilitätskonzepte der Kommunen
integrierbar ist.


(Beifall bei der SPD – Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, darauf warten wir auch! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darauf warten wir auch schon seit zehn Jahren, seit zwei Jahren in dieser Legislaturperiode!)


– Ich kann Ihnen in einem Privatissimum gern einmal die
juristischen Probleme erklären, die es dabei gibt.

Ich bin durchaus der Meinung, dass wir dort auf dem
richtigen Weg sind.

Das Thema „intelligente Verkehrssteuerung“ ist gera-
de schon angeklungen. Auch da müssen wir einen weite-
ren Schritt nach vorn tun. Sie wird ebenfalls aus Mitteln
der Bundesregierung gefördert und auch bei den For-
schungsinstituten vorangetrieben. Ich bin relativ sicher:
Wenn wir alle diese Maßnahmen zusammennehmen,
werden wir sozusagen die Kurzfristigkeit verlassen und
auf Nachhaltigkeit zusteuern können.

Danke.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das war auf den Punkt genau in der Zeit.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1816410300

Ich bedanke mich bei dem Kollegen, dass er das wirk-

lich auf den Punkt genau hingekriegt hat


(Ute Vogt [SPD]: Und noch was Gescheites gesagt!)


– und inhaltlich dann noch viele Aussagen getroffen hat,
kein Widerspruch. Ganz herzlichen Dank.

Der Kollege Artur Auernhammer von der CDU/
CSU-Fraktion hat das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Artur Auernhammer (CSU):
Rede ID: ID1816410400

Verehrte Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Meine

sehr verehrten Damen und Herren! Die Aufregung um
diese blaue Plakette war am Wochenende so groß, dass
sich gleich die Sitzbezüge des Plenarsaals so tief in blau

gefärbt haben, dass man regelrecht geblendet ist von die-
sem Blau.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wird wahrscheinlich die einzige Maßnahme der Bundesregierung sein!)


Ich weiß nicht, ob das die Aufregung eigentlich wert war.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die aktuelle
Idee, noch 2016 eine blaue Plakette einzuführen, ist nicht
ganz ausgegoren und für mich eine sehr kurzfristige Lö-
sung.


(Ulli Nissen [SPD]: Was hat denn der bayerische Umweltminister gesagt?)


– Ich sage es Ihnen noch, Frau Nissen, was Bayern für
eine Meinung hat. Ist vielleicht interessant für Sie.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau Scharf heißt die!)


Eine blaue Plakette kann bestenfalls nur Symptome
bekämpfen, nützt aber der Natur nicht. Ich glaube, Peter
Meiwald war es, der die Feinstaubdiskussion hier ange-
zettelt hat. Gerade die Diskussion um Feinstaub und die
daraus entstandene Gesetzgebung, die wir hier beschlos-
sen haben, hat dazu geführt, dass im Jahre 2015 – wir sind
ja alle Freunde regenerativer Energieformen und derglei-
chen – die Zahl der neu angeschlossenen Biomassehei-
zungen um 30 Prozent zurückgegangen ist. Gleichzeitig
ist die Zahl neuer Ölheizungen um 30 Prozent gestiegen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Das ist schlimm!)


Jetzt stellt sich die Frage: Ist das im Sinne von Klima-
schutz? Ist das in unserem Sinne? Insofern bitte ich, hier
mit dem nötigen Sachverstand, mit der nötigen Ruhe an
diese Diskussion heranzugehen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Bundesregierung fördert ja sogar Ölheizungen!)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, Kollege
Möring hat bereits den Themenkomplex „Mehr Grün
in die Stadt“ richtigerweise angesprochen. Wir hatten ja
gestern Abend auf Einladung der Frau Ministerin die Ge-
legenheit, zu sehen, welche guten Projekte auch hier in
Berlin beim Thema „Grün in der Stadt“ realisiert werden.
Mehr Grün hilft dem Naturschutz in der Stadt – ich beto-
ne: grüne Pflanzen und nicht grüne Politiker.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Beides! – Ulli Nissen [SPD]: Der Herr Möring hat das viel netter gemacht!)


– Ja, wir denken schon etwas weiter, was die Farbe Grün
anbelangt.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das interessiert mich jetzt brennend! Was ist das denn?)


– Herr Kollege, das diskutieren wir später aus.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, was wir in
erster Linie brauchen, sind innovative Technologien, die

Arno Klare






(A) (C)



(B) (D)


auch marktfähig sind. Wir haben sehr viele gute Ansätze
im städtischen Verkehr, sei es beim öffentlichen Perso-
nennahverkehr – hier gibt es verschiedene Antriebs-
formen und dergleichen – oder natürlich beim Thema
Elektromobilität. Elektromobilität ist eine Mobilität der
Zukunft. Nur aktuell sieht das noch anders aus: Wenn
ich mir ein Elektroauto kaufe und bei mir in der Regi-
on im Wahlkreis unterwegs bin, komme ich vielleicht zu
meinem Termin hin, aber nicht mehr nach Hause. Wir
brauchen hier endlich ein vernünftiges Netz an Ladestati-
onen, und wir brauchen hier noch eine wesentlich bessere
Technologie, die die Reichweite dieser Pkws wesentlich
erweitert. Hier muss noch sehr viel Innovation hineinge-
steckt werden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir
jetzt durch die Einführung einer blauen Plakette dazu
kommen, dass, wie es uns mancher Automobilklub vor-
gerechnet hat, bis zu 13 Millionen Pkws in Deutschland
nicht mehr in die Regionen dieser blauen Plakette hin-
einfahren können, dann müssen wir uns auch überlegen:
Wer kann sich das in Zukunft leisten? Das sind in erster
Linie die Besserverdiener, die sich neben dem Zweitau-
to noch ein drittes Auto, ein Elektroauto, leisten können.
Deshalb: Langfristig bessere Voraussetzungen für die
E-Mobilität schaffen, und langfristig wirtschaftlichere
Voraussetzungen schaffen! Das kann nicht durch eine
Einmalzahlung von ein paar Tausend Euro geschehen.
Das muss durch die Rahmenbedingungen geschehen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, innerhalb
der Städte finden Sie auch sehr viele andere Verbren-
nungsmotoren, zum Beispiel in Baumaschinen. Wenn
Sie sehen wollen, wie innovativ und fortschrittlich unse-
re deutsche Baumaschinenwirtschaft ist, gehen Sie nach
München und besuchen dort die bauma. Dort werden
sehr viele emissionsarme Projekte vorgestellt. Das ist,
glaube ich, beispielgebend.

Deshalb hat auch unsere bayerische Umweltministe-
rin – Frau Nissen, ich bin bei der bayerischen Umwelt-
ministerin; ich bitte um Gehör –


(Ulli Nissen [SPD]: Ja!)


gesagt, dass die blaue Plakette kurzfristig keine Lösung
sein kann. Es muss mittel- und langfristig gedacht wer-
den. Deshalb finde ich es vor allem wichtig, dass wir –
Umweltministerium und Verkehrsministerium – mitei-
nander diskutieren. Dann, glaube ich, finden wir auch
eine vernünftige Lösung.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1816410500

Vielen Dank. – Als nächster Redner spricht Detlev

Pilger von der SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Detlev Pilger (SPD):
Rede ID: ID1816410600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es wurde vielfach beschrieben: Wir stehen vor einer

Herausforderung in unserem Land, die uns alle betrifft.
Die Abgaswerte in der Luft sind derart hoch, dass unsere
Gesundheit und – das muss man auch betonen – die Ge-
sundheit unserer Kinder – weil sie eben noch klein sind,
trifft es sie besonders – gefährdet sind. Darum kann man
nicht herumreden. Das, was wir heute tun, muss schlicht
und ergreifend funktionieren. Man kann nicht warten, es
muss gehandelt werden. Und das tut unsere Bundesum-
weltministerin Barbara Hendricks.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Karsten Möring [CDU/CSU])


Für mich persönlich gibt es neben den zunächst kurz-
fristigen Maßnahmen, die ergriffen werden müssen, da-
mit die Abgaswerte gesenkt werden, noch die mittelfris-
tige Lösung; die halte ich für fast noch wichtiger. Woher
kommen denn die hohen Stickstoffdioxidwerte? Natür-
lich von den Kraftwerken und den Feuerungsanlagen,
aber auch zu einem großen Anteil aus dem Verkehr. Der
Verkehr hat uns in den letzten Monaten erhebliche Kopf-
schmerzen bereitet. Das wurde durch einen verheerenden
Abgasskandal und natürlich auch durch das Mahnverfah-
ren der EU ausgelöst. Die Abgasrichtwerte, die Mess-
verfahren, die Machenschaften der Automobilindustrie
stehen plötzlich und endlich im Fokus.

„Dieselgate“ hat uns einige schwerwiegende Proble-
me in Bezug auf unsere Autoindustrie vor Augen ge-
führt. So ist an jedem Negativen auch immer etwas Gu-
tes, nämlich in diesem Fall, dass „Dieselgate“ uns das
Problem der Abgaswerte vor Augen geführt hat und die
Elektromobilität hierdurch einen neuen Auftrieb erfahren
hat. Endlich kommt Bewegung in das Thema Elektro-
mobilität. Denn wir dürfen uns nichts vormachen: Die
Technik der Verbrennungsmotoren gehört eigentlich zum
Gestern und zur Vergangenheit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut! Klare Aussage!)


– Vielen Dank, Herr Krischer. Ich komme nachher auf
Sie zurück.

Wir müssen eine Transformation schaffen; denn wenn
wir über CO2-Emissionen reden, können wir die Emis-
sionen des Verkehrs nicht kleinreden, nur weil wir das
Land der Autobauer sind. Wir müssen neue Autos bauen,
und zwar solche, die ausschließlich mit Strom betrieben
werden und ihren Strom wiederum ausschließlich aus re-
generativen Quellen beziehen. Das ist unser Ziel, und das
wollen wir erreichen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da sind wir dabei!)


Wir müssen uns fragen, wie wir diese Transformation
schaffen können. Wir haben – die Umweltministerin hat
es zu Beginn der Regierungszeit betont – vor, bis 2020
1 Million solcher Fahrzeuge auf die Straßen zu bekom-
men. Das ist ein sehr ambitioniertes Ziel; das wissen
wir alle. Wir haben gegenwärtig lediglich 25 000 Fahr-
zeuge auf den Straßen. Da sehen wir, was wir in dieser
relativ kurzen Zeit noch vor uns haben. Aber wir haben

Artur Auernhammer






(A) (C)



(B) (D)


heute die historische Chance, das anzugehen. Wir brau-
chen Maßnahmen, um die Elektromobilität auszuweiten.
Dazu gehört für mich eine sozialverträglich ausgestal-
tete Kaufprämie. Wir müssen Anreize für die Bevölke-
rung schaffen, damit sie sagt: Ja, wir kaufen ein solches
Auto. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies haben wir
schon einmal erfolgreich praktiziert – in einem anderen
Zusammenhang –, nämlich mit der Abwrackprämie.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist kein gutes Beispiel!)


– Doch, Herr Krischer, es ist ein gutes Beispiel.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie hatte eine falsche ökonomische Lenkungswirkung!)


Damals handelte es sich um eine Talsohle der Wirtschaft,
und wir konnten dadurch die Wirtschaft stabilisieren und
unsere Arbeitsplätze sichern. Das ist ein gutes Beispiel!


(Beifall bei der SPD)


Die Kaufprämie schafft, finde ich, vernünftige Anrei-
ze. Das müssen wir hinkriegen. Ansonsten wird sich der
Markt nicht in diesem Bereich stabilisieren.

Wir brauchen unbedingt eine vernünftige Ladeinfra-
struktur. Wer von uns würde sich denn ein Auto kaufen,
wenn er nicht die Gewissheit hätte, dass er sein Auto
nach einer überschaubaren Kilometerzahl wieder auf-
laden könnte? Das würde natürlich niemand machen.
Dazu, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird die Indus-
trie allein nicht in der Lage sein. Was die Infrastruktur
anbelangt, müssen wir helfen. Wir müssen über entspre-
chende Finanzierungsmodelle nachdenken.

Ich darf an dieser Stelle noch kurz einwerfen: Das gilt
nicht nur für die Infrastruktur von Automobilen, sondern
auch für die von E-Bikes. Die Marktanteile von E-Bikes
und elektrobetriebenen Rollern wachsen zunehmend.


(Beifall bei der SPD – Ulli Nissen [SPD]: Seit 2009 fahre ich so einen Roller!)


Wir dürfen auch die Automobilindustrie nicht aus der
Pflicht entlassen. Da wird ein Tesla – ein tolles Auto, ein
Superauto; ich durfte es fahren – produziert. Es befindet
sich aber in einem Preissegment von 80 000 Euro. Damit
kann der Markt nicht erschlossen werden.

VW, BMW und Tesla bringen jetzt ein Mittelklassemo-
dell in der Preisklasse zwischen 31 000 und 35 000 Euro
auf den Markt. Das ist ein Einstieg, aber auch dieser Wa-
gen ist noch nicht für jeden Geldbeutel erschwinglich.
Die Autos müssen preiswerter werden. In diesem Fall ist
die Automobilindustrie gefordert.

An dieser Stelle darf ich auch einmal betonen: Ich
kann die Meinung der Industrie zu diesem Punkt nicht
nachvollziehen. Denn wenn wir die Bemühungen unse-
rer Industrie um Elektromobilität nicht steigern könnten,
bekämen wir international ein Problem. Wir würden ab-
gehängt werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


China, Frankreich und die USA sind uns weit voraus.

Frau Präsidentin, ich komme zum letzten Punkt. Ich
möchte noch eine Lanze für die Kommunen brechen. Die
sind durchaus bereit. Ich habe mit Vertretern verschie-
dener Kommunen gesprochen. Eine Kollegin sagte, dass
in Hamburg in vorbildlicher Weise Wasserstoffbusse auf
die Straße gebracht werden. Das ist sehr zu loben. Es gibt
aber – Entschuldigung! – viele unterfinanzierte Städte,
die nicht in der Lage dazu sind, es aber gerne machen
würden. Ein solcher Bus ist in der Anschaffung doppelt
so teuer wie ein normaler. Und es müssen immer noch
ein paar herkömmliche Busse vorgehalten werden, damit
die anderen aufgeladen werden können. Da brauchen die
Kommunen Unterstützung. – Auch das hätte Vorbildcha-
rakter für die Bevölkerung.

Wir brauchen eine klare Haltung – so wie die Ministe-
rin sie lebt. Sie lässt sich auch nicht vom Verkehrsminis-
ter einschüchtern. Weiter so, damit die Elektromobilität
Fahrt aufnimmt und die Städte und Gemeinden lebens-
werter werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Karsten Möring [CDU/CSU])



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1816410700

Als letzter Redner hat Oliver Wittke von der CDU/

CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Oliver Wittke (CDU):
Rede ID: ID1816410800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Diese Aktuelle Stunde ist der untaugliche Versuch von
Bündnis 90/Die Grünen, ihren altbekannten Feldzug ge-
gen das Automobil im Allgemeinen und gegen die Die-
seltechnologie im Speziellen fortzusetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Ihre Rede vom letzten Mal!)


Darum frage ich Sie, Herr Kollege Meiwald: Wie kom-
men Sie eigentlich dazu, von einem Dieselskandal zu
sprechen? Es ist ein VW-Skandal, ja!


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben es immer noch nicht begriffen!)


Wenn Sie aber von Dieselskandal reden, dann wollen
Sie doch den Eindruck erwecken, als sei hier eine ganze
Technologie an den Pranger zu stellen. Am liebsten wol-
len Sie die ganze Branche an den Pranger stellen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! So ist es! Genau so ist es!)


Wir lassen Ihnen das nicht durchgehen, weil es irrefüh-
rend ist. Das, was Sie machen, ist nicht ehrlich!


(Beifall bei der CDU/CSU)


Im Übrigen, Herr Kollege Meiwald, wenn Sie von
Steuerprivilegierung bei Diesel sprechen, warum reden
Sie dann nicht von einer Steuerdiskriminierung von Die-
selfahrzeugen? Sie wissen, dass die Dieselfahrzeuge hö-

Detlev Pilger






(A) (C)



(B) (D)


her als Fahrzeuge mit normalen Verbrennungsmotoren
besteuert werden. Darum wäre es nur fair,


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagt gerade der Richtige!)


wenn Sie mit ausgewogeneren Ausführungen vor das
Hohe Haus treten bzw. versuchen würden, abzuwägen
und das gesamte Spektrum darzustellen.


(Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie verharmlosen das Problem!)


Genau das machen Sie aber nicht.

Es gibt Gott sei Dank auch einige Grüne, die etwas
differenzierter argumentieren. Ich will aus der Stuttgar-
ter Zeitung vom 8. April dieses Jahres zitieren:

Die baden-württembergische Landesregierung hat
bei der Umweltministerkonferenz in Berlin dagegen
gekämpft, die Marktchancen für Fahrzeuge mit Die-
selantrieb durch ein Drehen an der Steuerschraube
zu verschlechtern. … Deshalb müssten im Gegen-
satz zu dem Steuervorstoß die Dieseltechnologie
gestärkt und die Kontrollen zur Überwachung der
Abgaswerte verbessert werden.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Sagen Sie das noch mal!)


Und ein Spitzenbeamter aus dem Hause von Winni
Hermann – einer seiner Abteilungsleiter – hat weiter er-
klärt: „Wir brauchen den Diesel, schon um unsere Klima-
schutzziele im Sektor Verkehr zu erreichen.“ Recht hat
der Mann. Recht hat das baden-württembergische Ver-
kehrsministerium.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Damit wir nicht nur über Baden-Württemberg reden,
will ich Ihnen auch sagen, wie sich die hessische Um-
weltministerin aktuell eingelassen hat. Ich zitiere aus der
Frankfurter Rundschau vom 13. April 2016;

da heißt es:

Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit müsse abge-
wartet werden, bis ihr Anteil

– der Anteil der Euro-6-Diesel –

wächst, heißt es aus dem Hause Hinz. „Ansons-
ten käme die Einführung einem Dieselfahrverbot
gleich.“

Ja, natürlich ist es ein Dieselfahrverbot, wenn Sie die
sofortige Einführung der blauen Plakette fordern, weil
13 Millionen Fahrzeuge dann eben nicht mehr in Innen-
stadtbereiche fahren dürfen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ulli Nissen [SPD]: Wer will das denn? – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hessen hat aber zugestimmt! Und die CDU hat mit zugestimmt! Wie erklären Sie das denn?)


Um es klar und deutlich zu sagen, Herr Kollege
Krischer: Auch da sind Sie auf einem Holzweg. Natür-
lich haben die Automobile in den vergangenen Jahren

massiv dazu beigetragen, dass weniger Schadstoffe aus-
gestoßen worden sind.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auf dem Papier!)


Ich will Ihnen die Zahlen vor Augen führen: Die Emissi-
on von Partikeln wurde in den vergangenen 22 Jahren um
97 Prozent vermindert.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht aber um Stickoxide!)


Mit modernen Dieselsystemen lässt sich der Kraftstoff-
verbrauch um über 20 Prozent gegenüber Ottomotoren
reduzieren.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auf dem Papier!)


Die durchschnittlichen CO2-Emissionen von Pkw sind
seit 1995 um 30 Prozent gesunken.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auf dem Papier!)


Seit der Einführung der Euro-3-Norm wurden die
NOX-Emissionen von Diesel-Pkw um 84 Prozent redu-
ziert.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auf dem Papier!)


Der Dieselmotor liegt hier seit Einführung der Euro-6-
Norm, also jetzt aktuell, mit dem Ottomotor annähernd
gleichauf,


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auf dem Papier! Haben Sie schon mal was von Realemissionen gehört? – Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil Sie nicht nachmessen!)


und das bei 25 Prozent weniger Verbrauch und 15 Pro-
zent weniger CO2-Ausstoß. Eine Studie des Umweltbun-
desamtes prognostiziert eine Verringerung des NOX-Aus-
stoßes bis 2030 gegenüber 1990 um 90 Prozent. Die
umfassende Nutzung von modernen Dieselpartikelfiltern
wird dafür sorgen, dass selbst kleinste Partikel, also we-
niger als 2,5 Mikrometer große Partikel, künftig ausgefil-
tert werden. Das heißt, die Luft kommt sauberer aus dem
Fahrzeug heraus, als sie angesogen wurde.


(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Das ist nicht wahr!)


– Ja, aber natürlich ist das der Fall. Das können Sie nicht
wegdiskutieren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/ CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und so was kommt aus Nordrhein-Westfalen! Ich schäme mich! So was war mal Verkehrsminister in Nordrhein-Westfalen!)


Es gibt allerdings einen anderen Bereich, in dem ich
Handlungsbedarf sehe. Eine Studie der Bundesanstalt für
Straßenwesen hat nachgewiesen, dass eine Vielzahl von

Oliver Wittke






(A) (C)



(B) (D)


Katalysatoren, die nachgerüstet werden – Ersatzkataly-
satoren –, nicht funktionstüchtig ist. Experten gehen da-
von aus, dass über 1 Million Ersatzkatalysatoren, die im
Nachhinein eingebaut worden sind, ihre Arbeit nicht ver-
richten. Wenn es uns gelänge, da nur das geltende Recht
anzuwenden,


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, natürlich! Dobrindt! Dobrindt! – Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Wer ist denn dafür zuständig?)


also nicht eine neue Regelung einzuführen, sondern nur
dafür zu sorgen, dass diese Katalysatoren, die nachgerüs-
tet worden sind – die Billigkatalysatoren, die im Internet
für unter 100 Euro zu bestellen sind –, aus dem Verkehr
gezogen werden, wenn es beispielsweise Abgaskontrol-
len gäbe, die nachwiesen, dass diese Katalysatoren nicht
funktionieren,


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Dobrindt! Dobrindt! Das kann er alles machen!)


dann würden wir einen wesentlichen Beitrag zur Entlas-
tung unserer Innenstädte von Emissionen leisten, dann
könnten wir uns jede Debatte um eine blaue Plakette spa-
ren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Frau Präsidentin, wenn ich darf, sage ich noch drei
Sätze. – Herr Krischer, Sie haben sich verwundert da-
rüber gezeigt, dass es in Bayern ein Umweltministerium
gibt. Ich habe gerade einmal nachgegoogelt: Das bayeri-
sche Umweltministerium wurde 1970 geschaffen, zehn
Jahre vor Gründung der Partei Die Grünen. Vielleicht
liegt es daran, dass Sie in Bayern nichts zu melden haben.


(Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schade, dass keiner den Minister kennt!)


Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1816410900

Ich beende die Aktuelle Stunde.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ein-
stufung der Demokratischen Volksrepublik
Algerien, des Königreichs Marokko und der
Tunesischen Republik als sichere Herkunfts-
staaten

Drucksache 18/8039
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu

Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.

Ich möchte die Kolleginnen und Kollegen bitten, ihre
Plätze einzunehmen und die Diskussionen draußen im
Foyer fortzusetzen, aber nicht hier im Plenarsaal.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die Aus-
sprache. Als erster Redner in dieser Debatte hat der Bun-
desminister Dr. Thomas de Maizière für die Bundesre-
gierung das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
nern:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Ich bringe heute für die Bun-
desregierung den Gesetzentwurf ein, der die Staaten Tu-
nesien, Marokko und Algerien als sichere Herkunftsstaa-
ten bestimmen soll. Dieser Gesetzentwurf orientiert sich
an drei Grundsätzen:

Erstens. Jeder Mann und jede Frau bekommen in
Deutschland ein faires Asylverfahren. „Faires Asylver-
fahren“ heißt, dass jeder Antragsteller seine Situation in
einer persönlichen Anhörung vortragen kann, und das
heißt, dass diese Angaben sorgfältig geprüft werden.
Auch Antragsteller aus sicheren Herkunftsstaaten erhal-
ten, wie alle anderen, ein Asylrecht, wenn sie einen Asyl-
grund geltend machen können. Daran soll und wird auch
der vorliegende Gesetzentwurf nichts ändern. Dennoch:
Die Einstufung als sicheres Herkunftsland wird Verände-
rungen für Antragsteller aus diesen Ländern bringen. Wir
führen eine gesetzliche Vermutung ein, dass Asylanträge
aus diesen Ländern unbegründet sind. Der Asylantrag
wird abgelehnt, wenn der Antragsteller nicht nachweisen
kann, dass er über einen Asylgrund verfügt.

Im letzten Jahr wurden etwa 26 000 Asylbewerber aus
den drei Staaten in Deutschland registriert. Die Anerken-
nungsquote für Tunesien lag bei 0,0 Prozent, für Alge-
rien lag sie bei unter 1 Prozent, für Marokko bei etwa
2,3 Prozent; im ersten Quartal 2016 lag die Quote sogar
nur bei 1,2 Prozent. Wir zeichnen also per Gesetz eine
Entwicklung nach, die längst Alltag ist. Asylanträge aus
Tunesien, Marokko und Algerien haben in der Regel kei-
ne Aussicht auf Erfolg. Menschen aus diesen Ländern
kommen ja auch überwiegend aus asylfremden Grün-
den nach Deutschland: Sie wollen Arbeit, und sie wollen
ein besseres Leben. Leider kommen manche aus diesen
Staaten nach Deutschland, um hier Straftaten zu bege-
hen. Das Asylrecht ist aber nicht das richtige Instrument,
um die vielen wirtschaftlichen und sozialen Probleme
in den Herkunftsländern aufzufangen. Asylrecht ist kein
Einwanderungsrecht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Der zweite Grundsatz. Jeder hat ein Interesse an ei-
nem schnellen Asylverfahren, zumindest sollte jeder
Interesse an einem schnellen Asylverfahren haben. Was
meine ich damit? Wir wollen nicht, dass bereits die Dau-
er des Asylverfahrens einen Anreiz darstellt, hier einen

Oliver Wittke






(A) (C)



(B) (D)


aussichtslosen Asylantrag zu stellen, weil man in dieser
Zeit untergebracht und versorgt wird, vielleicht besser als
im Herkunftsland. Das geht zulasten der Kommunen, das
geht zulasten der öffentlichen Haushalte, und das geht
letztlich auch zulasten der schutzbedürftigen Asylantrag-
steller, weil für sie weniger Kapazitäten zur Verfügung
stehen.

Die Einstufung der Maghreb-Staaten als sichere Her-
kunftsstaaten erlaubt es den Behörden und Gerichten,
schneller über Anträge aus diesen Ländern zu entschei-
den.


(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das können sie auch so machen!)


Die Anträge können in den besonderen Aufnahmeein-
richtungen zügig zum Abschluss gebracht werden. Die
dem Ausländer zu setzende Ausreisefrist verkürzt sich
auf eine Woche; das könnten Sie sonst nicht machen,
Frau Kollegin Amtsberg. Auch eine Klage ist innerhalb
einer Woche zu erheben und hat keine aufschiebende
Wirkung; das ist in den anderen Fällen anders. Das zu-
ständige Verwaltungsgericht soll grundsätzlich innerhalb
einer Woche über den Antrag auf einstweiligen Rechts-
schutz entscheiden, auch das ist in anderen Fällen anders.
All das senkt den Anreiz, hier einen chancenlosen Asyl-
antrag zu stellen. Und das ist auch Absicht des Gesetzes.

Der dritte Grundsatz. Schnellere Asylverfahren sind
wichtig, aber genauso wichtig ist, dass abgelehnte Asyl-
bewerber, wenn kein sonstiger Duldungsgrund vorliegt,
Deutschland schnell wieder verlassen und in ihre Län-
der zurückkehren, freiwillig oder durch Abschiebung.
Bislang verzögerten sich Abschiebungen nach Tunesien,
Marokko oder Algerien auch, weil die Zusammenarbeit
mit diesen Ländern bei der Identifizierung ihrer Staats-
bürger und bei der Ausstellung von Reisedokumenten
schwerfällig war.

Ich bin vor einigen Wochen in Tunesien, Marokko
und Algerien gewesen und habe dort Vereinbarungen
treffen können, die die Rückführung aus Deutschland
in diese Länder erleichtern. Warum haben diese Länder
das gemacht? Diese Länder und diese Regierungen wol-
len nicht, dass ihr guter Ruf und der gute Name derjeni-
gen Bürgerinnen und Bürger, die zu Zehntausenden in
Deutschland rechtstreu, als Steuerzahler, als Beitragszah-
ler, als gute Nachbarn, leben, in Mitleidenschaft gezogen
werden durch eine kleine Zahl von Straftätern, die den
Namen dieser Länder beschmutzen. Das wollen diese
Länder nicht. Deswegen sagen sie – gerne, ungerne –:
Wir nehmen die Menschen zurück, wenn ihr Asylantrag
abgelehnt wird. – Und das ist richtig so.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Bundesregierung hat sich die Einstufung von Al-
gerien, Marokko und Tunesien als sichere Herkunftsstaa-
ten dennoch nicht leichtgemacht. Wir haben uns anhand
der Rechtslage, der Rechtsanwendungen und der allge-
meinen politischen Verhältnisse ein Gesamturteil über
die Verhältnisse in den jeweiligen Staaten gebildet. In
der Begründung dieses Gesetzentwurfs werden die Er-
wägungen für jedes der drei Länder ausführlich darge-

legt. Ich weiß natürlich aus den Besprechungen mit den
Ministerpräsidenten der Länder, dass diese – und insbe-
sondere einer – sehr viel Wert darauf legen, dass ihnen
in der Begründung überzeugend dargelegt wird, wie die
gesamtpolitische Einschätzung dieser Länder ist.

Auch wenn Algerien, Marokko und Tunesien als si-
chere Herkunftsstaaten eingestuft werden, so verschlie-
ßen wir dennoch nicht die Augen vor bestehenden Defi-
ziten, die es auch in diesen Staaten im Hinblick auf die
Menschenrechte gibt. Aber alles in allem kann man mit
guten Gründen sagen, dass diese drei Staaten – wie viele
andere in der Welt auch – sichere Herkunftsstaaten sind.
Sie selbst wollen es auch: Sie wollen als sichere Her-
kunftsstaaten bestimmt werden.

Aus all diesen Gründen bringe ich diesen Gesetzent-
wurf ein und bitte um zügige Beratung und später dann
auch um Zustimmung im Bundesrat.

Auf eine konstruktive Beratung in diesem Haus!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1816411000

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin spricht Ulla

Jelpke von der Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1816411100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr

Minister, Sie haben eben wieder deutlich gemacht, wie
Sie Menschenrechtsverletzungen in den Maghreb-Staa-
ten Algerien, Marokko und Tunesien bagatellisieren. Sie
haben vor allen Dingen sehr deutlich gemacht, dass Men-
schenrechtsverletzungen für die Bundesregierung bei der
Einstufung von Ländern als sichere Herkunftsstaaten
überhaupt keine Rolle mehr spielen. Was nicht passt,
wird passend gemacht. Ich finde, das ist eine Ungeheuer-
lichkeit, wenn man weiß, welche Menschenrechtsverlet-
zungen in diesen Ländern passieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, wir haben es eben gehört:
Die Bundesregierung will die Maghreb-Staaten Algerien,
Marokko, Tunesien als sichere Herkunftsstaaten bezeich-
nen und als solche einstufen. Der Anteil von Flüchtlingen
aus diesen Staaten ist im letzten Monat, im März, äußerst
gering gewesen. Aus Algerien kamen zum Beispiel gera-
de einmal 212 Personen. Aus Marokko kamen 225 Per-
sonen, aus Tunesien kamen nur 43.

Die Flüchtlinge aus diesen Ländern, die Schutz su-
chen, dürfen hier nicht einem Schnellverfahren unterzo-
gen werden. Schnellverfahren bedeutet, in Sonderlager
verbracht zu werden. Innerhalb von zwei Wochen muss
dann über den Asylantrag entschieden werden, wobei
eine verschärfte Residenzpflicht gilt. Das ist äußerst frag-
würdig. Die Flüchtlinge haben so auch keinen richtigen
Rechtsschutz. Deswegen fordert die Linke nach wie vor:

Bundesminister Dr. Thomas de Maizière






(A) (C)



(B) (D)


Alle Menschen haben ein Recht auf ein faires Asylver-
fahren.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Kriegen sie ja auch!)


Der Minister hat eben etwas von einer Schutzquote er-
zählt. Ich will dies richtigstellen: Die bereinigte Schutz-
quote für Algerien lag im Jahr 2015 bei 5 Prozent. Für
Marokko lag sie sogar bei 8 Prozent. Diese Zahlen bele-
gen: Flüchtlinge haben hier Schutz verdient.

Anfang März konnte ich mir selbst ein Bild von Ma-
rokko machen. Es gibt dort drei große Tabuthemen: ers-
tens die Staatsreligion, der Islam, zweitens die Monar-
chie, drittens die Besatzung der Westsahara. Schon im
Pressekodex steht, dass man diese Themen nicht disku-
tieren oder kritisieren darf. Wer das dennoch tut, bringt
sich und seine Familie in Gefahr. Die Menschenrechtsor-
ganisation Amnesty International beschreibt die Folgen.
Ich zitiere:

Schläge, schmerzhafte Positionen, Sauerstoffent-
zug, simuliertes Ertränken, psychische und sexuelle
Gewalt: Dies sind nur einige der vielen Folterme-
thoden, die marokkanische Sicherheitskräfte ein-
setzen, um „Geständnisse“ zu erzwingen oder um
Aktivistinnen und Aktivisten und Andersdenkende
zum Schweigen zu bringen.

Seit über 40 Jahren hält Marokko die Westsahara völ-
kerrechtswidrig besetzt. Als der UN-Generalsekretär im
letzten Monat offen von Besatzung sprach, ließ der König
sogleich 80 UN-Mitarbeiter des Landes verweisen. – So
viel zu Meinungsfreiheit und Demokratie in Marokko.

Mit der Einstufung als sicheres Herkunftsland ermu-
tigt die Bundesregierung Marokko geradezu, das Völker-
recht und die Menschenrechte weiter mit Füßen zu treten.
Schlimmer noch: Für die Rücknahme abgelehnter Asyl-
bewerber hat die Bundesregierung zugesagt, Marokko
den Rücken in Sachen Westsahara und bei vielen anderen
Dingen zu stärken. Nach dem Deal mit der Türkei muss
man hier ganz klar von einem weiteren schmutzigen Deal
sprechen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Statt Fluchtursachen werden wieder einmal Flüchtlinge
bekämpft. Dafür steht die Linke ganz sicher nicht zur
Verfügung.

Vergessen wir nicht: In allen drei Maghreb-Staaten
werden Homosexuelle verfolgt, und die Frauenrech-
te existieren dort gerade einmal auf dem Papier. Wer
Flüchtlinge dorthin zurückschickt, nimmt ihre Verfol-
gung, Inhaftierung und Folterung billigend in Kauf.

Vor der Einstufung eines Landes als sicher muss um-
fassend anhand unabhängiger – ich betone: unabhängi-
ger – Quellen geprüft werden, ob die Menschenrechte
und die rechtsstaatlichen Prinzipien dort eingehalten
werden. Das hat das Bundesverfassungsgericht 1996
ganz klar vorgeschrieben. Doch diese höchstrichterlichen
Vorgaben werden von der Bundesregierung überhaupt
nicht eingehalten; sie werden sogar eiskalt ignoriert.
Auch hier muss man sagen: Es ist ein Skandal, wie mit

den Einschätzungen und vor allen Dingen mit der Kritik
der unabhängigen Menschenrechtsorganisationen umge-
gangen wird.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zum Schluss will ich noch ganz kurz darauf eingehen,
dass auch dieses Vorhaben – das gilt derzeit für viele Vor-
haben im asylrechtlichen Bereich, mit denen Verschär-
fungen und immer neue Regeln eingebracht werden – im
Schweinsgalopp durch das Parlament gejagt wird. Erst
gestern stand dieses Vorhaben auf der Tagesordnung des
Innenausschusses. Es musste wieder heruntergenommen
werden, heute Abend haben wir aber eine Sondersitzung.
Am übernächsten Montag findet die Anhörung statt, und
der Gesetzentwurf wird schon in der nächsten Sitzungs-
woche verabschiedet. Ich meine, so kann man ein parla-
mentarisches Verfahren wirklich nicht durchführen. Da-
mit werden die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts
auf keinen Fall eingehalten.

Deshalb sagen wir ganz klar Nein zu einem Schnell-
verfahren und auch Nein zu diesem Gesetzentwurf, mit
dem die Maghreb-Staaten als sicher eingestuft werden
sollen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1816411200

Vielen Dank. – Als nächster Redner spricht Sebastian

Hartmann für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Sebastian Hartmann (SPD):
Rede ID: ID1816411300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wol-
len ein effektives und ein effizientes Asylsystem –


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Abschieben! Abschieben!)


effektiv, weil es den Berechtigten gerecht und rechts-
sicher Asyl zuweist und zuerkennt; effizient, weil es
schnell, aber sorgfältig funktioniert. Auch die mögliche
Einstufung Algeriens, Marokkos und Tunesiens als si-
chere Herkunftsstaaten stellt eines sicher: dass die Men-
schen, die Anspruch auf Schutz vor Verfolgung – auf
welche Art auch immer – und Folter haben, diesen in
Deutschland schnell und rechtssicher erhalten werden.
Wir müssen bei unseren Asylsystemen aber unterschei-
den zwischen denjenigen, die schutzberechtigt sind, und
denjenigen, die eben nicht schutzberechtigt sind, um die
Verfahren für diejenigen offenzuhalten, die zu Recht auf
ihren Schutz vertrauen.

Mit diesem Gesetzentwurf wollen wir vor allen Din-
gen eines sicherstellen: dass der Weg des Asyls denje-
nigen offensteht, die in Deutschland asylberechtigt sind.
Derjenige, der in unserem Land nicht asylberechtigt ist,
muss ein anderes Einwanderungsverfahren durchlaufen,

Ulla Jelpke






(A) (C)



(B) (D)


ein Verfahren, das eben nicht auf dem Asylrecht basiert,
und er muss damit leben, dass er nach diesem Verfahren,
wenn er nicht aus humanitären Gründen verfolgt ist, das
Land wieder verlassen muss. Das ist kein Widerspruch
zum Asylrecht. Wir müssen das in dieser Debatte sehr
deutlich ausführen.

Ich weiß, dass das Konzept der sicheren Herkunfts-
staaten durchaus nicht unumstritten ist. Die Debatte, die
wir heute fortführen, wurde am 5. November 2015 mit
dem Beschluss der Parteivorsitzenden begonnen. Damals
haben wir klar gesagt: Wir wollen über die sicheren Her-
kunftsstaaten Tunesien, Algerien und Marokko sprechen.
Das heißt, wir fangen heute nicht bei null an, auch wenn
das suggeriert wird.


(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Parlament, im parlamentarischen Verfahren schon!)


Das Prinzip der sicheren Herkunftsstaaten ist ein aner-
kanntes Prinzip auf Basis des europäischen Rechts, und
es werden zu Recht hohe Anforderungen mit dem Prinzip
der sicheren Herkunftsstaaten verbunden. Die Schutz-
quote ist nur ein Indiz, kann allein aber nicht ausreichen.
Man muss sich mit den tatsächlichen Verhältnissen in
den Staaten auseinandersetzen. Zu diesem Zweck wird
es die Anhörung geben, so wir sie denn beschließen.

Ich finde aber, dass man bei den sicheren Herkunfts-
staaten einen Punkt noch einmal sehr deutlich heraus-
stellen muss: Mit der Systematik der sicheren Herkunfts-
staaten wird für jeden Einzelnen und jede Einzelne eine
Regelvermutung begründet, er sei nicht verfolgt; aber
man kann diese Regelvermutung auch widerlegen. Da-
für gibt es rechtsstaatliche Verfahren, die wir individuell
garantieren, auch wenn die Verfahren entsprechend ver-
kürzt und beschleunigt werden. Diese Vermutung ist trotz
des Begriffs der sicheren Herkunftsstaaten nach wie vor
widerlegbar. Darauf werden wir achten. Jeder Antragstel-
ler hat die Möglichkeit, seine Verfolgung nachzuweisen,
auch wenn er aus einem dieser Staaten kommt.

Ich möchte auch nicht, dass diese Diskussion dazu
missbraucht wird, zu suggerieren, dass Deutschland sei-
nen internationalen Verpflichtungen nicht nachkommt.
Wir bleiben ein weltoffenes Land, das wie kein anderes
Land seiner internationalen Verpflichtung nachkommt
und darüber hinaus einer Vielzahl von Menschen, die
durch Flucht und Asyl in unser Land gekommen sind,
eine Perspektive eröffnet hat. Das sollten wir hier nicht
kleinreden.


(Beifall bei der SPD)


Ein weiterer Gedanke. Warum sollten wir, wenn wir
auf der einen Seite syrischen Flüchtlingen binnen einer
Woche in sehr schnellen Verfahren klarmachen wollen,
dass sie hier eine Perspektive haben, dass es eine Vermu-
tung zu ihren Gunsten gibt, dies nicht zum Prinzip erhe-
ben und mittels des Instruments der sicheren Herkunfts-
staaten ebenso anwenden, wenn wir auf der anderen Seite
ähnliche Indizienlagen, nur eben umgekehrt, haben? Wir
wollen ja schnelle Verfahren, sodass diejenigen, die Asyl-
und Fluchtgründe vortragen, auch schnell eine Entschei-
dung bekommen und damit ein wenig mehr Sicherheit in

einem von Flucht, Vertreibung und Verfolgung geprägten
Leben haben. Das ist nicht unmenschlich.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Es gibt eine Erwartung der Bevölkerung, aller hier in
unserem Land lebenden Menschen, dass diejenigen, die
einen Anspruch auf Asyl haben, schnell Asyl bekommen.
Es gibt eine Erwartung der hierher Geflüchteten, dass die
Entscheidung über Asyl schnell und effizient getroffen
wird. Deshalb müssen wir die Verfahren für diejenigen
offenhalten, die tatsächlich des Asyls bedürfen. Dann –
da bin ich mir sicher – bleibt die hohe Akzeptanz, die in
unserem Land für dieses erprobte System existiert, auch
erhalten. Dafür können wir eintreten.

Die SPD steht für den Flüchtlingsschutz und ein In-
tegrationskonzept. Wir wollen diese Aufgaben als Bund,
Länder und Kommunen gemeinsam erreichen. Wir haben
im Oktober des vergangenen Jahres Beschlüsse gefasst,
um dafür zu sorgen, dass der Bund seine Aufgaben noch
besser als in der Vergangenheit erfüllen kann. Wir haben
zugesagt, dass wir Asylanträge schnell und rechtssicher
bearbeiten und dass wir die Integrationsarbeit auf kom-
munaler Ebene erleichtern, indem wir Finanzmittel zur
Verfügung stellen und entsprechende Möglichkeiten
einräumen und indem wir dieses Recht auch anwendbar
machen. Dazu gehört auch, dass Menschen, die keine
Perspektive im Asylsystem haben, in den entsprechen-
den Zentren verbleiben, wo wir durch schnelle Verfahren
sicherstellen, dass wir gar nicht erst die knappen Plätze in
den Kommunen blockieren und Integrationsmöglichkei-
ten nicht an die Falschen gegeben werden, die ohnehin
keine Chance in diesem System haben.

Gute Integration heißt Sicherheit für die einen, die ei-
nen Anspruch haben, aber auch klare Ansagen an diejeni-
gen, die keinen Anspruch auf Asyl haben. Wir haben uns
nicht nur einfach dazu bekannt, sondern gestern auf dem
Koalitionsgipfel auch entsprechende Entscheidungen
getroffen. Das heißt: Wir reden nicht nur, sondern wir
handeln auch. Wir können nicht für die einen schnelle
Verfahren fordern und für die anderen eben nicht. Das ist
die Zusage, die im Raum steht. Gestern hat der Koaliti-
onsgipfel sehr deutlich gezeigt: Wir sind handlungsfähig.
Wir treffen entsprechende Entscheidungen und bleiben
unserem Wort treu. Dafür sage ich Danke.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wenn wir weiter über das Prinzip der sicheren Her-
kunftsstaaten sprechen, sollte die Formulierung viel-
leicht lieber „mutmaßlich sichere Herkunftsstaaten“ lau-
ten; denn es ist eine widerlegbare Vermutung.

Wir haben in diesen Tagen in Nordrhein-Westfalen
den Aufenthaltsstatus von vielen Menschen aus Nordaf-
rika überprüft.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Redet doch mal über die Folter, die dort stattfindet!)


Dabei wurde vor allen Dingen eines deutlich: Obwohl
Menschen durch das BAMF mehrfach angeschrieben
worden sind, wurde nicht die Chance ergriffen, ein ent-
sprechendes Asylverfahren anzustreben. Als das dann in

Sebastian Hartmann






(A) (C)



(B) (D)


einer gezielten Aktion am Dienstag noch einmal ermög-
licht worden ist – Ralf Jäger hat als nordrhein-westfä-
lischer Innenminister sehr deutlich gemacht, wie hand-
lungsfähig ein Staat ist –, wurden erstmalig überhaupt
Asylverfahren angestrebt und Anträge gestellt; von eini-
gen wurde darauf verzichtet. Dies wird die Schutzquote
nicht schmälern. Das ist für uns als SPD das Kriterium.
Wir wollen nicht auf eine relative Zahl, die zwischen
dem einen Extrem und dem anderen Extrem pendelt,
schauen. Vielmehr gibt eine tatsächliche Zahl von Fällen
und absolute Zahlen, die in Statistiken und Antworten
der Bundesregierung nachgewiesen sind.

Wenn sich diese Verhältnisse verändern, dann ist das
für uns der Ausgangspunkt, das zu überprüfen. Wir ha-
ben im Oktober letzten Jahres deutlich gemacht, dass wir
regelmäßig auch die Staaten in den Blick nehmen, die zu
sicheren Herkunftsstaaten erklärt worden sind. Wir ver-
schließen eben nicht die Augen, sondern werden eine An-
hörung und ein entsprechendes Verfahren durchführen.
Wir werden die Entscheidung auch in den Folgejahren
überprüfen müssen; das ist klar zugesagt. Dazu haben
wir gesetzliche Vereinbarungen getroffen; wir werden
diese einhalten. Umgekehrt kann aus der klaren Aussage
Deutschlands: „Wir haben euch und die Menschenrechts-
lage im Interesse der Menschen, die in den sicheren Her-
kunftsstaaten leben, klar im Blick“, auch eine Verantwor-
tung für die Staaten entstehen; denn auch die Vermutung
hinsichtlich der sicheren Herkunftsstaaten ist widerruf-
bar. Damit ist diese Debatte nicht abgeschlossen, sondern
beginnt erst richtig.

Meine Damen und Herren, neben der Entscheidung
über die entsprechenden Verfahrensschritte, die Zuwei-
sung von Asyl und die Anerkennung von Flucht gibt es
auch eine Folge daraus, dass eine Schutzquote nur ein
Indiz ist. Das Bundesverfassungsgericht hat die entspre-
chenden gesetzlichen Grundlagen und ihre Begründung
noch einmal ausdrücklich bestätigt.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816411400

Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage oder -be-

merkung von Frau Jelpke zu?


Sebastian Hartmann (SPD):
Rede ID: ID1816411500

Ja, bitte.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816411600

Bitte.


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1816411700

Danke, Herr Kollege. – Ich habe zwei Nachfragen.

Erstens. Sie wissen ganz genau, dass beispielsweise in
Marokko nur verurteilt werden kann, wer auch geständig
ist. Warum sagen Sie nichts zu den Foltervorwürfen, die
von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty Inter-
national erhoben werden?

Zweiter Punkt. Es gibt vonseiten Marokkos eine völ-
kerrechtswidrige Besetzung der Westsahara. Es gibt ein
klares Votum der UN, dort ein Referendum durchzufüh-
ren, was Marokko verweigert. Es gibt dort riesige Lager

mit Flüchtlingen, die nicht nach Europa kommen wollen,
dort aber in schlimmster Armut leben. Warum sagen Sie
zu all diesen Punkten nichts? Genau das sind doch die
Kriterien, die zugrunde gelegt werden, wenn es darum
geht, ob man ein Land als sicher einstuft oder nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Sebastian Hartmann (SPD):
Rede ID: ID1816411800

Liebe Frau Kollegin Jelpke, vielen Dank für die-

se Nachfrage. – Ich wollte gerade auf die Kriterien des
Bundesverfassungsgerichts eingehen. Ich lade Sie auch
herzlich ein, heute Abend im Innenausschuss gemeinsam
für die Anhörung zu stimmen und den Weg für diese Dis-
kussion freizumachen.

Das Bundesverfassungsgericht hat uns im Zusam-
menhang mit der Überprüfung des damals beschlossenen
Gesetzes, als wir das Grundgesetz entsprechend geändert
haben, einige Punkte auf den Weg gegeben und klar be-
stätigt, dass man eben nicht nur über das Indiz der hier
schon thematisierten Schutzquote sprechen darf, sondern
sich auch mit den tatsächlichen Verhältnissen in den je-
weiligen Staaten auseinandersetzen muss. Das ist eine
klare Aufgabe an uns als Gesetzgeber. Dazu gehört, dass
man von einem demokratischen System, einem Mehrpar-
teiensystem, einer unabhängigen Justiz und einem effek-
tiven Schutz vor Verfolgung ausgeht. Wir müssen uns ein
Urteil darüber bilden und unseren Entscheidungsspiel-
raum als Gesetzgeber ausfüllen. Dazu dient dieses Ver-
fahren. Heute beginnen wir mit der Beratung in diesem
Hohen Haus, die mit einer Anhörung fortgesetzt wird.


(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben sich doch schon festgelegt!)


Zu guter Letzt gibt es hierzu schon eine sehr umfangrei-
che Stellungnahme des Bundesrates. Auch er hat einige
Hinweise gegeben, wo er weiteren Prüf- und Diskussi-
onsbedarf sieht.

Mit Ihrer Frage belegen Sie, dass wir in diese Diskus-
sion einsteigen müssen, weil wir erst danach die Einstu-
fung der drei genannten Staaten – Algerien, Tunesien und
Marokko – als sichere Herkunftsstaaten beschließen kön-
nen. Das ist eine Frage, die in diesem Verfahren zu klä-
ren ist. Sie haben Punkte eingebracht, und der Bundesrat
hat Punkte eingebracht. Ich habe mich dieser Diskussion
in keiner Weise verweigert, sondern gesagt: Wir werden
das im Rahmen einer ordentlichen Anhörung tun, damit
die Minimalanforderungen an die Einstufung als sicherer
Herkunftsstaat auf jeden Fall erfüllt werden. Das ist im
Einklang mit europäischem Recht. – Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zur Einstufung als sicherer Herkunftsstaat gehört
aber Folgendes: Die Diskussion, die mit den sicheren
Herkunftsstaaten begonnen hat, hat Auswirkungen. Sie
haben selber als Beispiel genannt, dass die Schutzzahlen
zurückgehen. Es gibt in diesem Fall gar nicht so viele
Beantragungen. Es gibt aber einen Unterschied: Im Ver-
gleich zu der großen Zahl von Menschen, die hierherge-
kommen sind, fällt die Zahl derjenigen, die tatsächlich

Sebastian Hartmann






(A) (C)



(B) (D)


Asyl beantragen, relativ weit ab. Das heißt, es gibt einen
deutlichen Unterschied im Hinblick auf die Menschen,
die aus den drei vorgenannten Staaten kommen und tat-
sächlich Asyl beantragen. Das muss man aufklären. Wir
brauchen schnelle Verfahren, damit das nicht als Umge-
hungstatbestand genutzt werden kann. Wir wollen nur
denjenigen Menschen Asyl geben, die tatsächlich des
Asyls bedürfen.

Zweiter Punkt – ihn hat Innenminister Ralf Jäger in
der letzten Debatte hier angesprochen –: Zum Konzept
der sicheren Herkunftsstaaten gehört auch, dass in diesen
Ländern eine entsprechende Debatte stattfindet. Es ist
darüber zu informieren, welche Chancen man in einem
Asylverfahren überhaupt hat, damit man das Asylrecht
vor Ort nicht als Möglichkeit zur Einwanderung aus wel-
chen Gründen auch immer missversteht. Ich würde jetzt
nicht so weit gehen, das pauschal zuzuordnen; aber das
Asylrecht ist nur für einen bestimmten Kreis vorgesehen.
Dass sich die Debatte, die wir hier begonnen haben, in
diesen Staaten schon im November ausgewirkt hat, zeigt
sich daran, dass die Fallzahlen zurückgehen. Das ist erst
recht ein Beleg dafür, dass das Instrument der sicheren
Herkunftsstaaten wirkt, wenn man es vernünftig einsetzt.

Zu guter Letzt gehört zum Konzept der sicheren Her-
kunftsstaaten, dass die Asylbewerber in ihre Heimatlän-
der zurückgeführt werden, wenn eine negative Entschei-
dung im Asylverfahren getroffen worden ist und sie aus
einem sicheren Herkunftsstaat kommen. Dafür braucht
man Rücknahmeabkommen. Ich glaube, dass die Bun-
desregierung hier einen weiteren Schritt gegangen ist, in-
dem es zu entsprechenden Vereinbarungen mit Marokko,
Algerien und Tunesien gekommen ist. Eine klare, schnel-
le und rechtssichere Entscheidung würde nämlich nichts
bringen, wenn diejenigen, die nicht bleiben dürfen, hier
im Land verbleiben und wichtige Plätze blockieren wür-
den, die wir für die Menschen brauchen, die tatsächlich
integriert werden müssen.

Meine Damen und Herren, ich sehe einer schwierigen
Beratung entgegen. Für diese Diskussion müssen wir uns
die entsprechende Zeit nehmen. Heute Abend soll die
Anhörung beschlossen werden. Ich sage zu, dass für die
SPD beides zusammengehört: der Schutz der Flüchtlinge
und die die Integration der Menschen, die hier bleiben
können, aber ebenso schnelle und rechtssichere Verfah-
ren. Das ist kein Widerspruch. Deutschland ist und bleibt
ein weltoffenes Land, das wie kein anderes Land in Eu-
ropa seine internationale Verantwortung wahrnimmt. Das
lassen wir uns nicht kleinreden.

Danke.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816411900

Vielen Dank, Kollege Hartmann. – Wir haben üb-

rigens gerade festgestellt, dass das Hohe Haus heute
strahlt. Das liegt nicht nur an Ihnen, sondern auch – falls
Sie es noch nicht gesehen haben – an den neuen Stuhlbe-
zügen. Vielen Dank der Verwaltung. Es ist heute wirklich
ein strahlendes Hohes Haus.

Das Strahlen geht jetzt mit der nächsten Rednerin wei-
ter: Luise Amtsberg vom Bündnis 90/Die Grünen.


Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816412000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber

Kollege Hartmann, schön, dass Sie sich in der Koalition
die Zeit genommen haben, über diese Frage zu beraten.
Das Parlament ist allerdings mehr als diese Koalition. In-
sofern sind wir mit dem parlamentarischen Beteiligungs-
verfahren natürlich nicht zufrieden. Es ist zu kurz.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Tun Sie bitte nicht so, als ob Sie in Bezug auf diese Frage
noch nicht festgelegt wären und als ob die Anhörung in
der nächsten Woche für Sie noch etwas bringt. Das ist ja
sehr deutlich herausgekommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das sieht man auch an dem Statement, dass die Fallzah-
len zurückgehen. Das sagt nämlich nichts darüber aus,
ob sich die menschenrechtliche Lage in den Ländern in
der Zwischenzeit verändert hat. Genau hier liegt unser
Problem.

Die grüne Bundestagsfraktion hat sich in der Ver-
gangenheit immer wieder auch grundsätzlich gegen das
Konzept der sicheren Herkunftsstaaten ausgesprochen.
Unsere grundlegende Sorge davor, dass mit diesem Ver-
fahren das Ergebnis einer individuellen Prüfung eines
Schutzgesuches vorweggenommen und nicht unvorein-
genommen über einen Asylantrag entschieden wird, war
groß, und ich sage Ihnen: Mit den beiden Asylpaketen ist
diese Sorge noch größer geworden; denn diese richten
sich ja explizit an die Menschen aus vermeintlich siche-
ren Herkunftsländern.

Abseits dieser grundlegenden Erwägungen, über die
wir uns in der Vergangenheit schon ausgetauscht haben,
möchte ich noch eine Sache ansprechen: In seinem Urteil
hat das Bundesverfassungsgericht die rechtlichen Vo-
raussetzungen für die Einstufung als sichere Herkunfts-
staaten glasklar festgelegt. Ich weiß nicht, welche Syste-
matik das Innenministerium bei der Formulierung eines
Gesetzentwurfes anwendet; aber als Vertreterin eines
Rechtsstaates, als die ich mich begreife, würde ich mir
diese Vorgaben erst einmal ansehen und sie Schritt für
Schritt durchgehen. Vielleicht sollten wir das an dieser
Stelle einfach einmal tun.

Es heißt: Es muss Sicherheit vor politischer Verfol-
gung landesweit und für alle Personen- und Bevölke-
rungsgruppen bestehen. Hier drängt sich natürlich sofort
Marokko mit dem Status der Westsahara auf, einem Ge-
biet, das sich praktisch seit Jahrzehnten in einem dauer-
haften Ausnahmezustand befindet, in dem friedliche Pro-
teste brutal niedergeschlagen werden und die Saharauis
willkürlichen Verhaftungen und Folter ausgesetzt sind.
Die Rechte von Frauen, besonders im Familienrecht, sind
in allen drei Ländern massiv zu beklagen. In Algerien
bleibt zum Beispiel die Vergewaltigung von Minderjäh-
rigen straffrei, wenn das Opfer danach – sicher nicht un-
ter freiem Willen – geehelicht wird. Die Stigmatisierung

Sebastian Hartmann






(A) (C)



(B) (D)


und Diskriminierung von Behinderten, Aidskranken und
LGBTI-Gruppen muss man hier ebenfalls anführen.

Weiter sagt das Bundesverfassungsgericht: Eine Ein-
stufung ist nicht zulässig, wenn regional oder im Hinblick
auf bestimmte Gruppen eine Verfolgung – Achtung –
nicht ausgeschlossen werden kann. Im Umkehrschluss
bedeutet das, dass Sie alle, die Sie hier sitzen und dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, ausschließen können,
dass es in diesen drei Ländern Menschen gibt, die aus
welchen Gründen auch immer durch die Staatsgewalt
verfolgt und diskriminiert werden. Können Sie das aus-
schließen? Ich nicht und meine Fraktion auch nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es gilt auch als Verfolgung, wenn gesetzliche, polizei-
liche oder justizielle Maßnahmen diskriminierend sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie finden also nicht,
dass es falsch ist, dass in allen drei Ländern politisch
nicht opportune Menschen inhaftiert werden? Sie finden
nicht, dass die Berichte über Willkür, Misshandlungen,
über unter Folter abgerungene Geständnisse gegen eine
Einstufung als sicherer Herkunftsstaat sprechen?

Das Bundesverfassungsgericht nennt als weiteren
Grund gegen die Einstufung Handlungen gegen Men-
schen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung. Was an-
deres als eine Handlung gegen die sexuelle Selbstbe-
stimmung eines Menschen ist es, wenn Homosexualität
unter Strafe steht? Wie zynisch sind Sie eigentlich, dass
Sie dem Bundesrat erwidern, dass nur offen praktizier-
te Homosexualität tatsächlich geahndet wird? Frei nach
dem Motto: Du darfst homosexuell sein, aber bitte nicht
so leben. – Ist es das, was Sie unter einem freien Leben
ohne Verfolgung verstehen, meine Damen und Herren?
Wir nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das Bundesverfassungsgericht nennt auch Handlun-
gen gegen Kinder als Ausschlussgrund. Haben Sie sich
einmal die Berichte über die Situation von saharauischen
Kindern in der Westsahara angesehen? Ich fand sie ziem-
lich bedrückend. Der Bericht der Organisation Roster,
mit der auch der UN-Menschenrechtsrat befasst war,
spricht von Inhaftierungen von Kindern, von Schlägen,
massiver psychologischer Gewalt und Verschleppungen.
Aber auch das spielt in diesem Gesetzentwurf keine Rol-
le.

Zu guter Letzt nenne ich als eines von vielen Beispie-
len die unverhältnismäßige Strafverfolgung oder Bestra-
fung durch den Staat, die vom Bundesverfassungsgericht
ebenfalls genannt wird. Die Versammlungsfreiheit ist in
all diesen Ländern massiv eingeschränkt, und die Mei-
nungs- und Pressefreiheit ist absolut nicht gegeben, was
die vielen Inhaftierungen von Journalisten und Medien-
schaffenden beweisen. Die demokratische Verfasstheit
eines Staates – das sollten wir am besten wissen – ist we-
sentlich für die Beurteilung eines Staates als sicher. Das,
was einen Rechtsstaat im Wesenskern ausmacht, ist hier
nicht gegeben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Bundesinnenminister, Sie sagen, Sie verschlie-
ßen nicht die Augen vor den massiven Menschenrechts-
verletzungen in diesen Ländern. Was Sie mit diesem
Gesetzentwurf tun, ist außenpolitisch gefährlich; denn
Sie erteilen diesen Regierungen einen Blankoscheck für
Menschenrechtsverletzungen. Das ist unbedingt abzuleh-
nen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Einfach darauf zu warten, dass sich die Menschenrechts-
lage verbessert, wird es nicht bringen. Wir geben einen
Blankoscheck und sagen, dass Menschenrechtsverlet-
zungen in einem Land in Ordnung sind, wenn uns dies
innenpolitisch zugutekommt. Sie missachten die Vorga-
be, dass Sie eine Einstufung nur nach gründlicher Prü-
fung und dem Hinzuziehen menschenrechtlicher Quellen
vornehmen dürfen. Nennen Sie mir eine einzige Men-
schenrechtsorganisation, die keine Bedenken gegenüber
Ihrem Gesetzentwurf hat, und wir kommen wieder ins
Gespräch.

Dieser Gesetzentwurf ist komplett innenpolitisch mo-
tiviert. Auch wenn die Rechtslage in dieser Frage kaum
eine Rolle zu spielen scheint, noch einmal zur Klarstel-
lung: Eine Priorisierung der Asylverfahren kann schon
jetzt vorgenommen werden. Das wird auch gemacht.
Insofern gibt es ausreichend Spielraum. Was aber asyl-
rechtlich nicht zulässig ist, ist, eine Einstufung von Staa-
ten an die Zuwanderungszahlen zu koppeln. Das passiert
hier immer wieder. Das widerspricht dem Grundsatz ei-
nes Individualrechts, und das ist unser Asylrecht.

Als Fazit: Dieser Gesetzentwurf ist nicht nur fachpoli-
tisch, sondern auch menschenrechtlich eine Beleidigung,
des Rechtsstaates unwürdig und dieses Hauses erst recht.
Deshalb lehnen wir ihn entschieden ab.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816412100

Vielen Dank, Luise Amtsberg. – Der nächste Redner

in der Debatte: Stephan Mayer für die CDU/CSU-Frak-
tion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1816412200

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-

ginnen! Sehr geehrte Kollegen! Es ist gut, dass wir in
diesem Hohen Haus endlich den Gesetzentwurf zur Ein-
stufung der drei Maghreb-Länder Marokko, Algerien
und Tunesien als sichere Herkunftsstaaten beraten. Ich
möchte nicht verhehlen, dass er, wenn es nach der Uni-
onsfraktion gegangen wäre, hier frühzeitiger hätte behan-
delt werden können.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich gestehe zu, dass man hier unterschiedlicher Mei-
nung sein kann. Aber, liebe Frau Kollegin Amtsberg,
ich möchte mich schon in aller Deutlichkeit gegen Ihren
wirklich haltlosen Vorwurf gegenüber dem Bundesin-

Luise Amtsberg






(A) (C)



(B) (D)


nenminister verwahren, mit diesem Gesetzentwurf wür-
de ein Blankoscheck für Menschenrechtsverletzungen
ausgestellt. Das ist haltlos, das ist unzutreffend, und das
gehört sich einfach nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Dr. Eva Högl [SPD]: Das ist auch unverschämt!)


Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, es
hat sich in der Vergangenheit herausgestellt, dass die Ein-
stufung bestimmter Länder als sichere Herkunftsstaaten
tatsächlich etwas bewirkt. Damit setzen wir ein klares
Signal, dass Politik handlungsfähig ist. Noch im ersten
Halbjahr 2015 kamen 47 Prozent der Bewerber aus den
sechs Ländern des westlichen Balkans. Heute spielen die
Bewerber aus den sechs Westbalkanländern de facto kei-
ne Rolle mehr. Im März kamen gerade einmal 1 200 Be-
werber aus diesen Ländern, im Januar waren es 1 400. Es
ist ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen. Es zeigt sich
also sehr wohl, dass die Einstufung eines Landes als si-
cheres Herkunftsland eine klare Signalwirkung entfacht.
Davon geht aber auch eine deutliche Verfahrensbeschleu-
nigung aus.

Eines aber bleibt gewahrt – um dies klar zu sagen,
Frau Kollegin Jelpke –: Es wird auch für die Bewerber
aus sicheren Herkunftsstaaten ein individuelles und fai-
res Verfahren gewährleistet. Nur wird das Verfahren be-
schleunigt. Ich wehre mich in aller Deutlichkeit gegen
den Vorwurf, dass ein schnelles Verfahren ein rechtsun-
sicheres Verfahren sei. Das Gegenteil ist der Fall. Ein
schnelles Verfahren kann sehr wohl auch vollkommen
rechtssicher sein.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816412300

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder

-bemerkung von Frau Brantner, Bündnis 90/Die Grünen?


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1816412400

Selbstverständlich. Sehr gerne.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816412500

Gut.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Mayer, ich möchte kurz auf Ihren Vergleich mit
dem Balkan eingehen. Die Zahl der Antragsteller ist
momentan schon sehr gering. Von Tunesiern sind seit
Beginn dieses Jahres 132 Anträge gestellt worden, also
132 Anträge in mehr als drei Monaten bundesweit. Auf
wie viel wollen Sie die Zahl denn noch reduzieren? Wo
sind die großen Zahlen, vor denen Sie solche Angst ha-
ben und aufgrund derer Sie meinen, wir bräuchten diese
Gesetzesänderung?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1816412600

Sehr geehrte Frau Kollegin Brantner, ich bin Ihnen

sehr dankbar für diese Frage, weil sie mir die Gelegen-
heit bietet, deutlich zu machen, dass es natürlich nicht
darum geht, Angst zu haben, sondern eher darum, klare
Signale zu entfachen.

Im Jahr 2015 hatten wir 4 910 Antragsteller aus den
Ländern Tunesien, Marokko und Algerien. Es kamen
aber knapp 26 000 Bewerber aus diesen drei Ländern.
Es sind also noch Tausende von Marokkanern, Algeriern
und Tunesiern in unserem Land, die bislang noch keinen
Antrag gestellt haben. Es ist aber davon auszugehen, dass
sie in den nächsten Wochen und Monaten einen Antrag
stellen werden. Man darf also nicht verkürzt nur die aktu-
ellen Zuzugszahlen in den Blick nehmen, wie Sie es ge-
tan haben. Vielmehr muss man sehr wohl auch ins Kalkül
ziehen, dass im letzten Jahr insgesamt 2 000 Tunesier,
14 000 Algerier und etwas mehr als 10 000 Marokkaner
zu uns kamen, die in den nächsten Wochen und Monaten
mit großer Wahrscheinlichkeit Anträge stellen werden.
Deshalb macht es sehr wohl Sinn und ist in der Sache ge-
boten, dass wir diese drei Länder als sichere Herkunfts-
staaten einstufen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Einstufung als sicheres Herkunftsland bewirkt,
dass die Verfahren innerhalb von einem Monat durchge-
führt werden können. Die abgelehnten Bewerber – die
Anerkennungsquoten sind verschwindend gering – müs-
sen innerhalb einer Woche unser Land verlassen. Sie
haben eine Klagefrist von einer Woche. Diese Klage hat
nicht einmal aufschiebende Wirkung. Der Antrag auf An-
ordnung der aufschiebenden Wirkung muss auch inner-
halb einer Woche gestellt werden. Zudem unterliegen sie
einem absoluten Beschäftigungsverbot. Die Einstufung
eines Landes als sicheres Herkunftsland hat also ganz
konkrete Vorteile zur Folge.

Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, es
gilt, den Blick auch einmal auf die verschwindend ge-
ringen Schutzquoten zu richten. Wir hatten im gesam-
ten letzten Jahr eine Anerkennungsquote bei Tunesiern
von 0,00 Prozent. Bei den Algeriern lag diese Quote bei
0,97 Prozent und bei den Marokkanern bei 2,26 Prozent.


(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Rest sind Dublin-Fälle!)


Auch in diesem Jahr haben sich die Schutzquoten nicht
nach oben verändert, sondern sogar nach unten. Bei den
Tunesiern lag sie in den ersten beiden Monaten wieder
bei 0,00 Prozent. Bei den Marokkanern waren es 1,6 Pro-
zent und bei den Algeriern 1,2 Prozent. Es gibt also keine
sachlichen Gründe, die dafür sprechen, diesem Gesetz-
entwurf nicht zuzustimmen.

Ich möchte in aller Deutlichkeit betonen, dass aus
den drei Ländern, um die es heute geht, bedauerlicher-
weise überproportional viele Personen stammen, die in
der Silvesternacht in Nordrhein-Westfalen straffällig ge-
worden sind. Von den mittlerweile 153 festgestellten Tat-
verdächtigen waren 149 Ausländer. Zwei Drittel dieser
ausländischen Straftäter waren Algerier und Marokkaner.
Insbesondere mit Blick auf die überproportional hohe

Stephan Mayer (Altötting)







(A) (C)



(B) (D)


Straffälligkeit der Menschen aus diesen drei Ländern gibt
es sehr gute Gründe, die Verfahren zu beschleunigen.

Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich betonen, dass
ich Ihnen, sehr geehrter Herr Bundesinnenminister, sehr
dankbar bin, dass Sie Ende Februar bzw. Anfang März
in diese drei Länder gereist sind und in intensiven Ge-
sprächen mit den drei Regierungen dafür gesorgt haben,
dass zugesichert wurde, dass diese drei Länder ihrer
völkerrechtlichen Verpflichtung nachkommen, eigene
Staatsangehörige zurückzunehmen. Das ist an sich eine
Selbstverständlichkeit, der bislang aber leider nur sehr
unzureichend nachgekommen wurde.

Die Innenminister der drei Länder haben Ihnen auch
zugestanden, dass sie in sehr kurzer Zeit bereit sind, zur
Identitätsfeststellung der eigenen Staatsangehörigen bei-
zutragen, Marokko zum Beispiel ganz konkret innerhalb
von 45 Tagen. Alle drei Länder haben sich bereit erklärt,
Rückführungen entweder im Rahmen von Charterflügen
oder von Linienflügen zu akzeptieren. Alle drei Länder
haben sich auch bereit erklärt, Passersatzpapiere aus-
zureichen, um eine schnelle Rückführung der eigenen
Staatsangehörigen zu ermöglichen. Ich danke Ihnen na-
mens unserer Fraktion ausdrücklich für Ihren erfolgrei-
chen Einsatz in diesen drei Ländern.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Eva Högl [SPD])


Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen,
wir werden dieses parlamentarische Verfahren sauber,
ordentlich und seriös betreiben. Aber ich bin mit Blick
auf die Zahl der in den nächsten Wochen und Monaten
anstehenden Anträge der Überzeugung: Wir sollten uns
nicht zu viel Zeit lassen. Deshalb ist es richtig, dass wir
heute in einer Sondersitzung des Innenausschusses zu-
sammenkommen und, so hoffe ich, die Durchführung
der Sachverständigenanhörung in der nächsten Sitzungs-
woche, Ende April, beschließen. Aus meiner Sicht steht
auch einer schnellen Behandlung und Beschlussfassung
in der zweiten und dritten Lesung in diesem Hause nichts
entgegen. Um es klar zu sagen: Hier sind Seriosität und
ein ordnungsgemäßes Verfahren, aber auch Schnelligkeit
geboten.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816412700

Vielen Dank, Kollege Stephan Mayer. – Die letzte

Rednerin in dieser Debatte ist Nina Warken für die CDU/
CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Nina Warken (CDU):
Rede ID: ID1816412800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine Damen und Herren! Die bisherige De-
batte kommt mir fast wie ein Déjà-vu vor. Sie erinnert
mich stark an unsere Diskussion um die Einstufung der
Westbalkanstaaten. Die Opposition stellt sich erneut, wie
schon bei den Balkanstaaten, gegen eine Maßnahme, um
Asylmissbrauch und unkontrollierte Zuwanderung ein-

zudämmen. Erneut haben wir eine ganze Reihe realitäts-
ferner Kritikpunkte gehört,


(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche konkret?)


und erneut liegt ein Gesetzentwurf der Bundesregierung
vor, den wir ohne die Blockade schon längst beschlossen
hätten.

Nach allem, was wir auch heute gehört haben, lässt
sich feststellen: Die Einstufung von Marokko, Algerien
und Tunesien als sichere Herkunftsländer ist dringend
notwendig und rechtlich zulässig. Die Kritik daran ist un-
zutreffend und nicht haltbar. Das alles zeigt sich an den
folgenden drei Tatsachen:

Erstens. Schon bei den Balkanländern wurde von der
Opposition behauptet, die Einstufung als sichere Her-
kunftsstaaten würde nichts bringen. Das gleiche Argu-
ment haben wir in der heutigen Debatte gehört. Tatsache
ist jedoch, dass die Zahl der Asylbewerber vom Balkan
auch in der Folge der Einstufung stark zurückgegangen
ist. Zum Vergleich: 23 000 waren es im Juli 2015 und
noch knapp 5 000 im Oktober, nachdem alle Balkanlän-
der als sicher eingestuft waren. Inzwischen sind es sogar
nur noch 1 200. Der Grund für den Rückgang ist: Die
Menschen vom Balkan haben sehr schnell gemerkt, dass
es nichts bringt, unbegründete Asylanträge zu stellen;
sie können nicht in unserem Land bleiben. Damit steht
fest: Die Einstufung als sicheres Herkunftsland wirkt und
hilft, den unkontrollierten Zustrom einzudämmen. Diese
Signalwirkung brauchen wir nun auch dringend im Hin-
blick auf Algerien, Marokko und Tunesien.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816412900

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Bemerkung oder

Zwischenfrage von Frau Bulling-Schröter?


Nina Warken (CDU):
Rede ID: ID1816413000

Ja.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816413100

Gut.


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1816413200

Herzlichen Dank. – Frau Kollegin, ich möchte Sie

etwas zu Marokko fragen. Laut internen Berichten der
Bundesregierung ist Marokko eines der Länder, die be-
reits jetzt am meisten vom Klimawandel betroffen sind.
Meine Frage ist: Inwieweit gehen solche Einschätzungen
in die Einstufung als sicheres Herkunftsland ein? Das
Thema Klimaflüchtlinge wurde bekanntlich auch im Ko-
alitionsvertrag angesprochen. Es ist erwiesen, dass be-
reits Menschen aus Gründen des Klimawandels flüchten.


Nina Warken (CDU):
Rede ID: ID1816413300

Im Asylverfahren wird geprüft, ob jemand individuell

verfolgt oder bedroht wird. Man kann selbst dann, wenn
ein Herkunftsland als sicher eingestuft ist, den persönli-
chen Grund für einen Asylantrag vortragen. Man kann

Stephan Mayer (Altötting)







(A) (C)



(B) (D)


dabei jedweden Grund vorbringen. Wenn man aufgrund
klimatischer Verhältnisse flieht, kann man das ins Asyl-
verfahren einbringen. Ob das zum Erfolg des Asylver-
fahrens führt, ist eine andere Frage. Darüber, welche
Gründe im Verfahren angeführt werden, entscheidet je-
der selbst. Das hat nichts damit zu tun, ob ein Land als
sicher eingestuft wird oder nicht. Jeder kann weiterhin
seine Fluchtgründe darlegen. Das ist schließlich Sinn des
Asylverfahrens und wird weiterhin aus rechtsstaatlichen
Gründen möglich sein. Dass ein individueller Schutz aus
Klimagründen zu gewähren ist, bezweifle ich. Aber sol-
che Gründe können weiterhin vorgetragen werden. Ich
hoffe, dass ich damit Ihre Frage beantwortet habe.


(Niema Movassat [DIE LINKE]: Lesen Sie einmal Ihren Koalitionsvertrag! Das wäre hilfreich!)


Es lohnt sich nicht, sich auf den Weg zu machen. Die-
se Signalwirkung hatten wir schon bei den Balkanstaa-
ten. Eine ähnliche Signalwirkung brauchen wir auch bei
den Maghreb-Staaten. Das Argument, dass im Moment
wegen des zu geringen Zustroms aus den Maghreb-Staa-
ten kein Handlungsdruck besteht, zählt nicht. Die Zahl
der Flüchtlinge vom Westbalkan ist im letzten Jahr zuerst
schleichend gestiegen. Im Mai waren es 10 000, im Juni
14 000 und im Juli 23 000. Am Jahresende waren es ins-
gesamt 150 000 Menschen, die vom Westbalkan zu uns
kamen. Auch bei den Maghreb-Staaten ist ein ähnlicher
Trend erkennbar.

Zweitens behauptet die Opposition, dass die Lage in
den Maghreb-Staaten die Einstufung als sichere Her-
kunftsländer nicht zulässt; das haben wir mehrfach ge-
hört. Im Gesetzentwurf wurde die Lage in allen drei
Ländern in aller Ausführlichkeit bewertet. Auch die
Schutzquoten sprechen eine deutliche Sprache. In Ma-
rokko, Algerien und Tunesien drohen weder eine syste-
matische Verfolgung noch ein Bürgerkrieg. Im Januar
und Februar wurden aus allen drei Ländern zusammen
lediglich sechs Personen als schutzbedürftig anerkannt.
Mehr als 4 000 sind jedoch seit Jahresanfang gekommen.
Wir werden die aufgeworfenen Fragen und Ihre Beden-
ken, liebe Kollegen, in der Anhörung in der nächsten Sit-
zungswoche ausführlich erörtern. Ich bin aber überzeugt,
dass bei dem Gesetzentwurf diesbezüglich alles bedacht
wurde.

Drittens fordert die Opposition, Deutschland solle sich
lieber um die Integration kümmern, als gegen Asylmiss-
brauch und unkontrollierte Zuwanderung vorzugehen. In
diesem Sinne äußerte sich zum Beispiel der thüringische
Ministerpräsident zum vorliegenden Gesetzentwurf im
Bundesrat.


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Guter Mann!)


Diese Kritik übersieht vollkommen, wie viel bereits in
Deutschland getan wird, um die Integration zu verbes-
sern. Integration setzt allerdings voraus, dass man sich
an die Spielregeln in unserem Land hält. Wir haben – das
wird in diesem Zusammenhang oft verschwiegen – ge-
rade mit Asylbewerbern aus dem Maghreb ein massives
Kriminalitätsproblem, zum Beispiel in Nordrhein-West-
falen, wo der Großteil der Asylanträge aus diesen Län-

dern bearbeitet wird. Hier ist laut dem nordrhein-west-
fälischen Innenministerium im letzten Jahr rund jeder
dritte Marokkaner oder Algerier, der in einer Landeserst-
aufnahmeeinrichtung untergebracht war, kriminell ge-
worden. Es ist kein Zufall, dass zwei Drittel der Tatver-
dächtigen im Zusammenhang mit den Übergriffen in der
Silvesternacht in Köln ausgerechnet aus diesen beiden
Ländern kommen. Das sind Tatsachen, auf die wir ent-
schlossen reagieren müssen und vor denen wir die Augen
nicht verschließen dürfen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es ist deshalb richtig, dass der Bundesinnenminister
vor kurzem mit den Maghreb-Staaten deutliche Verein-
fachungen und Verbesserungen bei der Rückführung
vereinbart hat. Das stärkt die Akzeptanz unseres Asyl-
systems und entlastet Kommunen wie Behörden. Die-
se Vereinbarung muss nun aber auch mit Leben erfüllt
werden. Rund 2 000 Marokkaner, Algerier und Tunesier
halten sich noch immer in Deutschland auf, obwohl sie
längst ausreisepflichtig sind und keine Duldung haben.
Hier sind der politische Wille und entschlossenes Han-
deln der Länder gefragt, wenn es darum geht, diese Per-
sonen zügig abzuschieben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, warum
die Einstufung von Marokko, Algerien und Tunesien als
sichere Herkunftsländer dringend notwendig ist. Erspa-
ren wir den Menschen eine gefährliche Reise und die an-
schließende Abschiebung, indem wir den Gesetzentwurf
zügig beschließen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816413400

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Damit schließe ich die

Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/8039 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe
und höre keine anderen Vorschläge dazu. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Künast, Uwe Kekeritz, Nicole Maisch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Kleidung fair produzieren – EU-Richtlinie für
Transparenz- und Sorgfaltspflichten in der
Textilproduktion schaffen

Drucksache 18/7881
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

Nina Warken






(A) (C)



(B) (D)


b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Ener-
gie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord-
neten Niema Movassat, Caren Lay, Wolfgang
Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Unternehmen in die Verantwortung nehmen –
Menschenrechtsschutz gesetzlich regeln

Drucksachen 18/5203, 18/6181

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre und
sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich bitte, die spannenden Gespräche vielleicht woan-
ders zu führen und der Debatte zu folgen und den Redne-
rinnen und Rednern zuzuhören.

Ich gebe das Wort Renate Künast vom Bündnis 90/Die
Grünen.


Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816413500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In zehn

Tagen, am 24. April, ist der dritte Jahrestag des Unglücks
von Rana Plaza. Das war ein Gebäude in der Hauptstadt
von Bangladesch, das gar nicht für die Textilfertigung
vorgesehen war. Es gab darin eine Bank und Geschäfte,
und im obersten Stockwerk hat jemand Nähmaschinen
aufgestellt und Notstromaggregate installiert, weil in der
Hauptstadt Dhaka so oft der Strom ausfällt. Wenn das
der Fall ist, gehen mehrmals am Tag mit einer großen
Erschütterung die Aggregate an. Vor drei Jahren, am
24. April, hat sich gezeigt, dass die Statik des Gebäudes
diese Erschütterungen nicht aushielt, weil es dafür nicht
geplant war.

Es sind mehr als 1 100 Menschen von den Trümmern
zermalmt und unter ihnen begraben worden, mehr als
2 400 Menschen sind verletzt worden, viele darunter
schwer. Dieses Bild hat uns vor drei Jahren aufgerüttelt
und den Fokus auf die internationale Textilproduktion
gerichtet. Bei der Textilproduktion findet eine Art globa-
ler Wanderzirkus statt. Die Unternehmen gehen überall
dorthin, wo wenige Einschränkungen für sie herrschen,
wo es nur geringe Umweltstandards gibt, der Schutz der
Menschenrechte wenig ausgeprägt ist, die Arbeitsbedin-
gungen schlecht sind und kaum Sicherheitsstandards
eingehalten werden, kurz: Sie gehen dorthin, wo sie
möglichst billig produzieren können. Der globale Wan-
derzirkus geht auch heute immer weiter.

Die Bedingungen in der gesamten Produktionskette,
angefangen von der Baumwollproduktion bis hin zum
Endprodukt, sind von Unsicherheit und Nichtbeachtung
der Menschenwürde geprägt. Das schließt auch Sklaven-
und Kinderarbeit ein. Deshalb stehen die internationalen
Textilunternehmen und der Handel zu Recht in der Kri-
tik. Makaber ist, dass wir mit all diesen Ländern Inves-
titionsschutzabkommen abschließen, um das Geld, das
dort investiert wird, abzusichern, aber nicht dafür Sorge
tragen, dass die international anerkannten Arbeitnehmer-
und Menschenrechte hundertprozentig gewahrt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wie andere aus meiner Fraktion habe auch ich mir
schon manche Produktionsstätten angesehen, in China,
in Bangladesch und in Myanmar. Ich habe mit Gewerk-
schaftsvertreterinnen und -vertretern geredet, mit Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmern, NGOs, Unterneh-
merinnen und Unternehmern und auch mit Bestellern aus
Europa. Ich sage: Die Situation ist immer noch horror-
haft, selbst da, wo man sich auf den Weg gemacht hat,
um etwas zu ändern, was ich durchaus anerkennen will.

Ich will Ihnen ein Bild von meiner letzten Reise im
Februar nach Myanmar nennen. Ich war in einer Fabrik
für Brautkleider, und zwar Brautkleider, die auch nach
Europa und in die USA exportiert werden und in denen
die Frauen wie Prinzessinnen aussehen. Aber schauen
Sie sich die Arbeiterinnen dort an: Es sind junge Mäd-
chen, die alle im Kindesalter sind. Es ist Kinderarbeit.
Auch diese Kinder arbeiten zehn Stunden am Tag. Das
ist nicht in Ordnung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich glaube, wir alle müssen uns anstrengen und uns
bemühen, dass die Kleidung, die wir tragen, fair produ-
ziert ist. Wer, wenn nicht die Europäische Union, soll ei-
gentlich dafür Sorge tragen, dass die Arbeitnehmer- und
Menschenrechte tatsächlich umgesetzt werden? Deshalb
haben wir einen Antrag vorgelegt, der auf dem europäi-
schen Binnenmarkt Transparenz- und Sorgfaltspflichten
vorsieht, damit jeder Kunde, jede Gewerkschaft, die das
überprüfen will, und auch jeder Unternehmer erkennen
kann, woher welcher Rohstoff auf welcher Produktions-
stufe kommt und zu welchen Bedingungen und unter
welchen Kontrollen das Produkt produziert worden ist.

Ich sage Ihnen: Das zu wissen, ist das gute Recht der
Verbraucherinnen und Verbraucher, weil die Kunden Teil
des Wirtschaftslebens sind. Nicht nur die Unternehmer,
sondern auch die Endverbraucher haben das Recht, zu
wissen, woher die Produkte bzw. die Rohstoffe kommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Diese Art von Transparenz ist Voraussetzung für eine
Veränderung. Nur wenn wir eine solche Transparenz-
pflicht haben – natürlich wird es einige Jahre dauern,
diese zu implementieren und die Systeme zu etablieren;
aber wir leben im digitalen Zeitalter, und das wird wohl
machbar sein –, können wir kontrollieren und nachvoll-
ziehen, wer zu welchem Standard arbeitet. Wir haben
diesen Vorschlag gemacht, um uns jetzt endlich auf den
Weg zu machen.

Wenn Sie genau hinschauen, wissen Sie: Acht von
zehn Verbraucherinnen und Verbrauchern sagen: Wir
wollen faire Arbeitsbedingungen. Aber sie fragen auch:
Wie erkennen wir sie denn am Endprodukt, wenn da ge-
rade einmal „Made in Bangladesch“ oder so steht, wenn
nicht einmal etwas dazu ausgesagt wird, wo die anderen
Produktionsstufen sind, wenn man mehr nicht erkennen
kann?

Vizepräsidentin Claudia Roth






(A) (C)



(B) (D)


Ich bin der festen Überzeugung, dass zur Durchset-
zung der Interessen und der Rechte der Verbraucher auch
gehört, dass die Verbraucher keinen Suchauftrag bekom-
men, dass sie nicht mit Lexikon und Lupe und Handy ta-
gelang durch die Läden laufen und suchen müssen, bevor
sie das T-Shirt kaufen. Sie haben das Recht, zu wissen,
was drin ist. Es muss einfach erkennbar sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wer jetzt sagt: „Das ist wahnsinnig kompliziert“, dem
sage ich: Wir haben nicht hineingeschrieben: Es soll zum
1. Januar 2017 in Kraft treten. – Erst einmal müssen wir
es in der EU durchsetzen, meine Damen und Herren. Ich
habe das alles persönlich vor Jahren schon einmal beim
Thema Lebensmittel durchdekliniert. Im Lebensmittel-
bereich hat man den Druck der Kundinnen und Kunden
gehabt. Immer einmal wieder wurde enttarnt, wo die
Stoffe herkommen und warum im Futter plötzlich Anti-
babypillenrückstände und sonst etwas waren. Da hat man
gemerkt, dass man mehr Transparenz für die Kunden
schaffen muss, um sich selber im Unternehmen finanzi-
ell abzusichern. Was im Lebensmittelbereich möglich ist,
auch digital, nämlich eine Rückverfolgbarkeit in der gan-
zen Kette, muss für den Textilbereich genauso möglich
sein, meine Damen und Herren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. Stefan Rebmann [SPD])


Ich will einen Satz zu Minister Müller sagen, der im-
merhin – das kommt bestimmt nachher – ein deutsches
Textilbündnis eingeführt hat. Gut so! Gute Geschichte!
Aber ich sage Ihnen: 2014 wurde es eingerichtet. Bis
2016 wird es nicht einmal einen gemeinsamen Arbeits-
plan geben, geschweige denn Veränderungen. Green-
peace ist da weiter. Greenpeace hat mit über 30 globalen
Marken längst vereinbart, dass bis 2020 giftige Chemika-
lien aus den Produkten raus sein müssen.


(Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört! Hört!)


Falls gleich einer sagen möchte, dass das alles zu schwie-
rig ist: Es geht also.

Wir haben eine europäische Verordnung zu Transpa-
renz- und Offenlegungspflichten bei Konfliktrohstoffen
in Arbeit; sie wird verhandelt. Was für Konfliktrohstoffe
gilt, muss hinsichtlich der Menschen- und Umweltrechte
auch für unsere Kleidung gelten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Bei den Chemikalien muss gelten: Was hier gefährlich
und gesundheitsgefährdend ist, ist auch in Myanmar ge-
sundheitsgefährdend.

Deshalb sage ich: Lassen Sie uns ein System aufbau-
en, bei dem am Ende der Kunde erkennt, was Sache ist,
bei dem die Unternehmen wissen, was sie zu tun haben,
und die Herstellerländer wissen, was in der Europä-
ischen Union gefragt ist! Lassen Sie uns, Herr Müller,
unsere Entwicklungshilfe danach ausrichten! Unser Ziel
muss sein, nicht nur ein paar Pioniere zu haben, die statt

„Fast Fashion“ „Fair Fashion“ produzieren, sondern als
Europäer ein Zeichen zu setzen, dass wir die Menschen-
rechte umsetzen wollen. Ich bitte Sie um Zustimmung
dazu, weil wir dann die Transparenz- und Sorgfaltsregeln
definieren können, sie umsetzen können, weil dann die
Kunden sich danach verhalten können. Wer, wenn nicht
wir, soll denn eine solche Menschenrechtsinitiative er-
greifen?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816413600

Vielen Dank, Renate Künast. – Nächste Rednerin:

Mechthild Heil für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Mechthild Heil (CDU):
Rede ID: ID1816413700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolle-

ginnen und Kollegen, insbesondere von den Grünen! Ich
danke Ihnen ausdrücklich für den Antrag „Kleidung fair
produzieren“, den Sie hier eingebracht haben. Ich glaube
nämlich: Es gibt niemanden in diesem Raum, der nicht
die Arbeitsbedingungen in Textilfabriken in Bangla desch
und in anderen produzierenden Ländern verbessern
möchte. Auch in der Bevölkerung wächst die Zahl derer,
die gern wissen wollen, ob der Kaffee, den sie trinken,
und die Bluse, die sie tragen, fair produziert wurden. Vie-
le Menschen in Deutschland sind sensibilisiert, und das
finde ich richtig gut,


(Beifall bei der CDU/CSU)


zeigt es doch – bei aller Abschottungsrhetorik der letz-
ten Monate und bei allem lautstarken Protest und Ab-
lehnungsgeschrei, zum Beispiel bezogen auf TTIP oder
andere Handelsabkommen –: Es gibt in Deutschland die
Leute, die über den Tellerrand hinaussehen, denen es
wichtig ist, unter welchen Bedingungen Waren im Aus-
land produziert werden, die wir anschließend kaufen. Es
gibt immer mehr Menschen, die verstehen, dass wir sol-
che Herausforderungen nur gemeinsam lösen können –
gemeinsam in Europa und in einem gemeinsamen Markt
zum Beispiel mit den USA.

Wir allein in Deutschland haben nicht die Markt-
macht, die Arbeitsbedingungen zum Beispiel in Bangla-
desch zu ändern.


(Niema Movassat [DIE LINKE]: Das ist Quatsch!)


Auch deswegen ist TTIP wichtig. Ich teile das Ziel, die
Transparenz für die Verbraucher in Bezug auf die Lie-
ferketten zu verbessern und die Unternehmen bei der
Einhaltung ihrer Sorgfaltspflichten stärker in die Ver-
antwortung zu nehmen. Herzlichen Glückwunsch an die
Grünen! Frau Künast, Sie haben es wirklich geschafft,
dieses Thema in dieser Woche wieder prominent in den
Medien zu platzieren.


(Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gut gemacht!)


Renate Künast






(A) (C)



(B) (D)


Vielen Dank für die Initiative. Das tut dem Thema gut.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Heinz Wiese [Ehingen] [CDU/ CSU] – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und wir reden jetzt darüber!)


Aber auch, wenn wir die übergeordneten Ziele, die Sie
formuliert haben, sehr wohl teilen,


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt irgendwann das Aber!)


so halten wir doch Ihre Lösungsansätze weder für not-
wendig noch für zielführend.


(Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil? – Johannes Selle [CDU/CSU]: Kommt alles noch!)


Die Wirklichkeit ist viel mühsamer und viel komplizier-
ter, als Sie das hier eben dargestellt haben. Denn nicht
ein weiteres Gesetz in Europa ist notwendig. Wichtig ist,
alle relevanten Akteure entlang der Lieferketten einzu-
binden. Dazu gehören natürlich die Unternehmen, dazu
gehören die Länder, also die Regierungen, dazu gehören
die Gewerkschaften, und dazu gehören natürlich auch
Standardorganisationen, wie zum Beispiel die ILO, die
Arbeitsstandards festlegen. Alle müssen gemeinsam an
einen Tisch und in den Verbesserungsprozess eingebun-
den werden.

Deshalb ist unser Ansatz ein anderer. Er entspricht
übrigens auch den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und
Menschenrechte. Wir treiben den Verbesserungsprozess
auf nationaler und auf internationaler Ebene voran, mit
freiwilligen und mit verbindlichen Regelungen. Ich glau-
be, diese Mischung ist uns wirklich gut gelungen.

Sie selber haben das Textilbündnis angesprochen. Ihre
Kritik am Textilbündnis verstehe ich allerdings nicht. Sie
sagen, das Textilbündnis sei ausschließlich national und
freiwillig,


(Johannes Selle [CDU/CSU]: Das war von den Grünen! Deswegen!)


deswegen bringe es nichts.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habe ich nicht gesagt, dass es nichts bringt! – Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Nicht zugehört! – Niema Movassat [DIE LINKE]: Kein Ergebnis! Das Statement kriegen Sie gleich ausführlich!)


Was ist das wieder für ein Weltbild? Von den Linken bin
ich es gewöhnt, aber nicht von den Grünen. Also: Alles,
was freiwillig geschieht, ist schlecht, alles, was auf staat-
lichem Zwang beruht, ist gut. Das widerspricht nicht nur
jeder menschlichen Erfahrung, sondern das ist auch sach-
lich vollkommen falsch.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da gebe ich Ihnen recht! Es geht auch überhaupt nicht um dieses Thema! Sachlich völlig falsch, was Sie da erzählen!)


Ja, die Mitgliedschaft im Textilbündnis ist freiwillig.
Aber: 55 Prozent des deutschen Textileinzelhandels sind
in diesem Bündnis organisiert, und wenn man sich die
Entwicklung ansieht, dass stellt man fest, dass das, was
im Oktober 2014 mit 34 Teilnehmern angefangen hat,
jetzt auf immerhin 180 Mitglieder angewachsen ist.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es kommt auf die Frage an, was passiert, und nicht darauf, wie viele drin sind!)


Dazu zählen im Übrigen auch große Konzerne wie Ede-
ka, Aldi, Adidas, Boss, H&M, KiK oder Otto, die natür-
lich alle international aufgestellt sind.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Primark!)


Es ist also nicht so, dass es sich hierbei um ein rein nati-
onales Bündnis handelt. Eine internationale Ausrichtung
war von Anfang an unser Ziel. Dazu kommt – ich glaube,
das ist auch sehr entscheidend –: Die Teilnehmer haben
sich auf eine hohe Verbindlichkeit geeinigt.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber noch nicht darauf, was verbindlich sein soll!)


Dafür unterziehen sie sich einem Audit durch unabhängi-
ge Dritte. Dieser Prozess läuft im Moment. Im nächsten
Monat wird er beendet, und das Ergebnis wird natürlich
auch veröffentlicht, damit jeder sehen kann, wie gut die
Unternehmen eigentlich sind.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hätten Sie mal den Staatssekretär gestern hier hören müssen!)


Das Bündnis leistet also viel mehr, als Sie unterstel-
len. Das ist ein Riesenerfolg. Das ist richtig gut, und wir
sind noch lange nicht am Ende dieser Entwicklung. Da-
für an dieser Stelle ein ganz herzliches Dankeschön an
unseren Entwicklungsminister Gerd Müller und auch an
sein Haus. Da er nicht da ist, kann es der Staatssekre-
tär sicherlich ausrichten. Vielen Dank von uns an Sie für
Ihre Arbeit!


(Beifall bei der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816413800

Frau Heil, erlauben Sie eine Zwischenbemerkung

oder -frage des Kollegen Kekeritz?


Mechthild Heil (CDU):
Rede ID: ID1816413900

Nein, er hat hier gleich die Gelegenheit. Er kann noch

sprechen.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816414000

Kann er nicht.


(Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, kann ich nicht! Darf ich nicht! Frau Künast hat gesprochen!)


Mechthild Heil






(A) (C)



(B) (D)



Mechthild Heil (CDU):
Rede ID: ID1816414100

Sie hatten ja eine Vorreiterin. Frau Künast hat gespro-

chen. Nein.

Sie sehen: Deutschland geht in vielen Fragen voran.
Unser Ziel ist klar: Wir wollen die sozialen und ökologi-
schen Standards bei der Herstellung von Textilien erhö-
hen. Dazu brauchen wir Partner. Allein werden wir das
nicht schaffen. Die bis zu 140 Produktionsstufen, die –
C&A hat das im Moment veröffentlicht – für die Her-
stellung eines Hemdes nötig sein können, bekommt man
nicht einfach mit einem deutschen oder europäischen
Gesetz in den Griff. Wir brauchen die Partnerschaft, das
Know-how, die Einsicht der Unternehmen. Kleidung
wird in Dutzenden von Ländern produziert, in Tausenden
von Betrieben mit ganz unterschiedlichen Problemstel-
lungen: vom Mindestlohn bis hin zur Kinderarbeit, von
gentechnisch veränderten Baumwollpflanzen bis hin zu
gesundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen, vom ver-
nachlässigten Brandschutz bis hin zum fehlenden Tier-
schutz. Wenn wir darauf Einfluss nehmen wollen, brau-
chen wir Verbündete, um unsere Marktmacht zu stärken,
und wir brauchen die Bereitschaft der Länder, uns auf
diesem Weg zu begleiten.

Deswegen, liebe Grüne, liebe Kollegen von den Lin-
ken, bei den Zielen sind wir uns einig, aber die von Ihnen
vorgeschlagenen Wege sind einfach falsch. Deshalb leh-
nen wir Ihren Antrag ab.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU – Niema Movassat [DIE LINKE]: Das ist überraschend!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816414200

Vielen Dank, Kollegin Heil. – Nächster Redner in der

Debatte: Niema Movassat für die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Niema Movassat (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1816414300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit gro-

ßem Tamtam bewirbt Entwicklungsminister Müller im-
mer sein Textilbündnis. Er will damit die schlechten Ar-
beitsbedingungen von Näherinnen weltweit bekämpfen.
Was die Textilkonzerne davon halten, lässt sich einem
Rundbrief des Modeverbandes German Fashion entneh-
men. Dieser Lobbyverband der deutschen Modeindustrie
schrieb letztes Jahr an seine Mitglieder – ich zitiere –:
Man habe „alle problematischen Punkte aus dem Akti-
onsplan herausverhandeln“ können, es gebe nun „kei-
ne Verbindlichkeit mehr“ beim Textilbündnis. German
Fash ion ruft seine Mitglieder zum Beitritt beim Textil-
bündnis auf, weil man damit werben könne und weil man
sich damit „unter einen Schutzschirm der Bundesregie-
rung“ begibt. Der Textillobby geht es also nicht um eine
Verbesserung der Situation der Näherinnen, sondern vor
allem um einen Schutzschirm vor schlechter Presse.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Textilbündnis dient vor allem der Imagepflege, so-
wohl der Textilkonzerne als auch der Bundesregierung.
Schon deshalb ist es der falsche Weg.

Zu Ihren Bündnispartnern, Herr Fuchtel, gehört auch
KiK, ein Unternehmen, das sich bis heute weigert, an-
gemessene Entschädigungszahlungen an die Opfer der
Brandkatastrophe von Ali Enterprises in Pakistan zu zah-
len. Damals starben 289 Menschen. Wir hatten hier im
Bundestag im November ein Gespräch mit Frau Parveen.
Sie ist Witwe, ihr Mann starb durch den Brand in der Fa-
brik in Pakistan. Sie beklagte, dass es KiK vollkommen
egal ist, was mit den Überlebenden und den Angehörigen
der Opfer geschieht. KiK habe seine Versprechen nicht
gehalten. Das ist ein Skandal. Und Sie wollen solche
Partner?


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Letzten Monat ist mit Primark ein weiteres schwarzes
Schaf der Branche dem Bündnis beigetreten. Für das Un-
ternehmen MDC Sportswear brachte dies das Fass zum
Überlaufen. In einem Brief an Minister Müller erklärte
die Firma – ich zitiere –:

Der Beitritt von Primark, einem Unternehmen, wel-
ches mit seiner Wegwerfmode das Gegenteil dessen
macht, wofür wir stehen, macht es uns unmöglich,
noch länger dem Bündnis anzugehören.

Das Textilbündnis besteht seit Oktober 2014. – Ich zitiere
weiter –:

Seitdem hat sich gar nichts getan.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816414400

Herr Kollege, erlauben Sie eine Bemerkung oder Zwi-

schenfrage von Frau Pfeiffer von der CDU/CSU?


Niema Movassat (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1816414500

Ja, gerne.


Sibylle Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1816414600

Vielen Dank, Frau Vorsitzende. – Lieber Kollege

Movassat, sind Sie nicht mit mir einer Meinung, dass es
besser ist, die KiKs und Primarks dieser Welt in diesem
Bündnis zu haben, als wenn sie außen vor bleiben? Von
MDC wissen wir, dass sie hervorragend produzieren und
dass alles in Ordnung ist, bei KiK und Primark wissen
wir es nicht. Sie unterwerfen sich mit dem Bündnis der
allgemeinen Verbindlichkeit, die sie sich selber geben,
und da sind sie auch zu packen. Ich finde es auch nicht
gut, dass sie ihren Verpflichtungen bis heute nicht nach-
gekommen sind. Das müssen wir einmal sehen. Aber ich
habe sie doch lieber im Bündnis, um zu fragen: Warum
bist du die Verpflichtung noch nicht eingegangen? Dann
kann man sie eher zur Verantwortung ziehen, damit sie
ihrer Verpflichtung nachkommen, als wenn sie außen vor
sind und ich noch nicht einmal ein Argument habe, sie
daran zu erinnern.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Niema Movassat (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1816414700

Das erste Problem ist, Frau Kollegin Pfeiffer, dass es

um die Glaubwürdigkeit von Partnern geht, die man sich
nimmt. Wenn Partner nicht einmal in Fällen, in denen sie






(A) (C)



(B) (D)


Entschädigung zahlen sollten, reagieren, dann verspricht
das nichts Gutes für die Zukunft, wenn sie in einem Tex-
tilbündnis mitmachen.

Das zweite Problem ist, dass das Textilbündnis, das
Herr Müller initiiert hat, am Ende keine allgemeinen Ver-
pflichtungen vorsieht. Es wird Vorschläge machen, und
die Unternehmen können sich dann individuelle Maß-
nahmenkataloge geben. Das ist natürlich ganz toll: in-
dividuelle Maßnahmenkataloge. Die werden mit Sicher-
heit nichts hineinschreiben, was sie irgendwie schädigen
könnte. Insofern funktioniert dies so nicht.

Wenn man die Unternehmen wie Primark und KiK in
die Pflicht nehmen möchte, dann muss man bereit sein,
allgemeine Verpflichtungen aufzuschreiben. Wie ich am
Anfang mit dem Zitat von German Fashion ausführte,
gibt es keine allgemeinen Verpflichtungen. Das hat die
Modeindustrie herausverhandelt. Deshalb sind die über-
haupt noch an Bord. Dadurch wird aufgezeigt, dass die-
ses Bündnis so nicht funktionieren kann.


(Beifall bei der LINKEN)


Um noch einmal auf MDC Sportswear zurückzukom-
men: Wenn man sich diese Kritik am Textilbündnis vor
Augen führt, sieht man, dass sie vernichtend ist.

Herr Müller sagt, dass bis 2017 mindestens 75 Prozent
der Unternehmen des deutschen Einzelhandelsmarktes
Mitglied des Bündnisses sein werden. Das klingt toll,
aber da gilt eben: Masse vor Klasse. Denn es wird keine
allgemeinen Verpflichtungen geben, sondern jedes Unter-
nehmen wird das machen, was es will. Es bringt nichts,
wenn man Mitglied eines Bündnisses ist, am Ende aber
nichts verpflichtend umsetzen muss. Das ist eine Farce.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn Herr Müller den Näherinnen wirklich helfen
will, dann müsste er ein Gesetz für die Auslandstätigkeit
deutscher Unternehmen vorlegen; denn die Einhaltung
von Menschenrechten darf nicht auf Freiwilligkeit beru-
hen. Dabei geht es nicht nur um die Textilindustrie. Es
geht auch um Kinderarbeit in indischen Steinbrüchen zur
Herstellung von Grabsteinen auf unseren Friedhöfen, um
sklavenähnliche Arbeitsbedingungen in Kongos Minen
zur Rohstoffgewinnung für unsere Handys oder eben
auch um die Ausbeutung von Näherinnen. Die Probleme
sind dieselben.

Hier soll der Nationale Aktionsplan „Wirtschaft
und Menschenrechte“ Abhilfe schaffen. Die Bundes-
regierung wird ihn Ende dieses Jahres vorlegen. Damit
kommt sie einer Forderung der Vereinten Nationen und
der EU-Kommission aus dem Jahre 2011 nach. Damals
hatten die UN gefordert, dass Unternehmen Menschen-
rechtsverletzungen in der gesamten Produktionskette
ausschließen müssen. Die Bundesregierung hat aber erst
2014 begonnen, sich damit zu befassen. Zu Beginn des
Bundestagswahljahres 2017 will sie den Prozess mit un-
verbindlichen Empfehlungen abschließen.

Klar ist: Vor der Bundestagswahl wird es nichts Kon-
kretes mehr geben, und nach der Wahl wird es eine neue
Regierung geben. Die wird wahrscheinlich erst einmal
die Vorschläge prüfen wollen. Das heißt auf gut Deutsch:

Bis 2018 wird nichts oder fast nichts passieren. Damit
wird Deutschland sieben Jahre, nachdem UN und EU na-
tionale Aktionspläne gefordert haben, immer noch nicht
gehandelt haben. Das ist eine schlechte Nachricht für all
die, die weltweit unter erbärmlichen Arbeitsbedingungen
schuften, auch damit deutsche Konzerne saftige Gewinne
erwirtschaften.

Mit unserem Antrag haben wir konkrete Vorschläge
für Verbesserungen gemacht. Wir schlagen vor, dass die
Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorlegt, der ers-
tens menschenrechtliche Mindeststandards entlang der
gesamten Wertschöpfungskette verbindlich macht, zwei-
tens die zivilrechtliche Haftung bei Menschenrechtsver-
stößen ausbaut und drittens ein Unternehmensstrafrecht
beinhaltet, wie es fast alle EU-Länder mittlerweile ein-
geführt haben.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn die Bundesregierung die Einhaltung der Men-
schenrechte bei Arbeiterinnen in Bangladesch und ähnli-
chen Staaten tatsächlich verbessern will, dann sollte sie
aufhören, weitere Jahre mit Scheindebatten zu verbrin-
gen, und endlich konkret zur Tat schreiten.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816414800

Vielen Dank, Kollege Movassat. – Die nächste Redne-

rin: Elvira Drobinski-Weiß für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Elvira Drobinski-Weiß (SPD):
Rede ID: ID1816414900

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tri-
bünen! Im Zuge der Globalisierung ist Wirtschaft, was
Produktions-, Liefer- und Dienstleistungsketten angeht,
weltweit sehr weit verzweigt. Insbesondere lohnkos-
tenintensive Arbeiten werden oft in den Entwicklungs-
und Schwellenländern Asiens oder Afrikas erledigt. Das
könnte man positiv sehen; denn eine starke lokale Wirt-
schaft in den Entwicklungsländern bietet diesen Chancen
auf wirtschaftliche Entwicklung und Wissenstransfer.

Multilaterale Unternehmen können also einen erhebli-
chen Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung leisten.
Mit „nachhaltig“ meine ich, dass diese ihre Ziele auch
nach sozialen, menschenrechtlichen und ökonomischen
Kriterien ausrichten. Einige deutsche Unternehmen neh-
men diese gesellschaftliche Verantwortung bereits wahr
und engagieren sich. Sie integrieren Nachhaltigkeitsstra-
tegien in ihr Kerngeschäft. Dieses Engagement jedoch –
jetzt kommt eine Einschränkung – ist nur freiwillig.
Bisher muss kein Unternehmen über Arbeits- und Um-
weltbedingungen Rechenschaft ablegen.

Die vorher schon genannten Unglücksfälle haben
gezeigt: Ein nachhaltiges Engagement der international
agierenden Unternehmen ist nicht Standard. Die verant-
wortungsvollen Unternehmen stehen im Wettbewerb mit
denen, die nach wie vor Diskriminierung, Lohndumping
und Umweltverschmutzung verantworten oder akzep-

Niema Movassat






(A) (C)



(B) (D)


tieren. Leider fehlt derzeit jegliche Transparenz. Noch
schlimmer finde ich: Die Nichtanwendung menschen-
rechtlicher Sorgfalt und die Zerstörung der Umwelt blei-
ben für diese Unternehmen folgenlos. Das wollen wir
und das wollen viele Konsumenten so nicht länger hin-
nehmen.


(Beifall bei der SPD)


Wir wollen, dass Kinder weltweit zur Schule gehen und
nicht in Steinbrüchen oder Textilfabriken arbeiten. Wir
wollen, dass Arbeiter so entlohnt werden, dass sie und
ihre Familien davon leben können. Wir wollen, dass aus
der Verletzung von Menschenrechten kein Vorteil gezo-
gen werden kann.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Manfred Grund [CDU/CSU])


Das Textilbündnis, verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen, stellt eine Handlungsmöglichkeit für gelebte Verant-
wortung dar. Ziel des Bündnisses ist es, konkrete Ver-
besserungen der sozialen und ökologischen Standards
entlang der gesamten textilen Wertschöpfungskette zu
erreichen. Mit dem Bündnis sollen unter anderem in-
ternational anerkannte Leitlinien und Standards wie die
UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte,
die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen
oder die ILO-Kernarbeitsnormen – darauf wird der Kol-
lege Barthel nachher noch eingehen – flächendeckend in
der Bekleidungs- und Textilindustrie umgesetzt werden.
Das ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Für Ver-
braucherinnen und Verbraucher können derzeit unabhän-
gige und transparente Textilsiegel als Orientierung die-
nen, anhand derer sie erkennen können, ob ein Produkt
diesen Erwartungen entspricht.

Sehr geehrte Damen und Herren, die vorliegenden
Anträge enthalten vorwiegend Vorschläge, wie man den
Bereich der Textilproduktion verbessern kann. Das reicht
nicht. Nichtregierungsorganisationen decken immer wie-
der Verletzungen von Arbeitsrechten und Umweltzer-
störungen auf; keine Branche kann sich von diesen Vor-
würfen komplett freisprechen. Deshalb begrüße ich, dass
auf europäischer Ebene im Oktober 2014 die sogenannte
CSR-Richtlinie verabschiedet wurde. Kapitalmarkt ori-
en tierte Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern,
Kreditinstitute, Finanzdienstleistungsinstitute und Versi-
cherungsunternehmen müssen zukünftig eine erweiterte
Berichterstattung vorlegen. Das heißt, sie sollen künftig
stärker über nichtfinanzielle Aspekte und von ihnen ver-
folgte Konzepte berichten. Bundesjustizminister Heiko
Maas und sein Ministerium bereiten gerade die Umset-
zung in nationales Recht vor.

Die Pflichten zur Berichterstattung über nichtfinanzi-
elle Aspekte müssen noch in diesem Jahr im Handelsge-
setzbuch verankert werden. Im Bereich Umwelt müssen
dann beispielsweise Angaben zu Treibhausgasemissio-
nen, zum Wasserverbrauch, zur Luftverschmutzung oder
zum Einsatz erneuerbarer Energien gemacht werden. Im
Bereich der Arbeitnehmerbelange müssen Angaben zu
den Arbeitsbedingungen, zur Achtung der Arbeitnehmer-
rechte, zum Gesundheitsschutz oder zur Sicherheit am
Arbeitsplatz gemacht werden. Es gäbe hier noch weitere
Punkte aufzuzählen. Doch für mich ist hier wesentlich:

Ein Unternehmen, das kein Konzept hinsichtlich sozialer
und ökologischer Standards hat, muss erklären, warum
es sie nicht hat.

Konsumenten und Investoren erhalten durch die
Pflichten zur Berichterstattung über nichtfinanzielle As-
pekte endlich bessere Informationen über die Geschäfts-
tätigkeit von Unternehmen, anhand derer sie entscheiden
können, ob sie in die Unternehmen investieren, Liefer-
beziehungen mit ihnen eingehen oder deren Produkte
kaufen. Ich unterstütze diesen Ansatz. Er ist – anders als
der Antrag der Grünen – branchenübergreifend und nicht
auf die Textilbranche beschränkt. Und er ist – anders als
der Antrag der Linken – auf europäische Vorgaben ausge-
richtet und beschränkt sich nicht auf das nationale Recht.
Soziale und ökologische Verantwortung soll ein Wettbe-
werbsvorteil und darf nicht länger ein Wettbewerbsnach-
teil sein.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816415000

Danke, Frau Kollegin Drobinski-Weiß. – Jetzt hat der

Parlamentarische Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel
für die Bundesregierung das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ha
Hans-Joachim Fuchtel (CDU):
Rede ID: ID1816415100


Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
legen! Zunächst einmal möchte ich festhalten, dass der
Einsturz des Rana Plaza wohl für uns alle ein Grund war,
zu überlegen, wieweit wir unser Leben auf Kosten ande-
rer gestalten, und Anlass zum Handeln gegeben hat. Wir
sind uns auch einig, dass die Transparenz erhöht werden
muss. Wir sind uns auch einig, dass Unternehmen ihre
Sorgfaltspflicht in entsprechender Weise wahrzunehmen
haben. Aber wir sind uns, wie ich der Debatte entneh-
me, nicht einig, auf welche Weise das geschehen soll. Ich
entnehme der Debatte auch, dass manche einfach nicht
bereit sind, zur Kenntnis zu nehmen, was alles jetzt auf
den Weg gebracht wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich halte Frau Künast zugute, dass sie von vornherein
sagt, dass die Umsetzung ihres Vorschlags Jahre in An-
spruch nehmen wird. Aber gerade das wollen wir nicht.
Wir wollen, dass jetzt geholfen wird, dass jetzt mit den
Maßnahmen begonnen wird. Das hilft den Näherinnen in
Bangladesch und anderswo.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben schon zwei Jahre vertan!)


– Ja, es hat 2014 angefangen.

Sie sagen, man kann als Verbraucher überhaupt nichts
tun. Ich habe in meiner langen Zeit als Abgeordneter hier
noch nie mein Handy gebraucht, um etwas zu demons-

Elvira Drobinski-Weiß






(A) (C)



(B) (D)


trieren. Zwischenzeitlich gibt es die App „Siegelklar-
heit“, die Sie herunterladen können. Sie können damit
beim Einkauf das Siegel an einem Hemd oder an einer
Bluse einscannen. Die App zeigt dann eine rote, eine
gelbe oder eine grüne Ampel. Die App sagt Ihnen zum
Beispiel auch, warum eine rote Ampel zu sehen ist. Das
ist doch ein Fortschritt.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So eine App gibt es schon länger, Herr Staatssekretär!)


Die Menschen können anfangen, selber mitzuwirken.

Wir brauchen in der gesamten zukünftigen Debatte
auch den Konsumenten an unserer Seite.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wenn 87 Prozent der Verbraucher sagen, es sei ihnen
wichtig, zu wissen, wie die Kleidung, die sie tragen, her-
gestellt worden ist, dann müssen wir ihnen die Möglich-
keit geben, sich noch im Shop zu informieren, um dann
entsprechend einkaufen zu können.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt doch kein Siegel für konventionelle, das Menschenrechte einhält! Außerdem haben wir das falsche Handy!)


Das ist ein ganz praktischer Fortschritt in dieser Ange-
legenheit.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Leuchten Sie mal Ihren Anzug ab!)


Die Debatte hat uns auch veranlasst, in neuen Katego-
rien zu denken, zum Beispiel in der Kategorie „Lieferket-
ten“; denn durch die Daten von Lieferketten haben wir
ganz andere Möglichkeiten, Probleme zu analysieren,
Probleme stückweise anzugehen. Diese neue Politik der
Lieferketten haben wir nach Europa getragen, sogar bis
zum G-7-Gipfel. Das hat zu Beschlüssen geführt, deren
Umsetzung jetzt ansteht. Eine Umsetzung erfolgt auch
im Textilbündnis. Das ist keine kleine Veranstaltung nur
zur Schau und auf Wahlen bezogen, wie hier behauptet
wurde; das ist angesichts der Problematik ein bisschen
zu billig, Herr Movassat. Vielmehr wollen wir dafür sor-
gen, dass alle an einem Strang ziehen. Wir wollen, dass
man kritisch diskutiert und Stück für Stück die Qualität
verbessert. Das ist das Ziel der ganzen Übung. Das ist
meiner Meinung nach für die Zukunft sehr wichtig.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir sind bei weitem nicht nur national unterwegs. Wir
haben das Anliegen an die EU-Kommission herangetra-
gen. Es gibt jetzt die Garment-Initiative, die wir absolut
unterstützen. Wir arbeiten mit allen Ländern zusammen,
die in Europa bereits etwas tun. Wir sind auch vor Ort ak-
tiv. Zwischenzeitlich gehören unserem Bündnis Firmen
an, die allein in Bangladesch insgesamt ein Umsatzvo-
lumen von circa 1,5 Milliarden Dollar erreichen. Wer da
noch behauptet, dass sich nichts bewegt, der ist in einer
anderen Welt zu Hause.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sich bewegt, bewegt sich längst ohne Sie!)


– Das bewegt sich sehr wohl mit uns, und zwar zentral
mit uns. So etwas gab es vorher noch nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Quatsch! H & M hat die Veränderung gemacht! Vor Ihrem Bündnis!)


Ich kann nur dazu aufrufen, dass wir diesen konkre-
ten Weg weitergehen. Wir sind sehr daran interessiert
und sehen mit großer Zuversicht, dass sich immer mehr
Firmen dem Bündnis anschließen. Vorhin wurde davon
gesprochen, dass dem Bündnis bereits so viele Firmen
beigetreten sind, dass ein Marktanteil von 55 Prozent ab-
deckt ist. Man kann davon ausgehen, dass der Anteil in
der Zwischenzeit bei fast 60 Prozent liegt. Das Ziel ist
ein Marktanteil von 75 Prozent. Ich möchte sehen, ob Sie
dann noch solche Reden halten.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Gerne!)


Ich bitte um weitere Debatten an dieser Stelle, damit
wir über die positive Entwicklung, die mit Hilfe des BMZ
erfolgt, berichten können. Ich kann Sie nur einladen:
Helfen Sie mit, Verbraucher zu aktivieren, damit wir bei
der Erreichung der Ziele noch schneller vorankommen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816415200

Herr Fuchtel, bevor Sie das Pult verlassen: Erlauben

Sie noch eine Frage von Herrn Movassat?

Ha
Hans-Joachim Fuchtel (CDU):
Rede ID: ID1816415300


Ich habe ja schon gesagt: Jede Chance, ein bisschen
länger über dieses Thema zu reden, ist gut.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eigentlich schon genug geredet! Aber, gut!)



Niema Movassat (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1816415400

Es freut mich natürlich, Herr Staatssekretär, dass ich

Ihnen mehr Redezeit verschaffen kann. Mich würde in-
teressieren: Wird es im Rahmen des Textilbündnisses am
Ende allgemeine Regeln für alle Teilnehmer, für alle Un-
ternehmen geben? Oder wird es nur einen Katalog mit
individuellen Maßnahmen geben? Ehrlich gesagt, das ist
eine Frage, die mir noch keiner aus der Bundesregierung
ganz konkret beantworten konnte.

Ha
Hans-Joachim Fuchtel (CDU):
Rede ID: ID1816415500


Die Entwicklung wird natürlich dahin gehen, dass
man zum Schluss eine plakative Möglichkeit hat, um zu
sehen, ob ein Produkt nachhaltig hergestellt wurde oder

Parl. Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel






(A) (C)



(B) (D)


nicht, aber das kann nicht von heute auf morgen gesche-
hen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat er aber nicht gefragt! Das war gar nicht seine Frage!)


Es wurde von Frau Künast ja gesagt, dass es Jahre dau-
ern wird, bis Ihre Gesetzgebung überhaupt umgesetzt ist.
Ich wage allerdings die Behauptung, dass die Praxis hier
schneller sein wird als die Umsetzung dessen, was Frau
Künast hier sagt.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie hören ja nicht zu!)


Sie ziehen völlig falsche Schlüsse. Ich kann nur sagen:
Da muss ein Schritt nach dem anderen gemacht werden,
damit das zu einem Ganzen werden kann. Seinerzeit
hatten wir sehr viele Siegel und alles Mögliche auf dem
Markt. Es geht darum, dass man Konsens herstellt und
das entsprechend auf den Weg bringt.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist denn Ihr grüner Knopf?)


Sie können hier aber nicht verlangen, dass das Ei bereits
gelegt ist, bevor überhaupt daran gedacht wurde, dass es
entstehen soll.

Insoweit, meine Damen und Herren: Stück für Stück
wird sich die Sache bewegen. Wir haben aber nicht weg-
geschaut, als die Kameras nicht mehr da waren, sondern
Minister Müller hat weiter für die Sache gekämpft. Er hat
Zwischenerfolge, die wir heute darstellen konnten.


(Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kann einem passieren, dass man bei Zwischenfragen keine Antwort bekommt! – Niema Movassat [DIE LINKE]: Das war eine Frage, die man mit Ja oder Nein beantworten kann, und es kam nur Geschwurbel!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816415600

Vielen herzlichen Dank, Herr Fuchtel. – Nächster

Redner in der lebendigen Debatte: Klaus Barthel für die
SPD.


(Beifall bei der SPD)



Klaus Barthel (SPD):
Rede ID: ID1816415700

Es ist ja schön, dass es eine lebendige Debatte gibt und

dass wir uns offensichtlich in den Zielen sehr einig sind.
Es ist auch gut, dass das Thema Rana Plaza hier nicht in
Vergessenheit gerät und dass wir uns, wie das auch Frau
Künast getan hat, heute nach drei Jahren noch einmal da-
ran erinnern. Ich will noch einmal daran erinnern, dass
solche gefährlichen Arbeitsbedingungen und die Gefähr-
dung von Gesundheit und Leben von Menschen, krank-
machende Arbeit und die Zerstörung der natürlichen
Lebensgrundlagen zentrale Ursachen von Flucht und
Vertreibung sind und dass man diesen Zusammenhang
immer wieder herstellen muss.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich glaube auch, dass es Sinn macht, sich 14 Tage vor
dem 1. Mai weltweit für gute Arbeit einzusetzen.

In der Tat gibt es Fortschritte zu verzeichnen, und
die sollten wir nicht leugnen. Das macht keinen Sinn.
Zum Beispiel hat es im Jahr 2000 weltweit nicht einmal
zehn Rahmenabkommen zwischen Arbeitgeberverbän-
den und Gewerkschaften gegeben, die international Ar-
beitsbedingungen regeln. Mittlerweile gibt es 85 davon.
Deren Erfolg hängt zum Beispiel davon ab, dass sie in
den Partnerländern wirksam kontrolliert und umgesetzt
werden. Die Erfahrung zeigt: Dort, wo es starke Gewerk-
schaften und betriebliche Vertretungen mit gesetzlichen
Rechten gibt, funktioniert das auch einigermaßen. Dort
funktioniert es jedenfalls besser. Deswegen ist es so, dass
die Sozialdemokratie zum Beispiel bei allen internatio-
nalen Abkommen so penetrant für die Einhaltung von
ILO-Kernarbeitsnormen kämpft,


(Beifall bei der SPD)


die Streikrecht, Tarifautonomie, Verbot von Kinderar-
beit, Koalitionsfreiheit usw. umfassen.

Es ist andererseits natürlich auch richtig – das ist an-
gesprochen worden –, dass der jetzige Stand, den wir
erreicht haben, unbefriedigend ist. Es könnte viel mehr
solcher Rahmenabkommen geben. Wir haben schon seit
15 Jahren die Bemühungen auf europäischer Ebene um
entsprechende Regelungen beim Import von Produkten,
bei Partnerschaftsabkommen usw. Die Umsetzung der
internationalen Vereinbarungen hinkt jedoch hinterher.
Stichworte sind SDGs und CSR und Nationaler Aktions-
plan.

Wenn ich beim Nationalen Aktionsplan bin, dann
muss ich mich etwas über die Linken wundern; denn sie
scheinen das, worauf sich dieser bezieht, überhaupt nicht
zu kennen. Herr Movassat, Sie haben übrigens zu allem
Möglichen geredet, aber nicht zu Ihrem Antrag. Sie ha-
ben einen Rundumschlag gemacht. Was Sie hier beantra-
gen, ist ziemlich erbärmlich. Da heißt es zum Beispiel:
Die Bundesregierung wird aufgefordert, „den Prozess
bei den Vereinten Nationen zur Entwicklung verbindli-
cher internationaler Standards im Bereich der Wirtschaft
und Menschenrechte zu unterstützen“. Meine Damen
und Herren, so etwas gibt es seit 2011, und es geht jetzt
darum, das national umzusetzen. Das erwähnen Sie nicht
einmal.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


In Ihrem Antrag blenden Sie die internationale Dimensi-
on völlig aus, weil Sie sich nicht trauen, die internationa-
le Komponente in Ihren Reihen anzusprechen.


(Niema Movassat [DIE LINKE]: Das habe ich doch gesagt!)


Sie müssen das einfach einmal nachlesen. Es gibt eine
Differenz zwischen Ihrem Antrag und Ihren Reden.


(Niema Movassat [DIE LINKE]: Das habe ich gesagt! Lesen Sie meine Rede nach!)


Parl. Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel






(A) (C)



(B) (D)


Bei der Formulierung Ihres Antrags hatten Sie die natio-
nale Brille auf; bei den Reden, die Sie hier halten, ist das
etwas anderes.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Unter Niveau, Klaus!)


Es gibt in der Tat viel zu tun. Diese Koalition geht
das Thema an. Das machen wir. Auch das Textilbündnis
reicht nicht aus; aber es geht immerhin voran. Wir sind
gespannt, was die Arbeitsgruppen im Sommer auf den
Weg bringen.

Diejenigen, die für verbindliche und umfassende Re-
gelungen kämpfen, haben recht: Die Zeit der Freiwil-
ligkeit läuft irgendwann einmal ab. Die Verantwortung
tragen diejenigen, die jahrelang blockiert haben. Herr
Fuchtel, ich glaube, wir müssen irgendwann zu einem
Punkt kommen, an dem wir sagen – den Vergleich mit
der Ampel finde ich sehr gut –: Wir haben in der Stra-
ßenverkehrsordnung keine freiwillige Entscheidung, ob
man bei Rot halten oder weiterfahren will, sondern wir
haben einen verbindlichen Halt, und wer nicht hält, wird
bestraft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich glaube, an diesem Punkt sind wir langsam angekom-
men.

Deswegen kämpfen wir – gemäß Beschlüssen unserer
Fraktion und unserer Partei – für Transparenz im Welt-
handel, für verbindliche Standards und Regeln, für eine
verbindliche Umsetzung, für verbindliche Kontrollen
und für Sanktionen. Wir kommen damit auch vorwärts,
zum Beispiel bei den Konfliktmineralien. Die Bundes-
regierung hat unsere Position mittlerweile übernommen
und setzt sich in Europa für verbindliche Regelungen für
den Import von Konfliktmineralien ein.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816415800

Herr Kollege Barthel, ich will Sie in Ihrem Re-

deschwall nicht unterbrechen,


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Schwall“?)


aber der Kollege Movassat meldet sich schon seit gerau-
mer Zeit. Darf er etwas sagen oder fragen?


Klaus Barthel (SPD):
Rede ID: ID1816415900

Er darf, natürlich.


Niema Movassat (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1816416000

Herr Kollege Barthel, erstens glaube ich nicht, dass es

nationalistisch ist, wenn man fordert, dass der Bundestag
Gesetze verabschiedet. Diese Kritik finde ich ziemlich
absurd.


(Beifall bei der LINKEN)


Zweitens. Natürlich ist es besser, wenn man bei sol-
chen Themen international agiert. Da stimmt Ihnen die
Linke völlig zu. Deshalb habe ich in meiner Rede ausge-

führt – vielleicht lesen Sie das später noch einmal nach –,
dass die UN 2011 die UN-Leitprinzipien verabschiedet
hat. Deutschland hat aber erst 2014 begonnen, sich mit
der Umsetzung zu beschäftigen. Meine Kritik ist, dass
die Bundesregierung viel zu spät begonnen hat, die in-
ternationalen Anforderungen umzusetzen. Das habe ich
hier gesagt. Ich finde es total gut, wenn dieser Prozess
zügig vorankommt. Meine Sorge ist allerdings, dass die
konkrete Umsetzung auf die Zeit nach der Bundestags-
wahl verschoben wird, sich die Umsetzung also noch
länger hinzieht. Ich finde, wir müssen hier schneller han-
deln; denn es geht um Hunderttausende, um Millionen
Menschen, die unter schrecklichen Arbeitsbedingungen
leiden. Hier ist auch Deutschland gefragt, seinen Beitrag
zu leisten, auch durch die Umsetzung internationaler Re-
gelungen.


(Beifall bei der LINKEN)



Klaus Barthel (SPD):
Rede ID: ID1816416100

Herr Movassat, das ist genau der Punkt. Das, was

Sie hier beschreiben, ist ja richtig. Ich habe gerade be-
stätigt, dass wir dabei sind, uns dafür einzusetzen, dass
dieser Nationale Aktionsplan möglichst bald umgesetzt
wird. Dass wir diesbezüglich Druck machen, ist allge-
mein bekannt. Das, was Sie hier sagen, ist richtig; aber
in Ihrem Antrag steht genau das nicht drin. In Ihrem An-
trag nehmen Sie darauf nicht Bezug. Ich habe ja nicht
gesagt, dass wir nicht auch national handeln sollen, dass
wir Klagerechte nicht schaffen sollen usw. Wir sind für
Anlaufstellen. Wir brauchen überall Anlaufstellen, bei
denen man sich beschweren kann. Da sind wir uns völlig
einig. Mich stört nur, dass Sie in Ihrem Antrag überhaupt
nicht darauf abheben, sondern so tun, als gäbe es die in-
ternationale Dimension gar nicht, als ginge es nur darum,
deutsche Unternehmen in Deutschland zu verpflichten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das führt uns aber überhaupt nicht weiter, weil das im
globalen Wettbewerb nicht funktionieren kann. Das ist
das Problem, das wir mit Ihrem Antrag haben. In Ihren
Reden sagen Sie oft etwas anderes als das, was in diesem
Antrag steht. Das müssen wir hier einfach einmal kon-
statieren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Ich war gerade dabei, auszuführen, dass die SPD-Bun-
destagsfraktion und die Partei nicht nur Beschlüsse fas-
sen, sondern wir diese Beschlüsse hier auch sukzessive
umsetzen. Das Europäische Parlament hat all unsere
Positionen, was die Anforderungen an Freihandels-
abkommen betrifft, übernommen, einschließlich der
ILO-Kernarbeitsnormen usw. usf. Natürlich müssen die
Hausarbeiten gemacht werden.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In den Kernarbeitsnormen, mein Lieber, ist Kinderarbeit nicht drin!)


– Der Kernarbeitsnormen. Entschuldigung, wenn ich
mich versprochen habe.

Klaus Barthel






(A) (C)



(B) (D)


Das heißt, wir wollen, dass in internationalen Verträ-
gen nicht in erster Linie Kapital und Investitionen ge-
schützt werden, sondern dass es eben auch einklagbare
Rechte, umsetzbare und durchsetzbare Rechte für die
Menschen und zugunsten der Umwelt gibt usw. Wir
brauchen eine neue Qualität von internationalen Abkom-
men. Dass Sie genau diese Dimension nicht ansprechen,
bringt uns dazu, dass wir Ihren Antrag ablehnen, auch mit
dem Hinweis – Kollege Rebmann hat es schon ein paar
Mal dazwischengerufen –, dass die Koalition hier schon
vor zwei Jahren ihren globalen Ansatz für gute Arbeit
weltweit offengelegt hat und wir weiter daran arbeiten.
Diesen müssen wir an der einen oder anderen Stelle si-
cher noch präzisieren und umsetzen, aber wir dürfen das
Thema nicht auf Teilaspekte verengen, sondern müssen
es umfassend verstehen. Darum geht es in dieser Debatte.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816416200

Vielen herzlichen Dank, Kollege Barthel. – Wir sind

sehr weit hinter dem Zeitplan. Deswegen würde ich bit-
ten, jetzt keine Zwischenfragen mehr zu stellen; denn es
gibt im weiteren Verlauf der Gesetzesberatungen noch
viel zu reden.


(Zurufe von der SPD: Oh! – Stefan Rebmann [SPD]: Ich hätte jetzt so gerne noch eine Zwischenfrage gestellt!)


– Oh, Herr Rebmann. – Letzter Redner in der Debatte:
Jan Metzler für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Jan Metzler (CDU):
Rede ID: ID1816416300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist sehr
schade, dass keine Zwischenfragen mehr gestellt werden
dürfen.


(Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das schafft einen!)


Ich versuche, mich jetzt kurzzufassen. Aber ich möchte
zum Abschluss der Debatte – ich habe ja das Privileg,
der letzte Redner in dieser Debatte zu sein – eines noch
einmal unterstreichen: Es ist deutlich geworden, dass wir
in der gemeinsamen Zielsetzung Einigkeit haben, nur auf
der Strecke dahin wollen wir einen unterschiedlichen
Weg nehmen. Ich bin Frau Künast an dieser Stelle sehr
dankbar, dass sie den Aspekt Rana Plaza, die schlimme
Tragödie, zu Beginn dieser Debatte in den Mittelpunkt
gestellt hat. Ich glaube – auch das ist deutlich gewor-
den –, dass keiner der hier im Haus anwesenden Kolle-
ginnen und Kollegen letztlich nicht betroffen ist, wenn
es um die Arbeitsbedingungen geht, die sehr schrecklich
sind, ob das jetzt in Bangladesch oder anderen Ländern
ist, und sie auch so benennt.

Aber wir sind uns uneins darüber, ob wir auf Regu-
lierung oder Freiwilligkeit, auf Bevormundung oder
Eigenverantwortung setzen. Ich bin überzeugt, dass der
Mittelweg die intelligenteste Lösung ist. In diesem Zu-

sammenhang ist bei aller Kritik auch die internationale
Dimension einzubeziehen. Ich bin dem Kollegen Barthel
sehr dankbar, dass er sie gerade zentral genannt hat. Ich
glaube, dass freiwillige Initiativen den gewünschten Ef-
fekt erzielen können. Das sehen wir eindeutig am Textil-
bündnis. Das mag man jetzt alles belächeln oder klein-
reden, aber mittlerweile hat es so viele Teilnehmer, dass
fast 75 Prozent des Marktes abgedeckt sind. Das ist eine
Hausnummer, die man hier nicht kleinreden sollte.

Im Endeffekt sollte man nach dem Motto vorgehen,
dass das Bessere der Feind des Guten ist. Darin sind wir
uns auch alle einig. Wir sind auf dem Weg, und wir ver-
bessern uns kontinuierlich. Es ist nicht so, dass an dieser
Stelle nichts getan wird. Das Textilbündnis ist eindeutig
ein richtiger und wegweisender Ansatz, um diese Proble-
me zu lösen. Ich muss sagen: An dieser Stelle möchte
ich einen Dank an das BMZ und den anwesenden Parla-
mentarischen Staatssekretär Fuchtel loswerden. Denn es
ist alles andere als eine Pseudoveranstaltung. Es ist ein
nachhaltiges Konzept, das auf Selbstverpflichtung der
Teilnehmer und auf Monitoring durch externe Partner
setzt. Mitnehmen, überzeugen und handeln, das nenne
ich Change Management par excellence.

Der Tatsache, dass gewisse Richtlinien Sinn machen,
stimme ich zu. Ein gutes Beispiel sind die Berichtspflich-
ten, die sozialverantwortliches Handeln für Konzerne in
den Mittelpunkt stellen. Frau Kollegin Drobinski-Weiß
hat darauf hingewiesen, dass es ab 2017 eine Verpflich-
tung für börsennotierte Unternehmen gibt, eine Erklä-
rung zu Umwelt-, Arbeitnehmer- und Sozialbelangen, zu
Menschenrechten und Korruption als Teil der jährlichen
Wirtschaftsprüfung abzugeben. Somit gibt es auch nach
außen hin Transparenz, und eigenes Handeln wird doku-
mentiert. Für viele deutsche Unternehmen ist das nicht
wirklich neu. Viele wissen genau, dass diese Informatio-
nen die ganze Zeit über ihr eigenes Handeln bestimmen.
Sie weisen sie freiwillig in ihren Geschäftsberichten oder
in zusätzlichen Nachhaltigkeitsberichten aus, um in die-
sem Zusammenhang letztlich auch die gute unternehme-
rische Leistung nach außen zu dokumentieren.

Zur Wahrheit gehört, dass sich die Bilanz der deut-
schen Wirtschaft in Sachen Unternehmensverantwor-
tung sehen lassen kann. Allein im sozialen Bereich en-
gagiert sich die deutsche Wirtschaft jährlich im Umfang
von 11,2 Milliarden Euro. Natürlich ist vieles in diesem
Zusammenhang nicht völlig selbstlos. Aber ich möchte
sagen: Der Optimalfall ist, durch entsprechendes En-
gagement nach außen hin deutlich zu machen, dass man
nachhaltig handelt. Warum soll einem das nicht auch eine
stärkere Marktposition ermöglichen?

Ich glaube, dass wir mit vielen Dingen bereits auf dem
Weg zu mehr Transparenz sind und viele Informationen
für den Verbraucher in umfassendem Maße zur Verfü-
gung stehen. Dass das Ganze auch auf sehr innovative
Weise geschieht, hat Staatssekretär Fuchtel mit der App
unter Beweis gestellt.

Wir sollten die Verbraucher nicht unterschätzen, was
ihre Mündigkeit angeht. Wir sollten auch unsere Un-
ternehmerinnen und Unternehmer nicht unterschätzen.
Ich bin überzeugt, dass Initiativen wie das Textilbünd-

Klaus Barthel






(A) (C)



(B) (D)


nis von politischer Seite und von NGO-Seite sehr wohl
Unterstützung finden, dass sie beraten, den Dialog vo-
rantreiben und für mehr Transparenz in der Öffentlich-
keit sorgen. Im besten Fall kann man über gemeinsame
Plattformen auch die Marktmacht unserer kleinen und
mittelständischen Unternehmen gegenüber Zulieferern
im Ausland bündeln.

Die deutsche Wirtschaft steht für hohe ökologische
und soziale Standards. Gerade deutsche Unternehmen
genießen weltweit einen hervorragenden Ruf; das sollte
man in diesem Zusammenhang nicht vergessen und auch
nicht kleinreden. Ich glaube, dass deutsche Unternehmen
Botschafter für hohe Standards sind und dass die Regeln,
die wir jetzt im Rahmen des Textilbündnisses vorgeben,
letztlich auch eine Art Richtschnur für die Zukunft sind.
Dabei sollten wir eines nicht vergessen: dass wir mit den
Anträgen, die heute eingebracht wurden, natürlich auch
Alternativen haben. In diesem Zusammenhang ist es der
richtige Weg, so vorzugehen.

Wir sollten kein bürokratisches Monstrum aufbauen,
das im Zweifelsfall in den betreffenden Ländern gar kei-
ne gesetzliche Grundlage hat und nichts anderes macht,
als Verwaltungsaufwand zu erzeugen. Ich glaube, dass
Wirtschaft neben der Kontrolle, die Sie fordern, von un-
serer Seite auch eines genießt: Vertrauen. Das ist im Rah-
men einer Kooperation zukunftsweisend.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816416400

Vielen Dank, Herr Kollege Metzler. – Damit schließe

ich die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/7881 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein-
verstanden. – Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 7 b. Wir kommen zur Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Ener-
gie zum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel
„Unternehmen in die Verantwortung nehmen – Men-
schenrechtsschutz gesetzlich regeln“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 18/6181, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/5203 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, dagegen-
gestimmt haben die Linken, und enthalten hat sich Bünd-
nis 90/Die Grünen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkt 8 a und 8 b auf:

a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Bekämpfung von Korruption im Ge-
sundheitswesen

Drucksache 18/6446

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-

(6. Ausschuss)


Drucksache 18/8106

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Recht und Verbrau-
cherschutz (6. Ausschuss) zu dem Antrag der Ab-
geordneten Kathrin Vogler, Sabine Zimmermann

(Zwickau), Matthias W. Birkwald, weiterer Ab-

geordneter und der Fraktion DIE LINKE

Korruption im Gesundheitswesen effektiv be-
kämpfen

Drucksachen 18/5452, 18/8106

Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung, über den
wir später namentlich abstimmen werden, liegt ein Ent-
schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Auch da höre
und sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so be-
schlossen.

Wenn sich alle gesetzt und gesammelt haben, gebe ich
für die Bundesregierung dem Parlamentarischen Staats-
sekretär Christian Lange das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


C
Christian Lange (SPD):
Rede ID: ID1816416500


Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich freue mich, dass wir heute über den
Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung von Korruption
im Gesundheitswesen abschließend beraten können. Es
ist nämlich an der Zeit, die Strafbarkeitslücke zu schlie-
ßen, die mit der Entscheidung des Bundesgerichtshofs im
Jahre 2012 aufgezeigt worden ist.

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen die beruf-
lichen Entscheidungen von Heilberufsangehörigen unter
den besonderen Schutz des Strafrechts gestellt werden.
Diese heilberuflichen Entscheidungen sollen sich am
Patientenwohl orientieren und nicht von eigenen finan-
ziellen Interessen der Heilberufsangehörigen gesteuert
werden.

Die Bundesregierung war bestrebt, mit ihrem Gesetz-
entwurf den Besonderheiten des Gesundheitswesens an-
gemessen Rechnung zu tragen und das strafwürdige Ver-
halten klar zu umgrenzen. Ich glaube, das ist uns ganz
ordentlich gelungen.

Der Ausschuss hat noch einige Punkte aufgegriffen,
gegenüber denen in der Sachverständigenanhörung Be-
denken geäußert wurden. Er schlägt vor, die beiden neu-
en Straftatbestände auf die Tatvarianten der unlauteren
Bevorzugung zu begrenzen und die Bezugnahme auf die
berufsrechtlichen Pflichten zur Wahrung der heilberufli-
chen Unabhängigkeit zu streichen. Wir hatten ursprüng-
lich die zweite Variante für erforderlich gehalten, um
auch Fälle außerhalb von Wettbewerbslagen erfassen zu

Jan Metzler






(A) (C)



(B) (D)


können, in denen es keine Bevorzugung geben kann. Wir
können uns aber der Einschätzung des Ausschusses an-
schließen, dass im Gesundheitswesen in den allermeisten
Fällen von einer Wettbewerbslage ausgegangen werden
kann.

Die Süddeutsche Zeitung, meine Damen und Her-
ren, berichtete in ihrer Ausgabe vom 8. April 2016, dass
künftig angeblich kein Arzt strafrechtlich belangt werden
könne, wenn er einen Patienten aus wirtschaftlichem
Eigeninteresse falsch behandeln würde. Es war zu le-
sen, dass Fälle denkbar seien, in denen Ärzte bewusst
ein schlechteres Medikament verschrieben, weil sie im
Gegenzug Geld vom Pharmaunternehmen erhielten. Ein
solches Vorgehen könne zu massiven Nachteilen und im
schlimmsten Fall zu gesundheitlichen Schäden der Pati-
enten führen und müsse daher – das ist in der Tat richtig –
auch geahndet werden können.

Meine Kolleginnen und Kollegen, hier haben wir eine
Situation beschrieben bekommen, in der eine medika-
mentöse Behandlung indiziert ist und es offensichtlich
mehrere für eine Behandlung in Betracht kommende
Medikamente gibt. Es liegt daher ein Handeln innerhalb
des Wettbewerbs vor. Das heißt, der Arzt entscheidet
sich zwischen mehreren in Betracht kommenden Medi-
kamenten und damit zwischen verschiedenen im Wett-
bewerb befindlichen Produkten. Wenn er sich bestechen
lässt, damit er ein bestimmtes Medikament bevorzugt,
ist das geradezu der typische Anwendungsfall der Tat-
bestandsvariante der unlauteren Bevorzugung, die auch
nach den Änderungen der Koalitionsfraktionen unverän-
dert fortbesteht, das heißt, strafbar bleibt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Möglicherweise beruht das wiedergegebene Beispiel
aber auch auf dem Missverständnis, dass es hier um einen
Fall einer überhaupt nicht indizierten Behandlung geht.
Von einer nicht indizierten Verordnung bzw. Behandlung
könnte aber nur dann ausgegangen werden, wenn der
Patient überhaupt nicht medikamentös hätte behandelt
werden dürfen und der Arzt ohne entsprechende Indi-
kation alleine deshalb ein Medikament verordnete, weil
er dadurch einen Vorteil durch das Pharmaunternehmen
erhält. Selbst in solchen Fällen ist aber in aller Regel ein
Handeln im Wettbewerb und damit eine Strafbarkeit ge-
geben. Im Übrigen kommt immer auch noch eine Straf-
barkeit wegen Körperverletzung zum Nachteil des Pati-
enten und gegebenenfalls wegen Betrugs zum Nachteil
der Krankenkasse in Betracht.

Auf der Basis der Begründung der Ausschussempfeh-
lung gehen wir also davon aus, dass die erste Tatbestand-
variante ausreichend ist, um einen umfassenden Schutz
zu gewährleisten und alle wesentlichen Fallkonstella-
tionen strafrechtlich zu erfassen: Dies erfasst auch den
Bereich der personalisierten oder individualisierten Me-
dizin und eine gezielte Therapie.

Schließlich begrüßen wir ausdrücklich, dass der Aus-
schuss empfiehlt, das Strafantragserfordernis aufzuheben
und die neuen Tatbestände als Offizialdelikte auszuge-
stalten.

Wir meinen, das ist ein sehr guter Beitrag zum Pati-
entenschutz in Deutschland, und deshalb hoffe ich auf
möglichst breite Unterstützung bei Ihnen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816416600

Vielen Dank, Christian Lange. – Nächste Rednerin:

Kathrin Vogler für die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1816416700

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ein Ge-
setz zur Bekämpfung von Korruption im Gesundheitswe-
sen ist in der Tat längst überfällig. Bisher wird hier mit
zweierlei Maß gemessen. Es ist unerträglich, dass sich
ein angestellter Arzt in einer Klinik strafbar macht, wenn
er sich von einer Pharmafirma bestechen lässt, eine nie-
dergelassene Ärztin aber nicht. Bislang ist es nicht straf-
bar, wenn ein Pharmaunternehmen einem Hausarzt Prä-
mien für die gezielte Verschreibung von Medikamenten
zahlt oder wenn sich eine Ohrenärztin für die Überwei-
sung von Patienten vom Hörgeräteakustiker schmieren
lässt. Das muss dringend geändert werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Gesundheitswesen geht es ja um sehr viel Geld.
Wir haben die Verantwortung, dass diese Milliarden
nicht durch Korruption verschwendet werden. Aber es
geht um noch etwas Wichtigeres: Korruption gefährdet
die Unabhängigkeit der Heilberufe und damit das Ver-
trauen der Patientinnen und Patienten in die Therapie-
entscheidung ihres Arztes oder ihrer Ärztin. Deswegen
kämpft die Linke seit Jahren für eine Schließung dieser
Lücke im Strafrecht.


(Beifall bei der LINKEN)


In der letzten Wahlperiode scheiterte das am Widerstand
aus Union und FDP. Heute sind sich alle Parteien zumin-
dest darin einig, dass Korruption im Gesundheitswesen
strafbar sein soll.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jau!)


Der Gesetzentwurf der Koalition allerdings leidet
unter einem Geburtsfehler. Sie haben die Regelung ins
Wirtschaftsstrafrecht gelegt statt etwa bei den Amtsde-
likten. Damit haben Sie sich in eine Falle begeben, aus
der Sie nicht mehr herauskommen. Im Ergebnis wird nun
vor allem der Wettbewerb geschützt, also konkurrieren-
de Anbieter auf dem Gesundheitsmarkt, und weniger die
Patientinnen und Patienten, Herr Lange.

Im ursprünglichen Entwurf war noch ein Absatz ent-
halten, mit dem die Verletzung der berufsrechtlichen
Pflicht zur Unabhängigkeit aufgrund von Bestechung
ebenfalls unter Strafe gestellt werden sollte. Damit wären
dann zumindest auch die Fälle erfasst worden, in denen
überhaupt kein Wettbewerb existiert, weil es etwa für ein
Produkt keine Konkurrenz gibt. Allerdings gab es kriti-

Parl. Staatssekretär Christian Lange






(A) (C)



(B) (D)


sche Stimmen, die darauf hinwiesen, dass das Berufs-
recht ja von den Heilberuflern selbst festgelegt wird, und
zwar auf Länderebene. Damit könnten die Ärzte selbst
festlegen, welches Verhalten von Strafe bedroht ist, und
zwar in Mannheim anders als in Ludwigshafen.

Um diese Bedenken auszuräumen, hat die Koalition
den Absatz zu den Berufspflichten einfach gestrichen
und damit aus unserer Sicht dem Gesetz seinen wesent-
lichen Sinn genommen, nämlich den Schutz des Vertrau-
ens. Dies ist auch den Gesundheitspolitikern und -politi-
kerinnen von der SPD aufgefallen. Was konnte man dazu
in den letzten Tagen nicht alles für starke Sprüche lesen!
Herr Lauterbach zum Beispiel


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist er denn?)


– wo ist er überhaupt? – hat bezweifelt, dass es sich
überhaupt noch lohne, diesen Gesetzentwurf zu verab-
schieden. Sie wollten nachverhandeln. Auf das Ergebnis
haben wir dann ganz gespannt gewartet. Als die neue
Version am Dienstagabend kam, habe ich sie wirklich
Wort für Wort durchgelesen – und ich war erstaunt: Bis
auf einen einzigen Satz in der Begründung hat sich gar
nichts getan.


(Dr. Johannes Fechner [SPD]: Genau! Aus guten Gründen!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, damit
können Sie nicht wirklich zufrieden sein. Das ist wirklich
enttäuschend. Wenn Sie dem jetzt zustimmen, dann müs-
sen Sie sich den Vorwurf gefallen lassen, dass der ganze
Protest von Ihnen wohl nur Theaterdonner gewesen ist.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir aber nehmen Ihre Kritik ernst, und wir nehmen sie
auf. Deswegen werden wir gegen diesen Gesetzentwurf
stimmen. Dabei hat die Linke ja auch konkrete Vorschlä-
ge gemacht, wie es anders hätte gehen können. Wir woll-
ten, ähnlich wie bei den Beamten, jegliche Form von Vor-
teilsnahme und -gewährung unter Strafe stellen. Damit
wäre ein viel größerer Teil von Korruption abgedeckt.

Des Weiteren bleibt noch eine ganze Liste von Aufga-
ben ungelöst.

Erstens. Weil sich Korruption meistens im Geheimen
abspielt, sind die Staatsanwälte darauf angewiesen, dass
Insider ihnen Informationen und Hinweise auf mögliche
Straftaten geben. Darum werden wir weiter für einen
umfassenden Schutz für Hinweisgeber streiten und diese
Forderung hier auf die Tagesordnung setzen.


(Beifall bei der LINKEN)


Zweitens. Auch die Grünen haben in ihrem Entschlie-
ßungsantrag sinnvolle Punkte aufgezeigt, zum Beispiel
die Veröffentlichungspflicht von allen Zahlungen an die
Ärztinnen und Ärzte durch die Industrie. In den USA geht
das; das kann auch bei uns gehen. Das unterstützen wir.

Drittens. Auch die sogenannten Anwendungsbeobach-
tungen müssen wir auf die Tagesordnung setzen. Hierbei
bezahlen Pharmafirmen Ärzte für angebliche Medika-
mentenstudien, die sehr oft keinen wissenschaftlichen
Nutzen haben. Diese Zahlungen sind also Provisionen

für die Verschreibung bestimmter Mittel: zulasten der
Patienten und auf Kosten der Versicherten. Hier fließen
jährlich bis zu 100 Millionen Euro von der Industrie in
die Ärzteschaft. Erschreckend, dass die Bundesregierung
in zwei Jahren Dialog mit der Pharmaindustrie dieses
Thema noch nicht einmal auf die Tagesordnung gesetzt
hat, nichts dazu sagt und in ihrer Antwort auf unsere
Kleine Anfrage keinerlei Handlungsbedarf signalisiert.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, hier werden wir Sie
weiter treiben. Versprochen.


(Beifall bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816416800

Vielen Dank, Frau Vogler. – Der nächste Redner in der

Debatte: Dr. Jan-Marco Luczak für die CDU/CSU-Frak-
tion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Jan-Marco Luczak (CDU):
Rede ID: ID1816416900

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! „Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen
Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder
Apotheker“. Diesen Satz kennt jeder. Das ist eine gesetz-
liche Verpflichtung nach dem Heilmittelwerbegesetz. Je-
der Werbung für Arzneimittel muss dieser Satz angefügt
werden. Dieser Satz macht deutlich, welches Vertrauen
der Gesetzgeber, aber vor allen Dingen welches Vertrau-
en Patienten Ärzten und Apothekern, aber auch anderen
Gesundheitsberufen entgegenbringen.

Dieses Vertrauen, meine Damen und Herren, ist auch
gerechtfertigt; denn wir haben nicht nur ein gutes Ge-
sundheitssystem und hohe medizinische Standards, son-
dern wir haben vor allen Dingen Menschen, die gut aus-
gebildet sind, die integer sind und die sich oftmals mit
größter persönlicher Hingabe und Aufopferungsbereit-
schaft ihrem Beruf zum Wohle von Kranken und Pflege-
bedürftigen widmen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich denke da an Ärzte, ich denke an Apotheker, aber ich
denke vor allen Dingen auch an die Krankenschwester
oder den Pfleger im Krankenhaus. Diesen Menschen
sage ich: Danke für ihren persönlichen Einsatz! Umso
schwerer wiegt es dann, wenn Einzelne dieses Vertrau-
en der Patienten enttäuschen, wenn Einzelne sich berei-
chern, wenn sie sich Vorteile verschaffen, wenn sie sich
also bestechen lassen und korrupt sind.

Meine Damen und Herren, Korruption ist ja bei wei-
tem nicht nur ein volkswirtschaftliches Problem. Dass
sich medizinische Leistungen verteuern, weil nicht mehr
Qualität, nicht mehr Leistung, nicht mehr der Preis ent-
scheidend sind, sondern die Höhe des korruptiven Anrei-
zes, ist das eine. Das andere ist der damit einhergehende
Vertrauensverlust von Patienten in die Integrität der heil-
beruflichen Entscheidungen. Wegen dieser gravierenden
Folgen der Korruption sage ich: Es braucht eine klare
Ansage des Gesetzgebers, dass wir ein solches Verhal-
ten nicht tolerieren, dass wir Korruption ächten und un-
ter Strafe stellen. Patienten müssen sich darauf verlassen

Kathrin Vogler






(A) (C)



(B) (D)


können, dass die Verordnung eines Medikamentes oder
die Empfehlung eines Krankenhauses allein aus medizi-
nischen Gründen erfolgt und nicht, weil ein Arzt in ir-
gendeiner Weise einen Vorteil davon hat.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


M
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1816417000
Bislang gab es in diesem Bereich
Strafbarkeitslücken. Mit dem Gesetzentwurf, den wir Ih-
nen heute zur Abstimmung vorlegen, schließen wir die-
se Strafbarkeitslücken. Insofern ist heute ein guter Tag
für Patienten, weil wir endlich ein gutes, ein wirksames
Heilmittel gegen das Geschwür der Korruption bekom-
men. Korruption auf Rezept, das wird es zukünftig nicht
mehr straflos geben, und das ist auch gut so, meine Da-
men und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Für uns war in den Verhandlungen vor allen Dingen
wichtig, dass wir klar abgrenzen zwischen verbotener
Korruption und der erlaubten, ja gewünschten Koopera-
tion im Gesundheitswesen. Denn Kooperationen im Ge-
sundheitswesen sind oftmals sehr wichtig für den medi-
zinischen Fortschritt, für Innovationen, für ein effektives
Gesundheitswesen. Das dient letztlich dem Wohle des
Patienten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deswegen kann es auch nicht automatisch strafbar sein,
wenn eine Zusammenarbeit in irgendeiner Form vergü-
tet wird. Wir wollen nichts unter Strafe stellen, was dem
medizinischen Fortschritt dient. Deswegen haben wir
das in der Gesetzesbegründung ausdrücklich klargestellt
und verschiedene Kooperationsformen genannt, die wir
selbstverständlich nicht inkriminieren wollen.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die stehen doch alle im SGB V!)


Klar, meine Damen und Herren, ist aber auch: Sol-
che Kooperationsmodelle sind kein Freifahrtschein. Die
Grenze der zulässigen Zusammenarbeit ist jedenfalls
dann erreicht, wenn eine Unrechtsvereinbarung vorliegt
oder unangemessene Vorteile für eine konkrete Gegen-
leistung gezahlt werden. Hier gilt: klares Ja zur Koopera-
tion, aber ein genauso klares Nein zur Korruption.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir haben in den parlamentarischen Beratungen den
Kabinettsentwurf in einem wichtigen Punkt geändert; da-
rauf hat Staatssekretär Lange vorhin schon hingewiesen.
Wir haben die zweite Tatbestandsalternative in § 299 a
Absatz 1 Nummer 2 gestrichen.

Worum ging es bei dieser Tatbestandsalternative? Mit
dieser Tatbestandsalternative sollten Fallkonstellationen
außerhalb des Wettbewerbs strafrechtlich erfasst werden.
Diese Alternative war aber von Anfang an als Auffangtat-
bestand konstruiert. Im Referentenentwurf hieß es noch,
es solle bestraft werden, „wer … in sonstiger Weise seine
Berufsausübungspflichten verletzt.“ Das war nicht nur
erkennbar zu unbestimmt, sondern das ging auch am
Schutzzweck des Gesetzes vorbei. Denn damit hätte man

unter Umständen die Situation erfasst, dass ein Arzt sich
etwa ein zu großes Praxisschild an die Tür hängt. Da das
nicht ohne Weiteres möglich ist bzw. verboten ist, wäre
auch das ein Verstoß gegen die Berufsausübungspflich-
ten gewesen.


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Wer sollte ihn dafür denn bezahlen? Das ist ein absurdes Beispiel!)


Das hat natürlich mit dem Vertrauen in die Integrität von
heilberuflichen Entscheidungen rein gar nichts zu tun. Da
gibt es kein korruptionsspezifisches Unrecht. Deswegen
haben wir gesagt: Das müssen wir ändern.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist dann auch geändert worden. Im Kabinettsent-
wurf hat man den Schutzzweck klarer und präziser he-
rausgearbeitet. Nur solche Pflichtverstöße sollten einen
Korruptionsvorwurf rechtfertigen, durch die die Wah-
rung der heilberuflichen Unabhängigkeit infrage gestellt
wird.

Wir haben dann aber im Rechtsausschuss eine An-
hörung durchgeführt, in der erhebliche Zweifel deutlich
wurden, ob der Verweis auf das Berufsrecht hinreichend
präzise und konkret genug den Pflichtenkanon um-
schreibt, den Angehörige von Gesundheitsberufen ein-
zuhalten haben. Damit waren wir bei der Frage, ob dem
verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot Rechnung
getragen wurde.

Diese Zweifel, meine Damen und Herren, sind nicht
von der Hand zu weisen. Für die konkrete Ausgestaltung
des Berufsrechts sind die Länder zuständig. Das ist in
unserem föderalen System nun einmal so geregelt; da
können wir als Bundesgesetzgeber ihnen nicht hineinre-
gieren. Deswegen ist das Recht der Heilberufe ja auch
außerordentlich uneinheitlich und zersplittert. Selbst
da, wo das Berufsrecht möglicherweise einheitlich bzw.
identisch formuliert ist, gibt es Unterschiede, weil die
Auslegung zum Teil sehr unterschiedlich ist. Denn dafür
sind die jeweiligen Kammern zuständig. Die Folge wäre
gewesen, dass wir in dem Bereich einen Flickenteppich
unterschiedlicher Strafbarkeiten je nach Bundesland be-
kommen hätten. Dabei hätte das Verhalten eines Arztes
beispielsweise in Hessen erlaubt sein können, während
es um die Ecke in Niedersachsen hingegen verboten und
als Korruption strafbar wäre. Das haben wir als Union
aus Gründen der Rechtssicherheit für problematisch ge-
halten und gesagt: Da müssen wir rangehen.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb muss man es aber nicht komplett streichen!)


Denn das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot ist
keine Petitesse. Strafrecht ist immer Ultima Ratio und
hat für den Betroffenen immer einschneidende wirt-
schaftliche und persönliche Konsequenzen.

Wir haben uns also gefragt, was passiert, wenn wir die
berufsrechtliche Tatbestandsalternative streichen. Wis-
sen Sie, zu welchem Ergebnis wir gekommen sind? Es
würde nichts passieren. Es entstehen keine Strafbarkeits-
lücken. Der Schutzzweck des Gesetzes ändert sich nicht,

Dr. Jan-Marco Luczak






(A) (C)



(B) (D)


sondern der Schutz des Vertrauens der Patienten ist nach
wie vor vollumfänglich gewährleistet. – Das sage ich
deswegen so deutlich, weil es von Kollegen aus der SPD
andere Verlautbarungen gegeben hat. Diese kann ich nur
zurückweisen. Man kann nur sagen: Bei Gesetzen ist es
ähnlich wie bei Medikamenten: Man muss manchmal die
Packungsbeilage bzw. das Kleingedruckte lesen; dann
versteht man auch, worum es geht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es ist ja tatsächlich so – das wurde schon gesagt –,
dass fast ausnahmslos alle Fälle von der ersten Tatbe-
standsalternative umfasst werden. Denn es gibt kaum
einen Markt, der so umkämpft ist und so im Wettbewerb
steht wie der Gesundheitsmarkt. Deswegen haben wir
ausdrücklich klargestellt, dass Wettbewerb in diesem
Zusammenhang weit zu verstehen ist. Deswegen gibt es
quasi auch keine Monopolsituation. Es gibt quasi solche
Monopolsituationen nicht, weil es immer eine Therapie-
alternative gibt und immer andere Medikamente gibt, die
man im konkreten Fall auch einsetzen kann. Deswegen
besteht immer zumindest potenziell eine Wettbewerbssi-
tuation. Damit sind wir klar im Anwendungsbereich der
ersten Tatbestandsalternative.

Deswegen noch einmal zur Abwägung: Auf der einen
Seite gibt es verfassungsrechtliche Zweifel; auf der ande-
ren Seite bestehen keine Strafbarkeitslücken. Das war für
uns eine ganz klare Maßgabe. Deswegen haben wir das
gestrichen, meine Damen und Herren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deswegen – das darf ich zum Schluss sagen –


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816417100

Deswegen ist jetzt definitiv Tatbestand: Ihre Redezeit

ist abgelaufen.


Dr. Jan-Marco Luczak (CDU):
Rede ID: ID1816417200

– haben wir unter dem Strich einen guten und ausgewo-

genen Entwurf eines Gesetzes vorgelegt, das Korruption
klar unter Strafe stellt, Kooperation aber nicht behindert.
Dieses Gesetz schützt das Vertrauen der Patienten, trägt
bestehenden verfassungsrechtlichen Zweifeln Rechnung,
ohne Strafbarkeitslücken zu schaffen. Deswegen bitte ich
Sie: Stimmen Sie dem Gesetz zu, damit Patienten auch
weiterhin uneingeschränkt voller Vertrauen zu Risiken
und Nebenwirkungen ihren Arzt oder Apotheker fragen
können!

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816417300

Vielen Dank, Herr Kollege. Die Redezeit war recht

ausgeweitet, wenn ich das einmal so sagen darf. Ich bitte
die anderen, sich daran zu halten.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach, plötzlich!)


Die nächste Rednerin ist Renate Künast.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja eine Herausforderung! – Zuruf von der CDU/CSU: Gerechtigkeit für Frau Künast! – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zwei Minuten on top!)



Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816417400

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr

Kollege Luczak, Ihre Rede und Ihre Erklärungen haben
mich an Bismarck erinnert


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Thomas Stritzl [CDU/CSU]: Die war gut!)


– ich habe nicht gesagt, dass er mich an Bismarck erin-
nert,


(Thomas Stritzl [CDU/CSU]: Der war auch gut!)


sondern, dass seine Rede mich an Bismarck erinnert hat.


(Thomas Stritzl [CDU/CSU]: Ach Gott! An welche Rede von Bismarck denn?)


Von Bismarck stammt der Satz: Bei zwei Sachen soll man
nicht dabei sein wollen, beim Gesetzemachen und beim
Wurstmachen. – Sie verstehen! Er hielt offensichtlich
beides für unappetitlich. So wie Sie es nun dargelegt und
erklärt haben, hat man ein bisschen das Gefühl, dass es
sich um einen unappetitlichen Vorgang handelt. Schön,
dass Sie sich nach vier Jahren überhaupt bewegt haben
und nicht nur sagen, alle, die Korruption im Gesundheits-
wesen bestrafen und sanktionieren wollen – genauso wie
in anderen Bereichen –, seien misstrauisch gegenüber
allen Ärzten. Da haben Sie sich immerhin bewegt, mehr
aber auch nicht, Herr Luczak.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es ist zehn Jahre her, dass Oliver Pragal aus Ham-
burg in seiner Dissertation darauf hingewiesen hat, Be-
stechung von niedergelassenen Ärzten im Vertragsarzt-
system – früher Kassenarztsystem – sei eigentlich ein
Fall von Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr nach
§ 299 StGB und deshalb strafbar. Dann begann ein gro-
ßer Streit in Wissenschaft und Politik. Es gab Revision
beim BGH. Zwei Senate haben gesagt, dass das möglich
ist und dass es sich bei Ärzten um Amtsträger im staatli-
chen System der Gesundheitsversorgung oder um Beauf-
tragte eines geschäftlichen Betriebs handeln könnte, und
haben eine Vorlage für den Großen Senat für Strafsachen
gemacht. Dieser ist dann allerdings leider zu dem Ergeb-
nis gekommen,


(Zuruf von der CDU/CSU: Nicht „leider“!)


dass es sich bei ihnen nicht um Amtsträger oder Beauf-
tragte im Sinne des StGB handele. Diese Entscheidung
stammt von Anfang 2012. Seitdem, meine Damen und
Herren, bemühen wir uns, dieses große, tiefe schwarze
Loch zu stopfen, weil Bestechung in diesem Bereich
nicht strafbar ist.

Dr. Jan-Marco Luczak






(A) (C)



(B) (D)


Am Ende der Begründung hat der Große Senat gesagt,
dass jedwede vergangene Korruption straffrei sei, dass
nun aber der Gesetzgeber gefordert sei. Vier Jahre haben
wir nun daran gearbeitet. Mit der FDP war hier gar nichts
möglich. Aber ich habe das Gefühl, dass sich irgendein
FDPler in Ihre Reihen geschlichen hat.


(Zuruf von der LINKEN: Nicht nur einer!)


– Ich will mich nicht festlegen, wie viele es sind. – Denn
der Referentenentwurf aus dem vergangenen Jahr war
bedeutend besser als das, was wir heute zur Abstimmung
vorliegen haben, meine Damen und Herren von der Ko-
alition.


(Thomas Stritzl [CDU/CSU]: Das kann man nur sagen, wenn man ihn nicht gelesen hat!)


Er war besser auch und gerade wegen des Themas, das
Sie und auch die Kollegin von der Linken hier angespro-
chen haben, nämlich wegen des Verweises auf die Pflicht,
die eigenen berufsständischen Regeln, das Kammerrecht
und den Eid des Hippokrates einzuhalten. Das war doch
eigentlich der Kern des Gesetzes.

Mit Verlaub, Herr Luczak, mit etwas Bemühen hätte
man zum Beispiel Praxisschilder und andere Dinge von
der Regelung ausnehmen können.


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das war doch gar nicht erst drin!)


– Er hat ja die Sorge gehabt, dass dann die Größe von
Schildern und der damit verbundene Werbeeffekt ein
Thema gewesen wäre.


(Thomas Stritzl [CDU/CSU]: Er wollte Ihnen etwas verdeutlichen!)


Abgesehen von der Tatsache, dass das Quatsch ist, hätte
ich dem BMJV zugetraut, eine Formulierung zu finden,
die Schilder vor der Tür ausschließt. Wir hätten jeden-
falls gerne gehabt, dass es einen umfassenden Schutz
vor unsinnigen Behandlungen gibt, die am Ende nur den
Zweck haben, das Portemonnaie der betreffenden Ärztin
oder des betreffenden Arztes zu füllen. An dieser Stelle
sind Sie, selbst wenn es kritische Anmerkungen in der
Anhörung dazu gab, trotzdem dem Lobbydruck erlegen.
Sie haben sich nämlich noch nicht einmal um neue For-
mulierungen bemüht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Schön, dass Sie es besser wissen!)


– Manchmal muss man ja was besser wissen. Es können
ja nicht nur Sie alles besser wissen. Manchmal wissen
auch Frauen etwas besser. Das ist halt so.


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich glaube, es sollte eigentlich Kern des Gesetzes sein,
dass wir für Begrenzungen sorgen; ich nenne zum Bei-
spiel als Stichwort „überflüssige Medikamentenabgabe“.

Mich irritiert bei Ihrer Argumentation – Herr Luczak
hat das auch gerade gesagt –, dass Sie sagen, es gehe Ih-
nen um das Vertrauen in die Ärzteschaft.


(Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Um Integrität!)


Das gehen Sie aber nicht so richtig an, wenn Sie das
Kammerrecht nicht einbeziehen. Davor drücken Sie sich
bei der CDU/CSU. Aber ich verstehe eines nicht: Als wir
über die Integrität des Sports diskutiert haben, haben die
SPD- und die CDU/CSU-Fraktion mit Verve gesagt: Ja,
das Strafrecht ist das richtige Mittel, um die Integrität des
Sports zu schützen. – Wenn es aber um das Vertrauens-
verhältnis des Patienten zum Arzt in einem sehr breiten
Schutzbereich geht, drücken Sie sich vor der eigenen
Verantwortung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, für Sie war es ein gefunde-
nes Fressen, hier Verweise zu streichen. So wie die Norm
jetzt ist, hätten wir eigentlich einfach einen Absatz an den
§ 299 mit einem rein wettbewerbsrechtlichen Hinweis
anfügen können. Das hätte auch ausgereicht.

Ich verstehe auch nicht, wieso die Apothekerinnen
und Apotheker jetzt draußen sind; denn mit den Rabatt-
verträgen, die die Krankenkassen abschließen, haben die
Apotheker ja auch die Möglichkeit, am Ende den einen
oder anderen zu bevorzugen. Schon gar nicht verstehe
ich, wenn die Apothekerinnen und Apotheker draußen
sind, warum eigentlich die anderen Heilberufe wie Heb-
ammen, Physiotherapeuten oder Gehilfen immer noch
drin sind. Bei diesen kann ich mir weniger Korruption
vorstellen als bei den Apothekerinnen und Apothekern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich glaube, dass Sie sich hiermit keinen Gefallen ge-
tan haben, sondern dass das Ergebnis – teilweise unter
Berufung auf die Anhörung zustande gekommen – doch
sehr dürftig ist. Gut, dass Sie ein Offizialdelikt daraus
gemacht haben.


(Hilde Mattheis [SPD]: Na also!)


Es wäre ja noch schöner, wenn Sie auch das unterlassen
hätten, nachdem Sie Regelungen zu den Whistleblowern
und die Herstellung einer umfassenden Transparenz
durch entsprechende Veröffentlichungsvorschriften ver-
gessen haben.

Mein Fazit ist: Gut, dass es nach viel Druck endlich ei-
nen Gesetzentwurf gibt, über den wir abstimmen können,
sehr schlecht aber, dass Sie ihn entkernt haben. Deshalb
werden wir uns enthalten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816417500

Vielen Dank, Renate Künast. – Nächster Redner: Dirk

Wiese für die SPD.


(Beifall bei der SPD)


Renate Künast






(A) (C)



(B) (D)



Dirk Wiese (SPD):
Rede ID: ID1816417600


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Tage, in denen das Strafrecht kein geeig-
netes Mittel gegen Korruption und Bestechlichkeit im
Gesundheitswesen bot, sind gezählt. Mit dem vorliegen-
den Gesetzentwurf geben wir den Strafverfolgungsbe-
hörden ein wichtiges Mittel in die Hand, um Kriminellen
im Gesundheitsbereich das Handwerk zu legen.

Was mich dabei besonders freut, ist, dass wir Sozialde-
mokraten in den parlamentarischen Verhandlungen errei-
chen konnten, dass die Staatsanwaltschaft künftig bereits
bei Vorliegen eines Anfangsverdachts ermitteln muss und
nicht, wie ursprünglich vorgesehen, nur bei Vorliegen ei-
nes Strafantrags; denn damit schützen wir Patientinnen
und Patienten vor falschen Behandlungen; wir schützen
aber auch ehrliche Ärzte und ehrliche Leistungserbrin-
ger im Gesundheitswesen vor den Machenschaften Ein-
zelner. Denn diese schwarzen Schafe drohten die ganze
Branche in Verruf zu bringen, obwohl der Großteil der
Ärzte wichtige und absolut korrekte Arbeit leistet.

Die Ausgestaltung als Offizialdelikt ist übrigens auch
deshalb besonders wichtig, weil Patienten selbst bei ei-
nem klaren Verdacht oftmals eine Hemmschwelle haben,
ihren eigenen Arzt anzuzeigen. Gerade dann, wenn es zu
wenige Ärzte in ihrer Region gibt, wie das heutzutage
leider in vielen ländlichen Gegenden der Fall ist, kann
das häufig vorkommen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte auch
noch einmal in Erinnerung rufen, dass es sich bei dem
vorliegenden Gesetzentwurf um ein Kernanliegen der
SPD handelt. Bereits während der letzten Legislaturpe-
riode stritt die SPD für eine gesetzliche Regelung, die
leider mit der damaligen schwarz-gelben Bundesregie-
rung nicht zu machen war. Erst auf Drängen der SPD
wurde die Bekämpfung der Korruption im Gesundheits-
wesen überhaupt in den Koalitionsvertrag aufgenom-
men. Denn für uns Sozialdemokraten war immer klar:
Patienten müssen sich darauf verlassen können, dass ihr
behandelnder Arzt ihnen stets die bestverträgliche und
effektivste Arznei verordnet und nicht das Mittel mit der
höchsten Prämienzahlung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Kurzum: Das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und
Patient darf nicht dadurch gefährdet werden, dass über
ihm das Damoklesschwert des Korruptionsverdachts
schwebt. Patienten müssen ihren Ärzten vertrauen kön-
nen. Punkt! Das ist übrigens auch der Grund, warum
wir die von einigen Seiten geforderte Möglichkeit der
Telekommunikationsüberwachung bei der Strafverfol-
gung nicht aufgenommen haben. Das Vertrauensverhält-
nis zwischen Arzt und Patient ist viel zu wichtig, um es
selbst durch gerechtfertigte Ermittlungsmaßnahmen zu
gefährden. Hätten wir solche Ermittlungsmaßnahmen
erlaubt, könnte sich zukünftig kein Patient mehr sicher
sein, dass das, was er seinem Arzt etwa im persönlichen
Telefongespräch anvertraut, auch zwischen ihm und sei-
nem Arzt bleibt.

Zum Abschluss, liebe Kolleginnen und Kollegen:
Mit 10 Milliarden Euro ist der geschätzte Schaden, der
durch Korruption im Gesundheitswesen entsteht, enorm.
Ich bin überzeugt davon, dass wir mit dem heute hier zu
verabschiedenden Gesetz diesen Schaden erheblich be-
grenzen werden. Aber vor allem – und das ist noch viel
wichtiger – werden wir mit diesem Gesetz sicherstellen,
dass die optimale Versorgung der Patienten nicht mehr so
schnell Gefahr läuft, hinter den monetären Interessen des
behandelnden Arztes zurückzustehen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816417700

Vielen Dank, Kollege Wiese. – Ich bitte die Kolle-

gen und Kolleginnen im Saal, den drei Rednerinnen und
Rednern, die in dieser Debatte noch das Wort ergreifen
wollen, zuzuhören, ihnen sozusagen Ruhe zu schenken,
weil es wirklich nervig ist, wenn vorne versucht wird,
Argumente auszutauschen, sich die anderen aber über al-
les Mögliche unterhalten, nur nicht über das, worum es
gerade geht.

Ich bitte also, dem nächsten Kollegen, Alexander
Hoffmann von der CDU/CSU-Fraktion, gebührend zu
lauschen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Alexander Hoffmann (CSU):
Rede ID: ID1816417800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kollegin-

nen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Korruption ist in einem Rechtsstaat unter vielen
Gesichtspunkten ein Problem. Sie führt zur Benachteili-
gung Einzelner. Sie erzeugt materielle und auch immate-
rielle Schäden. Sie zerstört das Vertrauen in bestehende
Strukturen, und das ist wohl das Schlimmste.

Kriminologisch ist auffällig, dass sich Korruption in
Bereichen breitmacht, in denen viel Geld im Spiel ist,
und in Bereichen, in denen Entscheidungen mit erhebli-
cher Tragweite getroffen werden. Das überrascht nicht. Je
gewichtiger eine Entscheidung ist, umso eher beschreiten
Menschen einen rechtswidrigen Weg zum Erreichen des
Ziels, und Geld ist schon immer eine Triebfeder für kri-
minelle Energie gewesen.

Unter Zugrundelegung dieser Erkenntnis ist es dann
keine Überraschung, dass auch die Gesundheitsbranche
ein Bereich ist, in dem Korruption vorkommt. Die Bran-
che hat einen Umsatz von jährlich circa 300 Milliarden
Euro. Gerade Entscheidungen im Gesundheitsbereich
sind manchmal an Tragweite nicht zu überbieten.

Sensibel müssen wir in diesem Bereich mitunter auch
deswegen sein, weil uns der Große Senat des BGH –
Herr Lange hat es vorhin schon anklingen lassen – am
29. März 2012 im Bereich der Korruptionsbekämpfung
eine Gesetzeslücke aufgezeigt hat. Er hat entschieden,
dass niedergelassene Vertragsärzte keine Amtsträger und
auch keine Beauftragten der Krankenkassen sind; denn






(A) (C)



(B) (D)


durch die Zwischenschaltung der Kassenärztlichen Ver-
einigung besteht keine Rechtsbeziehung zwischen Arzt
und Krankenkasse. Damit scheidet eine Strafbarkeit
nach § 299 StGB – Bestechlichkeit und Bestechung im
geschäftlichen Verkehr – aus. Man wird eine ähnliche
rechtliche Beurteilung bei niedergelassenen Angehörigen
anderer Heilberufe vornehmen müssen.

Deshalb freue ich mich, dass Bayern mit Antrag vom
15. Januar 2015 einen entsprechenden Vorschlag im Bun-
desrat eingebracht hat und dass wir heute diese Lücke
schließen können.

Der vorliegende Entwurf formuliert zwei neue Tatbe-
stände, einmal die Bestechlichkeit im Gesundheitswe-
sen – § 299 a StGB – und zum anderen die Bestechung
im Gesundheitswesen – § 299 b StGB. Das Ganze wird
garniert – so will ich einmal sagen – mit einer Ergänzung
von § 300 StGB, der Formulierung der besonders schwe-
ren Fälle der Bestechung und Bestechlichkeit. Hier sind
vor allem die Fälle der Gewerbsmäßigkeit und die Fälle
der fortgesetzten Begehung gemeint.

Dabei hat der Entwurf vier Zielrichtungen. Er möchte
die Integrität heilberuflicher Entscheidungen schützen.
Er möchte den fairen Wettbewerb im Gesundheitswesen
sichern. Er möchte das Vertrauen der Patientinnen und
Patienten in die Integrität heilberuflicher Entscheidun-
gen erhalten. Er erzeugt mittelbaren Schutz der Vermö-
gensinteressen der Wettbewerber im Gesundheitswesen,
der Patienten und der gesetzlichen Kassen. Dabei ist die
Regelung – es ist vorhin schon angeklungen – als Offizi-
aldelikt ausgestaltet. Die Taten sind von Amts wegen zu
verfolgen. Ich glaube, auch das ist als Signal ganz wich-
tig.

Zugleich müssen Angehörige von Heilberufen jetzt
keine Angst haben, dass bewährte Kooperationen nun
plötzlich unter Strafe gestellt sind. Kooperationen sind
gesundheitspolitisch oftmals gewünscht. Sie steigern die
Qualität, und an mancher Stelle können sie auch wirt-
schaftlich sinnvoll sein. Deswegen ist nach dem Gesetz-
entwurf die Grenze da erreicht, wo es zu einer unlauteren
Bevorzugung im Wettbewerb kommt.

Am Ende möchte ich mit zwei Behauptungen aufräu-
men. Die eine Behauptung, die auch im Vorfeld immer
wieder formuliert worden ist, lautet: Dieser Entwurf hat
den Patientenschutz hinten runterfallen lassen. – Meine
Damen, meine Herren, wer das behauptet, dem ist entwe-
der die Systematik in unserem Strafrecht nicht bekannt,
oder er verschweigt sie. Wir haben dieselbe Konstellati-
on gewählt, wie wir sie auch bei der Korruptionsbekämp-
fung im geschäftlichen Verkehr haben.

Die Korruptionsbekämpfung im geschäftlichen Ver-
kehr steht auf zwei Säulen. Wir haben den § 299 StGB,
der die Integrität des geschäftlichen Verkehrs schützen
soll. Mittelbar werden durch diese Regelung auch die
Bürgerinnen und Bürger geschützt, die am geschäftli-
chen Verkehr teilnehmen. Diese werden wiederum un-
mittelbar geschützt durch die Bestimmungen zu Vermö-
gensdelikten wie Betrug oder Untreue.

Genau dieselbe Konstellation haben wir nun auch
gewählt. Wir schützen in den neuen §§ 299 a und

299 b StGB vor allem die Integrität des Gesundheits-
wesens in Deutschland und haben durch diese Normen
dann auch einen mittelbaren Schutz der Patientinnen und
Patienten. Der unmittelbare Schutz der Patientinnen und
Patienten erfolgt vor allem durch die Bestimmungen zu
Körperverletzungs- und Vermögensdelikten.

Noch eine zweite Behauptung, mit der ich aufräumen
möchte – Frau Künast, sie war von Ihnen –: Dieser Ent-
wurf trifft eben keine Unterscheidung zwischen einem
Unternehmer und einer Hebamme.

Meine Damen, meine Herren, ich glaube, Sie können
diesem Entwurf getrost zustimmen. Dafür möchte ich
werben.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1816417900

Vielen Dank. – Als Nächster erhält jetzt der Kollege

Dr. Edgar Franke, SPD-Fraktion, das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Edgar Franke (SPD):
Rede ID: ID1816418000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Seit über sechs Jahren versucht die SPD, ein Antikor-
ruptionsgesetz im Gesundheitswesen auf den Weg zu
bringen. Ziel neben einer Wettbewerbsregelung war es
vor allen Dingen, den Patientenschutz umfassend zu ge-
währleisten. Natürlich wissen wir, Herr Dr. Luczak – das
ist ganz wichtig; das sagen alle Gesundheitspolitiker –,
dass wir bei Verordnungs- und Therapieentscheidungen
sicher sein müssen, dass nicht monetäre, sondern allein
medizinische Entscheidungen maßgebend sind für das,
was verordnet wird. Ich glaube, das ist wichtig, und das
wird auch durch das Gesetz gewährleistet, meine sehr
verehrten Damen und Herren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Ich darf daran erinnern: Die Gesundheitspolitiker der
SPD haben 2010 einen Antrag mit dem Titel „Korruption
im Gesundheitswesen wirksam bekämpfen“ vorgelegt;
die Älteren erinnern sich, Herr Stritzl.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Damals haben alle anderen Fraktionen gegen diesen An-
trag gestimmt. Teilweise wurde sogar argumentiert, die
Forderungen seien überflüssig.

Ich darf auch daran erinnern, dass der Große Senat
für Strafsachen des BGH in Karlsruhe unter Bezugnah-
me auf unseren Antrag gesagt hat, dass wir tätig werden
müssten. Auch Frau Künast hat zu Recht gesagt, dass
der damalige FDP-Minister kein Gesetz auf den Weg
gebracht, sondern lediglich eine Regelung im SGB V
angestrebt hat. Wenn man das im SGB V geregelt hätte,
hätte man sozusagen eine Dreiklassengesellschaft von
Ärzten gehabt: die Krankenhausärzte, die weiter nach
§ 299 StGB strafbar gewesen wären, die Kassenärzte, für

Alexander Hoffmann






(A) (C)



(B) (D)


die das SGB V gegolten hätte, und die Privatärzte, die
nicht strafbar gewesen wären. Das hätte absolut keinen
Sinn gemacht, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Deswegen ist eine strafrechtliche Regelung wichtig und
richtig.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)


Nachdem von der Großen Koalition – Dirk Wiese hat
es gesagt – auf Wunsch der SPD das Thema Korruption
in den Koalitionsvertrag aufgenommen wurde, liegt uns
jetzt ein Gesetzentwurf vor. Ich muss sagen: Ich glau-
be, es ist kein zahnloser Tiger, was uns vorliegt; denn
der Wettbewerbsbegriff ist weit gefasst. Allerdings sage
ich auch kritisch, dass es Fallkonstellationen in Mono-
polsituationen oder bei im ersten Jahr patentgeschütz-
ten Medikamenten geben kann, die nicht geregelt sind;
das müssen wir sehen. Wir müssen auch sehen, dass der
Wettbewerbsbegriff streitig ist. All das, meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren, gilt es zu berücksichtigen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Nicht ganz unproblematisch in diesem Gesetzent-
wurf – auch das will ich kritisch anmerken – ist, dass die
Abgabe von Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln bzw. Medi-
zinprodukten aus dem Tatbestand genommen wurde. Ich
glaube, das darf man so sagen. Das bedeutet, dass der
Bezug von Arzneimitteln zum Beispiel nur dann strafbar
sein soll, wenn die Produkte zur unmittelbaren Anwen-
dung bestimmt sind. Da dieser Fall aber nicht eintreten
wird, wird diese Regelung in der Praxis weitgehend leer-
laufen. Auch das muss man kritisch anmerken.

Aber ich möchte ausdrücklich betonen, meine sehr
verehrten Damen und Herren, dass auch der Patienten-
schutz in dem vorliegenden Gesetzentwurf enthalten
ist. Durch den unbestimmten Begriff der Lauterkeit in
§ 299 a ist die heilberufliche Integrität geschützt, also
auch der Patient; das muss man auch sagen.


(Beifall des Abg. Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU])


Denn der unbestimmte Rechtsbegriff der Lauterkeit wird
durch die Berufsordnung konkretisiert. Das sollte man
erwähnen, weil das in der Diskussion, meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren, immer wieder übersehen und
vergessen wird.

Als SPD-Politiker sage ich: Ganz persönlich hätte ich
mir gewünscht, dass im Strafgesetzbuch der Patienten-
schutz präziser gefasst worden wäre und dass er insge-
samt einen höheren Stellenwert bekommen hätte; das
will ich nicht verhehlen. Aber, meine sehr verehrten Da-
men und Herren, Gesetzgebung ist immer ein Prozess,
in dem man vielleicht auch noch nachsteuern muss. Herr
Stritzl, wir werden beobachten, wie der Wettbewerbsbe-
griff weiter ausgelegt wird. In diesem Prozess werden
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten immer an
der Seite der Patienten stehen.


(Thomas Stritzl [CDU/CSU]: Keine Drohung!)


Das Gesetz ist bei aller Kritik ein Paradigmenwech-
sel, weil zum ersten Mal ein Spezialtatbestand gegen
Korruption im Gesundheitswesen geschaffen worden ist.
Das ist ein Erfolg für alle Patientinnen und Patienten in
Deutschland. Darauf kann die SPD stolz sein.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1816418100

Vielen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen,

ich darf Sie noch einmal um Ihre Aufmerksamkeit bit-
ten; denn jetzt hat als letzter Redner der Kollege Rudolf
Henke das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1816418200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Lieber Edgar Franke, irgend-
wie müsst ihr euch schon entscheiden. Entweder stellt
man es so dar, wie es eben geschehen ist, nämlich dass
die Regelung, die wir mit dem Koalitionspartner FDP
in der letzten Legislatur getroffen haben, nicht geeignet
ist, oder man wirft uns vor, wir hätten gar keine Rege-
lung geschaffen. Ich bin ausgesprochen dankbar für den
Hinweis, dass wir hier im Deutschen Bundestag in der
letzten Legislaturperiode eine gesetzliche Regelung ver-
abschiedet hatten. Man kann mit Fug und Recht sagen,
dass diese dann nur im Sozialgesetzbuch einschlägig ge-
wesen wäre. Man kann auch sagen, das war untauglich.
Aber was man sicher nicht behaupten kann, ist, dass wir
bisher nicht gehandelt hätten. Das finde ich wichtig fest-
zustellen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


In den Zeiten der vergangenen Koalition haben wir
mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz die Regelun-
gen, die in der Musterberufsordnung der Ärztinnen und
Ärzte stehen – und das bis heute unverändert –, in das So-
zialgesetzbuch übernommen. Wir haben die Kassenärzt-
lichen Vereinigungen mit Recht und aus guten Gründen
dazu verpflichtet, die Ärzte zu sanktionieren, die gegen
ein Zuwendungsverbot nach dem Sozialgesetzbuch ver-
stoßen. Wie immer dem auch sei, ich glaube, dass es heu-
te ein guter Tag für die Patienten ist und dass wir für die
Patienten eine Entscheidung treffen, die ihnen Sicherheit
gibt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deswegen, verehrte Frau Künast, kann ich mich nicht
ganz damit abfinden, wenn Sie Kritik üben – keiner hat
etwas dagegen, wenn Sie das machen; das ist auch Auf-
gabe der Opposition – und gleichzeitig sagen, der Schutz
der Patienten vor unsinnigen Behandlungen sei nicht ge-
währleistet. Ich finde, dass wir alle sagen müssen, dass
das nicht stimmt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es stimmt übrigens nicht nur wegen dieses Gesetzent-
wurfes nicht. Es stimmt auch deswegen nicht, weil wir

Dr. Edgar Franke






(A) (C)



(B) (D)


eine Körperverletzung aufgrund einer Behandlung mit
einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren ahnden kön-
nen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum ist es kein Offizialdelikt?)


Es stimmt nicht, weil eine gefährlichen Körperverlet-
zung – eine gefährliche Körperverletzung ist zum Bei-
spiel die Beibringung von gesundheitsschädlichen Stof-
fen – zu einer Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren
führt. Eine Körperverletzung mit Todesfolge wird nicht
unter drei Jahren bestraft.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, dann stellt sie doch hier rein!)


Natürlich haben wir auch die Vermögensdelikte. Wir
haben Betrug, Untreue. Wir haben die Verstöße gegen
das Heilmittelwerbeverbot. Wir haben die Verstöße ge-
gen das Medizinproduktegesetz. Wir haben die Verstöße
gegen das Arzneimittelgesetz. Das alles sind Sachverhal-
te, in denen das Strafrecht greift. Deswegen verwahre ich
mich einfach gegen den Vorwurf, hier würden Lücken
gerissen. Das ist nicht der Fall.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben, liebe Kolleginnen und Kollegen, mit die-
sem Gesetzentwurf eine zentrale Lücke geschlossen.
Diese wurde in dem Beschluss des Bundesgerichtshofs
benannt, der, wie ich finde, zu Recht gesagt hat: Die
freiberuflich niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte in
selbstständiger Praxis sind keine Amtsträger und sie sind
keine Art Angestellten der Krankenkassen. – Ich glaube,
dass das auch dem Wunsch der Patientinnen und Patien-
ten entspricht. Wenn Sie die Patientinnen und Patienten
und die Versicherten fragen: „Wollt ihr, dass eure Ärzte
Angestellte der Krankenkassen oder Amtsträger sind?“,
dann sagen die: Nein, das wollen wir nicht. Wir wollen,
dass sie Auftragnehmer von uns Patientinnen und Patien-
ten und Versicherten sind.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deshalb haben die Ärztinnen und Ärzte ein großes In-
teresse daran, dass eine klare Scheidelinie besteht zwi-
schen denen, die sich an die Berufsordnung halten und
sich nicht schmieren lassen, und denen, die angeklagt
werden können, weil sie sich haben schmieren lassen,
und die damit Schimpf und Schande über den gesamten
Berufsstand zu bringen drohen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deswegen ist diese Entscheidung, die wir heute hier
treffen, richtig. Sie hilft den Patientinnen und Patienten.
Sie hilft auch den Ärztinnen und Ärzten, die ihre Arbeit
gut machen. Sie hilft ebenfalls den Angehörigen anderer
Berufe im Gesundheitswesen, die von diesem Gesetz er-
fasst werden.

Nun gibt es auch eine ärztliche Kritik, die lautet, das
Gesetz schieße über das Ziel hinaus. Ich finde, das kann
man dem Gesetz nicht vorwerfen. Von den Kooperati-
onen ist ja schon die Rede gewesen. Wer sich die Be-
gründung des Gesetzentwurfes genau anschaut, der stellt

fest, dass wir dort ein gutes Maß gefunden haben und die
Kooperationen, die beispielsweise das Sozialgesetzbuch
vorsieht, ausdrücklich von einer Strafbarkeit ausnehmen,
auch wenn dort natürlich für die Leistung Geld gezahlt
wird.

Bei den Anwendungsbeobachtungen kommt es auf
den Vertrag an. Wenn der Vertrag ordnungsgemäß ist
und die ärztliche Leistung im Rahmen der Anwendungs-
beobachtung bezahlt wird, dann ist das in Ordnung und
nicht strafwürdig. Wenn aber die Anwendungsbeobach-
tung zur Grundlage einer Unrechtsvereinbarung gemacht
wird, dann ist das natürlich strafwürdig.

Wer glaubt, dass jetzt jeder Bleistift, jeder Kugel-
schreiber und jede Praline, die irgendjemand in der
Praxis hinterlässt, zur Strafbarkeit führt, irrt. Auch das
ist nicht der Fall. Vielmehr ist das abhängig von der so-
zialen Adäquanz. Dies wurde aus anderen Tatbeständen
übernommen, die als Korruption gewertet werden und
zur Strafe führen. Insofern haben wir hier auch kein
Sonderstrafrecht, das speziell eine Berufsgruppe treffen
würde.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, deswegen – das ist
meine letzte Bemerkung – bitte ich darum, dass wir ge-
meinsam dafür sorgen, dass die Menschen, die auf die
Verantwortung der Bundespolitik gucken, nicht das Ge-
fühl haben, dass wir hier ein Gesetz machen, über das
wir uns selber zerstreiten und das wir kaputtquatschen.
Sorgen wir vielmehr dafür, dass die Menschen davon
überzeugt sind, dass wir ein gutes Gesetz gemacht ha-
ben. Und dazu gehört auch die Art, wie wir über dieses
Gesetz reden.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und bitte
um Zustimmung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1816418300

Vielen Dank. – Damit ist die Aussprache beendet.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Bekämp-
fung von Korruption im Gesundheitswesen.1) Der Aus-
schuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 18/8106, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 18/6446 in der Ausschussfassung an-
zunehmen. – Ich darf Sie bitten, auf Ihren Plätzen zu
bleiben; denn wir haben noch eine Abstimmung durch-
zuführen, bevor wir zur namentlichen Abstimmung kom-
men. – Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim-

1) Anlage 4

Rudolf Henke






(A) (C)



(B) (D)


men der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Wir stimmen über den Gesetz-
entwurf auf Verlangen der Fraktion Die Linke namentlich
ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind die Plätze an
den Urnen besetzt? – Dann eröffne ich die Abstimmung.

Ist noch ein Mitglied des Hauses hier, das seine
Stimmkarte noch nicht abgegeben hat? – Wie ich sehe,
haben alle abgestimmt. Dann schließe ich die Abstim-
mung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,
mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Ab-
stimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.1)

Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 18/8109. Wer stimmt für diesen Ent-
schließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen abgelehnt.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 8 b. Wir set-
zen die Abstimmungen zu der Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz auf Druck-
sache 18/8106 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buch-
stabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/5452
mit dem Titel „Korruption im Gesundheitswesen effek-
tiv bekämpfen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koaliti-
onsfraktionen bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Petzold (Havelland), Sigrid Hupach, Nicole
Gohlke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Filmförderung – Impulse für mehr Innovati-
on statt Kommerz, für soziale und Genderge-
rechtigkeit und kulturelle Vielfalt

Drucksache 18/8073
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Das Wort zur Eröffnung hat der Kollege Harald
Petzold, Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Harald Petzold (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1816418400

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher auf
den Tribünen! Viele von Ihnen haben möglicherweise

1) Ergebnis Seite 16165 D

den Film Fack ju Göhte 2 im Kino gesehen – ein Rie-
senkinoerfolg mit einem der besten Filmstarts dieser
Republik, über den sich sehr viele gefreut haben. Wenn
man allerdings die Kriterien des Urteils des Bundes-
verfassungsgerichts über die Rechtmäßigkeit der Film-
förderung anlegt, in dem es sinngemäß heißt, dass die
künstlerisch-kulturelle Qualität eines Films eine Voraus-
setzung für seinen Erfolg ist und deshalb Qualität und
Erfolg eine Einheit bilden sollten, dann müssten Sie auch
alle den Film Kopfüber gesehen haben. Ich vermute mal,
da ist die Zahl derjenigen, die ihn gesehen haben, schon
übersichtlicher. Es ist ein Film über einen Jungen mit
ADS-Syndrom, ein Kinder- und Jugendfilm, gedreht von
einem Brandenburger Nachwuchsregisseur.

Der wesentliche Unterschied zwischen diesen beiden
Filmen: Fack ju Göhte 2, der ja schon einen Vorgänger
hatte und bei dem man den Erfolg nach dem Vorgänger-
film schon erwarten konnte, ist millionenschwer geför-
dert worden, der Film Kopfüber so gut wie gar nicht. Die
Macher von Fack ju Göhte 2 konnten sich aussuchen, wo
sie drehen, während man mit dem Film Kopfüber nach
Thüringen ausweichen musste. Er hatte von dort eine
schmale Landesförderung erhalten und musste von sei-
nem ursprünglichen Drehort abwandern, um den Regio-
naleffekt zu erzielen; so nennt man das in der Filmförde-
rung. Allein diese beiden Fakten zeigen, dass irgendetwas
im System der deutschen Filmförderung nicht stimmt.

Meine Fraktion hat deswegen im September des ver-
gangenen Jahres gemeinsam mit den Landtagsfraktionen
der Linken aus den Länderparlamenten eine Anhörung
in Potsdam durchgeführt, um sich von Sachverständigen
aus der Filmbranche die aktuellen Probleme schildern zu
lassen. Die aus unserer Sicht wichtigsten Ergebnisse die-
ser Anhörung haben wir Ihnen heute in dem vorliegenden
Antrag zusammengefasst.

Nun wird die Bundesregierung demnächst ihren eige-
nen Gesetzentwurf einbringen. Der bisher bekanntgewor-
dene Entwurf lässt erkennen, dass es schon schlechtere
Gesetzentwürfe der Bundesregierung gegeben hat als
den von Frau Staatsministerin Grütters. Das heißt aber
nicht, dass der Entwurf gut ist. Meine Fraktion hat sich
deswegen dafür entschieden, ihren Antrag heute schon
vorzulegen und nicht erst bei der ersten Lesung des Ge-
setzentwurfs dazuzulegen; denn wir haben die Hoffnung,
dass er in der Phase der Erarbeitung der Stellungnahmen
der Bundesländer zum Gesetzentwurf vielleicht noch
Gehör findet und damit zu einer Änderung des Entwurfs
der Bundesregierung beiträgt, noch bevor er ins Parla-
ment kommt.


(Beifall bei der LINKEN)


Für die Linke steht fest: Film ist in erster Linie Kultur,
und Kinos sind Stätten der Kultur. Natürlich ist der Film
auch Wirtschaftsgut – das ist keine Frage –, und damit ist
er auch Gegenstand von Standortpolitik. Aber für die Le-
gitimation staatlicher Filmförderung muss die kulturelle
Begründung immer im Vordergrund stehen. Es darf ihr
nicht in erster Linie um den gewinnträchtigen Blockbus-
ter gehen. Es muss um künstlerische Vielfalt, um gesell-

Vizepräsidentin Ulla Schmidt






(A) (C)



(B) (D)


schaftliche Relevanz, um Ästhetik und um kommunika-
tiven Gehalt gehen.


(Beifall bei der LINKEN)


Voraussetzung für die Einhaltung dieser künstleri-
schen Kriterien und kulturellen Begründungen sind die
entsprechenden Rahmenbedingungen für diejenigen, die
letzten Endes am Entstehen eines Films beteiligt sind.
Das sind viele verschiedene Menschen mit vielen ver-
schiedenen Fähigkeiten und Berufen. Sie alle haben ein
Recht auf eine faire Vergütung, und die gibt es im Film-
wesen inzwischen leider nicht mehr. Aber auch die Film-
branche muss soziale Mindeststandards einhalten.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke fordert deshalb, dass in Zukunft nur noch sol-
che Filmprojekte gefördert werden, bei denen die Tarif-
löhne bzw. der Mindestlohn in die Kalkulation einbezo-
gen werden. Wer Tariflöhne und den Mindestlohn zwar
kalkuliert, aber dann nicht ausbezahlt, der soll mindes-
tens für drei Jahre von der Förderung ausgeschlossen
werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Darüber hinaus fällt es auf, dass bei der Vergabe der
Fördermittel Frauen auf eine Art und Weise benachteiligt
werden, die nicht mehr hingenommen werden kann.


(Zuruf von der LINKEN: Genau!)


Die Linke spricht sich deswegen nachdrücklich für eine
besondere Förderung solcher Filme aus, bei deren Pro-
duktion Frauen an verantwortlicher Stelle beteiligt sind.
Wir wollen im neuen Gesetz eine Zielvorgabe verankert
wissen, die besagt, dass die Hälfte der Fördermittel an
Projekte gehen soll, bei denen Frauen in der Produktion,
bei der Regie oder am Drehbuch mitwirken.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich habe einleitend von der notwendigen künstleri-
schen Vielfalt gesprochen. Deswegen sind wir dafür,
dass die Referenzmittel für Kinder- und Jugendfilme, für
Animations- und Dokumentarfilme verdreifacht werden.
Wir wollen auch den Anteil des Kurzfilms verdoppeln.

Wir sagen: Die Tatsache, dass sich Fördermittel zu-
nehmend in den Händen der großen Produzenten kon-
zentrieren, schadet der Genrevielfalt. Das muss dringend
gestoppt werden. Frau Grütters hat im Vorfeld ihres Ge-
setzentwurfs angekündigt, dass sie die Gremien, die über
die Vergabe der Mittel entscheiden, verkleinern will. Das

würde ich auch unterstützen. Aber es geht natürlich nicht
nur um die Verkleinerung der Gremien,


(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)


sondern es geht auch um ihre Zusammensetzung, damit
nicht die Großen der Branche künftig weiter das Sagen
haben und die Kreativen weiter außen vor bleiben.


(Beifall der Abg. Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Deswegen sagen wir: In keinem Gremium darf es ein
Dauerabonnement auf eine Beteiligung und auf einen
Verbleib geben. Die Zusammensetzung muss sich im
Turnus ändern, sodass die bestehenden Verkrustungen
aufgebrochen werden können.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich glaube, es ist nicht zu viel verlangt, wenn man eine
derartige Forderung aufstellt.

Meine Damen und Herren, zusammenfassend will ich
für unsere Fraktion sagen: Das Filmfördersystem muss
natürlich insgesamt auf den Prüfstand gestellt werden, es
muss evaluiert und einer gründlichen Prüfung unterzo-
gen werden; denn der Kern des Fördersystems stammt
noch aus den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts.
Er hat in der Zwischenzeit mächtig Staub angesetzt. Es
ist ein starres System, es ist sehr komplex und ein verwir-
rendes Geflecht aus Bundes- und Länderzuständigkeiten.
Deswegen möchte meine Fraktion, dass diese Evaluie-
rung bald in Angriff genommen wird, sofort nach Verab-
schiedung der FFG-Novelle.

Abschließend: Mit unserem heutigen Fördersystem
hätten Filme von Rainer Werner Fassbinder keine Chan-
ce gehabt. Das muss sich ändern, findet meine Frakti-
on. Wir wollen darüber hinaus, dass es in Zukunft mehr
Doris Dörries und Margarethe von Trottas gibt.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1816418500

Vielen Dank. – Bevor ich jetzt dem Kollegen Marco

Wanderwitz das Wort erteile, möchte ich Ihnen das von
den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Er-
gebnis der namentlichen Abstimmung über das Gesetz
zur Bekämpfung von Korruption im Gesundheitswesen
bekanntgeben: abgegebene Stimmen 576. Mit Ja haben
gestimmt 464, mit Nein haben gestimmt 58, Enthaltun-
gen 54. Damit ist der Gesetzentwurf angenommen.

Endgültiges Ergebnis

Abgegebene Stimmen: 576;

davon

ja: 464

nein: 58

enthalten: 54

Ja

CDU/CSU

Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Artur Auernhammer
Günter Baumann

Maik Beermann
Manfred Behrens (Börde)

Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. André Berghegger
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram

Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann

Harald Petzold (Havelland)







(A) (C)



(B) (D)


Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Iris Eberl
Jutta Eckenbach
Dr. Bernd Fabritius
Hermann Färber
Uwe Feiler
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer (Hamburg)

Axel E. Fischer


(Karlsruhe-Land)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr. Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Michael Frieser
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Josef Göppel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Dr. Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Olav Gutting
Christian Haase
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth

Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich (Chemnitz)

Mark Helfrich
Uda Heller
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Peter Hintze
Dr. Heribert Hirte
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Alexander Hoffmann
Thorsten Hoffmann


(Dortmund)

Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Erich Irlstorfer
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Xaver Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Hartmut Koschyk
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla

Dr. Roy Kühne
Uwe Lagosky
Dr. Karl A. Lamers
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Paul Lehrieder
Dr. Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Dr. Andreas Lenz
Dr. Ursula von der Leyen
Antje Lezius
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Dr. Thomas de Maizière
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Reiner Meier
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. h.c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Volker Mosblech
Elisabeth Motschmann
Dr. Gerd Müller

(Braun schweig)

Stefan Müller (Erlangen)

Dr. Philipp Murmann
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Julia Obermeier
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann

Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer (Saalstadt)

Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Gabriele Schmidt (Ühlingen)

Patrick Schnieder
Dr. Ole Schröder
Dr. Kristina Schröder


(Wiesbaden)

Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Armin Schuster


(Weil am Rhein)

Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Frhr. von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe






(A) (C)



(B) (D)


Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Thomas Stritzl
Thomas Strobl (Heilbronn)

Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Hans-Peter Uhl
Dr. Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Nina Warken
Kai Wegner
Albert Weiler
Marcus Weinberg (Hamburg)

Dr. Anja Weisgerber
Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Marian Wendt
Waldemar Westermayer
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese (Ehingen)

Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Dr. Matthias Zimmer

SPD

Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann

Dr. Katarina Barley
Doris Barnett
Klaus Barthel
Dr. Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding (Heidelberg)

Burkhard Blienert
Willi Brase
Dr. Karl-Heinz Brunner
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Dr. Lars Castellucci
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr. Daniela De Ridder
Dr. Karamba Diaby
Sabine Dittmar
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier
Dr. h.c. Gernot Erler
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr. Johannes Fechner
Dr. Fritz Felgentreu
Elke Ferner
Dr. Ute Finckh-Krämer
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Ulrich Freese
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Angelika Glöckner
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Michael Groß
Uli Grötsch
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Dirk Heidenblut
Hubertus Heil (Peine)

Gabriela Heinrich
Marcus Held

Wolfgang Hellmich
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz (Essen)

Thomas Hitschler
Dr. Eva Högl
Matthias Ilgen
Christina Jantz-Herrmann
Frank Junge
Josip Juratovic
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Cansel Kiziltepe
Arno Klare
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Anette Kramme
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Helga Kühn-Mengel
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Kirsten Lühmann
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Dr. Matthias Miersch
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
Bettina Müller
Detlef Müller (Chemnitz)

Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Ulli Nissen
Thomas Oppermann
Mahmut Özdemir (Duisburg)

Aydan Özoğuz
Markus Paschke
Christian Petry
Jeannine Pflugradt
Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Joachim Poß

Florian Post
Achim Post (Minden)

Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Petra Rode-Bosse
Dennis Rohde
Dr. Martin Rosemann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth (Heringen)

Susann Rüthrich
Bernd Rützel
Sarah Ryglewski
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim

Schabedoth
Axel Schäfer (Bochum)

Dr. Nina Scheer
Marianne Schieder
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt (Aachen)

Matthias Schmidt (Berlin)

Dagmar Schmidt (Wetzlar)

Elfi Scho-Antwerpes
Ursula Schulte
Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Frank Schwabe
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Rainer Spiering
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Dr. Karin Thissen
Franz Thönnes
Carsten Träger
Ute Vogt






(A) (C)



(B) (D)


Dirk Vöpel
Gabi Weber
Bernd Westphal
Dirk Wiese
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)

Gülistan Yüksel
Dagmar Ziegler
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Manfred Zöllmer

Nein

DIE LINKE

Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Klaus Ernst
Nicole Gohlke
Annette Groth
Dr. André Hahn
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Andrej Hunko
Sigrid Hupach

Ulla Jelpke
Susanna Karawanskij
Kerstin Kassner
Katja Kipping
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Birgit Menz
Cornelia Möhring
Norbert Müller (Potsdam)

Dr. Alexander S. Neu
Thomas Nord
Petra Pau
Harald Petzold (Havelland)

Richard Pitterle
Martina Renner
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Dr. Kirsten Tackmann
Azize Tank
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Dr. Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak

Harald Weinberg
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Jörn Wunderlich
Hubertus Zdebel
Pia Zimmermann
Sabine Zimmermann


(Zwickau)


Enthalten

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Luise Amtsberg
Annalena Baerbock
Volker Beck (Köln)

Agnieszka Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Katharina Dröge
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Matthias Gastel
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Britta Haßelmann
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Dieter Janecek
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink

Oliver Krischer
Stephan Kühn (Dresden)

Renate Künast
Monika Lazar
Steffi Lemke
Dr. Tobias Lindner
Peter Meiwald
Irene Mihalic
Özcan Mutlu
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Cem Özdemir
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth (Augsburg)

Corinna Rüffer
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Ulle Schauws
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Kordula Schulz-Asche
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Dr. Julia Verlinden
Doris Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Dr. Valerie Wilms

Jetzt hat der Kollege Marco Wanderwitz das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Marco Wanderwitz (CDU):
Rede ID: ID1816418600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Der Antrag der Linken sieht einen riesigen „Problem-
berg“ in der Filmförderung. So wird es dort benannt. Ich
sehe ihn nicht.


(Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Wundert mich nicht! – Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Och!)


Ich sehe ihn vor allem deshalb nicht, weil das, was wir
im Jahr 2015 in den Kinos vom deutschen Film gesehen
haben, irgendwie gar nicht dafür spricht, dass wir einen
riesigen Problemberg haben.

Ich will zu Beginn einige Zahlen nennen: Mit
27,5 Prozent hatten wir 2015 den höchsten Marktanteil
des deutschen Films seit Erfassung der Besucherzahlen.
Es gab 37,1 Millionen Besucher von deutschen Filmen.
Knapp 1,2 Milliarden Euro Umsatz gab es für die Kinos,
und – und das freut mich besonders – das Leinwandster-

ben scheint gestoppt. Wir hatten im Jahr 2015 ein Plus
von 55 Kinosälen. Ich finde nicht, dass so ein riesiger
Problemberg aussieht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich finde vielmehr, dass die Verfassung, in der sich der
deutsche Film befindet, eine gute Basis ist, auf die wir
mit der turnusgemäßen Novelle des Filmförderungsge-
setzes, die jetzt ansteht, draufsatteln können. Insbesonde-
re die Umwälzungen im Bereich der Digitalisierung und
des Internets fordern auch den Film und das Kino seit
vielen Jahren heraus. Deshalb geht der Regierungsent-
wurf diese Aufgabe an.

Ich für meine Fraktion sehe die Hauptaufgabe in Be-
zug auf die Novelle darin, zunächst einmal das hohe Ab-
gabenniveau zu sichern. Wir brauchen weiterhin 50 Mil-
lionen Euro plus X für diesen Teil der Filmförderung.
Es gibt ja nicht nur die Förderung, die sich durch das
Filmfördergesetz ergibt. Wir müssen es schaffen, dass
wir diese 50 Millionen Euro plus X mindestens für die






(A) (C)



(B) (D)


fünf Jahre gewährleisten können, für die wir das neue
Filmfördergesetz planen.

Ich finde es sehr gut, dass sowohl die Videowirt-
schaft als auch der private Rundfunk als große Einzah-
ler gruppen an dieser Stelle weiteres Entgegenkommen
signalisiert haben. Liebe Frau Staatsministerin Monika
Grütters, ich finde es auch sehr gut, dass es zusammen
mit dem BKM gelungen ist, zu einer Vereinbarung mit
dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu kommen, die
ihren Zweck erfüllt, nämlich die Erhöhung des Abgabe-
satzes auf 3 Prozent und zusätzliche Leistungen auf frei-
williger Basis.

Wichtig ist, dass wir die werbefinanzierten Video-
on- Demand-Anbieter als neue Einzahlergruppe einbe-
ziehen. Ich bin zuversichtlich, dass wir dies gerichtsfest
hinbekommen. Wir müssen natürlich auch an der Abga-
bepflicht der ausländischen Video-on-Demand-Anbieter
festhalten. Das haben wir bereits vor drei Jahren in der
kleinen Novelle des Filmfördergesetzes angelegt. Ich
bin zumindest ziemlich traurig, dass dies seit nunmehr
drei Jahren bei der EU-Kommission liegt und dass wir es
immer noch nicht geschafft haben, an dieser Stelle eine
Modifizierung hinzubekommen, oder, anders formuliert,
dass die Kommission es nicht geschafft hat, unser deut-
sches Gesetz an dieser Stelle zu notifizieren. Wir brau-
chen diese Einnahmen; denn diese Anbieter profitieren
von dem Content Film, und deshalb müssen auch sie zu-
künftig zu den Einzahlern gehören.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich für meinen Teil tue mich schwer damit, zwischen
dem Kulturgut Film und dem Wirtschaftsgut Film zu un-
terscheiden, wie Sie das nach meiner Wahrnehmung tun.
Ich will eines nicht stärker betonen als das andere. Für
mich ist der Film mindestens genauso sehr Kulturgut,
wie er Wirtschaftsgut ist, und mindestens genauso sehr
Wirtschaftsgut, wie er Kulturgut ist.


(Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Das habe ich aber auch gesagt!)


– Vielleicht haben wir uns an der Stelle ja nur missver-
standen. – Im Übrigen gibt es viele künstlerisch wertvol-
le Filme, die sich an der Kinokasse ziemlich gut behaup-
tet haben. Erinnern wir uns beispielsweise an Filme wie
„Das weiße Band“, „Victoria“ oder „Oh Boy“. Das sind
Filme, denen wohl niemand die künstlerische Klasse ab-
sprechen will, die es gleichwohl geschafft haben, Kas-
senschlager zu werden.

Ich finde, dass natürlich auch Blockbuster gefördert
werden sollen und dürfen.


(Ulrich Petzold [CDU/CSU]: Müssen!)


Wenn Blockbuster gewinnträchtig sind, profitieren alle:
Produzenten, Verleiher, vor allen Dingen die Kinos – wir
sind uns völlig einig, dass die Kinos wichtige Stätten der
Kultur sind –, die Kreativen und die Videobranche. Es
geht um viele Arbeitsplätze, und die großen Filme brin-
gen natürlich eine ganze Menge ein.

Nun ist sowohl beim Thema „künstlerische Qualität
des Films in der Breite“ als auch beim Thema Marktan-

teil noch nicht alles eitel Sonnenschein. Wir haben uns
30 Prozent Marktanteil vorgenommen. Da sind wir jetzt
relativ nah dran. Diese 30 Prozent wollen wir erreichen,
und deswegen wollen wir noch das eine oder andere än-
dern.


(Beifall bei der CDU/CSU)


I
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1816418700


Die Verstärkung und Zweistufigkeit der Drehbuchför-
derung zielt, glaube ich, in die richtige Richtung. Genau-
so richtig ist es, glaube ich, die Mindestfördersummen zu
erhöhen; denn wir haben derzeit eine Vielzahl von – so
will ich es einmal sagen – Miniförderungen, die mit der
Gießkanne ausgeschüttet werden. Natürlich sagt jeder,
der in den Genuss einer solchen Miniförderung kommt:
Das ist eine schöne Sache; das ist ein Baustein, damit ich
diesen Beitrag machen kann. Auf der anderen Seite führt
diese Art der Förderung aber dazu – darüber wird immer
wieder diskutiert –, dass wir viele Filme haben, die nur
ein sehr kleines Publikum erreichen, und in der Sum-
me entspricht diese Gießkannenförderung einer ganzen
Menge Geld. Wenn wir diesbezüglich zu einer gewissen
Konzentration kommen, ist für andere Projekte schlicht
ein bisschen mehr Geld da.

Ich finde auch die Vorschläge der Staatsministerin zur
Rückzahlquote der Förderung und zur Verkleinerung der
Fördergremien richtig. Wenn wir über Gremien sprechen,
sind wir auch beim Thema – so sage ich es einmal – Män-
nerüberlast. Auch dazu gibt es ja Vorschläge der BKM.
Völlig klar ist: Wir müssen an der Stelle mehr tun, etwas
tun. Wir müssen bei den Jurys etwas tun, und wir müssen
bei den Gremien, beispielsweise bei der Filmförderungs-
anstalt, etwas tun. Wovon ich überhaupt nicht überzeugt
bin, ist der Vorschlag, dass die in Bälde, so hoffe ich,
entsprechend angepassten Jurys bei ihren Förderent-
scheidungen, bei ihren Vergabeentscheidungen Quotie-
rungen vornehmen, beispielsweise abhängig davon, ob
ein Regisseur oder eine Regisseurin diesen Film gemacht
hat, ob ein Produzent oder eine Produzentin diesen Film
gemacht hat. Ich glaube, wir müssen sicherstellen, dass
Frauen in den Jurys mitentscheiden. Ich kann mir aber
schwer vorstellen, dass wir die Vergabeentscheidung im
Regelfall daran festmachen, ob Männer und/oder Frauen
in dieser oder jener Position am Film beteiligt sind.


(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich kann mir schon so was vorstellen!)


Darüber sollten wir noch einmal reden. Bezogen auf den
zuerst genannten Teil, auf die Jurys und Gremien, kann
ich für meine Fraktion sagen: Wir sind absolut willens,
da etwas zu tun.

Bezüglich einiger anderer Punkte, die in Ihrem Antrag
genannt sind, haben wir ja bereits eigene Anträge vorge-
legt bzw. sind darauf im Rahmen der letzten Novelle zum
Gesetz eingegangen. Das gilt beispielsweise für das The-
ma Kinderfilm und das Thema Barrierefreiheit. In diesen
Bereichen haben wir schon eine ganze Menge getan.


(Beifall bei der CDU/CSU – Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Müdes Klatschen!)


Marco Wanderwitz






(A) (C)



(B) (D)


Stichwort: getan haben. Begonnen unter Kulturstaats-
minister Bernd Neumann, fortgeführt unter Monika
Grütters haben wir als Deutscher Bundestag, als Haus-
haltsgesetzgeber, beispielsweise das Förderprogramm
zur Kinodigitalisierung angelegt. Ich glaube, das war ein
ganz wichtiger Baustein. Dabei ging es um die Frage –
dieses Thema sprechen Sie in Ihrem Antrag auch an –:
Wie sorgen wir dafür, dass Kinos in der Fläche erhalten
bleiben? Ich glaube, uns allen ist klar: Wenn es dieses
Förderprogramm zur Kinodigitalisierung nicht gegeben
hätte, dann wären die Zahlen, die ich vorhin genannt
habe, nicht so, wie sie sind, dann würde es eine ganze
Menge Kinos im ländlichen Bereich nicht mehr geben.

Ich finde es deswegen auch völlig richtig, als Aufla-
ge für die Verleihförderung festzulegen, dass Kinos im
ländlichen Raum angemessen mit Kopien – natürlich
nur von geförderten Filmen – versorgt werden müssen.
Die Frage, wie wir es schaffen, Kinos darüber hinaus in
der Fläche zu halten, kann man nicht damit beantworten,
dass man anordnet: In diesem oder jenem Bereich muss
es eines geben.


(Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Warum nicht?)


Wie soll das praktisch funktionieren? Es gibt beispiels-
weise kommunale Kinos, die das ein Stück weit auffan-
gen.


(Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Ja!)


– Ja, es ist gut, dass es sie gibt. – Das ist kommunale
Selbstverwaltung im besten Sinne. Aber es ist nicht Auf-
gabe des Bundesgesetzgebers, dafür Regelungen zu tref-
fen.


(Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Warum nicht?)


Um noch ein paar Stichpunkte zu nennen: Ich finde,
wir sollten uns noch einmal sehr genau das anschauen,
was die Produzenten unter dem Stichwort „Produzen-
tenkorridor“ vorgeschlagen haben. Ich glaube, man kann
und sollte darüber sprechen. Wir werden natürlich auch
an der Baustelle „soziale Lage der Filmschaffenden“
dranbleiben müssen, nur glaube ich, dass das Filmförde-
rungsgesetz dafür nicht das richtige Mittel ist.

Filmpolitik erschöpft sich nicht nur in der Novelle des
Filmförderungsgesetzes, sondern umfasst beispielswei-
se auch ein Instrument, das durch unsere Entscheidung
als Haushaltsgesetzgeber jetzt wesentlich größer gewor-
den ist, nämlich die kulturelle Filmförderung; die Mit-
tel dafür sind um 15 Millionen Euro erhöht worden und
wurden damit mehr als verdoppelt. Das ist das große In-
strument, durch das insbesondere die kulturell besonders
wertvollen Filme gefördert werden. Wir haben daneben
die Förderung des BMWi in Form des German Motion
Picture Fund als kleine Schwester oder kleinen Bruder
des DFFF.

2016 sind die Filmpolitik und die Förderinstrumente
mächtig im Fluss. Ich freue mich, dass wir dies mitge-
stalten können. Ich freue mich auf die Diskussionen rund
um die Novelle. Dafür hätten wir jetzt nicht unbedingt

diese Debatte heute gebraucht, aber es schadet auch
nicht, wenn wir sie führen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1816418800

Vielen Dank. – Als Nächstes hat Tabea Rößner, Bünd-

nis 90/Die Grünen, das Wort.


Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816418900

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Behauptung: Der deutsche Film ist tot. Tot. Totge-
fördert. Totgeskriptet. Totgequatscht. Totproduziert.
Totunterrichtet. Totgelehrt. Totkritisiert. Totge-
schrieben. Totbetreut. Hat sich totgefeiert. Hat sich
totgelacht. Ist total unerotisch. Totgegrübelt. – War
es je anders?

Das ist ein Zitat aus dem neuen Dokumentarfilm Ver-
fluchte Liebe deutscher Film. Dominik Graf sucht da-
rin nach einem deutschen Kino, das er lieben kann. Ich
meine, wenn wir hier über die Reform der Filmförderung
reden, sollten wir genau das tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Als leidenschaftliche Kinogängerin wünsche ich mir
nicht nur Filme, die mich gut unterhalten, sondern ich
wünsche mir auch Filme, die mich anregen, die andere
Sichtweisen zeigen, die gegen den Strich bürsten, ja,
auch welche, die provozieren. Dazu brauchen die Film-
schaffenden kreative Freiheiten. Gerade in Zeiten wie
diesen ist es umso wichtiger, dass wir diese Freiheiten
ermöglichen, den Künstlerinnen und Künstlern den Rü-
cken stärken und für die uneingeschränkte Kunstfreiheit
eintreten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Einige Probleme bei der Filmförderung werden in
dem Antrag der Linken ganz richtig beschrieben. Die
Förderstrukturen sind ineffizient und ungerecht, Frauen
bekommen nur selten den Zuschlag, und viele Beschäf-
tigungsverhältnisse sind prekär. In Ihren Schlussfolge-
rungen aber tun sich dann Widersprüche auf. Sie fordern
mehr Referenz- und weniger Projektförderung. Von der
automatischen Referenzförderung profitieren aber vor al-
lem diejenigen, die erfolgreiche Kinofilme gemacht und
den Fuß schon in der Tür haben. Das Problem ist aber,
dass zum Beispiel gerade Frauen gar nicht bis zur Tür
kommen; sie werden vorher gestoppt. Mir ist die Vergabe
von Fördermitteln ohne Gremien ja auch sympathisch.
Die Wahrheit ist allerdings, dass automatische Förderung
auch nicht gerechter ist. Das kann man ja beim DFFF
sehr deutlich sehen.

Ein Aspekt ist doch auch, dass Gremien viele sehr ein-
fallslose Entscheidungen treffen. Da werden Filme ge-
fördert, die eh schon die meisten Zuschauer haben. Der
Teufel scheißt immer auf den größten Haufen. Schönes
Beispiel: Fack ju Göhte 2 erhält jetzt noch eine Vertriebs-

Marco Wanderwitz






(A) (C)



(B) (D)


förderung, obwohl genau dieser Film diese überhaupt
nicht nötig hätte.


(Beifall der Abg. Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE])


Wir brauchen aber Vielfalt im Film, und dafür brauchen
wir auch den kleinen und den feinen Film.

Sie fordern Gerechtigkeit bei der Förderung. Das for-
dern auch wir. Weshalb fordern Sie dann aber nicht mehr
Transparenz in diesem Förderdschungel? Denn Trans-
parenz wäre doch die Voraussetzung für eine gerechtere
Steuerung innerhalb des Systems. Ich habe dafür einen
ganz einfachen Vorschlag: eine umfassende Berichts-
pflicht für die Filmförderungsanstalt. Ich sage Ihnen
auch, warum.

Neulich hat meine Fraktion einen Brief von Staatsmi-
nisterin Grütters bekommen. Wir hatten sie nach Zahlen
zur Effizienz, zur Gerechtigkeit und zur Nachhaltigkeit
der Filmförderung gefragt. Den besten Beweis für die
Ineffizienz und die Ahnungslosigkeit lieferte uns dieser
Brief. Statt einer Antwort mit Zahlen habe ich eine Ant-
wort bekommen, in der steht, wie lange das Zusammen-
tragen der Zahlen dauern würde. Mehr als zwei Jahre
bräuchte die FFA, um beispielsweise eine Aufstellung
von Rückflüssen nach Besucherzahlen vorzulegen. So
wenig kennt die FFA offenbar ihre eigenen Zahlen.

In Frankreich gibt es ein zentrales Filmregister. Dort
werden bei öffentlich geförderten Produktionen alle Ver-
träge hinterlegt: mit Informationen zum Gesamtbudget,
zu Beteiligungen von Sendern und Koproduzenten und
zu den Arbeitsbedingungen. Und in Deutschland? Da be-
hält die FFA so wichtige Daten, an denen die gesamte
deutsche Filmbranche hängt, für sich oder – noch schlim-
mer – erhebt sie gar nicht erst. Hier sehen wir dringenden
Änderungsbedarf.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir sind davon überzeugt: Wenn es bei der Förderung
etwas gerechter zuginge, bräuchte sich die Branche auch
nicht mehr zu verstecken, und wir alle müssten nicht
mehr fluchen über unsere Liebe zum deutschen Film.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1816419000

Vielen Dank. – Als Nächstes hat der Kollege Burkhard

Blienert, SPD-Fraktion, das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Burkhard Blienert (SPD):
Rede ID: ID1816419100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Zunächst ein Glückwunsch
an den deutschen Film, nämlich an Maren Ade! Toni
Erdmann, ihr Film, ist in Cannes dabei. Wir haben seit
Jahren wieder einen deutschen Film bei den Filmfest-

spielen. Wenn auch allseits beklagt: So schlecht kann der
deutsche Film anscheinend doch nicht sein.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Marco Wanderwitz [CDU/CSU])


Neben diesem Film, der von der FFA und vom
Deutschen Filmförderfonds gefördert wurde und eine
BKM-Filmförderung erhielt, sind noch drei weitere mit
anderen Länderförderungen geförderte Filme dabei. Ich
freue mich darauf, dass wir, wie ich glaube, in Cannes
gut abschneiden werden. Das alles ist ein Zeichen dafür,
dass es dem deutschen Film nicht schlecht geht, dass wir
auch Gutes und kulturell Wertvolles produzieren und er-
folgreich sein können. Was wollen wir denn mehr, wenn
wir beides tatsächlich schaffen? Denn das gehört zusam-
men.

Vor drei Wochen hat das Kabinett den Entwurf des
neuen Filmförderungsgesetzes beschlossen. Wir werden
genug Gelegenheiten haben, darüber zu diskutieren. Es
ist gelungen, mit diesem Gesetzentwurf auf die großen
Herausforderungen für die Filmförderung zu reagieren,
ohne dabei den Konsens der vielstimmigen Filmbranche
außer Acht zu lassen. Darüber, ob die Antworten insge-
samt hinreichend sind, werden wir im Rahmen der Anhö-
rung und im Ausschuss diskutieren.

Die größte Herausforderung bestand darin, mit der
Klage gegen das FFG fertig zu werden und die brüchig
gewordene Solidarität innerhalb der Branche wiederher-
zustellen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat
uns den dafür notwendigen Rückenwind gegeben. Wenn
ich an die umfassenden Evaluierungen, Anhörungen und
Diskussionen mit den betroffenen Akteuren denke, die
der Erarbeitung des Gesetzentwurfes vorangegangen
sind, und nun das Ergebnis sehe, dann, meine ich, ist die-
ser Rückenwind gut genutzt worden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Auch die zweite Herausforderung haben wir gemeis-
tert. Dabei ging es um die prognostizierte Einnahmelü-
cke, die sich gezeigt hätte, wenn wir nichts getan hät-
ten. Ursächlich für diese Lücke sind, wie wir wissen, die
Verschiebungen der Abgabeleistungen unter den Abga-
bepflichtigen, nämlich den Kinos, der Videowirtschaft
und den Fernsehsendern. Ursächlich sind aber auch die
inzwischen nicht mehr ganz so neuen Marktteilnehmer
aus der digitalen Wirtschaft, allen voran die Videoabruf-
dienste mit ihren unterschiedlichsten Geschäftsmodellen.
Noch nicht alle dieser Anbieter sind in die Abgabepflicht
einbezogen. Als Marktteilnehmer, die mit dem deutschen
Kinofilm Umsätze machen, müssen aber auch sie zu des-
sen Förderung beitragen.

Dem Gesetzentwurf gelingt es, der absehbaren
Schrumpfung des FFA-Haushaltes gegenzusteuern –
zum einen durch die Anpassung der Abgabesätze der
Abgabepflichtigen und zum anderen durch die Einbezie-
hung weiterer Anbieter. Damit schaffen wir es, die Fi-
nanzierung der Filmförderanstalt für die nächsten Jahre
zu sichern.

Mit der Reduzierung der Gremien, ihrer Verschlan-
kung und der paritätischen Besetzung macht der Gesetz-
entwurf einen weiteren großen Schritt nach vorne. Die

Tabea Rößner






(A) (C)



(B) (D)


vorgesehene Neuausrichtung der Förderung mit dem
Ziel, die Qualität und die Vielfalt des Filmschaffens in
Deutschland nachhaltig fortzuentwickeln, halte ich für
einen wichtigen Schritt.

Ob das alles in der konkreten Ausgestaltung den ge-
steckten Zielen auch gerecht wird, müssen wir uns in den
kommenden Beratungen noch genauer anschauen.

Wie gesagt: Vor drei Wochen wurde der Entwurf der
FFG-Novelle verabschiedet. Vorgestern hat die Fraktion
der Linken den Antrag zur Filmförderung beschlossen,
den wir heute beraten. Leider nehmen Sie mit diesem An-
trag wirklich – Sie haben es zugegeben – keinen Bezug
auf den Entwurf der FFG-Novelle, sondern Sie arbeiten
sich an einem Stand der Debatte ab, den wir eigentlich
schon längst hinter uns gelassen haben. Damit werden
weite Teile Ihrer Vorlage obsolet; denn mit dem Gesetz-
entwurf haben sich, wenn er dann auch in Kraft getreten
ist, viele Ihrer Forderungen erledigt.


(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Leider nicht!)


Sie fordern zum Beispiel, die Fördergremien zu ver-
kleinern. Genau das ist ein Schwerpunkt des Gesetzent-
wurfes, durch den eine radikale Reduzierung und Neuge-
staltung der Gremienstrukturen vorgenommen wird.

Daneben fordern Sie die weitere Flexibilisierung der
Sperrfristen, zum Beispiel für Filme, die im Kino keinen
Erfolg versprechen. Genau das will auch der Entwurf mit
der Möglichkeit der Nichtanwendung der Sperrfristenre-
gelungen einführen.

Sie wollen das Kino als kulturellen Ort erhalten – be-
sonders in der Fläche. Das ist ein guter Vorsatz. Auch
meine Fraktion hat sich immer für eine möglichst flä-
chendeckende Kinolandschaft eingesetzt, und wir kön-
nen es nur begrüßen, wenn das durch den Gesetzentwurf
mit zahlreichen Maßnahmen unterstützt wird.

Zu nennen ist hier zuallererst die Anhebung der Um-
satzschwelle, ab der die Kinos die Filmabgabe zu leis-
ten haben. Das ist ein wichtiger Beitrag, um gerade die
Existenz der kleineren Kinos in Städten mit weniger als
20 000 Einwohnern zu sichern. Auch die neue Regelung,
wonach die Verleiher eine angemessene Anzahl an Film-
kopien in Orten mit bis zu 20 000 Einwohnern einsetzen
müssen, sorgt dafür, dass auch die Kinos auf dem Lande
das aktuelle Filmangebot zeigen können und damit für
die Zuschauer attraktiv bleiben. Es lohnt sich also, doch
einmal ins Detail zu gehen und nicht nur pauschal etwas
zu verurteilen. So macht das keinen Sinn.

Vieles von dem, was Sie mit Ihrem Antrag fordern –
ich könnte weitere Punkte nennen –, ist mit dem Gesetz-
entwurf bereits gegenstandslos geworden oder zumindest
überholt.


(Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Das werden wir sehen!)


Anders sieht es bei der Forderung aus, die soziale Lage
der Filmschaffenden zu verbessern. Auch mich treibt es
um, dass faire Arbeitsbedingungen und eine faire Bezah-
lung bei der Filmproduktion immer noch nicht die Regel
sind und dass die bisherigen Versuche, das FFG entspre-

chend zu ändern, bisher nicht gefruchtet haben. Im Zuge
der kommenden Beratungen werden wir auch das bear-
beiten und genau prüfen.

Erfreulich für die Filmschaffenden ist aber, dass der
Gesetzentwurf eine Verbesserung für die Urheber vor-
sieht. Danach greift die Pflicht zur Darlehenstilgung der
Produzenten erst dann, wenn die Erlösbeteiligungen der
Urheber bedient worden sind. Das sind komplexe Zu-
sammenhänge, aber das macht auch Sinn.

In Ihrem Antrag finden sich Widersprüche. Auf der
einen Seite möchten Sie die Produzenten durch einen
Erlöskorridor stärken, auf der anderen Seite durch Ab-
gaben belasten. Wenn es nach Ihnen geht, dann sollen sie
nämlich für die Videoabrufdienste, deren Abgabepflicht
von Brüssel noch nicht genehmigt wurde, finanziell ein-
springen.

Viele der Forderungen in diesem Antrag haben sich
durch den Entwurf der FFG-Novelle, den wir diskutieren
werden, erledigt bzw. befinden sich zumindest nicht auf
der Höhe der Debatte. Daneben gibt es Widersprüchli-
ches oder Vorschläge in Ihrem Antrag, die aus unserer
Sicht übers Ziel hinausschießen.

Meine Fraktion wird dieser Vorlage von Ihnen nicht
zustimmen können, aber wir werden in den nächsten Mo-
naten Zeit genug haben, im Rahmen der FFG-Novelle
ausgiebig über geeignete Maßnahmen zur Förderung des
deutschen Films zu diskutieren.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1816419200

Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt

die Kollegin Dr. Astrid Freudenstein das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Astrid Freudenstein (CSU):
Rede ID: ID1816419300

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Verehrte Kollegin-

nen! Verehrte Kollegen! Meine Damen und Herren auf
der Tribüne! Ich habe ja schon zu vielen Anträgen der
Linken gesprochen. Aber der jetzige Antrag gehört schon
zu den tollsten. Kaum ein anderer vorher offenbarte so
abseitige Ideen. Kaum ein anderer vorher war so rea-
litätsfern. Kaum ein anderer vorher war so nah an der
Planwirtschaft wie der jetzt vorliegende.


(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hören wir doch jedes Mal von Ihnen! – Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist so unkreativ!)


Ich greife mir einmal ein paar Highlights heraus, die
Sie noch gar nicht erwähnt haben. Zunächst komme ich
jedoch zu einem Punkt, den auch die Kollegen schon
angesprochen haben. Sie beklagen die soziale Lage der
Filmschaffenden und verlangen, dass Produktionsfirmen,
die keine Tarif- oder Mindestlöhne zahlen, für drei Jahre
von der Filmförderung ausgeschlossen werden.

Burkhard Blienert






(A) (C)



(B) (D)


Es ist richtig, dass es im Bereich der sozialen Absi-
cherung von Filmschaffenden noch offene Baustellen
gibt; das wurde bereits erwähnt. Wir haben aber auch
schon einiges getan, zum Beispiel mit dem Gesetz zur
Stabilisierung der Künstlersozialversicherung. Aber dass
die Beschäftigten in der Filmbranche den Mindestlohn
bekommen, ist sicher nicht Sache des Filmförderungs-
gesetzes. Die Einhaltung des Mindestlohns kontrolliert
bei uns der Zoll. Die Arbeitgeber sind verpflichtet, die
Zahlungen entsprechend zu dokumentieren. Wer sich da-
ran nicht hält, dem drohen horrende Strafzahlungen. Das
ist geregelt. Das ist unterliegt sicher nicht dem Filmför-
derungsgesetz.

Abenteuerlich ist leider auch Ihre Idee, alle 25 Kilo-
meter ein Kino zu platzieren. Wie soll das denn funktio-
nieren? Schon jetzt kämpfen kleinere Kinos auch in den
Städten ums Überleben. Denen wollen Sie jetzt noch ein
bisschen Konkurrenz verpassen, indem Sie alle 25 Ki-
lometer ein neues Kino hinstellen. Die Betreiber haben
dann bei jeder Vorstellung komplett freie Platzwahl, weil
sie ganz allein sein werden.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Ja, so ist es!)


Das ist Ihnen vermutlich egal. Das ist im Übrigen reine
Planwirtschaft. Solange der Staat das zahlt, geht das. Ir-
gendwann ist er jedoch pleite. Aber das hatten wir alles
schon, und das brauchen wir tatsächlich nicht mehr, Herr
Kollege.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie haben sich natürlich auch Gedanken darüber ge-
macht, wie Sie die Kinos, die Sie alle 25 Kilometer bau-
en wollen, füllen. Dafür müssen die Kleinen ran. Alle 4-
bis 16-Jährigen sollen zweimal im Jahr ins Kino gehen,
schulisch oder außerschulisch organisiert. Nun gibt es
leider überhaupt keinen Grund, die Kinder nur zum Ki-
nobesuch zu verpflichten. Mit der gleichen Berechtigung
müsste man sie zweimal im Jahr zum Tanz schicken, ins
Theater, in eine Skulpturenausstellung, in eine Fotoaus-
stellung, in eine Gemäldeausstellung, zu einer Lesung
und zu einem Bibliotheksbesuch.


(Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Recht haben Sie! Das ist gar kein schlechter Gedanke!)


Dann sind die Kleinen in der Tat gut unterwegs. Aber ich
kann Ihnen sagen: Auch Kinder und Jugendliche dürfen
in unserem Land anschauen, lesen und anhören, was sie
wollen und so oft sie wollen. Das ist Teil der Freiheit des
Einzelnen in unserem Land.


(Beifall bei der CDU/CSU – Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Das sollen sie weiter können, Frau Kollegin! Keine Sorge!)


Fast die Krone Ihres Antrags ist das Thema Gender-
gerechtigkeit. Das nannte man früher die Gleichberech-
tigung von Mann und Frau, die Sie jetzt neu erfinden.
Sie wollen Filme, bei denen Frauen für Regie, Drehbuch
oder Produktion verantwortlich sind, mit doppelten Re-
ferenzmitteln ausstatten. Wie kommen Sie denn auf so
etwas? Genauso gut könnten Sie Architektinnen das dop-
pelte Honorar ausbezahlen oder für das Klopapier, das

von einer Firma geliefert wird, deren Chefin eine Frau
ist, das Doppelte hinlegen. Das ist, kurz und gut gesagt,
ein absoluter Verstoß gegen jedes Antidiskriminierungs-
gesetz.


(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt werfen Sie etwas durcheinander!)


Das geht überhaupt nicht. Ich weiß überhaupt nicht, wie
Sie auf so etwas kommen.


(Karin Binder [DIE LINKE]: Aber dass Frauen weniger verdienen, das geht schon?)


Sie wollen die Mitarbeiter der Filmfördereinrichtun-
gen zu Change-Seminaren schicken. Vermutlich wissen
viele noch nicht einmal, was das ist.


(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist das Schlimme bei Ihnen!)


In Change-Seminaren muss man seine Rollenbilder und
seine Stereotypen hinterfragen, sozusagen eine kleine
geistige Umerziehungsmaßnahme. – Danke, auch das
brauchen wir nicht.


(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den Kleingeist findet man bei Ihnen immer wieder!)


Fast das Allerbeste ist: Sie verlangen spezielle Ein-
reichtermine nur für Frauen. Aus irgendeinem Grund
unterstellen Sie Frauen, dass sie nicht in der Lage sind,
ihre Drehbücher rechtzeitig abzugeben. Mein Gott, was
haben Sie für ein Frauenbild!


(Beifall bei der CDU/CSU)


Zum Schluss komme ich zu Ihrem Vorschlag, es müss-
ten Filme über bisher vernachlässigte gesellschaftliche
Minderheitengruppen besser unterstützt werden. Das
läuft ganz getreu nach dem Motto: Gedreht wird, was das
Publikum sehen soll, nicht das, was das Publikum sehen
will. – Wissen Sie, auch hier ist es so: Die Kunst ist frei.
Niemand muss sich von der Politik vorschreiben lassen,
welchen Filmstoff er sich vornimmt, damit er Fördergel-
der bekommt.


(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagen Sie am besten Ihrem Vorsitzenden! Bei der Kunstförderung!)


Der Schwarz-Weiß-Kurzfilm eines Transgender-Re-
gisseurs ist tatsächlich nicht mehr wert als die Komödie
eines männlichen Drehbuchschreibers, der daheim mit
Frau und Kindern lebt. Das ist die Freiheit, die wir in
unserem Land genießen und die wir mit Sicherheit gegen
all Ihre Bevormundungsfantasien verteidigen werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Für Sie zum Trost, liebe Kolleginnen und Kollegen
der Linken: Der Schuh des Manitu ist einer der meist-
gesehenen deutschen Filme. Fast 12 Millionen Bundes-
bürger wollten das schwule Indianer-Cowboy-Pärchen
sehen. Das ist in der Tat eine bisher vernachlässigte ge-
sellschaftliche Minderheitengruppe. So schlecht ist das
Publikum also gar nicht, wie Sie sehen.

Dr. Astrid Freudenstein






(A) (C)



(B) (D)


Ich finde, Ihr Antrag gehört eindeutig ins Genre der
Unterhaltung. Man könnte glatt sagen, er ist eine echte
Gag-Kanone, die aber leider nicht förderfähig ist.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war ein echter Tiefschlag!)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1816419400

Letzte Rednerin in der Aussprache ist die Abgeordnete

Hiltrud Lotze, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Hiltrud Lotze (SPD):
Rede ID: ID1816419500

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der letzte Kino-
film, den ich gesehen habe, war der Film Mustang, eine
türkisch-französisch-deutsche Kooperation, die mit Mit-
teln der Filmförderungsanstalt, also der FFA, gefördert
wurde. Dieser Film handelt von fünf jungen Schwestern
in der Türkei, die nach und nach von ihrer Familie in ih-
rer Freiheit eingeschränkt werden, bis hin zur Zwangs-
verheiratung.

Der Film hat unterschiedliche Kritiken bekommen.
Bei der Vorstellung, die ich im Rahmen der Berlinale
gesehen habe, hat er die Zuschauerinnen und Zuschauer
sehr berührt. Ich glaube, man kann sagen, er hat sie auch
aufgewühlt. Dieser Film hat eine Botschaft transportiert.

Regie geführt hat bei diesem Film eine Frau. Die Fra-
ge, ob ein männlicher Regisseur die Geschichte genauso
oder anders erzählt hätte, ob er ebenfalls diese Emotio-
nen ausgelöst hätte, ist müßig. Interessant ist aber, was
Dieter Kosslick, der Direktor der Berlinale, gestern im
Kulturausschuss gesagt hat. Er hat gesagt: Die künstle-
rischen Gesichtspunkte stehen bei einem Film immer im
Vordergrund. Die erfolgreichsten Hollywood-Produktio-
nen zurzeit sind von Frauen gemacht worden. Frauen hat-
ten bei der Berlinale die Hauptslots, wie man neudeutsch
sagt, also die besten Vorführzeiten.

Meine Damen und Herren, das Kino ist ein Kulturort.
Filme sind Kulturgüter. Es ist bereits gesagt worden, dass
Kino und Filme natürlich auch Wirtschaftsgüter sind.
Deswegen brauchen wir ein starkes, aber natürlich auch
ein modernes Filmförderungsgesetz, um unsere wertvol-
le Filmlandschaft zu erhalten und zu fördern. Wie erfolg-
reich diese ist, hat mein Kollege Burkhard Blienert gera-
de gesagt. Film ist letztendlich auch Bildung.

Frau Staatsministerin Grütters hat mit ihrem Gesetz-
entwurf zur Förderung des deutschen Films einen guten
Vorschlag gemacht.


(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja!)


Auch das hat der Kollege Blienert schon ausgeführt. Ich
möchte besonders auf den Teilaspekt der Gendergerech-
tigkeit eingehen.

Im Gesetzentwurf aus dem Hause der BKM werden
erste Schritte eingeleitet, um die Situation der Produzen-

tinnen, Drehbuchautorinnen und Regisseurinnen zu ver-
bessern.


(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche denn?)


So soll der Frauenanteil in den Gremien der Filmför-
deranstalt erhöht werden.


(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das reicht nicht aus!)


Für den Verwaltungsrat und das Präsidium der Film-
förderanstalt soll ab Inkrafttreten des Gesetzes eine
Frauenquote von 30 Prozent gelten, ab 2018 dann eine
paritätische Besetzung. Auch für die einzelnen Förder-
kommissionen der FFA soll ab Inkrafttreten eine paritäti-
sche Besetzung gelten.


(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Ich möchte erwähnen, dass man im Königreich
Schweden sehr gute Erfahrungen mit einer paritäti-
schen Besetzung gemacht hat. Ich glaube, Frau Kollegin
Freudenstein, Schweden ist von der Planwirtschaft rela-
tiv weit entfernt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Entscheidend ist aber, dass der Gesetzentwurf die
Filmförderungsanstalt im Ganzen dazu verpflichtet – ich
zitiere –, „bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben auf die
Belange der Geschlechtergerechtigkeit“ hinzuwirken.
Das wird der FFA nun ins Stammbuch geschrieben. Für
uns als SPD-Fraktion ist es Verpflichtung und Auftrag,
darauf zu achten, ob das auch umgesetzt wird.

Wenn sich dann allerdings nichts ändert und nicht
mehr Filmprojekte von Regisseurinnen, Drehbuchau-
torinnen oder Produzentinnen gefördert werden, dann
müssen wir über weitere Maßnahmen nachdenken und
sie ergreifen.


(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da warten wir noch lange! – Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sankt-Nimmerleins-Tag!)


Es ist Fakt, dass es ein Ungleichverhältnis zwischen
Frauen und Männern gibt.


(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat die CDU noch nicht verstanden!)


Das zeigt die derzeitige Förderkulisse. Unser Ansatz ist
aber, Schritt für Schritt vorzugehen, und die jetzt zu be-
schließende gendergerechte Gremienbesetzung ist ein
erster guter Schritt.


(Beifall bei der SPD)


Was Sie in Ihrem Antrag fordern, nämlich die Hälfte der
Fördergelder an Projekte zu vergeben, an denen Frauen
maßgeblich mitwirken, können wir in den Blick nehmen,

Dr. Astrid Freudenstein






(A) (C)



(B) (D)


wenn die jetzt ergriffenen Maßnahmen nicht zum Ziel
führen.


(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es wäre schon mehr gegangen!)


Noch eine Anmerkung zum Schluss: Eine staatlich
verordnete Quote steht im Widerspruch zur künstle-
rischen Freiheit; das ist richtig. Aber eine Realität, die
Frauen aufgrund ihres Geschlechts strukturell benachtei-
ligt, schränkt die künstlerische Freiheit ebenso ein. Und
die Freiheit gilt nun einmal für Männer und Frauen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1816419600

Die Rednerin hat sich die Freiheit genommen, etwas

länger zu sprechen. Aber das haben wir jetzt so hinge-
nommen.

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/8073 an den Ausschuss für Kultur und
Medien vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? –
Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:

Beratung des Antrags der Bundesregierung

Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte an der Militärmission der
Europäischen Union als Beitrag zur Ausbil-
dung der malischen Streitkräfte (EUTM Mali)

auf Grundlage des Ersuchens der Regierung
von Mali an die EU sowie der Beschlüsse
des Rates der EU 2013/87/GASP vom 18. Fe-
bruar 2013, zuletzt geändert mit dem Be-
schluss des Rates der EU 2016/446/GASP vom
23. März 2016 in Verbindung mit den Resolu-
tionen des Sicherheitsrates der Vereinten Na-
tionen 2071 (2012) vom 12. Oktober 2012 und
folgender Resolutionen, zuletzt 2227 (2015)

vom 29. Juni 2015

Drucksache 18/8090
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann haben wir so beschlossen.

Als erster Rednerin erteile ich für die Bundesregie-
rung das Wort Frau Bundesministerin Dr. Ursula von der
Leyen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der
Verteidigung:

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich war vergangene Woche mit einigen
Bundestagsabgeordneten in Mali. Wir waren in Bamako,
Gao und Koulikoro. Ich habe in Gao, wie geplant, zwei
lokale Gouverneure getroffen, und sie hatten unerwartet
eine weitere Person mitgebracht. Das war der gewähl-
te Bürgermeister aus Gao, dem es ein Anliegen war, die
deutsche Delegation zu begrüßen und im Namen der
Menschen seiner Stadt willkommen zu heißen.

Ich finde, das ist ein sehr schönes Zeichen dafür, wie
viel Vertrauen die Menschen in Gao in Deutschland und
in die Bundeswehr haben. Es war aber auch eine Geste,
die zeigte, wie groß die Hoffnungen und Erwartungen in
uns sind. Es sind Hoffnungen und Erwartungen in einer
schwierigen Zeit.

Seit einem Jahr gibt es das Friedensabkommen zwi-
schen der Regierung und den Rebellengruppen, die be-
reit gewesen sind, die Waffen niederzulegen. Man kann
sagen, dass der Waffenstillstand hält. Der Fokus liegt
jetzt auf der Bekämpfung des Terrors, den diejenigen
ausüben, die unter keinen Umständen wollen, dass das
Friedensabkommen Erfolg hat, und es mit aller Macht
und Brutalität stören.

Der Friedensprozess geht voran. Der politische Pro-
zess ist eingeleitet. Aber das Ganze geht zäh und lang-
sam. Es geht um die sehr mühsame Dezentralisierung der
staatlichen Verwaltung. Es geht um die sogenannte Kan-
tonierung, also darum, die ehemaligen Rebellen wieder
in die Gesellschaft zu integrieren. Es geht um den Schutz
der Bevölkerung, um die Begleitung des Friedensprozes-
ses und die Bekämpfung des Terrors.

Wir unterstützen Mali gemeinsam mit der internatio-
nalen Gemeinschaft. Wir investieren viel, auch an Zeit,
und wir geben Hilfe. All das ist richtig. Aber das Gan-
ze wird nur dann ein Erfolg werden, wenn dieser Erfolg
auch aus der Regierung und aus den Rebellengruppen
heraus gewollt wird. Das, meine Damen und Herren, ist
maßgeblich, und das haben wir bei den Gesprächen in
Mali sehr deutlich gemacht.

Wir sind mit der Bundeswehr an EUTM, um die es
heute Abend geht, und an der Mission MINUSMA der
Vereinten Nationen beteiligt. Die unterschiedlichen Ele-
mente zeigen, wie gut inzwischen die vernetzte Sicher-
heit in Mali aufgebaut ist. Es gibt die zivile Aufbaumissi-
on EUCAP Sahel, und es gibt viele humanitäre Projekte
sowie bilaterale Maßnahmen zur wirtschaftlichen Unter-
stützung Malis und die Operation Barkhane, die unter
französischer Führung den Terror bekämpft.

Wenn wir heute über die Ausbildungsmission EUTM
Mali sprechen, dann stellen wir fest, dass Deutschland
der größte Truppensteller unter den 25 beteiligten Natio-
nen ist. Die Mission dauert seit drei Jahren an und hat gut
Strecke gemacht. Inzwischen sind 8 000 Soldatinnen und
Soldaten ausgebildet worden. Das sind immerhin zwei
Drittel der malischen Landstreitkräfte.

Wir möchten nun das Mandat – das ist die Begrün-
dung für ein neues Mandat, das gerade in Europa so ge-

Hiltrud Lotze






(A) (C)



(B) (D)


fasst wurde – auf eine andere Stufe heben; denn wir wol-
len nicht nur zentral in Koulikoro Ausbildung betreiben,
sondern auch in die Weite des Landes, in die Garnisons-
städte gehen. Wir wollen uns darauf konzentrieren, die
Ausbilder der malischen Streitkräfte auszubilden, und so
dazu beitragen, dass Mali selbsttragende Strukturen zur
Qualifizierung seiner Soldatinnen und Soldaten aufbauen
kann. Wir bilden dafür mobile Teams aus Ausbildern und
Beratern. Sanität und Schutz, das ist ganz wichtig. Diese
Teams werden acht bis zwölf Wochen in den verschiede-
nen Garnisonsstädten und verschiedenen Regionen tätig
sein, abhängig von der jeweiligen Sicherheitslage. Wir
werden im Süden anfangen. Es ist geplant, das in den
Norden, bis zum nördlichen Nigerbogen, also auch in die
Städte Gao und Timbuktu, auszuweiten. Aber entschei-
dend ist, dass die Sicherheitslage das zulässt.

Ein Punkt ist mir besonders wichtig. Das allerbeste
Training nützt nichts, wenn die Ausrüstung nicht stimmt.
Wir haben erlebt, dass malische Soldaten an Holzgeweh-
ren ausgebildet werden. Wir dürfen nicht vergessen, dass
es sich hier um eine europäische Trainingsmission han-
delt. Der Rat der Staats- und Regierungschefs hat einen
sogenannten Ertüchtigungstitel auf den Weg gebracht,
der genau dazu da ist, die Mittel für die benötigte Ausrüs-
tung zur Verfügung zu stellen. Aber seit Monaten ist die
Kommission nicht in der Lage, Vorschläge zu machen,
aus denen hervorgeht, wie dieser Titel mit Geld unterlegt
wird. Wenn die EU es mit der Ausbildung ernst meint,
dann muss sie sich ernsthaft überlegen, wie sie die Auf-
gabe, die malischen Streitkräfte auszurüsten, bewältigen
will.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wie wir gesehen haben, hat die Ausbildung im Ver-
gleich zu dem, was wir vor einem Jahr bzw. vor zwei
Jahren sahen, deutliche Fortschritte gemacht. Man merkt,
dass die Module viel dynamischer geworden sind und
dass nun die Erfahrungen aus den Gefechten im Norden
in die Ausbildung einfließen. Das Ganze stand im letzten
Jahr unter Führung eines deutschen Brigadegenerals. Wir
werden nun im Juli die Führung turnusgemäß an die Bel-
gier übergeben. Das ist der Grund, warum wir die Ober-
grenze von 350 auf 300 senken können. Wir brauchen
das Führungselement nicht mehr. Aber der Kern, die
200 Ausbilder, die dort im Augenblick tätig sind, und die
entsprechenden Strukturen bleiben unverändert.

Unsere Soldatinnen und Soldaten sorgen bei der Aus-
bildungsmission in Mali auch dafür, dass Mali als ein zen-
trales Land in der Sahelregion stabil bleibt. Auch wenn
die Fortschritte zäh sind, muss man sich immer wieder
vor Augen halten, dass es einen Unterschied macht, ob
Mali – das wäre durchaus denkbar gewesen – einem ähn-
lichen Zerfallsprozess wie Libyen anheimgefallen wäre
oder ob es gelingt, dieses Land langsam, aber sicher zu
stabilisieren.

In diesem Sinne bitte ich um wohlwollende Beratun-
gen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1816419700

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-

ordneten Niema Movassat, Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Niema Movassat (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1816419800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum vier-

ten Mal wollen Sie von der Bundesregierung sich vom
Bundestag ein Mandat für die deutsche Beteiligung an
einer europäischen Trainingsmission für das malische
Militär erteilen lassen. Erst im Januar wurde das Bundes-
wehrkontingent für den UN-Einsatz MINUSMA in Mali
massiv aufgestockt. Nun geht es heute ausnahmsweise
nicht um die Entsendung von mehr Soldaten. Aber mit
dem neuen Mandat bekommt die Trainingsmission einen
ganz neuen Charakter; denn bisher agierten die Bundes-
wehrausbilder im halbwegs friedlichen Süden Malis.
Deshalb beschrieb die Bundesregierung den bisherigen
Einsatz als sicher. Mit dem neuen Mandat aber wollen
Sie deutsche Soldaten auch in den gefährlichen Norden
Malis schicken. Das ist eine massive Ausweitung des
Einsatzgebietes. Das Ganze erinnert mich an eine Sala-
mitaktik. Erst schickt man wenig Soldaten und diese in
weitgehend sichere Gebiete, dann schickt man mehr Sol-
daten und weitet das Einsatzgebiet auch auf gefährlichere
Regionen aus.


(Henning Otte [CDU/CSU]: Was essen Sie denn für Salami?)


So wollen Sie die deutsche Bevölkerung offenbar
Schritt für Schritt daran gewöhnen, dass die Bundeswehr
immer mehr Teil des bewaffneten Konflikts in der Sa-
helregion wird. Sie machen Deutschland mehr und mehr
zur Konfliktpartei in der Region, und das lehnt die Linke
strikt ab.


(Beifall bei der LINKEN)


Vor drei Jahren versprach uns die Bundesregierung,
dass sich die Terrorgefahr in Mali und der Sahelregion
durch diese Militärmission und die Bundeswehrbeteili-
gung beseitigen ließe. Das war der Kern der Begründung.
Aber was damals für Afghanistan galt, gilt auch für den
Bundeswehreinsatz jetzt in Mali: Terror kann man nicht
mit Krieg besiegen.

Was Sie machen, ist blauäugig, und es ist brandgefähr-
lich. Sie versuchen, Feuer mit Öl zu löschen. Die Fol-
ge: Der Brand wird größer, der Terror nimmt zu. So gab
es Anschläge gegen die Hauptquartiere von EUTM und
MINUSMA in Malis Hauptstadt Bamako; zudem gab es
in der Region drei fürchterliche Terrorangriffe auf Hotel-
anlagen in Bamako, in Ouagadougou in Burkina Faso
und bei Abidjan in der Elfenbeinküste.


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Weil das Projekt erfolgreich ist! Deshalb!)


Die Realität ist doch: Je mehr Soldaten ins Ausland
entsendet werden, desto mehr verschlechtert sich die Si-
cherheitslage in Afrika und hier in Europa.


(Beifall bei der LINKEN – Michael Brand [CDU/CSU]: Das ist aber eine Logik!)


Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen






(A) (C)



(B) (D)


Deshalb wäre es richtig und wichtig, wenn Sie endlich
anfangen würden, die sozialen Ursachen des Terrors zu
bekämpfen, statt ständig Soldaten in alle Welt zu schi-
cken.

Durch das neue Mandat wird sich übrigens auch der
Personenkreis der ausgebildeten Soldaten verändern.
Künftig wollen Sie eben nicht nur das malische Militär
ausbilden, sondern auch Soldaten aus fünf anderen Län-
dern der Sahelregion. Darunter werden auch Soldaten aus
dem Tschad sein. Im Tschad herrscht eine Militärdiktatur.
Sie wollen also eine Militärdiktatur dabei unterstützen,
besser ausgebildete Soldaten zu haben. Das ist wirklich
beschämend.


(Beifall bei der LINKEN)


Die große Frage bei solchen Einsätzen ist auch immer:
Nutzen sie der Bevölkerung? Die Antwort ist hier: Nein;
denn Malis größtes Problem ist die desaströse wirtschaft-
liche Lage nach Jahrzehnten des Kaputtsparens unter
neoliberalen Strukturanpassungsmaßnahmen. Die Armut
im Land nimmt immer weiter zu. Zwei Drittel der Be-
völkerung leben unterhalb der Armutsgrenze und das,
obwohl es viele Rohstoffe gibt und das Land eigentlich
die Ressourcen hätte, allen Bürgern ein Leben in Würde
zu ermöglichen.

Aber die malischen Politiker und ihre europäischen
Partner haben sich vor allem immer um ihre eigenen
Interessen gekümmert und nicht um die Interessen der
Bevölkerung Malis. Auch die jetzige malische Regierung
ist nicht gewillt, dem Wunsch der Bevölkerung nach so-
zialer Sicherheit und Frieden entgegenzukommen. So
rief ein Gewerkschaftsverband jetzt zum Streik auf, weil
die Regierung sich absolut nicht kompromissbereit zeigt.
Die Regierung verweigerte auch die Teilnahme an einem
Friedensforum in Kidal.

Die internationale Gemeinschaft versagt auch bei der
Lösung der Flüchtlingsfrage. Nach wie vor leben in den
Nachbarländern Malis 130 000 Flüchtlinge.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Hat das was miteinander zu tun?)


Das Welternährungsprogramm musste die Essensrati-
onen aufgrund der geringen Zusagen der Geberländer
kürzen. Während genug Geld dafür da ist, Soldaten nach
Mali zu schicken, gibt es nicht genug Geld, die Flüchtlin-
ge vor dem Verhungern zu retten. Das ist eine Schande.


(Beifall bei der LINKEN)


Frau von der Leyen, wie im Afghanistankrieg, aus
dem die Bundesregierung wirklich nichts gelernt hat,
verstricken Sie Deutschland nun auch hier Stück für
Stück in einen undurchschaubaren Konflikt. Sie schaffen
neue Fluchtgründe, statt sie zu beseitigen. Sie gefährden
die Sicherheit Deutschlands und seiner Bürger, statt sie
zu schützen. Sie geben Geld für das Militär aus, statt der
Bevölkerung und den Flüchtlingen vor Ort ausreichend
zu helfen. Ihnen geht es um die Stärkung der globalen
Einsatzfähigkeit der Bundeswehr. Dazu und zu diesem
Mandat wird die Linke Nein sagen.


(Beifall bei der LINKEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1816419900

Als nächstem Redner erteile ich das Wort Staatsminis-

ter Michael Roth für die Bundesregierung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Michael Roth (SPD):
Rede ID: ID1816420000

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Nach den Bemerkungen des Abgeordneten
Movassat ist es wichtig, noch einmal daran zu erinnern,
wie sich die Ereignisse vor vier Jahren in Mali abspielten.
Islamistische Gruppen aus dem Norden Malis waren auf
dem Vormarsch nach Süden in Richtung der Hauptstadt
Bamako. Die malische Armee konnte den Rebellen da-
mals nicht viel entgegensetzen. Es ist nur dem entschlos-
senen Eingreifen von Frankreich zu verdanken, dass die
Terroristen aufgehalten werden konnten. Niemand von
uns will sich ausmalen, was sonst passiert wäre.


(Peter Beyer [CDU/CSU]: So war das!)


Was mich an Ihren Bemerkungen am meisten stört, ist,
dass Sie zu überhaupt keiner Differenzierung fähig und
bereit sind.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das Bild, das Sie zeichnen, ist nur schwarz und weiß. Ich
kenne in der Bundesregierung, in der CDU/CSU-Frakti-
on, in der SPD-Fraktion und auch in der Grünenfraktion
niemanden, der sich nicht der Mühsal unterzieht, auch
die Grauschattierungen zu erwähnen, was zwingend ist,
um ein verantwortbares Urteil zu fällen.

Wir können heute sagen: Es hat sich vieles verbessert,
auch wenn der Weg zu dauerhafter Stabilität immer noch
sehr lang und beschwerlich ist. Vor allem die politische
Entwicklung der vergangenen Monate gibt durchaus An-
lass zu vorsichtiger Zuversicht.

Die malische Regierung und die separatistischen Re-
bellen haben im Frühsommer 2015 ein Friedensabkom-
men unterzeichnet. Der Waffenstillstand vom vergange-
nen Herbst hält – immer noch –, und jetzt geht es darum,
die Vereinbarungen des Friedensabkommens Schritt für
Schritt umzusetzen. Dabei sehen wir durchaus erste Fort-
schritte, beispielsweise bei der Übertragung von Kompe-
tenzen des Zentralstaats auf die Kommunen. Die Grün-
dung von zwei neuen Regionen ist ein weiterer wichtiger
Schritt, um die regionale Selbstverwaltung in Mali zu
stärken. Gleichwohl müssen wir feststellen, liebe Kol-
leginnen und Kollegen: Die Umsetzung der politischen
Reformen verläuft deutlich schleppender als gewünscht
und erwartet.

Immer wieder wird der Versöhnungsprozess von
Anschlägen islamistischer Terrorgruppen überschattet.
Dadurch kommt das Land einfach nicht zur Ruhe. Es
wurde bereits erwähnt: Am 21. März wurde das Haupt-
quartier der EU-Ausbildungsmission EUTM Mali in der
Hauptstadt Bamako selbst zum Ziel eines Anschlags. Der
Anschlag konnte zwar erfolgreich abgewehrt werden –
glücklicherweise kam dabei niemand von den europäi-

Niema Movassat






(A) (C)



(B) (D)


schen Soldatinnen und Soldaten zu Schaden –, aber der
Anschlag zeigt gleichwohl, wie angespannt und wie ge-
fährlich die Sicherheitslage in Mali immer noch ist. Erst
gestern wurden drei französische Soldaten im Norden
des Landes bei der Detonation einer Mine getötet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland enga-
giert sich derzeit in drei internationalen Einsätzen in dem
westafrikanischen Land: bei der UN-Friedensmission
MINUSMA, bei der zivilen GSVP-Mission EUCAP Sa-
hel Mali und bei der Ausbildungsmission EUTM Mali.
Unser militärisches Engagement ist selbstverständlich
in einen umfassenden Gesamtansatz eingebettet. Dabei
geht es um politische, humanitäre und entwicklungspoli-
tische Aktivitäten, die ineinandergreifen müssen.

Mali, das ist ein Land, das für viele erst mit der Kri-
se 2012/2013 auf die politische Bühne getreten zu sein
scheint. Es ist heute ein ganz wichtiger Schwerpunkt
unseres sicherheits- und entwicklungspolitischen En-
gagements. Warum ist das so? Die Frage wird uns immer
wieder auch von kritischen Bürgerinnen und Bürgern
gestellt. Die simple Antwort gibt uns ein Blick auf die
Landkarte: Seit dem faktischen Zusammenbruch Liby-
ens trennt uns quasi nur noch eine Seegrenze von Mali.
Schon heute ist Mali für viele Flüchtlinge Transitland auf
ihrem Weg nach Europa. Deutschland und die Europäi-
sche Union haben daher ein erhebliches Interesse daran,
die Bleibeperspektive vor Ort nachhaltig zu verbessern.

Immer mehr Menschen aus der Sahelregion suchen
eine bessere Zukunft in Europa. Das liegt vor allem
auch daran, dass ihre Lebensträume, ihre Hoffnungen
von skrupellosen Terroristen gewaltsam zerstört werden.
Terrorismus erstickt die Hoffnung, und der Terrorismus
bremst die Entwicklung eines ganzen Landes. Durch
den Zusammenbruch der staatlichen Ordnung in Libyen
und in Mali ist ein politisches Vakuum entstanden, das
islamistische Terroristen für sich schamlos und brutal
genutzt haben. Mit Waffen aus libyschen Arsenalen ha-
ben sie 2011 die malische Armee überrannt. Weit mehr
als 100 000 Menschen wurden damals aus ihrer Heimat
vertrieben. Und noch immer sind islamistische Grup-
pen in weiten Gebieten Nordmalis aktiv. Auch das, Herr
Movassat, leugnet doch niemand.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, in all unseren De-
batten, gleich wann und wo wir sie führen, insbeson-
dere über unser umfassendes politisches Engagement
in Afrika, erlebe ich immer wieder die gleiche Gegen-
überstellung: Soldaten oder Entwicklungshelfer. Dieser
Gegensatz ist völlig falsch; denn Entwicklungshilfe ist
zwingend auf Sicherheit, Stabilität und eben auch gefes-
tigte staatliche Strukturen angewiesen. Unser Interesse
ist es, dass die malischen Sicherheitskräfte die Terror-
gruppen erfolgreich zurückdrängen und die Kontrolle
über das gesamte Staatsgebiet behaupten können. Das
Ziel der EU-Ausbildungsmission ist es, die malischen
Streitkräfte durch Ausbildung und Beratung mittelfristig
in die Lage zu versetzen, wieder selbst und eigenverant-
wortlich für Stabilität und Sicherheit im Land zu sorgen.
Es geht hier sozusagen um Hilfe zur Selbsthilfe. Seit
Anfang 2013 wurden schon fast 8 000 Soldatinnen und
Soldaten militärisch ausgebildet.

Frau Bundesministerin von der Leyen hat eben ein-
drücklich die fünf Punkte beschrieben, die wir im Man-
dat entsprechend anpassen wollen. Einen kritischen
Punkt, den sie hier vorgetragen hat, möchte ich in aller
Kürze noch einmal ausführen, damit hier kein Missver-
ständnis entsteht. Ja, es ist richtig: Wir wollen das Ein-
satzgebiet ausweiten. Künftig soll es bis zum Nigerbogen
reichen, einschließlich der Städte Gao und Timbuktu;
aber natürlich – das muss doch auch gesagt werden, Herr
Movassat – geschieht dies immer unter der Maßgabe,
dass die Sicherheitslage dies zulässt. Wir werden erst
dann in den Norden gehen, wenn die Sicherheit gewähr-
leistet ist. Das sind wir unseren Soldatinnen und Soldaten
schuldig, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Insgesamt ist das natürlich auch Teamarbeit. 23 Mit-
gliedstaaten der Europäischen Union beteiligen sich an
EUTM Mali. Das ist also gelebte europäische Solidarität
unter denkbar schwierigen Bedingungen. Eines dürfen
wir nicht vergessen: Wir leisten damit auch einen Bei-
trag zur konkreten Unterstützung Frankreichs. Nach den
furchtbaren Terroranschlägen vom 13. November 2015
hatte Frankreich konkrete Wünsche gegenüber der Eu-
ropäischen Union und insbesondere auch Deutschland
formuliert. Es wurde um militärischen Beistand gebeten.
Deshalb hat Deutschland als einer der größten Truppen-
steller durch die Übernahme der Missionsführung von
EUTM Mali im vergangenen Jahr auch besondere Ver-
antwortung übernommen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht doch nun
wirklich nicht nur um Militär, nicht nur um Soldatinnen
und Soldaten. Vielleicht stehen wir auch in der Pflicht,
das den Bürgerinnen und Bürgern immer wieder und
noch besser zu erklären. Denn unser Ansatz ist doch
ein umfassender: Es geht um gesellschaftliche, es geht
um wirtschaftliche Stabilisierung der Sahelregion. Dazu
brauchen wir das militärische Engagement. Aber wir
brauchen auch humanitäre, politische, entwicklungspo-
litische Aktivitäten.

Lassen Sie mich nur einige wenige Aspekte heraus-
greifen, wo wir uns als Bundesregierung, als Bundes-
republik Deutschland besonders engagieren: Zivile
Krisenprävention, Konfliktnachsorge und Entwicklungs-
zusammenarbeit stehen für uns im Vordergrund. Auch
hier ist Deutschland im Rahmen der zivilen GSVP-Missi-
on EUCAP Sahel Mali engagiert. Wir beraten, wir bilden
aus, wir statten malische Polizeieinheiten aus, und wir
sind eben auch bilateral engagiert. Wir unterstützen das
malische Ministerium für Versöhnung in seiner zentralen
Rolle bei der Umsetzung des Friedensvertrages. Wir för-
dern Trainingskurse für westafrikanische Polizeikräfte
als Vorbereitung auf den Einsatz in Friedensmissionen.
Wir unterstützen das Grenzmanagement der Afrikani-
schen Union in Mali. Geplant ist noch mehr Engagement
bei der Reform des Sicherheitssektors und der Förderung
des Rechtsstaats mit mehr als 2 Millionen Euro. Wir sta-
bilisieren mit konkreten Maßnahmen den Norden Malis.
Wir unterstützen humanitäre Hilfsprogramme.

Deutschland hat bisher mehr als 5 Millionen Euro in-
vestiert, damit Flüchtlinge im Norden des Landes in ihre

Staatsminister Michael Roth






(A) (C)



(B) (D)


Heimatstädte zurückkehren können. Daneben investiert
Deutschland zwischen 2015 und 2017 mehr als 73 Milli-
onen Euro für die Entwicklungszusammenarbeit in Mali.

Projekte sollen im Rahmen der Dezentralisierung die
lokalen Behörden stärken, im Bereich der Landwirtschaft
die Ernährungssicherheit stärken und die Versorgung mit
Trinkwasser und mit Sanitäranlagen sicherstellen. Ich
kann Ihnen versichern, liebe Kolleginnen und Kollegen,
dass unabhängig von diesem Mandat Mali auch mittel-
fristig weiter ein Schwerpunkt unseres Engagements auf
dem afrikanischen Kontinent bleiben wird; denn wir ha-
ben ein ganz erhebliches sicherheitspolitisches Interesse
dort. Terrorismus, organisierte Kriminalität und Men-
schenschmuggel sind Geißeln, die Menschen in Flucht,
Hoffnungslosigkeit und Tod treiben. Das dürfen wir nicht
zulassen. Deshalb bitte ich Sie um Unterstützung für die-
ses Mandat.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie der Abg. Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN] und Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1816420100

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-

ordneten Agnieszka Brugger, Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nie-
mand macht sich Illusionen über die Sicherheitslage in
Mali. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen Ban
Ki-moon stellt in seinem jüngsten Bericht an den Sicher-
heitsrat fest, dass in Mali durch die Gewalt der Extremis-
ten, Terroristen und Kriminellen die Gefahr für die Men-
schen nach wie vor sehr hoch ist. Erst vorgestern Nacht
wurden drei französische Soldaten der Friedensmission
der Vereinten Nationen auf grausame Weise durch eine
hinterhältig gelegte Landmine getötet. Diese Gräueltat
macht auch uns im Bundestag betroffen. Unser Beileid
und Mitgefühl gelten ihren Familien und Freunden.

Meine Damen und Herren, in den vergangenen Jah-
ren haben wir Grüne trotz des gefährlichen Umfeldes
die EUTM, die europäische Ausbildungsmission für die
malischen Sicherheitskräfte, mit großer Mehrheit unter-
stützt. Denn sie hat einen Beitrag dazu geleistet, dass die
demokratische Kontrolle über die Armee gestärkt wird
und dass diese in die Lage versetzt wird, in Zukunft die
eigene Bevölkerung besser zu schützen. Mittlerweile
sind zwei Drittel der malischen Soldatinnen und Solda-
ten ausgebildet worden. Ein solches Engagement braucht
aber auch langen Atem und viel Geduld.

Mit den Änderungen im neuen Mandat soll diese Un-
terstützung nun nicht mehr in den gesicherten Lagern der
Mission stattfinden, sondern es soll die Möglichkeit ge-
schaffen werden, dass, abhängig von der Sicherheitslage,
die Soldatinnen und Soldaten herausgehen, um bereits
ausgebildete Verbände in Heimatkasernen zu betreuen.
Diese Anpassung finde ich grundsätzlich nachvollzieh-

bar, wenn es darum geht, die Nachhaltigkeit des Ausbil-
dungserfolges sicherzustellen. Denn der Erwerb der mi-
litärischen Grundfertigkeiten alleine macht noch keinen
guten Soldaten, sondern dafür sind so wichtige Inhalte
wie die Achtung der Menschenrechte, der Umgang mit
den Gefangenen oder die Einhaltung des Völkerrechtes
viel entscheidender.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Gleichzeitig ist auch klar, dass durch die Ausweitung
des Operationsgebiets bis nach Timbuktu und Gao die
europäische Ausbildungsmission riskanter wird. Wir Ab-
geordnete werden vor diesem Hintergrund sehr genau
darauf achten, dass die Soldatinnen und Soldaten den
bestmöglichen Schutz bekommen und, auch wenn sie die
Lager verlassen, eine gesicherte Rettungskette vollum-
fänglich gewährleistet ist. Wir Grüne werden bei den
Beratungen diese und andere Veränderungen im Mandat
kritisch und sorgfältig prüfen.

Meine Damen und Herren, so schwierig und gefähr-
lich die Lage in Mali ist, sie ist nicht nur düster. Damit
meine ich nicht nur, dass die Soldatinnen und Soldaten
bei der Ausbildung der malischen Sicherheitskräfte viel
geleistet und viel erreicht haben. Vielmehr gibt es wei-
tere Entwicklungen, die Anlass zu einer vorsichtigen
Hoffnung geben. Trotz aller Rückschläge und Schwie-
rigkeiten konnte im letzten Jahr ein umfassendes, breit
getragenes Friedensabkommen geschlossen werden.
Ohne die starke Rolle der Vereinten Nationen und ihrer
Friedensmission wäre das kaum möglich gewesen. Die
Umsetzung dieser Vereinbarung wird ganz entscheidend
dafür sein, ob sich in Zukunft die Weichen in Mali für
mehr Stabilität, Sicherheit und Frieden stellen lassen.
Ein großer Erfolg ist auch, trotz einiger Verzögerungen,
dass eine Kommission für Abrüstung, Demobilisierung
und Wiedereingliederung gegründet wurde und ehema-
lige Rebellen wieder in die Gesellschaft und auch in die
Sicherheitskräfte integriert werden sollen. Gleichzeitig
müssen aber natürlich auch die sozialen und wirtschaft-
lichen Verteilungsfragen zwischen dem Norden und dem
Süden in einem gerechten Ausgleich geklärt werden.

Die humanitäre Lage ist teilweise immer noch drama-
tisch. 2,5 Millionen Menschen sind vom Hunger betrof-
fen, und es gibt immer noch 90 000 Binnenvertriebene.

Meine Damen und Herren, ich bin in den letzten Jah-
ren häufiger nach Mali gereist. Besonders berührt und
bewegt hat mich dabei die Selbstverständlichkeit, mit der
die Menschen im Süden – in einem der ärmsten Länder
der Welt – die Flüchtlinge aus dem Norden aufgenom-
men und unterstützt haben. Sie haben das Wenige, was
sie hatten, mit ihnen großzügig geteilt. Trotz aller Armut
gibt es eine starke, solidarische und friedfertige Zivil-
gesellschaft. Darin liegt eine große, vielleicht sogar die
größte Chance für die malische Zukunft.

Mein Dank gilt allen Menschen, die sich in Uniform
oder ohne trotz der Gefahren auch für Leib und Leben
dafür einsetzen, dass der Großteil der Malierinnen und
Malier auf diesem guten Weg unterstützt wird.

Staatsminister Michael Roth






(A) (C)



(B) (D)


Meine Damen und Herren, Ausbildung allein kann nur
einer von vielen Bausteinen sein. Entscheidend ist aber
eine engagierte Bearbeitung der Konfliktursachen, ein
stimmiges Gesamtkonzept, das die Bereiche Sicherheit,
Entwicklung und Staatsaufbau, aber vor allem auch den
Versöhnungsprozess zusammenbringt. Hierfür kann und
sollte auch die deutsche Bundesregierung mehr tun.

Die Europäische Ausbildungsmission hat dazu bei-
getragen, dass der Hoffnungsschimmer im Norden nicht
nur von kurzer Dauer war. Die erfolgreiche Entwicklung
in Mali selbst ist und bleibt aber kein Selbstläufer. Es gibt
Risiken. Es gab Rückschläge, und es wird sie auch in Zu-
kunft geben. Wir müssen auch deshalb die Mandate jedes
Mal aufs Neue sorgfältig und kritisch prüfen und beraten.

Meine Damen und Herren, es ist klar: Es gibt nie eine
Erfolgsgarantie, und der Weg wird sicherlich schwierig
sein. Es ist aber ebenso gewiss, dass die Wahrscheinlich-
keit sehr hoch ist, dass ohne die internationale Unter-
stützung die Menschen in Mali kaum auf Sicherheit und
Frieden hoffen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1816420200

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-

ordneten Jürgen Hardt, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Jürgen Hardt (CDU):
Rede ID: ID1816420300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! An

diesem fortgeschrittenen Punkt der Debatte möchte ich
sagen, dass ich das Niveau hier insgesamt sehr gut finde.
Ich halte es für gut, dass wir uns nicht in einer Schön-
malerei der Situation ergehen, sondern uns dem Thema
differenziert widmen. Die beiden Reden der Regierungs-
vertreter und auch die Rede von Frau Brugger waren von
diesem Charakter und Geist getragen. Von daher glaube
ich, dass wir da auf einem guten Weg sind.

Wenn ich sehe, was wir insgesamt in Mali machen –
EUTM, also die Ausbildungsmission, ist nur ein Teil un-
seres Gesamtauftritts; vor wenigen Wochen haben wir ja
über MINUSMA gesprochen –, so glaube ich schon, dass
diese Mission eine der herausforderndsten, anspruchs-
vollsten und leider auch gefährlichsten ist, in die wir
unsere Soldaten und Polizisten schicken. Die Situation
in Mali ist aber politisch ein Stück weit stabilisiert. Das
hat ganz wesentlich mit dem Engagement der Völkerge-
meinschaft und auch der afrikanischen Partnerländer zu
tun.

Natürlich stellt das, was wir an dschihadistischem Ter-
rorismus oder an Terrorismus erleben, der nur seine eige-
nen wirtschaftlichen Ziele verfolgt und möglicherweise
die Religion nur missbraucht, um Menschen dazu zu
bringen, sich ihm anzuschließen, eine wachsende Bedro-
hung in der Region dar. Wenn Sie die Zahl der Anschläge
bzw. Attentate im Jahr 2015 mit den Zahlen in den Jah-
ren zuvor vergleichen, werden Sie leider sehen, dass es
einen Anstieg gab. Es ist auch so, dass es Anschläge bzw.
Attentate im Süden – südlich der geografischen Taille

des Landes – gibt. Wir haben eigentlich immer gesagt,
dass südlich von dieser Linie die Situation relativ sicher
ist und dass die Kämpfe nördlich davon stattfinden. Das
trifft leider so nicht mehr vollständig zu.

Die Bundeswehr wird zukünftig stärker in der Fläche
ausbilden. Es wird nicht zu vermeiden sein, dass Bun-
deswehrsoldaten mit ihren malischen Kameraden aus
den Camps bzw. aus den befestigten, geschützten Com-
pounds hinausfahren. Denn man wird Patrouille kaum
auf dem Kasernenhof trainieren können. Man wird also
auch Dinge tun müssen, bei denen man sich ganz konkret
einer gewissen Gefährdung aussetzt. Ich wünsche unse-
ren Soldatinnen und Soldaten alles Soldatenglück, damit
sie alle heil wieder nach Hause kommen.

Dieses Risiko müssen wir ihnen zumuten. Wir müssen
dieses Risiko eingehen, weil Mali natürlich eine Schlüs-
selfunktion in der Region innehat.

Wenn man auf die Karte blickt, so kommt man zu dem
Schluss, dass das Bestreben der Terroristen, die aus dem
Norden Afrikas, aus dem Maghreb, herunterkommen, of-
fensichtlich darin besteht, nicht nur Mali zu destabilisie-
ren, sondern von Mali aus auf andere Staaten der Region
zu wirken, die in einer besseren Verfassung sind als Mali
selbst, zum Beispiel Senegal, ein Land, das nicht nur
ein Hoffnungsschimmer, sondern ein leuchtender Hoff-
nungspunkt in Afrika ist, und Burkina Faso, wo es eine
starke, dynamische, positive Entwicklung gibt. Das sind
Länder, die von Terror bedroht wären – teilweise auch
schon von Terror bedroht sind –, wenn es uns nicht ge-
länge, diese Terroristen in Afrika auf ihrem Weg in Rich-
tung Süden und Südwesten zu stoppen. Da ist Mali, die
malischen Streitkräfte und die malische Regierung, mit
der Unterstützung der Weltgemeinschaft in besonderer
Weise gefordert.

Mit Blick auf die Ausbildungs- und Trainingsmission
sollten wir im Rahmen der Ausschussberatungen auch
genau schauen, wie wir da vielleicht noch nachsteu-
ern und feinsteuern können. Wenn man mit Menschen
spricht, die sie vor Ort durchführen, hört man, es gebe
Beispiele dafür, dass die Polizei- und Militärkräfte vor
Ort sehr wirksam agieren, aber leider auch Beispiele
dafür, dass es an der entsprechenden Führung von oben
hapert. Wir sind bei der Ausbildung der Soldaten, die
die Sicherheit vor Ort gewährleisten, sehr gut. Wir soll-
ten auch dafür sorgen, dass sie ordentlich geführt wer-
den, dass sie schnell und effektiv zum Einsatz kommen.
Es gibt Beispiele dafür, dass die malischen Kräfte nach
terroristischen Anschlägen sehr schnell und umfassend
reagiert haben und auch Geiseln befreien und die Terro-
risten ausschalten konnten. Aber es gibt eben auch Bei-
spiele dafür, dass über lange Zeit nichts geschehen ist,
bis dann tatsächlich europäische Kräfte die Situation be-
reinigt haben. Von daher sollten wir einen Blick auf die
Frage richten, ob wir perspektivisch auch dafür sorgen
müssen, dass die Ausbildungsmission, was die Führung
der Streitkräfte vor Ort angeht, ein Stück weit intensiviert
und verbessert wird.

Ich wünsche allen Soldatinnen und Soldaten und auch
allen Polizisten und zivilen Kräften, die in diesem Land
tätig sind, alles erdenklich Gute. Ich glaube, dass wir in

Agnieszka Brugger






(A) (C)



(B) (D)


den Ausschussberatungen zu einem guten Ergebnis kom-
men und dieses Mandat sinnvollerweise verlängern wer-
den.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1816420400

Als letztem Redner in dieser Aussprache erteile ich

dem Abgeordneten Florian Hahn, CDU/CSU-Fraktion,
das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Florian Hahn (CSU):
Rede ID: ID1816420500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Auch ich hatte letzte Woche die Gelegenheit, an der Rei-
se nach Mali mit Frau Bundesministerin von der Leyen
teilzunehmen. Die Reise war einmal mehr ein Beispiel
dafür, wie wichtig es ist, dass wir Abgeordnete an sol-
chen Reisen teilnehmen, um ein Stück weit ein besseres
Gefühl für bzw. eine bessere Sichtweise auf die Länder
zu bekommen, die im unmittelbaren Zusammenhang mit
Entscheidungen hier im Hohen Hause stehen.

Allein die Tatsache, dass wir für die Strecke vom
Eintreten in den malischen Luftraum im Norden, an der
Grenze zu Algerien, bis nach Bamako zwei Stunden
gebraucht haben, zeigt, wie riesig dieses Land ist, gibt
einem ein Gefühl für die Größe dieses Landes. Als wir
dann kurz vor der Landung aus dem Fenster des Flug-
zeugs auf die riesengroße Stadt Bamako mit 3 bis 4 Milli-
onen Menschen heruntergeschaut haben, haben wir gese-
hen, dass dort unglaublich viel passiert, dass unglaublich
viele Rohbaumaßnahmen angegangen werden, dass die
Menschen anfangen, Grundstücke einzuzäunen und ab-
zugrenzen und sich langfristig Wohnraum zu sichern.

Das Straßenbild in Bamako ist von unglaublich vie-
len Menschen, von extrem jungen Menschen geprägt,
vor allem von Männern. Das durchschnittliche Alter der
Malier ist 16 Jahre. Das Bevölkerungswachstum beträgt
3,6 Prozent pro Jahr. Wir haben jetzt etwa 16 Millionen
Malier, im Jahr 2050 – so ist die Prognose – werden es
über 60 Millionen sein. Es ist kaum vorstellbar, dass die-
ses Land selbst unter friedlichen oder wirtschaftlich po-
sitiven Entwicklungsbedingungen, gerade wenn wir den
Blick auf die sonstigen Rahmenbedingungen wie Klima
usw. richten, in der Lage sein wird, der Herausforderung
einer so großen Bevölkerung tatsächlich Herr zu werden.

Umso wichtiger ist es – das ist meine ganz persönliche
Erkenntnis auch aus dieser Reise –, dass wir diesem Land
helfen. Es liegt in unserem Interesse, die Lage in Mali
und in der Sahelregion insgesamt zu stabilisieren. Denn
Verfall von Autorität, von staatlicher Kontrolle bedeutet
eben Chaos, bedeutet, dass Kriminelle und Terroristen
diese Situation ausnutzen. Das hat vor allem dramatische
Folgen für die Zivilbevölkerung.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wer Flucht-
ursachen tatsächlich bekämpfen möchte, muss gerade
auch in Mali Engagement zeigen. Von zentraler Bedeu-

tung ist, dass wir die Sicherheitslage verbessern. Dafür
sind Fortschritte beim Friedens- und Versöhnungsprozess
notwendig, die Ertüchtigung der Armee und der Sicher-
heitskräfte Malis und übergangsweise die Gewährleis-
tung einer Basissicherheit auch im Norden beispielswei-
se durch MINUSMA.

Frieden und Stabilität sind wichtig, damit alle Bevöl-
kerungsgruppen an wirtschaftlicher, an sozialer Entwick-
lung und am politischen Prozess in Mali teilhaben kön-
nen. Deutschland tut hier insgesamt viel – wir haben es
schon gehört –: humanitäre Hilfe, Entwicklungszusam-
menarbeit, Ausbildung von Polizei, aber eben auch von
Sicherheitskräften, Ausbildung der Armee, beispielswei-
se durch die europäische Mission EUTM Mali.

Ausbildung und Beratung der malischen Streitkräfte
sind wichtig, damit Mali in Zukunft selbst in der Lage ist,
die Stabilität des Landes zu gewährleisten. Hier sind wir
bereits seit drei Jahren aktiv, und zwar sehr erfolgreich.
Wir sollten unser Engagement auf jeden Fall fortsetzen
und sogar verstärken.

Bei unserem Besuch in Gao, in Bamako, aber auch in
Koulikoro hatten wir mehrmals die Gelegenheit, ausführ-
lich mit unseren Soldatinnen und Soldaten zu sprechen.
Ich muss sagen: Ich war extrem beeindruckt, nicht nur,
mit welcher professionellen Einstellung die deutschen
Soldatinnen und Soldaten dort agieren, sondern auch
deswegen, weil man gesehen hat, dass sie von ihrem Auf-
trag wirklich überzeugt sind, dass sie positives Feedback
von den Maliern bekommen. Sie merken, dass das ein
wichtiger Einsatz ist, ein Einsatz, der auch etwas bringt.

Bemerkenswert ist auch die Zusammenarbeit mit den
internationalen Partnern. Wir haben es vorhin schon ge-
hört: 24 Partnernationen arbeiten zusammen und haben
500 Soldaten nach Koulikoro entsandt, die dort gemein-
sam Malier ausbilden.

Abschließend möchte auch ich betonen – da dürfen
wir uns nichts vormachen –: Die Einsätze und auch die-
ser Einsatz sind gefährlich für unsere Soldatinnen und
Soldaten. Es ist ein Risiko; das dürfen wir nicht unter
den Teppich kehren. Deswegen ist es nicht nur wichtig,
dass unsere Soldatinnen und Soldaten im Einsatz vor Ort
besonnen agieren, sondern auch, dass sie bestmöglich
ausgebildet und ausgerüstet sind. Dafür wollen wir wei-
terhin Sorge tragen.

Ich bin für eine Verlängerung des Mandates. Ich wün-
sche unseren Soldatinnen und Soldaten im Einsatz viel
Erfolg, vor allem Gesundheit und Gottes Segen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1816420600

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/8090 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Jürgen Hardt






(A) (C)



(B) (D)


Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Kordula Schulz-Asche, Claudia Roth

(Augsburg), weiterer Abgeordneter und der Frak-

tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Zivilgesellschaftliches Engagement braucht
Raum – Anti-NGO-Gesetze stoppen, Men-
schenrechtsverteidiger stärken

Drucksache 18/7908
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Interfraktionell sind für die Aussprache 25 Minuten
vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.

Als erster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeord-
neten Kordula Schulz-Asche, Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ban Ki-
moon, der Generalsekretär der Vereinten Nationen, hat es
aus meiner Sicht auf den Punkt gebracht. Er hat gesagt:
Demokratie ist das Produkt einer aktiven und lautstarken
Zivilgesellschaft. – Gerade als Mitglied des Unteraus-
schusses „Bürgerschaftliches Engagement“ hier im Hau-
se liegt mir sehr viel daran, in einem Land zu leben mit
einer Zivilgesellschaft, die hilft und unterstützt, ja, die
aber auch hinterfragt, polarisiert, Missstände anprangert
und Alternativen aufzeigt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deshalb stemmen wir uns auch gegen die weltweit zu-
nehmende Behinderung der Zivilgesellschaft bei ihrer
Arbeit. Eingeschränkt wird der öffentliche Raum, der
sogenannte Open Space, in dem zivilgesellschaftliche
Organisationen arbeiten. Zu dieser Einschränkung gehört
die Registrierung bis hin zur detaillierten Berichterstat-
tung. Ihre Finanzierung durch ausländische Geldgeber
wird beschränkt; das hat auch schon deutsche Stiftungen
getroffen.

Gesetze und Vorschriften werden oft unter Berufung
auf öffentliche Sicherheit und Ordnung missbraucht, um
die Zivilgesellschaft an ihrer demokratischen Wächter-
funktion zu hindern, zum Beispiel im Kampf gegen Kor-
ruption. Anti-NGO-Gesetze werden derzeit weltweit in
mehr als 60 Ländern erlassen. Dieses Thema darf nicht
ein Thema von Expertinnen und Experten sein, sondern
es muss ein Thema für uns alle werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir wollen mit unserem Antrag darauf hinweisen:
Es ist ein menschenrechtliches Problem, und es ist ein

Problem, das häufig erst sehr spät erkannt wird. Warum?
Weil der Raum für die Zivilgesellschaft oft schleichend
eingeschränkt wird, zumindest zu Beginn, weil es inner-
halb eines Staates an verschiedenen Stellen auftaucht,
beispielsweise in Parlamenten durch Anti-NGO-Gesetze
oder in Ämtern und Behörden durch die Änderung der
Verwaltungspraxis, und weil es in ganz verschiedenen
Staatsformen auftaucht, nicht nur in autokratischen Re-
gimen, sondern auch in demokratischen, und das in allen
Regionen der Welt, im Süden wie im Norden, in so un-
terschiedlichen Ländern wie Ägypten, Bolivien, China,
Israel, Indien und Russland.

Auch bei uns, meine Damen und Herren, muss sich
die Zivilgesellschaft immer wieder neu behaupten. So
kämpft Attac derzeit vor Gericht gegen den Entzug des
Status der Gemeinnützigkeit wegen des Vorwurfs, man
mische sich zu sehr in die Tagespolitik ein.

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Natürlich gibt
es gerade aus menschenrechtlicher Sicht große Unter-
schiede im Umgang mit Engagierten, aber wir sollten im
Interesse der Menschenrechte und der Demokratisierung
überall genau hinsehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es geht weltweit um die vielen kleinen, aber eben auch
um die sehr großen und starken Versuche des Verkompli-
zierens, Diffamierens, Behinderns und Kriminalisierens
von zivilgesellschaftlichem Engagement. Diese Prozesse
zu entlarven und sich zu solidarisieren, ist Aufgabe aller
Demokraten weltweit, und das wollen wir mit unserem
Antrag unterstützen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


CIVICUS, eine Organisation für Bürgerbeteiligung
im globalen Maßstab, hat allein für das Jahr 2014 fast
100 signifikante Einschränkungen der Zivilgesellschaft
dokumentiert. In unserem Antrag „Zivilgesellschaftli-
ches Engagement braucht Raum“, den wir hier vorgelegt
haben, machen wir konkrete Vorschläge, wie diese Ein-
schränkungen bekämpft werden können.

Auch wenn ich weiß, dass es in dieser Wahlperiode
manchmal sehr schwer ist, fraktionsübergreifende Anträ-
ge zustande zu bekommen, finde ich, dass dies ein Thema
ist, das dies wert ist, und ich würde mich freuen, wenn
Sie unserem Antrag zustimmen.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1816420700

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-

ordneten Dr. Bernd Fabritius, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Dr. h.c. Bernd Fabritius (CSU):
Rede ID: ID1816420800

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Mit dem Antrag, den wir heute debattieren,

Vizepräsident Peter Hintze






(A) (C)



(B) (D)


greifen die Grünen ein nicht ganz neues Thema auf. Die
Beschränkung der Zivilgesellschaft in immer mehr Staa-
ten fordert von der Weltgemeinschaft, von Europa und
von Deutschland engagierte Maßnahmen, um diesem be-
dauerlichen Trend entgegenzuwirken, wo immer es geht.

Die Bundesregierung berücksichtigt dies in ihrer
täglichen Arbeit. Ich bin Ihnen, liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen, dennoch dankbar für die Ein-
bringung des Antrags; denn es lohnt sich vielleicht, in
diesem Hohen Haus erneut über solche Entwicklungen
zu sprechen. Es lohnt sich ebenso, über Grenzen des ei-
genen Handlungsspielraums nachzudenken, denen man
bei diesem Thema bedauerlicherweise begegnet.

Der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama rief
1992 nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und
des Kommunismus sein berühmt gewordenes „Ende der
Geschichte“ aus, womit er die Hoffnung auf den welt-
weiten Siegeszug der Demokratie weiter nährte. Nur
24 Jahre danach müssen wir jedoch feststellen, dass
eine „decade of decline“ hinter uns liegt, wie der jüngste
Bericht von Freedom House die zurückliegenden Jahre
treffend bezeichnet. Einfach ausgedrückt sind damit so-
wohl der teilweise Rückzug der Demokratie als auch ihre
abnehmende Qualität gemeint, die in einer ganzen Reihe
von Ländern zu beobachten sind und die uns in den inter-
nationalen Fachgremien tagaus, tagein beschäftigen. Wir
alle kennen die prominenten Beispiele: Es sind die üb-
lichen Verdächtigen. Der Antrag listet einige von ihnen
auf. Sie, Frau Kollegin Schulz-Asche, haben zu Recht
weitere genannt.

Die „decade of decline“ bzw. der „shrinking space“
für zivilgesellschaftliches Handeln, um den Begriff des
UN-Sonderberichterstatters Maina Kiai zu verwenden,
hat vor vielen weiteren Ländern – unter ihnen durch-
aus auch Demokratien – nicht Halt gemacht. Da wurden
Wahlen manipuliert, Wähler eingeschüchtert, Medien
drangsaliert, die staatliche Propaganda ausgeweitet, Bür-
gerrechte missachtet sowie NGOs stigmatisiert und mit
speziellen, darauf zugeschnittenen Gesetzen gebrand-
markt. Machthaber versuchen, ihre Amtszeit auf teils
fragwürdige, teils eindeutig illegale Weise bis in die
Ewigkeit zu verlängern. Menschenrechtsverteidiger wer-
den inhaftiert oder verschwinden einfach spurlos.

Solche Repressionen und Vorgehensweisen gab es
leider schon immer. Was uns besonders besorgt, ist die
Tatsache, dass sie nach einer Phase der relativen Demo-
kratieausbreitung in den 90er-Jahren seit einiger Zeit
wieder spürbar zunehmen. Sicher ist es kein Zufall, dass
dieser Anstieg genau in dem Jahrzehnt stattfand, in dem
das Internet der breiten Masse der Menschheit zugäng-
lich wurde. Das Internet bot dieser eine ganz neue Form
der Kommunikation und der Beteiligung sowie der In-
formation. Die Menschen konnten plötzlich direkt und
unmittelbar feststellen, welche Möglichkeiten es in an-
deren Ländern gibt: Man kann seine Regierung friedlich
abwählen, frei seine Meinung sagen, seine Religion aus-
üben, man hat individuelle Rechte, auch gegenüber dem
eigenen Staat, und kann diese einklagen und vieles mehr.

Dies führt zu einem neuen Selbstbewusstsein der
Menschen. Sie fordern ihre Rechte ein und damit ihre

alten Eliten heraus. Sie gehen auf die Straße und wol-
len gehört werden. Bei den Machthabern führt dies zu
den bereits genannten Gegenreaktionen. Rund um den
Globus sehen viele von ihnen ihre Macht und damit sich
selbst in Gefahr. Sie können mit der informationellen
Freiheit, die so viele aus ihrer Sicht unerwünschte Ge-
danken und Ideen ins Land spülen, nicht umgehen. Sie
reagieren deshalb über, manchmal im Affekt, oft wohl-
überlegt. Es geht ihnen schlicht und ergreifend um sich
selbst, um eigene Interessen. Im Extremfall führt dies
zu schweren Konflikten oder Kriegen mit vielen Toten,
wie in der Ukraine oder beim sogenannten Arabischen
Frühling, übrigens auch in Syrien. Auch wenn diese Fälle
selbstverständlich unterschiedlich gelagert sind: Alle drei
begannen mit dem friedlichen Aufbegehren der Bürger
für mehr Demokratie und Freiheit.

Was aber bedeutet das für uns? Auch wenn wir zu
Recht stolz darauf sein können, dass Deutschland im
Freedom-House-Index einen der vordersten Plätze be-
legt, kann und darf uns der Raumverlust für die Zivil-
gesellschaft in vielen Teilen der restlichen Welt gewiss
nicht gleichgültig sein. Das gilt zuerst aus rein mensch-
lichen, humanitären Gründen, aber auch aus ganz prak-
tischen Erwägungen, wie wir angesichts der weltweiten
Flüchtlingsströme erleben müssen: Neben Kriegen und
Armut sind gerade staatliche Repressionen eine gewich-
tige Fluchtursache.

Was sollen und können wir also tun? Die Bundesre-
gierung setzt sich in allen Foren und Gremien, deren Mit-
glied sie ist, für Menschenrechte und deren Verteidiger
ein. Sie thematisiert die Einschränkung des zivilgesell-
schaftlichen Raumes, wo immer es nötig ist. Selbstver-
ständlich tritt die Bundesregierung nachdrücklich für die
Umsetzung der EU-Leitlinien für Menschenrechtsver-
teidiger ein, wie auch für die entsprechenden Leitlinien
der OSZE. Darüber hinaus unterstützt sie die Arbeit des
UN-Sonderberichterstatters für Menschenrechtsverteidi-
ger. Der Schutz und die Unterstützung von Menschen-
rechtsverteidigern sind ein Schwerpunkt der Projektför-
derung von Auswärtigem Amt und BMZ. Mit regelmäßig
veranstalteten Regionalkonferenzen für Menschenrechts-
verteidiger fördern die deutschen Auslandsvertretungen
gezielt die internationale Vernetzung der Zivilgesell-
schaft und den intergesellschaftlichen Dialog. Die Mög-
lichkeiten zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern
sind also vielfältig. Die Bundesregierung nutzt diese alle
sehr engagiert und nachhaltig. Das heißt natürlich nicht,
dass alles in bester Ordnung ist und wir uns gemütlich
zurücklehnen können. Machthaber lassen sich immer
neue Repressalien einfallen, mit denen unliebsame Ak-
teure in ihrer Zivilgesellschaft drangsaliert werden. Dem
gilt es entgegenzuwirken.

Eines ist Ihnen sicher aufgefallen: Alle Maßnahmen,
die die Bundesregierung bereits ergreift und die ich in Er-
innerung gerufen habe, stehen so oder so ähnlich erneut
im heute vorliegenden Antrag der Grünen. Auch stand
vieles von dem, was die Grünen heute fordern, bereits in
einem Antrag, den der Bundestag mit Zustimmung der
Koalitionsfraktionen im vergangenen Dezember verab-
schiedet hat. Dem haben damals sogar die Grünen zuge-
stimmt; bis heute haben sie dies vermutlich vergessen.

Dr. Bernd Fabritius






(A) (C)



(B) (D)


Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen,
der die Grenzen eines solchen Antrages aufzeigt. Wenn
es um antidemokratische Tendenzen und die Einschrän-
kung des zivilgesellschaftlichen Raums in anderen Län-
dern geht, müssen wir realistischerweise einsehen, dass
unser Einfluss an Grenzen stößt. Es handelt sich bei den
betroffenen Ländern immer noch um unabhängige sou-
veräne Staaten. Ich habe in dieser Debatte bisweilen das
Gefühl, dass der eine oder andere das im Eifer des Ge-
fechts ein bisschen übersieht. Bereits der Titel des An-
trages „Anti-NGO-Gesetze stoppen“ suggeriert nämlich,
die Bundesregierung oder der Bundestag könne einfach
so daherkommen und in die Gesetzgebung anderer Län-
der eingreifen, diese steuern oder gar stoppen. Deshalb
kann dieser Antrag maximal dafür herhalten, das Thema
nochmals als Debatte in den Bundestag einzubringen –
das hat er erfüllt –, für viel mehr aber nicht.

Der weltweite Einsatz sowohl der Bundesregierung
als auch der anderen einschlägigen Gremien zeigt Erfol-
ge. Lassen Sie mich daher zum Abschluss den Blick auf
positive Beispiele der letzten Zeit richten. In Myanmar,
das jahrzehntelang zu den repressivsten Ländern über-
haupt gehörte, konnte die oppositionelle NLD um Aung
San Suu Kyi einen beeindruckenden Wahlsieg erreichen.
Auch wenn aus menschenrechtlicher Sicht längst nicht
alle Probleme gelöst sind – ich denke dabei vor allem an
die Minderheitenpolitik –, ist ein friedlicher Wandel, der
Mut macht, dort in vollem Gange. Die Bürger des von
Repressionen und Misswirtschaft heimgesuchten Vene-
zuela stimmten trotz Drohungen und Einschüchterungen
für die Opposition und verhalfen dieser zu einer Zweidrit-
telmehrheit im Parlament, mit der sich Präsident Maduro
nun auseinandersetzen muss. In Nigeria ist es das erste
Mal überhaupt gelungen, durch Wahlen einen friedlichen
Regierungswechsel herbeizuführen. – Vielleicht können
wir aus diesen Beispielen etwas lernen. Ich wünsche mir,
dass es diesen und anderen Ländern gelingt, den positi-
ven Trend zu verstetigen. Dabei sollten wir Hilfe leisten,
soweit es in unserer Macht steht.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Frank Schwabe [SPD])



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1816420900

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-

ordneten Annette Groth, Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Annette Groth (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1816421000

Herr Präsident! Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zu-

hörer auf der Tribüne! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben es schon gehört: In vielen, vielen Ländern,
mindestens über 60, sind die Rechte von NGOs und
Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechts-
verteidigern – auch das steht in der Überschrift: Men-
schenrechtsverteidiger stärken – massiv beschnitten. Die
über missliebige NGOs verhängten Maßnahmen reichen
von einem Verbot dieser Organisationen über Gefängnis-
strafen bis hin zum Entzug der Staatsangehörigkeit, zum
Beispiel in Bahrain.

Man muss aber auch sagen, dass insbesondere aus
dem Westen finanzierte NGOs in einigen Ländern keine
gute Rolle gespielt haben. Am 13. Dezember 2013 er-
klärte die zuständige Abteilungsleiterin des US-Außen-
ministeriums, Victoria Nuland, die US-Regierung habe
seit 1991 rund 5 Milliarden Dollar für eine wohlhabende
und demokratische Ukraine investiert. Dies ist eines von
vielen Beispielen für den Missbrauch von sogenannter
Demokratieförderung, die manchmal auch auf einen Re-
gierungswechsel abzielt. Wir alle wissen, wie es heute in
der Ukraine, im Irak oder in anderen Ländern aussieht.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Jetzt müssen Sie auch noch etwas zu Russland sagen!)


– Das kommt noch; Russland kommt auch. – Es ist höchst
bedauerlich, dass unter der Instrumentalisierung einiger
NGOs für politische Zwecke viele Menschenrechtsver-
teidiger und -verteidigerinnen leiden.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Christoph Bergner [CDU/CSU]: Auf welcher Seite stehen Sie eigentlich?)


Ein Beispiel für die Verfolgung von NGOs ist Ägyp-
ten. Dort werden seit vielen Jahren Aktivisten und Akti-
vistinnen und NGOs, die sich für Menschenrechte ein-
setzen, massiv bedroht und häufig gewaltsam an ihrer
Arbeit gehindert. Viele von Ihnen werden sich erinnern,
dass 2013 43 Mitglieder ausländischer NGOs verurteilt
wurden. Das El-Nadeem-Zentrum für die Rehabilitie-
rung von Folteropfern, das ich 2012 selbst besucht habe,
ist derzeit von Schließung bedroht. Die Mitarbeiter und
Mitarbeiterinnen dieser international hoch geschätzten
einzigen Anlaufstelle für Folteropfer leisten dort seit
1993 eine hervorragende Arbeit.


(Beifall bei der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie im Antrag der
Grünen richtig erwähnt wird, wächst auch in Israel seit
Jahren der Druck auf die Friedensbewegung und auf
NGOs, die gegen Menschenrechtsverletzungen kämp-
fen. Die Organisation Breaking the Silence, selbst von
Armeeangehörigen gegründet, macht von Soldaten und
Soldatinnen begangene Verbrechen bekannt. Diese inter-
national hoch angesehene NGO wird jetzt von der isra-
elischen Regierung als Verräter bezeichnet und ist vom
Verbot bedroht. Es läuft zurzeit eine internationale Kam-
pagne, um diese Menschen zu schützen.


(Beifall der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE])


Seit Monaten läuft eine von Justizministerin Shaked ini-
tiierte Kampagne gegen ausländische NGOs. Das Kabi-
nett hat im letzten Dezember ein Gesetz beschlossen, das
aus dem Ausland finanzierte NGOs verpflichtet, immer
ihre Geldgeber anzugeben. Mehrere israelische Medien
sprachen damals von einem Gesetz à la Putin. Natürlich
müssen auch Russland und China kritisiert werden, weil
auch dort der Umgang mit NGOs und Menschenrechts-
verteidigerinnen und -verteidigern nicht doll ist.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Aha!)


Die Aussage des Antrags, dass die Behinderung und
Einschränkung von NGOs keineswegs nur Praxis von au-
toritären oder diktatorischen Regimes, sondern auch von

Dr. Bernd Fabritius






(A) (C)



(B) (D)


demokratischen Staaten ist, trifft zu. Anzumerken seien
hier zum Beispiel die restriktiven Mediengesetze und die
massive Einschüchterung von NGOs in der Türkei, in Un-
garn und Polen. Leider fehlt in dem Antrag eine Erwäh-
nung des 2009 in Deutschland eingeführten § 51 Absatz 3
Abgabenordnung, der dazu dient, missliebigen NGOs die
Gemeinnützigkeit zu verweigern. Ein Beispiel hierfür ist
die Vereinigung der Verfolgten des Nazire gimes, bei der
zurzeit auch die Gefahr besteht, dass ihr die Gemeinnüt-
zigkeit aberkannt wird. Das wäre schrecklich.


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1816421100

Frau Kollegin, es ist so, dass Ihre Redezeit weit über-

schritten ist.


Annette Groth (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1816421200

Ich entschuldige mich.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1816421300

Als letztem Redner in der Aussprache erteile ich das

Wort dem Abgeordneten Frank Schwabe, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Frank Schwabe (SPD):
Rede ID: ID1816421400

Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Es ist in der Tat das Verdienst
der Grünen, dieses Thema erneut und so explizit auf die
Tagesordnung gesetzt zu haben, wohl wissend, dass wir
uns mit Grundfragen von Menschenrechtsverteidigern
schon Ende des letzten Jahres beschäftigt haben und dies
ein Schwerpunktthema ist, auch im Ausschuss für Men-
schenrechte und humanitäre Hilfe.

Dass sich NGOs, also Nichtregierungsorganisationen,
und die Zivilgesellschaft in einer Demokratie entfalten
können, ist grundlegend für die Demokratie wie die Luft
zum Atmen. Frau Kollegin Schulz-Asche hat CIVICUS
schon zitiert und erwähnt, dass festgestellt wurde, dass
es allein zwischen dem Sommer 2014 und dem Som-
mer 2015 weltweit 96 Eingriffe in die Rechte solcher
Nichtregierungsorganisationen gegeben hat.

Ich will kurz aus dem Antrag, der Ende letzten Jah-
res verabschiedet worden ist – der Kollege Fabritius hat
das schon erwähnt –, zitieren, damit klar wird: Es ist ein
Konsens im Deutschen Bundestag, sich um solche Fra-
gen zu kümmern, wie auch immer wir mit dem grünen
Antrag umgehen. – Ich zitiere aus dem Antrag:

In immer mehr Staaten werden zivilgesellschaft-
liche Spielräume systematisch eingeschränkt und
damit auch die Handlungsmöglichkeiten von Men-
schenrechtsverteidigern. Der Deutsche Bundestag
sieht mit wachsender Sorge, dass sich diese Ent-
wicklung in den vergangenen Jahren verstärkt hat.

Das haben wir hier fraktionsübergreifend beschlossen.
Deshalb ist es so wichtig, dass wir uns weltweit, aber

natürlich auch im eigenen Land, jedem Versuch entge-
genstellen, die Zivilgesellschaft zu drangsalieren und
Menschenrechtsorganisationen, Journalisten und auch
Satirikern über den Mund zu fahren und sie mundtot zu
machen. Rede-, Presse- und Meinungsfreiheit sind die
Selbstversicherung für jede Demokratie.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Nach dem aktuellen Index von Freedom House – auch
das ist gerade schon erwähnt worden – ist es in den letz-
ten zehn Jahren in sage und schreibe 105 Ländern, also
der Mehrheit der Länder auf der Welt, zu Rückschritten
bei den bürgerlichen und politischen Rechten gekom-
men. Nun kann sich hier in der Tat jeder seine Rosinen
herauspicken. Ich versuche – vielleicht gelingt es mir
nicht immer –, das nicht zu tun. Das kann man auch
lassen; denn wenn man sich diese 105 Länder einmal
anguckt, dann sieht man Länder mit Regierungen jeder
politischen Richtung. Manche Länder haben rechte Re-
gierungen, andere linke. Egal welche religiöse Ausrich-
tung in einem Land vorherrscht: In allen Teilen der Welt
hat es eine solche Gesetzgebung gegeben. Es tut mir ganz
schrecklich leid, aber es ist nun einmal so: Als eine Art
negativer Vorreiter ist Russland anzusehen, das mit der
Klassifizierung von NGOs als ausländische Agenten lei-
der einen negativen Trend für andere Länder gesetzt hat.
Ohne die einzelnen Länder miteinander vergleichen zu
wollen, könnte man diese Liste lange fortsetzen.

Behinderungen gibt es in ganz unterschiedlicher Aus-
prägung: Es gibt schikanöse Finanzkontrollen – NGOs
werden plötzlich daraufhin überprüft, ob sie ihre Finanz-
geschäfte ordentlich abwickeln –, es gibt Einschüchte-
rungen und Diffamierungen, und es gibt Überwachun-
gen bis hin zu Kriminalisierungen, sodass Menschen am
Ende im Gefängnis landen. Solche besonderen Gesetze
gibt es zum Beispiel in China, in Indien, der größten De-
mokratie der Welt, in Ägypten und in Ecuador. Vor kur-
zem durfte eine Delegation des Deutschen Bundestages
abermals nicht in Ecuador einreisen, weil sie sich dort
mit kritischen Aktivisten, unter anderem den Yasunidos,
treffen wollte. Solche Gesetze gibt es aber auch in Israel,
wo B’Tselem, Breaking the Silence und Al-Haq aktuell
Probleme haben. In den palästinensischen Gebieten ist
es nicht besser – ganz im Gegenteil –, und leider kommt
das auch in Ländern der Europäischen Union vor. In Un-
garn hat Ministerpräsident Orban von „gekauften politi-
schen Aktivisten“ geredet, und im Jahr 2014 hat es dort
bei 49 Nichtregierungsorganisationen Finanzprüfungen
gegeben.

Was passiert hier eigentlich weltweit? Der Kollege
Fabritius hat ja auch die positiven Entwicklungen ge-
nannt. In der Tat hat sich die Zahl der Demokratien seit
1970 stark entwickelt. Man kann sagen, dass sie wie Pil-
ze aus dem Boden geschossen sind. 1970 gab es 35 De-
mokratien, heute sind es 110. Myanmar ist ein aktuelles,
von Ihnen benanntes positives Beispiel.

Es gibt eine spannende Studie des German Institute
of Global and Area Studies, GIGA, auf die, glaube ich,
schon hingewiesen worden ist, in der analysiert wird, was
der Hintergrund dafür sein könnte, dass es in den letzten
zehn Jahren in so vielen Ländern der Welt solche restrik-

Annette Groth






(A) (C)



(B) (D)


tiven Gesetzgebungen gegeben hat. Das hat wohl etwas
mit der Angst vor Veränderungen zu tun, die es gegeben
hat oder die es vielleicht geben könnte, zum Beispiel die
Angst vor einem Regimewechsel, nicht nur rund um den
Arabischen Frühling. Das hat auch mit einer gewandel-
ten Protestkultur zu tun, die soziale Netzwerke nutzt, wo
viele Regierungen nicht wissen, wie sie damit umgehen
sollen. Es gibt eine Debatte über Terrorabwehr, in deren
Rahmen leider auch gestandene Demokratien problema-
tische Gesetze auf den Weg gebracht haben. Aktuell gibt
es populistische Abwehrreaktionen im Zusammenhang
mit der Flüchtlingsdebatte, und – ich glaube, das gehört
auch dazu – wir haben eine wachsende soziale Spaltung
in vielen Gesellschaften der Welt, die dazu führt, dass
Menschen weniger an der gesellschaftlichen Entwick-
lung teilhaben, wodurch der Raum für gesellschaftliches
Engagement geringer wird.

Im Antrag der Grünen finden sich viele richtige und
vernünftige Forderungen. Eine ganze Reihe der Forde-
rungen – man könnte sie einzeln aufzählen – sind im letz-
ten Jahr schon umgesetzt worden. Wenn man die Anträge
übereinanderlegen würde, würde man viele Gemeinsam-
keiten finden.

Zwei Dinge, die wir alle uns zu Herzen nehmen müs-
sen, will ich noch ansprechen:

Erstens. Es kann keinen Kontakt mit einem Land ge-
ben, in dem es zu solchen Entwicklungen gekommen ist,
ohne dass dies thematisiert wird. Wir werden die Gesetz-
gebung dort nicht verändern können; aber wir können
den Finger in die Wunde legen und die Dinge offen an-
sprechen.

Zweitens. Wir müssen uns noch mehr darüber im Kla-
ren sein, dass wir bei allen Kooperationen, die wir ge-
rade in der Entwicklungszusammenarbeit eingehen, den
Schwerpunkt darauf legen müssen, die demokratischen,
rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Werte in den
Mittelpunkt einer solchen Zusammenarbeit zu stellen.
Ich glaube, da müssen wir uns immer wieder überprüfen.

Ich habe noch 30 Sekunden für den ultimativen Wer-
beblock. Ich kann es nur immer wieder sagen: Wir haben
ein tolles Programm. Dabei geht es nicht um die Gesetz-
gebung gegenüber Nichtregierungsorganisationen, aber
um den Schutz von Menschenrechtsverteidigern. Das
hängt eng miteinander zusammen. Wir haben ein Pro-
gramm, das weltweit Beachtung findet, allerdings nicht
genug bei allen Kolleginnen und Kollegen hier im Deut-
schen Bundestag, nämlich das Programm „Parlamenta-
rier schützen Parlamentarier“ oder auch: Parlamentarier
schützen Menschenrechtsverteidiger. Ich habe nachgese-
hen: Aktuell machen 50 Kolleginnen und Kollegen bei
diesem Programm mit. Sie haben Patenschaften für Men-
schen, die in vielen Ländern der Welt bedroht sind,
übernommen. Ich will ausdrücklich dazu auffordern,
mitzumachen. Angesichts der 630 Abgeordneten hier im
Deutschen Bundestag ist da noch Spielraum.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Michael Brand [CDU/CSU]: Wir haben einen neuen gewonnen! Der Kollege Gädechens hat schon zugesagt!)


Ich will ausdrücklich die loben, die das machen, und die
anderen bitten – ein paar sind ja auch unter uns –, sich
das zu Herzen zu nehmen. Guckt euch das an! Wenn je-
mand keine Fantasie hat, wen man da aufnehmen könnte:
Wir haben immer gute Ideen.

Vielen Dank. Glück auf!


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1816421500

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/7908 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:

Beratung des Antrags der Bundesregierung

Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte an der durch die Europäi-
sche Union geführten Operation EU NAVFOR
Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor
der Küste Somalias auf Grundlage des See-
rechtsübereinkommens der Vereinten Natio-
nen (VN) von 1982 und der Resolutionen 1814

(2008) vom 15. Mai 2008 und weiterer Reso-

lutionen, zuletzt 2246 (2015) vom 10. Novem-
ber 2015 und nachfolgender Resolutionen des
Sicherheitsrates der VN in Verbindung mit
der Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP
des Rates der Europäischen Union (EU) vom
10. November 2008, dem Beschluss 2009/907/
GASP des Rates der EU vom 8. Dezember
2009 und weiterer Beschlüsse, zuletzt dem
Beschluss 2014/827/GASP vom 21. November
2014

Drucksache 18/8091
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die
Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär
Dr. Ralf Brauksiepe.


(Beifall bei der CDU/CSU)


D
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU):
Rede ID: ID1816421600


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
gibt aus guten Gründen in unserem Land klare Regelun-
gen für den Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte in

Frank Schwabe






(A) (C)



(B) (D)


anderen Ländern. Wir sind immer im Einsatz mit einer
internationalen Koalition und aufgrund von Beschlüssen
unseres Parlaments. Gleichwohl bewahren uns solche
Regelungen nicht grundsätzlich vor Enttäuschungen.
Aber wenn wir über die Fortsetzung der EU-geführten
Operation Atalanta am Horn von Afrika reden, wird man
sagen können und auch sagen müssen: Dies ist wirklich
eine Erfolgsgeschichte. Dies ist ein erfolgreicher Einsatz,
liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Allein im Jahr 2010 wurden vor der Küste Somalias
noch 367 Vorfälle von durchgeführten oder versuch-
ten Überfällen gezählt. Seit dem Jahr 2012 hat es keine
Schiffsentführung mehr geben. Auch die Zahl der ver-
suchten Raubüberfälle auf Handelsschiffe – letztmalig
vier im Jahr 2014 – ist auf null gesunken. Weniger als
null geht nicht. Erfolgreicher als eine Reduzierung auf
null kann ein Mandat nicht sein, wie wir es hier erreicht
haben, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Niels Annen [SPD])


Seit Beginn der Operation konnten insgesamt 478 Schif-
fe des Welternährungsprogramms und 422 Schiffe der
Mission der Afrikanischen Union in Somalia, AMISOM,
sicher ihren Bestimmungsort erreichen.

Die Operation Atalanta ist zweifelsohne ein entschei-
dender Faktor für die Eindämmung der Piraterie am Horn
von Afrika, wenn auch nicht der alleinige Grund für den
Erfolg. Auch Maßnahmen der zivilen Schifffahrt und die
Kooperation aller Akteure haben dazu beigetragen. Auf
der anderen Seite haben wir es in Somalia selbst wei-
terhin mit fragilen staatlichen Strukturen zu tun. Eine
nachhaltige und umfassende militärische Stabilisierung
des Landes durch die Regierung und mit Hilfe internatio-
naler Partner ist weiterhin eine zentrale Herausforderung.
Weiterhin sind rund 20 Prozent der Gesamtbevölkerung
in Somalia auf der Flucht.

Der heute zu beratende Mandatsentwurf muss im
Kontext des deutschen und europäischen Gesamtengage-
ments in Somalia gesehen werden. Die Ursachen der Pi-
raterie liegen in erster Linie im weitreichenden Zerfall
von Staat und Gesellschaft in Somalia. Dieser ist vor al-
len Dingen auf die Abwesenheit funktionierender Sicher-
heitsstrukturen in weiten Teilen des Landes zurückzufüh-
ren. Auf der anderen Seite dürfen die Erfolgszahlen der
Operation Atalanta nicht darüber hinwegtäuschen, dass
die für die Piraterie verantwortlichen kriminellen Netz-
werke an Land weiterhin intakt und in der Lage sind, die
Sicherheit der Schifffahrtswege am Horn von Afrika zu
bedrohen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, niemand wird als
Pirat geboren, niemand ist zur Piraterie veranlagt. Wenn
Menschen zu solchen kriminellen Akten greifen, hat das
etwas mit den Schwierigkeiten im Land zu tun, mit dem
Mangel an Perspektiven für legale Beschäftigung und
für legalen Wohlstandserwerb. Das ist und bleibt eine
ganz zentrale Herausforderung in dieser Region, insbe-
sondere in Somalia. Deswegen kann aus unserer Sicht

der Wiederaufbau des Landes nur durch den Einsatz
verschiedener Instrumente der Außen-, Sicherheits- und
Entwicklungspolitik gelingen. Dies ist ein bewährter An-
satz der Bundesregierung. Das Auswärtige Amt und das
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung stehen gemeinsam mit dem Bundesmi-
nisterium der Verteidigung für diesen Ansatz.

Im sogenannten Strategischen Rahmen für das Horn
von Afrika der EU werden zahlreiche Aktivitäten ziviler
und militärischer Art ganzheitlich erfasst. Hierzu zählen
neben der Operation Atalanta auch die Mission EUCAP
NESTOR und die europäische Ausbildungsmission
EUTM Somalia.

Wir stimmen mit Blick auf Atalanta mit unseren Part-
nern in der EU in der Bewertung überein, dass die an-
haltend niedrige Bedrohung durch die Piraterie einen
Einstieg in den Ausstieg und eine schrittweise Reduzie-
rung der eingesetzten Kräfte ermöglicht. Gleichzeitig ist
die Operation fähig und muss fähig sein, bei einer sich
verschlechternden Sicherheitslage auch schnell wieder
aufzuwachsen.

Vor dem Hintergrund der strategischen Überprüfung,
aber auch im Hinblick auf das deutsche maritime En-
gagement in anderen Missionen und Operationen soll
deshalb die Beteiligung an der Operation Atalanta bis
zum 31. Mai 2017 mit einer reduzierten personellen
Obergrenze von 600 Soldatinnen und Soldaten fortge-
setzt werden. Das bedeutet, dass wir zum dritten Mal
in Folge die Obergrenze des einzusetzenden Personals
absenken. Das heißt, wir haben nicht nur Erfolge bei
der Bekämpfung der Piraterie erreicht, sondern reagie-
ren auch darauf. Wir bleiben nicht starr hinsichtlich der
Obergrenze, sondern reduzieren auch, wo es militärisch
und politisch verantwortbar ist. Gleichwohl sind wir in
der Lage, angemessen auf Lageveränderungen zu reagie-
ren. Damit können wir der EU einen verlässlichen deut-
schen Beitrag anzeigen.

Das Mandat beinhaltet wie bisher im Kern die Schutz-
leistungen für Schiffe im Auftrag der Mission AMISOM
und des Welternährungsprogramms sowie die Überwa-
chung der Seegebiete vor und an der Küste Somalias zur
Abwehr und zur Abschreckung seeräuberischer Hand-
lungen. Das Mandat sieht aber ausdrücklich auch die
Unterstützung für andere EU-Instrumente am Horn von
Afrika im Rahmen freier Kapazitäten vor. Damit kommt
die Einbindung der Operation Atalanta in den umfassen-
den Ansatz der EU am Horn von Afrika zum Ausdruck.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die durch uns zum
Einsatz gebrachten Fähigkeiten leisten einen wichtigen
Beitrag für die Zukunft der Menschen in Somalia und zur
Stabilisierung des Landes. Wir sind diesen Weg in den
letzten Jahren erfolgreich gegangen. Wir tun gut daran,
auf Erfolge, die erzielt worden sind, mit der Reduzierung
der Personalobergrenze zu reagieren. Wir tun aber auch
gut daran, diesen erfolgreichen Weg fortzusetzen. Das
haben die Soldatinnen und Soldaten verdient. Deshalb
bitte ich um die Unterstützung des Hauses.

Herzlichen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe






(A) (C)



(B) (D)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1816421700

Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten

Dr. Alexander Neu, Fraktion Die Linke, das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1816421800

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Die EU-Militärmission Atalanta begann
2008; sie läuft also nunmehr seit acht Jahren. Diese Mis-
sion ist ein weiteres Beispiel für nicht enden wollende
Militäroperationen. Ja, die Bundesregierung bemüht
sich, eine Transitionsstrategie in der EU durchzubrin-
gen, eine Exitperspektive für Atalanta aufzuzeigen. Das
läuft wahrscheinlich so wie in Afghanistan: Einstieg in
den Ausstieg, dann doch kein Ausstieg. Dann wird das
Personal wieder erhöht. – Ich würde sagen, dass sich hier
alter Wein in neuen Schläuchen andeutet. Es gibt nur ein
neues Etikett für das Weiter-so.

Jährlich hören wir dieselben Argumente für die Not-
wendigkeit der Verlängerung der Operation Atalanta.
Jährlich hören wir Hinweise auf die Wichtigkeit der deut-
schen Beteiligung an Atalanta. Und jährlich zahlen wir
alle, auch Sie auf der Besuchertribüne, 50 Millionen bis
60 Millionen für Atalanta. Mit Erfolg? Vordergründig ja,


(Zuruf von der SPD: Hört! Hört!)


mittel- und langfristig nein. Ja, die Zahl der Piratenüber-
fälle ist in den letzten Jahren auf null gesunken, und nein;
denn wenn Atalanta heute beendet würde, würde die Pi-
raterie morgen wieder losgehen, weil die wirklichen Ur-
sachen, das soziale Elend, nicht bekämpft werden.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Warum wird das soziale Elend nicht bekämpft? Wa-
rum geht man das nicht an? Warum baut man nicht
einen ehrlichen Staat jenseits von Polizei und militäri-
schen Maßnahmen auf? Warum findet keine ernsthafte
ökonomische Entwicklung Somalias jenseits neolibera-
ler Konzepte statt? Warum läuft der New Deal Compact
für Somalia so schleppend? Warum gibt es nicht mehr
Engagement Deutschlands und der EU jenseits des mi-
litärischen Engagements? Aber wenn Sie schon der Auf-
fassung sind, dass das Militär so wichtig ist, und fast aus-
schließlich darauf gesetzt wird, warum bekämpfen Sie
dann nicht die illegalen Fischfangflotten im somalischen
Hoheitsgebiet? Warum lassen Sie diesen Flotten, die das
Meer dort leerfischen, freien Lauf?


(Beifall bei der LINKEN)


Zur Klarstellung: Atalanta bekämpft Piraterie. Was ist
die Ursache der Piraterie? Die Ursache ist, dass interna-
tionale Fischfangflotten im somalischen Meer die Fisch-
bestände leergefischt haben und somit die Fischer keine
Lebensgrundlage mehr haben. Die logische Konsequenz
wäre, die Ursache, das heißt die illegale Fischerei dort,
zu bekämpfen.


(Beifall bei der LINKEN)


Aber Fehlanzeige. Atalanta bekämpft mitnichten die il-
legale Fischerei, sondern nur die zu Piraten mutierten
Fischer. Nicht die aktive Bekämpfung der illegalen Fi-

scherei ist Bestandteil des Mandates und des Operations-
plans, sondern nur das Sammeln und die Weitergabe von
Daten über Fischereiaktivitäten im Operationsgebiet. Die
Daten werden an die EU-Kommission und an die Verein-
ten Nationen weitergeleitet. Ich glaube, die internationa-
len Fischfangflotten sind massiv beeindruckt von so viel
Gegengewalt. Wahnsinn!

Aber warum ist der Unwille so groß, die illegale Fi-
scherei im somalischen Meer zu stoppen? Drückt die EU
etwa alle Augen zu, wenn es um die Profitmaximierung
auch europäischer Fischfangflotten geht? Die Vermutung
der Kumpanei liegt nahe. Ein Bericht der US-Stiftung
One Earth Future von 2015 mit dem Titel „Somalia: Il-
legale ausländische Fischerei bedroht die Bestände und
kann Piraterie neu entfachen“ stellt fest – ich zitiere aus
einer übersetzten Fassung –:

Ausländische Fischereiboote verursachen einen
Fischbestandsabbau, Einkommensverlust für So-
malis und Gewalt gegen die einheimischen Fischer.
Dieses Risiko verursacht lokale Unterstützung für
eine Rückkehr der Piraterie. Die Situation ist zu
dem, was es war, zurückgekehrt, mit einer großen
Anzahl von ausländischen Schiffen, die in somali-
schen Gewässern wieder raubfischen, und die Ge-
fahr ist real, dass der Zyklus der Piraterie wieder
auflebt.

Sehr geehrte Damen und Herren, halten wir fest: Ers-
tens kommt es wieder zu einer Zunahme der Raubfische-
rei mit faktischer Duldung von Atalanta und somit der
Europäer. Zweitens steigt die Gefahr erneuter Piraterie,
weil die Raubfischerei der Bevölkerung die Lebens-
grundlage nimmt, und drittens führt das vermutlich zur
Flucht derjenigen, die dort keine Lebensgrundlage mehr
haben, in die EU bzw. nach Deutschland.

Fazit: Atalanta bekämpft bestenfalls die Symptome
der Piraterie, aber nicht die Ursachen. Sie ist schlimms-
tenfalls eine Kumpanei mit den Raubfischern aus den
EU-Staaten.

Resultat: Nach acht Jahren EU-Mission gibt es keine
Veränderung zum Besseren für die Menschen in Soma-
lia. Nach acht Jahren deutscher Beteiligung sind rund
500 Millionen Euro der Steuerzahler verschwendet wor-
den, die sicherlich besser für den sozialen Wohnungsbau
oder die Vermeidung von Altersarmut investiert worden
wären. Sie werden für eine Mission verschwendet, die
keinen Erfolg zeitigt.

Das zeigt einmal mehr, warum militärische Maßnah-
men – besonders in Somalia – kontraproduktiv sind. Sie
können das erforderliche konkrete politische Handeln
nicht ersetzen. Militäreinsätze werden auf diese Weise zu
einem Selbstzweck degradiert.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(B) (D)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1816421900

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-

ordneten Josip Juratovic von der SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Josip Juratovic (SPD):
Rede ID: ID1816422000

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und

Herren! Kaum ein Land steht aus der europäischen Per-
spektive so sehr für das staatliche Scheitern wie Somalia.
Seit 25 Jahren beherrschen Bürgerkrieg und Konflikte
das Land am Horn von Afrika. Seitdem gibt es keine
funktionierende Regierung mehr, die das Land kontrol-
lieren könnte. Für die Menschen in Somalia fehlt es an
lebensnotwendiger Infrastruktur. Kinder brauchen Schu-
len. Es gibt nicht genug Krankenhäuser und zu wenige
Straßen. Doch der somalische Staat ist nach fast zwei-
einhalb Jahrzehnten Bürgerkrieg kaum handlungsfähig.
Vertreter der somalischen Verwaltung sagen offen, dass
sie nicht in der Lage sind, flächendeckend Steuern zu er-
heben, geschweige denn für Sicherheit zu sorgen.

Entsprechend schlecht steht es auch um die soma-
lische Politik. Das Mandat der aktuellen Regierung
endet im August. Voraussichtlich wird auch die Nach-
folgeregierung wiederholt eine international eingesetz-
te Übergangsregierung sein. Echte freie Wahlen sind
nicht in Sicht. Währenddessen regieren im somalischen
Alltag Korruption und Kriminalität. Bei all dem ist die
Sicherheitslage frappierend. Journalisten werden ver-
folgt. Terror findet statt und findet nicht ausreichend
Gegenwehr. Die europäisch-amerikanisch finanzierten
AMISOM-Truppen der Afrikanischen Union, die gegen
die islamistische al-Schabab-Miliz kämpfen, werden von
der somalischen Bevölkerung eher als Besatzer wahrge-
nommen. Gleichzeitig greift al-Schabab immer wieder
AMISOM-Truppen an und verursacht hohe Verluste. Die
Folge ist klar: Hundertausende fliehen.

Zur ganzen Wahrheit gehört zum Glück aber auch ein
Hoffnungsschimmer mit positiver Perspektive. Es war in
Somalia früher noch schlimmer und geht nun langsam
aufwärts. Immer mehr Somalier kehren zurück. Sie ver-
suchen ihr Glück in funktionierenden Wirtschaftsberei-
chen – sei es Telekommunikation oder Gastronomie –
und bauen ihr Land wieder auf. Ich habe einen Artikel
über Ahmed Jama, einen dieser Rückkehrer, gelesen.
Dieser Artikel macht Hoffnung:

Es gibt wieder Straßenbeleuchtung, es gibt über-
haupt Straßen, eine Müllabfuhr, Strom, Internet. Es
gibt Geschäftsstraßen, Telekommunikationskon-
zerne, eine Bank, und bald soll das erste Mal ein
somalisches Fußballspiel live im Fernsehen gezeigt
werden.

Auch die internationalen Akteure tragen dazu bei,
dass es vorwärtsgeht. Die Internationale Organisation
für Migration finanziert und leitet das Aussteigerpro-
gramm für al-Schabab-Mitglieder. Oft genug machen
junge Männer aus reiner wirtschaftlicher Verzweiflung
bei Terroristen mit. Sie kann man wieder für den fried-
lichen Weg gewinnen. Im nördlichen Teil Somalias, wo
al-Schabab nicht herrscht, ist die Situation besser als im

Süden. Hier kann man sich recht sicher bewegen, und das
kulturelle und soziale Leben entwickelt sich.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, zwar gibt es
Pflänzchen der Hoffnung, aber sie sind sehr zart und
zerbrechlich. Deswegen ist es noch immer notwendig,
im Zusammenhang mit Somalia über ausländische Un-
terstützung – auch in Form militärischer Einsätze – zu
sprechen. Deutschland – gemeinsam mit der Europä-
ischen Union – bemüht sich, im Rahmen der Mission
EUTM Somalia das somalische Militär durch Training
schlagkräftiger zu machen. Ebenso engagieren wir uns
in der zivilen Mission EUCAP NESTOR beim Aufbau
regionalen Wissens im Bereich der Sicherheit und des
Managements der Küstenregion. Leider gibt es dabei
Ernüchterung; denn der innere Zusammenhalt der natio-
nalen Armee ist schwach, die Kooperation mit den Nach-
barländern ebenso.

Dennoch ist für mich klar: Deutschland – in Gestalt
der Bundeswehr – soll sich am langen Weg der Ausbil-
dung und des Aufbaus beteiligen. Ausbildungsmissionen
für Militär, Polizei und Behörden im Land sind wichtige
und notwendige Unterstützung für Somalia. Aber genau-
so gilt: Solange Somalia nicht selbst für Sicherheit sor-
gen kann, solange die Gefahr der Piraterie nicht vorüber
ist, darf die Bundeswehr zur Sicherheit der Seewege vor
Somalias Küste beitragen. Im Rahmen der EU-Mission
Atalanta schützen europäische Soldatinnen und Soldaten
die Sicherheitsinteressen Somalias und die Sicherheitsin-
teressen Europas.

An dieser Stelle möchte ich allen ein Kompliment
aussprechen, die auf hoher See gegen Piraterie vorge-
hen. Seit 2015 gab es keine Piratenangriffe mehr. Für
alle noch einmal zur Erinnerung: 2011 waren es noch
237 Angriffe. Unser Dank gilt daher den Soldatinnen und
Soldaten für ihren erfolgreichen Einsatz.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Gleichzeitig sende ich meine besten Wünsche für die
kommende Mandatszeit an die Missionsleitung; denn
seit März steht die Mission Atalanta unter deutscher Füh-
rung.

Wenn wir über Somalia reden, müssen wir voraus-
schauend und umfassend denken und handeln. Es geht
gleichzeitig um langfristigen zivilen und militärischen
Aufbau und mittelfristig um die Herstellung und Wah-
rung der Sicherheit. Ohne Sicherheit ist Aufbau nicht
möglich. Wir engagieren uns einerseits in der Mission
EUTM Somalia und EUCAP NESTOR für den Aufbau,
und solange es notwendig ist, engagieren wir uns in der
Mission Atalanta auch direkt für die Sicherheit. Eben
weil die Mission erfolgreich handelt, können wir die ma-
ximale Truppenstärke für die nächsten zwölf Monate von
990 auf 600 Personen reduzieren.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Wohle der
Menschen Somalias und im Sinne der Sicherheit der in-
ternationalen Schifffahrt vor den Küsten Somalias werde
ich der Verlängerung der Mission Atalanta zustimmen.
Ich werbe dabei auch um Ihre Unterstützung.






(A) (C)



(B) (D)


Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1816422100

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-

ordneten Doris Wagner, Bündnis 90/Die Grünen.


Doris Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1816422200

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Was hat unser Engagement am Horn von
Afrika eigentlich gebracht? Dieser Frage ist die EU in
den letzten Monaten wirklich sehr intensiv nachgegan-
gen. Man muss sagen, dass die Bilanz eher ernüchternd
ist. Erstens hat sie festgestellt: Die Piraterie vor der Küste
von Somalia ist eben noch nicht endgültig bezwungen.
Zweitens sagt sie: Somalia braucht dringend viel mehr
internationale Unterstützung, um selbst für Sicherheit auf
See zu sorgen.

Das ist doch ein wirklich klarer Auftrag, noch inten-
siver hinzusehen und wirksamer zu helfen. Doch was tut
die Bundesregierung? Mit diesem Atalanta-Mandat sen-
det sie ein Signal des Rückzugs. Die Obergrenze für das
eingesetzte Personal wird um mehr als ein Drittel redu-
ziert, und auf EU-Ebene hat sich die Bundesregierung er-
folgreich dafür eingesetzt, die Mission in absehbarer Zeit
ganz zu beenden. Das politische Kalkül hinter diesem
Rückzug ist doch offensichtlich; denn was interessiert
die deutsche Öffentlichkeit schon das Horn von Afrika?


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Wollt ihr mehr?)


Viel beliebter macht sich die Bundesregierung natür-
lich damit, wenn sie die deutsche Marine zur Flüchtlings-
abwehr ins Mittelmeer schickt. Das mag innenpolitisch
tatsächlich Punkte bringen;


(Michael Brand [CDU/CSU]: Einmal zu viel, einmal zu wenig!)


aber außenpolitisch werden Sie damit Ihrer internationa-
len Verantwortung nicht gerecht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir alle wissen: Atalanta bekämpft lediglich die
Symptome des Problems, die Ursachen der Piraterie be-
kämpft sie nicht. Der somalische Staat steht nach wie vor
auf wackligen Beinen. Staatliche Strukturen existieren
oft nur auf dem Papier. Regierung, Verwaltung und Jus-
tiz haben einen großen Mangel an Personal, an Geld und
an technischer Ausstattung. Polizei und Armee sind im-
mer noch nicht in der Lage, terroristische Anschläge oder
gewaltsame Konflikte zu verhindern. Fast 5 Millionen
Menschen sind auf humanitäre Versorgung von außen
angewiesen.

Also: Es handelt sich um einen schwachen Rechts-
staat, gepaart mit großer Armut und wirtschaftlicher
Perspektivlosigkeit. Da braucht man wirklich keine Kris-
tallkugel, um vorherzusagen, dass die Piraterie wieder
auflebt, sobald das letzte EU-Marineschiff am Horizont
verschwunden ist. Dafür haben wir dann die Soldatinnen
und Soldaten der Bundeswehr jahrelang ans Horn von

Afrika geschickt? Meine Damen und Herren, eine sinn-
volle Außen- und Sicherheitspolitik sieht in meinen Au-
gen anders aus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Bevor wir unsere Schiffe abziehen, müssen wir es
doch schaffen, in Somalia eine nachhaltige wirtschaftli-
che Entwicklung in Gang zu bringen. Nur dann entziehen
wir der Piraterie wirklich den Boden, nur dann gibt es
auch eine stabile somalische Regierung. Den wichtigsten
Ansatzpunkt für eine solche wirtschaftliche Entwicklung
bietet doch das Meer. Deshalb müssen wir unser Engage-
ment vor der Küste Somalias doch eher verstärken.

Die Gelegenheit dazu bietet sich bereits seit vier Jah-
ren mit der zivilen Mission EUCAP NESTOR. Die Auf-
gabe von EUCAP NESTOR ist es, Somalia beim Auf-
bau einer wirksamen Küstenwache zu unterstützen. Eine
funktionierende Küstenwache ist für Somalia von enor-
mer Bedeutung, um vor allem gegen illegale Fischerei
vorzugehen – da teile ich Ihre Problemeinschätzung –,
denn drei Viertel aller Fische, die vor der somalischen
Küste gefangen werden, landen in Netzen ausländischer
Fischer ohne Lizenz. Die Fischbestände vor der Küste
sind durch Überfischung gefährdet. Das alles muss been-
det werden, wenn Somalia eine wirtschaftliche Zukunft
haben soll.

Somalia braucht also dringend eine wirksame Küs-
tenwache. Doch leider konnte EUCAP NESTOR dabei
bislang keine große Hilfe sein; denn die Mission leidet
unter einem eklatanten Mangel an Personal und Materi-
al, und daran trägt die Bundesregierung eine Mitschuld.
Berlin hat in den vergangenen vier Jahren gerade einmal
elf Fachleute in diese Mission entsandt. 137 Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeiter soll EUCAP NESTOR eigentlich
umfassen, aber lediglich 56 waren Ende 2015 tatsächlich
vor Ort. Die Finanzmittel für EUCAP NESTOR sind ge-
rade auch mit Zustimmung der Bundesregierung um bei-
nahe 30 Prozent zurückgefahren worden. Selbst für die
Boote, die die somalische Küstenwache wirklich drin-
gend benötigen würde, gibt die Bundesregierung aktu-
ell kein Geld – obwohl im Haushalt 100 Millionen Euro
für die Ertüchtigung von Partnerstaaten vorgesehen sind.
Gestopft wurden die Löcher bisher oft durch die Mission
Atalanta. Sie hat immer wieder Material und Übungs-
möglichkeiten zur Verfügung gestellt. Aber selbst dieser
Notnagel entfällt nun weitestgehend durch die Verkleine-
rung von Atalanta.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Nein!)


Ich habe den Eindruck: Ihre Somalia-Politik besteht
vor allem aus unerfüllten Versprechen. Auch mit Blick
auf die Ausbreitung des islamistischen Terrors im nörd-
lichen Afrika ist das in meinen Augen ein Riesenfehler.
Ein gescheiterter Staat wie Somalia lässt sich nicht in
wenigen Jahren wiederaufbauen. Deshalb appelliere ich
an die Bundesregierung: Lassen Sie Somalia bitte jetzt
nicht im Stich, und machen Sie endlich Ernst mit Ihrer
Unterstützung für die somalische Küstenwache!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Josip Juratovic






(A) (C)



(B) (D)


Die Auslandseinsätze der Bundeswehr haben ihr Ziel
bislang zu oft nicht erreicht – weil wir zu wenig Geduld
hatten und weil wir zu wenig in den zivilen Aufbau in-
vestiert haben. Es ist an der Zeit, endlich etwas aus die-
sen Fehlern zu lernen. Nur dann wird der Einsatz unserer
Soldatinnen und Soldaten am Horn von Afrika zum Er-
folg führen.

Herzlichen Dank. – Das war eine Punktlandung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Also stimmt ihr zu, oder?)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1816422300

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-

ordneten Thorsten Frei, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Thorsten Frei (CDU):
Rede ID: ID1816422400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In

der letzten Sitzungswoche haben wir die Mandatsverlän-
gerung zu EUTM Somalia beschlossen, und wir haben
auch in der Debatte umfangreich über die politischen und
die tatsächlichen Verhältnisse in Somalia und am Horn
von Afrika gesprochen. Ich glaube, die Quintessenz war
eine ganz ähnliche wie auch in der heutigen Sitzung,
nämlich dass die Bilanz auch nach Jahren internationa-
len Engagements in Somalia durchaus durchwachsen ist.
Al-Schabab ist immer noch stark. Natürlich führt die Per-
spektivlosigkeit im Land auch dazu, dass Terror genährt
wird und Wiederaufbau begrenzt wird.

Aber es ist auch so: Wenn es das internationale En-
gagement insbesondere der Afrikanischen Union in So-
malia nicht gegeben hätte und nicht geben würde, dann
wäre wahrscheinlich auch der Bürgerkrieg nicht beendet,
würde der Wiederaufbau nicht beginnen und hätte Soma-
lia keine Regierung.

Ich glaube, vor diesem Hintergrund – darauf sind ei-
nige Vorredner bereits eingegangen – darf man Atalanta
nicht isoliert betrachten, sondern man muss das in einen
größeren Zusammenhang rücken: gemeinsam mit der
EU-Trainingsmission Somalia und auch mit EUCAP
NESTOR, einer zivilen Mission. Alles miteinander ist
notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Wiederaufbau
Somalias gelingt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, es ist so,
dass die Verhältnisse in Somalia sehr schwierig sind.
Aber das Ziel von Atalanta, nämlich Piraterie zu be-
kämpfen und es zu ermöglichen, dass beispielsweise
humanitäre Hilfe nach Somalia kommt, dass die Schiffe
des World Food Programme auch tatsächlich die Küsten
Somalias erreichen, ist geschafft worden. Die Bilanz ist
eindeutig – Herr Staatssekretär, Sie haben es benannt –:
In den Jahren 2009 bis 2011 gab es in jedem Jahr über
150 Überfälle auf Schiffe und Geiselnahmen und seit
Mai 2012 keinen einzigen mehr.

Aber es ist auch das richtig, Frau Wagner, was Sie ge-
sagt haben: dass die kriminellen Strukturen an Land da-
durch nicht beseitigt sind. Deswegen ist es zwar richtig,
das Kräftedispositiv zu reduzieren; aber es ist auch rich-
tig, nicht Knall auf Fall aus dieser Mission auszusteigen,
weil dann das Problem, das wir bis 2012 gehabt haben,
sofort wieder da wäre. Ich glaube, es ist der richtige Weg,
den wir hier einschlagen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Aber lassen Sie mich an dieser Stelle eines sagen: Das
Ganze ist Teil eines Maßnahmenbündels – das ist das
Entscheidende –, und es ist nicht der teuerste Teil dieses
Maßnahmenbündels, sondern es sind umfangreiche zivi-
le Maßnahmen, die wir ergreifen, beispielsweise wenn es
darum geht, mit Stabilisierungsmaßnahmen eine bundes-
staatliche, eine föderale Ordnung in Somalia durchzuset-
zen, wenn es darum geht, wirtschaftliche Betätigung zu
ermöglichen, wenn es darum geht, humanitäre Hilfe zu
leisten und darüber hinaus eben auch langfristige struktu-
relle Entwicklungszusammenarbeit voranzutreiben. Das
ist genau das, was das Land braucht, nämlich wirtschaft-
liche Perspektiven für die Menschen, die dort leben.

Herr Neu, wenn Sie das vermeintliche Missverhält-
nis von militärischen Einsätzen und humanitärer Hil-
fe ansprechen, dann muss ich sagen: Ich glaube nicht,
dass das zutreffend ist. Schauen Sie sich beispielsweise
das in Kenia liegende größte Flüchtlingslager der Welt,
Dadaab, an, wo 350 000 Menschen, hauptsächlich So-
malier, leben. Die Bundesregierung hat die bilateralen
Mittel dafür von 6 auf 11 Millionen Euro nahezu verdop-
pelt. Die Mittel für das World Food Programme sind An-
fang des Jahres deutlich aufgestockt worden, damit man
verhindern kann, dass die Essensrationen um 30 Prozent
gekürzt werden müssen, weil das Geld für das World
Food Programme wieder gefehlt hat. Ich glaube, dass
es grundsätzlich der richtige Ansatz ist, der dort verfolgt
wird. Das ist eine humanitäre Verpflichtung, die wir ha-
ben. Es ist aber letztlich auch ein Gebot der Vernunft,
dass wir uns gemeinsam im europäischen Kontext hier
engagieren.

Als fünfter Redner ist es vielleicht möglich, den ei-
nen oder anderen Exkurs zu wagen. Es ist, glaube ich,
ganz entscheidend, dass wir alle Maßnahmen darauf aus-
richten, Somalia zu stabilisieren, das Land in eine gute
Ordnung zu bringen, wirtschaftliche Perspektiven zu
eröffnen, damit die Menschen vor Ort eine Chance ha-
ben, damit internationaler Terrorismus bekämpft und ihm
der Nährboden entzogen werden kann, aber auch, damit
Fluchtursachen unmittelbar vor Ort bekämpft werden
können. In diesem Zusammenhang warne ich davor, den
Blick derzeit nur auf den Nahen und Mittleren Osten und
die dortigen Kriegs- und Bürgerkriegsgebiete zu richten.
Wenn man sich nur drei Zahlen vergegenwärtigt, erkennt
man, dass Afrika für uns eine sehr viel größere Heraus-
forderung sein wird: Eine afrikanische Frau bekommt
im Durchschnitt sieben Kinder, im Jahr 2035 werden in
Afrika mehr junge Menschen in den Arbeitsmarkt drän-
gen als in der gesamten restlichen Welt, und im Jahr 2050
wird sich die Bevölkerung in Afrika auf etwa 2,5 Milli-

Doris Wagner






(A) (C)



(B) (D)


arden Menschen mehr als verdoppelt haben. Das sind die
Herausforderungen, denen wir uns gegenübersehen.

Schon heute ist der afrikanische Kontinent nicht in der
Lage, die Menschen zu ernähren, geschweige denn, ih-
nen echte Perspektiven zu bieten. Deshalb geht es darum,
mehr dafür zu tun, die Grundlagen für eine gute staatliche
Ordnung, für ein Mindestmaß an Achtung der Menschen-
rechte, der Rechtsstaatlichkeit zu setzen. Ich glaube, der
entscheidende Pfad ist, vor allen Dingen auf diejenigen
zu setzen, die vor Ort sind, auf die Afrikanische Union.
Deshalb müssen wir den Prozess zwischen Europäischer
und Afrikanischer Union wie beim letzten Gipfel in Mal-
ta fortsetzen. Deshalb müssen wir dafür sorgen und einen
Beitrag leisten, dass es ein nachhaltiges, ein inklusives
Wachstum gibt, so wie in der Zukunftsstrategie Agenda
2063 der Afrikanischen Union dargelegt. Da werden wir
Schritt für Schritt vorwärtskommen müssen. Nur so wer-
den die Probleme letztlich auch an der Wurzel gepackt
und bewältigt werden können. Ein Bestandteil davon ist
auch Atalanta.

Deshalb werbe ich dafür, dass wir in den Ausschuss-
beratungen die notwendigen Voraussetzungen dafür
schaffen, in der nächsten Sitzungswoche dieses Mandat
zu verlängern.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1816422500

Das Präsidium ist nicht eingeschritten, weil wir dach-

ten, der Redner kommt zum Schluss. Das machte er mit
jedem Satz, aber es ging immer weiter. Aber gut. Ich bitte
die anderen Redner, sich etwas zurückzuhalten. – Dirk
Vöpel von der SPD-Fraktion ist der nächste Redner.


(Beifall bei der SPD)



Dirk Vöpel (SPD):
Rede ID: ID1816422600

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! In Zeiten wie diesen sollten wir jede Gelegen-
heit nutzen, um auch wieder einmal über europäische
Erfolgsgeschichten zu reden. Der aktuelle Tagesord-
nungspunkt kommt da wie gerufen; denn die multinatio-
nale Marineoperation der Europäischen Union am Horn
von Afrika ist genau das: eine Erfolgsgeschichte und
ein, wenn nicht das Vorzeigeprojekt der Gemeinsamen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Es ist erst weni-
ge Jahre her, dass rund um die Küste des bürgerkriegs-
geschundenen Somalias, an einer der Hauptschlagadern
des Welthandels, das historisch längst überwunden ge-
glaubte Piratenunwesen wieder mit aller Macht auf-
flammte. Dachte man bei dem Wort „Piraten“ bis dahin
doch eher unwillkürlich an Johnny Depp, an inszenierte
Hollywood-Karibik, so änderte sich das an der Ostküste
Afrikas ab 2005 schnell und drastisch.

Schon der flüchtige Blick auf eine Karte, in der alle
registrierten Angriffe somalischer Piraten zwischen 2005
und 2010 nach Ort und Zeit erfasst sind, macht klar: Was
als küstennahes Phänomen mit Schwerpunkt im Golf
von Aden begann, entwickelte sich rasant zu einer Be-
drohung des gesamten Schiffsverkehrs in weiten Teilen

des Indischen Ozeans. Von Jahr zu Jahr wagten sich die
Piraten weiter aufs offene Meer hinaus. Heute, knapp
fünf Jahre später, stellt sich die Situation völlig anders
dar. Und das ist zu einem großen Teil auch Verdienst der
Operation Atalanta, der historisch ersten europäischen
Marinemission.

Meine Vorredner und Herr Staatssekretär Brauksiepe
haben bereits auf die Entwicklung der Zahlen hingewie-
sen. Ich erspare Ihnen und mir die Wiederholung.

Mit der Sicherung der Seewege von und nach Somalia
schafft die Operation Atalanta somit überhaupt erst eine
der zentralen Voraussetzungen für den Einsatz der nach-
haltigeren Instrumente des umfassenden Ansatzes der
EU zur Stabilisierung der politischen, wirtschaftlichen
und sozialen Verhältnisse in Somalia.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit der erstmaligen
Mandatierung der Operation im Dezember 2008 hat die
Deutsche Marine regelmäßig beträchtliche Kräfte und
Fähigkeiten für diese europäische Seemission abgestellt.
Mit dem Eintreffen der Fregatte „Bayern“ im Operati-
onsgebiet Ende März hat Deutschland jetzt zum dritten
Mal das Kommando der Task Force übernommen. In den
kommenden Monaten wird Flottillenadmiral Jan Kaack
von seinem Flaggschiff „Bayern“ aus den europäischen
Einsatzverband führen. Herr Admiral Kaack, Ihnen, Ih-
rem Stab und allen Angehörigen der Mission wünsche
ich ein gutes Gelingen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Kehren Sie beizeiten alle wohlbehalten nach Wilhelms-
haven zurück!

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Atalanta hat wesent-
lich dazu beigetragen, die Piraterie in den Gewässern am
Horn von Afrika einzudämmen und zurückzudrängen.
Die Symptome können auf See nicht bekämpft werden,
die tieferen Ursachen lassen sich nur an Land beseitigen.
Das erfordert mehr Ressourcen, aber es benötigt auch
mehr Zeit. Diese Zeit verschafft uns auch die Operation
Atalanta.

Admiral Kaack hat in einem Interview anlässlich der
Kommandoübernahme ein, wie ich finde, sehr treffendes
und anschauliches Lagebild formuliert, das ich zum Ab-
schluss gern zitieren möchte. Er sagte:

Was die Piraterie in diesem Seegebiet angeht, ver-
gleiche ich unseren Auftrag gern mit einem Druck-
verband, den man bei einer stark blutenden Wunde
anlegt. Übt man genug Druck aus, stoppt die Blu-
tung, lockert man zu früh, geht es wieder los.

Dem, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist aus meiner
Sicht nichts hinzuzufügen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Thorsten Frei






(A) (C)



(B) (D)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1816422700

Als letztem Redner der Aussprache erteile ich das

Wort dem Abgeordneten Dr. Reinhard Brandl, CDU/
CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Reinhard Brandl (CSU):
Rede ID: ID1816422800

Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich,

dass ich heute zu dem Einsatz Atalanta sprechen darf.
Ich darf meine kurzfristig erkrankte Kollegin Julia
Obermeier vertreten, der ich von dieser Stelle gute Bes-
serung wünschen möchte.


(Beifall)


Ich freue mich deswegen, weil ich mich noch gut an
die Zeit vor fünf Jahren erinnern kann, als wir im Ver-
teidigungsausschuss fast wöchentlich Berichte von ent-
führten Handelsschiffen, von entführten Schiffen des
Welternährungsprogramms bekamen, teilweise mit
schauerlichen Darstellungen, mit welcher Brutalität die
Piraten gegen die Besatzung vorgegangen sind. Horrende
Lösegeldzahlungen sind damals geflossen. In Deutsch-
land ist vor allem der Fall der „Hansa Stavanger“ aus
dem Jahr 2009 bekannt. 24 Seeleute befanden sich vier
Monate lang in Geiselhaft. Es wurden 2,5 Millionen Euro
Lösegeld gezahlt.

Das ist jetzt vorbei. Seit 2012 ist kein Schiff mehr er-
folgreich entführt worden. Seit 2014 hat es keinen Pira-
tenangriff mehr gegeben. Dass das so ist, dass der Golf
von Aden heute nicht mehr zu den gefährlichsten Gewäs-
sern der Welt gehört, ist ein Verdienst der EU-Mission
Atalanta.

Meine Damen und Herren, ich habe nicht gedacht,
dass ich dem Kollegen Neu von den Linken auch ein-
mal zustimmen würde. In einem Punkt aber hat er Recht.
Wenn Atalanta heute gestoppt würde, dann wäre die Pi-
raterie sofort wieder am Laufen. Deswegen ist es wich-
tig und richtig, dass die Erfolgsgeschichte von Atalanta
fortgesetzt wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Atalanta bringt Sicherheit in den Golf von Aden, sichert
Schiffe des Welternährungsprogramms und sichert Han-
delsschiffe. Etwa 20 000 Handelsschiffe durchqueren je-
des Jahr dieses Seegebiet.

Unsere deutschen Soldatinnen und Soldaten werden
bei diesem Einsatz gebraucht. Gestatten Sie mir – ich bin
Mitglied im Freundeskreis der Fregatte „Bayern“; dieses
Schiff hat im Moment die Führungsrolle inne –, dass ich
den Soldatinnen und Soldaten auf der Fregatte von dieser
Stelle aus einen herzlichen Dank und Anerkennung für
die Erfüllung eines anstrengenden und anspruchsvollen
Auftrags dort unten sende.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Es sind aber nicht nur die Soldaten auf der Fregatte
„Bayern“, die im Moment gefordert sind. Wir erleben
momentan, dass die Marine an allen Ecken und Enden
gefordert ist. Ich habe gerade einmal nachgezählt: Allein
in den letzten elf Monaten sind drei neue Aufgaben für

die Marine hinzugekommen. Dabei handelt es sich zum
einen um EUNAVFOR MED, zum anderen um den mari-
timen Anteil bei der Anti-IS-Mission. Drittens geht es um
den NATO-Einsatz in der Ägäis.

Deswegen ist es nicht nur militärisch richtig, sondern
schafft auch Entlastung für die Marine, wenn wir im
Rahmen der Befassung mit diesem Thema heute und in
den kommenden Wochen die Mandatsobergrenze für die
EU-Mission Atalanta weiter reduzieren können. Aber wir
können den Einsatz nicht ganz einstellen. Deutschland
hat auf EU-Ebene jetzt zwar angeregt, eine Strategie zu
erarbeiten, wie Atalanta beendet werden kann, im Mo-
ment aber müssen wir sagen, dass wir noch auf diesen
Einsatz angewiesen sind.

Der Einsatz ist – das behauptet auch niemand – auch
keine Lösung für das Problem in Somalia. Somalia
braucht einen vernetzten Ansatz. Auf der einen Seite
muss es in diesem Land stabile rechtsstaatliche Struk-
turen und funktionierende Sicherheitskräfte sowohl auf
See als auch auf dem Land geben. Wir unterstützen So-
malia auf diesem Weg durch die Mission EUTM Soma-
lia. EUCAP NESTOR ist ja von den Kollegen schon an-
gesprochen worden.

Auf der anderen Seite brauchen die Menschen in So-
malia humanitäre Hilfe, denn vielfach treibt sie die Armut
in die Kriminalität. Deswegen unterstützt Deutschland
Somalia jährlich mit 95 Millionen Euro Entwicklungs-
hilfe. Wir wollen diesen Anteil in Zukunft weiter stei-
gern. Damit dieses Geld aber wirkt, braucht es ein siche-
res Umfeld, in dem es auch investiert bzw. ausgegeben
werden kann. Da schließt sich der Kreis. Deswegen ist
es wichtig, dass die EU-Mission Atalanta noch weiter
fortgeführt wird. Sie ist nicht die Lösung, aber sie ist ein
Stabilitätsfaktor in einem unruhigen Gebiet wie Somalia.

Deshalb, meine Damen und Herren, werden meine
Fraktion und ich diesem Einsatz zustimmen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1816422900

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/8091 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Frank Tempel, Ulla Jelpke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Netzneutralität im Rahmen der Vorgaben der
EU-Verordnung gesetzlich absichern

Drucksache 18/6876
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f)

Ausschuss Digitale Agenda (f)

Innenausschuss






(A) (C)



(B) (D)


Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Federführung strittig

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre hierzu
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Abgeordnete Halina Wawzyniak, Fraktion Die Linke,
das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Halina Wawzyniak (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1816423000

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Es steht nicht gut um die Netzneutralität in Eu-
ropa – dies ist die weit verbreitete Meinung, nachdem
im Oktober letzten Jahres das Europäische Parlament
den Kompromiss zur Telekommunikationsbinnenmarkt-
verordnung billigte. Sie erlaubt Telekommunikationsun-
ternehmen, bestimmte Angebote vom Prinzip der Netz-
neutralität auszunehmen und sie als priorisierte Dienste
auf Überholspuren auszulagern. Die Verordnung enthält
neben Unbestimmtheiten und Auslassungen allerdings
auch Bestimmungen, die ein solches Szenario, nämlich
das eines Zweiklasseninternets, ausschließen könnten.
Dementsprechend beginnt jetzt der Kampf um die Deu-
tungshoheit hinsichtlich der Verordnung.

Einen regelrechten Salto mit halber Schraube legte
die Telekom kürzlich hin, die ihre Spotify-Flatrate mit
Verweis auf die Netzneutralität einschränkte. Damit Sie
mich jetzt richtig verstehen: Das heißt nicht, dass die Te-
lekom dieses Zero-Rating-Angebot plötzlich abschafft.
Nein, die Kunden dürfen weiter dafür bezahlen, dass die
Nutzung des Musikstreamingdienstes nicht auf das Da-
tenvolumen angerechnet wird. Sollte das Datenvolumen
aber trotzdem wegen anderer Nutzungen aufgebraucht
sein, wird nun auch die Spotify-Nutzung gedrosselt. Die
Telekom schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe: Sie kann
noch mehr Geld von ihren Kunden kassieren, weil sie
noch mehr Datenvolumen brauchen, und sie kann gleich-
zeitig bei ihren Kunden Stimmung gegen die Netzneutra-
lität machen. Ich für meinen Teil kann da nur sagen, dass
mir bei dieser einseitigen Auslegung der Netzneutralität
die Spucke wegbleibt.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir müssen also dringend über die Umsetzung der
EU-Verordnung reden, damit solche einseitigen Ausle-
gungen nicht mehr stattfinden können. Die Linke hat jetzt
einen Vorschlag vorgelegt, wie man trotz der EU-Verord-
nung ein Zweiklasseninternet verhindern kann. Bisher ist
geplant, dass die Bundesnetzagentur gemeinsam mit den
anderen Regulierungsbehörden Richtlinien zur Umset-
zung der Verordnung aufstellt. Das reicht uns nicht aus.
Die Einhaltung der Netzneutralität ist die wesentliche
Grundlage des Internets,


(Beifall bei der LINKEN)


und die Festigung dieser Grundlage kann nicht ausgela-
gert werden. Das muss der Gesetzgeber selbst machen.
Dies entspricht aus unserer Sicht der sogenannten We-
sentlichkeitstheorie, nach der der Gesetzgeber die we-
sentlichen Sachen selbst regeln soll.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir wollen, dass zweiseitige Märkte und Zero-Ra-
ting-Angebote untersagt werden. Zweiseitige Märkte
bedeuten, dass Zugangsanbieter wie zum Beispiel die
Telekom nicht nur Geld für den Internetanschluss neh-
men, sondern auch zusätzlich Geld für die Nutzung: Wer
schneller durchgeleitet werden will, muss mehr zahlen.
Dabei handelt es sich um eine Priorisierung, die nur auf
kommerziellen Erwägungen beruht. Das ist ausschließ-
lich eine Einnahmequelle für die Internetanbieter. Ver-
kehrsmanagement aus kommerziellen Gründen ist nun
aber nach Artikel 3 Absatz 3 der Verordnung nicht er-
laubt.


(Beifall des Abg. Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE])


Gleiches gilt für Zero-Rating-Angebote wie die schon
erwähnte Spotify-Flatrate. Auch sie beruht auf einem
kommerziellen Verkehrsmanagement, und auch das wäre
nach der EU-Verordnung nicht erlaubt. Wenn wir also
die EU-Verordnung entsprechend ihrer eigentlichen Re-
gelungen auslegen würden und der deutsche Gesetzgeber
es auch entsprechend unseres Antrages so regeln wür-
de, dann gäbe es keine zweiseitigen Märkte und keine
Zero-Rating-Angebote.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie sehen: Es steht nur dann schlecht um die Netzneu-
tralität, wenn wir nicht selbst aktiv werden. Es gibt die
Möglichkeit, das neutrale Netz zu sichern. Wir müssen
es gemeinsam nur wollen. Denn ein neutrales Netz ist ein
Internet für alle, und ein Internet für alle bedeutet letzt-
endlich Demokratie für alle.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1816423100

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege

Andreas Lämmel, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Andreas G. Lämmel (CDU):
Rede ID: ID1816423200

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Zunächst: Der Antrag der Linken ist keine neue
Erfindung, sondern die grüne Fraktion hat schon etwas
eher einen ähnlichen Antrag auf den Weg gebracht.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Nein! Nicht mit der EU-Verordnung! – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gut, dass Sie es ansprechen! Ich hätte es nicht gewagt!)


Insofern sind die Inhalte durchaus ähnlich, meine Damen
und Herren.

Vizepräsident Peter Hintze






(A) (C)



(B) (D)


Man muss erst einmal deutlich sagen – auch als Ge-
genargumentation zu Ihrem Antrag –, dass wir es für eine
große Leistung halten, dass die Europäische Kommission
und das Europäische Parlament nun endlich eine euro-
paweite Verordnung zur Netzneutralität, also die Ver-
ordnung zum TK-Binnenmarkt, auf den Weg gebracht
haben; denn wir haben auf diesem Gebiet erstmals eine
einheitliche europäische Regelung, und genau das ist ja
das Ziel unser aller Bemühungen. Deswegen kann ich
nur sagen: Wenn wir als nationaler Gesetzgeber anfan-
gen, die Verordnung, die sowieso gilt, wieder in Gesetze
umzusetzen, dann machen wir eine Rolle rückwärts und
fangen wieder an, den Markt zu segmentieren.


(Jens Koeppen [CDU/CSU]: Genau!)


So sind wir froh, dass wir endlich eine Regelung auf eu-
ropäischer Ebene geschaffen haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Es ist also schon vom Grundansatz her eigentlich wider-
sinnig, was Sie in Ihrem Antrag fordern. Außerdem ha-
ben wir im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und
SPD das Thema Netzneutralität schon verankert. In der
Verordnung zum TK-Binnenmarkt wurde das Thema aus
unserer Sicht gut umgesetzt.

Wer sich über die Jahre hinweg an der Diskussion be-
teiligt hat, weiß, dass das Thema Netzneutralität ein sehr
dynamisches Thema ist. Wir wissen: Wenn der sich am
Horizont abzeichnende neue 5G-Standard im Bereich der
mobilen Telekommunikation Einzug hält, dann wird das
Thema Netzneutralität nicht mehr die Rolle spielen wie
beim 4G-Standard, den wir derzeit noch haben. Deswe-
gen ist klar: Die Netzneutralität ist derzeit noch notwen-
dig, aber in Zukunft wird genügend Bandbreite zur Ver-
fügung stehen, sodass es überhaupt nicht nötig sein wird,
das Thema Netzneutralität in einem solchen Rahmen zu
diskutieren.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schön wär’s!)


– Ich lade Sie ein. Wir können gerne das 5G Lab in Dres-
den besuchen, um einen Eindruck davon zu gewinnen,
was der neue Standard bringen wird, und um zu erfahren,
wie die Bandbreiten dann abgebildet werden können.

In der Gesamtkonstellation ist es richtig, dass die Bun-
desnetzagentur für Deutschland die Aufgabe übernimmt,
die Umsetzung der europäischen Regelungen zu überwa-
chen. Wir wollen doch, dass die entsprechende Verord-
nung in allen europäischen Ländern so umgesetzt wird,
wie sie gedacht ist.

Die Aufgabe der Spezialdienste ist in der Verordnung
ganz klar geregelt. Deswegen kann ich die Diskussion
darüber nicht nachvollziehen; denn Spezialdienste dürfen
nur angeboten werden, wenn das entsprechende Angebot
notwendig ist. Spezialdienste dürfen kein Ersatz für offe-
nes Internet sein; das ist ja genau das, was wir alle hier in
diesem Hohen Hause gemeinsam fordern. Spezialdienste
dürfen nur bei ausreichenden Netzkapazitäten erbracht
werden; auch das ist ein sehr wichtiger Punkt. Dort, wo
Bandbreiten nicht ausreichend zur Verfügung stehen,

werden auch keine Spezialdienste angeboten werden
können. Auch noch wichtig ist: Spezialdienste dürfen die
gesamte Qualität des Internets nicht beeinträchtigen.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Kommerzielle Erwägungen lassen Sie weg! Welch ein Zufall!)


Hier sind von europäischer Ebene aus entsprechende Si-
cherungen eingebaut worden, so dass man sagen kann:
Das Internet für alle – und das ist das, was wir alle wol-
len – ist damit abgesichert.


(Beifall des Abg. Jens Koeppen [CDU/CSU])


Auf der anderen Seite brauchen wir diese Spezial-
dienste; das wissen Sie selbst sehr genau.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ach! Das glaubt doch kein Mensch!)


Zu den Spezialdiensten gehören zum Beispiel lebens-
rettende Dienste, das können telemedizinische Dienste
sein. Das sind auch Dienste, die möglicherweise für die
gesamte Steuerung des Straßenverkehrs notwendig sind.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das lassen Sie über das Internet laufen? Viel Spaß!)


Insofern stehen wir zu den Spezialdiensten. Spezial-
dienste werden natürlich auch nicht zum gleichen Preis
angeboten – das ist ganz klar –, aber die Voraussetzungen
für die Nutzung sind klar definiert.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Eben nicht!)


Es ist jetzt ganz klar die Aufgabe der Bundesnetz-
agentur, die Umsetzung der Regelungen in Deutschland
zu überwachen. Ich kann nur sagen: Wir sind bei diesem
Thema auf einem guten Weg. Ich hoffe, dass der dynami-
sche Prozess hin zum nächsten Standard auch auf euro-
päischer Ebene weiter verfolgt wird.

Wir werden Ihren Antrag ablehnen müssen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Klaus Barthel [SPD])



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1816423300

Vielen Dank. – Jetzt hat der Kollege Dr. Konstantin

von Notz, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man kann es gar nicht
oft genug sagen, und an dieser Stelle wurde es auch
schon gesagt: Die Netzneutralität ist eine, vielleicht so-
gar die Schlüsselfrage der digitalen Welt, über die wir aus
gutem Grund seit vielen Jahren im Hohen Haus diskutie-
ren. Deswegen bin ich erst einmal grundsätzlich für den
Antrag der Linken dankbar.

Vielleicht sollte man es den Zuschauerinnen und Zu-
schauern auf der Tribüne noch einmal sagen, weil Netz-

Andreas G. Lämmel






(A) (C)



(B) (D)


neutralität ein etwas sperriger Begriff ist: Im Kern geht
es um die Frage, ob wir alle gleichberechtigt ins Internet
kommen oder ob es vom Portemonnaie abhängt, ob und
wie man ins Internet kommt.


(Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Das ist ja gerade falsch!)


– Das ist genau der Punkt. Herr Lämmel, immer wieder
wurde deswegen von Ihnen versprochen, die Netzneu-
tralität gesetzlich abzusichern. Der bisherige Laisser-
faire- Ansatz von Schwarz-Gelb war längst gescheitert.
International hatte man das erkannt. Aus diesem Grund
hat Präsident Obama sich persönlich für eine effektive
gesetzliche Regelung eingesetzt. Und obwohl wir Sie
in den letzten Jahren immer wieder mit etlichen Initia-
tiven aufgefordert haben, die Netzneutralität effektiv
abzusichern, obwohl die SPD noch vor kurzem, als sie
in der Opposition war, entsprechende Anträge vorgelegt
hat, die Netzneutralität gesetzlich abzusichern, und ob-
wohl in Ihrem gemeinsamen Koalitionsvertrag drinsteht:
„Netzneutralität sichern wir“, haben Sie eben genau das
leider nicht getan, und das ist angesichts der Bedeutung
der Netzneutralität für Demokratie und Innovation ein-
fach viel zu wenig, meine Damen und Herren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie haben keine nationale Regelung vorgelegt und
haben zugesehen, wie ein schlechter Kompromiss auf
EU-Ebene verhandelt wurde. Er ermöglicht die Einfüh-
rung von „Diensteklassen“ und Special Services und
schließt auch hochumstrittene Praktiken wie das Zero
Rating oder Surf-only-Verträge eben nicht aus.


(Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Das müssen Sie mal erklären!)


Die SPD-Berichterstatterin sagte, der Kompromiss
öffne dem Ausverkauf der Netzneutralität Tür und Tor,
und recht hat die Frau. Sie haben grundlegende Prinzipi-
en des Internets und wichtige Verbraucherrechte für die
ohnehin schon megamächtigen TK-Anbieter aufgegeben
und so einen entscheidenden Beitrag geleistet, damit der
Abstand zwischen den marktmächtigen Anbietern und
europäischen Start-ups noch größer wird. Das schädigt
Start-up-Unternehmen in Europa. Erstere, die mächtigen
Anbieter, werden sich über Lizenzmodelle und Zero-Ra-
ting-Verträge freikaufen. Alle anderen, unzählige kleine
deutsche und europäische Unternehmen, trifft diese Fehl-
entscheidung von Ihnen unglaublich hart.

Was man in netzpolitischen Kongressen, Agenden
und Gipfeln mühsam versucht, vorn hochzupuzzeln, das
reißen Sie hinten wieder ein. Marktkonzentration leistet
man Vorschub. Das ist ein Themenfeld, um das sich jetzt
neuerdings auch das BMWi kümmern will – endlich,
muss man sagen. So wird das aber leider nichts, meine
Damen und Herren.

Wir haben immer gewarnt, nicht abzuwarten, bis das
Kind im Brunnen liegt. Nun liegt es da, und nun veran-
staltet man Workshops, um auf nationaler Ebene noch
irgendwie sicherzustellen, dass man den EU-Vorgaben
gerecht wird und dass die Auswirkungen auf die Innova-
tionsfähigkeit des Netzes und die Verbraucher irgendwie

überschaubar bleiben. Die nationalen Behörden sollen
bis zum August in einem Soft-Law-Verfahren konkrete
Vorschläge hierzu erarbeiten, die dann über den Zusam-
menschluss der EU-Regulierungsbehörden an die Kom-
mission weitergeleitet werden. Ob die Kommission dann
diese Vorschläge aufnimmt, ist eine spannende, aber völ-
lig offene Frage.

Herr Lämmel, deutlich wird durch dieses ganze Vor-
gehen, dass nichts gut ist. Es zeigt: Eine überfällige na-
tionale Regelung über Jahre zu verweigern, zuzusehen,
wie ein schlechter Kompromiss auf EU-Ebene verhan-
delt wird, der Missbrauch Tür und Tor öffnet, um dann
zu hoffen, dass die Verbesserungen angenommen wer-
den, all dies ist nicht nur mühsam, es wäre auch gänzlich
überflüssig gewesen, wenn man die seit Jahren vorlie-
genden Vorschläge einer effektiven gesetzlichen Rege-
lung auf nationaler Ebene aufgegriffen hätte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])


Bedanken möchte ich mich an dieser Stelle explizit
bei allen NGOs und Vertretern der Zivilgesellschaft, die
jetzt darum kämpfen, dass das Kind aus dem Brunnen he-
rauskommt. Sie alle arbeiten hart, wo Sie leider versagt
haben. Ich sage Ihnen: Wenn es hier nicht gelingt, die
Netzneutralität abzusichern und angesichts des schlech-
ten Beschlusses, den es jetzt gibt, zurückzuerkämpfen,
dann wird das eine weitere Kerbe im netzpolitischen Ver-
sagen dieser Bundesregierung sein.

Ganz herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1816423400

Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der

Kollege Klaus Barthel.


(Beifall bei der SPD)



Klaus Barthel (SPD):
Rede ID: ID1816423500

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und

Herren! Das war ja wieder einmal starker Tobak. Man
wird sehen, dass man das nicht so rauchen darf, wie Sie
das hier verkündet haben.


(Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Musste mal gesagt werden! – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dafür haben Sie jetzt sieben Minuten! Das ist doch eine gute Sache!)


In zweieinhalb Wochen, am 30. April 2016, tritt die
genannte EU-Verordnung zur Netzneutralität in Kraft.
Ich will die Kernpunkte dieser Verordnung kurz zitieren,
weil das hier etwas schräg dargestellt wurde.

Erstens. Der freie Zugang zu Inhalten im Internet wird
grundsätzlich nicht blockiert oder gedrosselt. Ein bevor-
zugter Zugang gegen Bezahlung wird verboten.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Haben Sie lange vergessen, zu sagen!)


Dr. Konstantin von Notz






(A) (C)



(B) (D)


Zweitens. Die Zugangsanbieter behandeln den gesam-
ten Datenverkehr gleich. Sie dürfen nur eingreifen, so-
weit dies zur Aufrechterhaltung eines effizienten Daten-
verkehrs erforderlich ist oder im öffentlichen Interesse
liegt, zum Beispiel bei der Netzsicherheit.

Drittens. Die Zugangsanbieter dürfen spezielle Diens-
te höherer Qualität wie zum Beispiel Internetfernsehen
oder neue Anwendungen anbieten, solange dadurch die
Qualität des offenen Internets nicht beeinträchtigt wird.

Viertens. Sie unterliegen gegenüber ihren Nutzern be-
sonderen Informationspflichten über die Gewährleistung
des offenen Internets.

Fünftens. Die Mitgliedstaaten überwachen – das macht
in Deutschland die Bundesnetzagentur – die Einhaltung
dieser Bestimmungen und berichten der Kommission.

Im Übrigen erlassen die Mitgliedstaaten wirksame
Sanktionen. Die Bundesregierung wird eine Erweiterung
des TKG mit entsprechenden Sanktionen jetzt vorberei-
ten und in den Bundestag einbringen.

Das heißt, in Wirklichkeit sind der Antrag der Links-
fraktion und das, was Herr von Notz hier vorgetragen hat,
in der Sache erledigt.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eben nicht!)


Es gibt auch keinen Streit über die Zielsetzung Netzneu-
tralität.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sieht die Berichterstatterin anders!)


Herr Lämmel hat mit Recht darauf hingewiesen, dass das
im Koalitionsvertrag steht.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da steht es gut!)


Die EU-Verordnung setzt das in unseren Augen weitest-
gehend um.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ja, „weitestgehend“! Das ist der Punkt!)


Das ist weltweit eine der am weitesten gehenden Rege-
lungen.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nee, nee, nee!)


Was auch richtig und wichtig ist: Es macht überhaupt
keinen Sinn, durch nationale Sonderregelungen daran
herumzubasteln.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber hallo!)


Das würde nur zu neuer Rechtsunsicherheit und zu einer
Zersplitterung der Märkte führen, und wir wissen, dass
der Telekommunikationsmarkt kein nationaler Markt ist,
sondern ein globaler Markt, auf jeden Fall ein europäi-
scher.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir wollen uns gar nicht hierhinstellen und sagen,
dass missbräuchliche Geschäfte damit von vornherein
ausgeschlossen sind. Es ist jetzt Aufgabe der Regulie-
rungsbehörden, die Angebote – Sie haben ein Angebot
der Telekom angesprochen – zu überprüfen. Es ist ihre
Aufgabe, das zu überwachen und im Zweifelsfall, wenn
man sagt, dass das Missbrauch ist, Maßnahmen dagegen
einzuleiten.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1816423600

Herr Kollege Barthel, darf ich Sie unterbrechen? – Ge-

statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Wawzyniak?


Klaus Barthel (SPD):
Rede ID: ID1816423700

Wenn es zur Erhellung beiträgt, gern.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1816423800

Bitte schön.


Halina Wawzyniak (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1816423900

Sie haben gerade gesagt, dass es um eine nationale

Sonderregelung geht. Mit diesem Antrag schlagen wir
vor, zu sagen, dass die Verordnung der EU gewisse, nicht
ganz genaue Formulierungen enthält. Deswegen soll sich
nach dem bisherigen Vorschlag ja auch die Bundesnetz-
agentur mit den anderen Regulierungsbehörden zusam-
mensetzen. Die sollen also im weitesten Sinne eine Aus-
legung der Verordnung vornehmen.

Wir sagen: Die Netzneutralität ist so wichtig, ein so
integraler Bestandteil eines freien Internets, dass nach
der Wesentlichkeitstheorie, nach der der Gesetzgeber die
wesentlichen Grundsatzentscheidungen zu treffen hat,
der Gesetzgeber an dieser Stelle die Rolle der Bundes-
netzagentur zu übernehmen hat. Was ist dabei das Pro-
blem?


Klaus Barthel (SPD):
Rede ID: ID1816424000

Der Gesetzgeber ist nach unserem derzeitigen Rechts-

system in diesem Fall die Europäische Union – das haben
wir dargestellt –, und die hat diese Richtlinie erlassen.
Jetzt ist es Aufgabe von Behörden, wie es in anderen
Fällen die Aufgabe von Gerichten ist, die entsprechen-
den Bestimmungen umzusetzen und durchzusetzen. Wie
gesagt, bezüglich der Sanktionen wird es eine Erweite-
rung des TKG geben, und die Bundesnetzagentur wird
das überwachen und auslegen.

Folgendes muss hier einmal dargestellt werden: Am
12. Februar fand ein öffentlicher Workshop der BNetzA
statt, bei dem alle Beteiligten angehört wurden. Dann
wurden weitere Stellungnahmen angefordert. Sie wurden
jetzt am 24. März veröffentlicht. Das alles ist transparent
und nachvollziehbar.

Daran hätten übrigens auch alle, die sich hier ver-
kämpfen, teilnehmen und sich dort einbringen können.
Es ist immer sehr wohlfeil, sich hier in den Bundestag zu
stellen und groß von Demokratie, Netzneutralität und ein
paar anderen Schlagworten zu reden; aber dann, wenn
es darum geht, sich wirklich um das Kleingedruckte und
um die Umsetzung – das fordern Sie ja – zu kümmern,

Klaus Barthel






(A) (C)



(B) (D)


ist man im Zweifelsfall nicht da. Da muss man Rede
und Antwort stehen und genau über die Auslegung die-
ser europäischen Richtlinie streiten und diskutieren. Der
Bundesnetzagentur wird das Ergebnis für den nächsten
Schritt auf den Weg gegeben. Wir haben am vergange-
nen Montag im Beirat darüber diskutiert und anberaten,
dass Anfang Juni der nächste Schritt für den Entwurf ist,
den die Bundesnetzagentur an die europäische Regulie-
rergemeinschaft schickt. Dieser wird dann auch wieder
öffentlich zur Kommentierung gestellt. Ende August soll
dann die BEREC, also die Arbeitsgemeinschaft der euro-
päischen Regulierer, praktisch eine Auslegung erarbeiten
und beschließen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Andreas G. Lämmel [CDU/CSU])


Dabei ging es im Wesentlichen um drei Themen, näm-
lich um genau die Themen, über die hier diskutiert wird.
Es ging also um die Fragen: Was ist das Verhältnis von
Netzneutralität und Vertragsfreiheit? Wie ist es mit dem
Verkehrsmanagement? Wie ist das mit den Spezialdiens-
ten? Man muss sich dann die Mühe machen, das einzeln
durchzudiskutieren. Jede und jeder kann mitmachen,
auch alle Bürgerinnen und Bürger und Verbände, die sich
einmischen wollen. Am 4. Juli wird sich der Beirat bei
der Bundesnetzagentur noch einmal damit befassen. Wie
gesagt, es wird dann diese Leitlinien geben.

Das ist aber nicht das Ende der Geschichte, sondern
es geht dann weiter. Die Regulierer, die nationalen Re-
gulierer und dann wieder die BEREC, werden der Kom-
mission jährlich berichten, wie es um die Netzneutralität
steht, ob die Vorgaben eingehalten werden oder nicht und
was man im Zweifelsfall korrigieren muss. Das heißt, es
geschieht nicht das, was Sie hier jetzt befürchten. Es wird
kontrolliert und jährlich berichtet, und es gibt einen Re-
view.

Das heißt also, Ihr Antrag ist in großen Teilen sowie-
so erfüllt, in Teilen überholt und in Teilen, nämlich da,
wo es um eine Gesetzgebung geht oder zum Beispiel um
so etwas Seltsames wie eine 5-Prozent-Höchstquote für
Spezialdienste, abzulehnen; denn das bringt uns über-
haupt nicht weiter.

Eines muss man schon noch sagen. Herr von Notz,
wenn Sie sagen, die Schlüsselfrage sei jetzt die Netz-
neutralität, muss ich sagen: Ich glaube, das ist es gerade
nicht. Vielmehr geht es um die Verwaltung eines Man-
gels, nämlich um die Verwaltung von zu wenig Netzka-
pazität. Netzneutralität und die Gleichbehandlung von
Diensten stellen sich bei einem Anschluss mit 124 kB/s
und einem Anschluss mit Glasfaser und 50 MBit/s oder
100 MBit/s – das streben wir an – ganz anders dar. Des-
wegen sind die Kapazitäten die Schlüsselfrage. Es geht
darum, das, was die Verbraucherinnen und Verbraucher
in Anspruch nehmen können, zu erhöhen. Bei einer tau-
sendfachen Kapazität, von der wir bei Glasfaser reden,
stellt sich die Frage der Neutralität doch ganz anders als
jetzt, wo wir hier nur den Mangel verwalten.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Leider nicht!)


Ich glaube, deswegen sollten wir das noch einmal
geraderücken und hier nicht immer in großen Wolken
reden. Wir sollten schauen, wie wir diese Verordnung
jetzt sinnvoll umsetzen und wie wir zu einem möglichst
schnellen Ausbau der Infrastruktur kommen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1816424100

Vielen Dank. – Für heute hat jetzt abschließend

zu diesem Tagesordnungspunkt der Kollege Thomas
Jarzombek, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Thomas Jarzombek (CDU):
Rede ID: ID1816424200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist

nicht das erste Mal, dass wir heute im Deutschen Bun-
destag über Netzneutralität reden.


(Klaus Barthel [SPD]: In der Tat!)


Ich glaube, wir alle sind uns einig, dass die Netzneutra-
lität ein hohes Gut ist. Denn sie ist der Innovationsmotor
des Internets. Man bekommt eben nicht nur ein paar Ap-
plikationen, die der eigene Provider entwickelt hat und
von denen er glaubt, dass sie das Beste für den Kunden
sind, sondern jeder, der im Internet ist, kann Anwendun-
gen, Innovationen entwickeln, die allen über alle Kanäle
zur Verfügung stehen. Das ist ein absolut wesentliches
Prinzip.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist das!)


Daran darf man nicht rütteln.

Der entscheidende Punkt ist, dass wir aber auch über
Jahre eine Diskussion führen – die Kollegin Wawzyniak
hat sie vorhin ein bisschen in dieses Licht gerückt – nach
dem Motto: Gleiches Netz für alle. Das hat so etwas
Wundervolles, so einen Sound von einer politischen Aus-
einandersetzung, die es früher einmal gegeben hat, als
noch die Mauer vor dem Reichstag gestanden hat.


(Heiterkeit des Abg. Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich dachte eigentlich, dass diese Art des Schwarz-Weiß-
Denkens heute nicht mehr Stand der Dinge ist.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, das gilt für einige mit Sicherheit!)


Insofern stehen wir bei diesem Thema doch, ehrlich ge-
sagt, alle zusammen.

Das Europäische Parlament, lieber Konstantin von
Notz, ist im Übrigen nicht die Bundesregierung. Ich habe
vorhin die ganze Zeit eine beißende Kritik an der Bun-
desregierung gehört.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr hättet das halt regeln müssen!)


Aber damit es alle wissen: Es geht hier um die Beschlüs-
se des gleichen Europäischen Parlaments, das heute die

Klaus Barthel






(A) (C)



(B) (D)


Datenschutz-Grundverordnung freigegeben hat. Das
muss man in einem gemeinsamen Kontext sehen.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Was ist der Kern dessen? Der Kern dessen ist: Netz-
neutralität muss gewahrt bleiben. Aber – da haben wir
in der Enquete-Kommission damals einen Konsens er-
reicht – es muss auch Diensteklassen geben können.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja!)


Ich glaube – das ist meine Position und auch die mei-
ner Fraktion –, das entscheidende Prinzip muss lauten:
Wir müssen das Beste an Innovation ermöglichen. Das
Beste an Innovation hat man nicht bei einem Internet
der Dienste. Das Beste an Innovation hat man aber auch
nicht, wenn man anfängt, Dienste zu verbieten, die es
heute schon gibt, beispielsweise T-Entertain als Fernseh-
dienst. Das ist ein klarer Spezialdienst – qualitätsgesi-
chert –, kein Internet-Zusatzdienst.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der hat kein Vectoring! Dann müsst ihr halt Glasfaser nehmen!)


– Melde dich und frage; sonst kann dich vor den Fernseh-
geräten keiner hören.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Bitte.


(Heiterkeit)


– Entschuldigung, Frau Präsidentin.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1816424300

Ich wollte mein Amt noch nicht abgeben. – Aber bitte

schön, Herr Kollege von Notz.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Kollege Jarzombek, vielen Dank für das Zulassen
der Zwischenfrage. – Wir haben ja gerade erst – es klang
eben auch an – über die Mangelverwaltung usw. disku-
tiert. Wie ist es denn in Sachen Internet? Ist überall genug
Breitband da, oder haben wir mit dem Vectoring, das jetzt
kommt und das, glaube ich, auch ein Plan der Bundes-
regierung ist, nicht genau das Problem, dass eben nicht
genug Kapazitäten da sind und es deswegen ein knappes
Gut ist? Wenn man die Netzneutralität festschreiben wür-
de, dann würde man die Anbieter dazu zwingen, ausrei-
chende Kapazitäten zu schaffen, damit sich alle Bürger
Videos im Netz ansehen können und nicht nur die, die
bereit sind, dafür 50 Euro im Monat zu zahlen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN – Klaus Barthel [SPD]: Das Blöde ist nur, dass die Inhalteanbieter die Infrastruktur klauen!)



Thomas Jarzombek (CDU):
Rede ID: ID1816424400

Lieber Kollege von Notz, ich glaube, das ist ein bes-

seres Format. Denn der Redner hört die Zwischenrufe
zwar, aber das Publikum an den Fernsehern oder im In-
ternet nicht. Jetzt können wir darüber diskutieren.

Zum Breitbandausbau in Deutschland. Diese Bundes-
regierung ist die erste seit Menschengedenken,


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)


die überhaupt ein Breitbandförderprogramm ins Leben
gerufen hat.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr regiert seit über zehn Jahren!)


Es geht dabei um 2,7 Milliarden Euro. Im Dezember
letzten Jahres und im Januar dieses Jahres sind sehr vie-
le Förderbescheide herausgegangen, um genau die Ge-
meinden, in denen es heute noch kein Breitband gibt –
die meisten befinden sich im ländlichen Raum –, zu
versorgen. Diese Bundesregierung hat es im letzten Jahr
gemeinsam mit den Landesregierungen geschafft, einen
großen Block von Fernsehfrequenzen für schnelles Inter-
net zur Verfügung zu stellen, sodass das mobile Internet
ab dem nächsten Jahr doppelt so schnell wird, weil es
doppelt so viel an Kapazität gibt.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist aber einen Applaus wert!)


Das sind, glaube ich, zwei große Erfolge.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vectoring!)


In Deutschland haben – jetzt komme ich zum Vecto-
ring – 72 Prozent der Haushalte Kabelanschluss. Viele
davon sind heute schon mit Bandbreiten von mehr als
100 MBit/s ertüchtigt. Wir werden noch in diesem Jahr
die ersten dieser Anschlüsse auf 1 000 MBit/s, also im
Gigabyte-Bereich, sehen. Wir werden perspektivisch in
einem sehr überschaubaren Zeitraum – in den nächs-
ten zwei, drei Jahren – wahrscheinlich sehr viele dieser
72 Prozent der Haushalte mit Gigabyte sehen.

Eine Rolle spielt in diesem Zusammenhang auch die
Entscheidung der unabhängigen Beschlusskammer der
Bundesnetzagentur, die ich an einigen Stellen deutlich
kritisiere. Aber das ist eben so, wenn man unabhängige
Gremien schafft.

Ich glaube, dass die Vectoring-Technik insgesamt gut
ist, weil sie dafür sorgt, dass sich die Geschwindigkeiten
bei DSL-Anschlüssen ebenfalls deutlich steigern lassen,
und zwar auf 100 MBit/s, mit Super-Vectoring in den
nächsten zwei Jahren sogar auf 200 MBit/s. Das sind
Kapazitäten, die ganz okay sind. Damit kann man auch
eine Familie mit zwei Kindern im Teenageralter, die sich
4-K-Videos ansehen wollen, ziemlich gut versorgen. Das
ist ja auch nicht das Ende der Fahnenstange, sondern das
ist eine Entwicklung, sodass ich nicht glaube, dass wir
Brandbreitenengpässe haben werden. Es wird ja immer
darüber philosophiert, wann diese kommen könnten.

Zu den Innovationen. Die Bundeskanzlerin hat sehr zu
Recht einmal gesagt: Der tatsächliche Anwendungsfall

Thomas Jarzombek






(A) (C)



(B) (D)


für Spezialdienste kommt erst noch. – Ich habe mit dem
Fernsehdienst zwar schon einen genannt. Aber stellen
wir uns doch einmal das Connected Car vor.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber doch nicht über das Internet!)


Da braucht man natürlich Dienste mit einer kurzen La-
tenzzeit. Wenn man, um Abstände zu reduzieren, einen
Konvoi von selbstfahrenden Autos steuern will, dann
muss das zwanzigste Auto in Echtzeit das Bremssignal
vom ersten Auto bekommen; sonst müssten die Autos mit
einem viel größeren Abstand fahren. Dafür braucht man
ein absolut verzögerungsfreies Netz. Dass das Priorität
gegenüber einem Bus mit Bundestagsabgeordneten – –


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ich fahre Fahrrad!)


– Unsere gesamte Landesgruppe fährt am Wochenende
nach Hamm in Westfalen zu einer Klausurtagung. Dahin
kommen wir nicht mit dem Fahrrad. – Wenn also ein gan-
zer Bus mit Bundestagsabgeordneten, die alle Informati-
onen wie die Presseschau aus dem Internet herunterladen
möchten,


(Klaus Barthel [SPD]: Das geht gar nicht!)


unterwegs ist, dann erschließt es sich doch dem logischen
Menschenverstand, dass die Steuerung von Connected
Cars Vorrang haben muss, um diese Innovation zu er-
möglichen.


(Beifall des Abg. Matthias Hauer [CDU/ CSU] – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb darfst du das auch nicht aufs Internet legen!)


Auf europäischer Ebene ist nun eine Verordnung erar-
beitet worden. Jetzt können wir doch nicht allen Ernstes
anfangen, in nationalstaatliche Regelungen zu verfallen.


(Klaus Barthel [SPD]: So ist es!)


Wer in Nordrhein-Westfalen im Internet surft, schaut
natürlich immer mit Begeisterung nach Frankfurt; denn
da ist der größte Internetknoten der Welt, der DE-CIX.
Aber nicht sehr viel kleiner als dieser Knoten ist der im
Amsterdam. Wenn in Düsseldorf, in Aachen oder im
Münsterland gesurft wird, dann kann es schon einmal
passieren, dass das über den Knoten in Amsterdam ge-
schieht. Wenn in Belgien oder in Holland andere Rege-
lungen als in Nordrhein-Westfalen gelten, dann ist das
doch nicht Ausdruck einer sinnvollen Regulierung. Wir
können doch nicht allen Ernstes einen Vorschlag zur
Regulierung der Netzneutralität machen, der dazu führt,
dass ein Connected Car beim Übertritt über die Grenze
nach Belgien auf einmal bestimmte Funktionen nutzen
kann oder andere nicht mehr nutzen kann.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Connected Car geht doch nicht über Internet!)


Ganz im Ernst, meine lieben Kollegen: Der Zeitpunkt
für die heutige Debatte ist bemerkenswert; denn die an-
gesprochene europäische Verordnung tritt Ende dieses
Monats in Kraft. Sämtliche nationale Regulierer führen
im Sommer eine aufwändige Konsultation durch: Sechs
Wochen lang sollen Leitlinien diskutiert werden, die

Ende August tatsächlich in Kraft treten. Wenn wir heu-
te ein Gesetz verabschieden, obwohl wir genau wissen,
dass im August dieses Jahres europäische Regelungen
kommen, die wir alle noch gar nicht kennen können,


(Beifall des Abg. Klaus Barthel [SPD])

würde das bedeuten, dass die Konsultation im Sommer
zu einer Farce wird.

Insofern glaube ich, wir sollten erst einmal diesen Pro-
zess vernünftig zu Ende bringen.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Und dann?)


Danach können wir einmal schauen, wo wir stehen. Dann
kann man immer noch überlegen, welche Handlungs-
spielräume bestehen. Es kann aber ganz sicher nicht so
laufen, dass jetzt jedes europäische Land eigene Gesetze
verabschiedet, wodurch wieder ein europäischer Flicken-
teppich erzeugt wird.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1816424500

Vielen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, in-

terfraktionell ist vereinbart worden, dass die Vorlage auf
Drucksache 18/6876 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse überwiesen wird. Nicht einig sind
wir uns aber in der Frage, welcher Ausschuss die Feder-
führung übernimmt. Die Fraktionen der CDU/CSU und
der SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für
Wirtschaft und Energie. Die Fraktion Die Linke wünscht
Federführung beim Ausschuss Digitale Agenda.

Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Die Linke abstimmen, dass die Federführung
beim Ausschuss Digitale Agenda liegen soll. Wer stimmt
für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt da-
gegen? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Opposition abgelehnt.

Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD abstimmen,
dass die Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft
und Energie liegen soll. Wer stimmt für diesen Überwei-
sungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Ers-
ten Gesetzes zur Novellierung von Finanz-
marktvorschriften auf Grund europäischer

(Erstes Finanzmarktnovellierungsgesetz – 1. FiMaNoG)

Drucksachen 18/7482, 18/7826
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz-
ausschusses (7. Ausschuss)

Drucksache 18/8099

Thomas Jarzombek






(A) (C)



(B) (D)


Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Matthias Hauer, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Matthias Hauer (CDU):
Rede ID: ID1816424600

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wir beraten heute abschließend den Entwurf
eines Ersten Finanzmarktnovellierungsgesetzes. Dabei
geht es um drei große Themenbereiche: erstens um die
Bekämpfung von Marktmissbrauch, zweitens um die
Anforderungen an Zentralverwahrer und drittens um
bessere Informationen für Kleinanleger. Die Europäische
Union hat drei Verordnungen und eine Richtlinie zu die-
sen Themenbereichen erlassen. Diese werden wir heute
im deutschen Recht verankern. Wir gehen damit einen
weiteren wichtigen Schritt in Richtung besserer Finanz-
marktregulierung. Wir erhöhen die Transparenz und die
Integrität der Finanzmärkte und stärken gleichzeitig den
Anlegerschutz.

Nach dem Auftakt heute wird demnächst das Zweite
Finanzmarktnovellierungsgesetz folgen. Wir werden da-
rin das deutsche Recht an die Finanzmarktverordnung
MiFIR anpassen und die Finanzmarktrichtlinie MiFID II
in deutsches Recht umsetzen. Was erwartet uns mit
MiFID II und MiFIR?

Unabhängigen Anlageberatern wird es EU-weit ver-
boten, Zuwendungen anzunehmen. Die EU vollzieht
damit das nach, was bei uns in Deutschland bereits seit
August 2014 vorgeschrieben ist. Aber auch in Deutsch-
land wird die Regelung verschärft: Künftig dürfen auch
nichtmonetäre Vorteile grundsätzlich nicht mehr ange-
nommen werden.

Wir werden die Aufsichtsbehörden weiter stärken. Sie
erhalten die Befugnis, bei Finanzprodukten einzuschrei-
ten. Die Aufsichtsbehörden können Vermarktung, Ver-
trieb und Verkauf von Finanzinstrumenten beschränken
oder gar untersagen.

Wesentliches wird sich bei der Beratung und der
Kommunikation zwischen Kunden und Wertpapier-
dienstleistungsunternehmen wie Banken ändern. Ein
neues europäisches Beratungsprotokoll wird eingeführt.
Zudem müssen telefonische Beratungsgespräche künftig
aufgezeichnet werden, um Anleger besser zu schützen
und Marktmissbrauch besser zu verfolgen.

Auch im Bereich des Hochfrequenzhandels vollzieht
Europa weitgehend das nach, was hier bereits gilt, wo-
bei Deutschland schon seit 2013 eine Vorreiterrolle ein-
nimmt.

Dies alles wird erst Bestandteil des Zweiten Finanz-
marktnovellierungsgesetzes sein. Die Verzögerungen auf
europäischer Ebene nehmen uns die Möglichkeit, schon
heute Klarheit über diese Details zu schaffen, was wir
gerne getan hätten.

Ein großer Dank gilt unserem Bundesfinanzminister
Wolfgang Schäuble und dem Bundesfinanzministerium.

Aufgrund der Verzögerung auf europäischer Ebene waren
wir gezwungen, die Finanzmarktnovellierung kurzfristig
in zwei Teile aufzuspalten, um die fristgerechte Umset-
zung der heute zu beratenden europäischen Rechtsakte
zu gewährleisten. Das hat das Bundesfinanzministerium
hervorragend geleistet. Vielen Dank dafür!

Es ist sehr bedauerlich, dass die Umsetzung des zwei-
ten Teils nun verzögert wird; denn gerade MiFID II und
MiFIR enthalten wichtige Maßnahmen zum Anleger-
schutz und zur Transparenz der Finanzmärkte. Dass wir
auf den Finanzmärkten mehr Transparenz brauchen, ha-
ben die letzten Tage noch einmal deutlich gezeigt. Wie
Panama und andere Steueroasen an Steuerhinterziehung
und Geldwäsche mitwirken, ist zutiefst schäbig. Dage-
gen gilt es weiterhin konsequent vorzugehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble engagiert
sich seit Jahren für mehr Transparenz. Die Panama-Ent-
hüllungen zeigen deutlich, dass er mit seiner Politik auf
dem richtigen Kurs ist, Steuerhinterziehung gerade auch
durch eine intensivere internationale Zusammenarbeit
auszutrocknen.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Der verschließt doch die Augen vor allem!)


Deutschland hat in diesem Bereich seit Jahren eine
Vorreiterrolle übernommen: sowohl innerhalb der G 7
und der G 20, aber auch innerhalb der OECD. Dadurch
sind wir auf internationaler Ebene deutlich vorangekom-
men. Fast 100 Staaten bekennen sich mittlerweile zum
automatischen Informationsaustausch über Finanzkon-
ten. Ab September 2017 werden Finanzinstitute auf in-
ternationaler Ebene nun Informationen austauschen, da-
mit besser gegen Steuerhinterziehung und andere illegale
Tätigkeiten vorgegangen werden kann. Der Anstoß dazu
erfolgte hier in Berlin auf der Steuerkonferenz im Okto-
ber 2014. Es muss das Ziel sein, dass sich alle Staaten am
Informationsaustausch beteiligen. Das ist ein mühseliger
Prozess, aber jeder zusätzliche Staat, der sich beteiligt, ist
ein Schritt in die richtige Richtung.

Auch bei der sogenannten BEPS-Initiative der OECD
geht Deutschland mit dieser Bundesregierung voran. Da-
mit wird das grenzüberschreitende Verschieben von Ge-
winnen durch multinationale Konzerne bekämpft. Es ist
gut, dass sich Deutschland und das Vereinigte Königreich
seit 2012 verstärkt für die BEPS-Initiative einsetzen und
den Prozess seitdem deutlich vorangebracht haben.

Nicht zuletzt durch das große Engagement unseres
Bundesfinanzministers haben wir in den vergangenen
drei Jahren mehr erreicht als in Jahrzehnten zuvor. Und
auch der aktuelle Fall zeigt, dass es richtig war und ist,
konsequent die grenzüberschreitende Zusammenarbeit
zu verbessern. Diesen Weg werden wir als Union weiter
fortsetzen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Deutsche Bundestag hat in den vergangenen Jah-
ren viel dafür getan, um die Märkte zu stabilisieren und
ihre Anfälligkeit für neue Finanzkrisen zu reduzieren.

Vizepräsidentin Ulla Schmidt






(A) (C)



(B) (D)


Insgesamt haben wir seit der Finanzkrise 40 Maßnahmen
umgesetzt, die zur stärkeren Regulierung der Finanz-
märkte und zum Schutz der Anleger beitragen. Auch der
heutige Gesetzentwurf dient in erster Linie dazu, Anleger
besser zu schützen. Was sind die wesentlichen Punkte?

Erstens. Mit den Regelungen zum Marktmissbrauch
gehen wir auf europäischer Ebene konsequent vor gegen
Insidergeschäfte, gegen die unrechtmäßige Offenlegung
von Insiderinformationen und gegen Marktmanipulation.
Bislang war das Thema Marktmissbrauch in den einzel-
nen EU-Staaten sehr unterschiedlich geregelt. Nicht ein-
mal schwere Verstöße waren überall strafrechtlich sank-
tioniert. Auch die Sanktionen waren von Staat zu Staat
sehr unterschiedlich. Diese Lücken konnten Täter durch
die unterschiedlichen Regelungen auf europäischer Ebe-
ne bislang ausnutzen. Dadurch konnte Marktmissbrauch
in der Vergangenheit leider nur unzureichend bekämpft
werden. Gerade auch, weil Täter über Staatsgrenzen hin-
weg agieren, ist die EU-weite Harmonisierung mehr als
sinnvoll.

Zweitens. Mit den Regelungen zu den Zentralverwah-
rern werden auch die Anforderungen an sie EU-weit har-
monisiert. Zentralverwahrer sind es, die neu emittierte
Wertpapiere registrieren. Sie führen zentrale Wertpapier-
konten. Sie erfassen, wem welche Wertpapiere gehören.
In der EU verwahren sie Wertpapiere im Gesamtvolumen
von rund 39 Billionen Euro und wickeln Wertpapierge-
schäfte im Volumen von etwa 500 Billionen Euro ab.
Schon bei diesen Größenordnungen liegt auf der Hand,
wie wichtig es ist, dass die Verwahrer Wertpapierge-
schäfte ordnungsgemäß und pünktlich durchführen.

Drittens. Mit der sogenannten PRIIPs-Verordnung
erhalten Anleger künftig ein EU-weit einheitliches In-
formationsblatt für verpackte Anlageprodukte. Als ver-
packt gelten alle Anlageprodukte, bei denen das Geld der
Kunden nicht direkt, sondern nur indirekt am Kapital-
markt investiert wird. Das ist zum Beispiel der Fall bei
offenen oder geschlossenen Investmentfonds, aber auch
bei fondsgebundenen Lebensversicherungen. Diese In-
formationsblätter, auch Beipackzettel genannt, sind den
Anlegern vor Vertragsabschluss vorzulegen. Sie können
damit Chancen, Risiken, aber auch Kosten besser über-
blicken, aber dadurch auch die Produkte besser miteinan-
der vergleichen.

Für uns in Deutschland ist die Idee dieser Informati-
onsblätter alles andere als neu. Wir sind auch bei diesem
Thema bereits in den vergangenen Jahren vorangegan-
gen. Wir haben Beipackzettel vorgeschrieben für die
Anlageberatung bei Finanzinstrumenten, bei Verträgen
zur Altersvorsorge oder über Versicherungen, für In-
vestmentvermögen und für viele Produkte des Grauen
Kapitalmarkts. In den nächsten Wochen werden wir uns
auch noch einmal intensiv mit den Produktinformati-
onsblättern für einfache Finanzprodukte, also für Aktien
und einfache Anleihen, befassen. Wir werden sehr genau
evaluieren, ob in diesem Bereich Optimierungsbedarf
besteht.

Ich komme zum Schluss. Selten standen die europäi-
sche Idee und der europäische Zusammenhalt mehr unter
Beschuss als in den letzten Monaten. Viele Menschen

zweifeln an der Handlungsfähigkeit der Europäischen
Union. Auch im Bereich der Finanzmarktregulierung
zeigt sich, dass wir gemeinsame europäische Lösungen
brauchen, um Verbesserungen herbeiführen zu können.
In einer immer komplexer werdenden und völlig vernetz-
ten Welt sind nationale Maßnahmen selten die Lösung
für internationale Probleme – weder im Bereich der Fi-
nanzmarktregulierung noch in anderen Politikbereichen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1816424700

Vielen Dank. – Dann hat jetzt die Kollegin Susanna

Karawanskij für die Fraktion Die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Susanna Karawanskij (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1816424800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Liebe Gäste! Die Finanzmärkte haben ja nun
wirklich einen katastrophal schlechten Ruf, insbesonde-
re wenn wir an die jüngst bekanntgewordenen Skandale
denken – ich will sie noch einmal aufzählen – wie Leh-
man, Prokon oder German Pellets. Jetzt sollen mit dem
vorgelegten Gesetzentwurf die Finanzmärkte stabiler
und transparenter gemacht werden.

Dabei ist jetzt schon fast das zweite Gesetz in der Pipe-
line. Aber wenn Sie, meine Damen und Herren von der
Bundesregierung oder von der Koalition, wirklich etwas
für den Anlegerschutz tun wollen bzw. ihn verbessern
wollen, dann sollten Sie das nicht halbherzig tun. Mit
diesem Gesetzentwurf haben Sie jedenfalls eine große
Chance vertan.

Der Finanzaufsicht sollen in Zukunft mehr Eingriffs-
rechte an die Hand gegeben werden, um Marktmiss-
brauch vorzubeugen. Doch die Regelungen, die Sie hier
vorschlagen, erschöpfen sich in der Aufklärung, Verhin-
derung und Sanktionierung. Sie stärken die Finanzauf-
sicht leider nur oberflächlich in der Funktion als Überwa-
cherin des Wertpapiermarktes. Aber das breite Spektrum
unrechtmäßiger Handlungen gegenüber Kleinanlegerin-
nen oder Kleinanlegern, in dem tatsächlich Marktmiss-
brauch stattfindet, bleibt davon leider unberührt. Die
Aufsicht, also die BaFin, oder die Staatsanwaltschaft hat
in der Vergangenheit häufig erst dann eingegriffen, wenn
es schon zu spät war. Die Kontrollmacht der Aufsicht
wird durch die Vorschläge im vorgelegten Gesetzentwurf
viel zu sehr auf die Phase der Ausgabe bzw. der Emission
und des Vertriebs der Finanzinstrumente konzentriert.

Die Anlageskandale haben aber gezeigt, dass die
Kleinanlegerinnen und Kleinanleger auf sich selbst ge-
stellt waren und sind. Ihnen fehlen einfach Informationen
und Möglichkeiten, ihre Rechte durchzusetzen. Insbe-
sondere die ausgebenden Institutionen, also diejenigen,
die die schrottigen Finanzinstrumente auf den Markt ge-
bracht haben, haben leider nichts zu befürchten. Sie war-
ten nämlich ganz ungestört ab und übermitteln falsche
oder irreführende Angaben. Die Kleinanleger werden
hingehalten und getäuscht, bis ihre Ansprüche verjährt
sind. Zum Teil gehen solche Institutionen sogar den Weg,

Matthias Hauer






(A) (C)



(B) (D)


ihre Anlagepleite gar nicht mehr der Haftpflichtversiche-
rung zu melden. Sie gehen bewusst in die Insolvenz und
sitzen die Pleite aus. Die Kleinanleger haben dann das
Nachsehen.

Das geht unseres Erachtens nicht so weiter. Nach den
bestehenden Regelungen werden die meisten Anleger
durch Produkte geschädigt, die bereits auf dem Markt
sind. Wir sind der Meinung, dass der Aufsicht hier stär-
kere rechtliche Grundlagen an die Hand gegeben wer-
den müssen, damit Verbraucher zu ihrem Recht kommen
können, wenn sie von einer Anlagepleite betroffen sind.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir fordern kollektiven Verbraucherschutz durch die
Aufsicht, um sozusagen die Aufsicht verbraucherfreund-
licher zu fassen. Das heißt, die Finanzaufsicht soll für die
geschädigten Anleger eintreten, damit sie ihre Ansprüche
durchsetzen können. Sie soll keine Klagen führen, aber
sozusagen für Gruppen eintreten und einen Zaun ziehen
können, damit die Betrüger nicht entwischen und Anle-
ger ihre Schäden und Regressansprüche geltend machen
können.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn Sie Verbraucherschutz tatsächlich ernst nehmen,
dann müssen Sie die Aufsicht mit dem Mandat ausstat-
ten, kollektiv die Rechtsverfolgung zu sichern. Für den
Gesetzgeber bedeutete das nur eine kleine Änderung im
Gesetzentwurf, aber es wäre ein wirklich großer Schritt
für den finanziellen Verbraucherschutz.

Sie haben vorhin die Informationsblätter, die soge-
nannten Beipackzettel, angesprochen. Hier hätten Sie
tatsächlich die Chance ergreifen können, sowohl Struk-
tur, Inhalt und Form als auch den Umfang vorzugeben,
um die Produkte für Kleinanleger, die beispielsweise et-
was für ihre Altersvorsorge tun möchten, in dem ganzen
Dschungel tatsächlich vergleichbar zu machen. Das ist
nämlich bislang nicht der Fall.

Schlussendlich: Wenn Sie wirklich Kleinanleger-
schutz betreiben wollen, dann brauchen wir ganz klar
eine Verfahrensumkehr, und zwar in dem Sinne: erst prü-
fen, dann zulassen.


(Beifall bei der LINKEN)


Erst dadurch werden Sie sicherstellen, dass schrottige
Finanzmarktinstrumente, die mit unüberschaubaren Ri-
siken Anlegerinnen und Anleger schädigen, gar nicht erst
auf den Markt gelangen, sodass Verbraucher zukünftig
tatsächlich davor geschützt sind. Das wäre wahrhaftiger
Verbraucherschutz. Das würde dafür sorgen, dass der un-
gleiche Kampf zwischen Anlegern und der Finanzmarkt-
lobby auf Augenhöhe stattfinden kann. Solange Sie das
nicht tun, bleiben Ihre Gesetzesvorhaben leider halbher-
zig.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1816424900

Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der

Kollege Christian Petry.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Christian Petry (SPD):
Rede ID: ID1816425000

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Frau Karawanskij, der kollektive Verbraucher-
schutz ist im Rahmen des Kleinanlegerschutzgesetzes
bei der BaFin verankert worden; das haben wir bereits
gemacht. Den stärken wir natürlich noch und werden das
fortführen; denn das ist eine wichtige Aufgabe. Sie haben
zu Recht gesagt, dass der Verbraucher auf Augenhöhe
mit demjenigen stehen muss, der Papiere ausgibt oder
Vermittler ist. Dafür muss es letztendlich auch entspre-
chende Schutzinstrumentarien geben.

Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein umfangreiches
Werk. Herr Dr. Meister hat uns wieder einmal etwas
vorgelegt, was teilweise sehr schwer zu lesen ist. Das
liegt nicht an Herrn Dr. Meister, sondern tatsächlich an
der Materie. Marktmissbrauchsrichtlinie, Marktmiss-
brauchsverordnung, Verordnung über Zentralverwahrer
sowie die Verordnung über Basisinformationsblätter für
verpackte Anlageprodukte für Kleinanleger und Ver-
sicherungsanlageprodukte werden in deutsches Recht
überführt. Auch in der Begründung des Gesetzentwurfs
lassen sich schwierige Formulierungen finden, die das
Verständnis erschweren. Das Ganze ist sehr kompliziert;
da muss man erst einmal durchsteigen. Aber das Ziel ist
klar: Wir wollen Verbraucherschutz, wir wollen Trans-
parenz, und wir wollen stabile Märkte. Aber wir wollen
auch den Marktzugang, den Handel und den Markt als
solchen nicht überregulieren; er soll auch stattfinden. So
muss es möglich sein, in kleineren Einheiten, zum Bei-
spiel in kleinen Sparkassen, eine umfängliche und gute
Beratung zu bekommen. Auch dort müssen alle Produkte
angeboten werden können. Wir dürfen das Ganze nicht
so überfrachten, dass in kleineren Einheiten nicht mehr
alles angeboten werden kann.

Durch die europäischen Vorgaben werden bestehen-
de Sanktionsmaßnahmen technologischen Entwick-
lungen wie dem Hochfrequenzhandel angepasst. Über-
wachungs- und Eingriffsbefugnisse der BaFin werden
gestärkt, Basisinformationsblätter verpflichtend einge-
führt. Zudem werden, wie Kollege Hauer schon gesagt
hat, die Strafvorschriften bei ordnungswidrigem, also bei
vorsätzlichem oder leichtfertigem Verhalten verschärft.
Wir haben hier darüber debattiert, ob es vielleicht mög-
lich ist, leichtere Verstöße mit geringfügigeren Sankti-
onen zu ahnden bzw. sogar ganz herauszunehmen. Wir
haben uns dafür nicht entschieden. Es bleibt dabei, dass
alles, was in diesem Bereich vorfällt, strafrechtlich ver-
folgt werden kann. Wer in schwerwiegenden Fällen vor-
sätzlich handelt und Marktergebnisse manipuliert, kann
fortan mit einer Geldstrafe oder einer Freiheitsstrafe von
bis zu fünf Jahren bestraft werden.

Als „besonders strafwürdig“ werden schwerer Betrug,
die organisierte, also die gewerbsmäßige oder banden-
mäßige Begehung eines Betrugs sowie die Weitergabe
von Insiderinformationen angesehen. Bei leichtfertigem

Susanna Karawanskij






(A) (C)



(B) (D)


Handeln ist neben der Geld- eine Freiheitsstrafe von bis
zu einem Jahr möglich.

Gerne wäre ich an dieser Stelle auf die Kritik von
Herrn Schick eingegangen. Ich gehe davon aus, dass er
seine Rede zu Protokoll gegeben hat, weil er in einem
Untersuchungsausschuss sitzt. Aber er wollte wohl etwas
zu Whistleblowern und den Beiträgen, die diese leisten,
sagen. Ich nehme das jetzt trotzdem einmal auf. Wir sind
sehr froh, dass diese Personen einen bedeutenden Beitrag
zur Aufdeckung verschiedener Sachverhalte leisten. Sie
müssen auch geschützt werden. Durch das Gesetz wird
ein nationales Whistleblower-System bei der BaFin als
Meldeplattform eingeführt. Zeitgleich regeln Änderun-
gen im Börsengesetz die Einführung unternehmensspe-
zifischer Hinweisgebersysteme. Die Kritik der Opposi-
tion an diesen Regelungen ist allerdings ein bisschen zu
weit gegangen; denn ein effektiver Schutz ist gegeben.
Die mit dem Gesetz zu beschließenden Regelungen stel-
len eindeutig klar, das Whistleblower, die Informationen
beispielsweise an die BaFin weitergeben, geschützt sind.

Eine weitere wichtige Regelung betrifft die Finanz-
vermittler. Auf dem Zweitmarkt werden sie nun auf der
Grundlage des Kreditwesengesetzes auch durch die Ba-
Fin beaufsichtigt. Wie Sie wissen, hätten wir das gerne
genauso für den Erstmarkt geregelt. Das wäre nichts
Neues gewesen; denn das haben wir so schon beim
Kleinanlegerschutz geregelt. Hier konnten wir uns noch
nicht durchsetzen. Wir werden aber dranbleiben. Es wer-
den ja auch noch andere Diskussionen kommen. Mögli-
cherweise werden wir es schaffen – das ist der sachliche
Grund –, dass die entsprechenden Anlagevermittlungen
dort kontrolliert werden, wo wir die höchste Kompetenz
der Kontrolle und der Aufsicht vermuten, nämlich bei der
BaFin.

Mit Blick auf das vorliegende Gesetz bleibt festzuhal-
ten, dass wir innerhalb der EU verbindliche, einheitliche
Maßnahmen umsetzen, die helfen, Marktmissbrauch
künftig zu vermeiden. Damit stärken wir den Anleger-
schutz nachhaltig und fördern die Integrität der Märkte.
MiFID II und MiFIR werden erst noch kommen. Wir
hätten das gerne zusammen gemacht. Leider müssen wir
da noch etwas warten. Aber das wird der nächste Schritt
sein. 40 Regelungen haben wir bereits gemacht. 41 wer-
den es nun sein. Es werden noch mehr für mehr Transpa-
renz kommen.

Zum Schluss. Das angekündigte Abstimmungsver-
halten der Opposition, nämlich die Enthaltung, begrei-
fen wir als die höchste Form des Lobs. Dafür herzlichen
Dank!

In diesem Sinne: Glück auf!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Ist aber schön, dass Sie mich zitieren!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1816425100

Vielen Dank. – Da der Kollege Dr. Gerhard Schick

seine Rede zu Protokoll gegeben hat1), hat jetzt Sarah
Ryglewski, SPD-Fraktion, das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Sarah Ryglewski (SPD):
Rede ID: ID1816425200

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Es ist in der Tat eine

etwas ungewöhnliche Situation. Der Kollege Petry und
ich hatten schon überlegt, ob wir quasi im Wechsel unse-
re Rede vortragen, um bestimmte Punkte nachdrücklich
zu unterstreichen, aber wir haben dann doch darauf ver-
zichtet. Ich weiß auch nicht, ob das in der Geschäftsord-
nung so vorgesehen ist.

Sehr geehrte Damen und Herren! Ostern ist zwar ge-
rade vorbei, aber ich möchte trotzdem einen Vergleich
bemühen, der uns ein bisschen an Ostern erinnert. Wir
alle kennen die schönen Überraschungseier. Wir wissen
auch: Das Ei sieht auf den ersten Blick gut aus, schmeckt
lecker, aber wenn man das Ei ausgepackt hat, ist die Ent-
täuschung oft groß. Statt des schönen kleinen Sammel-
figürchens, das man sich erhofft hat, ist oft nur so ein
kleinteiliger Kram drin, den man mühselig zusammen-
bauen muss und der beim Spielen keinen Spaß macht.

Genauso ist es leider oft auch, wenn man sich auf
die Suche nach dem richtigen Finanzprodukt macht. Im
Gegensatz zur Kinderüberraschung handelt es sich bei
einer Anlage aber nicht um ein Spiel, sondern für viele
Menschen, gerade für Kleinanleger – das habe ich auch
in meiner letzten Rede deutlich gemacht –, geht es hier
um existenzielle Sachen. Auch wenn ich natürlich da-
von ausgehe, dass es nicht so wie bei dem berühmten
siebten Ei ist, dass also nur bei jeder siebten Anlagebera-
tung ein passendes Produkt vermittelt wird, gibt es beim
Anlegerschutz auf jeden Fall deutlichen Nachholbedarf.
Deswegen ist es gut, dass wir hier heute dieses Gesetz
verabschieden.

Ich möchte gerne auch noch einmal, weil das vor-
hin von Frau Karawanskij kritisiert wurde, auf die Pro-
duktinformationsblätter eingehen. Es ist so, dass wir
in Deutschland schon verschiedene gute Regelungen
getroffen haben. Es ist aber zugleich so – das hat Herr
Hauer schon deutlich gemacht –, dass wir auch eine Re-
gulierung auf europäischer Ebene brauchen, weil der
Markt international ist. Wir brauchen hier also EU-weit
Einheitlichkeit.

Ein weiterer Punkt, der noch wichtig ist, ist folgen-
der: Wenn man sich die Produktinformationsblätter in
der Praxis anschaut – ich habe mir neulich den Spaß
gemacht –, dann stellt man fest, dass es sich bei die-
sen tatsächlich wie mit den Beipackzetteln verhält, die
Herr Hauer beschrieben hat. Auch das kennen wir alle.
Wir schauen uns die Beipackzettel an und verstehen die
Hälfte davon nicht. In der PRIIPs-Verordnung ist ganz
deutlich geregelt, dass es eine klare und verständliche
Sprache für Verbraucherinnen und Verbraucher geben

1) Anlage 5

Christian Petry






(A) (C)



(B) (D)


soll. Das ist ein Punkt, von dem ich glaube, dass er eine
echte Verbesserung darstellt. Ich will an der Stelle aber
auch Wasser in den Wein gießen. Wir müssen da am Ball
bleiben. Wir müssen schauen, dass das auch umgesetzt
wird und dass sich die verständliche Sprache nicht am
Anlageberater orientiert, sondern am Endverbraucher,
dem Kleinanleger.

Zum Thema Finanzaufsicht wurde schon von dem
Kollegen Petry etwas gesagt. Aber weil das ein Punkt
ist, der uns besonders wichtig ist, möchte ich ihn kurz
wiederholen. Ich verstehe nicht, warum wir dabei blei-
ben, dass diese bei den Gewerbeämtern angesiedelt ist.
Ich habe großes Zutrauen zu den meisten Leuten, die
in einem Gewerbeamt arbeiten, aber wir haben die Ba-
Fin extra mit dieser Kompetenz ausgestattet. Ich würde
mir wünschen, dass wir in einem komplexer werdenden
Markt dazu übergehen, die Aufsicht bei der Institution zu
verankern, wo die Kompetenz ist. Der Kollege Petry hat
es ja schon gesagt: Wir bleiben da am Ball.

Eine Sache möchte ich gerne noch sagen: Bei der Um-
setzung darf man nicht nur die Anlegerseite betrachten,
sondern wir müssen auch die Seite betrachten, die die
Produkte anbietet. Deswegen war unser Vorschlag, es ge-
rade bei den unverpackten Produkten kleineren Banken
leichter zu machen. Da soll der Emittent die Produkte er-
stellen dürfen; die Daten sind ohnehin vorhanden.

Ich weiß, ich muss zum Schluss kommen; deswegen
mache ich es ganz kurz: Ich glaube, wir haben hier ein
gutes Gesetz vorliegen. Ich hoffe, dass wir mit diesem
Gesetz dazu kommen, dass der Spruch „Lass dich über-
raschen!“ zwar weiterhin ein toller Werbeslogan für Kin-
derprodukte, aber eben nicht für Finanzprodukte ist. Ich
hoffe, dass wir da zu einem Fortschritt kommen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1816425300

Vielen Dank. – Damit ist die Aussprache beendet.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Novel-
lierung von Finanzmarktvorschriften auf Grund euro-
päischer Rechtsakte. Der Finanzausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/8099,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Druck-
sachen 18/7482 und 18/7826 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthal-
tung der Opposition angenommen.

Jetzt bitte ich Sie noch um ein bisschen Bewegung:

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.
– Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ge-

setzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis in
dritter Lesung angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Kordula
Schulz-Asche, Uwe Kekeritz, Ulle Schauws,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Die AIDS-Epidemie in Deutschland und welt-
weit bis 2030 beenden

Drucksache 18/6775
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. – Ich bitte
Sie, die Plätze einzunehmen.

Ich eröffne die Aussprache, und das Wort hat die Kol-
legin Kordula Schulz-Asche, Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine
Welt ohne Aids, ist das möglich?


(Emmi Zeulner [CDU/CSU]: Das wäre schön!)


Die Vereinten Nationen haben mit der Verabschiedung
der globalen Nachhaltigkeitsziele der Weltgemeinschaft
eine höchst erstrebenswerte, aber auch höchst ambitio-
nierte Vorgabe gemacht: Bis zum Jahr 2030 soll die Aids-
epidemie weltweit beendet werden. Ich bin überzeugt:
Mit politischem Willen, einer schlüssigen Strategie und
einer verlässlichen Finanzierung kann uns das gelingen.

Immer noch ist die Erkrankung an HIV eine der größ-
ten Herausforderungen für die globale Gesundheit – und
dies, obwohl sie vermeidbar und behandelbar wäre. Trotz
der internationalen Anstrengungen infizierten sich im
Jahr 2014 weltweit rund 2 Millionen Menschen neu, und
es starben über 1 Million Menschen. Das, meine Damen
und Herren, muss ein Ende haben.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Die Bundesregierung hat es nun endlich geschafft,
eine neue nationale Strategie zur Eindämmung von HIV,
Hepatitis B und C sowie anderen sexuell übertragba-
ren Infektionen vorzulegen. Zur Erinnerung: Die letzte
stammte aus dem Jahr 2005. Die Vorgaben der internatio-
nalen Gemeinschaft haben also die Maßstäbe neu gesetzt.

Die Zusammenarbeit von Gesundheits- und Entwick-
lungsministerium ist deshalb ein richtiger Weg. Auch den
Strategien und den Prioritäten, die Sie in dieser Strategie

Sarah Ryglewski






(A) (C)



(B) (D)


vorlegen, können wir weitgehend zustimmen. Aber bis-
her ist alles nur Prosa und nicht mehr; denn ohne kon-
krete Finanzierung, ohne festen Zeitplan und ohne eine
kritische Erfolgskontrolle werden wir eine Welt ohne
Aids nicht erreichen, und hier erwarten wir von der Bun-
desregierung konkrete Zusagen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Aus grüner Sicht – in unserem Antrag ist es ausführ-
lich beschrieben – gibt es folgende zentrale Handlungs-
felder:

Ganz oben auf der Agenda steht für uns der Abbau von
Vorurteilen, Diskriminierung und Stigmatisierung, nicht
nur in anderen Ländern, auch in Deutschland; auch hier
gibt es noch Handlungsbedarf.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE])


Wir müssen uns noch stärker als bisher auf Aufklä-
rung und Prävention konzentrieren, und zwar gemeinsam
mit den besonders betroffenen Gruppen, zum Beispiel
Männern, die Sex mit Männern haben, oder bestimmten
Migrantengruppen. Wir müssen auf zielgruppen- und al-
tersspezifische Kampagnen und Angebote setzen. Gera-
de bei Konzepten zur HIV-Prävention in der Suchthilfe
hat Deutschland im Gegensatz zu vielen anderen euro-
päischen Ländern noch einen erheblichen Aufholbedarf.
Auch bei den Pflegeangeboten für ältere Menschen mit
HIV gibt es einen enorm wachsenden Handlungsbedarf.

Frühzeitiges Wissen über die eigene Infektion und eine
gute Behandlung sind zentral im Kampf gegen Aids – in
der Welt, aber auch hier in Deutschland. Nur wer den ei-
genen Infektionsstatus kennt, kann richtig handeln und
kann richtig behandelt werden.

Weltweit muss mehr in die Gesundheitssysteme in-
vestiert werden, in sexuelle und reproduktive Gesundheit
und auch in Bildung und Aufklärung. Mehr als zwei Drit-
tel der betroffenen Menschen leben in Afrika südlich der
Sahara, und mehr als die Hälfte davon sind Frauen. Es
besteht ein sehr enger Zusammenhang zwischen Armut
und Infektionsrisiko.

Meine Damen und Herren, die Lage ist nach wie vor
ernst, und sie geht uns alle an. Als sich Aids als Seuche
entpuppte, kannte noch niemand den Erreger. Heute ge-
hört HIV zu den besterforschten Viren, die es überhaupt
gibt. Und trotzdem gibt es bisher weder eine schützende
Impfung noch Heilung. Deswegen haben wir alle ge-
meinsam bis 2030 noch sehr viel zu tun.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1816425400

Vielen Dank. – Jetzt hat die Kollegin Emmi Zeulner

für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Emmi Zeulner (CSU):
Rede ID: ID1816425500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Liebe Kollegen von den Grünen, Sie haben in
Ihrem Antrag wichtige Aspekte angesprochen und den
Finger in die Wunde gelegt. Es ist tatsächlich so, dass
sich 16 Ihrer 22 Forderungen in der Strategie der Bun-
desregierung wiederfinden. Natürlich wünscht man sich
immer ein Mehr an Geld, aber auch Sie wissen, dass
Deutschland zum Beispiel der viertgrößte Beitragszahler
im Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberku-
lose und Malaria ist.

Man fragt sich als Gesundheitspolitiker, wenn man
zu diesem Thema spricht: Was mag die Diagnose HIV
für einen Menschen bedeuten, für die Partnerschaft, für
die Familie, für die Freunde, für das Arbeitsumfeld? Wir
können die Antwort nicht geben, und die Ängste, die da-
hinterstehen, können wir auch nur erahnen. Zu der Angst
um die eigene Gesundheit kommt sicherlich die Sorge
vor Diskriminierung und Stigmatisierung. Auch wenn
viele diesen Gedanken gerne weit von sich schieben, so
müssen wir uns natürlich bewusst sein: Eine hundertpro-
zentige Sicherheit vor dem Virus gibt es bis jetzt noch
nicht.

Das HI-Virus ist keine schmutzige Krankheit, die
nur bestimmte Personenkreise angeht. Er kann jeden
von uns treffen. Ende 2014 lebten in Deutschland etwa
84 000 Menschen mit HIV, und es gab leider 3 200 Neuin-
fektionen. Deshalb stehen wir als Politiker in der Ver-
antwortung, der Krankheit und ihren Begleiterscheinun-
gen wirksam entgegenzutreten. Obwohl seit Ende der
80er-Jahre große Anstrengungen unternommen wurden,
um über HIV und Aids aufzuklären, so ist diese Krank-
heit dennoch weiterhin mit Vorurteilen behaftet. Leider
werden Infektionen mit sexuell übertragbaren Krankhei-
ten von vielen immer noch als selbstverschuldet angese-
hen. Es ist erschreckend, wenn Umfragen der Deutschen
AIDS-Hilfe zeigen, dass jeder zehnte Betroffene schon
einmal davor zurückscheute, eine Arztpraxis aufzusu-
chen, als dies nötig gewesen wäre, dass jedem Fünften
schon einmal eine medizinische Behandlung verwehrt
wurde und dass jeder Vierte, der offen mit seiner HIV-In-
fektion umgeht, vom Arbeitgeber diskriminiert wurde.
Solche Diskriminierungen sind nicht nur unangebracht,
sondern sie entbehren auch jeder rationalen Grundlage.

Menschen mit einer HIV-Infektion können heute ein
normales Leben führen. Aufgrund der enormen Fort-
schritte in der medikamentösen Therapie müssen sie, an-
ders als noch vor Jahrzehnten, nicht länger fürchten, jung
an einer Begleitbagatellerkrankung zu sterben. Obwohl
wir in einer aufgeklärten Gesellschaft leben, ist es somit
noch ein weiter Weg, bis Diskriminierung vollständig ab-
gebaut ist.

Liebe Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die Bun-
desregierung ist sich den in Ihrem Antrag aufgezeigten
Problemen durchaus bewusst. Sie geht diese Probleme
aktiv an, und sie schafft Lösungen. So konnten wir errei-
chen, dass Deutschland zu den Ländern mit der niedrigs-
ten HIV-Neuinfektionsrate in Europa zählt. Erst in der
vergangenen Woche – Sie haben es angesprochen – hat
die Bundesregierung die Strategie zur Eindämmung von

Kordula Schulz-Asche






(A) (C)



(B) (D)


HIV, Hepatitis B und C und anderen sexuell übertragba-
ren Infektionen vorgelegt. Diese Strategie begrüßen wir
sehr; denn sie holt die Betroffenen ebenso wie potenziell
Gefährdete dort ab, wo sie stehen, und geht auf deren
individuelle Lebenssituation ein.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Sie umfasst auf nationaler Ebene fünf Handlungs-
felder, die durch konkrete Maßnahmen mit Leben er-
füllt werden sollen: erstens gesellschaftliche Akzeptanz
schaffen, zweitens bedarfsorientierte Angebote weiter
ausbauen, drittens integrierte Prävention, Tests und Ver-
sorgungsangebote weiterentwickeln, viertens sektorüber-
greifende Vernetzung der Akteure fördern, fünftens Wis-
sensgrundlage und Datennutzung weiter ausbauen.

Es ist aber nicht nur unserer Gesundheitspolitik, son-
dern auch mutigen Kampagnen wie „Gib Aids keine
Chance“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Auf-
klärung zu verdanken, dass die Zahl der Neuinfektionen
seit mehreren Jahren – leider auf einem leicht erhöhten
Niveau – stabil ist. Es ist auch ein Verdienst der BZgA,
dass Kondome heute ein Alltagsgegenstand sind. Diese
Enttabuisierung müssen wir auch für die Krankheit selbst
erreichen.

Zudem ist mir wichtig, den zahlreichen Selbsthilfeor-
ganisationen, die unglaublich wertvolle Arbeit leisten, zu
danken. Es muss für uns selbstverständlich bleiben, dass
diese ausreichend finanziell gestützt werden.

Eine wichtige Säule der Versorgung bilden zudem un-
sere niedergelassenen Ärzte, die sich auf die Behandlung
HIV-Infizierter spezialisiert haben. Sie stellen eine hohe
Qualität sicher. Davon profitieren natürlich vor allem die
Patienten.

Es ist aber auch so, dass bei den Landärzten und auch
den spezialisierten Ärzten in absehbarer Zeit ein Mangel
droht. Deswegen müssen wir Anstrengungen unterneh-
men, den Nachwuchs für dieses Berufsfeld zu begeistern.
Auch unsere Hausärzte, wie gesagt, stellen eine wichti-
ge Säule der Versorgung dar. Deswegen wollen wir auch
dort die Fort- und Weiterbildungsangebote ausbauen.

Ich könnte noch sehr lange über dieses Thema reden.
Aber meine Redezeit ist fast beendet. Dennoch möchte
ich noch einen ganz wichtigen Punkt ansprechen und bit-
te deswegen um Verständnis – präventiv.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1816425600

Wenn er nicht zu lang wird.


Emmi Zeulner (CSU):
Rede ID: ID1816425700

Nein. – Bei der Bekämpfung von HIV verzeichnen

wir auch Erfolge. Leider besteht in anderen Bereichen
zu Recht die Sorge, dass sich bei jungen Menschen ver-
schiedene Krankheiten verbreiten, zum Beispiel Chlamy-
dien, HPV. Es ist auch nachgewiesen, dass die Zahl der
Syphilisinfektionen zugenommen hat. Hier droht sich ein
Teufelskreis zu entwickeln. Wir dürfen nicht riskieren,
dass wir an der einen Front gewinnen und zeitgleich an
der anderen verlieren. Deswegen ist es hervorragend,
dass die Strategie der Bundesregierung einen ganzheit-

lichen Ansatz fährt und sich nicht nur auf eine Krankheit
fokussiert, sondern alle Krankheiten im Blick hat.

In diesem Sinne wünsche ich weiterhin gute Beratun-
gen.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1816425800

Vielen Dank. – Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt

der Kollege Harald Petzold.


(Beifall bei der LINKEN)



Harald Petzold (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1816425900

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Verehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher!
Liebe Kollegin Zeulner, wenn es so ist, wie Sie sagen,
dass 16 von 22 Punkten, die im Antrag der Grünen ste-
hen, schon in der Strategie der Bundesregierung vorkom-
men: Wieso können Sie dann nicht über Ihren Schatten
springen und sagen: „Das ist ein guter Antrag“?


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Kordula SchulzAsche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Danke schön!)


Der Antrag beinhaltet Substanz, mit der wir gemein-
sam umgehen können. Ich frage Sie dies deshalb, weil
vor ein paar Tagen auf dem Frühlingsfest der Deutschen
AIDS-Hilfe eine Politikerin aus Ihren Reihen mit der Eh-
renmitgliedschaft ausgezeichnet worden ist, nämlich die
ehemalige Bundesgesundheitsministerin Rita Süssmuth.
Ihr haben wir es zu verdanken, dass wir in dieser Gesell-
schaft zu einem Umdenken, was den Umgang mit HIV
und Aids betrifft, gekommen sind.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie hat damals trotz Widerstandes in den eigenen
Reihen neue Methoden und vor allen Dingen ein neues
Denken durchgesetzt, die dazu geführt haben, dass wir
gemeinsam diese Krankheit angehen konnten. Wir soll-
ten uns daher nicht gegenseitig vorhalten: Wir sind die
Guten, und ihr könnt gefälligst mitmachen.

Es sind in der damaligen Zeit im Bundestag ganz an-
dere Töne zu hören gewesen. Hier denke ich an Reden
von Herrn Gauweiler, der eine Meldepflicht oder Reihen-
untersuchungen für alle schwulen Männer gefordert hat.
Hiervon sind wir Gott sei Dank weit entfernt, und solche
Forderungen – das sage ich mit allem Respekt – wurden
auch nicht wieder vorgebracht, im Gegenteil. Das finde
ich auch gut so.

Ich erinnere mich noch an Zeiten, als wir in den
90er-Jahren in Brandenburg, in Potsdam, die AIDS-Hil-
fe aufgebaut haben und uns rechtfertigen mussten, wa-
rum wir für so wenige Menschen da sind. Wir hatten
glücklicherweise nur eine niedrige Betroffenenrate und
eine niedrige Infiziertenrate. Allerdings – Sie und auch
Frau Schulz-Asche haben es gesagt – sterben leider noch

Emmi Zeulner






(A) (C)



(B) (D)


viel zu viele Menschen daran. Deswegen ist es dringend
notwendig, dass wir uns neu verständigen, dass wir eine
neue Konzeption entwickeln.

Ich finde, dass die Vorschläge, die die Grünen gemacht
haben, es wert sind, dass man sie unterstützt. Es sind gute
und richtige Vorschläge, und der Finger wird genau an
der richtigen Stelle in die Wunde gelegt, zum Beispiel
bei der Frage des Nichtzugangs zahlreicher Infizierter zu
lebenswichtigen Medikamenten und des unzureichenden
Zugangs zu notwendiger spezieller und gesunder Ernäh-
rung. Sie sprechen davon, dass wir natürlich – das muss
kritisch angemerkt werden – eingegangene Selbstver-
pflichtungen mit Blick sowohl auf den internationalen als
auch auf den nationalen Bereich nicht eingehalten haben.
Frau Süssmuth hat in ihrer Dankesrede eindeutig gesagt,
dass wir im Moment vor der Situation stehen, dass es
ein Rollback gibt, weil in den letzten Jahren die Mittel
für Prävention leider zurückgegangen sind und weil wir
wieder eine Zunahme von Diskriminierung haben.

Warum lassen sich Menschen nicht testen? Weil sie
natürlich Angst vor einem positiven Testergebnis haben.
Aber vor allen Dingen haben sie Angst vor der Diskrimi-
nierung, die damit verbunden ist. Mit ihr sind wir nach
wie vor konfrontiert. In dem Antrag, den uns die Grünen
vorgelegt haben, sind zu diesem Punkt gute Vorschläge
enthalten. Das gilt genauso für die Frage der Verleum-
dung der Infektionsentwicklung vor allem in osteuropäi-
schen Ländern. Das Beispiel der Ukraine, mit der wir ja
immer so hervorragend kooperieren, ist hier zu nennen.
Es finden dort, was diese Frage angeht, ganz finstere Ent-
wicklungen statt. Damit müssen wir uns auseinanderset-
zen.

Deswegen sage ich: Lassen Sie uns gemeinsam über
den eigenen Schatten springen. Wenn 16 von den 22 For-
derungen gut sind, kann man auch laut sagen, dass sie gut
sind, und man kann sie in die Strategie mit aufnehmen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1816426000

Vielen Dank. – Jetzt hat die Kollegin Mechthild

Rawert, SPD-Fraktion, das Wort.


Mechthild Rawert (SPD):
Rede ID: ID1816426100

Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger!
Liebe Kolleginnen der Grünen, ich bedanke mich dafür,
dass dieser Antrag eingebracht wurde. Denn so habe ich
auch die Gelegenheit, darzustellen, dass wir über Ihre
Forderungen hinaus in vielen Bereichen längst auf der
Ebene der Handlungserfüllung angekommen sind.


(Beifall des Abg. Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE])


Die Strategie zur Eindämmung von HIV, Hepatitis B
und C sowie anderen sexuell übertragbaren Infektionen
ist längst weiter, als dies Ihre Forderungen suggerieren.
Mit dieser Strategie verfolgen wir einen bedarfsorien-

tierten und sektorübergreifenden Ansatz, der vor allem
aber integrierend wirkt. Das ist auch im Hinblick auf die
Vielfalt der hier zur Debatte stehenden Erkrankungen
notwendig. Das alles sind nämlich Erkrankungen, die
durch sexuelle Handlungen übertragen werden. Es ist
auch logisch, dass wir eine Strategie und nicht nur einen
reinen Maßnahmenkatalog vorlegen. Denn auf diese Art
und Weise können wir in den nächsten Jahren viele As-
pekte aufgreifen.

Die erste Forderung Ihres Antrages lautet, eine natio-
nale Strategie zur Bekämpfung von HIV/Aids vorzule-
gen. Das ist längst – nämlich am 6. April 2016 – passiert.
Diese Forderung wäre damit also erledigt.

Selbstverständlich ist der Abbau von Stigmatisierung
und Diskriminierung ein zentrales Anliegen. Das ist
ein zentrales Anliegen auch dieser Strategie. Auch die-
se Forderung von Ihnen erfüllen wir. Schauen Sie sich
bitte die Seiten 13 und 14 an. Da sind unter der Rubrik
„Gesellschaftliche Akzeptanz schaffen“ konkrete Hand-
lungsfelder zur Enttabuisierung, Antistigmatisierung und
Antidiskriminierung benannt.

Es werden weitere Maßnahmen – wie zum Beispiel
das Harm-Reduction-Programm für Drogengebrauchen-
de – gefordert. Ich übersetze, wofür das Ganze dienen
soll: Dabei handelt es sich um Programme zur Minde-
rung von Schäden bei drogengebrauchenden Menschen.
Dabei geht es zum Beispiel um das Zurverfügungstellen
von sauberen Spritzbestecken. Auch solche Dinge be-
rücksichtigen wir in der zugrundeliegenden Strategie.

Auch prüfen wir bereits die sehr richtige Forderung
nach Aktualisierung der Hämotherapieleitlinien. Das
ist ja eine Forderung, über die wir in den letzten Jahren
schon gemeinschaftlich – über alle Fraktionsgrenzen
hinweg – diskutiert haben. Selbstverständlich setzen wir
uns auch dafür ein, dass beim Blutspenden der pauschale
Ausschluss von Männern, die Sex mit Männern haben,
beendet wird.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Das ist eine richtige Forderung in dem Antrag, die von
uns sehr unterstützt wird und an der wir auch arbeiten.

Zu den internationalen Forderungen gehört, dass in
Ländern mit hoher HIV-Prävalenz eine Sexualaufklärung
für Mädchen, junge Frauen und Männer etabliert wird.
Das ist richtig. Es ist auch ein Kernanliegen des deut-
schen Beitrages zur internationalen HIV-Bekämpfung.

Sie sehen, wir brauchen auch hier das Rad nicht neu
zu erfinden. Ich würde mir sogar manches Mal wün-
schen, dass die Beschlüsse, die wir im Hinblick auf in-
ternationale Politik treffen, innenpolitisch leichter durch-
zusetzen wären. In diesen Programmen sind wir nämlich
manchmal besser als das, was wir hier vor Ort machen.
Ich könnte so fortfahren, aber die genannten Beispiele
sollten jetzt reichen.

Insgesamt betrachtet, sind der Kampf gegen HIV/Aids,
der Abbau von Stigma und Diskriminierung sowie die
Menschenrechte der Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter,
der Drogengebrauchenden, der Menschen ohne Papiere
und auch der gefährdeten Menschen in Risikoländern

Harald Petzold (Havelland)







(A) (C)



(B) (D)


längst auf der Tagesordnung der SPD und Bestandteil
der Strategie. Wir Sozialdemokratinnen sind hier sogar
Vorreiterinnen: Die erste HIV/Aids-Bekämpfungsstrate-
gie der Bundesregierung von 2005 kam auf Initiative der
Ministerinnen Ulla Schmidt und Heidemarie Wieczorek-
Zeul zustande. Der erste Aktionsplan zur Umsetzung der
HIV/Aids-Bekämpfungsstrategie kam 2007 auf Initiative
von Ulla Schmidt zustande. Ehre, wem Ehre gebührt!


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Margaret Horb [CDU/CSU])


Wir haben uns des Weiteren für eine ausreichende Fi-
nanzierung in diesem Bereich eingesetzt. Die SPD-Frak-
tion hat 2015 eine Erhöhung der Mittel für die Aids-
prävention und auch für Aufklärung und Forschung in
diesem Bereich durchgesetzt. Diese Mittel sind im Haus-
halt 2016 verstetigt worden.

Die Aufklärung und die Prävention sind selbstver-
ständlich in unserem Blick. Ein gutes Beispiel ist das
Webportal www.zanzu.de, ein Projekt des Familien-
ministeriums und der Bundeszentrale für gesundheitli-
che Aufklärung, das sich gezielt an Migrantinnen und
Migranten und auch an geflüchtete Menschen wendet;
denn Aufklärung tut hier not. Es ist alles richtig, was hier
im Hinblick auf eine Konkretisierung der Zielgruppen-
arbeit gesagt worden ist. Da haben wir sehr genau zu ar-
beiten.

Es kann sich durchaus sehen lassen, was wir als SPD
bereits unternommen haben. Auf eines möchte ich gegen
Ende meiner Rede aber noch hinweisen: Das, was den
gemeinsamen Kampf gegen HIV/Aids, gegen sexuell
übertragbare Erkrankungen ausgemacht hat, war eine
hohe Einigkeit zwischen sämtlichen Fraktionen in die-
sem Haus. Diese Einigkeit hat nicht nur dazu geführt,
dass wir breite Debatten geführt haben, sondern hat auch
wesentlich zum Erfolg der Bekämpfung von HIV/Aids
beigetragen.

Es ist gesagt worden: Wir müssen mehr im Bereich
der Prävention tun. Ja, das stimmt; denn seitdem insbe-
sondere viele junge Menschen Aids als chronische Er-
krankung, aber nicht mehr als Todesdrohung empfinden,
kommt es wieder zu mehr Sorglosigkeit. Hier ist tatsäch-
lich ein Mehr an Aufklärung zu leisten. Daran können
wir alle uns beteiligen.

In diesem Sinne: Machen wir in dieser Gemeinsam-
keit im Kampf gegen HIV/Aids und andere sexuell über-
tragbare Erkrankungen weiter!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1816426200

Vielen Dank. – Jetzt spricht für die CDU/CSU-Frakti-

on der Kollege Dr. Georg Kippels.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Georg Kippels (CDU):
Rede ID: ID1816426300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zu diesem Zeitpunkt, in der Rolle als letzter Redner der

Debatte und bei diesem hohen Maß an Übereinstimmung
fällt es schon ausgesprochen schwer, einen kritischen
Unterton in die Diskussion zu bringen.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Müssen Sie ja auch nicht! Machen Sie doch mal Zusagen!)


Das ist zwar nicht unbedingt nötig. Aber ich denke, es
muss gestattet sein, sich zumindest mit den Punkten, an
denen dieser doch sehr ausführliche Antrag den Kern
der jetzt noch vorhandenen Problemstellungen vielleicht
nicht so richtig trifft, kritisch auseinanderzusetzen.

Die Überschrift des Antrags besagt, dass die Aidsepi-
demie in Deutschland und weltweit bis 2030 beendet
werden soll. Gestatten Sie mir, dass ich eine internatio-
nale Komponente hineinbringe, da ich mich als Mitglied
des AwZ schon seit längerem aktiv mit dieser Fragestel-
lung auseinandersetzen darf und muss, was sich darin
dokumentiert, dass ich Mitglied des Vereins „Freunde
des Globalen Fonds Europa“ bin, in dem Ihre ehemalige
Kollegin, Frau Wieczorek-Zeul, als stellvertretende Vor-
standsvorsitzende entscheidende Beiträge zur Fortent-
wicklung der Arbeit des GFATM leistet.

Zu Ihrer Frage, Herr Petzold, warum denn die CDU/
CSU-Fraktion diesem Antrag nicht einfach vorbehaltlos
zustimmen kann, kann ich nur sagen: Man kann eben
nicht vorbehaltlos zustimmen, wenn – und das ist nun
leider auch wieder im Antrag der Grünen passiert – be-
stimmte Fragestellungen mit Begeisterung ideologisch
überzogen werden


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche denn? – Kordula SchulzAsche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Beispiel!)


und dadurch schon ein bisschen ein falscher Unterton
in diese Debatte hineinkommt. Lassen Sie mich deshalb
exem plarisch einige Punkte aufgreifen, die mit Sicher-
heit sehr wichtig sind.

Entscheidend ist, dass wir im Rahmen unserer Be-
kämpfungsstrategie darauf abstellen, dass die nationale
Situation in einem untrennbaren Zusammenhang mit der
internationalen Situation steht.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das konnten Sie dem Antrag auch entnehmen!)


Die Mobilität der Menschen, aber auch die Wanderungs-
bewegungen aus osteuropäischen Ländern hin in den
zentraleuropäischen Raum lösen wieder eine neue In-
fektionsproblematik aus, die nicht nur durch Aufklärung,
sondern darüber hinaus auch durch eine entsprechende
Gesundheitsvorsorge bekämpft werden muss. Letztlich
darf aber nie vergessen werden, dass alle Maßnahmen
auch in den Ursprungsländern ansetzen müssen; denn
nur dann, wenn in den Entwicklungsländern eine Stabi-
lisierung der Gesundheitssysteme stattfindet, vor allen
Dingen auch nachhaltig stattfindet, ist eine internationale
Eingrenzung der Problematik gewährleistet.

In einzelnen Punkten Ihres Antrags ist festzustellen,
dass der Hinweis auf die ODA-Quote, auf die Mittelaus-

Mechthild Rawert

http://www.zanzu.de





(A) (C)



(B) (D)


weisung bei der Prävention und beim GFATM sowie auf
die Forschungsmittel standardisiert auftritt. Wir sollten
uns zunächst darüber Gedanken machen, an welcher
Stelle tatsächlich eine Mittelunterdeckung vorhanden ist.
Das kann die CDU/CSU-Fraktion im Rahmen der Ana-
lyse der einzelnen Titel absolut nicht feststellen. Beim
GFATM sind wir immerhin der viertgrößte Geber. Bei
einem Titel mit einem Volumen von 250 Millionen Euro
pro Jahr ist – das hat die Diskussion auch ergeben – eine
Strukturierung, eine Weiterentwicklung des GFATM
selbst erforderlich und keine großzügige Mittelaufsto-
ckung.

In Ihrem Antrag sind ordnungspolitische Hinweise
im Kontext der Flüchtlingsfrage zu finden. Sie sprechen
Veränderungen bei der Abschiebepraxis oder bei der Ge-
sundheitsvorsorge an. Das mag inhaltlich zwar richtig
sein, aber das betrifft die Zuständigkeit der Länder und
Kommunen. Insofern können wir gesetzgeberisch an die-
ser Stelle überhaupt nicht tätig werden. Letztlich können
wir die Länder durch entsprechende Empfehlungen nur
animieren, darüber nachzudenken. Aber bereits jetzt ist
bei den Abschiebungen eine entsprechende Berücksichti-
gung im Rahmen der Einzelfallentscheidungen gegeben.

Zum guten Schluss sei ein Hinweis zu den Pharma-
firmen gestattet. Sehr geehrte Frau Schulz-Asche, auch
Ihnen wird wahrscheinlich – so hoffe ich doch jeden-
falls – nicht entgangen sein, dass bereits zwölf Lizenzen
im Patentpool hinterlegt sind und Boehringer Ingelheim
zurzeit weitere Verhandlungen führt, um die Lizenzie-
rung der pädiatrischen Formel von Nevirapin an den Pool
weiterzugeben. Ich glaube, dass wir auf diesem Sektor
hervorragende Ergebnisse erzielen werden. Ich glaube
auch, dass die Erfolge, die bis jetzt verzeichnet worden
sind, absolut nicht möglich gewesen wären, wenn aus der
Pharmaindustrie und vor allen Dingen aus der Privatwirt-
schaft nicht ganz erhebliche Beiträge geleistet worden
wären.

Alle, die an diesem Thema verantwortlich arbeiten,
wissen um die Dimension der Aufgabe. Sie wissen vor
allen Dingen um die wissenschaftlichen Problemstel-
lungen, mit denen wir uns in ganz erheblichem Umfang
auseinandersetzen. Deshalb muss uns nachgesehen wer-
den, dass wir dem vorliegenden Antrag in diesem Fall
die Zustimmung verweigern; denn mit dem Papier der
Regierung haben wir eine hervorragende Grundlage für
die weitere Arbeit.

Es wäre vielleicht ein gutes Signal gewesen, wenn Sie
in Ansehung des Regierungsvorschlages Ihren Antrag
zurückgezogen hätten. Das wäre eine geeignete Möglich-
keit gewesen, großes Einvernehmen herzustellen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1816426400

Vielen Dank. – Wir sind damit am Ende der Aussprache,
aber es wird heute noch nicht abgestimmt, sondern die
Fraktionen haben sich darauf geeinigt, dass die Vorlage
auf Drucksache 18/6775 an die in der Tagesordnung auf-

geführten Ausschüsse überwiesen wird. Ich gehe davon
aus, dass Sie alle damit einverstanden sind? – Dann ist
die Überweisung so beschlossen. Wir werden das Thema
zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufrufen.

Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 16 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform

(Investmentsteuerreformgesetz – InvStRefG)


Drucksache 18/8045
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. – Ich bitte
die Finanzer, ihre Plätze einzunehmen.

Dann erhält jetzt für die Bundesregierung der Par-
lamentarische Staatssekretär Dr. Michael Meister das
Wort. – Bitte schön.


(Beifall bei der CDU/CSU)


D
Dr. Michael Meister (CDU):
Rede ID: ID1816426500


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Investmentfonds sind definiert im Kapitalanlagege-
setzbuch. Es gibt zwei verschiedene Arten von Invest-
mentfonds. Es gibt Fonds, die sich an das breite Publikum
wenden, das sind Publikums-Investmentfonds, in denen
sehr viele Menschen ihr Kapital anlegen. Hier weiß man
aufgrund der Breite nicht, wer diese Anleger sind. Da-
neben gibt es Spezialfonds, die sich an wenige Anleger
richten, bei denen man aber genau weiß, mit wem man es
im Kreis der Anleger zu tun hat.

Wir haben das Investmentsteuerrecht, das die Besteu-
erung dieser Fonds adressiert. Wir sehen als Bundesre-
gierung Handlungsbedarf, das bestehende Investment-
steuerrecht zu verändern, und zwar aus drei Gründen:

Erstens. Wir glauben, dass wir es europafester machen
müssen, als es ist. Wir haben heute die Situation, dass es
gewisse europarechtliche Risiken gibt, weil wir im deut-
schen Investmentsteuerrecht an einigen Stellen inländi-
sche und ausländische Fonds unterscheiden. Hier ist die
Frage zu stellen, ob dies am Ende des Tages, wenn Kla-
gen vor dem Europäischen Gerichtshof eingereicht wür-
den, tatsächlich Bestand hätte. Kollegen in Frankreich
und Polen haben an dieser Stelle schlechte Erfahrungen
gemacht. Wir wollen dafür sorgen, dass unser Recht
rechtzeitig so EU-rechtsfest ist, dass es auch bei entspre-
chenden Klagen Bestand hat. Daher plädieren wir an
dieser Stelle für eine Gleichbehandlung von inländischen
und ausländischen Investmentfonds. Ich glaube, dass das
ein vernünftiger Ansatz ist, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Zweitens hat insbesondere im Bereich der Publi-
kums-Investmentfonds unser Investmentsteuerrecht heu-

Dr. Georg Kippels






(A) (C)



(B) (D)


te eine sehr große Komplexität. Wenn Sie in diesem Zu-
sammenhang eine Besteuerung für ein Jahr durchführen
wollen, dann müssen Sie 33 Parameter angeben, um Ihre
Steuererklärung abzugeben. Wir schlagen jetzt vor, dass
wir im Bereich der Publikums-Investmentfonds einen
Weg gehen, der die Anzahl der Besteuerungsgrundlagen
für die Anleger deutlich reduziert, indem wir in Zukunft
nur noch vier Parameter abfordern, nämlich Angaben zu
den Fragen: Was ist der Fondsanteil zum Jahresbeginn
wert? Welchen Wert hat er am Jahresende? Wie hoch
ist die Ausschüttung an den Anleger, und um welchen
Fondstyp handelt es sich?

Ich glaube, das ist immer noch nicht einfach, aber es
ist wesentlich einfacher als das, was wir bisher im Be-
reich des Investmentsteuerrechts haben. Deshalb werben
wir ein Stück weit für diesen Vereinfachungsansatz.

Bei den Fonds entstehen heute Kosten in Höhe von
etwa 50 Millionen Euro allein für das Administrieren der
Besteuerung. Dieses Geld, das man heute für die Verwal-
tung der Besteuerung aufwendet, geht den Anlegern als
Ertrag verloren. Deshalb kommt, so glaube ich, über die
Vereinfachung auch den Anlegern etwas zugute.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Der dritte Punkt, der uns umtreibt, richtet sich eher
an die Spezialfonds, bei denen wir es mit institutionellen
Anlegern zu tun haben. Hier haben wir die Vermutung,
dass an der einen oder anderen Stelle Investmentfonds
genutzt werden könnten, um Steuergestaltung zu betrei-
ben. Daher ist unser Anliegen, diese Gestaltungsoptionen
so weit als möglich zu reduzieren.

Ich will als ein Beispiel das Thema Kopplungsge-
schäfte ansprechen, bei denen man auf der einen Seite
versucht, Veräußerungsgewinne aus Aktien zu erzielen,
und auf der anderen Seite, Verluste aus Termingeschäf-
ten zu organisieren. Die Veräußerungsgewinne aus Akti-
en sind steuerfrei, wenn es sich um Streubesitz handelt.
Umgekehrt kann man aus Termingeschäften Verluste
machen, und die Verluste können steuerlich anerkannt
bzw. geltend gemacht werden. Wenn man diese Geschäf-
te gegenläufig organisiert, kann man aufgrund der steu-
erlichen Vorteile quasi Geld organisieren. Wir sind der
Meinung, dass diese Gestaltungsoption künftig ausge-
schlossen sein sollte.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ein weiterer Weg sind die sogenannten Cum/Cum-Ge-
schäfte, bei denen man um den Dividendenstichtag he-
rum seine Anteile veräußert und dann dafür sorgt, dass
die Dividendenausschüttung nach Möglichkeit bei je-
mandem erfolgt, der die Dividenden steuerfrei beziehen
kann. Direkt nach dem Dividendenstichtag wird der An-
teil wieder bezogen, und man kann dann dafür sorgen,
dass diese nicht abgeführte Besteuerung der Dividende
zwischen den beiden Vertragspartnern ordentlich geteilt
wird.

Das ist auch heute nicht zulässig, wenn es als solches
identifiziert werden kann, wenn man also feststellen
kann, dass ein solches Geschäft gemacht worden ist, ohne
dass das wirtschaftliche Risiko übergegangen ist, nur um

Steuergestaltung zu betreiben. Aber das ist schwer fest-
stellbar. Deshalb haben wir an dieser Stelle gesagt: Wir
nehmen Anleihe am Beispiel USA und Australien, die
eine feste Zeit um den Dividendenstichtag herum ver-
langen, zu der die Aktie in Besitz sein muss, wenn man
die Dividende beziehen will und diese Möglichkeit, den
Veräußerungsgewinn sozusagen gegenzurechnen, nutzen
will. Ich glaube, dass wir das mit diesem Ansatz für die
Finanzverwaltung erkennbarer machen und damit dafür
sorgen, dass diese Geschäfte in Zukunft unterbleiben.

Abschließend will ich noch die Bemerkung machen,
dass wir nicht alles vollständig ausschließen. Das liegt
daran, dass wir die Veräußerungsgewinne aus Streubesitz
nicht steuerpflichtig machen. Dabei haben wir allerdings
ein doppeltes Anliegen: Wir wollen junges Wagniska-
pital nicht treffen, aber die Veräußerungsgewinne im
Allgemeinen schon. Da wir für diese Frage noch keine
EU-rechtskonforme Lösung haben, haben wir in diesem
Gesetzentwurf leider keinen Vorschlag dazu machen
können; aber wir suchen weiter nach einer Lösung, die
diese beiden Ziele zusammenbringt.

Ich würde mich freuen, wenn das sachkundige Publi-
kum hier zu einer guten Beratung dieses Gesetzentwurfs
käme.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1816426600

Vielen Dank. – Sachkundig macht jetzt der Kollege

Richard Pitterle für die Fraktion Die Linke weiter.


(Beifall bei der LINKEN)



Richard Pitterle (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1816426700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kol-

leginnen und Kollegen! Liebe Besucher auf der Besu-
chertribüne! Erst vor einigen Tagen hat der bayerische
Ministerpräsident meinem Fraktionskollegen Matthias
W. Birkwald beigepflichtet, der im Bundestag gebets-
mühlenartig die Absenkung des gesetzlichen Rentenni-
veaus als Fehler bezeichnet. Wenn Seehofer des Weiteren
erkannt hat, dass die Riester-Rente gescheitert ist, hat er
ausnahmsweise richtig recht.


(Beifall bei der LINKEN)


Bekanntlich hat die rot-grüne Koalition mit der Ren-
tenanpassungsformel das Niveau der gesetzlichen Rente
abgesenkt und die Bürger stattdessen aufgefordert, selbst
für das Alter zu sparen.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Thema verfehlt!)


– Ich komme schon noch zum Thema. Keine Angst, lie-
ber Kollege.


(Matthias Hauer [CDU/CSU]: Nur nicht sofort!)


Ein Fünftel der deutschen Haushalte ist dieser Auffor-
derung gefolgt, indem sie ihr Geld in Investmentfonds
angelegt haben. Die Besteuerung dieser Fonds soll mit

Parl. Staatssekretär Dr. Michael Meister






(A) (C)



(B) (D)


dem vorliegenden Gesetz – das haben wir ja gehört – ge-
ändert werden. Man will, wie es in der Begründung des
Gesetzentwurfs heißt, Steuervermeidungsmodelle, die in
diesem Bereich besonders gehäuft vorkommen, verhin-
dern. Gegen diesen Ansatz wird niemand etwas haben,
selbst die Linke nicht, insbesondere wenn man bedenkt,
dass sich allein seit 2008 das Volumen des in deutschen
Fonds verwalteten Vermögens auf fast 1,8 Billionen Euro
verdoppelt hat.

Aber ich frage mich angesichts der Tatsache, dass
bereits 2011 an einer umfassenden Reform gearbeitet
wurde, warum der selbst nach Angaben der Regierung –
Zitat – „gehäuften Steuervermeidung“ fünf Jahre lang
tatenlos freie Hand gelassen wurde.


(Beifall bei der LINKEN)


Nun ließe sich einwenden: Lieber spät als nie. Ich habe
jedoch ernsthafte Zweifel, dass die von Ihnen vorgege-
benen Ziele erreicht werden. Die Reform soll das steuer-
liche Gestaltungspotenzial eindämmen. Doch sie betrifft
nur Fonds von der Stange, also diejenigen, die von Pri-
vatanlegern genutzt werden. Mit Privatanlegern meine
ich zum Beispiel die Arbeitnehmer, die das hart erarbei-
tete Geld zur Altersvorsorge angelegt haben. Bei den für
Superreiche und institutionelle Anleger maßgefertigten
Spezialinvestmentfonds, bei denen zwei Drittel des ver-
walteten Vermögens liegen, bleibt es beim Alten. Für
Fonds also, die von Anlageprofis eingerichtet und genutzt
werden, bleibt es bei den Regelungen, die Steuervermei-
dungen erst ermöglichen. Wenn man an die Briefkästen
in Panama oder an die beim Aktienhandel verschenkten
Steuermilliarden, die wir jetzt sogar in einem Untersu-
chungsausschuss – Cum/Ex – hier im Bundestag untersu-
chen müssen, denkt, dann erscheint die Begründung des
Gesetzentwurfs mehr als naiv, nach der bei diesen Spezi-
alfonds nichts geändert werden müsse. Ich zitiere aus der
Begründung des Gesetzentwurfs, wonach – Zitat – „die
Einhaltung von sehr komplexen Besteuerungsregelun-
gen“ gewährleistet werden könne.

Was ändert sich nun für den Privatanleger? Kritische
Untersuchungen gehen von einer erheblichen Steuerer-
höhung aus. Was ändert sich für die Reichen und Super-
reichen? Nichts. Welche Fortschritte gibt es beim Kampf
gegen Steuervermeidung? Keine.


(Matthias Hauer [CDU/CSU]: Das stimmt doch nicht!)


Damit nicht genug. Im jetzigen Gesetz schlummern
durch den Verstoß gegen das Europarecht Milliarden-
risiken durch Steuerrückforderungen. Wie reagiert der
Bundesfinanzminister auf die Mahnungen des Bundes-
rechnungshofs? Dazu – so heißt es – hat das BMF eine
„andere Meinung“ – also gar keine.

Zumindest eine Änderung erscheint auf den ersten
Blick zielführend: Dem Missbrauch von Steuererstat-
tungen auf Dividenden mit sogenannten Cum/Cum-Ge-
schäften soll der Boden entzogen werden. Ob das stimmt,
werden wir in den Beratungen sehen.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1816426800

Vielen Dank. – Dann erhält jetzt der Kollege Lothar

Binding, SPD-Fraktion, das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Lothar Binding (SPD):
Rede ID: ID1816426900

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht zunächst
eine Bemerkung zu den Ausführungen von Richard
Pitterle.


(Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Die waren gut!)


– Teile waren gut, es gab auch Teile, die weniger gut wa-
ren, und es gab Teile, die waren ganz schlecht. Das ist
klar. – Was ich sagen wollte, ist, dass mit solchen Refor-
men eben auch das Ziel einer sicheren und stabilen Al-
tersvorsorge erreicht werden soll. Es ist völlig klar, dass
bei der privaten kapitalgedeckten Altersvorsorge Risiken
auftauchen, um die wir uns kümmern müssen. Auch das
tun wir mit der heutigen Reform. Außerdem war es nie
so gedacht, dass die Riester-Rente ein Ersatz für die ge-
setzliche Altersvorsorge ist. Die Idee war, eine kleine Lü-
cke von wenigen Prozenten auszugleichen. Insofern ist,
glaube ich, die Wirkmächtigkeit deiner Aussage relativ
niedrig.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Na ja!)


Die Behauptung, dass es eine Steuererhöhung für die
kleinen Leute gibt, ersetzt auch nicht den Beweis die-
ser Aussage. Das müsste noch gezeigt werden. Wer hier
nachrechnet, kommt auf eine Größenordnung von etwa
3 Euro. Wir schauen uns das später genauer an.

Der Anlass dieser Reform – das hat Herr Dr. Meister
vorgetragen; das hatten wir damals schon einmal bei der
Körperschaftsbesteuerung im Vollanrechnungsverfahren
in unserem Trennungssystem mit der Vorbelastung in der
Körperschaft und der Steuerzahlung desjenigen, der die
Dividende bekommt – ist die Unterscheidung zwischen
inländischen Fonds und ausländischen Fonds, bei denen
es eine Dividende gibt. Im inländischen Fall ist sie von
der Steuer befreit, im ausländischen Fall wird sie besteu-
ert. Das ist der klassische Fall des Verdachts, dass es eu-
roparechtswidrig ist. Deshalb ist die Reform notwendig.

Es gibt noch mehr Notwendigkeiten. Denn unser jet-
ziges System – ich glaube, Sie haben das ausgeführt – ist
hochgradig gestaltungsanfällig; das muss man sagen. Wir
haben dafür ja auch ein paar Belege. Es dient bei vielen
der Steuerverkürzung. Wir haben im Moment sogar einen
Cum/Ex-Untersuchungsausschuss; auch das spielt hier
natürlich eine Rolle. Es gibt auch Cum/Cum-Geschäfte.
Sie haben die Kopplungsgeschäfte erwähnt. Deshalb sa-
gen wir: Diese Reform ist gut, um diesen Gestaltungen
zu begegnen. Es ist ja ein allgemeiner Grundsatz, dass
wir Steuergestaltungen grundsätzlich bekämpfen wollen.

Nun reden wir ja viel über Briefkastenfirmen, Off-
shore firmen. Wir haben gerade etwas über Panama gehört.
Es ist gut, dass wir gleichzeitig die Gestaltungsmöglich-

Richard Pitterle






(A) (C)



(B) (D)


keiten, die im eigenen Land existieren, nicht vergessen.
Insofern gefällt uns die Reform im Grundansatz sehr gut.

Nun klingt sie sehr harmlos. Aber wir haben gerade
gehört, dass es um eine Größenordnung von etwa 2 Billi-
onen Euro geht, um Vermögen in Höhe von 2 000 Milli-
arden Euro. Die Bundesbank sagt 1,7 Billionen, die Bran-
che spricht von 2,5 Billionen. Wir merken jedenfalls:
Egal was für Erträge es dort gibt, sie müssen exorbitant
hoch sein; schließlich reden wir über mehrere 1 000 Mil-
liarden. Deshalb ist es klug, sich um dieses Vermögen zu
kümmern, indem wir die Anlageformen EU-rechtsstabil
machen, den administrativen Aufwand verringern und
natürlich die Gestaltungsanfälligkeit bekämpfen. Das
waren die drei Hauptpunkte, die auch Sie vorgetragen
haben. Wir glauben, dass das gut funktioniert.

Der bürokratische Aufwand kommt übrigens durch
ein eigentlich gutes Ziel zustande. Wir hatten gesagt: Die
Direktanlage und die Anlage über einen Fonds wollen
wir gleich behandeln. Also, ob jemand eine Aktie kauft
oder ob er das sozusagen über einen Fonds macht, darf
eigentlich keinen Unterschied machen. Das Dumme ist:
Aus diesem guten Ziel ergeben sich große Probleme.
Denn durch das Prinzip der steuerlichen Transparenz –
das heißt, der Fonds wird nicht besteuert, sondern der
Fiskus guckt durch den Fonds und, so war die Idee, der
Anteilseigner soll letztendlich besteuert werden – war es
nötig, dass mehr als 30 Besteuerungsgrundlagen ermittelt
und administriert werden müssen. Das ist sowohl für die
Fondsverwalter als auch für die Bürger eigentlich nicht
seriös zu administrieren. Deshalb ist es gut, wenn wir et-
was dagegen tun.

Jetzt will ich noch einen Satz zu Cum/Cum-Geschäf-
ten sagen. Ich glaube, keiner, der im Publikum sitzt,
weiß, was das ist. Stellen wir uns einen Steuerausländer,
etwa einen Franzosen, vor, der eine Aktie an eine deut-
sche Bank verkauft, und zwar kurz vor dem Dividenden-
stichtag. Dann erhält die Bank, weil sie die Aktie ja mit
Dividende gekauft hat, die Dividende und zahlt, wie es
sich gehört, auch zunächst Kapitalertragsteuer.

Allerdings kauft der Steuerausländer wenige Tage
nach dem Stichtag der Dividendenauszahlung die Aktie
von der Bank zurück, und zwar zu einem niedrigeren
Kurs – das ist ja klar, weil kein Anspruch auf Dividende
mehr existiert –, mit dem sogenannten Dividendenab-
schlag. Der Steuerausländer erzielt also statt Dividende
einen Veräußerungsgewinn. Dieser Veräußerungsgewinn
ist in Deutschland – Sie sagten: Streubesitz – steuerfrei.
Hier haben wir einen Dissens, weil wir der Meinung sind,
die steuerliche Behandlung von Dividenden und Veräu-
ßerungsgewinnen sollte unbedingt gleichgestellt werden.
Es geht übrigens immer noch um eine Flasche Sekt, die
derjenige bekommt, der eine europarechtskonforme Lö-
sung für dieses Problem findet. Es ist jeder aufgerufen,
sich diese Flasche Sekt zu verdienen.

Die inländische Bank erhält also die Nettodividende
plus einer Steuergutschrift für die Kapitalertragsteuer. Da
sie durch den Verkauf der Aktie allerdings einen Verlust
erleidet – weil ohne Dividende –, heben sich Dividenden-
ertrag und Veräußerungsverlust auf. Im Ergebnis hat der
Fiskus nichts. Das heißt, den Gewinn aus der gesparten

Steuer teilen sich der Steuerausländer und die Bank. Ge-
nau diesem Umstand, dass sich eine Bank und ein Steu-
erausländer die in Deutschland gesparte Steuer aufteilen,
wollen wir mit diesem Gesetz begegnen. Insofern ist die
im Gesetz vorgesehene Regelung, wie ich finde, eine sehr
gute Idee, allerdings mit dem Malus, dass wir nach wie
vor eine unterschiedliche Besteuerung von Dividende
und Veräußerungsgewinn haben. Diesen Zustand muss
man sicherlich noch überwinden.

Die Lösung ist letztendlich: Wir gehen in ein intrans-
parentes System. Das bedeutet: Auf Fondsebene werden
die Erträge besteuert, in diesem Fall mit 15 Prozent Vor-
belastung auf alle dortigen Erträge. Dann ist es möglich,
dass inländische und ausländische Fonds gleichbehandelt
werden. Damit ist das Europarechtsproblem gelöst.

Dass wir für gemeinnützige Anleger und Altersvorsor-
geverträge Ausnahmen vorsehen, ist sicherlich eine sehr
gute Sache. Dass diese Vorbelastung auf Fondsebene
letztendlich durch eine Teilfreistellung bei der Ausschüt-
tung kompensiert wird, ist nicht mehr als fair. Denn mit
diesem Gesetz wollen wir nicht die Steuer anheben, son-
dern die anderen genannten Ziele erreichen.

Wenn wir dieses Gesetz beurteilen, dann können
wir feststellen, dass wir das Ziel der Vereinfachung er-
reichen, der Gestaltungsanfälligkeit begegnen und es
europarechtskonform machen. Dass wir über die Höhe
der Teilfreistellung noch diskutieren müssen, ergibt sich
vielleicht auch daraus, dass wir beobachtet haben, dass
die Prozentsätze im Vergleich zum Diskussionsvorschlag
durchweg angehoben werden. Hier gibt es sicherlich
noch einiges zu rechnen, aber wir finden einen guten
Kompromiss.

Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1816427000

Vielen Dank. – Da der Kollege Dr. Gerhard Schick

seine Rede zu Protokoll1) gegeben hat, erhält jetzt als
letzter Redner in der heutigen Debatte der Kollege Fritz
Güntzler für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU – Christian Petry [SPD]: Güntzler ist heute der Letzte!)



Fritz Güntzler (CDU):
Rede ID: ID1816427100

Ich glaube, das war ich auch gestern schon, wenn ich

das richtig erinnere.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1816427200

Ja, vielleicht. Es kommt also immer zu einem guten

Abschluss.


Fritz Güntzler (CDU):
Rede ID: ID1816427300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten, wie gesagt, in
erster Lesung das Gesetz zur Reform der Investmentbe-

1) Anlage 6

Lothar Binding (Heidelberg)







(A) (C)



(B) (D)


steuerung. Das ist etwas für die Feinschmecker des deut-
schen Steuerrechts. Das ist Steuerrecht am Hochreck,
wie manche gesagt haben. Von daher freue ich mich auf
diese Beratung.

Das Investmentsteuergesetz, so wie wir es jetzt vor-
finden, gibt es seit 2003. Wir haben im Rahmen des
AIFM-Steuer-Anpassungsgesetzes im Jahre 2013 und
des Finanzmarktanpassungsgesetzes im Jahre 2014 be-
reits einige Regelungen angepasst und Reformen durch-
geführt. Nun gibt es diese umfassende Reform.

Zweck des Investmentsteuerrechts – der Lex specialis,
die allen anderen steuerlichen Regelungen vorgeht – ist
die Gleichstellung der Direktanlage mit der kollektiven
Anlage über einen Investmentfonds. Man will also er-
möglichen, dass man sich über einen Investmentfonds an
etwas beteiligt, an dem man sich sonst nicht beteiligen
könnte, dass man steuerlich aber nicht schlechter gestellt
wird als derjenige, der sich unmittelbar daran beteiligen
kann.

Man fragt sich: Hat dieses Gesetz eigentlich eine Be-
deutung? Wenn man einmal ein bisschen näher hinschaut,
stellt man fest: Es hat schon eine erhebliche Bedeutung.
Viele wissen es gar nicht, weil sie ihre Dividende von
der Bank bekommen und den entsprechenden Wert dann
einfach in die Anlage KAP der Steuererklärung eintra-
gen. Es gibt immerhin 50 Millionen Anleger in Invest-
mentfonds in Deutschland. Davon sind 15 Millionen
Bürgerinnen und Bürger. Die restlichen Anleger sind
institutionelle Anleger. In Investmentfonds sind 2,2 Bil-
lionen Euro investiert. Circa 40 Prozent davon befinden
sich in den sogenannten Publikums-Investmentfonds, die
der breiten Öffentlichkeit zur Verfügung stehen. Der Rest
liegt in die sogenannten Spezial-Investmentfonds. Man
sieht: Die Investmentfonds und damit auch die Besteue-
rung ihrer Erträge haben eine große Bedeutung. Folglich
ist auch diese Reform bedeutend, bedeutender als man-
che glauben.

Wir diskutieren dieses Thema ja schon recht lange.
Diesem Gesetzentwurf ist ein recht langes Beratungs-
verfahren vorangegangen. Es begann mit der Länder-
finanzministerkonferenz im Jahre 2011. Danach beriet
eine Arbeitsgruppe der Vertreter des Bundes und der
Länder. Das Ganze ging dann über in ein Gutachten, das
das Bundesfinanzministerium in Auftrag gegeben hat,
um die volkswirtschaftlichen Auswirkungen der Umset-
zung dieser Reformvorschläge einmal zu untersuchen.
Die Gutachter sind damals zu dem Ergebnis gekommen,
dass durch die Umsetzung der Reformvorschläge keine
negativen Auswirkungen auf den Kapitalmarkt, den Fi-
nanzstandort oder die Altersvorsorge in Deutschland zu
erwarten sind.

Insofern ist es gut, dass uns jetzt ein Gesetzentwurf
vorliegt. Vergleicht man ihn mit dem zunächst zur Dis-
kussion gestellten Entwurf, stellt man die Fortentwick-
lung fest. Ich finde, dieser Gesetzentwurf ist von Stufe
zu Stufe besser geworden. Vielleicht kann er durch die
parlamentarischen Beratungen noch besser werden. Ich
glaube, wir sind da auf einem sehr guten Weg.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Was soll erreicht werden? Es ist mehrfach angespro-
chen worden: Es geht darum, EU-rechtliche Risiken zu
vermindern. Diese Risiken sind erheblich. Sie kommen
dadurch zustande, dass wir ausländische und inländi-
sche Fonds unterschiedlich behandeln. Es könnten Mil-
liardenforderungen gegenüber dem Fiskus entstehen.
Daher ist es richtig, dass wir hier handeln. Es geht aber
auch um aggressive Steuergestaltung, ein Thema, das
uns hier ständig betrifft. Diese Steuergestaltung wollen
wir verringern. Es geht natürlich auch um Verwaltungs-
und Steuererhebungsvereinfachung. Es ist bereits ange-
sprochen worden, dass über 30 Besteuerungsmerkmale
erfasst werden müssen, um eine gerechte Besteuerung
durchzuführen. Das soll einfacher werden.

Ich glaube, es ist richtig – es ist mehrfach angespro-
chen worden –, dass wir jetzt eine Regelung zu den so-
genannten Cum/Cum-Geschäften anstreben. Der Cum/
Ex-Untersuchungsausschuss hat heute eine öffentliche
Anhörung durchgeführt. Es ist schon deutlich gewor-
den, dass Cum/Cum-Geschäfte das nächste Problem sein
könnten, wenn wir nicht reagieren. Daher ist es richtig,
dass wir hier reagieren.

Nur ein Hinweis, Herr Kollege Binding: Das Problem
im Zusammenhang mit den Veräußerungsgewinnen – Sie
haben in Ihrem Beispiel ja sehr schön geschildert, was
Cum/Cum-Geschäft heißt – ist nicht der Streubesitz,
sondern es besteht darin, dass die Veräußerungsgewinne
nach dem DBA grundsätzlich im Ausland zu versteuern
sind. In Ihrem Beispiel wären sie in Frankreich zu ver-
steuern gewesen. Ich finde es legitim, dass Sie versuchen,
dieses Thema auf allen Wegen anzugehen. Aber in die-
sem Punkt waren sie steuerlich fehlgeleitet.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Nein, nein! Sie haben recht! Aber die Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen gilt für Streubesitz!)


– Okay.

Ich finde gut, dass wir jetzt ein System für Publi-
kums-Investmentfonds haben, in dem es auf der Fonds-
ebene eine Erstbelastung von 15 Prozent gibt. Das muss
auf der Anlegerebene Berücksichtigung finden. Das wer-
den wir durch Freistellungsregelungen gewährleisten. Es
geht um die Freistellung von 30 Prozent der Gewinne bei
der Veräußerung von Aktienfonds und von 60 Prozent
der Gewinne bei der Veräußerung von Immobilienfonds.

Herr Binding, diese Werte sind tatsächlich größer
geworden; die Freistellung muss ja auch funktionieren.
Wenn wir sagen, dass wir wieder erreichen wollen, dass
die Anleger von einer Vorbelastung freigestellt werden,
dann brauchen wir Prozentsätze in dieser Höhe. Das kann
man rechnerisch nachweisen.

Ich glaube, dass es ein guter Gesetzentwurf ist. Bezüg-
lich der Cum/Cum-Geschäfte glaube ich, dass wir eine
gute Lösung gefunden haben. Über sie werden wir noch
weiter diskutieren. Nach dem Vorbild aus Australien und
den USA sieht die Regelung vor, dass die Kapitalertrag-
steueranrechnung dann ausgeschlossen ist, wenn der
Steuerpflichtige innerhalb eines Zeitraums von 45 Tagen
vor und 45 Tagen nach der Fälligkeit der Kapitalerträge

Fritz Güntzler






(A) (C)



(B) (D)


weniger als 45 Tage wirtschaftlicher und zivilrechtlicher
Eigentümer der Aktien ist.

Ich bin auch sehr froh – das sage ich ausdrücklich –,
dass das Thema Veräußerungsgewinne – Sie haben es im
Zusammenhang mit dem Streubesitz schon angespro-
chen – vom Tisch ist. Nachdem wir das Anrechnungs-
verfahren in der Körperschaftsteuer abgeschafft haben,
macht die Steuerbefreiung nach § 8 b Körperschaftsteu-
ergesetz Sinn. Wir brauchen diese Freistellung, weil es
sonst zu Kaskadeneffekten, zu mehrfachen Belastungen
kommt. Insofern ist es systematisch ein Fehler gewesen,
dass wir die Dividenden bei Streubesitz besteuern. Es hat
eine umfassende Diskussion darüber stattgefunden, ob
diese Besteuerung sinnvoll ist oder nicht. Systematisch
ist sie eigentlich falsch.

Wenn man systematisch schon einmal einen Fehler ge-
macht hat, dann stellt sich die Frage, ob es sinnvoll ist,
noch einen weiteren systematischen Fehler zu machen.
Ich bin sehr froh, dass sich die Regierung entschieden hat,
diesen Punkt, der in Diskussions- und Referentenentwür-
fen noch enthalten war, aus dem Gesetzentwurf heraus-
zunehmen. Ich glaube, das Ganze ist eine kluge Lösung.

Ich freue mich auf die bestimmt intensiven Beratun-
gen eines komplexen steuerrechtlichen Themas. Sie wer-
den für alle Fachleute eine Herausforderung sein. Wir
werden mit Begeisterung die Diskussion darüber führen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1816427400

Vielen Dank. – Ich gehe davon aus, dass Sie damit

einverstanden sind, dass der Gesetzentwurf auf Druck-
sache 18/8045 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse überwiesen wird, so wie es die Fraktionen
vereinbart haben. – Ich sehe auch keine anderen Vor-
schläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 17 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur

Änderung arzneimittelrechtlicher und ande-
rer Vorschriften
Drucksache 18/8034
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) –
Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind und bitte
auch hier um die Zustimmung, dass der Gesetzentwurf
auf Drucksache 18/8034 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse überwiesen wird. – Ich sehe keine
anderen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aktu-
alisierung der Strukturreform des Gebühren-
rechts des Bundes
Drucksache 18/7988
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Haushaltsausschuss

Auch hier sollen die Reden zu Protokoll gegeben
werden.2) – Ich sehe auch hier, dass Sie damit einverstan-
den sind. Dann müssen wir noch die Überweisung des
Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/7988 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse beschließen. – Sie
sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so
beschlossen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung für morgen, Freitag,
den 15. April 2016, 9 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen allen
noch einen schönen Restabend.