Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Ich darf Sie bitten, von denPlätzen erhoben zu bleiben.Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 31. März ver-starb mit 89 Jahren Hans-Dietrich Genscher. Bereitsam 18. März erlag Guido Westerwelle seiner schwerenKrankheit; er wurde nur 54 Jahre alt.Dass Hans-Dietrich Genscher 1998 das letzte Mal imDeutschen Bundestag das Wort ergriff, als nach eintä-giger, historischer Debatte die Einführung des Euro be-schlossen wurde, war wohl mehr als ein Zufall. Er selbstsah, dass sich hier ein Kreis schloss. In seiner von vielenals politisches Vermächtnis verstandenen Rede erinner-te er daran, wie – Zitat – „nationalistische Verblendungund verbrecherischer Vernichtungswille gegen andereVölker“ die staatliche Einheit Deutschlands zerstört undeinen ganzen Kontinent verwüstet hatten. Als Luftwaf-fenhelfer und Frontsoldat im Kampf um Berlin hatte erdiese blindwütige Zerstörung mit erleiden müssen. Da-rauf erlebte er als Hallenser, der er in seinem Herzen im-mer geblieben ist, die Enge der Diktatur in der DDR –prägende Erfahrungen für ein ganzes Leben.1998 erinnerte Hans-Dietrich Genscher im Bundes-tag vor allem daran, dass die Deutschen ihre staatlicheEinheit nur als Demokraten und als – Zitat – „gute Eu-ropäer“ wiedererlangen konnten. Genscher wusste, dassnationale Einheit und europäische Einigung zwei Seitender gleichen Medaille sind. „Europa ist unsere Zukunft.Wir haben keine andere“ – das war sein Credo; es wach-zuhalten – auch in Krisenzeiten –, hat er uns aufgegeben.Hans-Dietrich Genscher verstand in der bipolarenWelt wie kaum ein Zweiter, zwischen den Blöcken zuvermitteln. Mit trockenem Humor und einer schon le-gendären Freude am Witz baute Genscher über alle po-litischen Spannungen und ideologischen Gräben hinwegNähe und Vertrauen auf. Seine Außenpolitik war fest inden westlichen Bündnissen verwurzelt und zugleich derneuen Ostpolitik verpflichtet. So gestaltete er maßgeblichden KSZE-Prozess und trug zum veränderten Klima bei,das den Kalten Krieg überwinden half.Früher als viele andere hatte er den ReformwillenGorbatschows erkannt. Im entscheidenden historischenMoment schrieb Hans-Dietrich Genscher Weltgeschich-te: In den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen ebnete er di-plomatisch den Weg zur deutschen Einheit. Unvergess-lich bleibt seine Ansprache auf dem Balkon der PragerBotschaft, deren erster Halbsatz weit über den Kreis derBetroffenen hinaus eine fast explosionsartige Wirkungerzeugte.1992 gab er zur Überraschung auch seiner engstenMitarbeiter und Freunde die Leitung des AuswärtigenAmtes ab, als dienstältester europäischer Außenminister,hochgeachtet in Deutschland und in der ganzen Welt, zueinem Zeitpunkt, als sich die Außenpolitik angesichts derHerausforderungen einer gründlich veränderten Welt neuorientieren musste.In mehr als der Hälfte der damals 43 Jahre Bundes-republik hatte er bis dahin Regierungsverantwortunggetragen, zunächst als Innen-, dann als Außenminister,unter drei Bundeskanzlern in zwei verschiedenen Koali-tionen, in nicht weniger als neun Kabinetten. Als er 1998auch den Bundestag verließ, endeten 33 Jahre Abgeord-netentätigkeit, ein Leben im Dienst des Vaterlandes, wiesich Genscher selbst gern ausdrückte, eine herausragendepolitische Lebensleistung.Genscher war es auch, der früh die politische Bega-bung eines jungen liberalen Nachwuchspolitikers er-kannt hatte, der wiederum in ihm sein großes politischesVorbild fand: Guido Westerwelle.Die Nachricht von seinem Tod hat viele Menschen ge-rade wegen der Willensstärke und Zuversicht tief getrof-fen, die Westerwelle ausstrahlte, als er sich im vergange-nen Herbst mit einem Buch über seinen Kampf gegen dieschwere Erkrankung in der Öffentlichkeit zurückmelde-te, um Betroffenen Mut zu machen und andere zu ermun-tern, Knochenmark in einer Spenderkartei typisieren zulassen.Unser Land verliert mit Guido Westerwelle einen Par-lamentarier von großer öffentlicher Präsenz. Über vieleJahre hat er als herausragender Redner die Debattenkul-tur in diesem Haus wesentlich bestimmt. Dem Deutschen
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Bundestag gehörte Guido Westerwelle von 1996 bis 2013an; von 2006 an stand er an der Spitze der FDP-Bundes-tagsfraktion. Westerwelle focht für seine liberalen Über-zeugungen, streitlustig, schlagfertig und scharfzüngig,dabei oft witzig, mitunter beinhart in der Argumentation;er teilte aus und musste einstecken. Sein Verständnis vomLiberalismus wusste er in griffige Formeln zu kleiden,und selbstbewusst ging er, um seinen Themen öffentlicheAufmerksamkeit zu verschaffen, auch ungewöhnlicheWege.Manche Übertreibungen haben ihn schnell eingeholt.Es sagt viel über seinen Charakter, dass er diese im Nach-hinein bisweilen selbstkritisch hinterfragte. Während erals Politiker in der Öffentlichkeit polarisierte, bleibt erallen, die ihn persönlich kannten, als warmherzig, be-scheiden, humorvoll und kunstinteressiert in Erinnerung.Das haben viele bewegende Nachrufe, auch von Kolle-gen in diesem Haus über alle Fraktionsgrenzen hinweg,eindrücklich gezeigt.Der FDP verhalf Guido Westerwelle 2009 zu einemhistorisch beispiellosen Wahlergebnis und damit zu neuerRegierungsverantwortung. Nicht zuletzt seinem VorbildGenscher folgend, suchte er die kräftezehrende, neue He-rausforderung im Auswärtigen Amt. Der auf diese Weiseentwickelten Leidenschaft für die internationale Verstän-digung ging er auch nach seinem Ausscheiden aus deraktiven Politik weiter nach. Die Westerwelle Foundationist das ambitionierte, bleibende Vermächtnis einer Per-sönlichkeit, die sich um unser Land verdient gemacht hat.Der Deutsche Bundestag wird Hans-Dietrich Genscherund Guido Westerwelle ein ehrendes Andenken bewah-ren. Ihren Angehörigen gehört unser Mitgefühl.Liebe Kolleginnen und Kollegen, am 31. März istder ungarische Literaturnobelpreisträger Imre Kerteszgestorben – eine außergewöhnliche Persönlichkeit,Überlebender des Holocaust, der als 15-Jähriger vonBudapest nach Buchenwald und dann nach Auschwitzverschleppt wurde, dessen Hinwendung zum demokrati-schen Deutschland nach den schrecklichen persönlichenErfahrungen in der Zeit der nationalsozialistischen Ter-rorherrschaft ein bewundernswertes Zeichen menschli-cher Größe gewesen ist.2002 hat er seinen Lebensmittelpunkt nach Deutsch-land verlegt und bis 2012 in Berlin gewohnt. 2007 hat erauf unsere Einladung am Gedenktag für die Opfer desNationalsozialismus hier im Deutschen Bundestag bewe-gende, bleibende Worte an uns gerichtet. Im selben Jahr,2007, rief Imre Kertesz dazu auf, den – Zitat – „furchtba-ren Fanatismen in der Welt“ zu begegnen, „mit Kraft, mitVertrauen in sich selbst und in ein Europa, das weiß, wases will und welche Werte es vertritt“.Die anhaltende Bedrohung durch den islamistischenFanatismus haben uns verheerende Anschläge in den ver-gangenen Wochen vor Augen geführt. Während bei denAttacken auf den Brüsseler Flughafen und die U-Bahnder Stadt erneut Europa, die Werte der westlichen Weltund unser Verständnis von einem freien Leben im Faden-kreuz der Attentäter standen, richtete sich in Lahore, inPakistan, der Terror ausdrücklich gegen die christlicheMinderheit im Land. Willentlich wurden besonders vieleFrauen und Kinder getroffen.Dass sich der verblendete Hass der Islamisten auchund gerade gegen Muslime selbst richtet, zeigten einmalmehr die Anschläge im Irak, unter anderem auf ein Fuß-ballspiel, bei dem wahllos Dutzende Menschen in denTod gerissen wurden.Wir fühlen mit den Angehörigen aller Opfer. Und wirbleiben alle aufgefordert, diesem mörderischen Fanatis-mus entgegenzutreten – mit der Kraft des Rechtsstaates,vor allem aber mit Vertrauen in uns selbst und in ein ge-eintes Europa, das weiß, was es will und welche Wertees vertritt.Ich danke Ihnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt eine inter-fraktionelle Vereinbarung, unsere Tagesordnung um diein der Zusatzpunkteliste aufgeführten Punkte zu erwei-tern:ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionender CDU/CSU und SPD:Mehr Transparenz bei Steueroasen und Brief-kastenfirmen durch international abgestimm-tes Vorgehen durchsetzen
ZP 2 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr und digitaleInfrastruktur zu dem Antrag derAbgeordneten Stephan Kühn , TabeaRößner, Matthias Gastel, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENFluglärm wirksam reduzierenDrucksachen 18/4331, 18/5247ZP 3 Beratung des Antrags der AbgeordnetenChristian Kühn , Britta Haßelmann,Sven-Christian Kindler, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDie neue Wohnungsgemeinnützigkeit – Fair,gut und günstig wohnenDrucksache 18/8081Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-sicherheit
Innenausschuss FinanzausschussZP 4 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver-fahren
Beratung des Antrags der Abgeordneten PeterMeiwald, Kordula Schulz-Asche, AnnalenaBaerbock, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENGewässer vor MedikamentenrückständenschützenPräsident Dr. Norbert Lammert
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Drucksache 18/8082Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-sicherheit
Ausschuss für GesundheitZP 5 Weitere abschließende Beratung ohne Aus-sprache
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr und digitaleInfrastruktur
zu dem Vorschlag für eine Verordnung desEuropäischen Parlaments und des Rateszur Festlegung gemeinsamer Vorschriftenfür die Zivilluftfahrt und zur Errichtung ei-ner Agentur der Europäischen Union fürFlugsicherheit sowie zur Aufhebung derVerordnung Nr. 216/2008 des Euro-päischen Parlaments und des Rates KOM(2015) 613 endg.; Ratsdok. 14991/15hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesre-gierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 desGrundgesetzesDrucksachen 18/7422 Nr. A.22, 18/8103ZP 6 Aktuelle Stunde auf Verlangen der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Haltung der Bundesregierung zu den gesund-heitsgefährdenden Abgasbelastungen in vielendeutschen StädtenZP 7 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIELINKE:Aktuelle Tarifrunde im Bund und in denKommunen – Den öffentlichen Dienst gerechtentlohnenDabei soll von der Frist für den Beginn der Beratung,soweit erforderlich, abgewichen werden. Ich möchte Siefragen, ob Sie damit einverstanden sind. – Das ist offen-sichtlich der Fall. Dann können wir so verfahren.Dann rufe ich nun Tagesordnungspunkt 3 sowie denZusatzpunkt 2 auf:3. Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Fünf-zehnten Gesetzes zur Änderung des Luftver-kehrsgesetzesDrucksache 18/6988Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Verkehr und digitale Infrastruktur
Drucksache 18/8102ZP 2 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr und digitaleInfrastruktur zu dem Antrag derAbgeordneten Stephan Kühn , TabeaRößner, Matthias Gastel, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENFluglärm wirksam reduzierenDrucksachen 18/4331, 18/5247 Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegenein Änderungsantrag und ein Entschließungsantrag derFraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellenVereinbarung sind für die Aussprache 77 Minuten vorge-sehen. – Auch das findet offenkundig allgemeine Zustim-mung. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort demzuständigen Bundesminister Dobrindt.Alexander Dobrindt, Bundesminister für Verkehrund digitale Infrastruktur:Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Wir haben es heute mit einer Änderungdes Luftverkehrsgesetzes zu tun, auf die in den vergan-genen Monaten ganz viele sehnsüchtig gewartet haben,weil dadurch Rechtssicherheit geschaffen wird; dennzukünftig können an unseren medizinischen Einrichtun-gen – an Krankenhäusern in den Landkreisen bzw. in derFläche – die Landestellen für die Rettungshubschrauberweiter betrieben werden. Es ist ein wichtiges Signal,weil wir in den vergangenen Monaten mit Blick auf dieKrankenhauslandschaft in starkem Maße Diskussionendarüber hatten – resultierend aus einer EU-Rechtsver-ordnung –, ob die medizinische Versorgung zukünftigauch über den Hubschraubertransport sichergestellt wer-den kann. Das gelingt uns jetzt mit diesem Gesetz. Wirschaffen die Rechtssicherheit, dass die Nutzung von Lan-destellen für Rettungshubschrauber gesichert ist, meineDamen und Herren.
Wie Sie wissen, bestand lange Unsicherheit hinsicht-lich des regelmäßigen Anflugs vieler Hubschrauberlande-stellen von medizinischen Einrichtungen. Grundsätzlichbedürfen Flugplätze – und damit auch Landestellen derLuftrettung mit Hubschraubern – einer Genehmigung,wofür eine ganze Reihe von Anforderungen zu erfüllensind. Stark bebaute, hindernisreiche Regionen stellen je-doch eine besondere Herausforderung beim Landen undStarten von Rettungshubschraubern dar und machen dieErteilung einer solchen Genehmigung gerade in inner-städtischen Bereichen oftmals schwierig.Deshalb haben wir mit unserem Zukunftsplan dafürgesorgt, dass die bisherigen Landestellen in sogenannteLandestellen von öffentlichem Interesse umgewandeltwerden, dass weiterhin jede Landestelle bei einer un-mittelbaren Notlage eines Patienten angeflogen werdenkann, wenn der Pilot dies als sicher einschätzt. Wir ha-ben jetzt erstmal eine Liste aller zukünftigen und be-stehenden Landestellen an Krankenhäusern erstellt, wogrundsätzlich eine entsprechende Nutzung gegeben ist.Mit dieser zukunftssicheren Rechtsgrundlage können dieLande stellen langanhaltend genutzt werden und unter-liegen keiner Genehmigungspflicht als klassischer Flug-platz mehr.Präsident Dr. Norbert Lammert
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Das heißt, die Botschaft an die Regionen, die Land-kreise und die Städte, welche Krankenhäuser mit Lande-stellen betreiben, lautet: Alle Hubschrauberlandestellenan den Krankenhäusern können weiterbetrieben werden.Keine einzige muss geschlossen werden, meine Damenund Herren.
Weiterhin haben wir in diesem Gesetz auch eine Re-gelung aufgenommen, die dazu beiträgt, dass die Zu-kunftsfähigkeit des Luftverkehrs insgesamt – gerade imHinblick auf den wachsenden Personenverkehr – gesi-chert wird. Wir alle wissen, dass es nach den Prognosenansteigende Passagierzahlen in den nächsten Jahren – siewerden sich danach fast verdoppeln – geben wird. Dasheißt, es wird auch eine deutliche Steigerung der Flugbe-wegungen geben.Angesichts einer solchen Prognose muss man daraufachten, dass vor allem die Akzeptanz in der Öffentlich-keit für Flughäfen, für den Flugverkehr und auch für diesteigende Zahl von Starts und Landungen beim Luftver-kehr bestehen bleibt. Um diese Akzeptanz langfristig zuerhöhen, werden wir mit der in diesem Gesetz enthalte-nen Neuregelung sicherstellen, dass zukünftig beim Bauzusätzlicher Start- und Landebahnen oder beim Neubauvon Flughäfen die gesamte räumliche Entwicklung in dieUmweltverträglichkeitsprüfung einbezogen wird. Damiterfassen wir auch jene Bereiche, in denen Beeinträchti-gungen, vor allem natürlich durch Lärm beim An- undAbflugverkehr, zukünftig nicht ausgeschlossen werdenkönnen.Das ist eine grundlegend andere Herangehensweiseals in der Vergangenheit. In der Vergangenheit haben wirsehr klar definiert: Wo wird durch welche Flugbewegun-gen Lärm produziert werden? Genau das ist dann auchgeprüft und genehmigt worden. Jetzt ist unsere Herange-hensweise davon geprägt, dass auch möglicher zukünf-tiger Lärm aufgrund von Veränderungen am Flugplatzschon im Planfeststellungsverfahren mit berücksich-tigt werden muss. Damit schaffen wir für die betroffe-nen Anwohner deutlich mehr Sicherheit vor zukünftigentstehendem Lärm. Das heißt, auch die Prognosen zuLärmbelastungen spielen zukünftig eine Rolle, wenn esum die Genehmigung geht. Damit werden Konflikte, diewir heute oftmals erleben, von vornherein ausgeschlos-sen. Die Bevölkerung wird informiert. Dadurch wird dieAkzeptanz für Flughäfen und Flugbewegungen erhöht,meine Damen und Herren.
Wir haben in diesem Gesetz zur Änderung des Luft-verkehrsgesetzes auch Regelungen gefunden, die Aus-fluss intensiver Debatten der in meinem Haus nach demAbsturz der Germanwings-Maschine eingesetzten Task-force sind. Wir haben mit dieser Taskforce sowohl dieUnternehmen als auch die Wissenschaft, die Verwaltungund die Politik zusammengebracht, um Sicherheitsre-gelwerke, die wir im Bereich des Luftverkehrs haben,weiterzuentwickeln. Diese Taskforce, in der alle ge-meinsam – die Fluggesellschaften, das Ministerium, dasLuftfahrt-Bundesamt, die Berufsverbände, die Flugme-diziner – viele Wochen lang unter dem Dach des Bun-desverbands der Deutschen Luftverkehrswirtschaft eineDebatte geführt haben, hat uns eine Weiterentwicklungunserer Regeln empfohlen. Diese Empfehlung wollenwir mit diesem Gesetz umsetzen.Der Abschlussbericht hat sich intensiv mit der Fragebefasst: Können wir Verbesserungen bei den Kontroll-mechanismen im Bereich des Luftverkehrs durchsetzen?Wir haben uns in intensiven Beratungen mit den Kolle-ginnen und Kollegen aus dem Verkehrsausschuss – übri-gens auch innerhalb der Koalition – mit dem Abschluss-bericht beschäftigt. Ich möchte allen Kolleginnen undKollegen meinen ausdrücklichen Dank aussprechen, diein einer nicht ganz einfachen Situation bereit waren, ge-meinsame Lösungen zu finden, und jetzt auch bereit sind,sie mit dem Gesetzeswerk konsequent umzusetzen.Ein zentraler Punkt war, dass wir zukünftig Pilotenstichprobenartig auf den Konsum von Alkohol, Drogenund Medikamenten kontrollieren werden. Meine Damenund Herren, Experten weltweit gehen davon aus, dassstichprobenartige Kontrollen des Konsums von Alkohol,Drogen und Medikamenten im Flugverkehr einen posi-tiven Effekt haben und die betriebliche Sicherheit in derLuftfahrt erhöhen. Genau das ist unser Beweggrund. Esgeht nicht um Verdächtigungen gegenüber Pilotinnenund Piloten, sondern schlichtweg darum, dass wir miteiner Kontrollinstanz dafür sorgen, dass ein Stück mehrSicherheit entsteht; denn die Kontrollen führen natürlichdazu, dass auch untereinander eine stärkere Beobachtungdes Verhaltens stattfindet. Verhaltensweisen können in-nerhalb der Luftfahrtunternehmen mit Vertrauensperso-nen besprochen werden. Damit kann ein möglicher Scha-den präventiv ausgeschlossen werden.Meine Damen und Herren, wir wissen, dass die Luft-fahrtunternehmen hier in der Verantwortung stehen,diese Regelungen auch umzusetzen. Wir verpflichtendeswegen die Luftfahrtunternehmen, vor Dienstbeginnstichprobenartig Kontrollen durchzuführen. Bisher fehltes im Luftverkehr an solchen ausdrücklichen und sank-tionsbewehrten Verboten, wie wir sie im Bereich Stra-ßenverkehr haben. Das ändern wir jetzt. Darüber hinauswird das Luftfahrt-Bundesamt ermächtigt, solche Kon-trollen unangemeldet und bei allen in Deutschland täti-gen Luftfahrzeugführern durchzuführen und Verstößemit Bußgeld zu ahnden. Ich bin überzeugt: Mit dieserKombination aus gemeinsamer unternehmerischer undbehördlicher Verantwortung leisten wir einen wichtigenBeitrag zur weiteren Stärkung der Verkehrssicherheit inder Zivilluftfahrt.Zusätzlich richten wir eine flugmedizinische Daten-bank über die Tauglichkeit von Piloten ein und stellendamit eine lückenlose und nachvollziehbare Aufsichtdurch die anerkannten flugmedizinischen Sachverstän-digen und flugmedizinischen Zentren sicher. Zugleichpassen wir damit unsere luftrechtlichen Bestimmungenin Bezug auf das fliegende Personal in der Zivilluftfahrtan. Untersuchungsergebnisse zur Tauglichkeit werden –unter Einhaltung des Datenschutzes – personenbezogengespeichert und dem ärztlichen Personal in den Luft-fahrtbehörden uneingeschränkt übermittelt.Bundesminister Alexander Dobrindt
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Die Änderungen im vorliegenden Gesetzentwurf sindfür uns in der Tat ein bedeutender Schritt. Eine entspre-chende Diskussion gibt es nicht erst seit wenigen Mona-ten oder einem Jahr, sondern der Prozess dauert schonviele Jahre an. Es geht um die Abwägung zwischen demInteresse von Behörden, Daten zu sammeln, und der be-rechtigten Forderung der Betroffenen nach Datenschutz.Die Fachkolleginnen und -kollegen des Deutschen Bun-destages haben sich in der Vergangenheit immer wiedermit dieser Frage auseinandergesetzt. Die aktuelle Rechts-lage war das Ergebnis einer intensiven Debatte. Das Er-gebnis war eine Pseudonymisierung der Daten, sodassden Behörden nur anonymisierte und keine personenbe-zogen Daten vorliegen.Wir haben uns jetzt entschlossen, einen anderen Wegzu gehen. Es wird eine flugmedizinische Datenbank ein-gerichtet, in der alle Tauglichkeitszeugnisse und medizi-nischen Untersuchungsbefunde gespeichert werden, undzwar personenbezogen. Zugriff auf diese Datenbank ha-ben ausschließlich die medizinischen Sachverständigendes Luftfahrt-Bundesamtes und deren Mitarbeiter. Dabeiist zu betonen, dass wir mit der Einführung der Daten-bank die Flugmediziner in die Lage versetzen, festzustel-len, ob ein sogenanntes Ärztehopping stattfindet. In derVergangenheit wurde vielfach kritisiert, dass Ärzte nichtin die Lage versetzt werden, festzustellen, ob ein Patientschon vielfache medizinische Untersuchungen an ande-ren Stellen vornehmen ließ, dies aber dem zuletzt unter-suchenden Arzt nicht zur Kenntnis gebracht hat.Das kann durch die neue Regelung ausgeschlossenwerden. Wir versetzen die Ärzte in die Lage, festzustel-len, ob Ärztehopping stattfindet. Wir versetzen die Ärztein die Lage, festzustellen, ob ihr Patient Voruntersuchun-gen hatte. Wenn sich daraus ein Verdacht ergibt, dannkann sich ein Arzt an das LBA wenden, das auf die Da-tenbank zugreifen und nachschauen kann. So kann manklären, ob es sich möglicherweise um eine Gefährdungs-situation handelt, bei der man einschreiten muss.
Ich weiß, dass die Diskussion und der Abwägungspro-zess zwischen Datenschutz und einem Mehr an Trans-parenz den Kolleginnen und Kollegen viel abverlangthat. Ich weiß, dass es nicht ganz einfach ist, all die Ar-gumente, die in der Vergangenheit gegolten haben, mitneuen Argumenten anzureichern, um zu einer anderenEntscheidung zu kommen. Aber ich weiß, dass dies derrichtige Weg ist.Ich möchte mich ausdrücklich bei Ihnen allen für dieDiskussion und die Begleitung der Taskforce bedanken.Die neuen Regelungen sind ein richtiger Schritt, um dieSicherheit im Flugverkehr zu stärken und um das Ver-trauen in die Luftfahrt aufrechtzuerhalten.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun der Kollege Herbert Behrens für die
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DasLuftverkehrsgesetz soll in vielen Punkten verändert wer-den, aber ich will mich auf zwei Punkte beschränken, umetwas mehr Zeit zum Argumentieren zu haben.Die Überwachung der Gesundheit ist der erste Punkt.Es wurde eben noch einmal deutlich hervorgehoben, dasswir uns mit der Flugtauglichkeit der Pilotinnen und Pi-loten befassen müssen, nachdem wir das schrecklicheUnglück der Germanwings-Maschine zu konstatierenhatten. Es hat eine umfassende Aufarbeitung und Be-arbeitung gegeben. Ich glaube, wir haben uns im Aus-schuss in verantwortungsbewusster Weise mit dieserFrage beschäftigt. Wir sind dabei zu unterschiedlichenErgebnissen gekommen, und ich will gern begründen,warum das der Fall gewesen ist.Wir stellen fest, dass der Wettbewerbsdruck in derLuftverkehrswirtschaft enorm ist. Er hat sich langsambis in die Flugzeugkanzeln hineingefräst. Es gibt Ge-schäftsmodelle, bei denen Piloten nur noch dann bezahltwerden, wenn sie auch tatsächlich fliegen. Das übt na-türlich einen enormen Druck auf die Beschäftigten aus,die aufpassen müssen, wie viele Erkrankungen und wieviele Auszeiten sie sich nehmen können. „Pay per Flight“heißt dieses Geschäftsmodell, das wir verurteilen.
Aus diesem Grund, aber auch aufgrund der German-wings-Katastrophe, war es nötig, uns mit den Sicherheits-anforderungen und den Gesundheitsanforderungen andie Piloten zu befassen. Wie kann sichergestellt werden,dass nur körperlich und seelisch wirklich gesunde Pilotenin der Kanzel ihren Dienst tun? Der Verkehrsminister hates eben erwähnt: Er setzt auf lückenlose Kontrolle auchder Gesundheitsdaten und auf zusätzliche unangekündig-te Zufallskontrollen. Dann wissen die Piloten, dass sienicht ungestraft oder nicht ohne die Gefahr, erwischt zuwerden, diese Substanzen zu sich nehmen dürfen. Daskennen wir aus dem Straßenverkehr. Das ist okay, dennes geht um die Gesundheit der in der Luftverkehrswirt-schaft tätigen Menschen.Aber wir müssen wissen, was diese lückenlose Über-wachung der Gesundheitsdaten auch nach sich zieht. Dasheißt, zu fragen ist: Gibt es Möglichkeiten, diese zu um-gehen, wenn sich jemand nicht so wohl fühlt oder wenn –wie ich es eben gesagt habe – ein bestimmtes Geschäfts-modell dahintersteckt, das jemanden sogar dazu zwingt,nach Umgehungstatbeständen zu suchen?Darum haben wir versucht, mit unseren Vorschlägenin die Debatte einzugreifen und insbesondere dieses Ar-gument aufzugreifen. Wir sind da nicht ganz allein. Auchdie Europäische Agentur für Flugsicherheit, EASA, hatin ihrem Abschlussbericht zum Germanwings-Unglückfestgestellt, dass es durch verschiedene Programme mög-lich sein muss, auf die Piloten einzuwirken, sodass sieBundesminister Alexander Dobrindt
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wirklich nur dann ihren Dienst antreten, wenn sie körper-lich und auch seelisch topfit sind.Wir haben auch den Vorschlag gemacht: Lasst unsdoch Regelungen finden, durch die wir in der Lage sind,ganz dicht an die Beschäftigten selbst über Tarifverträgeund Betriebsräte heranzukommen. Nicht nur wachsendeBürokratie sorgt für mehr Sicherheit, sondern auch ganzdicht an den Beschäftigten ansetzende Programme, diees ihnen erleichtern, sich zu offenbaren, wenn es ihnennicht gutgeht. Das ist im Gesetzentwurf nicht enthalten,darum werden wir diesen Gesetzentwurf auch ablehnenmüssen.
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, der heuteMorgen noch keine Rolle gespielt hat, nämlich die Ver-ordnung über Bodenabfertigungsdienste auf Flugplätzen.Dazu haben wir einen Entschließungsantrag vorgelegt.Auch hier ist erkennbar, dass aufgrund der Liberalisie-rung des Marktes seitens der EU-Kommission und dernachfolgenden Gesetzentwürfe der Bundesregierung derDeregulierung Tür und Tor geöffnet sind. Diese reicht biszu den Bodenabfertigungsdiensten. Inzwischen ist es denFlughafenbetreibern untersagt, ausschließlich und alleinfür den Flughafen und die damit im Zusammenhangstehenden Bodenabfertigungsdienste verantwortlich zusein. Darum sind sogenannte Drittabfertiger zugelassen,die in einer Anlage zur Verordnung genannt werden.Nun hat man in Düsseldorf diese Bodenabfertigungs-dienste ausgeschrieben, obwohl für Düsseldorf festgelegtwurde, dass nur zwei Drittabfertiger auf dem Vorfeld undin den Diensten eingesetzt werden dürfen. In Düsseldorfsucht man einen dritten Anbieter und hat diese Aufgabeausgeschrieben. Jetzt versucht man hier, mit einer ent-sprechenden Maßnahme dieses illegale Handeln auf demDüsseldorfer Flughafen zu legitimieren. Das dürfen wirnicht zulassen.
Das ist nachträgliches Legalisieren einer nichtlegalenHandlung. In Schönefeld haben wir übrigens das gleicheVerfahren. Auch dort wird die Obergrenze, die in der Ver-ordnung festgelegt ist, überschritten.Es ist nicht in Ordnung, dass das Thema Sicherheit andieser Stelle nicht angemessen berücksichtigt wird. Ha-ben wir denn mehr Sicherheit, wenn mehr Firmen für dieBodenabfertigungsdienste auf den Flughäfen zuständigsind? Ist es nicht vielmehr so, dass wir mit gut kontrol-lierten Unternehmen, die qualitativ hochwertige Arbeitleisten und die tariflichen Standards einhalten, für einhohes Maß an Sicherheit auf den Flughäfen sorgen? Ichmeine, das ist der richtige Weg. Ein hohes Maß an Si-cherheit gibt es nur mit guten Arbeitsbedingungen. GuteArbeit und Sicherheit gehören zusammen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als die EU-Kom-mission eine Ausweitung des Wettbewerbs und mehrKonkurrenz in diesem Bereich forderte, waren wir unsim Ausschuss einig. Wir haben die Gefahren gesehen undeinhellig gesagt: Nein, wir wollen den Wettbewerb be-grenzen. Hier aber wird einfach so getan, als ob ein Mehran Bodenverkehrsdiensten nicht zu einer Liberalisierungführt. Das ist nicht in Ordnung. Darum sage ich: NehmenSie unseren Entschließungsantrag ernst. Greifen Sie diedarin genannten Vorschläge auf, damit es auf den Flughä-fen, auch in den dem Flugfeld vorgelagerten Bereichen,wirklich sicher ist; denn Sicherheit ist das höchste Gebotin der Luftfahrt. Wie gesagt: Gute Arbeit und mehr Si-cherheit sind zwei Seiten einer Medaille.
Arno Klare ist der nächste Redner für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist parlamenta-rische Primetime, und wir reden über Luftverkehr. Daskommt nicht so oft vor, muss ich feststellen. Als Bericht-erstatter für diesen Bereich füge ich selbstbewusst hinzu:Der deutschen Luftverkehrswirtschaft steht, um in dermetaphorischen Diktion zu bleiben, dieser prominenteSendeplatz durchaus zu.
Wir reden heute über die 15. Novelle des Luftver-kehrsgesetzes. Das hört sich ziemlich trocken an, aberwir reden über das Basisgesetz der Luftverkehrswirt-schaft in Deutschland. Aus diesem Luftverkehrsgesetzsind alle anderen Gesetze, die mit Luftverkehr zu tun ha-ben, entweder abgeleitet, oder sie beziehen sich darauf,so zum Beispiel das Luftsicherheitsgesetz – ein Entwurfder Novelle liegt vor; jetzt steht die Ressortabstimmungan –, das Fluglärmgesetz, das 2017 evaluiert werden soll,und natürlich auch die Verordnungen wie die Luftver-kehrs-Ordnung und die Luftverkehrs-Zulassungs-Ord-nung. Das alles sind sehr abstrakt klingende Begriffe,aber all das ist aus diesem Basisgesetz abgeleitet. Inso-fern nehme ich mir in meiner noch knapp fünfminütigenRedezeit das Recht, ein paar Worte über den allgemeinenZustand, über die allgemeine Lage der Luftverkehrswirt-schaft in Deutschland zu sagen; denn es geht darum, dassdieses Basisgesetz geändert wird, und wenn wir schoneinmal zur Primetime debattieren, dann muss man dasauch einmal tun.Allgemein gilt: Die Luftverkehrswirtschaft in derBundesrepublik Deutschland hat eine sehr hohe ökono-mische Bedeutung. Aber sie hat auch – auch dieser As-pekt gehört dazu – einen durchaus schweren Stand, undzwar auf nationaler und internationaler Ebene. Auf natio-naler Ebene geht es dabei um die Akzeptanz – das Themaist gerade schon vom Minister angesprochen worden –,und auf internationaler Ebene geht es um die internatio-nale Konkurrenz.Herbert Behrens
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Ich fange mit der nationalen Akzeptanz an. Im letztenJahr wurde die NORAH-Studie veröffentlicht. Dies istweltweit die größte Studie zur Lärmwirkung. Sie wur-de übrigens zum größten Teil von der Luftverkehrswirt-schaft selbst finanziert; auch das muss man sagen. In die-ser Studie ist den Bewohnern der Anrainerregionen desFrankfurter Flughafens zum Beispiel die Frage gestelltworden, inwieweit sie sich durch den Luftverkehrslärmbelästigt fühlen. Das Ergebnis aus dieser Befragung inden Jahren 2011, 2012 und 2013 ist mit dem Ergebniseiner Studie verglichen worden, die aus dem Jahr 2005stammt.Von 2005 bis zu der Befragung 2011, 2012, 2013haben die Flugbewegungen am Frankfurter Flughafendeutlich abgenommen – die Passagierzahlen sind gestie-gen, aber die Flugbewegungen haben abgenommen –,die Flugzeuge sind leiser geworden – das kann man anden Messpunkten und den Protokollen der Messpunkteeindeutig ablesen –, und – ein Weiteres kommt noch hin-zu – die Nachtruhe ist eingeführt worden. Gleichwohl istdie Zahl derjenigen Menschen, die geäußert haben, dasssie von dem Fluglärm sehr belästigt werden, gegenüber2005 um 11 Prozent gestiegen. Weniger Flüge, leisereFlüge und Nachtruhe – trotzdem 11 Prozent mehr.
Das zeigt: Die Luftverkehrswirtschaft und der Luftver-kehr haben in der Tat ein Akzeptanzproblem, das wir an-gehen müssen.Hinzu kommt, dass der Luftverkehr in einer globalenKonkurrenz steht und für die deutsche Luftverkehrswirt-schaft kein Level Playing Field in dieser Welt besteht.Anders als andere Verkehre ist Luftverkehr durchausverlagerbar. Istanbul ist von München, dem zweiten gro-ßen Hub nach Frankfurt, einen Steinwurf weit entfernt.Dort können genau die Verkehre abgewickelt werden,die in München abgewickelt werden. Von Frankfurt ist esauch nicht wahnsinnig weit weg. Das heißt, die Wachs-tumsdynamik ist, wenn man den deutschen mit dem in-ternationalen Luftverkehr vergleicht, bei uns durchausschwach. Dankenswerterweise haben wir als Grundlagefür das Luftverkehrskonzept, das jetzt zur Beratung undEntwicklung ansteht, eine Expertise von, ich glaube,700 Seiten vorliegen, in der das deutlich und in Zahlenausgedrückt wird. Ich bin durchaus dankbar dafür, dasssolch eine Riesenexpertise vorliegt; denn sie fasst – zu-mindest für mich – einmalig all das zusammen, was mansich sonst mühsam zusammensuchen müsste.Die Luftverkehrswirtschaft ist ein volkswirtschaft-liches Essential in Deutschland, und sie ist hochgradiginnovativ mit großen Spin-off-Effekten für andere Berei-che. Ich möchte nur eines herausgreifen. Ich war in derletzten Woche in Ottobrunn bei München auf dem LudwigBölkow Campus von Airbus. Dort haben zwei ganz großedeutsche Firmen, nämlich Siemens und Airbus – nicht zuganz gleichen Teilen; Airbus steckt da mehr rein –, denGrundstein für ein E-Aircraft System House gelegt, einerForschungseinrichtung, die elektrisches Fliegen mög-lich machen will. Einen solchen Flieger gibt es übrigensschon. Das ist der E-Fan. Er ist relativ klein. Er würdehier vorne in den Saal gut hineinpassen. Das gibt es alsoschon. Das ist keine völlige Utopie. Die wollen das jetztin großem Stile organisieren und daran forschen. Das istein 450-Millionen-Euro-Investment. Das sollte man viel-leicht einmal würdigen, wenn man darüber redet, ob manFlugverkehre und die Luftverkehrswirtschaft weiterhinrestriktiv und beschneidend angehen will. Da ist ein ganzgroßes innovatives Potenzial enthalten.Nicht weit davon entfernt ist das Bauhaus Luftfahrt –über diesen Punkt habe ich hier schon einmal geredet –,die SOLAR-JET entwickelt haben, ein Kerosin, das ausschlichten Teilen besteht, nämlich einfach nur aus CO2,aus Wasser und als Energiezufuhr Sonnenlicht. Darauswird völlig klimaneutral, völlig CO2- und THG-neutralein Kerosin hergestellt.
Das ist auch im industriellen Großmaßstab machbar.Wenn beides zusammenkommt, elektrisches Fliegen plusdieses Kerosin – es geht ja um ein Hybridflugzeug –, dannfliegen wir klimaneutral. Das ist ein wirklich sehr gro-ßer innovativer Schritt. Wenn man dieses SOLAR-JETherstellen kann, dann kann man das im Prinzip auchauf andere Spritarten übertragen, zum Beispiel die, diewir im Straßenverkehr verwenden. Das meine ich mitSpin-off-Effekten.
Zusammenfassend muss man sagen: Wir sollten dieimmense Bedeutung der Luftverkehrswirtschaft in un-serer gesamten Volkswirtschaft ernst nehmen, und wirsollten bedenken – ich habe jetzt nur ganz wenige Punktegenannt –, wie hochgradig innovativ die Luftverkehrs-wirtschaft ist und wie viel Geld und Forschungskapazitätdarin stecken.Danke, dass Sie mir zugehört haben.
Oliver Krischer ist der nächste Redner für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esist schon angesprochen worden: Dieser Gesetzentwurfbetrifft eine ganze Reihe von Aspekten. Ich erspare esmir, hier darüber zu reden, dass Rechtssicherheit fürHubschrauberlandeplätze an Krankenhäusern geschaffenwird. Dass da Rechtssicherheit geschaffen wird, ist ei-gentlich selbstverständliches Regierungshandeln.
Das kann man nicht ernsthaft infrage stellen. Damit kannman sich auch nicht brüsten. Das bedarf also eigentlichkeiner weiteren Erwähnung.Wir finden es im Grundsatz richtig, dass auch Kon-sequenzen aus dem Germanwings-Absturz gezogenArno Klare
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werden, dass hier gehandelt wird; mein Kollege StephanKühn wird gleich noch Näheres dazu sagen.Ich möchte mich auf einen Aspekt konzentrieren, der,glaube ich, zwischen uns kontrovers ist, was diesen Ge-setzentwurf angeht – er war auch der ursprüngliche An-lass dafür, dass dieses Gesetz geändert wird –: auf dasThema Fluglärm. Herr Klare, Sie haben von Akzeptanz-problemen gesprochen. Das klang so, als ob rund um dieGroßflughäfen alles gut wäre. – Wo ist er denn? Ich seheihn gar nicht.
– Er ist wieder gegangen, gut. – Er hat, wie gesagt, sogetan, als ob alles gut wäre.
– Aha. – Aber wenn man sich einmal die Situation rundum die deutschen Großflughäfen ansieht, stellt man fest:Es ist eine unglaubliche Belastung, die die Menschendort aushalten müssen, im Minutentakt, oft noch nachts.Ich sage ganz offen: Wenn die Luftverkehrswirtschaft,wie Herr Klare eben gesagt hat, so wichtig ist, so sehrprosperiert und so stark ist, dann muss es doch eigentlicheine Selbstverständlichkeit sein, dass die Bundesregie-rung alles unternimmt, um die Belastungen durch Flug-lärm zu reduzieren.
Meine Damen und Herren, da kann man wirklich nurmit dem Kopf schütteln. Sie legen hier einen Gesetzent-wurf vor, der im Kern als einzige Änderung im Hinblickauf den Fluglärm vorsieht, dass dann, wenn neue Lande-bahnen oder Flughäfen in Deutschland gebaut werden,eine UVP-Pflicht besteht. Mir ist nicht bekannt, wo inDeutschland im Moment ein großer Verkehrsflughafenoder auch nur eine Landebahn geplant wird – es sei denn,es gibt einen Geheimplan von Herrn Dobrindt, um seinMitscheitern beim BER ganz neu aufzulösen. Aber Siemachen hier ein Gesetz für etwas, was in den nächstenJahren keine Rolle spielen wird.
Das ist doch absurd. Das hat nichts mit dem Schutz vorFluglärm zu tun. Das ist im Off.Was wir tatsächlich bräuchten – da machen Sie über-haupt nichts; das packen Sie an dieser Stelle überhauptnicht an –, ist, dass dann, wenn an Flughäfen die Flug-routen geändert werden und Genehmigungsänderungenanstehen, eine UVP-Pflicht besteht und Vorprüfungendurchgeführt werden. Das haben Sie andeutungsweisesogar in Ihrem Koalitionsvertrag stehen. Meine Damenund Herren von der Großen Koalition, warum machenSie das nicht, wo Sie dieses Gesetz jetzt anpacken? Ichhabe dafür kein Verständnis.
Das ist, ehrlich gesagt, ein Witz. Das ist ein Hohn gegen-über den Millionen von Fluglärm betroffenen Menschenin Deutschland.Sie handeln überhaupt nur deshalb, weil die EU-Kom-mission Sie dazu zwingt. Sie würden das, was Sie jetztändern, weil sich Deutschland einem Vertragsverlet-zungsverfahren gegenübersieht, sonst gar nicht ändern.Das ist nicht angemessen. Das ist nicht die Lösung, diewir brauchen. Wenn, wie es Herr Klare eben gesagt hat,die Flughäfen, der Luftverkehr und der Flugverkehr,den wir alle nutzen, mehr Akzeptanz finden sollen, dannbrauchen wir eine ganze Menge Änderungen.
Wir brauchen vor allen Dingen klare Abwägungskri-terien. So wie es heute vonstattengeht, ist das absolut in-transparent; denn in jeder Region und an jedem Standortwird irgendwie ein bisschen vor sich hin gewurschtelt.Nachher können die Betroffenen überhaupt nicht nach-vollziehen, warum man sich für welche Route entschie-den hat. Das klären Sie nicht.
Sie hätten jetzt die Gelegenheit, das hier einzubringenund es in diesen Gesetzentwurf einzubauen. Das machenSie aber nicht. Warum schreiben Sie so etwas in den Ko-alitionsvertrag, wenn Sie dieses Thema dann, wenn es,wie hier, konkret ansteht, überhaupt nicht anpacken?Meine Damen und Herren, das ist organisiertes Nicht-handeln. Das ist eine reine Shownummer.
Meine Damen und Herren, was wir endlich auch brau-chen, sind klare Lärmgrenzwerte für den Luftverkehr.Es kann doch nicht sein, dass es für jede Diesellok undjedes Auto entsprechende Regelungen gibt, dass es aberfür den Luftverkehr – die NORAH-Studie hat uns wiedervor Augen geführt, dass es hier gesundheitliche Folgengibt, dass Depressionen, Herz-Kreislauf-Erkrankungenund andere Zivilisationskrankheiten Folgen der Lärm-belastung sind – keine klaren Grenzwerte gibt. Auch dakönnten Sie handeln. Auch da tun Sie nichts.
Meine Damen und Herren, last, not least: ThemaNachtflug. Von den Maschinen, die nachts starten, sinddie Menschen am allermeisten betroffen. Das darf, ehr-lich gesagt, nicht sein. Hier müssen wir tatsächlich zueiner Reduzierung der Belastungen kommen. Was denFlughafen Köln/Bonn betrifft, hat die LandesregierungNordrhein-Westfalen bzw. die Region die Bundesregie-rung und den Verkehrsminister aufgefordert, wenigstensfür den Passagierflugbereich ein Nachtflugverbot durch-zusetzen. Das könnten Sie jetzt hier auch machen. Sietun das aber nicht, obwohl die Menschen dort und diezuständige Landesregierung das wollen.Oliver Krischer
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Ich sage Ihnen: Wenn es um Fluglärmbetroffene geht,dann sind Sie auf beiden Augen blind. Sie haben am Endenur die Interessen der Luftverkehrswirtschaft im Auge.Das haben Ihnen die Sachverständigen in der Anhörungam Ende auch ins Stammbuch geschrieben.Meine Damen und Herren, bitte haben Sie Verständnisdafür, dass wir einem solchen Gesetzentwurf, der im Be-reich des Fluglärms nichts verbessert, nichts löst und imSinne der Betroffenen voranbringt, unsere Zustimmungnicht erteilen können.Ich danke Ihnen.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Peter
Wichtel das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der letzten Sit-zungswoche des vergangenen Jahres haben wir hier imPlenum des Deutschen Bundestages die erste Lesung desgeplanten Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Luft-verkehrsgesetzes durchgeführt. Damals haben wir unsdarauf verständigt, dass wir uns vor dem Hintergrund desGermanwings-Unfalls Zeit nehmen und intensiv prüfenwollten, ob das eingebrachte Änderungsgesetz an dereinen oder anderen Stelle noch verbessert werden kann.Nach intensiven Beratungen und in enger Abstim-mung mit unserem Koalitionspartner haben wir nun ei-nen Änderungsantrag verfasst, der das vorliegende Än-derungsgesetz an einigen Stellen angemessen unterstützt.Durch die Eingaben, die wir gemacht haben, und mit derheute vorgesehenen Verabschiedung dieses Gesetzent-wurfs werden wir alle Akteure im Feld der Luftfahrt –Passagiere, Beschäftigte und die Unternehmen derLuftverkehrswirtschaft – mit einem klaren luftverkehrs-rechtlichen Rahmen und einer nachhaltigen und verant-wortungsbewussten Luftverkehrspolitik unterstützen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bun-desregierung hat die vorliegende Gesetzesänderung ins-besondere auch deswegen in das Parlament eingebracht,um auf mehrere Vorgaben der Europäischen Kommissioneinzugehen und die bestehenden gesetzlichen Regelun-gen anzupassen. Die EU-Kommission ist nämlich zumBeispiel der Auffassung, dass das geltende deutscheLuftrecht hinter den Anforderungen der europäischenGesetzgebung zurückbleibt, weil in den Verfahren zurFestlegung von Flugverfahren weder eine Umweltver-träglichkeitsprüfung noch eine Prüfung der Auswirkun-gen auf Natura-2000-Gebiete durchgeführt wird.Die EU-Kommission hat vor diesem Hintergrund be-reits im Jahr 2013 sogar ein Vertragsverletzungsverfah-ren gegen die Bundesrepublik Deutschland eingeleitet.Parallel dazu hat die höchstrichterliche Rechtsprechungin Deutschland bestätigt, dass UVPs bereits im Zulas-sungsverfahren für Flughäfen umfassend durchgeführtwerden müssen. Die UVP müsse sich auf den gesamtenEinwirkungsbereich des Flughafens erstrecken. Dabeisollen die abwägungserheblichen Auswirkungen geprüftwerden.Die Bundesregierung hat diesen Einwänden mit demGesetzentwurf nun Rechnung getragen. Auch wir sorgenmit unserem Änderungsantrag noch einmal für Klarheitund betonen beispielsweise im Hinblick auf die Ände-rung in § 8 des Luftverkehrsgesetzes, dass die Untersa-gung der Abwicklung von An- und Abflugverkehr überbestimmten Gebieten durch die Planfeststellungsbehördekeinesfalls die Befugnisse der Fluglotsen zu verkehrslen-kenden Maßnahmen aus dringenden Sicherheitsgründennach § 31 Absatz 3 Luftverkehrs-Ordnung einschränkt.Unmittelbar verkehrsregelnde Maßnahmen bleiben derPlanfeststellungsbehörde also auch weiterhin untersagt.Bei einer weiteren unklaren Rechtssituation, die esaufzulösen galt, ging es um die Landeplätze für Heli-kopter. Im Gegensatz zu meinem Vorredner halte ich dasdeutsche Rettungswesen für wichtig.
In der Vergangenheit gab es keine entsprechende Rege-lung, und es wurde geduldet, dass Rettungsflüge statt-finden. Herr Krischer hat hier laut und deutlich in denRaum gestellt, dass wir eine solche auch nicht brauchenund dass das eine Selbstverständlichkeit ist. Bis dato wares aber eben nicht selbstverständlich. Wir haben uns des-halb bewusst damit befasst, und es hat einige Zeit gedau-ert, bis wir zu den richtigen Maßnahmen und Schrittengekommen sind.Der Hintergrund ist: Nach den gesetzlichen Vorgabensoll der Betrieb von Luftfahrzeugen grundsätzlich aufFlugplätzen abgewickelt werden. Durch das Inkrafttretender EU-Verordnung 965/2012 ergibt sich nun die Mög-lichkeit, den Hubschrauberbetrieb der Luftrettung vonund zu sogenannten Örtlichkeiten von öffentlichem In-teresse zuzulassen, worunter auch Krankenhäuser fallen.Meine Damen und Herren, aber auch das war nochnicht alles. Die Krankenhäuser waren der Meinung: Dasklappt dann überall. – Wir mussten in der Diskussion mitdem Verband in der Anhörung feststellen, dass hier wei-tere Debatten und auch unsere Unterstützung notwen-dig waren. Dazu haben wir in unserem Antrag einigesdargelegt. Wir haben zum Beispiel aufgenommen, dassDachlandeplätze nicht einfach von der neuen Regelungausgenommen und damit gestrichen werden, sondern je-weils eine Einzelfallprüfung stattfindet.
In diesem Zusammenhang darf ich auf Folgendes hin-weisen: Es war nicht klar, dass Hubschrauberlandeplätze,die nicht eingerichtet und auch nicht genehmigt sind, alsOliver Krischer
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sogenannte Notlandeplätze auch mehrfach angeflogenwerden können. Deswegen haben wir gestern im Aus-schuss bewusst und gezielt noch einmal angesprochen,dass Landeplätze dort, wo Gefahr für Leib und Lebenbesteht, regelmäßig und mehrfach angeflogen werdendürfen.
Mit zwei ganz entscheidenden Änderungen in einemanderen Bereich haben die Koalitionsfraktionen dafürgesorgt, dass im Gesetz Klarstellungen hinsichtlich derKontrolle von Luftfahrzeugführern im Zusammenhangmit Alkohol, Drogen und Medikamenten vorgenommenwerden. Die Dienstfähigkeit, die durch die betäubende,bewusstseinsverändernde oder aufputschende Wirkungvon Medikamenten beeinträchtigt werden könnte, sollkontrolliert werden. Verantwortlich hierfür sollen dieLuftfahrtunternehmen sein, die eine seitens des Luft-fahrt-Bundesamtes anerkannte Niederlassung oder denHauptsitz in Deutschland haben. Zudem hat das LBA nunselbst auch die Möglichkeit, stichprobenartig zu kontrol-lieren. Also können von ihm neben der bisher bestehen-den rechtlichen Möglichkeit, technische und betrieblicheZustände von Luftverkehrsfahrzeugen im Rahmen von§ 29 des Luftverkehrsgesetzes zu überprüfen, nun auchdie stichprobenartigen Untersuchungen und Verdachts-kontrollen mit Blick auf die Dienstfähigkeit durchgeführtwerden.Ein weiterer Baustein war, das heute schon hohe Si-cherheitsniveau durch die Einführung einer flugmedizi-nischen Datenbank weiter heraufzusetzen. Wir sind derfesten Überzeugung, dass wir nach langer Diskussionden richtigen Weg gefunden haben. Ergänzend haben wirdie Behörde ermuntert, tätig zu werden und diese Daten-bank zu beurteilen. Wir haben uns darauf verständigt,dass die Tauglichkeitszeugnisse, so wie es der Ministerausgeführt hat, als medizinische Befunde der Bewerberpersonenbezogen gespeichert werden.Den Zugriff auf diese Datenbank erhalten ausschließ-lich die dafür zuständigen medizinischen Mitarbeiter desLuftfahrt-Bundesamtes. Die Pseudonymisierung wirdaufgehoben. Somit kann in Zukunft genau festgestelltwerden, wie die Entwicklung bei jedem Einzelnen ver-läuft und ob es Probleme gibt oder nicht. Ich denke, wennman sich das genau ansieht, dann erkennt man, dass wirdem Thema Datenschutz besondere Aufmerksamkeitgeschenkt haben. Nun sollen als Muster für diese Neu-regelungen die datenschutzrechtlichen Regelungen zurSeediensttauglichkeit dienen, wo heute schon die Ge-sundheitsdaten der Seeleute personenbezogen in das See-diensttauglichkeitsverzeichnis übermittelt werden.Meine Damen und Herren, diese notwendigen Rege-lungen sollen natürlich auch vor dem Hintergrund gese-hen werden, dass die Fluggesellschaften weiterhin dasanbieten, was sie schon heute anbieten, nämlich Pilo-ten, die Probleme haben, den ungehinderten Zugang zuÄrzten im Rahmen von Beratungen und Prävention zuermöglichen. Wir fordern die Bundesregierung auf, dieRegelung, die es bei deutschen Luftverkehrsgesellschaf-ten gibt, auf europäischer Ebene und auf der Ebene derIATA ebenfalls einzuführen,
sodass es im Luftverkehr insgesamt zu mehr Sicherheitkommen kann.
Nun wurde vorhin der Vorwurf geäußert, es sei nichtszum Thema Bodenverkehrsdienste gesagt worden. Inder letzten Legislaturperiode, Herr Kollege Behrens undHerr Krischer, gab es einen eindeutigen Beschluss desDeutschen Bundestages, die deutsche Bundesregierungaufzufordern, dass über die zwei Abfertiger hinaus, diedie Regelungen vorsehen, keine weiteren zugelassenwerden sollen. Die Bundesregierung hat auf Einwandund Nachfrage der Koalition erklärt: Dieses Thema ge-hört nicht ins Gesetz. Deswegen ist es herausgenommenworden. Diese Frage kann durch das Ministerium imWege einer Verordnung geklärt werden, wenn die bishe-rige Regelung nicht dem Willen der Mehrheit der Mit-glieder des Deutschen Bundestages entspricht. Ich sehedort niemanden, der das machen will.Wir werden also, wie von mir vorgetragen, dem heu-te vorliegenden Gesetzentwurf mit den vorgenommenenÄnderungen ausdrücklich zustimmen.
Ich sage noch einmal sehr deutlich, dass die ThematikLärm bzw. Fluglärm nicht Inhalt dieses Gesetzvorhabensist, weil wir diese Thematik überhaupt nicht auf der Ta-gesordnung hatten. Das wird in einer künftigen Novelledes Luftverkehrsgesetzes berücksichtigt werden.
Sie tun ja so, als wenn es keine Lärmgrenzen gäbe.Das ist bei uns in Deutschland geregelt, und diese Rege-lungen werden eingehalten.Sie haben in den Raum gestellt, dass bei heutigenFlugroutenänderungen mehr Bevölkerung von Lärm be-troffen sei. Ich kenne in Deutschland keine einzige be-ratende Fluglärmkommission, die nicht dem Grundsatzfolgt, dass Änderungen nur vorgenommen werden, wenndadurch weniger Menschen belastet werden.
– Herr Krischer, Sie sind kein Verkehrspolitiker, sondernin anderen Bereichen tätig. Deswegen liegen Sie an die-ser Stelle schlichtweg falsch.
Herr Kollege.Peter Wichtel
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Herr Präsident, ich habe gesehen, dass meine Redezeit
abgelaufen ist. Mein Minister sollte 15 Minuten lang re-
den, hat aber nur 10 Minuten lang geredet.
Deswegen dachte ich, dass ich wenigstens 2 Minuten von
dieser Zeit bekommen könnte. Ich komme jetzt aber zum
Schluss.
Herr Kollege Wichtel, wenn es so wäre, wie Sie ver-
muten, wäre die Situation nicht ganz so kompliziert, wie
sie ist. Sie sind aber offensichtlich im Finale. Das beru-
higt mich schon einmal.
Den Anträgen der Linken können wir nicht zustim-
men. Auch dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen,
über den wir schon im letzten Jahr diskutiert haben und
in dem wir außer Verboten und sonstigen Themen nichts
gefunden haben, können wir nicht zustimmen. Wir sind
der Auffassung, dass das, was derzeit mit Blick auf Flug-
lärm sowie Flugroutenfestlegungen und -veränderungen
gemacht wird, in einem sehr geordneten und guten Rah-
men gemacht wird. Deswegen werden wir dem Gesetz-
entwurf der Bundesregierung zustimmen und die Anträ-
ge ablehnen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nun erhält die Kollegin Sabine Leidig für die Fraktion
Die Linke das Wort.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!Herr Minister Dobrindt hat vorhin von der Zukunftsfä-higkeit des Luftverkehrs gesprochen. Eigentlich wolltedie Bundesregierung in diesem Frühjahr ein Luftver-kehrskonzept vorlegen. Das hat sie bisher aber nicht ge-macht.
Stattdessen haben die Umwelt- und Verkehrsverbändegemeinsam in einer großen Allianz ein solches Kon-zept vorgelegt, für das es auch höchste Zeit ist; dennder Flugverkehr ist inzwischen ein wachsender Treiberdes Klimawandels, der allein in Deutschland jedes Jahr10 Milliarden Euro Subventionen verschlingt, die wirBürgerinnen und Bürger aufbringen müssen.Eine dreiviertel Million Bürgerinnen und Bürger sindhierzulande von Fluglärm betroffen. Es geht also nichtum eine Lappalie. Die Verbände haben sehr schön dar-gelegt, wie man Umweltkosten durch eine Klimaabgabevermeiden kann, wie man unnötige Flüge vermeidet unddie vorhandenen Flughafenkapazitäten besser ausnutzt,wie man gesundheitsschädlichen Fluglärm vermindertund die Nachtruhe schützt. Hätten Sie sich doch daraneinmal ein Beispiel genommen. Das wäre sehr gut ge-wesen.
Stattdessen haben Sie Vorschläge für einen Flicken-teppich an Änderungen am Luftverkehrsgesetz vorge-legt, die zumindest mit Blick auf den Fluglärm ein Ar-mutszeugnis sind. Worum geht es dabei?Beim BER-Flughafen war das Planfeststellungsver-fahren – vielleicht erinnern sich einige daran – mitsamtUmweltverträglichkeitsprüfung und Einspruchsmöglich-keiten abgeschlossen, und danach sind die Flugroutenfestgelegt worden, die so überhaupt nicht geplant wa-ren. Über das Erholungsgebiet Müggelsee beispielswei-se sollten zentrale Flugrouten gehen. Es sind zahlreicheKlagen dagegen vor Gericht verhandelt worden. Zudemhat die EU-Kommission gefordert, einen solchen absur-den Missstand zu beheben. Deshalb haben Sie die Ände-rungen vorgenommen und nicht aus freien Stücken.In Ihrem Gesetzentwurf ist nun vorgesehen, dass beineuen Flughäfen oder bei einer erheblichen Erweiterungder ganze Einwirkungsbereich in die Umweltverträglich-keitsprüfung einbezogen werden muss. So weit, so gut.Aber es wird praktisch keine neuen Flughafenbautengeben, und auch die Planungen für die dritte Landebahnin München, das Terminal 3 in Frankfurt und auch füreinige Erweiterungen beim BER sind schon längst abge-schlossen. Ihre Regelungen werden also ins Leere laufen.Was wirklich nottut – dafür streiten wir als Linke,und dafür haben wir auch unseren Änderungsantrag ein-gebracht –, ist, dass die Flugrouten selber auf ihre Um-weltverträglichkeit bzw. auf ihre Lärmbelastung geprüftwerden.
Entscheidend ist, über welche Wohngebiete die Flugzeu-ge tatsächlich fliegen, und zwar nicht irgendwann in derZukunft, sondern jetzt.In meiner Heimatregion, dem Rhein-Main-Gebiet,sind über 80 Bürgerinitiativen gegen Flughafenausbau,für ein Nachtflugverbot und gegen Fluglärmbelastungaktiv. Diese 80 Bürgerinitiativen haben Ihnen eine ge-meinsame Stellungnahme geschickt und Wort für Worterklärt, welche Punkte und Unterpunkte in Ihren Paragra-fen geändert werden müssten, damit das, was am Endeherauskommt, eine sinnvolle Wirkung zum Schutz vonMenschen und Natur hat.Das alles haben Sie ignoriert. Welche Interessen ver-treten Sie eigentlich? Wir als Linke-Fraktion haben je-denfalls mit unserem Änderungsantrag die Interessen derBürgerinnen und Bürger vertreten.
Wir haben das Ziel, die tatsächliche Belastung unterden wirklichen Flugrouten zu bewerten und auf dieserGrundlage Alternativen zu prüfen. Wir wollen weg von
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der Schallschutzfenstermentalität, dass die Menschenim Haus bleiben sollen, damit sie nicht vom Lärm krankwerden. Wir wollen, dass es am Himmel leiser wird alsheute.
Dazu muss auch das Umweltbundesamt gestärkt wer-den. Dazu müssen die Bürgerinnen und Bürger gestärktwerden. Wir brauchen eine bessere Bürgerbeteiligung,damit der Lärm- und Gesundheitsschutz nicht immerwieder den Gewinninteressen der Luftverkehrsindustriegeopfert wird. Diesem Anliegen sollten alle Volksvertre-ter und Volksvertreterinnen zustimmen.Danke.
Nächster Redner ist der Kollege Andreas Rimkus für
die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf und demÄnderungsantrag der Koalitionsfraktionen wird ein The-ma ganz großgeschrieben: Sicherheit. Ich fliege gerneund viel, meistens zwischen Wahlkreis und Hauptstadt.Ich weiß aber auch, dass das Fliegen immer mit Ängstenund Unsicherheiten verbunden ist. Buchstäblich den Bo-den unter den Füßen zu verlieren und der Schwerkraft zutrotzen, flößt nicht jedem ein Gefühl von Freiheit ein, wieReinhard Mey in seinem Song „Über den Wolken“ singt.Für die Politik heißt das, den Menschen auf der einenSeite das Gefühl von Sicherheit zu vermitteln, sie aberauf der anderen Seite auch vor tatsächlichen Gefahrenzu schützen. Um auch in Zukunft die Sicherheit zu ge-währleisten, dürfen wir aber nicht nur auf Deutschlandblicken. Luftverkehr kennt nämlich keine geografischenGrenzen. Er funktioniert im besten Falle global, min-destens aber europäisch. So wird mit der Regelung zumEASA-Zeugnis für Flugplatzbetreiber ein europäischerRahmen zur Zertifizierung von Flugplätzen umgesetzt.Das sollte aber nicht nur ein Schritt zur Harmonisierungdes europäischen Luftverkehrs sein, sondern es soll auchmehr Vergleichbarkeit in Europa schaffen. Hier gilt, wiewir bereits gestern im Ausschuss deutlich gemacht ha-ben, wegen der bereits zertifizierten deutschen Flughä-fen, dass Mehrfachzertifizierungen möglichst vermiedenwerden sollten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch die Änderun-gen im Bereich der Anforderungen an Landestellen vonRettungshubschraubern führen zu mehr Vergleichbarkeitin der EU und zur Schaffung einheitlicher Standards.Doch eines darf dabei nicht vergessen werden – PeterWichtel hat es schon gesagt –: Die Luftrettung muss injedem Fall in ihrer heutigen Form erhalten werden. Des-halb haben wir als Parlamentarier der Koalitionsfrakti-onen in unserem Änderungsantrag deutlich gemacht,dass Dachlandeplätze auf Krankenhäusern, wenn sie dieentsprechenden Sicherheitsstandards erfüllen, selbstver-ständlich für die Luftrettung freigegeben werden müssen.
Eine gute Luftrettung zu erhalten und dafür zu sorgen,dass Menschen, die Hilfe brauchen, diese auch bekom-men, sollte unser erstes Interesse sein. Die Bundesrepu-blik hat im Vergleich zu ihren Nachbarländern ein sehrsicheres und gut funktionierendes Luftrettungssystem,das ein Garant für gute medizinische Versorgung ist.Neben den technischen Anforderungen an Landestel-len und Flugplätze brauchen wir natürlich Sicherheit inden Abläufen. Dazu gehört auch das Personal am Bodenund in der Luft. Die Kolleginnen und Kollegen sind derAnkerpunkt eines gut funktionierenden Luftverkehrs.Dabei tragen sie vor allem in der Luft eine sehr großeVerantwortung, nämlich Verantwortung für die Unver-sehrtheit der Menschen an Bord. Dies verdient unser al-ler Anerkennung und Respekt. Im Lichte des Absturzesder Germanwings-Maschine, der sich gerade jährte, wirduns noch einmal besonders klar, welche Bedeutung dieseVerantwortung hat.Die Rahmenbedingungen für gute Arbeitsplätze undeine zuverlässige medizinische Betreuung der Beleg-schaft zu schaffen, ist dabei eine zentrale Aufgabe derPolitik. Wie wichtig dies beispielsweise im Bereich dermedizinischen Betreuung von Belegschaften ist, wurdeuns am 24. März letzten Jahres deutlich vor Augen ge-führt. Ich bin froh, dass wir nach der Germanwings-Ka-tastrophe – als Düsseldorfer Abgeordneter hat mich die-se besonders betroffen – nicht in blinden Aktionismusverfallen sind. Kluge und versierte Köpfe haben sich ineiner Taskforce zusammengeschlossen, uns Orientierunggegeben und Empfehlungen erarbeitet. Mit dem vorlie-genden Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen tragenwir dem Rechnung und haben, wie ich finde, maßgebli-che und gute Verbesserungen im Fall der medizinischenVersorgung von Pilotinnen und Piloten erreicht.
Durch eine flugmedizinische Datenbank lassen sichnun Krankheitsverläufe besser nachvollziehen. Sie trägtzur Früherkennung von Krankheiten bei, die die Flug-tauglichkeit infrage stellen. Diese Früherkennung stei-gert nicht nur die Sicherheit im Luftverkehr, sondernsorgt auch dafür, dass den Betroffenen früher geholfenwerden kann. Besonders wichtig war uns dabei, den not-wendigen Durchblick zu gewährleisten und gleicherma-ßen hohe Datenschutzanforderungen zu formulieren. DieZufallskontrollen sollen nicht nur verhindern, dass nichtflugtaugliches Personal im Cockpit sitzt, sondern natür-lich auch helfen, frühzeitig zu erkennen, ob eine Pilotinoder ein Pilot mit Suchtproblemen oder psychischen Pro-blemen kämpft. So erschütternd das genannte Ereigniswar, bleibt es doch ein äußerst seltener Fall. Nicht ohneGrund ist das Flugzeug einer der sichersten Verkehrsträ-ger weltweit.Sabine Leidig
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All die Menschen, die zum Erfolg des Flugverkehrsbeitragen und dafür sorgen, dass Menschen und Gütersicher und zuverlässig befördert werden, verdienen guteund sichere Arbeitsverhältnisse.
Dazu gehört auch, zu verhindern, dass Mitarbeiter einerSucht verfallen. Wir haben in unserem Änderungsantragdeutlich gemacht, dass auch überbetriebliche Verein-barungen zur Suchtprävention zu treffen sind. Ziel sollsein, eine regelmäßige Aufklärung und Sensibilisierungder Mitarbeiter über Gefahren und Risiken des Sucht-mittelkonsums zu gewährleisten. Darüber hinaus wollenwir das Thema nach Europa tragen. Europaweit sollenBeratungsstellen – genauso wie in Deutschland – dafürSorge tragen, dass mitarbeitende Kolleginnen und Kolle-gen nicht alleine gelassen werden und sich vertrauensvollan eine solche Stelle wenden können, wenn sie psychi-sche Probleme oder Suchtprobleme haben; denn nur eineeuropäische Regelung wird dafür sorgen, dass wir dienotwendige Flächendeckung bei den Beratungsstellenerzielen.
Neben diesen Sicherheitsfragen haben wir Änderun-gen bei der Erfassung von Fluglärm vorgenommen. Mitder Novellierung wird bei der Planung von Flugroutennoch stärker die Betroffenheit der Bevölkerung in denBlick genommen.
Ich bin überzeugt, dass wir mit dieser Novelle deutlicheVerbesserungen der notwendigen europäischen Normie-rung erzielen und auch dem Sicherheitsanspruch von unsPassagieren gerecht werden und dass wir so zumindestpolitisch alles dafür getan haben, dass man über denWolken vielleicht doch grenzenlose und sichere Freiheitverspürt.Schönen Dank.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Stephan Kühn fürdie Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Experten, diedie Bundesregierung beraten, der Sachverständigenratfür Umweltfragen der Bundesregierung, kamen 2014 inihrem Gutachten zu dem Ergebnis – Zitat –:Die gesetzliche Regelung der Fluglärmproblematikim Luftverkehrsrecht ist unterentwickelt.Das wird sich mit der aktuellen Änderung des Luftver-kehrsgesetzes nicht ändern.
Ob das Festschreiben der aktuellen Rechtsprechungdes Bundesverwaltungsgerichts reicht, die EU-Kom-mission zu überzeugen, das Vertragsverletzungsverfah-ren aufzuheben, darf bezweifelt werden. Die Pflicht zurDurchführung der Umweltverträglichkeitsprüfung undzur Prüfung der Auswirkungen auf Natura-2000-Gebietegehört in das Verfahren zur Festlegung von Flugroutenund nicht nur in das Zulassungsverfahren für Flughäfen;
denn die Gesetzgebung, wie Sie sie heute vorschlagen,wird nur einen begrenzten Anwendungsbereich haben.Substanzielle Verbesserungen für die lärmgeplagten An-wohnerinnen und Anwohner an den Hotspots in Deutsch-land? Fehlanzeige.
Wo bleibt die im Koalitionsvertrag versprochene ver-besserte Transparenz und Beteiligung der Kommunenund der Öffentlichkeit bei der Festlegung von Flugrou-ten? Im Zusammenhang mit der Festlegung von Flug-verfahren fehlen weiterhin jegliche Bewertungskriterien.Nicht einmal das Wenige, das Sie im Koalitionsvertragaufgeschrieben haben, setzen Sie um.Bei der Festlegung von Flugrouten sollte nach demKoalitionsvertrag eigentlich der Lärmschutz insbeson-dere in den Nachtstunden verbessert werden. Nichts istpassiert. Die Ergebnisse der NORAH-Studie, der Lärm-wirkungsstudie, zeigen den dringenden Handlungsbe-darf. Bei allen Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöht sichdas Risiko, insbesondere durch nächtlichen Fluglärm.Das sollte uns zum Denken und vor allen Dingen zumHandeln bringen. Was eigentlich zu tun wäre, haben wirin unserem Antrag „Fluglärm wirksam reduzieren“ auf-geschrieben, über den wir heute mit abstimmen werden.
Mit der Novelle des Luftverkehrsgesetzes werden wiraber heute auch die notwendigen luftverkehrsrechtlichenKonsequenzen aus dem tragischen Absturz der German-wings-Maschine am 24. März 2015 in den französischenAlpen ziehen. Zwei Kommissionen haben sich insbeson-dere mit Maßnahmen beschäftigt, die die Feststellungund Überprüfung der Flugtauglichkeit von Piloten ver-bessern. Dazu gehört insbesondere der schon angespro-chene Aufbau einer flugmedizinischen Datenbank, denwir für geboten halten, wie der Fall Lubitz auch zeigt.Allerdings: Die Unzulänglichkeiten bei den flugmedi-zinischen Tauglichkeitsprüfungen waren bereits vor demAbsturz der Germanwings-Maschine bekannt. Die eu-ropäische Flugaufsichtsbehörde EASA hat zuletzt 2014an der Arbeit des Luftfahrt-Bundesamtes als zuständigerAufsichtsbehörde im Zusammenhang mit den flugmedi-zinischen Tauglichkeitsuntersuchungen deutliche Kritikgeäußert: zu wenig Personal, fehlende fachliche Qualifi-kation der Sachverständigen beim Luftfahrt-Bundesamt,fehlende elektronische Dokumentation der Tauglich-keitsuntersuchungen. Nichts ist passiert.Ich hatte die Bundesregierung gefragt, wie vieleTauglichkeitsuntersuchungen für Berufspiloten in denJahren 2012 bis 2014 durchgeführt und wie viele Be-rufspiloten zeitweise oder dauerhaft für fluguntauglicherklärt wurden. Man hat mir daraufhin mitgeteilt, dassAndreas Rimkus
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für die Beantwortung meiner Anfrage von einer Bear-beitungszeit von mehreren Jahren auszugehen sei, weildie Unterlagen nur in Papierform vorliegen würden. Eskann doch nicht sein, dass die Bundesregierung bei ei-ner so sicherheitsrelevanten Frage nicht weiß, wie vieleFlugtauglichkeitsuntersuchungen in den letzten Jahren inDeutschland durchgeführt wurden.
Dass all diese Daten offensichtlich nur handschriftlichvorliegen, ist in Zeiten der elektronischen Datenverarbei-tung unfassbar. Wir brauchen die Datenbank, damit dieVorgeschichte der Piloten vollständig dokumentiert undvor allen Dingen einsehbar ist.
Bisher sind beim Luftfahrt-Bundesamt in der flugme-dizinischen Abteilung gerade einmal zwei Personen mitder Beurteilung der Tauglichkeit befasst. Die Untersu-chungen selber machen die Flugmediziner, aber für dieAus- und Weiterbildung sowie die Qualitätskontrolle derFlugmedizin ist das Luftfahrt-Bundesamt zuständig. DerVerband der Fliegerärzte fordert zu Recht mehr Fortbil-dung für Fliegerärzte. Erst in diesem Jahr soll das Perso-nal der zuständigen Abteilung im Luftfahrt-Bundesamtauf sechs Personen aufgestockt werden.Wichtig sind aus unserer Sicht die Beratungs- undAnlaufstellen für Airlinecrews, damit insbesondere psy-chische Probleme früh bemerkt werden können. Die Re-gierungsfraktionen wären klug beraten, die Einrichtungdieser Angebote verbindlich zu regeln, so wie das derÄnderungsantrag der Fraktion Die Linke fordert.
Verkehrsminister Dobrindt muss jetzt in Brüssel aktivwerden und sich dafür einsetzen, dass die Vorschläge dernationalen Kommission zum einheitlichen europäischenStandard werden. Die hohen Sicherheitsstandards, meineDamen und Herren, müssen dem hohen Wettbewerbs-druck standhalten.
Herr Minister Dobrindt muss endlich dafür sorgen,dass die lange bekannten Probleme beim Luftfahrt-Bun-desamt gelöst werden. Da hat die Arbeit erst begonnen.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Nächster Redner ist der Kollege Ulrich Lange für die
CDU/CSU.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Kollege Kühn, wir sind uns sehr sicher und sindsehr guten Mutes, dass das Vertragsverletzungsverfahrender EU mit diesem Gesetz, in dem wir unsere Rechtspre-chung zur Umweltverträglichkeit kodifizieren, erledigtsein wird.
Liebe Kollegin Leidig, Ihnen muss ich zumindest miteinem Satz antworten: Wenn Sie meinen, allein die In-teressen der Bürgerinnen und Bürger der Regionen umdie Flughäfen zu vertreten, dann erlaube ich mir, daraufhinzuweisen, dass wir das in den Reihen der Union durchunsere mit Mehrheit direkt gewählten Abgeordneten tun.
– Man muss durchaus auch einmal sagen dürfen, dassman über den Alleinvertretungsanspruch, wie Sie ihnvorhin geltend gemacht haben, sehr wohl streiten kann.Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute ist ein sehrguter Tag für die Sicherheit im Luftverkehr. Lieber Kol-lege Krischer,
Sie gehen immer von Selbstverständlichkeiten aus. Siesollten also durchaus würdigen, was wir hier – die Re-gierung mit dem Bundesminister, das Parlament mit demAusschuss –, auch mit Hilfe und Unterstützung einerwirklich guten Taskforce, vorgelegt haben. Ich kann michan kaum einen Prozess, an ein Gesetzgebungsverfahrenerinnern, in dem wir so intensiv und, ich sage auch mal,so sehr im Detail über einzelne Dinge diskutiert haben,uns Gedanken gemacht haben und – das zeigt auch dieAnzahl der Änderungsanträge und Änderungen – immerwieder nachgesteuert haben, weil wir als Parlament dasGefühl hatten: Da könnte man noch ein bisschen mehrmachen und dabei den reibungslosen Ablauf all dieserkomplexen Systeme gewährleisten und trotzdem allesunter der Priorität der Sicherheit halten. Dafür, liebe Kol-leginnen und Kollegen, all den schon Angesprochenenein herzliches Dankeschön!Eine der wichtigsten Botschaften betrifft sehr wohldie Hubschrauberlandeplätze; denn die Aufregung vorOrt, in den Wahlkreisen, bei den Krankenhäusern, dieDachlandeplätze haben, die bisher angeflogen wordensind, war natürlich sehr groß. Man konnte ein gewissesEntsetzen im Gesicht sehen, warum es aufgrund einerEU-Regelung nicht mehr möglich sein sollte, dass einRettungshubschrauber dort landet, wo er seit Jahren undJahrzehnten landen konnte. Deshalb haben wir Sorgedafür getragen, dass diese Rettungskette, das funktionie-rende Rettungswesen der Luftrettung, aufrechterhaltenbleibt, ja, gesichert bleibt, und zwar gesichert sowohl fürdie Krankenhäuser und für die Patienten als auch für diePiloten, damit nicht der, der das Medizinische am we-nigsten beurteilen kann, entscheiden muss, ob er landendarf oder nicht landen darf. Das ist ein ganz großer TeilStephan Kühn
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dieses Gesetzes, das wir verabschieden, und das ist heuteein ganz großer Schritt.
Gleiches gilt für die Dachlandeplätze; das war unsals Parlament besonders wichtig, auch wenn die Anzahlübersichtlicher ist. Zu den Krankenhäusern ist man seitJahren, Jahrzehnten mit dem Hubschrauber gekommen.Auch da bleibt die Einzelfallgenehmigung möglich. Wirdenken, es ist dem LBA sehr wohl zumutbar, das zuüberprüfen, und wir werden – davon bin ich überzeugt –Lösungen finden, die es ermöglichen, dass auch dieseKrankenhäuser weiter im Sinne der Patienten, im Sinneder Menschen angeflogen werden können. Das zeigt, wiewichtig uns Luftrettung und Luftsicherheit sind.Wir haben aber auch etwas geregelt – darüber wurdeheute schon mehrfach gesprochen –, was eigentlich fürjeden, der Auto fährt, selbstverständlich ist – wir disku-tieren beim Radfahren darüber, aber bisher nicht beimLuftverkehr –: dass der, der alkoholisiert ist, der Drogengenommen hat oder aus welchen Gründen auch immerMedikamente nimmt oder nehmen muss, ein Luftfahr-zeug nicht führen darf. Wir haben das, was in anderenLändern bereits gängige, bewährte und erfolgreiche Pra-xis ist, kodifiziert. Und auch da haben wir als Parlamentsehr genau hingeschaut, wie denn diese Kontrolle statt-finden soll. Es ist in unseren Augen absolut richtig, dassdies auf der einen Seite über die Unternehmen erfolgt,damit die Unternehmen in Tarifverträgen oder Betriebs-vereinbarungen genau diese Dinge regeln können undden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die von solchenpersönlichen Problemstellungen betroffen sind, gehol-fen werden kann. Auf der anderen Seite ist ein solchesSystem immer nur dann schlüssig, wenn es auch einerGesamtkontrolle unterliegt. Diese Gesamtkontrolle inForm einer stichprobenartigen Kontrolle wird durch dasLuftfahrt-Bundesamt durchgeführt werden. Wir glauben,dass genau dieses Zusammenspiel – die Unternehmenauf der einen Seite, das Luftfahrt-Bundesamt auf der an-deren Seite – ein schlüssiges Konzept ist und dass wirmit dem heutigen Gesetz einen großen Fortschritt in derLuftverkehrssicherheit erreichen werden.
Stichwort „flugmedizinische Datenbank“: Ja, richtig;ja, wichtig. Wir alle wissen, dass wir absolute Sicherheitnicht erreichen können, dass es diese im Leben nichtgibt und dass wir leider immer wieder solchen traurigenEreignissen ausgesetzt sein können, wie wir es mit demschrecklichen Absturz erleben mussten. Aber wir han-deln nicht reflexartig, sondern überlegt, und wir versu-chen – das hat der Kollege Rimkus vorhin, glaube ich,sehr beeindruckend gesagt –, mit dieser Regelung einStück mehr Sicherheit in die Kette Luftverkehr zu brin-gen, ein Stück mehr Sicherheit, die wir auch den Men-schen geben. Wenn sie in das Flugzeug steigen, wissensie: Wir haben, so gut wir denken und so gut wir es unsvorstellen können, alles getan, um die Möglichkeiten derflugmedizinischen Untersuchungen deutlich zu optimie-ren, um Ärztehopping oder einen Tauglichkeitstourismusauszuschließen. Ich gebrauche diese Worte ungern, weilsie sehr negativ sind und etwas unterstellen, was ich ei-gentlich niemandem unterstellen möchte; aber tragischeEreignisse zeigen, dass so etwas doch vorkommt. Wirhaben uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, bei dieserflugmedizinischen Datenbank intensive Gedanken ge-macht über den Piloten, den Arzt und die Ausgestaltungdes Vertrauensverhältnisses zwischen beiden, aber auchüber die Datensicherheit, und darüber, wie wir beidesbestmöglich schützen können und trotzdem das Ziel, daswir erreichen wollen, erreichen. Ich denke, dass die Lö-sung, die wir in das Gesetz aufgenommen haben, genaudem gerecht wird, angelehnt an das, was wir aus der See-schifffahrt kennen.
All dies zusammen macht – da komme ich zur Über-schrift meiner heutigen Rede – einen guten Tag für dieLuftverkehrssicherheit, ein gelungenes Gesamtwerk, indem viele Rädchen aus Außenministerium, aus Parla-ment, aus Sachverständigen vorbildlich ineinanderge-griffen haben. Mit diesem Gesetz sind wir einen gutenSchritt vorangekommen und machen unseren Luftver-kehr noch ein Stück vertrauenswürdiger.Wir haben, glaube ich, die bestmögliche Balance ge-funden. Wir freuen uns, dass wir nach diesen Beratungenein gutes Gesetz verabschieden. Heute ist – noch ein-mal – ein guter Tag für die Luftverkehrssicherheit.Danke schön.
Nun erhält Ulli Nissen das Wort für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich verrate Ihnen sicherlich kein Geheimnis,wenn ich offenlege, dass ich durchaus das eine oder an-dere Mal andere Vorstellungen beim Thema Luftverkehrhabe als beispielsweise meine Kolleginnen und Kolle-gen aus dem Wirtschafts- oder Verkehrsausschuss. AlsUmweltpolitikerin und Abgeordnete aus dem WahlkreisFrankfurt am Main liegt dies auch nahe.Sie können sich sicherlich auch denken, dass bei mirin Frankfurt die Themen „Flugrouten“, „Fluglärm“ und„Nachtflugverbot“ Dauerthemen sind. Die Ohrstöpsel„Zeit für Dich“ waren der große Renner bei der Kommu-nalwahl Anfang März.
Bei dem heute debattierten Luftverkehrsgesetz undunserem Änderungsantrag geht es allerdings nur amRande um diese Themen. Ich würde mir wünschen, dasses mehr um sie ginge. Es geht vielmehr darum, dass wirdamit auf ein Vertragsverletzungsverfahren der Europä-ischen Kommission reagieren. Das Vertragsverletzungs-verfahren läuft gegen uns, weil bisher bei der FestlegungUlrich Lange
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von Flugverfahren weder eine Umweltverträglichkeits-prüfung noch eine Prüfung der Auswirkungen auf Natu-ra-2000-Gebiete durchzuführen sind. Darauf reagierenwir nun und stellen klar, dass dies schon umfassend beiden Zulassungsverfahren für Flughäfen passiert.Wenn wir das Luftverkehrsgesetz schon anfassen,regeln wir jetzt auch Weiteres. Zwei Punkte sind miraus Umweltsicht besonders wichtig. Wir erhöhen dasBußgeld bei Verstößen gegen das Nachtflugverbot –das ist auch höchste Zeit –, damit folgen wir der Anre-gung des Bundesrats. Das Bußgeld wird künftig auf biszu 50 000 Euro angehoben. Bisher waren es maximal10 000 Euro.Natürlich könnten wir jetzt hier auch die Frage einesgenerellen Nachtflugverbotes von 22 bis 6 Uhr diskutie-ren, aber darum geht es – ich sage: leider – heute nicht.Meine Position dazu ist ja bekannt.Zurück zum Text. Die Erhöhung des Bußgeldrahmensist wichtig und ein deutliches Signal; denn oftmals rech-nete es sich ja noch, das Nachtflugverbot zu brechen unddas Bußgeld in Kauf zu nehmen. Das war oftmals immernoch günstiger und wirtschaftlicher als eine Annullierungdes Fluges, unter anderem verbunden mit den Übernach-tungskosten für die Passagiere sowie weiteren Kosten inbeträchtlicher Höhe. Ich hoffe sehr, dass dieses Bußgeldauch das Ziel erreicht – wie es so schön heißt –, „dieAnreize zu regelungskonformem Verhalten“ zu stärken.
Ich habe selbst extra mal im lärmgeplagten Gebietim Frankfurter Süden übernachtet – Dank an Monika Plottnik für die Gastfreundschaft – und festgestellt, dassmit dem Ende des Nachtflugverbots um 5 Uhr die Nacht-ruhe brutal vorbei ist. Wenn es Nachtflugverbote gibt,müssen diese auch eingehalten werden. Wir wissen, dassFluglärm krankmachen kann. Deshalb ist es für die Be-völkerung in Flughafennähe sehr wichtig, zumindest inden Nachtzeiten mal Ruhe zu haben. Ich hoffe, dass daserhöhte Bußgeld dazu beiträgt.Jetzt komme ich zum zweiten wichtigen Punkt: Flug-routen und vor allem die Einzelfreigaben. Flugroutensind ein sehr emotionales Thema. Wir wissen, welcheRolle die Flugrouten bei der Optimierung von Fluglärmspielen können. Dazu gibt es gute Ausarbeitungen, unteranderem vom Sachverständigenrat für Umweltfragen. Erhat die Bedeutung in einem Sondergutachten „Fluglärmreduzieren: Reformbedarf bei der Planung von Flughäfenund Flugrouten“ deutlich gemacht. Wir stellen nun klar:Schutzwürdige Gebiete sind und bleiben schutzwürdig.Selbstverständlich geht die Sicherheit immer vor; dasheißt, wenn es aus Sicherheitsgründen dringend gebotenist, dürfen diese Gebiete natürlich überflogen werden.Aber oft geschehen Einzelfreigaben und Abweichungenvon den festgelegten Flugrouten eben nicht aus Sicher-heitsgründen, sondern eher aus wirtschaftlichen Gründen,weil damit weniger Kerosin verbraucht wird oder manVerspätungen vielleicht aufholen kann. Das widersprichtnatürlich dem Sinn und Zweck von vorher als schutzwür-dig festgelegten Gebieten. Deshalb ist es gut, dass wir inder Begründung noch einmal feststellen: Sicherheit gehtimmer vor. Aber: Wirtschaftlichkeit darf nicht auf Kos-ten des Schutzes der Bevölkerung vor Fluglärm gehen.Hier komme ich wieder zum Thema Verlässlichkeit undAkzeptanz: Genau wie beim Nachtflugverbot brauchendie Menschen die Sicherheit, dass festgelegte Flugroutenauch eingehalten werden; denn nur das schafft Akzeptanzund berücksichtigt die Anliegen der Anwohner.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Und ich bedanke mich für die Einhaltung einer ohne-
hin knapp bemessenen Redezeit.
Das wird der Kollegin Kirsten Lühmann sicher auch ge-
lingen, die nun als letzte Rednerin für die SPD-Fraktion
das Wort erhält.
Verehrter Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kollegin-nen! Stellen Sie sich folgende Situation vor: Eine Polizis-tin steht an einer Tankstelle und betankt ihren Streifen-wagen. Neben ihr steht ein vollbesetzter Reisebus. DerBusfahrer steigt aus. Die Polizistin stellt bei ihm eineAlkoholfahne fest. – Uns allen ist klar, was passiert: Eswird ein Bußgeld verhängt, und der Busfahrer darf natür-lich nicht weiterfahren.Wenn ihr Kollege, der auf einem Flughafen Streifegeht, einen Piloten feststellt, der gerade aus einem Flug-zeug kommt und auch nach Alkohol riecht, ist es wesent-lich komplizierter. Natürlich gibt es bereits einen Straf-tatbestand; aber der ist sehr schwer zu beweisen. Vondaher bedurfte es dringend einer Änderung.Schon jetzt nehmen die Fluggesellschaften inDeutschland ihre Verantwortung für Sicherheit sehr ernstund führen anlassbezogene Kontrollen durch. Wenn da-bei festgestellt wird, dass ein Pilot oder eine Pilotin unterdem Einfluss von Alkohol oder Drogen steht, spricht be-reits die Firma ein Flugverbot aus. Aber verdachtsunab-hängige Stichprobenkontrollen sind weder vorgeschrie-ben noch erlaubt. Die Koalitionsfraktionen haben inihrem Änderungsantrag diese Lücke endlich geschlossenund stichprobenartige Kontrollen vorgeschrieben.
Die deutschen Fluggesellschaften regeln die Durch-führung dieser Kontrollen in Zusammenarbeit mit denGewerkschaften und Betriebsräten. Das ist gut und rich-tig so. Aber wir haben natürlich auch Piloten und Pi-lotinnen, die Deutschland anfliegen und nicht für einedeutsche Fluggesellschaft arbeiten. Auch die müssen wirkontrollieren. Dafür ist das Luftfahrt-Bundesamt zustän-dig, das diese Kontrollen durchführen kann.Wir haben zusätzlich Regelungen eingeführt, wie sieauch für Busfahrer gelten. Also: Wer zukünftig versucht,unter dem Einfluss von Alkohol, Drogen oder problema-Ulli Nissen
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tischen Medikamenten ein Flugzeug zu steuern – das giltauch für den Fall, dass er es bereits gesteuert hat –, unddabei erwischt wird, muss – jetzt endlich gilt das auchim Flugverkehr – mit einem Bußgeld und Flugverbotrechnen. Während der Nachweis von Alkohol oder auchDrogen relativ einfach mit einem Schnelltest möglichist – einige von uns haben vielleicht schon einmal gepus-tet; bei einem Drogenschnelltest kann man allein durchdas Wischen über die Haut feststellen, ob die getestetePerson Drogen konsumiert hat oder nicht –, ist dies beiMedikamenten deutlich schwieriger. Aber Medikamen-tenmissbrauch ist genauso gefährlich.Eine Langzeitstudie aus den USA hat festgestellt, dassMedikamentenmissbrauch bei Piloten und Pilotinnen inden letzten Jahren stark zugenommen hat. Das gilt für ver-schiedene Substanzen. Ich möchte nur eine exemplarischanführen: Bei circa 20 Prozent der tödlich verunglücktenPiloten und Pilotinnen wurde festgestellt, dass sie in star-kem Maße unter dem Einfluss von Beruhigungsmitteln,sogar unter dem Einfluss von verschreibungspflichtigenSchlafmitteln standen. Ich finde das erschreckend.
Aber nicht alle Medikamente sind problematisch. Undbei den problematischen Medikamenten kommt es aufdie Dosis an. Daher wird das Luftfahrt-Bundesamt eineListe für alle Kontrollierenden erstellen, in der beidePunkte aufgeführt sind.Dabei sollten wir aber nicht aus den Augen verlieren,dass Missbrauch von Medikamenten, Drogen oder Al-kohol eine Krankheit darstellt und dass die BetroffenenHilfe brauchen. Sehr gut finde ich daher, dass alle deut-schen Fluggesellschaften bereits Anlaufstellen für dieBetroffenen geschaffen haben, die nicht das Ziel haben,die betroffenen Menschen möglichst schnell aus dem Ar-beitsverhältnis hinauszudrängen, sondern im Gegenteildafür sorgen wollen, dass die Beschäftigten in die Lageversetzt werden, ihren Beruf gefahrlos auszuüben. Unddas ist der richtige Weg.
Erlauben Sie mir zum Schluss den Hinweis, dass Be-rufe mit besonderer Verantwortung – wie zum BeispielPiloten, Ärzte, Polizisten, aber auch Politiker – beson-ders anfällig für Suchterkrankungen sind. Das sollten wirnicht totschweigen. Wir dürfen aber auch die Betroffenennicht stigmatisieren und ausgrenzen. Es werden Hilfsan-gebote gebraucht, wie sie von den Fluglinien und vielenanderen Arbeitgebern gemacht werden.Ich möchte – da sind wir uns, denke ich, einig – nichtnur in einer sicheren Gesellschaft leben, sondern auch ineiner menschlichen. Dieser Gesetzentwurf wird dazu ei-nen Beitrag leisten.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Rednerliste und damit die Debatte zudiesem Tagesordnungspunkt.Wir kommen nun zur Abstimmung über den von derBundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Än-derung des Luftverkehrsgesetzes. Dazu liegen mir zahl-reiche Erklärungen nach § 31 der Geschäftsordnung vor,die wir wie immer dem Protokoll beifügen.1)Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastrukturempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Druck-sache 18/8102, den Gesetzentwurf der Bundesregierungauf der Drucksache 18/6988 in der Ausschussfassung an-zunehmen.Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion DieLinke auf der Drucksache 18/8107 vor, über den wirzuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsan-trag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stim-me? – Damit ist der Änderungsantrag mit der Mehrheitder Koalition abgelehnt.Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in derAusschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – Wer ist dagegen? – Wer enthält sich? – Damit istder Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den gleichenMehrheitsverhältnissen angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer möchte sich der Stimmeenthalten? – Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stim-men der Koalition gegen die Stimmen der Oppositionangenommen.Wir stimmen nun noch über den Entschließungsantragder Fraktion Die Linke auf der Drucksache 18/8108 ab.Wer möchte diesem Entschließungsantrag zustimmen? –Wer möchte dagegenstimmen? – Wer möchte sich enthal-ten? – Enthaltungen keine. Der Entschließungsantrag istmehrheitlich abgelehnt.Wir kommen nun unter dem Zusatzpunkt 2 zur Be-schlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr unddigitale Infrastruktur zu dem Antrag der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen mit dem Titel „Fluglärm wirksamreduzieren“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf der Drucksache 18/5247, denAntrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf derDrucksache 18/4331 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit Mehr-heit angenommen.Damit ist dieser Tagesordnungspunkt abgeschlossen.Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 4 und Zu-satzpunkt 3:4. Beratung des Antrags der Abgeordneten HeidrunBluhm, Caren Lay, Herbert Behrens, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEBundesweiten Aktionsplan für eine gemein-nützige Wohnungswirtschaft auflegen1) Anlage 2Kirsten Lühmann
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Drucksache 18/7415Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-sicherheit
Innenausschuss Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzFinanzausschussZP 3 Beratung des Antrags der AbgeordnetenChristian Kühn , Britta Haßelmann,Sven-Christian Kindler, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDie neue Wohnungsgemeinnützigkeit – Fair,gut und günstig wohnenDrucksache 18/8081Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-sicherheit
Innenausschuss FinanzausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung soll auchdiese Aussprache 77 Minuten dauern. – Dagegen meldetsich niemand mit erkennbaren Einwänden. Also könnenwir so verfahren.Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst derKollegin Heidrun Bluhm für die Fraktion Die Linke dasWort.
Guten Morgen, sehr geehrter Herr Präsident! GutenMorgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wollenuns heute mit dem Antrag, den wir vorgelegt haben, derWohnungsgemeinnützigkeit zuwenden. Ich denke, dasswir mit diesem Antrag im gesamten Parlament offeneTüren einrennen; denn selbst der Kollege Ullrich von derCDU/CSU-Fraktion hat in seiner Rede am 28. Januar an-geregt – ich zitiere –, „über Fragen der Gemeinnützigkeitim Wohnungsbau“ nachzudenken.
Die Sinnesäußerung des Kollegen Ullrich hat der Kolle-ge Groß dann auch noch untersetzt, indem er zum Aus-druck brachte: „Ja, tun wir das, machen wir das …“Wir haben das gemacht.
Das Ergebnis ist der Antrag, der Ihnen heute vorliegt.Meine Damen und Herren, seit langem schon denktman bei uns in der Fraktion und in außerparlamentari-schen Kreisen, insbesondere auch beim Mieterbund, da-rüber nach, wie aus einer jahrzehntelangen wohnungs-politischen Agonie der Bundesregierung aktiv sozialgestaltende Wohnungspolitik gemacht werden könnte.Auch die Grünen sind in das Thema eingestiegen und ha-ben dazu – wie wir – ein wissenschaftliches Sachverstän-digengutachten in Auftrag gegeben, das nun vorliegt, undebenfalls heute einen entsprechenden Antrag vorgelegt.All das sollten aus meiner Sicht optimale Voraussetzun-gen dafür sein, heute hier in dieser Frage den Durchstoßzu machen und endlich dafür Sorge zu tragen, dass im In-teresse von Millionen Mieterinnen und Mietern, die ver-zweifelt nach bezahlbarem Wohnraum suchen, eine neue,sozial orientierte Wohnungspolitik auf den Weg gebrachtwerden kann –
wohlgemerkt: Wohnungspolitik im Interesse von Millio-nen Mieterinnen und Mietern, nicht Wohnungsmarktpo-litik im Interesse von Millionären oder Immobilienspe-kulanten, die nach Subventionen schreien und nachher,wenn sie mit Subventionen investiert haben, auch nochdie Mieterinnen und Mieter zur Kasse bitten. Das ist esnämlich, was die Bundesregierung seit der Abschaffungder Wohnungsgemeinnützigkeit 1990 eingeleitet und mitder Föderalismusreform 2006 zementiert hat.Die Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit wardie Abkehr von der Idee einer sozialen Marktwirtschaftund damit die Hinwendung zum blanken Neoliberalis-mus auch in der Wohnungspolitik. Sie war eben nicht,wie immer kolportiert wird, durch den Skandal um dieNeue Heimat gerechtfertigt. Der diente eigentlich nur alsVorwand, um die Abschaffung des Wohnungsgemeinnüt-zigkeitsgesetzes durchzusetzen, und zwar entgegen denEmpfehlungen zweier Untersuchungsausschüsse – einerdes Bundestages und einer des Landtags NRW –, gegendie Abstimmung im Bundesrat, gegen den Widerstandder gemeinnützigen Wohnungsunternehmen und gegendie öffentliche Bestandsgarantie des damaligen Baumi-nisters Schneider.Der ehemalige Bauminister Ravens hat die Auswir-kungen der beabsichtigten Abschaffung der Wohnungs-gemeinnützigkeit schon 1987 geradezu beschwörend aufden Punkt gebracht – ich zitiere ihn –:Die Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeitwäre m. E. nicht nur wohnungspolitisch falsch,sie wäre auch wirtschaftspolitisch eine schlichteDummheit. Über das Wohngeld würde der Staatzu einem Vielfachen von dem an Subventionen ge-zwungen, was die Gemeinnützigkeit an Steueraus-fällen kostet.Er hat ja so Recht behalten. Und dennoch: Schon da-mals, genau wie heute, hat sich der Finanzminister gegenden Bauminister durchgesetzt. Oder sollte man bessersagen: Die kleine, aber starke Lobby der privaten Woh-nungswirtschaft hat die Wohnungspolitik einkassiert undbestimmt von da ab den politischen Kurs, gegen jedenvolkswirtschaftlichen und sozialpolitischen Sachver-stand, mit desaströsen Folgen, die sich seither aufgebauthaben und mit denen wir uns heute auseinanderzusetzenhaben.Der Wegfall der Wohnungsgemeinnützigkeit hatsprunghafte Mietsteigerungen und einen bis heute an-haltenden Mieterhöhungswettbewerb ausgelöst. Der so-ziale Wohnungsbau wurde drastisch zurückgefahren undkonnte den Verlust an sozial gebundenen Wohnungennicht mehr ausgleichen. Durch 25 Jahre uneingeschränk-te Marktherrschaft hat sich damit eine krisenhafte Si-Präsident Dr. Norbert Lammert
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tuation auf dem Wohnungsmarkt aufgebaut, in der sich7,1 Millionen Mieterhaushalte darum reißen, in den nochbestehenden 1,4 Millionen verbliebenen Sozialwohnun-gen wohnen zu dürfen. Das sind alarmierende Missver-hältnisse. Das hat die Pestel-Studie bereits im Jahre 2012aufgezeigt, also schon lange, bevor unser Problem aufdem Wohnungsmarkt durch die Flüchtlinge noch weiterverschärft wurde.Der Markt alleine wird es eben nicht richten. Deshalbbraucht er ein Korrektiv, einen Sektor in der Wohnungs-wirtschaft, der nicht nur naturgemäß renditegetrieben,sondern vor allem dem Gemeinwohl verpflichtet ist.
Wie es sie in vielen anderen europäischen Ländern gibt –ohne dass das von der Europäischen Kommission odervom Europäischen Gerichtshof als wettbewerbsfeindlichoder beihilferechtlich bedenklich eingestuft wäre –, brau-chen wir auch in Deutschland eine neue gemeinnützigeWohnungswirtschaft. Der Wissenschaftliche Dienst desBundestags hat gerade, wie für den heutigen Tag be-stellt, unter dem Titel „Gemeinnütziger Wohnungsbau inEU-Mitgliedstaaten“ eine umfängliche Sachstandsanaly-se vorgelegt. Ich empfehle Ihnen, diese zu lesen.So wie wir das in dem hier vorliegenden Antrag be-schrieben und ausführlich erläutert haben, soll die neuegemeinnützige Wohnungswirtschaft Menschen mit ge-ringen und unsicheren Einkommen und Personen, dieaus anderen Gründen als Marktteilnehmer diskriminiertwerden, mit bedarfsgerechten, bezahlbaren Wohnungenversorgen. Die gemeinnützige Wohnungswirtschaft sollsich dauerhaft gemeinnützigen Wirtschaftsgrundsätzenverpflichten wie der Mietpreisbindung auf Grundlagedes Kostendeckungsprinzips, einer Beschränkung desGeschäftskreises auf die Zielgruppe mittlerer und nied-riger Einkommen sowie einer strikten Vermögens- undZweckbindung. Im Gegenzug soll sie dauerhaft – das istvor allem wichtig – Aufgaben im öffentlichen Interesseübernehmen und dafür mit öffentlichen Privilegien aus-gestattet werden.Wir denken, dass eine Privilegierung der neuen ge-meinnützigen Wohnungsunternehmen wie folgt aus-sehen könnte: eine Körperschaftsteuerbefreiung, eineganze oder teilweise Befreiung von der Gewerbesteuer,ein reduzierter Umsatzsteuersatz bei der Herstellung undErhaltung von sozialen Wohnbauten, ein bevorzugter Zu-gang zu Städtebaufördermitteln und öffentlichen Grund-stücken und gegebenenfalls eine Grunderwerbsteuerbe-freiung. So wären Bund, Länder und Kommunen bei derFörderung gleichermaßen heranzuziehen. Diese zunächstzusätzlichen Aufwendungen der öffentlichen Hand unddie aus Steuerbefreiungen resultierenden Steuerminder-einnahmen führen auf der anderen Seite zu erheblichenEinsparungen beim Wohngeld, bei den Kosten der Un-terkunft und anderen Transferleistungen, sodass sichunter dem Strich betriebs- und volkswirtschaftlich eineWin-win-Situation für alle Beteiligten ergeben würde.Und nicht nur das: Menschen, die bisher auf eben dieseZuwendungen angewiesen sind, müssen sich nicht mehrals Verlierer, als Bittsteller oder als Almosenempfängervorkommen. Kommunen hätten wieder die Möglichkeit,aktiv gestaltete Daseinsvorsorge zu betreiben.Meine Damen und Herren, der Unterschied zur altenGemeinnützigkeit und zu bisherigen Marktanreizpro-grammen besteht darin, dass öffentliche Mittel dauerhaftim öffentlichen Interesse genutzt werden und im gemein-nützigen Zweckbetrieb verbleiben. Die Sozialbindungder gemeinnützigen Wohnungen soll daher nicht wie bis-her an befristete Förderungen oder zinsverbilligte Kredi-te gebunden werden – was heute ohnehin kein besonde-rer Anreiz ist –, sondern sie soll dauerhaft dinglich, alsoauch durch Grundbucheintrag, gesichert werden, damitnicht – wie bisher üblich – über kurz oder lang öffentli-che Gelder am Ende in privaten Taschen landen.Natürlich bedarf ein solcher gemeinnütziger Sektor inder Wohnungswirtschaft – auch das ist eine Lehre ausder Geschichte der gemeinnützigen Wohnungsunterneh-men – einer starken, transparenten innerbetrieblichenund öffentlichen Kontrolle.Meine Damen und Herren, in den Eckpunkten zumHaushalt 2017 werden weitere Haushaltsmittel für denWohnungsbau und die „Soziale Stadt“ in Höhe von800 Millionen Euro im Jahr veranschlagt. Dieses Geld,kombiniert mit dem Geld, das bereits heute im Haus-halt 2016 für den sozialen Wohnungsbau steht, wäre eineAnschubfinanzierung, die zwar noch nicht in der Höhewäre, wie wir sie gern hätten, aber eine Anschubfinanzie-rung, um die Gemeinnützigkeit tatsächlich herzustellen.
Frau Kollegin.
Meine Damen und Herren, mein letzter Satz. Die Hal-
tung der demokratischen Parteien zur Wohnungsgemein-
nützigkeit – das prophezeie ich Ihnen schon heute – wird
spätestens im Bundestagswahlkampf im nächsten Jahr
ein wesentliches Entscheidungskriterium für die Wäh-
lerinnen und Wähler dabei sein, wem sie ihre Stimme
schenken.
Danke schön.
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält die Kollegin Sylvia
Jörrißen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Woh-nen ist einer der privatesten und intimsten Bereiche inunserem Leben. Ich jedenfalls lasse nicht jeden in meineWohnung. In unseren eigenen vier Wänden haben wirunseren Lebensmittelpunkt. Hier leben wir mit unserenFamilien, hier treffen wir unsere Freunde, hierhin kehrenHeidrun Bluhm
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wir nach einem Arbeitstag zurück. Die Wohnung bietetuns Schutz und Geborgenheit. Sie ist Voraussetzung fürBeruf, Gesundheit und gesellschaftliche Teilhabe.Frau Bluhm, ich bin froh, dass wir den Menschen inDeutschland gute Voraussetzungen bieten. Wir haben ei-nen im Großen und Ganzen gut funktionierenden Woh-nungsmarkt, der auf Angebot und Nachfrage reagiert,wie andere Märkte auch. Auch in Berlin können Sieeine bezahlbare Wohnung finden. Nur: Wer unbedingt inMitte wohnen möchte, muss bereit sein, etwas mehr zubezahlen. Und wenn unter Ihrer Regierungsbeteiligungmehr Geld oder mehr Steine für den sozialen Wohnungs-bau gekommen wären, wäre die Situation zugegebener-maßen in Berlin noch etwas entspannter, Frau Bluhm.
Sie verbreiten mit Ihrem Antrag nur Angst. Ich möch-te gern von der Panikmache in Ihrem Antrag Abstandnehmen, und ich möchte erst recht von der vollständigenVerstaatlichung des Wohnungsmarktes Abstand nehmen.
Als Baupolitikerin sehe ich die zentrale Herausforde-rung – auch ohne Ihre Nachhilfe –, insbesondere in denBallungsräumen zielgruppengerechten und bezahlbarenWohnraum zu schaffen: für Familien, für Alleinlebende,für Senioren, für Studenten und für Asylberechtigte.Wir kennen die maßgeblichen Faktoren, die unsereWohnungspolitik bestimmen. Die demografische Ent-wicklung in unserem Land erfordert, dass wir zukünftigdeutlich mehr kleinere, barrierearme und altersgerechteWohnungen bauen. Wir können auch den Klimawandelnicht ignorieren. Er erfordert das Einhalten energetischerStandards im Neubau und im Bestand bei gleichzeiti-ger Abwägung der Wirtschaftlichkeit. Wir befinden unsin einer Zeit zunehmender Verstädterung, die die Woh-nungslandschaft in Deutschland sehr heterogen macht.Wir haben strukturschwache Regionen mit Wohnungs-leerständen und Ballungszentren mit überhitzten Woh-nungsmärkten.Meine Damen und Herren, Sie sehen, die Herausfor-derungen sind nicht eindimensional und erfordern daherdifferenzierte Lösungen. Das Realisieren der von Ihnenvorgeschlagenen sozialistischen Wohnungswirtschafthilft den strukturschwachen Regionen nicht, attraktiverzu werden. Es hilft auch den Städten nicht, ihre Problemezu lösen. Kurzum: Es hilft uns nicht.Ich erkenne an, dass der soziale Wohnungsbau bei derBereitstellung von bezahlbarem Wohnraum eine wichti-ge Rolle spielt.
Aber die öffentliche Wohnraumförderung allein ist nichtdas Allheilmittel für unsere Probleme. Wir können un-sere Ziele nur erreichen, wenn wir alle Akteure ins Bootholen und in die Pflicht nehmen.Wir reagieren bereits auf diese Situation:Wir haben die Kompensationsmittel für den sozialenWohnungsbau verdoppelt. Von 2016 bis 2019 erhaltendie Länder insgesamt mehr als 4 Milliarden Euro. DieseMittel müssen jetzt aber auch von den Ländern zweckge-bunden verwendet werden.
Wir haben die Wohngeldnovelle beschlossen. Seit2016 ist das Wohngeld deutlich erhöht. 870 000 Haus-halte profitieren davon. Über ein Drittel derer beziehenwieder oder erstmals Wohngeld.Seit dem letzten Jahr stellt der Bund durch die BImAGrundstücke für Maßnahmen im Rahmen der Flücht-lingsunterbringung und für den sozialen Wohnungsbauzur Verfügung.
Bei mir zu Hause in Hamm sind heute bereits800 Flüchtlinge in einer ehemaligen, umgebauten Kaser-ne untergebracht. Eine Erweiterung findet gerade statt.Sie sehen, wir haben schnell gehandelt.
Wir wollen, dass für Studierende und Auszubildendemehr gebaut wird. Deshalb haben wir im Zukunftsinves-titionsprogramm 120 Millionen Euro Fördermittel fürinnovative bauliche Konzepte bereitgestellt.Meine Damen und Herren, lassen Sie uns jetzt einenBlick nach vorne richten: Das beste Rezept bei Woh-nungsnot ist noch immer der Bau neuer Wohnungen.Hierzu brauchen wir ein baufreundliches Klima, nichtnur für den öffentlich geförderten, sondern auch für dengenossenschaftlichen und privaten Wohnungsbau.
Wir wollen eine befristete und regionalisierte Sonderab-schreibung einführen.
Diese wirkt schnell und zielgerichtet genau dort, woder Druck auf die Wohnungsmärkte am größten ist. Wirbrauchen sie dringend, um den privaten Mietwohnungs-bau anzukurbeln. Die Bundesregierung hat bereits gelie-fert – ein großer Erfolg und ein wichtiger Impuls.Viel zu kurz kommt mir immer die Betrachtung desselbstgenutzten Wohneigentums. Deutschland liegt mitseiner Eigentumsquote im europäischen Vergleich anvorletzter Stelle.
Sylvia Jörrißen
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Dabei hat gerade das selbstgenutzte Wohneigentummehrfache soziale Wirkungen:
Selbstgenutztes Wohneigentum stabilisiert Wohnquartie-re, fördert Integration und ist Schutz vor Gentrifizierung.Selbstgenutztes Wohneigentum ist vor allem für Bezie-her unterer und mittlerer Einkommen eine ganz wichtigeForm der privaten Altersvorsorge.
Nicht zuletzt wird durch Umzugsketten beim Bau vonselbstgenutztem Wohneigentum immer auch eine Miet-wohnung frei.Für Haushalte mit kleinen und mittleren Einkommenmuss daher die Wohneigentumsförderung gestärkt wer-den. Ich möchte, dass die Wohnungsbauprämie auf denStand der heutigen Zeit gebracht wird.
Die letzte Anpassung der Einkommensgrenze erfolgtevor 20 Jahren. Das hat dazu geführt, dass allein aufgrundtariflicher Lohnerhöhungen viele Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer aus der Förderung herausgefallensind. Das kann nicht sein. Durch eine Anpassung würdenwir gerade die unteren Einkommensklassen fördern.
Lassen Sie mich zum Schluss noch zu einem wichti-gen Punkt kommen, zu den Baukosten. Es ist klar, dassnur gebaut wird, wenn eine Wirtschaftlichkeit gegebenist. Das gilt im Übrigen sogar für kommunale Wohnungs-baugesellschaften. Die Baukosten sind in den vergange-nen Jahren stark gestiegen. Dadurch verteuern sich auchdie Mietpreise. Also müssen die Kostentreiber angegan-gen werden. Hier hat die Baukostensenkungskommissi-on gute und realisierbare Punkte identifiziert, die jetzt zü-gig umgesetzt werden müssen. Über die Ergebnisse desBündnisses für bezahlbares Wohnen und Bauen habenwir bereits in der letzten Sitzungswoche ausgiebig de-battiert. Deshalb nenne ich jetzt nur wenige Stichpunkte:Das Normungswesen muss überarbeitet werden; Kosten-und Nutzenaspekte müssen besser abgewogen werden.Ich denke vor allem auch an die Energieeinsparverord-nung. Die EnEV 2016 treibt, laut Branchenberechnun-gen, die Baukosten um 8 Prozent in die Höhe, bei einemNutzen, der kaum noch messbar ist. Die CO2-Emissionensinken lediglich um 0,02 Prozent. Hier muss das Endeder Fahnenstange erreicht sein.Bleiben wir bei der EnEV und der für dieses Jahr an-gestrebten strukturellen Neukonzeption und Zusammen-legung mit dem Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz.Hierzu hat das Wirtschaftsministerium ein Gutachtenbeauftragt. Die Sonderbauministerkonferenz, die gesterntagte, hat erhebliche Zweifel an den Annahmen, die demWirtschaftlichkeitsgutachten zugrunde liegen, und siehat auch Zweifel daran, dass die Ende 2015 formuliertenForderungen hinsichtlich Wirtschaftlichkeit, Technolo-gieoffenheit und Vereinfachung erfüllt sind.
Ich fordere daher unser Bauministerium auf, das Gutach-ten kritisch zu überprüfen und gegebenenfalls ein weite-res in Auftrag zu geben.Sie sehen: Wir haben bereits vieles getan, und es gibtimmer noch vieles zu tun. Aber die Weichen sind gestellt,und wir sind auf einem richtigen Weg.Danke schön.
Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin
Britta Haßelmann.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen undHerren! Frau Jörrißen, wer angesichts der Problemlagedes Wohnungsmarktes in Deutschland sagt, dass wir aufeinem guten Weg sind, dass wir eigentlich schon allesmachen und dass das ganz gut so ist, der oder die negiertdoch vollkommen die Realität und die Faktenlage.
Schauen Sie sich die Situation in Groß- und Universi-tätsstädten an. Es mangelt an bezahlbarem Wohnraumfür Menschen mit kleinem Einkommen. Der Druck istimmens hoch.
– Jetzt tun Sie doch bitte nicht so, als wäre die Frage mitIhrem kleinen Zwischenruf nach dem Motto „Wer regiertda gerade?“ zu lösen. Wir hier im Deutschen Bundestaghaben eine Verantwortung für das Thema „bezahlbaresWohnen“, und auch die Länder haben eine Verantwor-tung für dieses Thema.
– Ich verstehe gar nicht, warum Sie da so schreien. Ichdachte, das wäre ein Thema, über das wir gemeinsam re-den können und bei dem wir gemeinsam nach Lösungensuchen können.Wir müssen neben den Instrumenten, die heute bereitsbestehen, sagen: Wir als Deutscher Bundestag haben er-kannt, dass es hier um eine neue soziale Frage geht. DasThema „bezahlbares Wohnen“ und die Tatsache, dass wirverhindern sollten, dass Menschen einen Großteil ihresEinkommens für Wohnen ausgeben müssen, müssen unsdoch alle beschäftigen. Wir müssen gemeinsam überle-gen, was wir bei dem Thema tun können. Entschuldi-Sylvia Jörrißen
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gung, aber da reichen die Instrumente, die Sie geradeaufgezählt haben, nicht aus.
Natürlich investieren wir und fördern wir den sozialenWohnungsbau. Natürlich gibt es Programme zur Städte-bauförderung. Wir haben gemeinsam an einem Stranggezogen, um die Mittel dafür zu erhöhen. Es gibt denVorschlag für die Sonder-AfA; aber, sorry, Frau Jörrißen,schauen Sie sich einmal an, für wen die Sonder-AfA ist.
Wir fördern damit doch nicht in einem Segment, in demes um bezahlbaren Wohnraum geht. Ich bitte Sie: Be-schäftigen Sie sich einmal mit den Modalitäten und denVoraussetzungen für die Sonder-AfA. Das hat nichts mitdem Bereich bezahlbarer Sozialwohnungen zu tun. Dasist eine Förderung in einem anderen Segment. Sie kön-nen sagen, dass es in manchen Bereichen gebraucht wird;aber bitte negieren Sie nicht, dass damit das Thema „so-zialer Wohnungsbau“ nicht gelöst wird. Das weiß jedeund jeder, der oder die in diesem Bereich aktiv ist.
2002 gab es noch 2,5 Millionen Sozialwohnungen.Inzwischen sind es noch 1,5 Millionen. Jährlich fallen60 000 Sozialwohnungen aus der Bindung. Dabei wer-den jährlich 100 000 zusätzlich gebraucht. Wir bauen un-gefähr zwischen 9 000 und 12 000; das ist die Zahl, dieimmer genannt wird. Da wollen Sie sagen, dass wir keinProblem haben? Wir haben da ein riesiges Problem. Dasballt sich in manchen Regionen enorm.
In dieser Situation würde ich Sie gerne dafür gewin-nen, zu sagen: Da viele Menschen erkannt haben, dasses eine neue soziale Frage ist, gibt es neben den Instru-menten, die wir haben, vielleicht die Chance, neue Ideeneinzubringen oder an alten Ideen wieder zu arbeiten.Ein Thema ist der gemeinnützige Wohnungsbau. Wa-rum können wir nicht einfach einmal darüber diskutie-ren? Wir können doch aus den Fehlern, die damals beider Neuen Heimat gemacht und im Untersuchungsaus-schuss aufgearbeitet worden sind, lernen. Wir könnenim Rahmen eines Sofortprogramms sozialen Wohnraumzur Verfügung stellen – durch Ankauf, durch Konversi-on, durch Umbau –, und wir können im Hinblick auf dieFörderung gerade von Genossenschaften, von Gemein-nützigen, von Initiativen, die sich in diesem Bereich zu-sammentun, für Bezieher mittlerer und kleiner Einkom-men und für den sozialen Wohnungsbau wirklich etwasschaffen, indem wir zum Beispiel private Vermieter mitbis zu 20 Prozent der Neubaukosten fördern oder beider Wohnraumförderung 10 Prozent der Gesamtkostenübernehmen. Hier könnten wir durch Steueranreize undGutschriften einen Impuls geben. Wir könnten in diesemBereich versuchen, durch den Neubau von bezahlbaremWohnraum und durch neue Initiativen und neue Ideen imHinblick auf die neue Wohnungsgemeinnützigkeit etwaszu tun. Wir müssen kommunale Akteure, Wohnprojekteund Bauvereine oder auch private Vermieter dafür ge-winnen, sich stärker dafür zu interessieren und sich amMarkt zu beteiligen.
Ich glaube, das könnte wirklich eine Chance sein. Des-halb fordere ich Sie alle auf: Lassen Sie uns darübernachdenken und gemeinsam darüber diskutieren!Wohnraumförderung muss nachhaltig sein. Eines derProbleme bei all den Instrumenten, über die wir bisherreden, ist die kurze Sozialbindung. Nach zehn Jahren fal-len die sozial geförderten Wohnungen aus der Bindung,
und wir kommen in die Schwierigkeit, vor der wir invielen mittelgroßen und großen Städten stehen. Deshalbist der Anknüpfungspunkt, durch die Wohnungsgemein-nützigkeit langfristig und dauerhaft eine Förderung zurVerfügung zu stellen, aber auch langfristig zu binden, eininteressanter Impuls, eine interessante Idee. Ich würdemich freuen, wenn Sie Interesse daran haben, diese Ideeals eine ernstzunehmende neue Idee aufzugreifen. Ausden Fehlern der Vergangenheit kann man hier lernen.Lassen Sie uns darüber diskutieren!Viele wissen, dass bezahlbares Wohnen für die Men-schen in ihrem Alltagsleben mittlerweile zu einem gro-ßen Thema geworden ist und dass dies eine neue sozialeFrage ist, der wir uns stellen müssen, und das nicht nurmit den üblichen bisherigen Instrumenten. Das machendie Zahlen zum fehlenden Wohnraum deutlich.Danke.
Für die Bundesregierung hat jetzt Herr Parlamentari-
scher Staatssekretär Florian Pronold das Wort.
Fl
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Eine ganze Menge Menschen in Deutschlandhaben derzeit Sorge, wie sie heute oder in Zukunft be-zahlbaren Wohnraum finden. Diese Sorge nehmen wiralle in diesem Hohen Hause sehr ernst. Ich glaube daher,es würde der Debatte sehr gut tun, wenn man nicht indas übliche Spiel zwischen Opposition und Regierungverfällt.
Britta Haßelmann
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Man könnte vonseiten der Opposition anerkennen,dass diese Bundesregierung und die sie tragenden Frak-tionen im Hinblick auf bezahlbaren Wohnraum deutlichmehr gemacht haben, als in den letzten Legislaturperi-oden getan wurde, und dass wir mehr gemacht haben,als im Koalitionsvertrag steht, weil wir erkannt haben,dass es in Studierendenstädten und Metropolregionen einMarktversagen gibt, das wir ohne Intervention nicht auf-lösen können.Was so abstrakt klingt, heißt ganz konkret, dass wirfür die Rentnerin, die in eine kleinere Wohnung ziehenwill, bezahlbaren Wohnraum haben, dass wir für einenganz normalen Krankenpfleger, der heute eine Wohnungin Berlin sucht, ein Angebot haben, das er sich leistenkann, und dass wir für die Polizeibeamtin eine Wohnungin der Stadt haben, sodass sie nicht jeden Tag 30, 40 Ki-lometer von ihrer Wohnung bis zur Arbeit fahren muss.Das ist doch das, was wir gemeinsam wollen: bezahlba-ren Wohnraum auch in angespannten Wohnungsmärktenvorhalten.Dafür haben wir eine ganze Fülle von Maßnahmendurchgeführt, zum Beispiel in den Bereichen der sozi-alen Wohnraumförderung und der Städtebauförderung,die Zurverfügungstellung von Bundesgrundstücken miteinem Preisnachlass für den sozialen Wohnungsbau, dieErhöhung des Wohngeldes usw.
Man könnte also auch einmal anerkennen, dass wir hiereine ganze Menge auf den Weg gebracht haben,
obwohl für diese Dinge nach unserem Grundgesetz derBund fast keine Zuständigkeiten mehr hat, weil die großeVerantwortung bei den Ländern liegt.
Es ist aber in Ordnung, dass wir über weitere Instru-mente diskutieren und uns Gedanken darüber machen,was wir tun können, um unser gemeinsames Ziel zuerreichen. So unterscheidet sich der Wohnungsmarkt inDeutschland zum Beispiel von dem Wohnungsmarkt inÖsterreich durch eine andere Tradition.
Herr Kollege Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage der Kollegin Paus?
Fl
Sehr gerne.
Herr Staatssekretär, Sie haben sich jetzt genauso wie
Frau Jörrißen wieder selber gelobt.
Fl
Sie machen es ja leider nicht.
Sie haben gesagt, dass die BImA, die Bundesanstalt
für Immobilienaufgaben, jetzt Grundstücke für den sozi-
alen Wohnungsbau abgibt, weil der Haushaltsausschuss
das beschlossen hat. Ich gehe davon aus, dass Ihnen wie
mir bekannt ist, dass es bisher nicht einen einzigen Ver-
trag gibt. Kein einziges Grundstück und keine einzige
Wohnung ist bisher von der BImA an welche Kommune,
welche Region und welches Land in der Bundesrepublik
auch immer für den sozialen Wohnungsbau zur Verfü-
gung gestellt worden. Von daher ist das bisher schlicht
ein Beschluss des Haushaltsausschusses. Deswegen
möchte ich Sie fragen, wie Sie trotzdem sagen können,
schon unglaublich viel auf den Weg gebracht zu haben.
Daneben will ich Sie heute konkret fragen, was Sie
dafür tun wollen, dass die BImA tatsächlich Grundstü-
cke für den sozialen Wohnungsbau abgibt und die Län-
der, Kommunen und Regionen endlich davon profitieren
können.
Fl
Um den ersten Teil Ihrer Frage zu beantworten: Wirhaben die Mittel für die soziale Wohnraumförderung, dieüber die Länder ausgegeben werden, verdoppelt, und wirhaben jetzt in den Haushaltsverhandlungen zusätzlichesGeld für die soziale Wohnraumförderung zur Verfügunggestellt.Zweitens. Es ist eine Sonder-AfA für Wohnungen immittleren Segment in angespannten Wohnungsmärktenauf dem Weg. Daneben haben wir für die Flüchtlingsun-terbringung eine verbilligte und teilweise sogar kostenlo-se Überlassung von BImA-Grundstücken vereinbart. Dieersten BImA-Programme sind von den Kommunen übri-gens nicht angenommen worden, weil wir parallel dazufür die Flüchtlingsunterbringung entsprechende Liegen-schaften des Bundes – oft nach notwendigen Renovie-rungsarbeiten – umsonst zur Verfügung gestellt haben.Ich weiß, dass es derzeit eine ganze Menge Verhandlun-gen zwischen den Kommunen und der BImA über dasvom Haushaltausschuss beschlossene Programm und dievon uns allen begrüßte Entscheidung gibt,
dass nun auch öffentliche Liegenschaften des Bundespreisgünstig für den sozialen Wohnungsbau abgegebenwerden. Diese Verhandlungen laufen, und wir könnenbald darüber berichten. Auch im Fachausschuss habenwir mit der BImA bereits über diese Fragen gesprochen,und unser Ministerium hält hier ständigen Kontakt. Ichhabe überhaupt keinen Zweifel daran, dass sich hier derParl. Staatssekretär Florian Pronold
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Wille des Gesetzgebers bzw. des Haushaltsgesetzgebersdurchsetzen wird.
Ich glaube, es geht jetzt darum, zu schauen, welcheFehler in der Vergangenheit gemacht worden sind, Feh-ler, die übrigens von allen – auch von allen, die hier sit-zen – gemacht wurden. Man ist nämlich von falschenPrognosen ausgegangen. Karl Valentin hat einmal ge-sagt: Das Gefährliche an Prognosen ist, dass sie auf dieZukunft gerichtet sind. – Da hatte er recht. In der Woh-nungswirtschaft gilt das besonders. Nach dem Skandalum die Neue Heimat wurden verschiedene Weichenstel-lungen vorgenommen, durch die sich unser Wohnungs-markt anders entwickelt hat als zum Beispiel der Woh-nungsmarkt in Österreich. Ein Unterschied zwischenWien und München ist, dass sich in Wien 70 Prozentder Mitwohnungen in der Hand von Genossenschaftenoder in kommunaler Hand befinden; in München sind esvielleicht 10 bis 15 Prozent. In München beträgt die Be-standsmiete für Wohnungen in der Hand von Genossen-schaften oder kommunalen Wohnungsbaugesellschaftenungefähr 6,50 Euro bis 7 Euro pro Quadratmeter, wäh-rend die durchschnittliche Miete in München mittler-weile bei weit über 14 Euro liegt. Das heißt: Der heuteimmer noch existierende ehemalige gemeinnützige Sek-tor, bestehend aus Genossenschaften und kommunalenWohnungsbaugesellschaften, ist weiterhin sehr wichtig,weil sich die Polizeibeamtin oder der Krankenpfleger inStädten wie München sonst überhaupt keine bezahlbareWohnung mehr leisten könnten.
Im Grunde ist es richtig, zu überlegen, wie wir dengemeinnützigen Sektor wieder stärken. Ich bin der fel-senfesten Überzeugung, dass wir neben den Maßnah-men, die ich beschrieben habe, auch darüber nachden-ken müssen, den nicht profitorientierten Sektor auf demWohnungsmarkt Stück für Stück auszuweiten. Deswegenmacht es Sinn, über die Frage einer neuen Gemeinnützig-keit nachzudenken. Dabei muss man aber ehrlicherweiseeinige Dinge berücksichtigen:Erstens braucht es Wohnungsbaugesellschaften, diemit Blick auf diesen neuen Gemeinnützigkeitsbegriff tat-sächlich bauen wollen.Zweitens darf man die Fehler, die in der Vergangenheitgemacht worden sind, nicht wiederholen, etwa bezüglichder Instandhaltung oder der fehlenden Mieterbeteiligung.Drittens wird eine Frage aufgeworfen, die uns sehrbald beschäftigen wird; denn es kann sein, dass wir recht-lich weniger ein Problem mit Europa haben werden – dassehe ich in dieser Frage überhaupt nicht; das schaffenwir –, sondern als Bundesgesetzgeber. Solange nämlichdie Verantwortung für die soziale Wohnraumförderungweiterhin alleine bei den Ländern liegt und der Bund kei-ne Mitzuständigkeit hat, wird, wenn wir alle miteinanderzu dem Ergebnis kommen, den nicht profitorientierten,gemeinnützigen Sektor auszuweiten, das schwierig um-zusetzen sein. Deswegen kann ich an Sie nur appellieren:Wir brauchen die Gesetzgebungskompetenz dafür. Indiesem Punkt sind sich fast alle Fachpolitiker in diesemRaum einig. In den Ländern wird das aber noch nicht sogesehen. Das Land Berlin hat sich aber bereits positivdazu geäußert.Wir können ab 2019, auch wenn wir das als Bundwollten, nicht einmal mehr die soziale Wohnraumför-derung weiterführen, weil dies eine Übergangsregelungist. Deswegen ist die Voraussetzung, um bei dem ThemaGemeinnützigkeit weiterzukommen, dass wir als Bundwieder eine Mitverantwortung für die soziale Wohn-raumförderung haben. Dafür sollten wir gemeinsam indiesem Haus kämpfen.Herzlichen Dank.
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Volkmar
Vogel.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben in der letzten Sitzungswoche die Ergebnisse
des Bündnisses für bezahlbares Wohnen und Bauen de-
battiert. Ich denke, das war ein wichtiger Meilenstein in
der Umsetzung des Koalitionsvertrages zwischen CDU,
CSU und SPD.
Die Ergebnisse liegen auf dem Tisch. Wir sind sehr froh
darüber, dass die Ergebnisse durch die Behandlung im
Kabinett ressortübergreifend in der Verantwortung der
Bundesregierung liegen. Das macht die Bedeutung be-
sonders deutlich.
Heute debattieren wir über je einen Antrag von den
Linken und von den Grünen zur gemeinnützigen Woh-
nungswirtschaft.
Herr Kollege Vogel, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Haßelmann?
Vielleicht später, jetzt nicht. – Liebe Kolleginnen undKollegen, lassen Sie mich in der heutigen Debatte mitden Gemeinsamkeiten beginnen. Ich glaube, wir alle sinduns darin einig, dass Wohnen eine soziale Frage ist, wennnicht sogar die soziale Frage. Es ist wichtig, dass in unse-rem Land jeder die Möglichkeit hat, eine bezahlbare undvon der Qualität her ansprechende Wohnung zu haben.Diese gemeinsame Anstrengung können die Kommunennicht alleine leisten; das ist eine gemeinschaftliche Auf-gabe von Bund, Ländern und Kommunen. Ich denke, wirsind uns auch darin einig, dass das in der Vergangenheitin der Verantwortung der Länder, gelinde gesagt, diffe-renziert wahrgenommen worden ist. Über die Ergebnissedebattieren und streiten wir heute natürlich auch. TrotzParl. Staatssekretär Florian Pronold
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der erheblichen Kosten, an denen wir uns als Bund be-teiligt haben, sind die Ergebnisse leider nicht entspre-chend. Das liegt meiner Meinung nach – auch das ist Teilunserer gemeinsamen Auffassung – an der mangelndenZweckbindung und Verwendung der Mittel.Eines aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, gefälltmir an dem Antrag der Linken und auch der Grünennicht. Sie sind, auf den Punkt gebracht, der Auffassung:Gemeinnütziger Sektor ist gut, alles andere ist schlecht.
Das stimmt mitnichten. Ein Blick auf die Struktur zeigt,dass zwei Drittel aller Vermieter sogenannte Kleinver-mieter und private Haushalte sind. Ungefähr 12 Prozentsind private Unternehmen, 10 Prozent sind kommunaleUnternehmen, 10 Prozent sind Genossenschaften. Siewollen doch nicht ernsthaft behaupten, dass 70 Prozentder Vermieter, also alle Kleinvermieter, Miethaie sind,gegen die wir etwas tun müssten.
Wenn es so wäre, dann wäre der soziale Frieden in unse-rem Land schon lange gestört.
Außerdem vermisse ich in Ihrem Antrag eine Aner-kennung der Leistungen der gesamten Wohnungswirt-schaft in der Vergangenheit. Auch wenn – das möchte ichbetonen – es denen, die Probleme haben, eine bezahlbareWohnung zu finden, nicht hilft,
können wir in unserem Land nicht von Wohnungsnot imAllgemeinen sprechen, sondern nur von einem Mangelan bezahlbarem Wohnraum in den Ballungsgebieten, inden Universitätsstädten, in bestimmten Hotspots. Daranmüssen wir arbeiten. Dafür müssen wir gemeinsam et-was tun. Die Ergebnisse des Bündnisses für bezahlbaresWohnen und Bauen bringen uns auf den richtigen Weg.Diesen Weg werden wir weiter gehen. Unserer Auffas-sung nach ist es wichtig, dass die von mir geschildertenStrukturen gestärkt werden. Das bedeutet Krisenfestig-keit und Stabilität auch bei geänderten Marktsituationenund bei Problemen beispielsweise die Demografie betref-fend.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, SylviaJörrißen hat es bereits angedeutet: Wir müssen auch da-für sorgen, dass sich die Wohneigentumsquote erhöht.
Jeder, der in ein eigenes Haus zieht, jeder, der eine ei-gene Eigentumswohnung bezieht, macht Platz frei in ei-ner Mietwohnung und trägt somit zur Entspannung desWohnungsmarktes bei. In diesem Bereich sind unsereAnstrengungen noch nicht ausreichend; wir müssen siedahin gehend vorantreiben.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben im Bünd-nis für bezahlbares Wohnen und Bauen eine intensiveDiskussion geführt. Ich kann vor dem Antrag der Linkennur warnen und die Kollegen der Grünen dringend darumbitten, nicht nur das negative Beispiel der Neuen Heimatins Feld zu führen. Ich glaube, das war noch beherrsch-bar. Das war noch abzufedern in einem ansonsten stabi-len Wohnungsmarkt in der Bundesrepublik Deutschland.Die Linken schlagen nun eine staatliche Wohnungswirt-schaft vor.
Ich finde, da sollten wir aus der Vergangenheit gelernthaben. Schauen wir uns einmal den Wohnungsmarkt derehemaligen DDR an. Dieser war geprägt von willkürli-cher staatlicher Wohnungspolitik. Die Innenstädte warenverfallen. Es fehlte bis zum Schluss an Wohnraum, vorallen Dingen an vernünftigem Wohnraum. Letztlich – dasmuss man sagen – war das auch ein Grund, warum dieDDR untergegangen ist. Der bauliche Zustand der Ge-bäude war so schlecht, dass die Leute vom dritten Stockin den zweiten Stock gezogen sind, weil es durchs Dachregnete. Dann sind sie ins Erdgeschoss gezogen. Als auchdas nicht mehr ging, sind sie auf die Straße gegangen undhaben zu Recht gesagt: Wir sind das Volk. – Deswegennoch einmal die eindringliche Warnung und die Bitte andie Kollegen von den Grünen, diesen Weg nicht mitzu-gehen, sondern den Weg weiterzugehen, den wir gemein-sam gehen wollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen Inves-titionen in den Neubau und in den Bestand. Deswegenist es richtig, steuerliche Anreize zu setzen. Wir wissenauch, dass steuerliche Anreize nicht jedem helfen.
Wir müssen auch mehr tun – das möchte ich betonen; dasfehlt auch in Ihrem Antrag – für die kleinen Leute, diejeden Tag zur Arbeit gehen
Volkmar Vogel
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und wenig Spielraum haben, aber trotzdem etwas auf dieSeite legen wollen, um ihren Traum vom eigenen Hausbzw. von der eigenen Wohnung zu verwirklichen. Es istwichtig und geboten, die Wohnungsbauprämie und dieArbeitnehmersparzulage zu erhöhen, damit die Men-schen das notwendige Eigenkapital ansparen können.
Es ist auch richtig, dass wir die Städtebauförderungkontinuierlich weiter ausbauen. Wir haben die Mitteldafür auf rund 800 Millionen Euro erhöht. Außerdemhaben wir die Kompensationsmittel für den sozialenWohnungsbau der Länder um das Doppelte erhöht. Manmuss natürlich die Frage stellen, ob diese Gelder auchabfließen. In der Vergangenheit sind sie nicht abgeflos-sen. Unter anderem deshalb sind wir jetzt in bestimm-ten Gebieten in der Situation, dass es keinen bezahlbarenWohnraum gibt.Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie sind,zum Beispiel in Thüringen, selber in Regierungsverant-wortung. Es geht doch nicht an, dass es zwei Jahre gedau-ert hat, bis die Wohnraumförderprogramme entsprechendangepasst worden sind. Das ist erst in den letzten Wochengeschehen. Ich halte es auch nicht für richtig, dass derFonds, der unter dem vorigen Minister angespart wordenist, jetzt aufgelöst wird und die Mittel in den allgemeinenHaushalt einfließen, sodass sie nicht mehr zweckgebun-den für die Wohnraumförderung zur Verfügung stehen.So viel zum Thema Zweckbindung. So viel Ehrlichkeitmuss sein. Hier müssen wir intervenieren. Das darf nichtso weitergehen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wirauf der einen Seite finanzielle Unterstützung leisten, dannkommt es auf der anderen Seite aber auch darauf an, dassBauen preiswert bleibt. Bauen muss preiswert bleiben,und zwar zum einen durch Fördermittel und zum anderendadurch, dass die Standards und Vorschriften nicht weiterverschärft werden. Man kann es auf den Punkt bringen:Derjenige, der in der Lage ist, preiswert zu bauen, kannauch preiswert vermieten, wenn die Marktbedingungendazu passen.Ich stelle abschließend fest: Es ist richtig und wich-tig, dass wir die bewährten und krisenfesten Strukturenin Deutschland erhalten, unterstützen und mit entspre-chenden Fördermitteln weiterentwickeln. Des Weiterenmüssen wir dafür sorgen, dass in Gebieten, in denen tat-sächlich ein Mangel an bezahlbarem Wohnraum besteht,Abhilfe geschaffen wird, um damit auch den sozialenFrieden insgesamt in unserem Land zu erhalten.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Danke auch, Herr Kollege Vogel. – Nächste Rednerin
ist die Kollegin Caren Lay für die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich muss feststellen: Das Eigenlob, das sich dieUnion für die Wohnungspolitik ausstellt, steht in krassemGegensatz zur realen Mietentwicklung in Deutschlandund zur Wahrnehmung der Menschen. Dafür habe ichüberhaupt kein Verständnis.
Ich frage mich, ob Sie es schon mitbekommen haben:Wir haben in deutschen Großstädten in den letzten fünfJahren Mietsteigerungen von 30, 40 oder 50 Prozent.Daran haben weder Ihr Bündnis für bezahlbares Woh-nen noch das Mietpreisbremschen irgendetwas geändert,nicht zuletzt dadurch, dass die gute Idee der Mietpreis-bremse von Ihrer Fraktion so durchlöchert wurde, dasssie am Ende zum Rohrkrepierer wurde. Wenn Sie nachdiesem Vorgang jetzt die Länder beschimpfen, sie wür-den sie nicht schnell oder gut genug umsetzen, dann kannich nur lachen.
Abgesehen davon gibt es auch einige unionsgeführteLänder, die bis heute die Umsetzung der Mietpreisbrem-se verweigern. Sie sind wirklich nicht in der Position, mitdem Finger auf andere zu zeigen.
Ich denke manchmal, man müsste Sie einfach ein-mal mitnehmen. Machen wir doch eine Exkursion, umzu sehen, was auf dem deutschen Wohnungsmarkt losist. Dafür müssen wir nicht weit gehen. In Berlin, etwa200 Meter vom Deutschen Bundestag entfernt, gibt esin der Wilhelmstraße ein großes Mietwohnhaus mit100 Wohnungen zu einem Mietpreis von 5 Euro pro Qua-dratmeter. Dieses Haus soll jetzt abgerissen werden. Dortsollen Luxuseigentumswohnungen entstehen, von denendie billigste eine halbe Million Euro kostet. Das ist dochvölliger Unsinn. Da greifen sich die Leute zu Recht anden Kopf.
Das Problem ist, dass der Wohnungsmarkt in Deutsch-land zu einem Eldorado für Spekulanten und große priva-te Anbieter geworden ist. Das wollen wir ändern.
Sie fordern immer: Bauen! Bauen! Bauen! Bauen al-leine ist aber kein Programm. Es wird schon ganz schönviel gebaut in Deutschland. Es wird für Reiche und fürBesserverdienende gebaut. Aber niemand baut für Stu-dierende, Rentner, Erwerbslose und Familien mit kleinemEinkommen. Genau darum geht es doch. Selbst kommu-nalen Unternehmen wird zunehmend vorgeworfen, dasssie nicht mehr für die soziale Versorgung einstehen. Ichkann nur sagen: Die Abschaffung der Wohngemeinnüt-zigkeit war ein großer Fehler der Vergangenheit. DiesenVolkmar Vogel
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Fehler wollen wir korrigieren. Wir müssen endlich wie-der eine zweite Säule auf dem Wohnungsmarkt schaffen.
Es geht im wahrsten Sinne des Wortes ums Prinzip.Der Markt alleine richtet es hier offenbar nicht. DerMarkt alleine hat nicht dafür gesorgt, dass Wohnen be-zahlbar bleibt. Der Markt alleine hat dafür gesorgt, dassdie Renditen privater Investoren zunehmend in die Höhesteigen. Deshalb brauchen wir eine zweite Säule der Ge-meinnützigkeit. Ich möchte Sie bitten, unseren Antragwirklich zu lesen. Nicht nur kommunale Wohnungsun-ternehmen und Genossenschaften, sondern auch privateInitiativen würden davon profitieren. Also hören Sie bitteauf, einen Popanz aufzubauen und zu sagen, wir Linkenwollten wieder verstaatlichen und die DDR einführen.Sie haben unseren Antrag nicht gelesen. Machen Sie bitteIhre Hausaufgaben!
Das Prinzip der Gemeinnützigkeit ist deutlich undklar. Gemeinnützige Unternehmen verzichten auf hoheRenditen. Sie verpflichten sich der Sozialbindung unddem Allgemeinwohl. Dafür bekommen sie steuerlicheAnreize, steuerliche Privilegien im Gegenzug für sozialeVerpflichtungen. Was Sie mit Ihrem Gesetzentwurf, überden wir in zwei Wochen beschließen sollen, planen, istdas glatte Gegenteil. Herr Schäuble verfolgt das gegen-teilige Modell: steuerliche Privilegien ohne soziale Ver-pflichtung. Das ist doch völliger Unsinn.
Sie wollen ein Gesetz beschließen, das faktisch Steuer-ausfälle in Milliardenhöhe für die Länder bedeutet. DieWohnungen, die mithilfe steuerlicher Anreize gebautwerden sollen, gehören uns am Ende nicht. Die Sozial-bindung entfällt nach zehn Jahren. Auch Mietobergren-zen soll es nicht geben. Das, was die Koalition, vor allemdie Union, plant, ist Geldverschwendung in Milliarden-höhe. Das ist keine neue Gemeinnützigkeit. Nur eineneue Gemeinnützigkeit wird dafür sorgen, dass Wohnenin Deutschland langfristig bezahlbar bleibt.Stimmen Sie also dem guten Vorschlag der Linken zu,und lassen Sie uns gemeinsam eine neue Gemeinnützig-keit einführen.Vielen Dank.
Für die SPD spricht jetzt der Kollege Klaus Mindrup.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Gestatten Sie mir eingangs ein paar persön-liche Vorbemerkungen. Seit 16 Jahren bin ich zuerstBeirat, dann Aufsichtsrat der vor 16 Jahren gegründetenWohnungsbaugenossenschaft „Bremer Höhe“. Wir sindeine Graswurzelgenossenschaft in Prenzlauer Berg undsind dem Gemeinwohl verpflichtet. Wir haben einenKernbestand von ungefähr 450 Wohnungen in Prenz-lauer Berg. Wir sind eine Dachgenossenschaft, unterderen Dach weitere Projekte realisiert werden können.Zuletzt ist das bekannte Georg-von-Rauch-Haus unterunser Dach geschlüpft. Wir bieten bezahlbare Mieten, imSchnitt 5,50 Euro pro Quadratmeter in Prenzlauer Berg.Wir haben eine Förderung von Berlin bekommen. Dafürhaben wir Berlin Belegungsbindung gegeben. Eigentlichkönnten wir diese jetzt zurückgeben. Aber wir haben unsfreiwillig entschlossen, Berlin weiterhin einen Teil ein-zuräumen, weil wir etwas von dem zurückgeben wollen,was wir vom Staat bekommen haben. Wir haben geringeNebenkosten und sind dem Klimaschutz verpflichtet, un-ter anderem durch Mieterstrommodelle.Wir machen schon seit langer Zeit keine Wartelisten,weil wir wissen, wie die Mietsituation in Berlin ist; dashaben wir schon sehr früh mitbekommen. Wir sind aberkeine Vermietungsgenossenschaft, die steuerbefreit ist;das ist der letzte Rest aus der Gemeinnützigkeit. Wir ha-ben darüber diskutiert. Aber die Überführung ist viel zukompliziert. Wenn wir hier voranschreiten wollen, müs-sen wir schauen, dass wir die Überführung in steuerbe-freite Formen erheblich vereinfachen und die Genossen-schaften keinen großen Risiken aussetzen.
Wir haben Glück gehabt. Wir hatten die Hilfe der Po-litik. Andere haben diese Hilfe nicht gehabt. Hier wur-de schon häufiger über die Kopenhagener Straße 46 inPrenzlauer Berg diskutiert. Ich war am letzten Samstagwieder dort. Dazu ist zu sagen: Der Schutz von Be-standswohnungen ist, wenn man preiswerte Mietwoh-nungen haben will, ganz entscheidend. Die Mietstrukturin Berlin ist dadurch gekennzeichnet, dass die Miete beiBestandswohnungen im Schnitt bei 5,80 Euro pro Qua-dratmeter liegt. Neubau kann man nicht unter 10 Europro Quadratmeter realisieren. Das heißt, wenn man be-zahlbaren Wohnraum kostengünstig erhalten will, mussman sich um den Bestand kümmern. Wie gesagt, über dieKopenhagener Straße wurde hier schon oft diskutiert. Ichmöchte allerdings auf einen Aspekt hinweisen, über dennoch nicht diskutiert wurde. Damals wurde eine energeti-sche Sanierung vom neuen Eigentümer angekündigt, derdie Mieten um 10 bis 16 Euro pro Quadratmeter erhöhenwollte. Heute stellt sich heraus, dass diese angekündigteenergetische Sanierung gar nicht realisiert wurde. DasHaus wurde in Eigentumswohnungen umgewandelt, undes wurde nicht das gemacht, was angekündigt wurde.Alle Mieter bis auf zwei Parteien wurden verdrängt. Dassind Modelle der Täuschung. Das ist grauer Baumarkt.So etwas müssen wir stoppen.
Berlin wurde in der Vergangenheit heftig kritisiert,auch hier im Haus. Seit 2011 haben wir die Privatisie-rung gestoppt mit der Berliner Immobilien Holding, diedie Linke damals noch privatisieren wollte; daran möchteich erinnern. Es war die SPD, die das gestoppt hat. Seit-Caren Lay
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dem sind wir vorangekommen. Wir haben im letzten Jahrdas Umwandlungsverbot eingeführt, und wir haben eineEinigung mit den Initiatoren des Mietenvolksentscheidsin Berlin erzielt.Wir haben ungefähr 300 000 Wohnungen in städti-scher Hand. Zukünftig werden 55 Prozent dieser Woh-nungen an Menschen mit Wohnberechtigungsscheinvermietet, 20 Prozent sind für besondere Sozialfälle vor-gesehen. Das heißt, wir haben mit einem Schlag 165 000neue Sozialwohnungen geschaffen. Das ist vorbildlich,auch für andere Städte in Deutschland.
Wenn wir jetzt hier diskutieren, wie wir weiter voran-kommen, dann muss eines klar sein: Die Sicherung undSchaffung von bezahlbarem Wohnraum ist eine Gemein-schaftsaufgabe von Bund, Ländern und Gemeinden. DieMenschen im Land interessiert es nicht, ob es die Bun-despolitiker, die Landespolitiker oder die Kommunalpo-litiker sind. Sie wollen Lösungen haben.
Insofern sollten wir das, was hier schon StaatssekretärPronold angedeutet hat, angehen, nämlich die Änderungdes Grundgesetzes. Wir sind den Menschen verpflichtet.Die Schaffung sozialen Wohnraums ist auch Aufgabe desBundes; denn es geht hier nicht nur um vier Wände, esgeht um die Würde und das Leben von vielen Menschenin unserem Land.Danke schön.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Lisa Paus, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das wardurchaus ein Hoffnungsschimmer. Ich freue mich dannauch auf die entsprechende Debatte und die Auseinan-dersetzung im Detail in den Ausschüssen. Die CDUmacht mir da allerdings noch erhebliche Sorgen.
Ich dachte, wir seien uns zumindest in der Analyse, dasswir ein Problem haben, einig. Das haben verschiedeneKollegen schon angesprochen. Trotzdem scheint das beiIhnen noch nicht wirklich angekommen zu sein. Ich ma-che einen letzten Versuch.Selbst die Bundesbank, die für die Union eine rela-tiv heilige Institution ist, hat inzwischen festgestellt,dass wir es in den Ballungsgebieten in Deutschland mitImmobilienblasen zu tun haben und man deswegen ge-gensteuern muss. Unser Antrag zur neuen Wohnungsge-meinnützigkeit ist auch dazu ein Beitrag.
Wir brauchen eine Trendwende am Wohnungsmarkt.Das ist der entscheidende Punkt. Ich möchte mit Ihnenzusammen darum ringen, wie wir das schaffen. Wir sa-gen: Ohne die Wiedereinführung der Wohnungsgemein-nützigkeit wird es in Deutschland nicht gehen;
denn wir haben explodierende Mieten, wir haben nochstärker steigende Kaufpreise. Aktuell ist in Berlin zumBeispiel eine Wohnung für 19 018 Euro pro Quadratme-ter über den Tisch gegangen. Das ist zurzeit der Spitzen-preis.
Auch das wird nicht das letzte Wort sein. Garantiert wer-den wir in den nächsten Monaten von neuen Preisen hö-ren. Das kann nicht sein.
Der Preis war natürlich nicht für eine Sozialwohnung,aber er zeigt klar, dass die Immobilien- und Mietpreis-situation in Deutschland in den Ballungsgebieten völligaus dem Ruder läuft und sich in die falsche Richtung ent-wickelt.Wir müssen Maßnahmen ergreifen, damit Familienmit Kindern, Studentinnen und Studenten, Rentnerinnenund Rentner nicht die Erfahrung machen müssen, dass eskaum eine Wohnung auf dem Markt gibt, die sie sich leis-ten können. Es muss auch klar sein, dass die Wohnungs-knappheit nichts mit den Geflüchteten zu tun hat. DieseEntwicklung auf den Wohnungsmärkten gibt es in denBallungsgebieten seit mehreren Jahren. Sie war schonvorher da und ist zu einem großen Teil hausgemacht.Auch ich möchte noch einmal in Erinnerung rufen:Der Kardinalfehler der Wohnungspolitik in Deutschlandwar die Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit1990 im Zuge des Skandals um die Neue Heimat. DieseChance nutzte die schwarz-gelbe Bundesregierung, umdie steuerliche Förderung des sozialen Wohnungsbaus,die ihr ein Dorn im Auge war, schlichtweg zu beseitigen,anstatt das an sich richtige Instrument zu reformieren.Wir sehen inzwischen die Konsequenzen. Seitdemsind über 2 Millionen dieser günstigen Sozialwohnun-gen verloren gegangen, und zwar durch Privatisierungund das Auslaufen der Sozialbindung. Etliche von die-sen Wohnungen finden wir inzwischen in börsennotier-ten Wohnungsunternehmen, die Renditeinteressen habenund die Spekulation weiter anheizen. Jedes Jahr fallenweitere 60 000 Wohnungen aus der Sozialbindung he-raus. Das heißt, wir brauchten, um aus der Krise heraus-zukommen, jedes Jahr mindestens 100 000 neue Woh-nungen mit dauerhafter Bindung.Wir sind davon überzeugt, dass wir den riesigen Booman sozialem Wohnungsbau, den wir jetzt brauchen, mitden bisherigen Mitteln allein nicht hinbekommen, ins-Klaus Mindrup
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besondere nicht durch eine Sonderabschreibung für denWohnungsbau, die die Große Koalition vor wenigen Wo-chen hier vorgestellt hat und die wir in diesem Monatnoch diskutieren werden. Sie wissen selber: Das ist imWesentlichen ein Geschenk für die Immobilienwirtschaftund für die Einkommensmillionäre. Insbesondere wirdsie für Sozialwohnungen nichts, aber auch wirklich garnichts leisten.
Das Problem wird auch nicht allein durch die klas-sischen sozialen Wohnungsbauunternehmen gelöst. Diekönnen ihre Baukapazitäten aus dem Stand gar nicht inder notwendigen Größenordnung vervielfachen und wür-den auch nicht die Vielfalt generieren, die wir brauchen.Wir brauchen tatsächlich ein neues Instrument, mit demwir ganz neue Akteure für den sozialen Wohnungsbaugewinnen können, und deswegen brauchen wir die Woh-nungsgemeinnützigkeit.
Die Idee der Wohnungsgemeinnützigkeit ist, dassder Bauträger sich verpflichtet, die Wohnung dauerhaftsozial gebunden zu vermieten. Dafür erhält er wirklichspürbare steuerliche Erleichterungen oder eine Investiti-onszulage als Steuergutschrift von – so unser Vorschlag –bis zu 20 Prozent. Damit wird das Bauen von sozialemWohnraum auch für Wohnungsgenossenschaften, Ver-eine, Baugruppen, Wohnprojekte und private Vermieterinteressant. Also: klare soziale Bindung, aber es musssich auch rechnen. Wir machen einen entsprechendenVorschlag.Die Wohnungsgemeinnützigkeit soll nach grünen Vor-stellungen nicht nur für Neubauten, sondern auch für dieUmnutzung von schon vorhandenem Wohnraum genutztwerden können, beispielsweise für umgebaute und danndauerhaft sozial vermietete Wohnräume. Sie ließe sichauch auf einzelne Wohnungen in Gebäudekomplexen an-wenden. So ist sie sehr geeignet, um gerade die sozialeMischung in Wohngebieten zu fördern.
Deshalb bringen wir heute unseren Antrag ein; er be-ruht auf einem ausführlichen Gutachten zu dem Thema.Es ist ein Antrag, der die Schlüsse aus den Fehlern derVergangenheit zieht, der die mittlerweile geltenden eu-ropäischen Regeln beachtet, der die Erfahrungen unseresNachbarlandes Holland mit einbezieht, wo mehr als einDrittel der Wohnungen in Wohnungsgemeinnützigkeiterrichtet worden sind – ein Konzept, das Transparenz indie Konstruktion bringt, sodass sich die Fehler der NeuenHeimat nicht wiederholen können.
Frau Kollegin Paus, Sie erinnern sich an die verein-
barte Redezeit.
Ja, ich komme zum Schluss, Herr Präsident.
Unser Vorschlag liegt vor. Ich hoffe, dass wir tatsäch-
lich zu einer vernünftigen Debatte miteinander kommen.
Es ist an Ihnen, sich damit ernsthaft auseinanderzusetzen.
Die Familien, die Rentnerinnen und Rentner, die Studie-
renden werden es Ihnen danken, meine Damen und Her-
ren.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Anja Weisgerber
für die CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen undKollegen! Die Schaffung von bezahlbarem Wohnraumist eine der größten Herausforderungen für uns Baupo-litiker. Der Bedarf ist aktuell und in den nächsten Jahrensehr hoch. Das Bauministerium prognostiziert, dass wirpro Jahr mindestens 350 000 neue Wohnungen brauchen.Selbstverständlich benennen auch wir das ganz klar. Wirbrauchen dafür aber genau die richtigen Rahmenbedin-gungen, die richtigen politischen Weichenstellungen. Soviel vorab: Die Vorschläge, die Sie in Ihren Anträgen ge-macht haben, sind sicherlich nicht die richtigen Instru-mente, meine Damen und Herren.
Was brauchen wir? Wir müssen Investitionen anrei-zen; denn der beste Mieterschutz – das ist und bleibtrichtig; das kann ich nicht oft genug sagen – ist: Bauen,Bauen, Bauen.
Jede Wohnung, jede Mietwohnung, jede Eigentumswoh-nung oder jedes Eigenheim entlastet den Wohnungs-markt, der im Übrigen durch Angebot und Nachfragebestimmt wird. Aber das Prinzip der sozialen Marktwirt-schaft ist bei der Fraktion Die Linke vielleicht noch nichtkomplett angekommen. Teile Ihres Antrags lesen sichnämlich eher wie eine Rückkehr zu sehr bürokratischenInstrumenten mit teilweise – ich formuliere das einmalvorsichtig – planwirtschaftlichen Ansätzen. Genau daswollen wir nicht, meine Damen und Herren!
Der Antrag erweckt außerdem den Eindruck, dass wirin Deutschland keine funktionierenden Wohnungsmärk-te haben. Aber wie wir alle doch wissen, ist die Situati-on in Deutschland sehr unterschiedlich. Wir haben dieMetropolen; ich nenne jetzt einmal Beispiele: Berlin,München, Hamburg. In Ballungsgebieten, in Hochschul-städten haben wir deutliche, sehr starke Engpässe an denWohnungsmärkten. Aber im ländlichen Raum, wo ichzum Beispiel herkomme, haben wir in vielen Regioneneine sehr gute und hochwertige Wohnraumversorgung.Lisa Paus
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Wir haben in manchen Gegenden, zum Beispiel in Nord-bayern und in Sachsen, sogar eher die Situation, dass wirgegen Abwanderung und gegen Wohnungsleerstände an-kämpfen müssen. Das heißt also: Die Wohnungsmärktesind regional sehr unterschiedlich, und genau das musssich in unserer Politik niederschlagen.
Eines ist auch klar: Eine einseitige Konzentration derFörderung auf Mietwohnungen greift sicher zu kurz. Wirbrauchen auch die Eigentumsförderung. Es gibt ebennicht nur die eine Maßnahme, das eine Instrument. Viel-mehr brauchen wir ein Bündel von Maßnahmen. Wirbrauchen klare Signale für mehr und bezahlbaren Wohn-raum. Da ist und bleibt – das möchte ich noch einmalwiederholen – unser wohnungspolitischer Dreiklang si-cherlich die richtige Antwort und das geeignete Leitbild.Erstens: richtige Investitionsanreize setzen. Der Staatallein kann den notwendigen Bedarf an Wohnraum nichtdecken; das muss jedem hier im Raum klar sein. DerGesetzentwurf zur steuerlichen Förderung des Mietwoh-nungsbaus setzt hier genau die richtigen Anreize. In denersten drei Jahren können insgesamt bis zu 35 Prozentder Kosten abgeschrieben werden. Das ist ein wichtigesSignal an die Investoren, den notwendigen Wohnraum zuschaffen.
Wir müssen aber noch an weiteren Stellschraubendrehen. Die Baukostensenkungskommission im Rahmendes Bündnisses für bezahlbares Wohnen und Bauen hatganz klar zum Ausdruck gebracht: Wir müssen die Bau-kosten senken, damit wieder investiert wird. Diese Inves-titionen benötigen wir ganz dringend. In der Diskussionum Gesetzesänderungen, zum Beispiel auch in punctoEnergieeffizienz, ist es eben wichtig, dass wir Kostenund Nutzen gegenüberstellen. Es wurde bereits gesagt:Es gibt Expertenberechnungen zur EnEV, die seit 2016 inKraft ist, die sagen: Die Baukosten steigen um 7 Prozent.Auf der anderen Seite haben wir eine Einsparung von nur0,02 Prozent. Das stellt die Wirtschaftlichkeit infrage, diewir immer eingefordert haben und nach wie vor ganz klareinfordern.
Bei der Überarbeitung der EnEV ist es nicht nur wich-tig – das sage ich auch als Klimapolitikerin –, die Klima-ziele einzuhalten, sondern damit auch die Erreichung derKlimaziele zu unterstützen. Genau deswegen brauchenwir in diesem Zusammenhang eben auch einen effekti-ven Klimaschutz, effektive Instrumente und effektiveMaßnahmen. Wir müssen bei dieser Überarbeitung na-türlich auch die Notwendigkeit von bezahlbarem Wohn-raum im Blick behalten. Genau das muss der Maßstabsein, und darauf werden wir alle achten.
Zum zweiten Punkt des wohnungspolitischenDreiklangs: den sozialen Wohnungsbau wiederbeleben.Auch da haben wir einiges in die Tat umgesetzt. 2016bis 2019 gibt es 2 Milliarden Euro mehr für die Wohn-raumförderung. Damit wurden die Kompensationsmittelverdoppelt. Die Eckpunkte des Haushaltes 2017 sehennochmals 500 Millionen Euro mehr für den Wohnungs-bau vor.
Jetzt habe ich eine klare Hoffnung, die ich einfach einmalso zum Ausdruck bringen möchte, ohne das jetzt gleichwieder in einen Angriff umzumünzen. Ich habe die Hoff-nung, dass die Mittel von den Bundesländern zweckge-bunden für den sozialen Wohnungsbau eingesetzt wer-den. Ich kann an dieser Stelle positiv sagen: Bayern hatmit dem Wohnungspakt Bayern die Mittel, die vom Bundkommen, noch einmal deutlich – sehr deutlich – aufge-stockt. Daran können sich andere Länder
– es wurde gerade gesagt: es gibt auch noch andere Län-der – durchaus ein Beispiel nehmen, um das ganz positivzu formulieren.
Zum dritten und letzten Punkt des wohnungspoliti-schen Dreiklangs: die ausgewogene mietrechtliche undsozialpolitische Flankierung der Wohnungspolitik. Auchdaran arbeiten wir. Die Wohngeldreform und die Miet-preisbremse wurden umgesetzt. Ich möchte an dieserStelle ganz klar sagen: Wir haben mit der Mietpreisbrem-se einen Schwerpunkt verfolgt. Die Mietpreisbremse soll-te so ausgestaltet werden, dass die Deckelung der Mietegewährleistet ist; aber das allein reicht eben nicht, um dieMieter zu entlasten. Wir müssen auch weiterhin in denBau neuer Wohnungen investieren, um zu verhindern,dass die Mietpreisbremse zu einer Investitionsbrem-se wird. Deswegen haben wir wichtige Änderungen imRahmen der Gesetzgebung zur Mietpreisbremse durch-gesetzt, nämlich dass die Neubauten ausgenommen wer-den und dass in Gebieten, in denen die Mietpreisbremsegilt, auch konkrete Maßnahmenpläne erstellt werden, umden Engpässen entgegenzuwirken. Das waren konstruk-tive Verbesserungsvorschläge, so möchte ich es an dieserStelle einmal formulieren.
Dann möchte ich sagen: Zum zweiten Mietrechtspa-ket liegen uns ja jetzt neue Vorschläge von Justizmi-nister Maas vor. Da hätten wir schon erwartet, dass dieauch dem Koalitionsvertrag entsprechen. Das ist nichtder Fall. Der Vorschlag – wie auch schon die Eckpunk-te – schießt über das Ziel hinaus. Die Absenkung derModernisierungsmieterhöhung auf 8 Prozent ist nur einBeispiel. Das verhindert notwendige Investitionen in denWohnungsbau und die energetische Sanierung.
Meine Damen und Herren, ich möchte an dieser Stellesagen: Es kann doch nicht sein, dass auf der einen Sei-te – das ist gut so – der Finanzminister den Wohnungs-bau steuerlich fördert, die Bau- und Klimaministerin dieMittel für den sozialen Wohnungsbau aufstockt und dieDr. Anja Weisgerber
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Energieeffizienzmaßnahmen voranbringt und dass aufder anderen Seite ein Justizminister jetzt ein zweitesMietrechtspaket vorschlägt, das Investitionen und ener-getische Sanierung ausbremst. Das tragen wir so nichtmit, meine Damen und Herren.
Hier fordern wir eine klare Umsetzung des Koalitions-vertrages.Zum Abschluss möchte ich noch zum Ausdruck brin-gen, dass meist nur der Mietwohnungsbau im Fokus steht.Wir müssen aber auch daran arbeiten, dass mehr Men-schen zu Wohnungseigentum kommen. Das ist wichtigfür die Altersvorsorge. Es ist natürlich auch so, dass jedeselbstgenutzte Wohnung eine Mietwohnung frei macht.
Deswegen brauchen wir neben den Maßnahmen zur För-derung des Mietwohnungsbaus auch die Eigentumsför-derung. Deswegen werden wir nicht lockerlassen, wasdie Anpassung der Wohnungsbauprämie an die Einkom-mensentwicklung angeht.Vielen herzlichen Dank.
Die Kollegin Claudia Tausend spricht jetzt für die
SPD.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Nirgend-wo in Deutschland wächst die Bevölkerung schnellerals in meiner Heimatstadt München. Allein in den letz-ten vier Jahren ist die Einwohnerzahl Münchens um100 000 Menschen gestiegen. Wir rechnen bis 2030 mitweiteren 230 000 Menschen allein in der Kernstadt undmit weiteren 200 000 Menschen im Umland.Die Probleme, die viele Kommunen in Deutschlandbei der Schaffung von neuem bezahlbarem Wohnraumhaben, betreffen München also in ganz besonderer Wei-se. Wir haben zwei wichtige Aufgaben. Die eine ist dieSicherung von bezahlbaren Mieten, die andere ist dieSchaffung von bezahlbarem Wohnraum. Für Münchenist die Mietpreisbremse elementar. Kolleginnen undKollegen, 20 Jahre lang hat unser AltoberbürgermeisterChristian Ude für die Einführung dieses Instruments ge-kämpft. Wir freuen uns, dass uns die Durchsetzung jetztgelungen ist.
Freilich werden die Mieten dadurch nicht sinken,aber wir können wenigstens die Dynamik des Mietan-stiegs bremsen. In diesem Zusammenhang unterstützenwir, sehr verehrte Kollegin Weisgerber, ausdrücklichdie Reform des Mietspiegels; ebenfalls eine langjährigeForderung aller Mieterverbände und aller Großstadtober-bürgermeister, die mit dem Thema der bezahlbaren Mie-ten zu tun haben. Der Ausweitung des Berechnungszeit-raums für die ortsübliche Vergleichsmiete von vier aufacht Jahre wird weiter preisdämpfend wirken. Auch hier-von werden die Mieten natürlich nicht sinken, aber wirkönnten damit die Dynamik des Mietanstiegs bremsen.In München ist es vor allem wichtig, für den Erhalt dersozialen Mischung gerade auch in den Innenstadtquartie-ren zu sorgen, wo wir heute in den besseren Lagen – dasist heute schon vom Kollegen Pronold gesagt worden –15 Euro zahlen. 15 Euro! Das ist eine Größenordnung, diesich Durchschnittsverdiener, auch nicht einmal Gutver-diener, wirklich nicht mehr leisten können. Ich befürch-te übrigens nicht, dass die Reform des Mietspiegels dieAktivitäten im Wohnungsneubau erlahmen lassen wird.Wir werden gleichzeitig die degressive Sonder-AfA, wievon Ihnen ausgeführt, wieder einführen und damit denNeubau von Mietwohnungen weiter anregen. Es wäreallerdings noch besser, wenn wir dieses Instrument derSteuererleichterung an einen Mietpreisdeckel koppelnwürden;
denn die Verteilungswirkung ist ohne einen Mietpreisde-ckel nicht zu steuern und die Gefahr von Mitnahmeeffek-ten wirklich hoch.Ich begrüße ausdrücklich – auch darauf ist hingewie-sen worden – die Verdopplung der Kompensationsmittelim sozialen Wohnungsbau. Wir unterstützen ausdrück-lich eine weitere Verdopplung.
Das wäre für München ein wichtiger Impuls. Ich möchteeinfach die Zahlen in ein Verhältnis setzen. Wir gebenderzeit bundesweit 1 Milliarde Euro, München gibt –und das seit vielen Jahren – im letzten Handlungszeit-raum 2012 bis 2016 800 Millionen städtische Euro fürden geförderten Wohnungsbau aus. Das noch einmal zurVerhältnismäßigkeit der kommunalen Leistung und zurUnterstützung von Bundesseite.
Wir haben ein weiteres Sofortprogramm aufgelegt,das dazu dienen soll, bereits in diesem Jahr 1 000 neueWohnungen zu bauen, vorzugsweise von unseren eigenenstädtischen Wohnungsbaugesellschaften. Diese Wohnun-gen sollen unteren Einkommensgruppen, aber natürlichauch den Flüchtlingen zugutekommen. Wir versuchendas in serieller bzw. modularer Bauweise. Auch das ist,glaube ich, eine wichtige Anregung, die wir vonseitendes Bundes hier mitbringen.
Ich muss langsam zum Schluss kommen und will nurnoch auf ein Thema hinweisen, das vor allem für Groß-städte sehr wichtig ist. Es geht um den Versuch, eine neueGebietskategorie – das „urbane Gebiet“ – in der Baunut-zungsverordnung zu etablieren. Das „urbane Gebiet“würde die Kommunen, was die Baulandausweisung an-belangt, drastisch unterstützen.Dr. Anja Weisgerber
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Ein letzter Gedanke: Wir – Bund, Länder und Ge-meinden – müssen viel tun. Es gibt aber auch noch diePrivatwirtschaft. Damit komme ich zum Werkswoh-nungsbau. Es gab in den letzten Jahren die traurige Ent-wicklung, dass sich fast alle Großunternehmen von ihrenWohnungsbeständen getrennt haben. Nicht alle dieserWohnungsbestände wurden an sozial orientierte großeUnternehmen verkauft. Insofern ist auch hier sehr vielbezahlbarer Wohnraum verloren gegangen. Ich meine,dass man hier auch die Unternehmen wieder in die Pflichtnehmen muss. Allein werden wir es wahrscheinlich nichtschaffen, auch für die Fachkräfte bzw. Auszubildendenausreichend Wohnungen zur Verfügung zu stellen. Wirmüssen also alle zusammenhalten und kräftig anpacken.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Christian
Haase.
Verehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Plattenbaupro-
gramm der DDR – daran hat mich der vorliegende An-
trag der Linken erinnert.
Damals, 1973, wurde von oben herab ein Wohnungsbau-
programm mit dem einzigen Ziel verordnet, 3 Millionen
neue Wohnungen zu bauen – unabhängig vom Bedarf,
von der Effizienz und den Wünschen der Bürgerinnen
und Bürger, die nachher in diesen Wohnungen wohnen
mussten. In der Bundesrepublik machen wir heute zum
Glück eine andere Politik. Es gibt keine Bevormundung,
sondern Vielfalt – Vielfalt, was Miete und Wohneigen-
tum anbelangt, und Vielfalt auf der Investorenseite. Dort,
wo sie gewachsen und sinnvoll ist, haben wir schon heute
eine gemeinnützige Wohnungswirtschaft, die meist gut
funktioniert. Als ehemaliges Aufsichtsratsmitglied eines
solchen Unternehmens weiß ich, worüber ich spreche.
Die Linken fordern dagegen einen gigantischen staat-
lichen Wohnungsbausektor – egal wo und egal wie teu-
er. Sie trauen sich erst gar nicht, eine Summe für die
angedachte Gemeinschaftsaufgabe zu nennen. Es wird
aber wohl ein zweistelliger Milliardenbetrag sein. Dazu
kommt, dass als Ersatz für die bisherigen Kompensati-
onsmittel 5 Milliarden Euro an die Länder fließen. Das
wäre fünfmal mehr als bisher. Weiterhin gehen 2 Milliar-
den Euro als Ersatz für die Städtebaumittel an die Länder.
Mit weiteren 5 Milliarden Euro soll der Energie- und Kli-
mafonds reich beschenkt werden. Das sind dann zusam-
men noch einmal 12 Milliarden Euro – und das pro Jahr.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken,
Ihre Luftschlösser nehmen damit gigantische Ausmaße
an. Die Finanzierung bleibt komplett im Nebel. Frau
Bluhm, das ist keine Win-win-Situation, sondern eine
Wind-Wind-Situation. Eine verantwortungsvolle Politik
sieht sicherlich ganz anders aus.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, auch inhalt-
lich gibt es drei entscheidende Argumente gegen eine
rein staatliche oder gemeinnützige Wohnungswirtschaft:
Erstens. Die Politik hätte durch die gewaltigen staat-
lichen Subventionen und Fördergelder einen enormen
Einfluss auf diese gemeinnützigen Unternehmen. Ein gu-
ter Politiker ist aber noch lange kein guter Manager von
Wohnungsbauunternehmen.
Wohin das führt, haben wir oft genug erlebt. Der riesige
Wohnungsbaukonzern Neue Heimat, der ja auch in Ih-
rer Antragsbegründung Erwähnung findet, sollte uns da
ein mahnendes Beispiel sein. Dieses Gewerkschaftsun-
ternehmen betrieb unter dem Deckmantel der Gemein-
nützigkeit jahrzehntelange Misswirtschaft. Die Linken
fordern nun die Auferstehung dieses Geschäftsmodells.
Zweitens. Es käme zu einer staatlich geförderten
Gettoisierung durch Großsiedlungen dort, wo Durch-
mischung gefragt wäre. Das können wir doch nicht
ernsthaft wollen. Die Negativbeispiele Duisburg-Marx-
loh oder Berlin-Neukölln geistern seit langem durch die
Presse.
Kollege Haase, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Bluhm?
Nein, ich bin gerade im Schwung. – Man könntehier noch viele andere Stadtteile aus ganz Deutschlandnennen. In diesen Vierteln haben wir gewaltige Proble-me: religiöse Radikalisierung, Bandenkriminalität undrechtsfreie Räume. Das sind die Sorgen der Menschen inunserem Land. Liebe Freunde, wir müssen etwas gegendiese Gettos tun und dürfen sie nicht auch noch staatlichfördern.
Drittens. Es wäre ein weiteres Ergebnis dieses An-trages, dass die Kommunen faktisch gezwungen wären,solche Unternehmen zu gründen. Ansonsten würdensie keine Unterstützung mehr erhalten, wenn sie dieWohnungsnot vor Ort bekämpfen wollen. Diese Bevor-mundung ist keine Unionspolitik. Wir wollen, dass dieKommunen selber entscheiden können, wie sie demWohnungsmangel begegnen. Denn darüber sind wir unsja offensichtlich einig: Natürlich herrscht in vielen Groß-städten ein Mangel an Wohnraum. Natürlich müssen wirPolitiker hier Lösungen finden. Aber genau das tun wirauch. Die Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoa-lition haben die Punkte benannt. Ich will auch daran erin-nern, dass wir in den 90er-Jahren jedes Jahr 600 000 neueWohnungen gebaut haben – ohne ein solches Programmwie in Ihrem Antrag.Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt müssen wirdiese Politik in der Praxis wirken lassen. Denn ein kurz-fristig und unangemessen aufgeheizter Wohnungsbau-markt treibt zunächst einmal die Baupreise nach oben.Damit würde wieder viel Geld verbrannt. Was wir brau-Claudia Tausend
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chen, sind Kontinuität und Verlässlichkeit, damit dieWohnungswirtschaft Kapazitäten aufbaut. Denn geradein der Baupolitik sind langfristiges Denken und Finger-spitzengefühl gefragt. Konsequenzen der Baupolitik se-hen wir oft erst nach vielen Jahren. Dann können manchedemografische Trends schon wieder vorbei sein.Drei kurze Beispiele. Die Erstsemesterzahlen gehennach neuesten Studien viel stärker zurück, als es die Kul-tusministerkonferenz erwartet. Wie lange hält also derBedarf an mehr Studentenwohnungen an? Oder wie vie-le Wohnungen für Flüchtlinge brauchen wir tatsächlich?Wird die Urbanisierung anhalten? Diese Fragen zeigen,dass wir in jedem Fall durchdachte und flexible Konzeptebrauchen. Alles andere ist nicht nachhaltig. Jetzt einenmilliardenschweren öffentlichen Wohnungssektor zu for-dern, ist unter diesen Gesichtspunkten völlig unverant-wortlich.Gerade als Vertreter kommunalpolitischer Interessenkann ich wirklich nur davor warnen, den Kommunendiese gewaltige Aufgabe aufzubürden, deren Umset-zung per Definition – so schreiben Sie es ausdrücklichin Ihrem Antrag – unrentabel wäre. Bei den Kommunenwürde sie aber dennoch Personal und Geld binden. Dabeisind schon jetzt viele kommunale Haushalte auf Kantegenäht. Für andere wichtige Investitionen stünde dannautomatisch weniger Geld zur Verfügung. Wir sprechenin Deutschland von einem kommunalen Investitionsstauvon 130 Milliarden Euro. Während wir mit dem Kommu-nalinvestitionsförderungsgesetz dagegenhalten, wollenSie neue Investitionspflichten festzurren.Sollten wir nicht den Kommunen vor Ort die Ent-scheidung überlassen, wo sie ihre Ressourcen einsetzen?Der vorliegende Antrag zwingt die Kommunen, alles aufeine Karte zu setzen. Wir wollen den Kommunen dieWahl lassen.
Denn kommunale Wohnungsunternehmen sind bereitsein wichtiger Teil der deutschen Wohnungswirtschaft.Sie bieten bezahlbare Mieten und tragen so zu einerausgewogenen Stadtentwicklung bei. Laut Städte- undGemeindebund sind es über 700 Unternehmen, die circa2,5 Millionen Wohnungen in Deutschland besitzen. Die-se Möglichkeit wird also schon intensiv genutzt, überalldort, wo es sinnvoll ist.Auch genossenschaftliche Modelle leisten einenwichtigen Beitrag, wenn es um bezahlbaren Wohnraumgeht. Es lassen sich viele positive Beispiele nennen, etwader Schalker Bauverein aus Gelsenkirchen. Hier müssenwir schauen, wie wir die Wohnungsbaugenossenschaftenbesser unterstützen können. Herr Mindrup hat eben anseinem Beispiel deutlich gemacht, dass das unter den ge-gebenen Rahmenbedingungen gut funktioniert.
Diesen gut funktionierenden Unternehmen wollendie Linken nun mit ihrem Antrag auch noch die Arbeiterschweren. Die Liste der zusätzlichen Pflichten undRegeln für gemeinnützige Unternehmen ist lang, derKontrollmechanismus ist aufgebläht. Ein wenig mehrVertrauen auch in die kommunale Familie wäre da bes-ser. Aber wenn man planlos Milliarden in ein Systempumpt, ist eine entsprechende Überprüfung natürlich nö-tig. Die beschriebene „Vier-Ebenen-Kontrolle“ wird esallerdings zum Nulltarif nicht geben. Also wieder einmalmehr Bürokratie! Noch viel schlimmer wäre allerdingsdie Gängelung der betroffenen Unternehmen. So behe-ben wir die Wohnungsnot in Deutschland nicht.
Ein letzter Aspekt ist: Viele Kommunen haben garkeine Wohnungsnot. Ganz im Gegenteil: Viele Kommu-nen in ländlichen Räumen leiden unter einem Bevölke-rungsrückgang. Dieses Ungleichgewicht müssen wir vielstärker in den Blick nehmen. Wenn wir die Attraktivitätkleinerer Städte erhöhen, unterstützen wir nicht nur dieMenschen, die dort leben, sondern verringern auch denZuzug in die Ballungsräume.
In diesem Zusammenhang ist auch die Wohnsitzauf-lage für Flüchtlinge zu nennen. Ich leite derzeit eine Ar-beitsgruppe der Kommunalpolitischen Vereinigung zumThema Integration. Alle Bürgermeister bestätigen mir,wie wichtig die Wohnsitzauflage für eine Planungssicher-heit bei der Integration ist. Viele Flüchtlinge zieht es indie Großstädte, wo schon Landsleute oder Verwandte le-ben. Das erschwert die Durchführung einer planmäßigenIntegration massiv und verstärkt die Wohnungsknapp-heit. Mit einer Wohnsitzauflage beugen wir deshalb aufeinen Streich zwei Problemen vor.Natürlich müssen wir Flüchtlingen, die auf dem Landbleiben, eine Perspektive bieten – eine ideale Gelegen-heit, die Strukturförderung im ländlichen Raum voran-zutreiben.Die heutige Debatte hat zweierlei klargemacht: Ers-tens, in der Baupolitik ist Fingerspitzengefühl gefragt.Zweitens, die deutsche Wohnungswirtschaft ist vielfäl-tig. Das sollten wir beibehalten und mit Augenmaß wei-ter fördern. Wahlfreiheit statt Bevormundung – das istund bleibt unsere Politik.
Der Kollege Detlev Pilger spricht jetzt für die SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu-nächst möchte ich feststellen, dass die Kolleginnen undKollegen der Linken den Finger in eine bestehende Wun-de legen: Es fehlt an bezahlbarem Wohnraum. Nur: Obdie Instrumente, die sie benutzen wollen, passen, darübermüssen wir uns unterhalten.
In der Tat besteht eine zugespitzte Wohnungsnot, vorallen Dingen in Großstädten und Ballungsräumen. ManChristian Haase
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kann nahezu von einem Teufelskreis sprechen: Der vor-handene Wohnraum wird immer begehrter und damit inden Ballungszentren immer teurer. Das ist so. Das istsehr bedauerlich; denn solides Wohnen ist kein Luxus,sondern ein elementares Gut, auf das jeder ein Recht ha-ben sollte.
Bundesweit gibt es gegenwärtig – es wurde betont –circa 1,5 Millionen Sozialwohnungen. Das reicht aberbei weitem nicht aus. Experten schätzen den tatsächli-chen Bedarf auf circa 4 Millionen Sozialwohnungen.Aufgrund des hohen Bedarfs stellt sich die Frage: Wersind denn die Menschen, die diese Wohnungen so drin-gend brauchen?Zunächst einmal gibt es die Gruppe der Armen. In un-serem reichen Land sind 15 bis 20 Prozent der Menschenarm oder von Armut bedroht. Sie finden auf keinem an-deren Wohnungsmarkt als auf dem sozialen Wohnungs-markt eine Wohnung. Aber – Staatssekretär Pronold hates betont – mittlerweile sind auch ganze Berufsgruppenbetroffen, normale Berufsgruppen wie Polizeibeamte,Krankenschwestern und Krankenpfleger.Sprechen Sie doch einmal mit den Mitarbeiterin-nen und Mitarbeitern des Fahrdienstes, die uns so nettchauffieren. Fragen Sie die einmal, wo sie wohnen. Siewohnen nicht mehr im Zentrum von Berlin, sondern weitaußerhalb. Damit sind höhere Anfahrtskosten verbunden.Das geht effektiv zulasten der Lebensqualität, weil fürdie Anfahrt Zeit verloren geht, die für anderes genutztwerden könnte. Wir müssen in Bezug auf die Stadtzen-tren also dringend umdenken.Wir dürfen auch die Menschen nicht vergessen, dieüberhaupt keine Chance auf dem Wohnungsmarkt ha-ben – wir sprechen hier immer über Resozialisierung –,nämlich die Obdachlosen. Versuchen Sie einmal, für ei-nen Obdachlosen eine Wohnung zu finden. Das geht mitBeziehungen kaum und ohne Beziehungen gar nicht.Ich hatte einen jungen Mann als Schüler, der in dieAbwärtsspirale geraten ist. Das geht sehr viel schneller –wir alle kennen entsprechende Beispiele –, als wir unsdas vorstellen. Er hatte seine Haftstrafe verbüßt, er hatteein Suchtprogramm absolviert, und er wollte wieder indie Gesellschaft integriert werden. Er kam zu mir undbat mich händeringend: Besorg mir eine Wohnung! Ichhabe das mit allen Mitteln versucht, auch mithilfe derBehörden. Die haben mir gesagt: Herr Pilger, man kannnichts anderes tun, als in der Zeitung, in dem Fall in derRhein-Zeitung, Inserate herauszusuchen. Man kann sichvorstellen, welche Chancen der junge Mann auf demWohnungsmarkt hatte, nämlich keine. Am Rande darf er-wähnt werden, dass die Zahl der Wohnungslosen in denletzten zwei Jahren auf 350 000 Menschen angestiegenist. Das entspricht einer Erhöhung um 20 Prozent.Ich sage noch einmal: Sie beschreiben die Situationrichtig. Die Situation ist dramatisch. Aber wir müssenuns überlegen: Was ist der richtige Weg? Die Ländersind für den Wohnungsmarkt zuständig, das ist so. Mitvielem, was im Zuge der Föderalismusreform vereinbartwurde, bin ich nicht einverstanden, insbesondere was dasBildungswesen betrifft. Aber es ist nun einmal so: Wirsind zunächst nicht zuständig. Man hat das auch nichtunbedarft geregelt, sondern man war der Meinung: DieLänder wissen über die Bedarfe am besten Bescheid, unddarum sollen die Länder die zugewiesenen Mittel ent-sprechend verwenden. Über diese Regelung kann mandurchaus noch einmal nachdenken.Wir haben 1,3 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt.Das sollte die Opposition, insbesondere die Grünen,anerkennen. Ich weiß, das fällt immer schwer. Aber esmuss betont werden: Das ist eine enorme Leistung. Esist nicht so einfach, die Mittel zur Verfügung zu stellen.Bitte honorieren Sie das Bemühen insbesondere unsererUmwelt- und damit Bauministerin.
In den vergangenen Jahren wurden 250 000 Wohnun-gen fertiggestellt. Das sind immerhin zwei Drittel mehrals im Jahr 2010. Aber wir sind uns sicherlich einig: Die-se Zahl muss noch deutlich erhöht werden.Herr Staatssekretär Pronold hat gesagt, das EU-Bei-hilferecht wäre kein Problem. Liebe Kolleginnen undKollegen von den Linken, aber trotzdem muss überprüftwerden, ob eine Bezuschussung, ob die Unterstützungeiner Unternehmensgruppe mit dem EU-Beihilferechtkompatibel ist.
Sie sehen, es gibt einiges zu tun und einiges, worübernachgedacht werden kann und muss. Die Koalition tutdas, und wir, die Sozialdemokraten, die älteste Parteiin diesem Hause, haben uns schon immer um die Woh-nungsnot der Menschen gesorgt. Es ist ein ureigenesZiel, das die Sozialdemokratie hat, Menschen mit bezahl-barem und gutem Wohnraum zu versorgen.
Ich komme zum Schluss: Wir haben mit den Woh-nungsbaugenossenschaften und den kommunalen Wohn-bauanbietern eine gute Struktur. Diese muss ausgebautund gestärkt werden. Ich bin selbst seit 20 Jahren Mit-glied einer großen Wohnungsbaugenossenschaft, davonwar ich 15 Jahre lang Aufsichtsratsvorsitzender. Ichweiß, welche soziale Leistung die kommunalen Anbieterund die Genossenschaften erbringen. Liebe Kolleginnenund Kollegen, ein herzlicher Appell an die Opposition:Lassen Sie uns die vorhandenen Strukturen stärken.Dann werden wir sehen, dass wir den Wohnungsmarktweiter beleben.Vielen Dank.
Abschließender Redner in dieser Aussprache ist derKollege Michael Groß für die SPD.
Detlev Pilger
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist sozusagen
ein Spannungsbogen entstanden. Frau Bluhm, Sie haben
mich zu Beginn angesprochen und gesagt, Herr Ullrich
von der CSU – ich glaube, er ist heute nicht da – und ich
hätten in der letzten Rede zum Thema Wohnungsmangel
in Deutschland – ich meine, das war zum Thema Ob-
dachlosigkeit – gesagt: Lassen Sie uns das mit der Ge-
meinnützigkeit machen. Ich hoffe, Sie haben an der Rede
des Staatssekretärs, die ich in Gänze unterstützen kann,
erkannt, dass wir Parlamentarier von der SPD gearbeitet
haben und gemeinsam mit dem BMUB deutlich machen,
dass wir einen Prüfauftrag sehen, um alle Instrumente in
Deutschland zu nutzen, um das bezahlbare Wohnen und
Mieten in Deutschland zu ermöglichen.
Ich möchte Herrn Pronold noch einmal dafür danken,
dass er in dieser Art und Weise darauf eingegangen ist.
Die Kollegin Haßelmann – sie musste leider weg; das
ist aber keine Kritik – hat zu Beginn eine sehr gute Rede
gehalten. Sie hat nämlich gesagt: Wir müssen gemeinsam
darum ringen, dass die Menschen im Bereich des Woh-
nens und des Wohnumfelds eine Daseinsvorsorge erle-
ben, die ein gutes und ein selbstständiges Leben ermög-
licht. Das ist eine Aufgabe, der wir uns in den nächsten
Wochen stellen müssen.
Es sind große Spannungsbögen und Unterschiede
deutlich geworden. Die einen werfen den anderen vor,
es solle zurück zu einer Planwirtschaft oder zu einer so-
zialistischen Wohnungsbaupolitik gehen. Die anderen ar-
gumentieren, wir hätten jahrelang nichts getan. Ich glau-
be, beide Seiten liegen in ihrer Beschreibung insgesamt
falsch.
Wir haben in der Koalition 2013 wohlweislich zum
Beispiel die Mietpreisbremse beschlossen. Unser da-
maliger Kanzlerkandidat Peer Steinbrück hat im Wahl-
kampf gesagt, dies sei ein Riesenthema für die Menschen
in Deutschland. Wir haben dies gemeinsam beschlossen,
und wir haben jetzt ein zweites Mietrechtspaket vor uns.
Die Mietpreisbremse und die Begrenzung der Moderni-
sierungsumlage bedeuten auch, dass die Renditen und
die Gewinne derjenigen, die spekulativ unterwegs sind,
gebremst werden sollen. Das ist ein wichtiger Schritt.
Deswegen unterstütze ich Heiko Maas im zweiten Re-
formpaket zur Mietrechtsreform. Er schlägt nämlich vor:
Eine 8-prozentige Modernisierungsumlage soll die Gren-
ze sein, damit wir niemanden aus seiner Wohnung ver-
treiben, der eine Modernisierung erleben muss.
Es wurde heute schon mehrfach angesprochen: Die
soziale Wohnraumförderung ist verdoppelt worden. Es
sollen noch einmal 500 Millionen Euro bereitgestellt
werden, um soziale Brennpunkte wie auch immer zu ent-
wickeln und um Wohnungen zu bauen. Ich glaube, das
ist ein Erfolgsmodell, obwohl ständig kritisiert wird, dass
die Länder diese Mittel in der Vergangenheit nicht da-
für eingesetzt haben, sozialen Wohnraum zu schaffen. In
NRW gibt es zum Beispiel eine Wohnungsbauoffensive,
durch die im letzten Jahr die Anzahl der Wohnungen in
der sozialen Wohnraumförderung um 37 Prozent zuge-
nommen hat. Im Bereich des studentischen Wohnens,
im Heimbereich, ist eine Zunahme der abgerufenen För-
dermittel von über 300 Prozent feststellbar. Ich glaube
also, es ist unbedingt notwendig, dass der Bund weiterhin
diese Mittel zur Verfügung stellt, auch um Planungssi-
cherheit für die Länder, für die Akteure und Wohnungs-
unternehmen und letztendlich auch für die Menschen
sicherzustellen.
In den letzten Monaten haben wir in vielen Bereichen,
die nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Gemeinnüt-
zigkeit eine wichtige Rolle spielen, viel getan, um das
Thema „bezahlbares Wohnen“ auf einen guten Weg zu
bringen. Es ist aber immer noch nicht genug geschehen.
Der Kollege Pilger – ich unterstütze deine Analyse völ-
lig – hat beschrieben, wo wir noch Lücken haben, was
wir noch tun müssen. Ich glaube, dass vieles schon getan
worden ist. Das ist ein bunter Strauß an Maßnahmen, die
in der Summe letztlich eine Antwort auf das Problem sein
können. Ich glaube aber auch, dass wir die Maßnahmen
mit Blick auf die Gemeinnützigkeit noch einmal überprü-
fen müssen, dass wir Prüfaufträge vergeben müssen und
dass wir dafür sorgen müssen, dass der Bund gemeinsam
mit den Ländern Verantwortung übernimmt. Letztendlich
brauchen wir eine Gemeinschaftsaufgabe des Bundes,
der Länder und der Kommunen. Für uns Sozialdemokra-
ten ist klar: Der Mensch steht im Mittelpunkt. – Jetzt ist
meine Zeit abgelaufen.
Glück auf! Danke schön.
Herr Kollege Groß, nicht Ihre Zeit ist abgelaufen, al-lenfalls die Redezeit.
Damit schließe ich die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 18/7415 und 18/8081 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –Ich sehe hier nur Einverständnis.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkungder beruflichen Weiterbildung und des Versiche-rungsschutzes in der Arbeitslosenversicherung
Drucksache 18/8042Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
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Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzung Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GONach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdiese Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Widerspruchdagegen erhebt sich keiner. Dann ist das so beschlossen.Deshalb eröffne ich die Aussprache und erteile zu Be-ginn dieser Debatte das Wort für die Bundesregierung derParlamentarischen Staatssekretärin Anette Kramme.
A
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Jemand Kluges hat einmal gesagt: Lernen istwie das Rudern gegen den Strom. Sobald man aufhört,treibt man zurück. – Dieser Satz, der natürlich immerschon richtig war, hat durch die rasante technologischeEntwicklung, die wir aktuell erleben, eine neue Rele-vanz erfahren. Tatsächlich ist die Digitalisierung – umim Bild des Ruderers zu bleiben – ein gewaltiger Strom.Wir brauchen eine hohe Schlagzahl, um mit den schnel-len Veränderungen in der Arbeits- und Lebenswelt mit-zuhalten; denn nicht nur unsere Art des Einkaufens undunseres Kommunizierens ändert sich, sondern auch, wiewir arbeiten.Weiterbildung und Qualifizierung werden deshalb fürjede und für jeden von uns immer wichtiger. Weiterbil-dung und Qualifizierung sind dabei logischerweise diebeste Versicherung gegen Arbeitslosigkeit. Das ist derGrundgedanke, der Kern unseres Gesetzentwurfs. Dabeihaben wir insbesondere zwei Gruppen im Blick: gering-qualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer undMenschen, die schon lange vergeblich Arbeit suchen.Für sie verbessern und erweitern wir die Fördermög-lichkeiten. Sie bekommen eine bessere Chance auf einenBerufsabschluss und damit auf eine gute und dauerhafteBeschäftigung.
Qualifizierung lohnt sich aber nicht nur für den Ein-zelnen. Qualifizierung ist auch eine Zukunftsinvestitionfür das Land. Unsere Wirtschaft wird mehr Fachkräftebrauchen, als künftig zur Verfügung stehen, und die Wirt-schaft braucht Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, diemit ihrer Qualifizierung auf der Höhe der Zeit sind. Da-bei können wir auf niemanden verzichten.Was machen wir nunmehr mit diesem Gesetzentwurf?Das Gesetz, dessen Entwurf wir heute beraten, wird dieWeichen so stellen, dass Lernen und Qualifizierung ganzselbstverständlich etwas Lebenslanges sind. Das gilt fürdie Menschen, die hier leben, das gilt aber genauso fürdie, die bei uns Schutz suchen und einen Neustart inDeutschland wagen wollen. Auch Flüchtlingen soll dieTür offen stehen, sich zu qualifizieren und damit auf demdeutschen Arbeitsmarkt langfristig Fuß zu fassen.
Was schlagen wir in diesem Entwurf konkret vor?Erstens. Wir sagen denen, die Schwierigkeiten beiGrundkompetenzen wie Lesen, Schreiben, Mathematikoder IT haben, dass das kein Hindernis mehr sein soll.Bei Bedarf können sie das vor oder begleitend zu einerWeiterbildung nachholen.
Deutschland hat hier auch international Aufholungsbe-darf.Zweitens. Wir wollen Bildungserfolge belohnen. MitErfolgsprämien wollen wir Anreize setzen, eine mehrjäh-rige Weiterqualifizierung auch bis zum Berufsabschlussdurchzuhalten und abzuschließen.
Heute bricht nahezu jeder Vierte vorzeitig seine berufs-abschlussbezogene Weiterbildung ab. Das führt nicht nurzu Frustrationen bei den Leuten selbst, sondern es kostetnatürlich auch eine Menge Geld. Darum bin ich mir si-cher: Erfolgsprämien lohnen sich für alle.
Drittens. Wir wollen Weiterbildung gerade in kleinenund mittleren Unternehmen erleichtern. Deshalb sollenin Betrieben mit weniger als 250 Beschäftigten auchWeiterbildungen gefördert werden, die außerhalb derArbeitszeit liegen. Das ist ein echtes Anliegen des Mit-telstands.Viertens. Für Menschen, die nur sehr schwer in Ar-beit zu vermitteln sind, verlängern wir die Möglichkeit,sich im Arbeitsalltag im Betrieb zu erproben. Konkretgeht es hier um Maßnahmen zur Aktivierung und be-ruflichen Eingliederung, die bei oder von einem Arbeit-geber durchgeführt werden. Ihre Dauer soll in Zukunftzwölf statt bislang sechs Wochen betragen können. Dasist besonders für langzeitarbeitslose Menschen eine guteChance, um in die berufliche Praxis wieder reinzukom-men. Aber es ist zugleich auch eine gute Möglichkeit fürFlüchtlinge, in unsere Arbeitswelt hineinzufinden. Damitverbindet sich nicht zuletzt die Chance, schneller undbesser Deutsch zu lernen und sich zu integrieren. AlsKollegin oder Kollege gehört man schließlich zum Team.Fünftens. Wir verbessern den Schutz für beruflicheAuszeiten bei Weiterbildung oder Kindererziehung nachdem dritten Lebensjahr. Wir schaffen die Möglichkeit zurfreiwilligen Weiterversicherung, um Lücken im Versi-cherungsschutz zu vermeiden. Damit tragen wir auch derEntwicklung Rechnung, dass die Lebensläufe schlicht-weg vielfältiger werden.Wir wollen Weiterbildung möglichst attraktiv gestal-ten – für Arbeitgeber und für Beschäftigte. Denn wir sit-zen im gleichen Boot. Wenn sich alle gemeinsam in dieRiemen legen, kommen wir insgesamt schneller voran.Das wollen wir mit diesem Gesetzesentwurf erreichen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Johannes Singhammer
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Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt die Kollegin
Sabine Zimmermann.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Nichts schützt so sehr vor Erwerbslosigkeitwie eine gute, solide Ausbildung. Zu diesem Ergebniskommen viele Studien. Heute werden es viele von Ih-nen sagen. Ich glaube, jeder hier in diesem Hause weißdas. Über diese Einsicht sollte es auch hier in diesemHause keine Meinungsunterschiede geben. Das Risiko,erwerbslos zu sein, hängt also eng mit der Qualifikationzusammen. Je niedriger sie ist, desto schlechter sind dieChancen auf dem Arbeitsmarkt.Nun dürfen wir verblüfft feststellen, dass dies auchin der Begründung des vorliegenden Gesetzesentwurfesausgeführt wird: Qualifikation sei der beste Schutz vorErwerbslosigkeit, und dies unterstreiche den Stellenwertvon Aus- und Weiterbildung.
– Ja, Kollege Zimmer. – Das ist sehr, sehr schön, unddas würden wir Linke auch sofort unterschreiben. Aberbei Ihnen – das muss ich Ihnen sagen – ist es einfach nurleeres Geschwätz.
Weder in Ihrer bisherigen Arbeitsmarktpolitik hat sichdiese Erkenntnis wiedergefunden noch prägt sie diesesGesetz. Da können Sie sich empören, wie Sie möchten.Das ist alles überflüssig; denn das Einzige, was Sie mitdiesem Gesetz tun, ist, Aktivitäten vorzutäuschen.
Ich sage Ihnen auch, warum. Das ist ein weiteres Maleine reine Ankündigungspolitik ohne jede Substanz, ei-gentlich so, wie wir es schon immer von dieser Bundes-regierung zum Thema Arbeitsmarktpolitik gewohnt sind.
Aktuell verfügen 46 Prozent aller Erwerbslosen überkeine abgeschlossene Berufsausbildung. Im Bereich desSGB II sind es sogar 57 Prozent. Allein im SGB II hattenwir im Jahr 2015 1,1 Millionen erwerbslose Menschenohne Berufsausbildung. Dem stehen nach den aktuellstenZahlen im Hartz-IV-Bereich 27 835 geförderte Teilneh-merinnen und Teilnehmer an Maßnahmen zur Erlangungeines Berufsabschlusses gegenüber. So unterstreicht dieBundesregierung den Stellenwert von Aus- und Weiter-bildung in der Arbeitsmarktpolitik. Die Linke sagt: Sietäuschen die Bürgerinnen und Bürger mit schönen Wor-ten, und es folgen keine Taten.
Warum machen Sie den Menschen, den über 1 MillionMenschen, kein Angebot, Herr Zimmer?
Ich sage es Ihnen. Sie haben die Erwerbslosen aufs Ab-stellgleis geschoben. Das ist Ihre Arbeitsmarktpolitikder letzten Jahre. Da wird die Linke nie mitmachen. Dasmuss an dieser Stelle gesagt werden.
Und nicht nur das. Sie verweigern auch eine effekti-ve Unterstützung. Ihre Alternative – die nenne ich Ihnenjetzt auch – ist, die Menschen zu drangsalieren,
zu sanktionieren und ihnen in vielen Fällen sogar dasExistenzminimum zu verweigern. Das ist unmenschlich,und das muss hier deutlich gesagt werden, meine Damenund Herren.
Dass Sie sich auch noch trauen, hier von einer Ver-besserung des Schutzes in der Arbeitslosenversicherungzu schwafeln, grenzt schon etwas an Volksverdummung.Von den Punkten, die Sie, Frau Kramme, genannt haben,sind viele freiwillig. Das, was sich jemand im Niedrig-lohnbereich freiwillig leisten kann, darf er dann noch vonseinem Lohn bezahlen. Das ist für mich keine wirklicheVerbesserung der Arbeitslosenversicherung.
Weil Sie anscheinend auch jeden Bezug zur Lebens-realität vieler Erwerbsloser verloren haben, schildere ichIhnen einmal die Situation dieser Menschen. Sie berich-ten mir nämlich oft von ihren frustrierenden Erfahrun-gen. Viele möchten sich weiterbilden und qualifizieren.Sie haben sich genaue Gedanken darüber gemacht, wasfür einen neuen Job sie suchen und was dabei helfenkönnte. Aber es kommt die Ernüchterung, wenn sie zumAmt kommen, zum Jobcenter oder zum Arbeitsamt, woman ihnen dann sagt: Weiterbildung? Für Sie nicht.Ursache ist die extreme Unterfinanzierung der Ar-beitsmarktpolitik, der Kahlschlag, der im Jahre 2010 vonIhnen so richtig eingeleitet wurde. Wenn Arbeitsmarkt-politik keine Chancenverhinderungspolitik sein soll, wiees momentan aufgrund Ihrer Politik der Fall ist, muss sieausfinanziert sein. Nehmen Sie endlich Geld in die Hand,um Weiterbildung zu finanzieren, statt einfach nur he-rumzuschwafeln!
Investieren Sie in die Menschen, anstatt sie zu demora-lisieren! Unterstützen Sie die Stärken und die vorhande-nen Potenziale, statt sie den Erwerbslosen abzusprechen!Unterstützen Sie die gute Beschäftigung! Stoppen Sieendlich die verdeckte Förderung der Wirtschaft im Zu-
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sammenhang mit Dumpinglöhnen und der Aufstockungdurch Hartz IV! Das darf es nicht mehr geben.
Für die Förderung muss deutlich mehr Geld zur Verfü-gung gestellt werden; aber das muss man natürlich auchwollen. Die Linke fordert dies seit vielen Jahren. WennSie nicht bereit sind, für eine ordentliche Finanzierungin der Weiterbildung zu sorgen, dann wird sich hier auchnichts ändern. Notwendig ist ein Rechtsanspruch auf be-rufliche Weiterbildung. Sie würden staunen, wie viele Er-werbslose davon Gebrauch machen würden. Die Linkesagt deutlich: Es geht nicht nur um Weiterbildungsange-bote, sondern hier muss auch an anderen Stellschraubengedreht werden. Zum Beispiel muss dafür gesorgt wer-den, dass Alleinerziehende, die eine Weiterbildung ma-chen wollen, mit einem Kitaplatz versorgt sind. Das istauch sehr wichtig.Jetzt wollen Sie eine Weiterbildungsprämie für dasBestehen der Zwischenprüfung und der Abschlussprü-fung einführen.
Das ist ein richtiger Schritt; das spreche ich Ihnen auchgar nicht ab.
Aber das Entscheidende ist doch – da müssen Sie mirauch zuhören –, dass die Berufsqualifizierung durch ei-nen Bildungszuschuss begleitet wird, wodurch geringereEinkommen gerade während dieser Zeit ausgeglichenwerden. Und da geht es nicht um große Beträge. Für vie-le Menschen entscheidet sich das an wenigen Euro, obgenug Geld vorhanden ist, um den Alltag bewältigen zukönnen, wenn sie eine Weiterbildung machen.Es gibt auch noch andere Faktoren, die hier wichtigsind. In Ihrem Gesetzentwurf findet sich dazu aber lei-der nichts. Fehlanzeige! Der Handlungsbedarf ist riesig,doch die Bundesregierung bewegt sich hier bestenfallsum einige Millimeter. Dazu gehört auch, dass Sie in IhreÜberlegungen zum Beispiel überhaupt nicht mit einbe-ziehen, dass Weiterbildungsinitiativen mit einem öffent-lich geförderten Beschäftigungssektor flankiert werdenmüssen; denn nach wie vor gibt es doch bei uns Regio-nen, in denen es zu wenige Arbeitsplätze gibt, aber wich-tige gesellschaftliche Aufgaben vorhanden sind.Meine Damen und Herren, mittlerweile werden überzwei Drittel der Erwerbslosen nicht mehr durch dieErwerbslosenversicherung betreut, sondern im Hartz-IV-System. Fast ein Viertel der Beschäftigten, die er-werbslos werden, fallen direkt in Hartz IV. Diese Zahlenmachen doch ganz deutlich, dass die Arbeitslosenversi-cherung in dieser Form zum Auslaufmodell gewordenist. Nun aufgrund von minimalen Detailregelungen voneiner Stärkung durch den vorliegenden Gesetzentwurf zusprechen, ist aus unserer Sicht wirklich eine Frechheit.Soll die Arbeitslosenversicherung wieder vom Son-derfall zum Regelfall werden, muss unter anderem dieRahmenfrist wieder von zwei auf drei Jahre erweitertwerden
und der Anspruch auf Arbeitslosengeld bereits nach vierMonaten Beitragszeit entstehen. Außerdem müssten äl-tere Erwerbslose einen Anspruch darauf haben, längerArbeitslosengeld zu erhalten.Ich komme zum Schluss: Nichts von alledem findetsich in Ihrem Gesetzentwurf. Aber das sind eigentlichelementare Punkte sozialer Gerechtigkeit und des sozia-len Friedens. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Das sind, wieich glaube, Worte, die Sie hier in diesem Hause schonlange vergessen haben.Danke schön.
Der Kollege Karl Schiewerling spricht jetzt für die
CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Wir beraten den vorliegendenGesetzentwurf in der ersten Lesung auf dem Hintergrundeiner sich in Deutschland verändernden Arbeitswelt.
Dadurch müssen wir eine höhere Flexibilität an den Taglegen und uns stärker auch auf die Bereiche der beruf-lichen Bildung und der beruflichen Integration konzen-trieren.Es ist mein Schicksal, dass ich immer nach den Lin-ken reden darf
und jedes Mal das große Glück habe, ihnen sagen zumüssen und zu dürfen – lassen Sie mich das, Frau Kol-legin Zimmermann, auch jetzt zunächst am Anfang sa-gen –, dass ihre Realitäten mit unseren Realitäten nichtübereinstimmen.
Unsere Realität lautet: Wir haben eine hohe Beschäfti-gung, wir haben eine niedrige Arbeitslosigkeit.
Ich darf Sie darauf hinweisen, dass über 1 Million Men-schen in den letzten Jahren zusätzlich in eine sozialversi-cherungspflichtige Beschäftigung gekommen sind
Sabine Zimmermann
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und dass wir diesen Schritt gegangen sind, ohne dass esnötig war, dass die Bundesagentur für Arbeit oder werauch immer Geld in die Hand nehmen musste, weil sieganz einfach alleine ihren Weg in den Arbeitsmarkt ge-funden haben. Die Gleichung „Weniger Mittel gleichweniger Beschäftigung“ ist falsch; das ist eine linke Ar-gumentation. Mit der Realität hat sie allerdings nichts zutun.
Ich will Sie auf einen zweiten Punkt hinweisen: Na-türlich haben wir die Mittel im Bereich der Arbeitsmarkt-politik,
die wir aufgrund der Finanzkrise und der gestiegenen Ar-beitslosigkeit nach dem Crash im Jahr 2007 erhöht hat-ten, seit 2010 wieder reduziert. Dies war möglich, weilwir einen Aufwuchs an Beschäftigung hatten und Men-schen wieder in Arbeit gekommen sind.Mit dem Gesetzentwurf, den wir jetzt vorlegen, wol-len wir gezielt dafür sorgen, dass das, was uns die Ber-telsmann-Stiftung heute in einer Stellungnahme bestätigthat, nämlich dass Deutschland im internationalen Ver-gleich hinsichtlich Aufstiegsmobilität recht gut dasteht,
dass Menschen, die zunächst eine befristete Beschäfti-gung haben, in Deutschland eine gute Perspektive haben,in ein unbefristetes Beschäftigungsverhältnis zu kommen,und dass das, was wir an Flexibilität am Arbeitsmarkthaben, jetzt durch entsprechende Hilfen im Bereich derberuflichen Qualifizierung unterlegt werden muss. Des-wegen, meine Damen und Herren, müssen wir uns denneuen Anforderungen des Arbeitsmarktes stellen. Hiergeht es nicht um Überlegungen aus der Steinzeit. Hiergeht es darum, dass die neuen Entwicklungen – Stich-worte sind hier etwa Digitalisierung, Flexibilisierung,Arbeit 4.0 – bei den Beschäftigten und bei den Betriebenneue Arbeitssituationen erfordern. Diesen Herausforde-rungen stellt sich der vorliegende Gesetzentwurf.Ich halte es für einen guten und für einen wichtigenSchritt, wenn wir zum Beispiel kleinen und mittleren Be-trieben einen Weg eröffnen, dass sie dann, wenn sie ihrPersonal außerhalb der Beschäftigungszeit qualifizierenund schulen, dafür auch Unterstützung durch die Agenturfür Arbeit bekommen können. Das ist ein wichtiger Hin-weis. Wir helfen auch kleinen und mittleren Betrieben imBereich der beruflichen Qualifizierung. Das ist wichtigfür den Schutz und zum Erhalt von Arbeitsplätzen, einnicht zu unterschätzender Aspekt vor dem Hintergrundder internationalen Entwicklung, die wir im Augenblickerleben.Meine Damen und Herren, wir wollen mit diesemGesetzentwurf natürlich auch etwas für Menschen ohneBerufsabschluss tun. Frau Kollegin Zimmermann hat da-rauf hingewiesen, wie viele Menschen das sind. Daraufreagieren wir im Augenblick,
indem wir dabei helfen, dass auch Kulturtechniken wieRechnen, Schreiben und Lesen vermittelt werden. Wirwollen genau in diesem Bereich einen Ansatz finden. Ichkann beim besten Willen – so viel dazu zu sagen, sei mirgestattet – nicht erkennen, was daran ernsthaft zu kriti-sieren ist.
Ein weiterer Punkt, den wir mit dem Gesetz umset-zen, ist die Weiterbildungsprämie für Menschen, die sichschwertun, sich zu motivieren, die Ausbildung, die siebegonnen haben, tatsächlich zu beenden. Auch das ist einTeil der Wahrheit. Nicht alle, die jetzt langzeitarbeitslossind und ein Angebot der Agentur für Arbeit oder desJobcenters erhalten, nehmen dies, aus welchen Gründenauch immer, an. Wir haben hier unterschiedliche Lebens-wirklichkeiten und Lebensrealitäten. Wir machen keineGleichmarschpolitik, sondern wir müssen sehen, wie wirden jeweiligen Bedarfslagen der Menschen entgegen-kommen können.Einen Punkt, der ebenfalls im Gesetzentwurf steht,halte ich dabei auch für wichtig: Wir haben den Blickauch auf diejenigen gerichtet, die kurzfristig beschäf-tigt sind, weil ihre berufliche Tätigkeit eine kurzfristigeBeschäftigung impliziert. In der Situation befinden sichzum Beispiel die Künstlerinnen und Künstler. Wir alleschauen abends gespannt auf den jeweiligen Kommissardes Tatorts oder auf einen anderen Star, der gerade dieTäter ermittelt. Aber all diejenigen, die im Hintergrundim künstlerischen Bereich tätig sind und nur ein kurzfris-tiges Arrangement haben, sehen wir nicht. Diese zahlenzwar für die sechs Wochen, die sie dort tätig sind, in dieArbeitslosenversicherung ein, haben aber aufgrund derGestaltung kaum eine Möglichkeit, daraus Geld zu be-kommen, wenn sie tatsächlich einmal kein Arrangementhaben. Hierfür haben wir im Gesetz eine Regelung, diewir bis Mitte 2018 verlängern werden.
Unser erklärtes Ziel ist es darüber hinaus, in diesem Be-reich zu dauerhaften Regelungen zu kommen. Ich per-sönlich halte das für einen wichtigen Punkt zur Förde-rung und Unterstützung gerade der Menschen, die imKulturbereich tätig sind.Der heute vorliegende Gesetzentwurf dient demZweck, die berufliche Qualifizierung und Weiterbildungzu stärken, dient dazu, die Arbeits- und Beschäftigungs-situation zu verbessern und zu verstetigen, und dientletztendlich dazu, denjenigen, die der Hilfe dringend be-dürfen, die entsprechende Unterstützung zu geben. Inso-fern ist das eine gute Entwicklung, die wir hier für dieMenschen einleiten.Herzlichen Dank.
Karl Schiewerling
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Brigitte Pothmer,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol-leginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen!Liebe Bundesregierung! Sie haben recht
– mehr Beifall! –: Der deutsche Arbeitsmarkt ist einFachkräftemarkt. Das ist auch der Grund, warum, HerrSchiewerling, die Geringqualifizierten und die Langzeit-arbeitslosen nicht von der guten Arbeitsmarktsituationprofitieren.Sie haben recht, wenn Sie sagen – das beschreibenSie selbst –, dass besonders diejenigen, die eine Weiter-bildung nötig hätten, in den entsprechenden Angebotennicht zu finden sind bzw. vollkommen unterrepräsentiertsind. Das muss sich ändern.
Richtig ist auch, dass die Arbeitslosenversicherungden immer bunter werdenden Erwerbsverläufen Rech-nung tragen muss. Flexibel arbeitende Menschen brau-chen nicht weniger, sondern mehr Schutz.
Mit dieser Erkenntnis laufen Sie bei uns und insbeson-dere bei mir wirklich offene Türen ein. Sie sehen also, inBezug auf die Problembeschreibung passt kein Blatt Pa-pier zwischen uns. Was die Lösungsansätze angeht, stehtallerdings ein ganzer Bücherschrank zwischen uns.
Frei nach Erich Kästner: „Wo bleibt denn das Positive,Frau Pothmer?“, möchte ich zunächst zwei Punkte her-vorheben, die ich ausdrücklich unterstütze. Dies ist derVorrang der Weiterbildung vor Vermittlung,
zumindest bei Arbeitslosen ohne eine Berufsausbildung.Das haben wir immer gefordert. Ich freue mich, dass Siesich dieser Forderung inzwischen angeschlossen haben.
Gut finde ich auch – das hat Herr Schiewerling er-wähnt –, dass es nach dem vorliegenden Gesetzentwurfdie Möglichkeit gibt, auch Grundkompetenzen wie Le-sen und Schreiben zu unterstützen und zu fördern.
Wenn wir diese Grundkompetenzen nicht fördern, dannist alles andere, was dem folgt, natürlich wirkungslos.Meine Damen und Herren, richtig schlecht finde ichaber, dass Sie die Weiterbildung jetzt auch für Vergabe-verfahren öffnen wollen. Das ist nichts anderes als einBilligmacher.
Das schreiben Sie in Ihrem Gesetzentwurf ja auch, wennSie in diesem Zusammenhang ausdrücklich von deutlichkostenmindernder Wirkung sprechen. Dieser Billigma-cher wird uns noch teuer zu stehen kommen.
Wir wissen doch, dass genau solche Ausschreibungenzu einem Preisdruck führen, der erheblich zulasten derQualität geht. Das kennen wir bereits von allen anderenarbeitsmarktpolitischen Maßnahmen.
Ich kann nicht verstehen, dass Sie diesen Fehler in die-sem Rahmen wiederholen wollen.
Ganz grundsätzlich gibt es in Ihrem Gesetzentwurf einriesiges Gap zwischen der Problemlage, die Sie selbst,wie ich finde, richtig beschreiben und analysieren, undder Dimension der Lösung, die Sie für diese Problemeanbieten. Dabei liegen die Fakten auf dem Tisch.Erstens. Sie sprechen selbst von der Tatsache, dassdie Digitalisierung die Halbwertszeit von Wissen nocheinmal rapide absenken wird. Regelmäßige Weiterbil-dung und regelmäßige Qualifizierung werden deswegenin Zukunft genauso wichtig sein wie die Erstausbildung.Aber dazu bietet Ihr Gesetzentwurf überhaupt gar keineAntworten.
Zweitens. Geringe Qualifikation, prekäre Beschäf-tigung und Langzeitarbeitslosigkeit gehen bekannter-maßen Hand in Hand. Trotzdem bleiben gerade bei derWeiterbildung diejenigen außen vor, die es am nötigstenhätten. Das betrifft sowohl die Gruppe der Beschäftigtenals auch die Gruppe der Arbeitslosen und insbesonderedie SGB-II-Bezieher. Frau Kramme, dabei geht es auchnicht einfach nur ums Durchhalten. Das hat nämlichGründe, meine Damen und Herren, die die Betroffenenselbst gar nicht zu verantworten haben.Fast die Hälfte aller betroffenen Arbeitslosen sagt, siekönnten sich eine Fortbildung schlicht und ergreifendnicht leisten, weil sie über einen so langen Zeitraum hin-
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weg mit ihren Familien nicht vom Arbeitslosengeld odervon Hartz IV leben können.
Das werden Sie mit Ihrer Weiterbildungsprämie, die zurHalbzeit der Ausbildung und bei Abschluss bezahlt wird,auch nicht in den Griff bekommen. Es ist doch eine ab-surde Situation, dass diejenigen, die einem 1-Euro-Jobnachgehen, monatlich mehr Geld in der Tasche haben alsdiejenigen, die sich einer Fort- und Weiterbildung unter-ziehen, sich also einer anstrengenden Aufgabe widmen.Ich frage Sie wirklich: Was setzen Sie hier eigentlich fürAnreize?
Wenn Sie da weiterkommen wollen, dann brauchenwir eine monatliche Prämie; denn die Miete ist monatlichfällig, die Kosten fallen monatlich an. Ich glaube, nur sokönnen Sie an dieser Stelle weiterkommen.
Weiterbildung muss sich lohnen, und zwar von Anfangan. Sie muss so ausgestaltet sein, dass die Teilnehmerin-nen und Teilnehmer eben nicht gezwungen werden, denerstbesten Hilfsarbeiterjob anzunehmen. Wir wissendoch, dass das nicht nachhaltig ist und die Betroffenenin kürzester Zeit wieder vor der Tür der Jobcenter stehenwerden.Ein anderes Beispiel, das ich Ihnen nennen möch-te, betrifft die Frauen. Ein Drittel aller Frauen sagt, siekönnten wegen der Kinder oder der Pflege von Alten ankeiner Weiterbildung teilnehmen. Ich frage Sie: Womitwird denn jetzt auf die individuellen Bedürfnisse dieserFrauen Rücksicht genommen?Ich prognostiziere Ihnen: Mit diesem Gesetzentwurfwerden Sie eben nicht erreichen, dass diese Kerngruppe,die wir unterstützen müssen, in die Fort- und Weiterbil-dung kommt, sondern dieser Personenkreis wird weiter-hin durchs Raster fallen.Ein richtiges Armutszeugnis – und das haben Sie auchnoch positiv hervorgehoben, Herr Schiewerling – ist dieweitere Verlängerung der erwiesenermaßen vollkommenwirkungslosen Sonderregelung für kurzfristig Beschäf-tigte. 0,7 Prozent der Gruppe derjenigen, die Sie selbstals betroffen definiert haben, erreichen Sie mit dieserMaßnahme, und dann heben Sie das auch noch positivhervor. Herr Schiewerling, ich kann jetzt nicht schonwieder mit der lachenden Koralle kommen. Aber drin-gend notwendig wäre es.
Ich finde, es ist ein Grund zum Fremdschämen, lie-be Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion,wenn dieses Politikversagen von Herrn Kapschack undHerrn Blienert in einer Pressemitteilung noch als sozi-al- und kulturpolitischer Fortschritt gefeiert wird. HerrKapschack, das ist kein sozial- und kulturpolitischerFortschritt, sondern es ist eine Beerdigung dritter KlasseIhrer eigenen Koalitionsvereinbarung.
Diese Regelung ist und bleibt Murks. Das hat Ihnen derBundesrat ja auch in Ihrer Stellungnahme noch einmalattestiert.
Die Arbeitslosenversicherung muss genauso flexibelsein, wie die Menschen heute längst arbeiten. Sie mussdiejenigen absichern, die abhängig beschäftigt sind, dieselbstständig sind, die unbefristet, auf Zeit, in Projektenoder auf mehreren Stellen gleichzeitig arbeiten. Das leis-tet dieser Gesetzentwurf nicht.Die Arbeitsministerin hat den von ihr entwickeltenDialogprozess „Arbeiten 4.0“ angeschoben, und sie willZukunftsszenarien entwickeln. Meine Damen und Her-ren, die Zukunft hat längst begonnen. Mit diesem Ge-setzentwurf werden Sie nicht einmal dem gerecht, waswir jetzt an Realitäten vorfinden. Zukunftstauglich ist derjedenfalls nicht.
Meine Damen und Herren, früher hieß es ja immer:„Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“.Das ist weder richtig, noch ist es zeitgemäß. Deswegensage ich Ihnen: Wir brauchen einen anderen Gesetzent-wurf. Wir brauchen einen Gesetzentwurf, der die Zu-kunftsfragen wirklich beantwortet. Ich hoffe, dass wirda im Beratungsprozess noch ein wenig was verbessernkönnen. Ich hoffe, da gibt es noch Bewegung.Ich danke Ihnen.
Der Kollege Michael Gerdes spricht als Nächster für
die SPD.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Frau Pothmer, ja, wir habenAntworten. Der Gesetzentwurf der Bundesregierungbringt neuen Schwung in die aktive Arbeitsmarktpolitik:bestehende Instrumente werden erweitert, gute Ansätzein der Weiterbildungsförderung werden ausgebaut. Da-mit reagieren wir auf die Erkenntnis, dass einer durchausgroßen Gruppe von Arbeitnehmern Grundkompetenzenoder ein Berufsabschluss fehlen. Der Zusammenhangliegt auf der Hand: Je geringer die Qualifikation, destoschlechter stehen die Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Esgilt auch der Umkehrschluss: Wer erwerbstätig ist unddamit regelmäßig gefordert ist, hat durchschnittlich mehrKompetenzen als Menschen in Langzeitarbeitslosigkeit.Brigitte Pothmer
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Das ist nachvollziehbar. Wissen, das nicht angewendetwird, verblasst.Je nach Beruf kann Wissen aber auch schnell veraltetoder überholt sein. Man denke an technische Berufe, diedem steten Fortschritt ausgesetzt sind. Die Ausbildungeines Elektroinstallateurs im Jahre 2000 unterscheidetsich massiv vom heutigen Berufsalltag. Neue Technolo-gien bestimmen heute das Tun. Der Laptop ersetzt weit-gehend den Schraubendreher.Arbeitsförderung mit Zukunft heißt also für uns: Be-schäftigungsfähigkeit sichern. Das geht nicht ohne Bil-dung. Das geht nicht ohne stetige Auffrischung und Er-weiterung des eigenen Könnens. Die Verantwortung fürberufliche Weiterbildung ruht auf mehreren Schultern.Staat, Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen ihren Bei-trag leisten.
Ja, auch die Arbeitnehmer sind gefordert, eigenverant-wortlich zu handeln.Unser Beitrag, also der des Gesetzgebers, besteht da-rin, den Rahmen der Arbeitsförderung an den Wandelder Arbeitswelt anzupassen. Die größte Herausforderungsehe ich in der Passgenauigkeit von Bildungsangeboten.Weiterbildung muss auf die Bedürfnisse bzw. Kompeten-zen der Arbeitnehmer zugeschnitten sein. Und Weiter-bildung muss zu den Anforderungen des Arbeitsmarktespassen.
Es macht keinen Sinn, Menschen zum Gabelstaplerkurszu schicken, wenn diese Qualifikation auf dem Arbeits-markt aktuell keine Rolle spielt. Es gilt, den Arbeitsmarktvorausschauend zu beobachten und dann bedarfsgerechtzu qualifizieren. Nur so haben die Menschen eine Chan-ce, in Arbeit zu kommen und in Arbeit zu bleiben.Der Gesetzentwurf nimmt die Perspektive der Gering-qualifizierten ein. Das ist genau der richtige Ansatz; denngenau für diese Personengruppe müssen wir die Chancenauf dem Arbeitsmarkt verbessern.
Unsere Botschaft: Wir schreiben niemanden ab, erst rechtnicht dann, wenn es um grundlegendes Handwerkszeugwie Lesen, Schreiben oder Rechnen geht. Wir unterstüt-zen aber auch kleine und mittlere Unternehmen, die ih-ren Mitarbeitern Weiterbildungslehrgänge anbieten. DieFörderung wird ausgeweitet und kann deshalb bald auchaußerhalb der Arbeitszeit stattfinden. Das ist gerade fürkleine und mittlere Unternehmen wertvoll. Mit dieser Artder Förderung bauen wir vor und können Fachkräfteman-gel an der einen oder anderen Stelle vermeiden.Wir wollen möglichst viele zum Nachholen einesSchul- oder Berufsabschlusses motivieren. Dabei darfdas Alter der Arbeitnehmer aus meiner Sicht nur eine un-tergeordnete Rolle spielen. Grundkompetenzen helfen injeder Lebensphase.
An dieser Stelle müssen wir auch sensibilisieren undmehr Arbeitnehmer davon überzeugen, dass Weiterbil-dung Perspektiven schafft. Bildung ist Kapital!Neu ist, dass wir Bildungserfolge bei abschlussbezo-gener Weiterbildung honorieren. Eine Geldprämie kanndurchaus ein Anreiz beim Lernen sein. Weiterbildungmuss sich inhaltlich, aber auch monetär lohnen.
Mindestens genauso wichtig wie die finanziellen An-reize sind mir aber auch die begleitenden Hilfen, unddamit meine ich die soziale Ansprache von Geringquali-fizierten oder Langzeitarbeitslosen. Lernen fällt den we-nigsten leicht. Lernen kostet Kraft und funktioniert nurmit Engagement. Oftmals müssen Lern- und Arbeitstech-niken von Grund auf neu vermittelt werden. Das kostetKraft, das bringt aber auch Ängste mit sich, die abgebautwerden müssen. Und manchmal fehlt es an Durchhalte-vermögen, manchmal schrecken auch Formalitäten undStrukturen ab. Hier brauchen wir Lotsen, die mit Rat undTat zur Seite stehen und Fortbildungswillige durch denLernprozess begleiten: Warum soll ich mich überhauptweiterbilden? Welche Ziele hat die Weiterbildung? Werfördert was? Wie komme ich erfolgreich durch meineFortbildung?Wir brauchen mehr Weiterbildungsberatung. Die be-rufliche Weiterbildung ist für Nichtexperten ein Dschun-gel: intransparente Förderwege, unübersichtliche Ange-bote. Die Bundesagentur für Arbeit hat an verschiedenenStandorten Pilotprojekte zur Weiterbildungsberatungdurchgeführt. Die bisher gesammelten Erfahrungen ma-chen Mut. Individuelle Beratung kann den Weg in denArbeitsmarkt ebnen und beugt Arbeitslosigkeit vor.
Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetzentwurfgehen wir konsequent den eingeschlagenen Weg der För-derung von Beschäftigten weiter. Es ist ja nicht so, dasswir unsere Hausaufgaben bisher nicht gemacht hätten,Frau Zimmermann. Ich erinnere daran, dass wir erst voreinigen Wochen mit dem Meister-BAföG eine erhebli-che Verbesserung geschaffen haben. Mit der assistiertenAusbildung helfen wir sowohl den Azubis ins Berufsle-ben als auch den Ausbildungsbetrieben. Ich glaube, dabeiwird es nicht bleiben. Angesichts der künftigen Heraus-forderungen – Stichwort „Arbeit 4.0“ – haben wir nochviel Arbeit vor uns. Wir müssen die berufliche Bildungmehr und mehr ausbauen.Herzlichen Dank und Glück auf!
Nächster Redner ist der Kollege Albert Weiler für dieCDU/CSU.
Michael Gerdes
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mit demvorgelegten Gesetzentwurf zur Stärkung der beruflichenWeiterbildung und des Versicherungsschutzes in der Ar-beitslosenversicherung setzen wir nun als Koalition ausUnion und SPD ein gemeinsames Vorhaben aus unseremKoalitionsvertrag um.Unser Arbeitsmarkt ist aufnahmefähig wie selten zu-vor. Die Nachfrage nach Fachkräften ist aufgrund deswirtschaftlichen, technischen und qualifikationsspezifi-schen Strukturwandels enorm hoch und stetig wachsend.Das sollte eigentlich Chancen bei der Bekämpfung derLangzeitarbeitslosigkeit eröffnen. Leider müssen wiraber zusehends feststellen, dass Personen, die seit vielenJahren arbeitslos sind, bisher selten Zugang zum erstenArbeitsmarkt finden.Deswegen haben wir uns vorgenommen, erstens ge-ringqualifizierte Langzeitarbeitslose verstärkt in exis-tenzsichernde Arbeit zu vermitteln, zweitens sie passge-nau zu qualifizieren und zu begleiten sowie drittens siebei Bedarf auch nachhaltig zu betreuen und dafür dienotwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen.Der Gesetzentwurf listet eine ganze Reihe von mei-nes Erachtens geeigneten Maßnahmen auf. Der Zugangzur beruflichen Weiterbildung für geringqualifizierte Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Langzeitarbeitsloseund Ältere wird verbessert, und damit wird die berufli-che Qualifikation enorm erhöht. Ich halte es persönlichfür sehr wichtig, dass wir vor allem die meist jungenErwerbstätigen ohne Berufsabschluss in den Fokus neh-men. Zwar ist in der Gruppe der 25- bis 34-Jährigen derAnteil der Personen ohne abgeschlossene Berufsausbil-dung in den letzten Jahren von 17,8 auf 13,9 Prozent ge-sunken; das ist aber leider immer noch zu viel. Vor demHintergrund unseres enormen Fachkräftemangels brau-chen wir einfach alle Menschen in unserem Land undmüssen helfen, sie erfolgreich zu einem Berufsabschlusszu führen.Mit dem geplanten Gesetz wollen wir alles dafür tun,die Menschen erstens in Arbeit zu bringen, zweitens inArbeit zu halten und drittens – sehr wichtig – schon voreventuell drohender Arbeitslosigkeit in ihren Betriebenzu schulen, umzuschulen und weiterzubilden. Wie wer-den wir das erreichen?Wir werden beispielsweise bei einer betrieblichenUmschulung umschulungsbegleitende Hilfen erbringen,um einen erfolgreichen Ausbildungsabschluss zu unter-stützen. Frau Pothmer, wenn Sie jetzt aufhören, mit Ih-rem Handy zu hantieren, und zuhören, dann erhalten Sienoch mehr Lösungen.
Wir werden die Weiterbildungsförderung für Beschäf-tigte in kleinen und mittleren Unternehmen weiter fle-xibilisieren, die für jüngere Arbeitnehmerinnen und Ar-beiternehmer unter 45 Jahren bis Ende des Jahres 2020befristet ist.Wir werden die Förderung von Qualifizierung wäh-rend des Bezugs von Transferkurzarbeitergeld einführen.Um die Eingliederung von Langzeitarbeitslosen undArbeitslosen mit schwerwiegenden Vermittlungshemm-nissen zu verbessern, werden wir die mögliche Dauervon Maßnahmen verlängern. Die Hilfen zur Aktivierungund zur beruflichen Eingliederung von Langzeitarbeits-losen, die bei oder von einem Arbeitgeber durchgeführtwerden, sollen von sechs auf zwölf Wochen ausgedehntwerden.Es ist zwar Aufgabe der Länder, jungen MenschenGrundkompetenzen zu vermitteln, aber trotzdem ist eszielführend, dass wir Förderleistungen zum Erwerb not-wendiger Grundkompetenzen in den Bereichen Lesen,Schreiben, Mathematik und Informations- und Kommu-nikationstechnologien anbieten.Ich muss ehrlicherweise gestehen, dass ich mit der so-genannten Weiterbildungsprämie zur Motivation meineProbleme habe. Verkürzt kann man sagen, dass Leute, dienicht motiviert sind, Geld bekommen sollen. Also: Un-motivierte bekommen Geld, Motivierte kein Geld. SchonMaslow hat gesagt, dass Geld kein Motivationsfaktor ist.Das sehe ich genauso. Deshalb sollte man an der Stellenoch einmal darüber nachdenken. Aber wir sind auch erstin der ersten Lesung.Das, meine Damen und Herren, ist der Unterschied,und das hat auch die Anhörung am Montag noch einmalklargemacht: Grüne und Linke wollen Arbeitslosigkeitvor allem teuer verwalten und stellen Anträge, ohne Kos-ten und Nutzen, geschweige denn den Bedarf richtig zuermitteln.
Die Luft wird dünn. Frau Zimmermann, wenn auch Sieeinmal kurz aufpassen könnten: Sie haben keine Argu-mente genannt. Sie haben uns Dinge unterstellt und nurgesagt, dass wir es nicht ernst meinten. Das ist Ihr Argu-ment. Aber dem kann ich entgegentreten. Wir meinen esernst, und wir werden es tun.Die BA hat deutlich herausgearbeitet, dass eine gleich-zeitige Erweiterung der Rahmenfrist und Reduzierungder Anwartschaftszeit hohe Zusatzkosten verursachenwürde. Bei einer Rahmenfristverlängerung auf drei Jahrebei gleichzeitiger Reduzierung der Anwartschaftszeit aufvier Monate, wie von der Opposition vorgeschlagen,
würde die Arbeitslosenversicherung mit schätzungsweise1,3 Milliarden Euro belastet werden – und das jährlich.1,3 Milliarden Euro! Mit der Verlängerung der Rahmen-fristen bekämpft man aber nur die Symptome; die Ur-sache von Arbeitslosigkeit bleibt dabei unberücksichtigt.Wir, Union und SPD, stärken mit unserem Gesetz dasZiel einer breiteren und stärkeren Partizipation von Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmern an Fort- und Wei-terbildung. Wir erhöhen zudem die Durchlässigkeit füreinen beruflichen Aufstieg. Wir verbessern damit dieTeilhabe am Arbeitsleben und in der Gesellschaft. Mit
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der Möglichkeit der freiwilligen Weiterversicherung inder Elternzeit oder bei beruflicher Weiterbildung leistenwir zudem einen wichtigen Beitrag zur Vereinbarkeitvon Familie und Beruf. Mit der weitreichenden Versi-cherungspflicht für Pflegepersonen verbessern wir denVersicherungsschutz in der Arbeitslosenversicherung fürÜbergangsprozesse am Arbeitsmarkt erheblich.Meine Damen und Herren, ich freue mich auf diekommenden Beratungen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Als Nächste hat Katja Mast von der
SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Die IG Metall hat einen ihrer Aktionstage mit „Bildung.Macht. Zukunft“ überschrieben. Ich finde, besser hätteman das, was wir heute diskutieren, nicht auf den Punktbringen können; denn es geht bei diesem Gesetzentwurf,den wir heute in erster Lesung beraten, um ein Chancen-und Ermöglichungsgesetz, damit mehr Menschen in derBundesrepublik Deutschland an Weiterbildung und Aus-bildung teilhaben können.
Warum sind Bildung und Weiterbildung, die damit le-bensphasenorientierter möglich sind, so wichtig für uns?Das Wichtigste, was wir in der Bundesrepublik Deutsch-land haben, sind die Menschen, die hier leben, und ihreGestaltungskraft. Wir alle wissen, dass wir diese Gestal-tungskraft mit Bildung und Weiterbildung fördern müs-sen. Wir alle wissen, dass in Zeiten von Digitalisierung,demografischem Wandel und großen Herausforderungenwie der Fachkräftesicherung und der Globalisierung dieHalbwertszeit des Wissens, das wir mit einer Berufsaus-bildung oder mit einem Studium einmal erworben haben,immer kleiner wird. Das heißt, das Wissen veraltet immerschneller. Deshalb ist dies eine Antwort der Bundesregie-rung auf die Frage, wie wir in der ArbeitsmarktpolitikAus- und Weiterbildung künftig besser fördern.
Ich will schon sagen, dass das für uns Sozialdemo-kratinnen und Sozialdemokraten ein wichtiger, ein we-sentlicher Schritt in die richtige Richtung ist. Aber beidem, was am Ende herauskommen soll, da denken wirviel weiter. Wir sind der festen Überzeugung, dass wirnicht nur eine Bundesagentur für Arbeit brauchen, son-dern dass wir eine Bundesagentur für Arbeit und Qualifi-zierung brauchen.
Wir sind der festen Überzeugung, dass wir aus der Ar-beitslosenversicherung eine Arbeitsversicherung machenmüssen, eine Versicherung, die noch stärker als heutevorsorgend agiert und die darauf setzt, dass über die gan-ze Erwerbsbiografie die Erwerbsfähigkeit erhalten undausgebaut wird. Darauf ist die wichtigste Antwort: Bil-dung und Weiterbildung über das ganze Leben.
Ich will schon noch sagen, Frau Pothmer: Wenn manhier meinen Kollegen Kapschack zitiert, sollte man dieganze Pressemitteilung gelesen haben. In der Pressemit-teilung steht sehr deutlich, dass wir dringend eine Nach-folgeregelung bei den Rahmenfristen brauchen
und dass gerade die SPD bereit wäre, wenn denn dieUnion mitmachte, die Rahmenfrist von 24 Monaten auf36 Monate zu verlängern.
Das haben wir bis jetzt leider nicht zusammen hinbekom-men. Aber wir bleiben dran.Lassen Sie mich noch einmal zum Arbeitslosenver-sicherungsschutz- und Weiterbildungsstärkungsgesetzkommen, ein ziemlich komplizierter Begriff, abgekürztAWStG – das geht ein bisschen schneller über die Lip-pen –, aber im Kern wird da schon das Richtige gesagt.Wir verfolgen mit diesem Gesetz eine Doppelstrategie,nämlich die einen so qualifiziert wie möglich in Arbeitzu halten – das ist der Gedanke der Arbeitsversicherung,über den ich schon gesprochen habe – und gleichzeitigdie Chancen derjenigen zu verbessern, die gar nicht inArbeit und Ausbildung sind. So qualifiziert wie möglichzu arbeiten, wird durch viele Regelungen in dem Gesetzunterstützt; aber lassen Sie mich zwei Punkte besondersbetonen.Künftig wird es so sein, dass auch Mitarbeiterinnenund Mitarbeiter in kleinen und mittelständischen Unter-nehmen, die jünger als 45 Jahre sind, ihre Weiterbildungvon der Bundesagentur für Arbeit mitfinanziert bekom-men, auch wenn diese Qualifizierung außerhalb der Ar-beitszeit stattfindet. Bisher ist dies nur in der Arbeitszeitmöglich. Jedem, der an einen kleinen Betrieb denkt, istklar: Das ist eine wichtige Regelung.Umschulungsbegleitende Hilfen können gefördertwerden, und diejenigen, die nicht in Ausbildung undArbeit sind, können künftig Weiterbildungsprämien be-kommen. Das ist wahnsinnig wichtig, weil 1 000 oder1 500 Euro richtig viel Geld für diese Leute sind und wirdamit einen Anreiz setzen, eine begonnene Ausbildungabzuschließen. Wir reden da ja insbesondere über Men-schen, die eine zweite oder dritte Chance bekommen undschon am Arbeitsmarkt tätig waren. Diese fangen norma-lerweise gar keine Ausbildung mehr an, wenn es nicht ei-nen zusätzlichen finanziellen Anreiz gibt. Wir alle habeneinen Mehrwert davon.Wir können Grundkompetenzen fördern. Alle wissendoch: Damit ich eine Ausbildung erfolgreich abschließenkann, –Albert Weiler
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Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
– muss ich lesen, rechnen und schreiben können. In-
sofern ist es wichtig, dass das jetzt endlich auch in der
Arbeitsmarktpolitik verankert wird.
Ich freue mich auf die Debatte im Ausschuss zu die-
sem Gesetz. Ich bin stolz, dass meine Bundesregierung
dieses Gesetz vorlegt.
Als nächste Rednerin hat Jana Schimke von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehr-te Gäste auf den Besuchertribünen! Unser Arbeitsmarktbefindet sich schon seit einigen Jahren in einer guten Ver-fassung; das konnten wir in der heutigen Debatte schonmehrfach hören. Die Zahl der Arbeitslosen stabilisiertsich auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau, undim europäischen Vergleich zählen die Arbeitslosenquoteund auch die Jugendarbeitslosigkeit hierzulande zu dengeringsten.Dennoch widmet sich der heute diskutierte Gesetzent-wurf Fragen der Weiterbildung und der Qualifizierungsowie dem verbesserten Schutz in der Arbeitslosenversi-cherung. Warum machen wir das? Wir machen das, weiles trotz der guten Arbeitsmarktlage immer noch Men-schen in unserem Lande gibt, denen der Zugang zum Ar-beitsmarkt schwerfällt. Die Gründe dafür sind vielfältig.Doch fest steht eines: Bildung ist der Schlüssel zum Wegin den Arbeitsmarkt. Sie ist Voraussetzung für eine kon-tinuierliche Erwerbsbiografie und damit auch für sozialeStabilität und Wohlstand.
Meine Damen und Herren, die Statistiken zeigen: Wereinen Berufsabschluss hat, ist seltener arbeitslos und fin-det auch schneller wieder eine Anschlussbeschäftigung.Und weil die Rente immer auch Ausdruck von geleisteterArbeit und gezahlten Beiträgen ist, nimmt Bildung ebenauch einen entscheidenden Einfluss auf die Absicherungim Alter – ein wichtiger Fakt gerade auch mit Blick aufdie aktuelle Rentendiskussion. Hinzu kommt der wach-sende Bedarf der Wirtschaft nach Fachkräften. Auch des-halb müssen wir alles daransetzen, die Hemmnisse beider Arbeitsplatzvermittlung abzubauen.Vielerorts werden die Unternehmen sogar selbst tä-tig. Wenn ein junger Bewerber beispielsweise nicht dieVoraussetzungen zur Aufnahme einer Ausbildung mit-bringt, wird dies durch eigene Qualifizierungsangebo-te der Unternehmen ausgeglichen. Nicht selten stellenMittelständler sogar eigene Lehrer ein, die das, was dieBewerber in der Schulzeit versäumt haben, ausgleichensollen. Im Unternehmen werden also schon heute mitun-ter Personalstellen geschaffen, die mit dem eigentlichenKerngeschäft nichts zu tun haben. Viele Unternehmenberichten, dass es Bewerbern immer öfter auch an dengrundlegendsten Eigenschaften fehlt, die ein vertrauens-volles Arbeitsverhältnis begründen und damit letztend-lich auch den Weg aus der Arbeitslosigkeit aufzeigen:Motivation, Pünktlichkeit, Verlässlichkeit.Um hier keinen falschen Eindruck zu erwecken,meine Damen und Herren: Dieses Engagement ist be-merkenswert, aber es zeigt auch, wo, wann und wie wiransetzen müssen, um einem Abrutschen in den dauerhaf-ten Leistungsbezug und in die Langzeitarbeitslosigkeitvorzubeugen, nämlich frühzeitig. Das ist eine Aufgabean Schulen und damit auch eine Aufgabe der Bundeslän-der. Es ist aber auch eine Aufgabe an der Schnittstellezwischen Schule und Beruf und damit auch eine Aufgabeder Arbeitsagenturen. Deshalb begrüße ich die derzeitigeEinrichtung der sogenannten Jugendberufsagenturen inden Jobcentern vor Ort.
Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetz-entwurf unterstützt Menschen, die bereits im erwerbs-fähigen Alter sind. Er zielt darauf ab, zum Beispiel mitder Förderung von Grundkompetenzen einmal mehr denWeg aus der Arbeitslosigkeit zu unterstützen. Er zieltaber auch darauf ab, den Weg in Arbeitslosigkeit zu ver-hindern, indem Betriebe und Beschäftigte bei Maßnah-men zur Weiterbildung unterstützt werden. Dem Prinzip„Aufstieg durch Bildung“ wird mit dem vorliegendenMaßnahmenkatalog Rechnung getragen.Ich möchte aber zum Abschluss noch eine kritischeAnmerkung machen. Es gilt auch, das Prinzip „Fordernund Fördern“ in einem ausgewogenen Maße zu betrach-ten. Da möchte ich gerne auf die Ausführungen meinesKollegen Albert Weiler Bezug nehmen. Unsere Solidar-gemeinschaft unternimmt viel, um den Menschen zu hel-fen, den Weg aus dem Leistungsbezug zu finden und einselbstständiges Erwerbsleben zu führen. Doch es mussauch klar sein, dass das Ziel, einen Berufsabschluss zuerzielen und ein selbstbestimmtes und eigenverantwort-liches Leben zu führen, nichts ist, worum man gebetenwerden muss. Es ist eine Selbstverständlichkeit. In Ge-sprächen mit den Kollegen der Jobcenter vor Ort wirdimmer wieder deutlich, dass zu viel des Guten geradeauch im Bereich der Arbeitsmarktpolitik kontraproduktivsein kann.Gestern wie heute gilt: Wer sich anstrengt, wird amEnde dafür belohnt: durch den Stolz auf das, was manselbst imstande zu leisten war, und im besten Fall auchdurch eine Arbeitsstelle. Ich möchte deshalb dafür wer-ben, die Einführung einer sogenannten Weiterbildungs-prämie, die uns bis 2019 jährlich immerhin 82 MillionenEuro kosten wird, zu überdenken. Ich bin der Auffassung,es wäre falsch, die einen mit Prämien für etwas zu beloh-nen, was andere von selbst und ohne Prämie zu leisten inder Lage sind.Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Als nächster Redner spricht Stephan
Stracke, ebenfalls von der CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die Arbeitsmarktentwicklung ist in der Tat er-freulich; die Vorrednerin hat darauf hingewiesen. DerArbeitsmarkt in Deutschland ist nach wie vor in hervor-ragender Verfassung.
Das gilt in besonderem Maße für Bayern; denn dasJahr 2015 war ein Jahr der Rekorde. 3,6 Prozent ist dieniedrigste Jahresquote seit Beginn der entsprechendenErfassungen im Jahr 1994.Die gute Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt kommtauch bestimmten Zielgruppen zugute: Ältere, aber auchdiejenigen, die gehandicapt sind, und Langzeitarbeitsloseprofitieren von dieser Entwicklung. Uns ist es in Bayernin den letzten zehn Jahren gelungen, die Zahl der Arbeits-losen um knapp 50 Prozent zu reduzieren. Das zeigt, dassBayern ein Job- und Wachstumsmotor ist. Der BA-Chefgeht davon aus, dass sich der Arbeitsmarkt weiter gutentwickeln wird, obwohl sich bereits heute zeigt, dasssich immer mehr Flüchtlinge arbeitslos melden werden.In diesem erfreulichen Umfeld setzen wir an für Men-schen, die es auf dem Arbeitsmarkt schwerer haben alsandere. Im Koalitionsvertrag haben wir dazu vereinbart,die Arbeitsförderung weiter zu verbessern. Mit dem vor-liegenden Gesetzentwurf setzen wir diese Vereinbarungfür eine präventive und aktive Gestaltung der Arbeits-marktpolitik um. Ausdrückliches Ziel ist ein verbesserterZugang von gering qualifizierten Arbeitnehmern sowieLangzeitarbeitslosen zu einer abschlussbezogenen Wei-terbildung.Aus aktuellem Anlass ein Wort im Hinblick auf diegestrige Einigung der Spitzen der Regierungskoalitionauf Eckpunkte für ein Integrationsgesetz. Gegenstand derEinigung sind unter anderem weitere Verbesserungen fürdie Ausbildungsförderung von Flüchtlingen. Damit wer-den die bestehenden Instrumente passgenau für Flücht-linge mit guter Bleibeperspektive weiterentwickelt. DieEckpunkte sind an dieser Stelle tatsächlich sehr konkret.Das beweist: Wir spielen nicht Flüchtlinge gegeneinheimische langzeitarbeitslose Menschen aus – oderumgekehrt. Wir müssen jetzt endlich mit der Neiddis-kussion Schluss machen, die von einigen geführt wird.Dabei handelt es sich um eine Debatte, die zum Ziel hat,Gruppen gegeneinander auszuspielen. Wir haben nichtnur 1 Million Flüchtlinge, sondern auch knapp 1 MillionArbeitslose im SGB-II-Bezug. Alle brauchen gleicher-maßen unsere Unterstützung. Keiner wird aus dem Blickgeraten, keiner geht verloren. Das ist das Markenzeichenunserer Politik.
Genau deshalb ist es richtig, verstärkt auch in die be-rufliche Weiterbildung zu investieren. Sie stellt eine derSäulen der Fachkräftesicherung dar. Deswegen stärkenwir auch die Instrumente der Weiterbildung. Dabei neh-men wir insbesondere folgende Gruppen in den Blick:Die Arbeitnehmer, die noch nicht über einen Berufsab-schluss verfügen, sollen die notwendigen Grundkompe-tenzen wie Lesen, Rechnen und Schreiben erhalten. Wei-terhin geht es um die jüngeren Arbeitnehmer in kleinenund mittleren Unternehmen. Wir bezuschussen derenberufliche Weiterbildung, die außerhalb der Arbeitszeitstattfindet. Außerdem fördern wir auch ältere Arbeitneh-mer, die beispielsweise in Transfergesellschaften tätigsind, damit sie die notwendige Qualifizierung erhalten.Dabei muss sich auch der Arbeitgeber mit mindestens50 Prozent an den Lehrgangskosten beteiligen.Auch Langzeitarbeitslose und Arbeitslose mit schwer-wiegenden Vermittlungshemmnissen lassen wir nicht ausdem Blick. Für sie verlängern wir die Maßnahmen zurAktivierung und beruflichen Eingliederung von sechsauf zwölf Wochen. Schließlich stellt die Vermittlung inAusbildung eine ganz wichtige Weichenstellung dar. BeiLangzeitarbeitslosen kommt es insbesondere darauf an,dass sie geeignet sind und das notwendige Durchhalte-vermögen aufweisen. Wir wissen, dass nur 10 bis 20 Pro-zent der Langzeitarbeitslosen tatsächlich die notwendi-gen Voraussetzungen erfüllen. Frau Staatssekretärin hattezu Beginn dieser Debatte darauf hingewiesen, dass jederVierte seine Ausbildung abbricht. Es gibt also in diesemBereich eine besorgniserregende Entwicklung.Die Koalition hat sich darauf geeinigt, einer solchenEntwicklung mit einer Weiterbildungsprämie entspre-chend zu begegnen. Ich will nicht verhehlen, dass ichdieses Instrument insgesamt eher kritisch beurteile, weiles auch eine Frage der Fairness ist; denn andere Auszu-bildende erhalten eine solche Prämie nicht. Sie müssenihre Prüfungen bestehen, ohne eine Prämie zu bekom-men. Wir haben uns aber darauf geeinigt, dass wir die-ses Instrument befristen und auch evaluieren. Nach Ab-schluss der Evaluation sollten wir uns genau anschauen,ob sich das Instrument tatsächlich bewährt hat.Der zweite wichtige Teil des Gesetzentwurfes betrifftdie Verbesserung des Versicherungsschutzes in der Ar-beitslosenversicherung. Das klingt meist profan odertechnisch; für die Betroffenen aber ist das von zentralerBedeutung, um ihren Arbeitslosenversicherungsschutzzu erhalten. Das wird beim Thema der verkürzten An-wartschaftszeit für überwiegend kurzzeitig befristet Be-schäftigte besonders deutlich. An dieser Stelle geht esvor allem um die soziale Absicherung von Künstlern undKulturschaffenden.
In diesem Bereich hätte ich mir sicherlich mehr vor-stellen können. Die Alternative für die Koalition wäreeine generelle Verlängerung der Rahmenfrist gewesen.
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Auch von den Kulturschaffenden wird das nicht ge-wünscht. Es würde auch zu weitreichenden Konsequen-zen führen und würde, insbesondere was die finanziel-len Aspekte anbelangt, mit großen Mehrkosten für dieBundesagentur für Arbeit verbunden sein. Natürlich istes auch in der Sache falsch. Wir brauchen in diesem Be-reich keine Lockerungen, um die Arbeitslosigkeit zu ver-walten, sondern wir benötigen flächendeckende Lösun-gen zum Abbau vor allem der Langzeitarbeitslosigkeit.Deswegen wäre dieser Vorschlag auch ein Fremdkörpergewesen. Aus diesem Grunde ist es gut, dass dieser Punktbereits bei der Befassung durch das Kabinett gestrichenwurde und die Bundesregierung entsprechende Avancendes Bundesrates in dieser Hinsicht abwehrt.Es gibt sicherlich noch viele Gesprächspunkte. DieBundesländer haben noch Änderungswünsche. Einendavon habe ich gerade angesprochen. Die Oppositionglänzt, was eigenständige Vorlagen zum Gesetzentwurfbetrifft, nicht gerade mit eigenen Vorschlägen für die ge-nannten Bereiche.Wir werden jetzt eine Sachverständigenanhörung be-schließen. Ich freue mich auf die intensiven Debattenzu diesem Gesetzentwurf. Ich meine, dass er insgesamtausgewogen und gut ist. In diesem Sinne wollen wir dieentsprechenden Anhörungen auch durchführen.Ein herzliches Dankeschön.
Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 18/8042 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esanderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dannist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 d sowieZusatzpunkt 4 auf:24. a) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines ZweitenGesetzes zur Änderung des Buchpreis-bindungsgesetzesDrucksache 18/8043Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Kultur und Medienb) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines ZweitenGesetzes über die weitere Bereinigungvon BundesrechtDrucksache 18/7989Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastrukturc) Beratung des Antrags der AbgeordnetenSabine Leidig, Ralph Lenkert, Caren Lay,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEDrohende Streckenstilllegungen verhin-dern – Regionalisierungsmittel erhöhenDrucksache 18/8074Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reak-torsicherheit Haushaltsausschussd) Beratung des Antrags der AbgeordnetenSabine Leidig, Herbert Behrens, Caren Lay,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEBundesverkehrswegeplan 2030 zurück-ziehen – Klimaschutz- und sozialökologi-sche Nachhaltigkeitsziele umsetzenDrucksache 18/8075Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reak-torsicherheit Ausschuss für Tourismus HaushaltsausschussZP 4 Beratung des Antrags der AbgeordnetenPeter Meiwald, Kordula Schulz-Asche,Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENGewässer vor Medikamentenrückstän-den schützenDrucksache 18/8082Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reak-torsicherheit
Ausschuss für GesundheitEs handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Damit sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a und 25 b sowieZusatzpunkt 5 auf. Es handelt sich um die Beschlussfas-sung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgese-hen ist.Ich weise darauf hin, dass eine Erklärung zur Abstim-mung gemäß § 31 der Geschäftsordnung des Abgeordne-ten Dr. Reinhard Brandl zum Tagesordnungspunkt 25 avorliegt.1)Ich komme zunächst zum Tagesordnungspunkt 25 a:Zweite und dritte Beratung des von den Frakti-onen CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE1) Anlage 3Stephan Stracke
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GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Ge-setzes zur Änderung des BundeswahlgesetzesDrucksache 18/7873Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
Drucksache 18/8104Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 18/8104, den Gesetzentwurfder Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und des Bündnis-ses 90/Die Grünen auf Drucksache 18/7873 anzunehmen.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –Enthält sich jemand? – Damit ist der Gesetzentwurf inzweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition und denStimmen von Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stim-men der Fraktion Die Linke angenommen worden.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Enthält sich jemand? – Damit ist derGesetzentwurf mit den Stimmen der Koalition und vonBündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FraktionDie Linke angenommen worden.Ich komme zum Tagesordnungspunkt 25 b:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Menschenrechte undhumanitäre Hilfe zu dem Antragder Abgeordneten Kordula Schulz-Asche, TomKoenigs, Peter Meiwald, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN sowie der Abgeordneten Stefan Liebich,Wolfgang Gehrcke, Dr. Dietmar Bartsch, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEDer Völkermord in Ruanda und die deutschePolitik 1990 bis 1994 – Unabhängige histori-sche AufarbeitungDrucksachen 18/4811, 18/7905Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-fehlung auf Drucksache 18/7905, den Antrag der Frak-tionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke aufDrucksache 18/4811 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Gibtes eine Enthaltung? – Das ist nicht der Fall. Damit istdiese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koa-lition gegen die Stimmen der Opposition angenommenworden.Ich komme zum Zusatzpunkt 5:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr und digitaleInfrastruktur
zu dem Vorschlag für eine Verordnung desEuropäischen Parlaments und des Rateszur Festlegung gemeinsamer Vorschriftenfür die Zivilluftfahrt und zur Errichtung ei-ner Agentur der Europäischen Union fürFlugsicherheit sowie zur Aufhebung derVerordnung Nr. 216/2008 des Euro-päischen Parlaments und des Rates KOM(2015) 613 endg.; Ratsdok. 14991/15hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesre-gierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 desGrundgesetzesDrucksachen 18/7422 Nr. A.22, 18/8103Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 18/8103, in Kenntnis der Unter-richtung eine Entschließung gemäß Artikel 23 Absatz 3des Grundgesetzes anzunehmen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Damit ist diese Beschlussempfehlung mitden Stimmen der Koalition bei Enthaltung der Oppositi-on angenommen worden.Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENHaltung der Bundesregierung zu den gesund-heitsgefährdenden Abgasbelastungen in vielendeutschen Städten Ich eröffne die Aussprache zu dieser Aktuellen Stundeund erteile Herrn Peter Meiwald von der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen als erstem Redner das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Seit Jahren werden von Deutschland die gel-tenden EU-Luftqualitätsgrenzwerte für Feinstäube undStickoxide nicht eingehalten. Angesichts der Gefahren fürdie Gesundheit durch Feinstäube können wir mit unsererLuft – ich glaube, das ist unumstritten – nicht zufriedensein. Das UBA rechnet allein mit 47 000 Feinstaubtotenpro Jahr in Deutschland; eine Zahl, die wir uns angesichtsder Gedanken, die wir uns um die vielen Verkehrstotenmachen, zu Gemüte führen sollten.Auch Stickoxide sind mittlerweile ein riesiges Pro-blem. Die EU-Grenzwerte für NO2 werden in Deutsch-land an mehr als der Hälfte der verkehrsnahen Mess-stationen überschritten. Dies hat zu mittlerweile zweiVertragsverletzungsverfahren der EU gegen Deutschlandgeführt. Hinzu kommen zahlreiche Gerichtsurteile undVollstreckungsverfahren gegen Kommunen und Bundes-länder. Betroffen sind Kommunen im gesamten Bundes-gebiet, von Aachen über München bis Wiesbaden, aberauch die Länder Bayern, Baden-Württemberg, Hamburgoder Hessen. Es besteht ein bundesweites Problem, des-sen Behebung einer konzertierten Aktion bedarf.Mit der Aufdeckung des Dieselskandals – nichtetwa durch die deutschen Behörden, sondern durch dieUS-Umweltbehörde – ist klar geworden, dass die Kom-munen bei aller Anstrengung nicht mit einer Verbesse-rung der Belastungssituation rechnen können; denn dieAutomobilindustrie, zumindest Teile von ihr, hatte mitVizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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der Manipulation der Abgaswerte dafür gesorgt, dass dieAutos die Schadstoffgrenzwerte zwar theoretisch einhal-ten, aber praktisch die Stickoxidemissionen in den Städ-ten nicht abnehmen.
Die Luftreinhaltepläne der Kommunen konnten alsoauch nur theoretisch zu Ergebnissen führen. Das hilft unsbeim Atmen nicht; denn wer will schon nur theoretischgute Luft atmen? Die Zeche zahlen die Bürgerinnen undBürger, die an den Hauptverkehrsstraßen mit hohen Luft-belastungen wohnen. Von Teilen der Automobilindustriewird das offensichtlich billigend in Kauf genommen. Dasgrenzt schon an Körperverletzung.„Volle Transparenz“ hatte die Bundeskanzlerin dazuam 22. September 2015 versprochen. Was macht unserVerkehrsminister? Er steckt den Kopf in den Sand oderman könnte auch sagen: ins Auspuffrohr der Automobil-industrie. Minister Dobrindt verweigert die Aufklärungdes Skandals; von zügiger Aufklärung will ich nach mehrals einem halben Jahr gar nicht mehr reden. Er verweigertdie Arbeit und keilt nun auch noch gegen die Einführungder blauen Plakette. Herr Minister – schade, dass er nichtda ist –, Ihre Verkehrspolitik ist unausgegoren, verkorkst,umwelt- und am Ende auch mobilitätsfeindlich.
Das zeigt – nur am Rande bemerkt – auch der unlängstvorgelegte Entwurf des Bundesverkehrswegeplans, indem keine Ambitionen deutlich werden, etwas zu ver-bessern.Sogar die Ergebnisse einer kompletten Sonder-Um-weltministerkonferenz sind ignoriert worden.
Da kann ich unsere Umweltministerin – schön, dass Sieda sind, Frau Hendricks – nur auffordern, das Heft desHandelns selber in die Hand zu nehmen und es nicht die-sem Verkehrsminister zu überlassen.
Legen Sie ein Aktionsprogramm „Saubere Luft fürDeutschland“ auf, und weisen Sie Ihren arbeitsverwei-gernden Kabinettskollegen in die Schranken.Ab 2025 sollten nur noch Autos mit Strom- oder Was-serstoffantrieb neu zugelassen werden. Sorgen Sie end-lich auch für niedrigere Emissionen durch Dieselloks,Baumaschinen, Lkw- oder Schiffsverkehr. Wir braucheneine Novellierung der Bundesimmissionsschutzverord-nung, sodass Kommunen Durchfahrverbote in Umwelt-zonen erlassen können, um die Belastung der Luft mitStickoxiden zu senken. Legen Sie ein Nachrüstungspro-gramm zur Abgasreduzierung bei Taxis, Transporternund Bussen auf. Machen Sie mit der Ausweitung desE-Carsharing ernst; da gibt es viele Möglichkeiten. För-dern Sie Elektromobilität und Lastenfahrräder im inner-städtischen Logistikverkehr. Legen Sie ein zeitlich befris-tetes Marktanreizprogramm für Elektronahverkehrsbusseund Elektroautos auf. Zur Finanzierung könnte man zumBeispiel an der Beendigung der Steuerprivilegierung fürDiesel ansetzen. Damit wäre einiges Geld vorhanden, daswir für diese Maßnahmen nutzen können.Ein zentraler Punkt für uns ist, dass wir jetzt nicht nurauf die Autohersteller blicken und sagen: Es gibt eini-ge wenige schwarze Schafe. – Vielmehr müssen wir dasSystem insgesamt in den Blick nehmen. Wir müssenüberlegen: Wie können wir die Stickoxid- und Feinstaub-belastung aufgrund der Mobilität gerade in unseren Städ-ten in den Griff bekommen? Auf den Verkehrsministerzu warten und auf ihn zu vertrauen, ist offensichtlichhoffnungslos. Deswegen setzen wir unser Vertrauen imMoment eher in Sie, Frau Hendricks, und in dieses Par-lament.Wir zeigen der Regierung deutlich die Schranken aufund sagen: Wir haben eine Verantwortung für die Ge-sundheit der Menschen in unserem Land. Wir haben einegroße Verantwortung für die Luft.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Marie-Luise
Dött von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Vorschläge zur Weiterentwicklung der Fünfunddrei-ßigsten Verordnung zur Durchführung des Bundes-Im-missionsschutzgesetzes haben in den letzten Tagen fürerhebliche Diskussionen gesorgt. Deshalb ist es erforder-lich, sich noch einmal mit den Hintergründen zu befas-sen. Ziel ist die Verbesserung der Luftqualität vor allemin den Ballungsräumen und Großstädten.Wir haben in den vergangenen Jahren insbesonderedie Feinstaubbelastung in den Städten im Fokus gehabt.Genau darauf zielte die grüne Plakette. An vielen Ortenist die Feinstaubbelastung durch den Straßenverkehrnach Einführung der Umweltzonen zurückgegangen. Esgibt aber ein weiteres Problem. Wir haben in den Städtenauch erhebliche Stickoxidbelastungen, und zwar vor al-lem an stark befahrenen Straßen.2015 waren die Stickoxidwerte an 60 Prozent der Luft-messstellen an den durch Verkehrsemissionen belastetenStraßen in den Ballungsräumen zu hoch. Stickstoffdioxidist gesundheitsschädlich, weil es die Atemwege reizt undzu Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen kann. DieserAspekt wird von den bisherigen Feinstaubplaketten nichthinreichend berücksichtigt. Es besteht also Handlungs-bedarf, und den sieht auch die Europäische Kommission.Gegen Deutschland läuft ein Vertragsverletzungsver-fahren. Deshalb ist es richtig, das Problem anzugehen,und deshalb war es auch richtig, das Thema auf der Son-dersitzung der Umweltministerkonferenz auf die Tages-ordnung zu setzen. Worüber ich mich allerdings wundere,meine Damen und Herren, ist die Tatsache, wie schnellman sich auf ein Instrument, nämlich auf die Einfüh-Peter Meiwald
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rung der blauen Plakette einigen konnte, wie schnell dasGremium sicher war, dass man mit der Weiterentwick-lung der 35. BImSchV das richtige Instrument gefundenhat. Ich bin der Auffassung, dass die FünfunddreißigsteVerordnung zur Durchführung des Bundes-Immissions-schutzgesetzes zwar ein mögliches Instrument ist, aberdie Einführung der grünen Plakette hat auch gezeigt, dassdie am Ende daraus resultierenden Fahrverbote für be-stimmte Fahrzeuge zu erheblichen Belastungen für dieBürger und die Wirtschaft führen. Genau an dieser Stellehätte ich mir gewünscht, dass man mit diesem Instrumentvorsichtiger umgeht, statt die Bürger mit der Ankündi-gung der Einführung einer blauen Plakette, also der An-drohung neuer Fahrverbotszonen, zu überraschen.
Viele Besitzer von Dieselfahrzeugen, von denen sichso mancher für den Diesel entschieden hat, weil er kli-maverträglicher ist als ein Benziner, erfahren über diePresse am Wochenende, dass ihr Auto künftig nur nocheingeschränkt nutzbar ist.
Wie viele Handwerksmeister und Mittelständler habenam Wochenende überlegt, wie sie mit ihrem Fuhrparkkünftig in die Innenstädte zu ihren Kunden kommen sol-len? Und wie viele Bürgerinnen und Bürger haben über-legt, wie sie mit ihrem Euro-5-Diesel künftig die Kindertransportieren, den Einkauf bewältigen oder nur zu ihrerWohnung in der Innenstadt gelangen sollen? Mit solchenpolitischen Überraschungseffekten bekommen wir fürdie erforderlichen Reduzierungen der Schadstoffbelas-tungen keine Unterstützung.
Ich sage das nicht nur der Bundesumweltministerin,sondern auch den Länderumweltministern, von denen dieInitiative auf der Sondersitzung der Umweltministerkon-ferenz des Bundes und der Länder in der vergangenenWoche ausging. Es ist ja richtig, dass die Bundesumwelt-ministerin den Auftrag aus der Umweltministerkonferenzzumindest wohlwollend prüfen muss. Und dass sich dasBMUB der Problematik bewusst ist, kann man an denAusführungen des Umweltministeriums zu den Kernfra-gen ablesen: Da informiert das Ministerium auf seinerWebsite darüber, dass der Zeitpunkt der Einführung derPlakette noch nicht feststeht, dass das Bundesumweltmi-nisterium mit den Ländern und den anderen Ressorts dieAusgestaltung genau prüfen wird, dass nur Dieselfahr-zeuge mit hohem Stickoxidausstoß betroffen sein werdenund dass es Ausnahmeregelungen geben soll, um sozialeHärten zu vermeiden. Da lese ich also ein deutliches Pro-blembewusstsein heraus.Meine Damen und Herren, wichtiger als über neueFahrverbotszonen für die Bürger nachzudenken, ist es,sich anzuschauen, worüber auf der Sondersitzung derUmweltministerkonferenz noch diskutiert wurde. Daging es nämlich um die Manipulationsvorwürfe bei Die-sel-Pkws, die illegalen Abschalteeinrichtungen in Fahr-zeugen, um die Überwachung der Immissionen und umneue europäische Abgaskontrollen. Hier liegen für michdie Handlungsschwerpunkte der Politik. Hier muss esschnell vorangehen – mit härteren Kontrollen und mitmehr Ehrlichkeit
statt mit neuen Fahrverboten. Der erste Adressat, wenn esum Fortschritte bei der Luftreinhaltung und beim Klima-schutz geht, sind die Hersteller, nicht der Bürger und derHandwerker, die sich auf hohe Immissionsstandards beiihren Euro-5-Dieseln verlassen haben.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als nächster Redner spricht Ralph
Lenkert von der Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnenund Kollegen! Abgastests unter realen Bedingungen desVerkehrs wurden jahrelang verhindert. Die Bundesre-gierung hat durch Mittelkürzungen die Möglichkeitendes Kraftfahrt-Bundesamtes zu eigenen Fahrzeug- undAbgastests eingeschränkt und sich auf die Angaben derAutomobilhersteller verlassen und letztendlich sogar dieTestverfahren nach deren Wünschen verändert.Drei Jahre lang arbeitete ich in der Entwicklungsab-teilung eines Zulieferers für die Automobilindustrie undweitere zweieinhalb Jahre als Qualitätsmanager in einemZulieferwerk. Die Autohersteller kennen ganz genau dieBelastungen ihrer Fahrzeuge. Sie wissen, wie Pkws inStädten und auf dem Land in Europa oder den USA üb-licherweise genutzt werden und wie sie sich verhalten.Wenn Bundesregierung, EU-Kommission und Herstel-ler das gewollt hätten, gäbe es seit Jahren Abgastests imrealen Fahrbetrieb. Jetzt gibt es den Abgasskandal, undes wird klar, warum trotz Umweltzonen, trotz Euro-4-und Euro-5-Normen zu hohe Stickoxid- und zu hoheFeinstaubbelastungen in unseren Innenstädten auftreten.Die Bürgerinnen und Bürger haben das Grundrechtauf körperliche Unversehrtheit und ein Anrecht aufMobilität. Die Bundesregierung steht nun vor einemselbstverschuldeten Dilemma. Ignoriert sie die Gesund-heitsgefahren für die Bevölkerung, oder schränkt sie dieMobilität von über 13 Millionen Nutzerinnen und Nut-zern von Diesel-Pkws ein?Die aktuelle Debatte zur blauen Umweltplakette undzur Euro-6-Norm sehen wir kritisch. Diesel-Pkws, diedie Euro-6-Norm im Teststand erfüllen, erfüllen im Re-albetrieb nicht einmal die Euro-5-Norm. Wieso sollendie Fahrerinnen und Fahrer von Benzin- und Gasfahr-zeugen eigentlich mitbestraft werden, und wieso sollendie 13 Millionen Fahrerinnen und Fahrer älterer Diesel-fahrzeuge mit der Aussperrung aus Umweltzonen für denBetrug durch die Autolobby bestraft werden? Die LinkeMarie-Luise Dött
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lehnt es ab, die Betrugsopfer mit Mobilitätseinschrän-kungen zu bestrafen.
Wir fordern eine Kompensation durch die Verursacher.Mobilität ermöglichen jedoch nicht nur Pkws. DieLinke setzt sich seit Jahren für einen besseren öffentli-chen Personenverkehr ein. Der derzeitige Vorschlag derBundesregierung zu den Regionalisierungsmitteln imBahnverkehr bedeutet eine Kürzung dieser Mittel fürdie Ostländer. Für meine Heimat Thüringen bedeutetdas, dass bis 2030 über 500 Millionen Euro weniger fürden Schienenverkehr, für Regionalbahn- und Regional-expresszüge, zur Verfügung stehen. Das bedeutet: DieMenschen müssen zwangsläufig zusätzlich ein Auto nut-zen.Deshalb bringt die Linksfraktion heute einen Antragzur Erhöhung der Regionalisierungsmittel auf 8,5 Milli-arden Euro ein.
Mit dieser Summe kann es in Ballungszentren mehrSchienenverkehr geben und das Angebot in der Fläche,insbesondere in Ostdeutschland, erhalten bleiben. Pend-ler könnten weiterhin öfter Züge als Pkws nutzen, wasdie Stickoxid- und Feinstaubbelastung reduziert. DieBundesregierung könnte somit eine Teilwiedergutma-chung für ihr Versagen bei der Kontrolle der Autoindus-trie leisten.Außerdem muss das Kraftfahrt-Bundesamt wieder indie Lage versetzt werden, realitätsnahe Abgastests selbstdurchzuführen; denn bevor eine Plakette für eine Euro-6-Norm verbindlich eingeführt wird, braucht es reale Ab-gasmessungen.Die Automobilhersteller müssen Verantwortung fürihre falschen Angaben übernehmen und die Folgen ihresHandelns kompensieren. Klar ist: Eine eventuelle Nach-rüstung der Dieselflotte dauert Jahre und ist vielleichtgar nicht möglich. So lange will die Linke nicht warten.Deshalb müssen Automobilhersteller über andere Maß-nahmen an der Einhaltung der Grenzwerte für Feinstaubund Stickoxide in unseren Städten mitwirken. Eine Vari-ante wäre, dass die Autohersteller zur Kompensation dieElektrifizierung von Bahnstrecken übernehmen. In Jenakönnte beispielsweise durch die Elektrifizierung der Mit-te-Deutschland-Verbindung sowohl die Feinstaub- alsauch die Stickoxidbelastung deutlich reduziert werden.Eine weitere Möglichkeit wäre, die Autohersteller zumUnterhalt, zum Bau und zur Pflege von Grünanlagenin Städten zu verpflichten. Dies würde den betroffenenMenschen vor Ort zugutekommen. Diese und weitereKompensationsauflagen müssen gelten, bis alle Fahrzeu-ge die Norm, und zwar im Realbetrieb, einhalten.Liebe Koalitionäre, entwickeln wir gemeinsam un-konventionelle Lösungen, um Gesundheitsschutz undMobilität zu sichern und die Produktverantwortung auchfür Automobilfirmen endlich durchzusetzen.
Vielen Dank. – Die Bundesministerin Dr. Hendrickshat jetzt das Wort für die Bundesregierung.
Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Inrund 60 Gebieten in Deutschland – das entspricht übri-gens auch etwa 60 Prozent der innerstädtischen Mess-stellen – wurde zwischen 2010 und 2013 der zugelasseneJahresmittelgrenzwert an Stickstoffdioxid deutlich über-schritten. Als Hauptursache für die schlechte Luftqualitätin diesen Gebieten gelten die Abgase aus Dieselfahrzeu-gen. In der vergangenen Woche hat sich die Umweltmi-nisterkonferenz auf einer Sondersitzung – Frau KolleginDött hat es bereits erwähnt – mit diesem Thema befasst.Dort wurde zum einen über die Abgasmanipulationsvor-würfe gesprochen, aber auch darüber, wie die schädli-chen Emissionen im Straßenverkehr verringert werdenkönnen. Die Umweltminister aus allen 16 Bundesländernwaren sich völlig einig, dass die Situation in diesen Ge-bieten verbessert werden muss, und zwar nicht nur auszwingenden rechtlichen Gründen, sondern auch – dasbitte ich alle Autofreunde unter uns zur Kenntnis zu neh-men –, weil Stickstoffdioxid eine sehr ernstzunehmendeGefahr für die Gesundheit der dort lebenden Menschendarstellt.
In der Tat, Frau Dött, die Umweltminister haben auchandere Alternativen erwogen. Denn im Vertragsverlet-zungsverfahren, das die EU im vergangenen Sommergegen uns eröffnet hat, sind mehrere Möglichkeiten auf-gezeigt. Aber, Kollege Meiwald, auch das grün regierteBaden-Württemberg hat sich zum Beispiel gegen eineAbschaffung der Dieselsteuerprivilegien ausgesprochen.Das hat dort kein Einvernehmen, aber auch keine Mehr-heit gefunden.
Verständigt hat man sich aber darauf, mir sozusagen zuempfehlen, die blaue Plakette jetzt einzuführen. Das willich in dem Zusammenhang sagen.Weil das so ist, weil die Gesundheit tatsächlich be-einträchtigt wird, hilft es nicht, sich einerseits gegen alledenkbaren möglichen Einschnitte auszusprechen, umsich bei den Autofahrern zu profilieren, und sich dann ananderer Stelle über Gesundheitsgefahren durch schlechteLuftqualität zu beschweren. Ich danke Ihnen sehr dafür,Frau Dött, dass Sie meine abgewogenen Äußerungen aufder Homepage meines Hauses gelesen haben.
Es hat ja am Wochenende Skandalisierungen gegeben, andenen mehrere beteiligt waren, um es einmal vorsichtigauszudrücken.Ralph Lenkert
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, im vergangenenJahr wurde der Grenzwert an mehr als der Hälfte derverkehrsnahen Messstellen in Innenstädten immer nochüberschritten. Das muss jeden alarmieren, der sich mitden gesundheitlichen Auswirkungen befasst hat. DieEU-Kommission hat ja, wie ich eben schon sagte, einVertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland ein-geleitet. Das muss uns mindestens genauso alarmieren,abgesehen davon, dass wir selbstverständlich verpflichtetsind, diese Verträge zu erfüllen.Trotz strengerer Abgasnormen haben auch neue Die-sel-Pkw immer noch deutlich höhere reale Emissionenals Benzin-Pkw. Übrigens haben wir im Mai des vergan-genen Jahres, Herr Kollege Lenkert, mit dafür gesorgt,dass die Richtlinie zum Messverfahren zu den Real Dri-ving Emissions auf der europäischen Ebene endlich aufden Weg gebracht wird. Der technische Ausschuss hatsich dann erst nach den VW-Ereignissen, um es einmalso zu sagen, im zweiten Schritt mit der Emissionsbegren-zung befasst, aber die Richtlinie ist voriges Jahr im Maiauf den Weg gebracht worden. In Verbindung mit demsteigenden Anteil an Diesel-Pkw führen die hohen Re-alemissionen dazu, dass die Belastungen in den Innen-städten nach wie vor deutlich zu hoch sind. Das müssenwir ganz offenbar ändern. Welche Maßnahmen wir dazuergreifen, wird sich zeigen; aber wir müssen es auf jedenFall ändern.Der Gesundheitsschutz sollte übrigens auch bei denAutomobilherstellern oberste Maxime sein. Sie müssendie Dieselfahrzeuge so schnell wie möglich wirklich sau-ber auf die Straße bringen.
Nur auf diese Weise kann auch das Vertrauen der Kundenin die Dieseltechnologie schrittweise zurückgewonnenwerden. Daran liegt mir sehr, dass das Vertrauen zurück-gewonnen wird.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die neuen Regelun-gen auf EU-Ebene und die zukünftigen Messungen aufder Straße haben wir ja maßgeblich von Deutschlandaus forciert. Wir setzen uns außerdem dafür ein, dass dieverbesserten Fahrzeuge erheblich früher auf den Marktkommen als bisher vorgesehen. Wir wissen aber auch,dass es ohne weitere Maßnahmen immer wieder zu ört-lichen Überschreitungen des Grenzwertes kommen wird.Die Umweltministerkonferenz hat daher eingefordert,dass die Manipulationsvorwürfe umfassend aufgeklärtwerden und sichergestellt wird, dass Manipulationen inZukunft nicht mehr auftreten können, dass alle betrof-fenen Fahrzeuge ohne Kosten und Nachteile für die Au-tobesitzer vorschriftenkonform nachgebessert werden,dass die EU-Abgasvorschriften wasserdicht ausgestaltetwerden
und die Nichteinhaltung der Vorschriften entsprechendsanktioniert wird.
All diesen Vorschlägen kann ich mich sehr wohl an-schließen.In diesem Zusammenhang – Herr Lenkert, Sie habendem Kollegen Dobrindt Untätigkeit vorgeworfen; warenSie es, oder war es Herr Meiwald? –
– Sie waren es, Herr Meiwald; ich bitte um Entschuldi-gung –:
Am Wochenende hat mich der Kollege Dobrindt ja nichtso lieb behandelt. Aber ich stehe nicht an, zu sagen: Er isttatenlos geblieben. In relativ überschaubarer Zeit wird erdie Ergebnisse seiner Arbeit vorlegen können.
– Nein, ich verstehe das sehr wohl.Der Herr Staatssekretär hat auf der Sondersitzung derUmweltministerkonferenz berichtet. Er hat einen sehrausführlichen mündlichen Bericht abgegeben, der bishernicht schriftlich vorliegt. Ich finde, er hat zu Recht da-rauf hingewiesen, dass eine NGO wie zum Beispiel dieDeutsche Umwelthilfe durchaus Gutachten und Messer-gebnisse veröffentlichen kann – was auch immer –, dassaber, wenn der Staat das tut, diese wirklich wasserdichtsein und auch der Überprüfung durch Verwaltungsge-richte standhalten müssen.
Deswegen habe ich Verständnis dafür, dass die Sorgfaltin diesem Zusammenhang vorgeht. – Jetzt habe ich beimKollegen Dobrindt aber einen gut, oder? Das müsste ei-gentlich so sein.
Auch durch Elektromobilität kann die Qualität unse-rer Luft spürbar verbessert werden. Abgesehen davonist natürlich auch ein gut ausgebauter ÖPNV dabei sehrhilfreich. Die Umweltminister haben die Bundesregie-rung außerdem gebeten, die Kennzeichnungsverordnungso fortzuschreiben, dass neben Benzin- und Elektro-fahrzeugen mittelfristig und stufenweise nur noch Die-selfahrzeugen mit niedrigen Emissionen die Einfahrt inbelastete Gebiete erlaubt wird. Dieses Anliegen wird vonmir durchaus unterstützt. Denn irgendeine der denkbarenMaßnahmen werden wir wohl ergreifen müssen. Das istimmer nur ein Hilfskonstrukt. Besser wäre es natürlich,wir hätten gleich saubere Autos; das ist ja klar.Darüber, wie die Kennzeichnung von Fahrzeugen mitgeringerem Schadstoffausstoß am Ende aussehen könnte,ist natürlich noch zu diskutieren. Es gibt also wirklichBundesministerin Dr. Barbara Hendricks
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keinen Anlass zur Panik. Leider hat es hierzu eine völ-lig unnötige und völlig übertriebene Darstellung in ei-nigen Medien gegeben, insbesondere was die Zahl derpotenziell betroffenen Fahrzeuge angeht. Die betroffenenGebiete werden sicher nicht die Größe der heutigen Um-weltzonen haben. Eine neue Umweltplakette ist nämlichnur für kleinräumige, besonders stark befahrene Gebietegedacht. An diesen Straßen leben meistens Menschen,die sich die teuren Wohnlagen nicht leisten können. Auchdas bitte ich unter sozialen Gesichtspunkten mit ins Augezu fassen.
Das Ob und das Wann werden dann später vor Ortentschieden, genauso wie die Übergangsphasen mit Aus-nahmeregelungen für Anwohner und Gewerbetreibende.Denn natürlich wollen die Umweltminister der Länder –ich selbstverständlich auch – soziale und wirtschaftlicheHärten vermeiden. Ich persönlich habe übrigens genugVertrauen in die Kommunen, dass sie hier mit Augenmaßvorgehen werden. Es geht ja darum, den Kommunen eineRechtsgrundlage an die Hand zu geben, mit der sie einsolches Verfahren sicher einleiten können. Die Kommu-nen, die für sich keine andere Möglichkeit sehen, als dasProblem über Fahrbeschränkungen in besonders belas-teten Gebieten zu lösen, benötigen eine solche Rechts-grundlage. Wir müssen sie ihnen zur Verfügung stellen.Andernfalls würden wir auch gar keine Chance haben,das EU-Vertragsverletzungsverfahren abzuwenden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich werde mich in-nerhalb der Bundesregierung für eine vernünftige undsachgerechte Regelung einsetzen, die der einstimmigenAufforderung seitens der Länder folgt und neben allenanderen Interessen auch die Gesundheit der Bürgerinnenund Bürger mit im Blick behält.Liebe Mitglieder der Fraktion der Grünen, da Siemich – so das Thema der Aktuellen Stunde – nach derHaltung der Bundesregierung gefragt haben: Selbstver-ständlich ist der Gesundheitsschutz der Bevölkerung einAnliegen der gesamten Bundesregierung. Ich bin mir si-cher, dass alle Mitglieder dieses Hohen Hauses das eben-so uneingeschränkt unterstützen.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Carsten Müller
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Einemoderne, umweltbewusste Mobilitätspolitik kann nichtalleine auf Verbote und Einschränkungen setzen. Hierbrauchen wir deutlich mehr, und die Unionsfraktionmacht dafür gute Vorschläge.
Es ist hilfreich, im Rahmen dieser Aktuellen Stundeauch noch einmal einen Blick darauf zu werfen, wo wirherkommen und wo wir heute stehen.Der Ausstoß an schädlichen Stickoxiden ist in denvergangenen Jahren erheblich reduziert worden. Wir ha-ben hier enorme Fortschritte erreicht. Die Stickstoffoxid-emissionen sind von 1990 bis 2013 um 56 Prozent zu-rückgeführt worden. Das entspricht einem Volumen von1,6 Millionen Tonnen.
Den maßgeblichen Anteil an dieser drastischen Reduzie-rung hat der Verkehrsbereich mit einem Minus von fast1 Million Tonnen geliefert – und das im Übrigen trotznicht unerheblich gestiegener Verkehrsleistungen.Trotzdem ist eines klar: Die Stickstoffoxidemissionenmüssen weiterhin abgesenkt werden. Dafür ist nach un-serer und nach meiner Auffassung das Aussperren vonDiesel-Pkws aus den Innenstädten allerdings nicht hilf-reich. Ich halte einen solchen Bann für unsozial. Das istheute interessanterweise auch einmal in einem Beitragder Linksfraktion angeklungen. Er schränkt die Mobilitätein und verursacht einen nicht unerheblichen finanziel-len Schaden für Handwerksfirmen, Mittelständler – mei-ne Kollegin Marie-Luise Dött hat darauf richtigerweiseschon hingewiesen – und sozial schwächer gestellte Pri-vathaushalte.
Mich stört an der Zielrichtung des am Wochenendezur Diskussion gestellten Vorschlages vor allen Dingeneines, nämlich die Unklarheit, die damit bewirkt wordenist. Es ist eben leider nicht ganz konkret gesagt worden,was eigentlich intendiert ist und wie es erreicht werdensoll.Bei aller grundsätzlichen Zustimmung will ich inso-fern auch etwas Kritik an Ihnen, Frau Bundesumweltmi-nisterin, üben. Ich finde, die Ausführungen auf der Inter-netseite Ihres Hauses sind hier nicht hilfreich. Auf dieFrage, für welche Fahrzeuge es in Zukunft Beschränkun-gen geben soll, wird dort wortwörtlich ausgeführt – ichzitiere –:Das steht noch nicht endgültig fest. Das Bundesum-weltministerium wird das mit den Ländern und denanderen Ressorts genau prüfen. Betroffen sein wer-den Dieselfahrzeuge mit hohem Stickoxidausstoß.Es wird Ausnahmeregelungen geben, um sozialeHärten zu vermeiden.
Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks
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Das ist zwar in der Sache richtig, aber eines ist dochvollkommen klar: Wenn man eine solch unklare Positionschriftlich niederlegt, dann führt das genau zu den Reak-tionen, die wir am vergangenen Wochenende in der Öf-fentlichkeit erlebt haben.
Das war vorhersehbar, und deswegen halte ich das fürverkehrt. Das ist der sachlichen Diskussion im Übrigenauch sehr abträglich.
Meine Damen und Herren, wir dürfen eines nicht voll-kommen aus dem Blick verlieren: Wir reden hier überdie Mobilität von rund 13 Millionen Fahrern eines Die-selfahrzeugs, und es ist durchaus nicht auszuschließen,dass auch 3 Millionen Fahrer etwas älterer Fahrzeuge miteinem Ottomotor ebenfalls betroffen sein werden. Des-wegen ist diese öffentliche Diskussion, wie gesagt, nichtvollkommen überraschend.
Ich fand im Übrigen die Einlassung der FraktionBündnis 90/Die Grünen ganz interessant. Die KolleginHaßelmann – ich kann sie gerade nicht sehen – hat am12. April 2016 eine interessante Pressemitteilung dazuverbreitet. Das Bemerkenswerte an dieser Pressemittei-lung ist Folgendes: Abweichend von allen bisherigenRedebeiträgen taucht ein Begriff in dieser Pressemittei-lung überhaupt nicht auf, nämlich der Begriff „Gesund-heitsschutz“. Diesen lesen Sie in dieser Pressemitteilungnicht. Es geht vielmehr um ein weiteres Skandalisierender Vorgänge bei VW. Dafür verwenden Sie im Grundegenommen die gesamte Pressemitteilung.
Ich halte das auch insofern für nicht geboten, weil ei-nes vollkommen unbestritten ist: Die Aufklärungsarbeit,die die Bundesregierung leistet, ist besonders zu loben.
Sie aber verunsichern mit einer solchen Stellungnahmevor allen Dingen die 620 000 Beschäftigten bei Volkswa-gen und die vielen Hunderttausend Beschäftigten bei denZulieferunternehmen. Ich glaube, man kann heute sagen,dass Volkswagen die Lektion gelernt hat.
Insofern braucht es einer solchen Diffamierung nicht.Meine Damen und Herren, wir sagen: Finger weg vondieser nicht ausgegorenen Idee einer Plakette.
Wir sagen auch, dass es andere Bereiche gibt, denen wiruns eher zuwenden sollten. Die Kollegin Nissen, diemich so ambitioniert anschaut, und ich haben das Themavon in Bezug auf Emissionen vollkommen unreguliertenNebenaggregaten bei Kühlfahrzeugen diskutiert; darübersind wir uns im Übrigen einig. Ein solches Aggregat hatden fast zweihundertfachen Stickoxidausstoß, den einmoderner Diesel-Pkw hat. Ich glaube, es lohnt sich, auchdort einmal anzusetzen.
Das sind unsere Vorschläge.In aller Kürze zusammengefasst:Erstens. Eine moderne und umweltbewusste Mobili-tätspolitik darf sich eben nicht nur auf Verbote und Ein-schränkungen beziehen. Wir wollen die Bürgerinnen undBürger nicht verunsichern.Zweitens. Wir müssen einen klugen und diskriminie-rungsfreien Ansatz wählen.Drittens. Eins ist vollkommen klar: Transparenz beiPrüfwerten nachhalten, ambitionierte, aber erreichbareEmissionsvorgaben, intelligente Verkehrssteuerung, einattraktiver öffentlicher Personennahverkehr sowie dasFordern und Fördern von emissionsarmen Fahrzeugensind der richtige Weg. Den wollen wir als Unionsfraktionbeschreiten.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat der Kollege
Lutze von der Fraktion Die Linke das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir sind uns sicherlich darin einig, dass Feinstaub undStickoxide für die Gesundheit von uns Menschen allesandere als förderlich sind, im Gegenteil. Aber manch-mal zeigt allein schon die Verwendung eines Begriffswie Feinstaub, dass das Problem und die Brisanz eherverharmlosend wahrgenommen werden. In der gesell-schaftlichen Wahrnehmung gelten nämlich die Gefahrenvon Feinstaub oftmals als klein, weil darin eben das Wort„fein“ steckt. Dabei sind Feinstaub und vor allen Dingenzunehmend auch die Stickoxide für die Menschen le-bensgefährlich. Daher ist alles zu unternehmen, dass dieKonzentrationen, gerade in den Innenstädten, wo vieleMenschen leben, deutlich gesenkt werden.
Carsten Müller
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Wenn man sich heute zum Beispiel eine Schachtel Zi-garetten kauft, dann weiß man in der Regel, was man sei-nem Körper mit dem Rauchen antut. Man muss nur aufdie Schachtel gucken. Wenn man aber, ohne zu rauchen,durch eine Innenstadt läuft, kann man nur erahnen, wasdanach in der eigenen Lunge passiert. Das ist für mei-ne Begriffe ein unmöglicher Zustand, weil beide Sachenfast gleich gefährlich sind.Doch was passiert in der verkehrspolitischen Realität?Während die Autos, glaubt man der Automobilindustrie,immer sauberer werden, nimmt die Stickoxidkonzen-tration in vielen Städten eher zu. Vielerorts werden diegesetzlichen Grenzwerte dauerhaft und deutlich über-schritten, teilweise sogar um ein Vielfaches. Um diesesProblem zu lösen, helfen uns keine neuen Plaketten, Um-weltzonen oder halbherzige Fahrverbote. Wir brauchenvielmehr ein Umdenken in der Verkehrspolitik.
Drei Punkte: Erstens. Mobilität kann für meine Be-griffe nicht bedeuten, dass ich mit meinem Auto jeder-zeit überall hinfahren kann. Aber nicht Fahrverbote sindletztendlich zielführend, sondern ein attraktives Angebotim ÖPNV. Solange Busse und Bahnen von vielen Men-schen als zu teuer wahrgenommen werden, bleiben dieseleider Gottes nun einmal hinter ihrem eigenen Lenkradsitzen. Um den ÖPNV flexibel und flächendeckend zugestalten, muss der Bund endlich mehr Geld in die Handnehmen. Die Umweltminister der Länder haben auf ihrerKonferenz zum Thema „Automobile Abgasemission mi-nimieren“ deutlich gemacht, dass hier der Bund gefragtist.
Aber auch eine Politik der kurzen Wege ist wichtig.Eine Politik, die kurze Wege und regionale Wirtschafts-kreisläufe fördert, kann helfen, Verkehr zu vermeidenund damit die Umweltbilanz zu verbessern. All das pas-siert leider Gottes in der Großen Koalition derzeit nicht.Zweitens. Wir brauchen eine echte Förderung der so-genannten E-Mobilität im Pkw-Bereich. Da helfen unskeine Kaufprämien für vollkommen überteuerte E-Au-tos. Da müssen schärfere Gesetze und klarere Regeln her.Ein kleines Beispiel für ein kleines Segment: Wasspricht denn dagegen, dass man ab 2017 keine Taxis neuzulässt, die noch einen Dieselmotor haben, oder ab 2019überhaupt keine Taxis mehr neu zulässt, die noch einenVerbrennungsmotor haben?Ich gebe Ihnen Brief und Siegel: Der Marktführer imTaxiautomobilebereich, Mercedes Benz, braucht keine14 Tage, um ein marktfähiges Auto auf die Straße zu stel-len. Wenn wir das aber nicht machen, werden wir nochzehn Jahre darauf warten, bis diese Firma tatsächlichElektroautomobile herstellt, die konkurrenzfähig sindund als Taxi genutzt werden können.Drittens. Die Dieselsubventionen. Dass Dieselabgasedeutlich gefährlicher sind als die von anderen Verbren-nungsmotoren, hat sich herausgestellt und ist unstrittig.Trotzdem ist die Energiesteuer – früher Mineralölsteu-er – für Dieselfahrzeuge circa 17 Cent pro Liter niedrigerals für Benzin.Warum nutzen wir nicht die Chance der derzeitigniedrigen Kraftstoffpreise und gleichen die Steuersätzean? Um eines ganz deutlich zu sagen: Damit es zu keinerzusätzlichen Belastung der Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer kommt, die täglich auf ihr Auto angewiesensind und noch einen Diesel haben, kann man problemlosin einem zweiten Schritt den Kfz-Steuersatz für Diesel-fahrzeuge auf den für Benzinautos senken.
– Dieser Vorschlag ist auch bei der Linken nicht ganzunumstritten.Ich glaube, dass solch ein Schritt dazu führen würde,dass viele Menschen, die sich ein neues Auto kaufen,ernsthaft darüber nachdenken, ob es tatsächlich ein Die-sel sein muss oder ob man nicht auch auf eine andereAntriebsart setzen kann.Mein Fazit ist: Ich denke schon, dass wir im Bundes-tag das Problem erkannt haben. Da muss man schon blindsein, sollte man behaupten, dass das nicht der Fall ist.Zudem besteht Einigkeit darüber, dass gehandelt werdenmuss. Damit sich aber die Luft in unseren Innenstädtentatsächlich deutlich verbessert, ist Handeln gefragt. DieOppositionsparteien haben Vorschläge hierzu gemacht.Jetzt muss auch die Regierung handeln.Ein herzliches Glückauf! Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als nächste Rednerin spricht die Kol-
legin Ulli Nissen von der SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Wir besprechen in der heutigen AktuellenStunde das wichtige Thema der gesundheitsgefährdendenAbgasbelastung in vielen deutschen Städten. Ich bin derMinisterin Barbara Hendricks und der Umweltminister-konferenz dankbar, dass sie sich auf ihrer Sonderkonfe-renz dem Thema „Automobile Abgasemission minimie-ren, Luftreinhaltepolitik konsequent weiterentwickeln,Verantwortung für den Gesundheitsschutz ernst nehmen“gewidmet haben. Das Thema Gesundheitsschutz hat fürmich eine ganz hohe Priorität.Wir sprechen hier nicht zum ersten Mal über das Pro-blem der Luftverschmutzung in unseren Städten. DasThema ist seit „Dieselgate“ immer mehr in den Fokusgerückt. Die Abgasmanipulationen hatten zur Folge, dassdie Grenzwerte zwar im Test, aber nicht in der Realitäteingehalten werden. Das bedeutet, dass die Schadstoff-belastung natürlich höher ist.An zwei Drittel aller verkehrsnahen Messstationenwurde 2015 der EU-Grenzwert von Stickstoffdioxid vonThomas Lutze
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40 Mikrogramm pro Kubikmeter überschritten. Bundes-weit liegt Stuttgart bei NOX mit 87 Mikrogramm an derSpitze. Aber auch in der Friedberger Landstraße, mittenin meinem Frankfurter Landkreis, lagen die Werte mit53 Mikrogramm deutlich über den Grenzwerten.
In vielen Städten gab es Feinstaubalarm, in diesem Jahrsogar schon mehrfach in Stuttgart. Wegen der Über-schreitung der Grenzwerte läuft auch ein Vertragsverlet-zungsverfahren der EU gegen Deutschland.Grenzwerte gibt es nicht aus Spaß, sondern aus einemwichtigen Grund. Grenzwerte gibt es, weil deren Über-schreitung eine extreme Belastung für die Gesundheit ist.Traurige Wahrheit ist auch, dass es mehr Tote durch Ver-kehrsabgase als durch Verkehrsunfälle gibt. Die EU gehtdavon aus, dass jedes Jahr mehr als 10 000 Menschen inDeutschland vorzeitig an den Folgen von NOX-Konzen-trationen in der Atemluft sterben. Mehr als 10 000 Men-schen werden also schmerzlich vermisst von ihren Ange-hörigen und Freunden. Auch denen gegenüber haben wireine Verantwortung, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wir wissen, dass nicht nur die Dieselfahrzeuge für dieEmissionen verantwortlich sind, aber diese verursachendie meisten NOX-Emissionen. Will man die Emissionensenken, muss man auch an die Hauptverursacher gehen.Das heißt, wir brauchen schnellstmöglich saubere Fahr-zeuge.Was können wir tun? Die Sonder-Umweltministerkon-ferenz hat eine Reihe von Vorschlägen formuliert. Sie hatunter anderem vorgeschlagen, dass Manipulationen auf-geklärt werden sollen, dass Vorschriften auf EU-Ebenewasserdicht verfasst und dann auch eingehalten werdensollen, dass Sanktionen ausgesprochen werden sollen,wenn das nicht passiert. Außerdem sollen die Herstellerin die Pflicht genommen werden. Sie müssen die Kostenfür die Kontrollen übernehmen.Ich glaube, hierüber müssen wir nicht diskutieren. Dasunterstützen sicherlich alle. Klar ist: Wir müssen handeln.Die Fahrzeuge und die Städte müssen sauberer werden.Zunächst sehe ich ganz klar die Automobilindustrie,also die Hersteller, in der Pflicht. Dies sehe ich aber nichtals Belastung, sondern als Herausforderung und als gro-ße Chance, die unsere großartige deutsche Automobilin-dustrie sicherlich hervorragend bewältigen wird. Denneine emissionsarme oder sogar emissionsfreie Mobilitätist die Zukunft. Das sollten wir alle inzwischen begriffenhaben und es als große Chance sehen, welche internatio-nale Vorreiterrolle wir hier einnehmen können.Wir brauchen emissionsarme Technologien. Das kön-nen alternative Kraftstoffe oder Antriebe wie bei derE-Mobilität sein. Ich versuche meinen Teil zur Luftrein-heit beizutragen. Ich bin auch im Winter, gut warm ange-zogen, meist mit meinen Elektrofahrzeugen – dem Rolleroder dem Twizy – unterwegs.Wir müssen sicherlich weitere Schadstoffquellen iden-tifizieren und auch dort ansetzen. Baumaschinen, Busseund andere Nutzfahrzeuge sollten wir ebenfalls betrach-ten. Ich hatte Kontakt zu einem Hersteller – Herr Müller,ich glaube, Sie hatten auch Kontakt zu ihm –, der emis-sionsfreie Kühlanlagen für Kühltransporte entwickelt.Auch Busse fahren teilweise schon mit emissionsfreienKlimaanlagen. Das sind zwar alles nur kleine Schritte,aber daran müssen wir arbeiten. Solche Technologienmüssen wir unterstützen, damit sie weiterentwickelt wer-den können.
Wir brauchen aber auch neue, kluge Verkehrskonzep-te mit weniger Autos in den Städten. Das geht aber nurmit einem besseren ÖPNV. Wollen wir weiter jahrzehn-telang Autoschlangen, die morgens in die Ballungsräumehi neinkriechen und abends wieder hinaus? Wollen wirInnenstädte, in denen in Stoßzeiten jeder Fahrradfahrerschneller ist als die Autofahrer, die im Stau stehen? Ist daseine moderne, innovative, nachhaltige und umweltfreund-liche Verkehrspolitik? Sind das die Städte der Zukunft?Nein, wir brauchen insgesamt weniger Autos in denStädten. Wir brauchen nicht nur weniger Dieselfahrzeu-ge, sondern allgemein einen besseren, verlässlicherenÖPNV. Wenn der ÖPNV gut funktioniert, lassen vie-le Menschen gerne ihre Autos stehen. Hier müssen wirmehr Geld in die Hand nehmen. Hier sollten die Kommu-nen auch die nötige Unterstützung bekommen, um das zuleisten. Denn wir müssen etwas tun. Es gibt viele Stellen,an denen wir ansetzen können, damit Mobilität moder-ner, innovativer und vor allem auch umweltfreundlicherwird. Das ist unser aller Aufgabe.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat der Kollege
Oliver Krischer von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich glaube, man muss noch einmal klar sagen, worüberwir gerade reden: Es geht um 10 000 Menschen jährlichin Deutschland, die vorzeitig sterben, weil wir zu hoheEmissionen im Verkehrssektor haben. Ich finde, jede Bun-desregierung und jeder Minister dieser Bundesregierungmüsste alles Notwendige tun, damit diese Zahl zurück-geht. Das ist die Herausforderung, vor der wir stehen. Da-rum müssen wir uns kümmern, aber dazu kann ich bishervonseiten dieser Bundesregierung nur sehr, sehr wenigfeststellen. Das muss einmal klar gesagt werden.
Herr Müller, Sie haben eben gesagt, die Stickoxid-emissionen in Deutschland seien seit 1990 gesunken. Ja,Ulli Nissen
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sie sind gesunken, aber nur auf dem Papier. In der Reali-tät sind sie gestiegen, weil die Fahrzeuge diese Werte nurauf dem Rollenprüfstand einhalten. Aber wenn sie drau-ßen auf den Straßen in den Innenstädten fahren, steigendie Emissionen. Genau das ist das Problem. Dass Sie dasimmer noch nicht kapiert haben und weiter das Märchenvom sauberen Diesel erzählen, zeigt, dass immer nochnicht bei Ihnen angekommen ist, wo das Problem liegt.
Ich sage an der Stelle: Das Problem, dass wir in dendeutschen Städten diese hohe Stickoxidbelastung ha-ben, verantwortet Alexander Dobrindt. Denn er hätte alsVerkehrsminister in der Vergangenheit jede Möglichkeitgehabt, auf die Hinweise einzugehen, sie zu überprüfenund Veränderungen vorzunehmen. Das hat er aber nichtgetan, meine Damen und Herren. Damit trägt er die poli-tische Verantwortung dafür, was dort passiert.
Frau Hendricks, ich hatte, ehrlich gesagt, vor, Sie zuloben.
Ich finde es gut, dass Sie die 16 Umweltministerinnenund Umweltminister der Länder – übrigens parteiüber-greifend; darunter sind auch zwei von der CDU, und esgibt sogar eine CSU-Umweltministerin; ich dachte, inBayern haben die so etwas gar nicht –
unterstützt haben, weil nämlich in dem zuständigen Res-sort der Bundesregierung nicht gehandelt wird. Das warin Ordnung. Jetzt sagen Sie: Herr Dobrindt macht schonseine Arbeit. – Meine Damen und Herren, wir müsstennicht über eine blaue Plakette reden, würde Herr Dobrindtseine Arbeit machen. Das ist die Wahrheit.
Dass Sie sich jetzt vor ihn stellen, lässt mich daran zwei-feln, dass Sie tatsächlich ernsthaft handeln wollen. Ichfrage mich, ob das wieder nur eine Shownummer ist:Man hat zwar etwas gefordert, aber am Ende setzt sichder Kabinettskollege in der Verkehrspolitik durch. Dasdarf nicht sein. Es muss an dieser Stelle endlich voran-gehen.
Ich finde es gut, dass die Umweltminister 32 Punk-te beschlossen haben. Einer davon ist die blaue Plaket-te. Angesichts der Pöbeleien von Herrn Dobrindt, dermeint, das sei mobilitätsfeindlich und es gehe hier umeine soziale Frage, bekommt man ein Déjà-vu. Die glei-chen Debatten haben wir geführt beim Katalysator, beimRußfilter und bei der grünen Plakette. Am Ende wurdealles eingeführt, weil es notwendig war. Das hat Erfolgebei der Bekämpfung des Feinstaubs gebracht. Deshalbwerden wir nun auch an dieser Stelle Druck machen. Esgeht doch nicht darum, die Autos aus den Städten zu ver-bannen, sondern darum – das sagt auch die CSU-Minis-terin aus Bayern, Herr Kollege Straubinger –, dass dieKommunen endlich ein Instrument in die Hand bekom-men, mit dem sie handeln können, wenn die Grenzwerteüberschritten werden; das ist der entscheidende Punkt.Das macht Sinn. Wenn Herr Dobrindt seinen Job machenwürde, erledigte sich das Problem von alleine. Dannbrauchen wir gar keine blaue Plakette.
Wie wenig Herr Dobrindt seinen Job macht, möchteich anhand eines aktuellen Beispiels aufzeigen. Die Au-tomobilunternehmen in Deutschland sagen ganz offen:Unter 10 Grad Außentemperatur wird die Abgasreini-gungseinrichtung in Dieselfahrzeugen ganz oder teil-weise abgeregelt. Wir haben in Deutschland eine Durch-schnittstemperatur von 10 Grad. Das heißt, sechs Monateim Jahr funktionieren die Abgasreinigungseinrichtungennicht. Wir haben den Wissenschaftlichen Dienst desBundestages beauftragt, das rechtlich zu bewerten. DerDienst sagt glasklar: Das ist mit EU-Recht nicht verein-bar; das ist illegal. – Nun habe ich Herrn Dobrindt undsein Ministerium gefragt, was die Bundesregierung tutund welche Aktivitäten entfaltet werden. Die Antwort,die mir gestern gegeben wurde, lautete, man habe sichdamit noch nicht befasst und müsse sich das nun erst ein-mal anschauen. Frau Hendricks, wenn Sie sich ein sol-ches Verhalten zu eigen machen, dann verlieren Sie jedeGlaubwürdigkeit bei diesem Thema.
Der Kollege Dobrindt will nicht aufklären, sondern dieProbleme aussitzen. Da erwarte ich von Ihnen, dass SieIhre Rolle als Umweltministerin ernst nehmen und nichtnur in der Öffentlichkeit sagen, dass wir etwas tun müs-sen, sondern sich endlich auch mit Ihren Umweltminis-terkollegen in den Ländern gegen den Herrn Bundesver-kehrsminister durchsetzen. Das ist die Herausforderung.
Ich komme zu meiner Schlussbemerkung. Wir brau-chen neben Aufklärung und Transparenz endlich nach-haltige Mobilität. Wir brauchen eine Verkehrspolitik,die Umweltprobleme und Klimaschutz berücksichtigt.Wir brauchen mehr Elektromobilität. Wir brauchen neueTechnologien und den ÖPNV. Heute Morgen haben wirüber den Flugverkehr diskutiert. Aber egal worüber wirdiskutieren, das Verkehrsministerium reagiert nicht ent-sprechend. Es geht ausschließlich in die falsche Rich-tung. Das ist eine falsche Politik. Ich habe inzwischendie Hoffnung aufgegeben, dass der Mut noch einmal Ein-zug in dieses Verkehrsministerium hält. Frau Hendricks,ich würde mich freuen, wenn Sie sich durchsetzten. Abernach Ihrem heutigen Redebeitrag bin ich noch skepti-scher geworden.Danke schön.
Oliver Krischer
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Vielen Dank. – Als nächster Redner hat der Kollege
Karsten Möring von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ichmir die Rede von Herrn Krischer vor Augen führe, dannstelle ich fest: Er arbeitet sich wieder einmal an seinemLieblingsfeind, dem Bundesverkehrsminister, ab. Aberwir sprechen nun über ein umweltpolitisches Problem.
– Das dürfen Sie. Wenn das für Ihre seelische Hygienenotwendig ist, dann bitte schön. Er wird das aushaltenkönnen.
– Wenn Sie zwei zur Auswahl haben, dann haben Sie esja gut. Wenn es nicht mehr sind, dann sind wir auch zu-frieden, Herr Hofreiter.Es geht um die umweltpolitischen Fragen im Zu-sammenhang mit den Abgasproblemen im Verkehr. Ichmöchte eines vorausschicken: Ich hätte mir nicht vorstel-len können, dass ich einmal – und sei es nur partiell – mitder Fraktion Die Linke bzw. einem Teil der Fraktion DieLinke – in diesem Fall muss ich Herrn Lenkert nennen –übereinstimme.
Denn es geht tatsächlich darum, die Schadstoffwerte zusenken. Es geht aber nicht darum, die Autofahrer, die imVertrauen auf die Rahmenbedingungen, die wir als öf-fentliche Hand bei der Besteuerung von Diesel gesetzlichgesetzt haben – wir haben diese Rahmenbedingungennicht ohne Grund gesetzt –, bestimmte Autos gekauft,ihre Mobilität entsprechend ausgerichtet und darauf ihrPendlerverhalten abgestimmt haben, zum Beispiel durcheine Steuererhöhung zu bestrafen, Herr Lutze. Was ma-chen Sie denn, wenn die Preise wieder einmal steigen?Das ist doch keine Lösung.Warum haben wir denn Diesel auf diese Weise be-günstigt? Doch deswegen, weil er andere Vorteile bietet.Wir schauen jetzt auf die Nachteile, was NOX angeht,haben aber aus dem Blick verloren, dass die geringerenVerbrauche, die CO2-Emissionen, bei Diesel eben aufder Vorteilsseite stehen. Nun hindert uns niemand daran,täglich klüger zu werden. Aber wenn wir das über Jahrehinweg so praktiziert haben, dann können wir das nichtvon einem Tag auf den anderen ändern. Wir können auchkeinem Pendler sagen: Du bekommst keine blaue Plaket-te und darfst deshalb genau in den Bereich der Stadt nichtfahren, in dem dein Arbeitsplatz liegt, aber die 50 Kilo-meter bis zur Stadt darfst du fahren; dann musst du um-steigen.Erhöhung der Regionalisierungsmittel hin oder her,ÖPNV-Verbesserungen hin oder her, beides finde ichrichtig, für beides trete auch ich ein, nur: Das löst un-ser Problem nicht. Was löst unser Problem? Wir müssenuns auf eine ganze Reihe von Maßnahmen verständigen.Die Umweltministerkonferenz – Herr Krischer, Sie ha-ben es eben gesagt – hat 32 Maßnahmen genannt. Einedavon ist die blaue Plakette. Ich meine, das ist nicht dieerste Wahl. Es geht sicher darum, technische Fortschrittein der Automobilerzeugung, in der Filtertechnik und alldiesen Dingen zu machen, um das Problem in den Griffzu bekommen. Es gibt aber darüber hinaus Dinge, die dieKommunen machen können.Ich will einen kurzen Ausflug in meine HeimatstadtKöln machen. Auch wir haben das Problem mit der Um-weltzone. Wir haben das Problem mit dem Feinstaubgehabt, wir haben das Problem mit Stickoxid, und wirhaben Hotspots wie manche andere Städte auch. An ei-nem dieser Hotspots wird eine intelligente Lösung aus-probiert, nämlich eine umweltsensitive Ampelanlage, dieden Verkehrsstrom in Abhängigkeit von der Schadstoffsi-tuation steuert; denn ein entscheidender Punkt beim Ver-kehr in der Stadt ist doch, dass die wesentlich höherenEmissionen bei stehenden Fahrzeugen im Leerlauf redu-ziert werden müssen.Das heißt also: Ein wesentlicher Punkt ist, dass wir denVerkehr verflüssigen. Das machen wir mit vielen kleinenMaßnahmen. Eine Abbiegespur, die einen Rückstau ent-schärft, bringt schon eine ganze Menge, daneben brau-chen wir eine konstruktive und kreative Straßenplanungund Ampelplanung in der Kommune.Ich nenne noch ein Zweites. Liebe Kolleginnen undKollegen von den Grünen, ich weiß nicht, warum Sienicht darauf gekommen sind: mehr Grün in die Stadt,nicht mehr Grüne in die Stadt.
– Okay, in Grenzen. In Köln haben wir beides. Wir ar-beiten dort auch mit den Grünen seit einiger Zeit sehr gutzusammen.Mehr Grün in die Stadt heißt zum Beispiel: Eine aus-gewachsene Buche hat 15 000 Quadratmeter Blattober-fläche und filtert so viele Schadstoffe aus der Luft, wieein Pkw mit 20 000 Kilometer Fahrleistung in einem Jahrerzeugt. Köln hat 76 000 Straßenbäume; wir haben keinFeinstaubproblem, nicht nur wegen der Straßenbäume,aber auch deswegen.
– Konrad Adenauer hat das schon vor hundert Jahren indie Wege geleitet und richtig gesagt: Grün in der Stadterhöht den Lebenswert.Wo man keine Straßenbäume pflanzen kann, kannman Dachbegrünung und Fassadenbegrünung in Angriffnehmen. Mehr Grün in die Stadt – das ist ein wesentli-
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cher Punkt. Das geht schneller als alle anderen mögli-chen Maßnahmen.
– Natürlich, aber alle Maßnahmen außer einem Fahr-verbot brauchen eine gewisse Zeit, auch technische Ent-wicklungen.Wenn sich ein Problem über eine bestimmte Zeit auf-baut, brauchen wir in der Regel genauso viel Zeit, um eswieder abzubauen. An dieses Problem gehen wir heran,und zwar mit Kreativität. Die erwarten wir von den Fahr-zeugherstellern, und die erwarten wir von den Planernauf der kommunalen Ebene. Das ist der Schlüssel zur Lö-sung. Wenn wir über andere Quellen reden wie Bauma-schinen und mobile Geräte – da hat die EU-Kommissionjetzt gerade etwas auf den Weg gebracht –, dann könnenwir auch außerhalb des Verkehrs die Quellen erfassen,die einen wesentlichen Beitrag leisten.Mein Appell heißt: Mehr Kreativität. Dann kommenwir ein ganzes Stück voran in dieser Frage.
Vielen Dank. – Bevor als nächster Redner Arno Klare
von der SPD-Fraktion das Wort ergreift, möchte ich aus
gegebenem Anlass die Redner bitten, die Redezeit wirk-
lich einzuhalten.
– Arno Klare, das wird Ihnen gelingen; genau. – Bitte.
Frau Präsidentin, ich werde mich an die Redezeit hal-ten, die jetzt gerade zu laufen angefangen hat.Wir müssen uns einmal die Fakten anschauen. Esgibt 514 Messstationen in der Bundesrepublik Deutsch-land. Sie stehen natürlich an verkehrlichen und Emissi-ons-Hotspots; so ist die Verteilung. An 73 Prozent dieserMessstationen wurde im letzten Jahr – das kann manbeim Umweltbundesamt nachlesen; die Statistik kannman sich über die Exceltabelle und Auswertungsfilter an-zeigen lassen – der Grenzwert unterschritten. In 27 Pro-zent wurde der Grenzwert von 40 Mikrogramm NOX imJahresdurchschnitt überschritten.67 Prozent – ein bisschen viele Zahlen, ich weiß; aberab und zu muss es mal sein – der NOX-Belastung resul-tieren aus dem Verkehr. Wenn das so ist, dann muss mansich klarmachen: 33 Prozent kommen nicht aus dem Ver-kehr, sondern aus anderen Quellen. Auch die muss manbetrachten. Also: Es ist nicht nur der Minister für Verkehrzuständig – er ist schon für einen großen Teil zuständig –,es sind auch noch andere zuständig.
71 Prozent von diesen 67 Prozent resultieren aus demPkw-Verkehr und nur ein kleinerer Teil, 22 Prozent, ausden Nutzfahrzeugen. Die Busse im öffentlichen Verkehr
sind relativ vernachlässigbar; ihr Anteil liegt nämlich beinur 5 Prozent. Gleichwohl gibt es relativ viele, die sichdarüber Gedanken machen. Die gerade schon erwähnteStadt Köln zum Beispiel – da bin ich vor einiger Zeitgewesen – hat Elektrobusse eingeführt, um genau aufden hauptbelasteten Strecken Entlastung zu schaffen –zusätzlich zu den vielen Buchen und anderen Bäumen,die da stehen.
– Hamburg hat Wasserstoffbusse. – In Hannover – da binich jetzt auch gewesen; Barbara Hendricks war ebenfallsda – sind auch Elektrobusse eingeführt worden. Das istein Weg, den man gehen muss.Kirsten Lühmann, die den Zwischenruf gemacht hat,hat mir gerade ein Buch geschenkt, das von Wasserstoffhandelt, von der Wasserstofftechnologie der Zukunft. Aufeiner Seite ist ein wunderschönes Bild: ein Ortsschild,das besagt: Man muss von „Kurzfristig“ nach „Nachhal-tig“ kommen. – Das ist der Punkt. Deshalb habe ich gera-de davon geredet, dass die Einführung von Elektrobussenein Schritt ist, der gegangen werden muss; viele andereSchritte sind auch schon genannt worden.Ich bin nicht so weit, obwohl ich mich ein bisschenmit Quantenphysik auskenne, dass ich weiß, dass Mess-verfahren Zustände verändern können. Ich glaube nicht,dass wir durch Messen oder durch RDE und all das dieNOX-Belastung reduzieren werden.
Wer das glaubt, liegt wahrscheinlich völlig falsch. Wirmüssen sie real reduzieren. Reale Reduktion tritt nur ein,wenn man ein ganzes Bündel von Maßnahmen ergreift,das am Ende auch Wirkung erzeugt; vieles von dem istgerade schon genannt worden.Die Ministerin hat dankenswerterweise darauf hin-gewiesen, dass auch der öffentliche Verkehr gefördertwerden muss. Wir tun das; denn wir haben die Regiona-lisierungsmittel von 7,3 Milliarden Euro auf 8 MilliardenEuro hochgefahren. Wir haben die Dynamisierungsquoteauf 1,8 Prozent hochgefahren. All das ist Realität. DieForderung, auf 8,5 Milliarden Euro zu gehen, ist nichtganz unvernünftig. Wir haben die Mittel jedenfalls hoch-gefahren. Wir haben auch die Mittel zur Verbesserungder H2-Infrastruktur hochgefahren; das ist für die Zu-kunft wichtig. Wir werden in dieser Legislaturperiodedie Gewährung des Steuervorteils für Gasfahrzeuge ver-längern, über das Datum in 2018 hinaus. Auch das ist einwichtiger Beitrag. Wir werden so etwas wie Incentives,Anreize, für den Einstieg in die E-Mobilität setzen.
Karsten Möring
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Das ist nicht nur etwas für reiche Leute. Wir müssen die-sen Markt öffnen. Die Niederlande machen es vor. DieNiederlande, ein Nachbarland von Nordrhein-Westfa-len – deshalb kenne ich mich da ganz gut aus –, habenmehr E-Fahrzeuge auf den Straßen als wir in Deutsch-land, und die Niederlande sind nur ungefähr so groß wieNordrhein-Westfalen.Wir brauchen natürlich auch integrierte regionaleMobilitätskonzepte, die die Umsteigemöglichkeiten zwi-schen den einzelnen Mobilitätsformen verbessern, damites für die Bürger leichter wird. Deswegen werden wirin dieser Legislaturperiode in allernächster Zukunft auchein Carsharing-Gesetz vorlegen, das sicherstellt, dass dasrechtssicher in die Mobilitätskonzepte der Kommunenintegrierbar ist.
– Ich kann Ihnen in einem Privatissimum gern einmal diejuristischen Probleme erklären, die es dabei gibt.Ich bin durchaus der Meinung, dass wir dort auf demrichtigen Weg sind.Das Thema „intelligente Verkehrssteuerung“ ist gera-de schon angeklungen. Auch da müssen wir einen weite-ren Schritt nach vorn tun. Sie wird ebenfalls aus Mittelnder Bundesregierung gefördert und auch bei den For-schungsinstituten vorangetrieben. Ich bin relativ sicher:Wenn wir alle diese Maßnahmen zusammennehmen,werden wir sozusagen die Kurzfristigkeit verlassen undauf Nachhaltigkeit zusteuern können.Danke.
Das war auf den Punkt genau in der Zeit.
Ich bedanke mich bei dem Kollegen, dass er das wirk-
lich auf den Punkt genau hingekriegt hat
– und inhaltlich dann noch viele Aussagen getroffen hat,
kein Widerspruch. Ganz herzlichen Dank.
Der Kollege Artur Auernhammer von der CDU/
CSU-Fraktion hat das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Die Aufregung umdiese blaue Plakette war am Wochenende so groß, dasssich gleich die Sitzbezüge des Plenarsaals so tief in blaugefärbt haben, dass man regelrecht geblendet ist von die-sem Blau.
Ich weiß nicht, ob das die Aufregung eigentlich wert war.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die aktuelleIdee, noch 2016 eine blaue Plakette einzuführen, ist nichtganz ausgegoren und für mich eine sehr kurzfristige Lö-sung.
– Ich sage es Ihnen noch, Frau Nissen, was Bayern füreine Meinung hat. Ist vielleicht interessant für Sie.
Eine blaue Plakette kann bestenfalls nur Symptomebekämpfen, nützt aber der Natur nicht. Ich glaube, PeterMeiwald war es, der die Feinstaubdiskussion hier ange-zettelt hat. Gerade die Diskussion um Feinstaub und diedaraus entstandene Gesetzgebung, die wir hier beschlos-sen haben, hat dazu geführt, dass im Jahre 2015 – wir sindja alle Freunde regenerativer Energieformen und derglei-chen – die Zahl der neu angeschlossenen Biomassehei-zungen um 30 Prozent zurückgegangen ist. Gleichzeitigist die Zahl neuer Ölheizungen um 30 Prozent gestiegen.
Jetzt stellt sich die Frage: Ist das im Sinne von Klima-schutz? Ist das in unserem Sinne? Insofern bitte ich, hiermit dem nötigen Sachverstand, mit der nötigen Ruhe andiese Diskussion heranzugehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, KollegeMöring hat bereits den Themenkomplex „Mehr Grünin die Stadt“ richtigerweise angesprochen. Wir hatten jagestern Abend auf Einladung der Frau Ministerin die Ge-legenheit, zu sehen, welche guten Projekte auch hier inBerlin beim Thema „Grün in der Stadt“ realisiert werden.Mehr Grün hilft dem Naturschutz in der Stadt – ich beto-ne: grüne Pflanzen und nicht grüne Politiker.
– Ja, wir denken schon etwas weiter, was die Farbe Grünanbelangt.
– Herr Kollege, das diskutieren wir später aus.Meine sehr verehrten Damen und Herren, was wir inerster Linie brauchen, sind innovative Technologien, dieArno Klare
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auch marktfähig sind. Wir haben sehr viele gute Ansätzeim städtischen Verkehr, sei es beim öffentlichen Perso-nennahverkehr – hier gibt es verschiedene Antriebs-formen und dergleichen – oder natürlich beim ThemaElektromobilität. Elektromobilität ist eine Mobilität derZukunft. Nur aktuell sieht das noch anders aus: Wennich mir ein Elektroauto kaufe und bei mir in der Regi-on im Wahlkreis unterwegs bin, komme ich vielleicht zumeinem Termin hin, aber nicht mehr nach Hause. Wirbrauchen hier endlich ein vernünftiges Netz an Ladestati-onen, und wir brauchen hier noch eine wesentlich bessereTechnologie, die die Reichweite dieser Pkws wesentlicherweitert. Hier muss noch sehr viel Innovation hineinge-steckt werden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wirjetzt durch die Einführung einer blauen Plakette dazukommen, dass, wie es uns mancher Automobilklub vor-gerechnet hat, bis zu 13 Millionen Pkws in Deutschlandnicht mehr in die Regionen dieser blauen Plakette hin-einfahren können, dann müssen wir uns auch überlegen:Wer kann sich das in Zukunft leisten? Das sind in ersterLinie die Besserverdiener, die sich neben dem Zweitau-to noch ein drittes Auto, ein Elektroauto, leisten können.Deshalb: Langfristig bessere Voraussetzungen für dieE-Mobilität schaffen, und langfristig wirtschaftlichereVoraussetzungen schaffen! Das kann nicht durch eineEinmalzahlung von ein paar Tausend Euro geschehen.Das muss durch die Rahmenbedingungen geschehen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, innerhalbder Städte finden Sie auch sehr viele andere Verbren-nungsmotoren, zum Beispiel in Baumaschinen. WennSie sehen wollen, wie innovativ und fortschrittlich unse-re deutsche Baumaschinenwirtschaft ist, gehen Sie nachMünchen und besuchen dort die bauma. Dort werdensehr viele emissionsarme Projekte vorgestellt. Das ist,glaube ich, beispielgebend.Deshalb hat auch unsere bayerische Umweltministe-rin – Frau Nissen, ich bin bei der bayerischen Umwelt-ministerin; ich bitte um Gehör –
gesagt, dass die blaue Plakette kurzfristig keine Lösungsein kann. Es muss mittel- und langfristig gedacht wer-den. Deshalb finde ich es vor allem wichtig, dass wir –Umweltministerium und Verkehrsministerium – mitei-nander diskutieren. Dann, glaube ich, finden wir aucheine vernünftige Lösung.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Als nächster Redner spricht Detlev
Pilger von der SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es wurde vielfach beschrieben: Wir stehen vor einerHerausforderung in unserem Land, die uns alle betrifft.Die Abgaswerte in der Luft sind derart hoch, dass unsereGesundheit und – das muss man auch betonen – die Ge-sundheit unserer Kinder – weil sie eben noch klein sind,trifft es sie besonders – gefährdet sind. Darum kann mannicht herumreden. Das, was wir heute tun, muss schlichtund ergreifend funktionieren. Man kann nicht warten, esmuss gehandelt werden. Und das tut unsere Bundesum-weltministerin Barbara Hendricks.
Für mich persönlich gibt es neben den zunächst kurz-fristigen Maßnahmen, die ergriffen werden müssen, da-mit die Abgaswerte gesenkt werden, noch die mittelfris-tige Lösung; die halte ich für fast noch wichtiger. Woherkommen denn die hohen Stickstoffdioxidwerte? Natür-lich von den Kraftwerken und den Feuerungsanlagen,aber auch zu einem großen Anteil aus dem Verkehr. DerVerkehr hat uns in den letzten Monaten erhebliche Kopf-schmerzen bereitet. Das wurde durch einen verheerendenAbgasskandal und natürlich auch durch das Mahnverfah-ren der EU ausgelöst. Die Abgasrichtwerte, die Mess-verfahren, die Machenschaften der Automobilindustriestehen plötzlich und endlich im Fokus.„Dieselgate“ hat uns einige schwerwiegende Proble-me in Bezug auf unsere Autoindustrie vor Augen ge-führt. So ist an jedem Negativen auch immer etwas Gu-tes, nämlich in diesem Fall, dass „Dieselgate“ uns dasProblem der Abgaswerte vor Augen geführt hat und dieElektromobilität hierdurch einen neuen Auftrieb erfahrenhat. Endlich kommt Bewegung in das Thema Elektro-mobilität. Denn wir dürfen uns nichts vormachen: DieTechnik der Verbrennungsmotoren gehört eigentlich zumGestern und zur Vergangenheit.
– Vielen Dank, Herr Krischer. Ich komme nachher aufSie zurück.Wir müssen eine Transformation schaffen; denn wennwir über CO2-Emissionen reden, können wir die Emis-sionen des Verkehrs nicht kleinreden, nur weil wir dasLand der Autobauer sind. Wir müssen neue Autos bauen,und zwar solche, die ausschließlich mit Strom betriebenwerden und ihren Strom wiederum ausschließlich aus re-generativen Quellen beziehen. Das ist unser Ziel, und daswollen wir erreichen.
Wir müssen uns fragen, wie wir diese Transformationschaffen können. Wir haben – die Umweltministerin hates zu Beginn der Regierungszeit betont – vor, bis 2020 1 Million solcher Fahrzeuge auf die Straßen zu bekom-men. Das ist ein sehr ambitioniertes Ziel; das wissenwir alle. Wir haben gegenwärtig lediglich 25 000 Fahr-zeuge auf den Straßen. Da sehen wir, was wir in dieserrelativ kurzen Zeit noch vor uns haben. Aber wir habenArtur Auernhammer
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heute die historische Chance, das anzugehen. Wir brau-chen Maßnahmen, um die Elektromobilität auszuweiten.Dazu gehört für mich eine sozialverträglich ausgestal-tete Kaufprämie. Wir müssen Anreize für die Bevölke-rung schaffen, damit sie sagt: Ja, wir kaufen ein solchesAuto. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies haben wirschon einmal erfolgreich praktiziert – in einem anderenZusammenhang –, nämlich mit der Abwrackprämie.
– Doch, Herr Krischer, es ist ein gutes Beispiel.
Damals handelte es sich um eine Talsohle der Wirtschaft,und wir konnten dadurch die Wirtschaft stabilisieren undunsere Arbeitsplätze sichern. Das ist ein gutes Beispiel!
Die Kaufprämie schafft, finde ich, vernünftige Anrei-ze. Das müssen wir hinkriegen. Ansonsten wird sich derMarkt nicht in diesem Bereich stabilisieren.Wir brauchen unbedingt eine vernünftige Ladeinfra-struktur. Wer von uns würde sich denn ein Auto kaufen,wenn er nicht die Gewissheit hätte, dass er sein Autonach einer überschaubaren Kilometerzahl wieder auf-laden könnte? Das würde natürlich niemand machen.Dazu, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird die Indus-trie allein nicht in der Lage sein. Was die Infrastrukturanbelangt, müssen wir helfen. Wir müssen über entspre-chende Finanzierungsmodelle nachdenken.Ich darf an dieser Stelle noch kurz einwerfen: Das giltnicht nur für die Infrastruktur von Automobilen, sondernauch für die von E-Bikes. Die Marktanteile von E-Bikesund elektrobetriebenen Rollern wachsen zunehmend.
Wir dürfen auch die Automobilindustrie nicht aus derPflicht entlassen. Da wird ein Tesla – ein tolles Auto, einSuperauto; ich durfte es fahren – produziert. Es befindetsich aber in einem Preissegment von 80 000 Euro. Damitkann der Markt nicht erschlossen werden.VW, BMW und Tesla bringen jetzt ein Mittelklassemo-dell in der Preisklasse zwischen 31 000 und 35 000 Euroauf den Markt. Das ist ein Einstieg, aber auch dieser Wa-gen ist noch nicht für jeden Geldbeutel erschwinglich.Die Autos müssen preiswerter werden. In diesem Fall istdie Automobilindustrie gefordert.An dieser Stelle darf ich auch einmal betonen: Ichkann die Meinung der Industrie zu diesem Punkt nichtnachvollziehen. Denn wenn wir die Bemühungen unse-rer Industrie um Elektromobilität nicht steigern könnten,bekämen wir international ein Problem. Wir würden ab-gehängt werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
China, Frankreich und die USA sind uns weit voraus.Frau Präsidentin, ich komme zum letzten Punkt. Ichmöchte noch eine Lanze für die Kommunen brechen. Diesind durchaus bereit. Ich habe mit Vertretern verschie-dener Kommunen gesprochen. Eine Kollegin sagte, dassin Hamburg in vorbildlicher Weise Wasserstoffbusse aufdie Straße gebracht werden. Das ist sehr zu loben. Es gibtaber – Entschuldigung! – viele unterfinanzierte Städte,die nicht in der Lage dazu sind, es aber gerne machenwürden. Ein solcher Bus ist in der Anschaffung doppeltso teuer wie ein normaler. Und es müssen immer nochein paar herkömmliche Busse vorgehalten werden, damitdie anderen aufgeladen werden können. Da brauchen dieKommunen Unterstützung. – Auch das hätte Vorbildcha-rakter für die Bevölkerung.Wir brauchen eine klare Haltung – so wie die Ministe-rin sie lebt. Sie lässt sich auch nicht vom Verkehrsminis-ter einschüchtern. Weiter so, damit die ElektromobilitätFahrt aufnimmt und die Städte und Gemeinden lebens-werter werden.Vielen Dank.
Als letzter Redner hat Oliver Wittke von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Diese Aktuelle Stunde ist der untaugliche Versuch vonBündnis 90/Die Grünen, ihren altbekannten Feldzug ge-gen das Automobil im Allgemeinen und gegen die Die-seltechnologie im Speziellen fortzusetzen.
Darum frage ich Sie, Herr Kollege Meiwald: Wie kom-men Sie eigentlich dazu, von einem Dieselskandal zusprechen? Es ist ein VW-Skandal, ja!
Wenn Sie aber von Dieselskandal reden, dann wollenSie doch den Eindruck erwecken, als sei hier eine ganzeTechnologie an den Pranger zu stellen. Am liebsten wol-len Sie die ganze Branche an den Pranger stellen.
Wir lassen Ihnen das nicht durchgehen, weil es irrefüh-rend ist. Das, was Sie machen, ist nicht ehrlich!
Im Übrigen, Herr Kollege Meiwald, wenn Sie vonSteuerprivilegierung bei Diesel sprechen, warum redenSie dann nicht von einer Steuerdiskriminierung von Die-selfahrzeugen? Sie wissen, dass die Dieselfahrzeuge hö-Detlev Pilger
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her als Fahrzeuge mit normalen Verbrennungsmotorenbesteuert werden. Darum wäre es nur fair,
wenn Sie mit ausgewogeneren Ausführungen vor dasHohe Haus treten bzw. versuchen würden, abzuwägenund das gesamte Spektrum darzustellen.
Genau das machen Sie aber nicht.Es gibt Gott sei Dank auch einige Grüne, die etwasdifferenzierter argumentieren. Ich will aus der Stuttgar-ter Zeitung vom 8. April dieses Jahres zitieren:Die baden-württembergische Landesregierung hatbei der Umweltministerkonferenz in Berlin dagegengekämpft, die Marktchancen für Fahrzeuge mit Die-selantrieb durch ein Drehen an der Steuerschraubezu verschlechtern. … Deshalb müssten im Gegen-satz zu dem Steuervorstoß die Dieseltechnologiegestärkt und die Kontrollen zur Überwachung derAbgaswerte verbessert werden.
Und ein Spitzenbeamter aus dem Hause von WinniHermann – einer seiner Abteilungsleiter – hat weiter er-klärt: „Wir brauchen den Diesel, schon um unsere Klima-schutzziele im Sektor Verkehr zu erreichen.“ Recht hatder Mann. Recht hat das baden-württembergische Ver-kehrsministerium.
Damit wir nicht nur über Baden-Württemberg reden,will ich Ihnen auch sagen, wie sich die hessische Um-weltministerin aktuell eingelassen hat. Ich zitiere aus derFrankfurter Rundschau vom 13. April 2016;da heißt es:Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit müsse abge-wartet werden, bis ihr Anteil– der Anteil der Euro-6-Diesel –wächst, heißt es aus dem Hause Hinz. „Ansons-ten käme die Einführung einem Dieselfahrverbotgleich.“Ja, natürlich ist es ein Dieselfahrverbot, wenn Sie diesofortige Einführung der blauen Plakette fordern, weil13 Millionen Fahrzeuge dann eben nicht mehr in Innen-stadtbereiche fahren dürfen.
Um es klar und deutlich zu sagen, Herr KollegeKrischer: Auch da sind Sie auf einem Holzweg. Natür-lich haben die Automobile in den vergangenen Jahrenmassiv dazu beigetragen, dass weniger Schadstoffe aus-gestoßen worden sind.
Ich will Ihnen die Zahlen vor Augen führen: Die Emissi-on von Partikeln wurde in den vergangenen 22 Jahren um97 Prozent vermindert.
Mit modernen Dieselsystemen lässt sich der Kraftstoff-verbrauch um über 20 Prozent gegenüber Ottomotorenreduzieren.
Die durchschnittlichen CO2-Emissionen von Pkw sindseit 1995 um 30 Prozent gesunken.
Seit der Einführung der Euro-3-Norm wurden dieNOX-Emissionen von Diesel-Pkw um 84 Prozent redu-ziert.
Der Dieselmotor liegt hier seit Einführung der Euro-6-Norm, also jetzt aktuell, mit dem Ottomotor annäherndgleichauf,
und das bei 25 Prozent weniger Verbrauch und 15 Pro-zent weniger CO2-Ausstoß. Eine Studie des Umweltbun-desamtes prognostiziert eine Verringerung des NOX-Aus-stoßes bis 2030 gegenüber 1990 um 90 Prozent. Dieumfassende Nutzung von modernen Dieselpartikelfilternwird dafür sorgen, dass selbst kleinste Partikel, also we-niger als 2,5 Mikrometer große Partikel, künftig ausgefil-tert werden. Das heißt, die Luft kommt sauberer aus demFahrzeug heraus, als sie angesogen wurde.
– Ja, aber natürlich ist das der Fall. Das können Sie nichtwegdiskutieren.
Es gibt allerdings einen anderen Bereich, in dem ichHandlungsbedarf sehe. Eine Studie der Bundesanstalt fürStraßenwesen hat nachgewiesen, dass eine Vielzahl vonOliver Wittke
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Katalysatoren, die nachgerüstet werden – Ersatzkataly-satoren –, nicht funktionstüchtig ist. Experten gehen da-von aus, dass über 1 Million Ersatzkatalysatoren, die imNachhinein eingebaut worden sind, ihre Arbeit nicht ver-richten. Wenn es uns gelänge, da nur das geltende Rechtanzuwenden,
also nicht eine neue Regelung einzuführen, sondern nurdafür zu sorgen, dass diese Katalysatoren, die nachgerüs-tet worden sind – die Billigkatalysatoren, die im Internetfür unter 100 Euro zu bestellen sind –, aus dem Verkehrgezogen werden, wenn es beispielsweise Abgaskontrol-len gäbe, die nachwiesen, dass diese Katalysatoren nichtfunktionieren,
dann würden wir einen wesentlichen Beitrag zur Entlas-tung unserer Innenstädte von Emissionen leisten, dannkönnten wir uns jede Debatte um eine blaue Plakette spa-ren.
Frau Präsidentin, wenn ich darf, sage ich noch dreiSätze. – Herr Krischer, Sie haben sich verwundert da-rüber gezeigt, dass es in Bayern ein Umweltministeriumgibt. Ich habe gerade einmal nachgegoogelt: Das bayeri-sche Umweltministerium wurde 1970 geschaffen, zehnJahre vor Gründung der Partei Die Grünen. Vielleichtliegt es daran, dass Sie in Bayern nichts zu melden haben.
Vielen Dank.
Ich beende die Aktuelle Stunde.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ein-stufung der Demokratischen VolksrepublikAlgerien, des Königreichs Marokko und derTunesischen Republik als sichere Herkunfts-staatenDrucksache 18/8039Überweisungsvorschlag: Innenausschuss
Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Gibt es dazuWiderspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das sobeschlossen.Ich möchte die Kolleginnen und Kollegen bitten, ihrePlätze einzunehmen und die Diskussionen draußen imFoyer fortzusetzen, aber nicht hier im Plenarsaal.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die Aus-sprache. Als erster Redner in dieser Debatte hat der Bun-desminister Dr. Thomas de Maizière für die Bundesre-gierung das Wort.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-nern:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Ich bringe heute für die Bun-desregierung den Gesetzentwurf ein, der die Staaten Tu-nesien, Marokko und Algerien als sichere Herkunftsstaa-ten bestimmen soll. Dieser Gesetzentwurf orientiert sichan drei Grundsätzen:Erstens. Jeder Mann und jede Frau bekommen inDeutschland ein faires Asylverfahren. „Faires Asylver-fahren“ heißt, dass jeder Antragsteller seine Situation ineiner persönlichen Anhörung vortragen kann, und dasheißt, dass diese Angaben sorgfältig geprüft werden.Auch Antragsteller aus sicheren Herkunftsstaaten erhal-ten, wie alle anderen, ein Asylrecht, wenn sie einen Asyl-grund geltend machen können. Daran soll und wird auchder vorliegende Gesetzentwurf nichts ändern. Dennoch:Die Einstufung als sicheres Herkunftsland wird Verände-rungen für Antragsteller aus diesen Ländern bringen. Wirführen eine gesetzliche Vermutung ein, dass Asylanträgeaus diesen Ländern unbegründet sind. Der Asylantragwird abgelehnt, wenn der Antragsteller nicht nachweisenkann, dass er über einen Asylgrund verfügt.Im letzten Jahr wurden etwa 26 000 Asylbewerber ausden drei Staaten in Deutschland registriert. Die Anerken-nungsquote für Tunesien lag bei 0,0 Prozent, für Alge-rien lag sie bei unter 1 Prozent, für Marokko bei etwa2,3 Prozent; im ersten Quartal 2016 lag die Quote sogarnur bei 1,2 Prozent. Wir zeichnen also per Gesetz eineEntwicklung nach, die längst Alltag ist. Asylanträge ausTunesien, Marokko und Algerien haben in der Regel kei-ne Aussicht auf Erfolg. Menschen aus diesen Ländernkommen ja auch überwiegend aus asylfremden Grün-den nach Deutschland: Sie wollen Arbeit, und sie wollenein besseres Leben. Leider kommen manche aus diesenStaaten nach Deutschland, um hier Straftaten zu bege-hen. Das Asylrecht ist aber nicht das richtige Instrument,um die vielen wirtschaftlichen und sozialen Problemein den Herkunftsländern aufzufangen. Asylrecht ist keinEinwanderungsrecht.
Der zweite Grundsatz. Jeder hat ein Interesse an ei-nem schnellen Asylverfahren, zumindest sollte jederInteresse an einem schnellen Asylverfahren haben. Wasmeine ich damit? Wir wollen nicht, dass bereits die Dau-er des Asylverfahrens einen Anreiz darstellt, hier einenOliver Wittke
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aussichtslosen Asylantrag zu stellen, weil man in dieserZeit untergebracht und versorgt wird, vielleicht besser alsim Herkunftsland. Das geht zulasten der Kommunen, dasgeht zulasten der öffentlichen Haushalte, und das gehtletztlich auch zulasten der schutzbedürftigen Asylantrag-steller, weil für sie weniger Kapazitäten zur Verfügungstehen.Die Einstufung der Maghreb-Staaten als sichere Her-kunftsstaaten erlaubt es den Behörden und Gerichten,schneller über Anträge aus diesen Ländern zu entschei-den.
Die Anträge können in den besonderen Aufnahmeein-richtungen zügig zum Abschluss gebracht werden. Diedem Ausländer zu setzende Ausreisefrist verkürzt sichauf eine Woche; das könnten Sie sonst nicht machen,Frau Kollegin Amtsberg. Auch eine Klage ist innerhalbeiner Woche zu erheben und hat keine aufschiebendeWirkung; das ist in den anderen Fällen anders. Das zu-ständige Verwaltungsgericht soll grundsätzlich innerhalbeiner Woche über den Antrag auf einstweiligen Rechts-schutz entscheiden, auch das ist in anderen Fällen anders.All das senkt den Anreiz, hier einen chancenlosen Asyl-antrag zu stellen. Und das ist auch Absicht des Gesetzes.Der dritte Grundsatz. Schnellere Asylverfahren sindwichtig, aber genauso wichtig ist, dass abgelehnte Asyl-bewerber, wenn kein sonstiger Duldungsgrund vorliegt,Deutschland schnell wieder verlassen und in ihre Län-der zurückkehren, freiwillig oder durch Abschiebung.Bislang verzögerten sich Abschiebungen nach Tunesien,Marokko oder Algerien auch, weil die Zusammenarbeitmit diesen Ländern bei der Identifizierung ihrer Staats-bürger und bei der Ausstellung von Reisedokumentenschwerfällig war.Ich bin vor einigen Wochen in Tunesien, Marokkound Algerien gewesen und habe dort Vereinbarungentreffen können, die die Rückführung aus Deutschlandin diese Länder erleichtern. Warum haben diese Länderdas gemacht? Diese Länder und diese Regierungen wol-len nicht, dass ihr guter Ruf und der gute Name derjeni-gen Bürgerinnen und Bürger, die zu Zehntausenden inDeutschland rechtstreu, als Steuerzahler, als Beitragszah-ler, als gute Nachbarn, leben, in Mitleidenschaft gezogenwerden durch eine kleine Zahl von Straftätern, die denNamen dieser Länder beschmutzen. Das wollen dieseLänder nicht. Deswegen sagen sie – gerne, ungerne –:Wir nehmen die Menschen zurück, wenn ihr Asylantragabgelehnt wird. – Und das ist richtig so.
Die Bundesregierung hat sich die Einstufung von Al-gerien, Marokko und Tunesien als sichere Herkunftsstaa-ten dennoch nicht leichtgemacht. Wir haben uns anhandder Rechtslage, der Rechtsanwendungen und der allge-meinen politischen Verhältnisse ein Gesamturteil überdie Verhältnisse in den jeweiligen Staaten gebildet. Inder Begründung dieses Gesetzentwurfs werden die Er-wägungen für jedes der drei Länder ausführlich darge-legt. Ich weiß natürlich aus den Besprechungen mit denMinisterpräsidenten der Länder, dass diese – und insbe-sondere einer – sehr viel Wert darauf legen, dass ihnenin der Begründung überzeugend dargelegt wird, wie diegesamtpolitische Einschätzung dieser Länder ist.Auch wenn Algerien, Marokko und Tunesien als si-chere Herkunftsstaaten eingestuft werden, so verschlie-ßen wir dennoch nicht die Augen vor bestehenden Defi-ziten, die es auch in diesen Staaten im Hinblick auf dieMenschenrechte gibt. Aber alles in allem kann man mitguten Gründen sagen, dass diese drei Staaten – wie vieleandere in der Welt auch – sichere Herkunftsstaaten sind.Sie selbst wollen es auch: Sie wollen als sichere Her-kunftsstaaten bestimmt werden.Aus all diesen Gründen bringe ich diesen Gesetzent-wurf ein und bitte um zügige Beratung und später dannauch um Zustimmung im Bundesrat.Auf eine konstruktive Beratung in diesem Haus!
Vielen Dank. – Als nächste Rednerin spricht Ulla
Jelpke von der Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrMinister, Sie haben eben wieder deutlich gemacht, wieSie Menschenrechtsverletzungen in den Maghreb-Staa-ten Algerien, Marokko und Tunesien bagatellisieren. Siehaben vor allen Dingen sehr deutlich gemacht, dass Men-schenrechtsverletzungen für die Bundesregierung bei derEinstufung von Ländern als sichere Herkunftsstaatenüberhaupt keine Rolle mehr spielen. Was nicht passt,wird passend gemacht. Ich finde, das ist eine Ungeheuer-lichkeit, wenn man weiß, welche Menschenrechtsverlet-zungen in diesen Ländern passieren.
Meine Damen und Herren, wir haben es eben gehört:Die Bundesregierung will die Maghreb-Staaten Algerien,Marokko, Tunesien als sichere Herkunftsstaaten bezeich-nen und als solche einstufen. Der Anteil von Flüchtlingenaus diesen Staaten ist im letzten Monat, im März, äußerstgering gewesen. Aus Algerien kamen zum Beispiel gera-de einmal 212 Personen. Aus Marokko kamen 225 Per-sonen, aus Tunesien kamen nur 43.Die Flüchtlinge aus diesen Ländern, die Schutz su-chen, dürfen hier nicht einem Schnellverfahren unterzo-gen werden. Schnellverfahren bedeutet, in Sonderlagerverbracht zu werden. Innerhalb von zwei Wochen mussdann über den Asylantrag entschieden werden, wobeieine verschärfte Residenzpflicht gilt. Das ist äußerst frag-würdig. Die Flüchtlinge haben so auch keinen richtigenRechtsschutz. Deswegen fordert die Linke nach wie vor:Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
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Alle Menschen haben ein Recht auf ein faires Asylver-fahren.
Der Minister hat eben etwas von einer Schutzquote er-zählt. Ich will dies richtigstellen: Die bereinigte Schutz-quote für Algerien lag im Jahr 2015 bei 5 Prozent. FürMarokko lag sie sogar bei 8 Prozent. Diese Zahlen bele-gen: Flüchtlinge haben hier Schutz verdient.Anfang März konnte ich mir selbst ein Bild von Ma-rokko machen. Es gibt dort drei große Tabuthemen: ers-tens die Staatsreligion, der Islam, zweitens die Monar-chie, drittens die Besatzung der Westsahara. Schon imPressekodex steht, dass man diese Themen nicht disku-tieren oder kritisieren darf. Wer das dennoch tut, bringtsich und seine Familie in Gefahr. Die Menschenrechtsor-ganisation Amnesty International beschreibt die Folgen.Ich zitiere:Schläge, schmerzhafte Positionen, Sauerstoffent-zug, simuliertes Ertränken, psychische und sexuelleGewalt: Dies sind nur einige der vielen Folterme-thoden, die marokkanische Sicherheitskräfte ein-setzen, um „Geständnisse“ zu erzwingen oder umAktivistinnen und Aktivisten und Andersdenkendezum Schweigen zu bringen.Seit über 40 Jahren hält Marokko die Westsahara völ-kerrechtswidrig besetzt. Als der UN-Generalsekretär imletzten Monat offen von Besatzung sprach, ließ der Königsogleich 80 UN-Mitarbeiter des Landes verweisen. – Soviel zu Meinungsfreiheit und Demokratie in Marokko.Mit der Einstufung als sicheres Herkunftsland ermu-tigt die Bundesregierung Marokko geradezu, das Völker-recht und die Menschenrechte weiter mit Füßen zu treten.Schlimmer noch: Für die Rücknahme abgelehnter Asyl-bewerber hat die Bundesregierung zugesagt, Marokkoden Rücken in Sachen Westsahara und bei vielen anderenDingen zu stärken. Nach dem Deal mit der Türkei mussman hier ganz klar von einem weiteren schmutzigen Dealsprechen.
Statt Fluchtursachen werden wieder einmal Flüchtlingebekämpft. Dafür steht die Linke ganz sicher nicht zurVerfügung.Vergessen wir nicht: In allen drei Maghreb-Staatenwerden Homosexuelle verfolgt, und die Frauenrech-te existieren dort gerade einmal auf dem Papier. WerFlüchtlinge dorthin zurückschickt, nimmt ihre Verfol-gung, Inhaftierung und Folterung billigend in Kauf.Vor der Einstufung eines Landes als sicher muss um-fassend anhand unabhängiger – ich betone: unabhängi-ger – Quellen geprüft werden, ob die Menschenrechteund die rechtsstaatlichen Prinzipien dort eingehaltenwerden. Das hat das Bundesverfassungsgericht 1996ganz klar vorgeschrieben. Doch diese höchstrichterlichenVorgaben werden von der Bundesregierung überhauptnicht eingehalten; sie werden sogar eiskalt ignoriert.Auch hier muss man sagen: Es ist ein Skandal, wie mitden Einschätzungen und vor allen Dingen mit der Kritikder unabhängigen Menschenrechtsorganisationen umge-gangen wird.
Zum Schluss will ich noch ganz kurz darauf eingehen,dass auch dieses Vorhaben – das gilt derzeit für viele Vor-haben im asylrechtlichen Bereich, mit denen Verschär-fungen und immer neue Regeln eingebracht werden – imSchweinsgalopp durch das Parlament gejagt wird. Erstgestern stand dieses Vorhaben auf der Tagesordnung desInnenausschusses. Es musste wieder heruntergenommenwerden, heute Abend haben wir aber eine Sondersitzung.Am übernächsten Montag findet die Anhörung statt, undder Gesetzentwurf wird schon in der nächsten Sitzungs-woche verabschiedet. Ich meine, so kann man ein parla-mentarisches Verfahren wirklich nicht durchführen. Da-mit werden die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtsauf keinen Fall eingehalten.Deshalb sagen wir ganz klar Nein zu einem Schnell-verfahren und auch Nein zu diesem Gesetzentwurf, mitdem die Maghreb-Staaten als sicher eingestuft werdensollen.Ich danke Ihnen.
Vielen Dank. – Als nächster Redner spricht Sebastian
Hartmann für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wol-len ein effektives und ein effizientes Asylsystem –
effektiv, weil es den Berechtigten gerecht und rechts-sicher Asyl zuweist und zuerkennt; effizient, weil esschnell, aber sorgfältig funktioniert. Auch die möglicheEinstufung Algeriens, Marokkos und Tunesiens als si-chere Herkunftsstaaten stellt eines sicher: dass die Men-schen, die Anspruch auf Schutz vor Verfolgung – aufwelche Art auch immer – und Folter haben, diesen inDeutschland schnell und rechtssicher erhalten werden.Wir müssen bei unseren Asylsystemen aber unterschei-den zwischen denjenigen, die schutzberechtigt sind, unddenjenigen, die eben nicht schutzberechtigt sind, um dieVerfahren für diejenigen offenzuhalten, die zu Recht aufihren Schutz vertrauen.Mit diesem Gesetzentwurf wollen wir vor allen Din-gen eines sicherstellen: dass der Weg des Asyls denje-nigen offensteht, die in Deutschland asylberechtigt sind.Derjenige, der in unserem Land nicht asylberechtigt ist,muss ein anderes Einwanderungsverfahren durchlaufen,Ulla Jelpke
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ein Verfahren, das eben nicht auf dem Asylrecht basiert,und er muss damit leben, dass er nach diesem Verfahren,wenn er nicht aus humanitären Gründen verfolgt ist, dasLand wieder verlassen muss. Das ist kein Widerspruchzum Asylrecht. Wir müssen das in dieser Debatte sehrdeutlich ausführen.Ich weiß, dass das Konzept der sicheren Herkunfts-staaten durchaus nicht unumstritten ist. Die Debatte, diewir heute fortführen, wurde am 5. November 2015 mitdem Beschluss der Parteivorsitzenden begonnen. Damalshaben wir klar gesagt: Wir wollen über die sicheren Her-kunftsstaaten Tunesien, Algerien und Marokko sprechen.Das heißt, wir fangen heute nicht bei null an, auch wenndas suggeriert wird.
Das Prinzip der sicheren Herkunftsstaaten ist ein aner-kanntes Prinzip auf Basis des europäischen Rechts, undes werden zu Recht hohe Anforderungen mit dem Prinzipder sicheren Herkunftsstaaten verbunden. Die Schutz-quote ist nur ein Indiz, kann allein aber nicht ausreichen.Man muss sich mit den tatsächlichen Verhältnissen inden Staaten auseinandersetzen. Zu diesem Zweck wirdes die Anhörung geben, so wir sie denn beschließen.Ich finde aber, dass man bei den sicheren Herkunfts-staaten einen Punkt noch einmal sehr deutlich heraus-stellen muss: Mit der Systematik der sicheren Herkunfts-staaten wird für jeden Einzelnen und jede Einzelne eineRegelvermutung begründet, er sei nicht verfolgt; aberman kann diese Regelvermutung auch widerlegen. Da-für gibt es rechtsstaatliche Verfahren, die wir individuellgarantieren, auch wenn die Verfahren entsprechend ver-kürzt und beschleunigt werden. Diese Vermutung ist trotzdes Begriffs der sicheren Herkunftsstaaten nach wie vorwiderlegbar. Darauf werden wir achten. Jeder Antragstel-ler hat die Möglichkeit, seine Verfolgung nachzuweisen,auch wenn er aus einem dieser Staaten kommt.Ich möchte auch nicht, dass diese Diskussion dazumissbraucht wird, zu suggerieren, dass Deutschland sei-nen internationalen Verpflichtungen nicht nachkommt.Wir bleiben ein weltoffenes Land, das wie kein anderesLand seiner internationalen Verpflichtung nachkommtund darüber hinaus einer Vielzahl von Menschen, diedurch Flucht und Asyl in unser Land gekommen sind,eine Perspektive eröffnet hat. Das sollten wir hier nichtkleinreden.
Ein weiterer Gedanke. Warum sollten wir, wenn wirauf der einen Seite syrischen Flüchtlingen binnen einerWoche in sehr schnellen Verfahren klarmachen wollen,dass sie hier eine Perspektive haben, dass es eine Vermu-tung zu ihren Gunsten gibt, dies nicht zum Prinzip erhe-ben und mittels des Instruments der sicheren Herkunfts-staaten ebenso anwenden, wenn wir auf der anderen Seiteähnliche Indizienlagen, nur eben umgekehrt, haben? Wirwollen ja schnelle Verfahren, sodass diejenigen, die Asyl-und Fluchtgründe vortragen, auch schnell eine Entschei-dung bekommen und damit ein wenig mehr Sicherheit ineinem von Flucht, Vertreibung und Verfolgung geprägtenLeben haben. Das ist nicht unmenschlich.
Es gibt eine Erwartung der Bevölkerung, aller hier inunserem Land lebenden Menschen, dass diejenigen, dieeinen Anspruch auf Asyl haben, schnell Asyl bekommen.Es gibt eine Erwartung der hierher Geflüchteten, dass dieEntscheidung über Asyl schnell und effizient getroffenwird. Deshalb müssen wir die Verfahren für diejenigenoffenhalten, die tatsächlich des Asyls bedürfen. Dann –da bin ich mir sicher – bleibt die hohe Akzeptanz, die inunserem Land für dieses erprobte System existiert, aucherhalten. Dafür können wir eintreten.Die SPD steht für den Flüchtlingsschutz und ein In-tegrationskonzept. Wir wollen diese Aufgaben als Bund,Länder und Kommunen gemeinsam erreichen. Wir habenim Oktober des vergangenen Jahres Beschlüsse gefasst,um dafür zu sorgen, dass der Bund seine Aufgaben nochbesser als in der Vergangenheit erfüllen kann. Wir habenzugesagt, dass wir Asylanträge schnell und rechtssicherbearbeiten und dass wir die Integrationsarbeit auf kom-munaler Ebene erleichtern, indem wir Finanzmittel zurVerfügung stellen und entsprechende Möglichkeiteneinräumen und indem wir dieses Recht auch anwendbarmachen. Dazu gehört auch, dass Menschen, die keinePerspektive im Asylsystem haben, in den entsprechen-den Zentren verbleiben, wo wir durch schnelle Verfahrensicherstellen, dass wir gar nicht erst die knappen Plätze inden Kommunen blockieren und Integrationsmöglichkei-ten nicht an die Falschen gegeben werden, die ohnehinkeine Chance in diesem System haben.Gute Integration heißt Sicherheit für die einen, die ei-nen Anspruch haben, aber auch klare Ansagen an diejeni-gen, die keinen Anspruch auf Asyl haben. Wir haben unsnicht nur einfach dazu bekannt, sondern gestern auf demKoalitionsgipfel auch entsprechende Entscheidungengetroffen. Das heißt: Wir reden nicht nur, sondern wirhandeln auch. Wir können nicht für die einen schnelleVerfahren fordern und für die anderen eben nicht. Das istdie Zusage, die im Raum steht. Gestern hat der Koaliti-onsgipfel sehr deutlich gezeigt: Wir sind handlungsfähig.Wir treffen entsprechende Entscheidungen und bleibenunserem Wort treu. Dafür sage ich Danke.
Wenn wir weiter über das Prinzip der sicheren Her-kunftsstaaten sprechen, sollte die Formulierung viel-leicht lieber „mutmaßlich sichere Herkunftsstaaten“ lau-ten; denn es ist eine widerlegbare Vermutung.Wir haben in diesen Tagen in Nordrhein-Westfalenden Aufenthaltsstatus von vielen Menschen aus Nordaf-rika überprüft.
Dabei wurde vor allen Dingen eines deutlich: ObwohlMenschen durch das BAMF mehrfach angeschriebenworden sind, wurde nicht die Chance ergriffen, ein ent-sprechendes Asylverfahren anzustreben. Als das dann inSebastian Hartmann
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einer gezielten Aktion am Dienstag noch einmal ermög-licht worden ist – Ralf Jäger hat als nordrhein-westfä-lischer Innenminister sehr deutlich gemacht, wie hand-lungsfähig ein Staat ist –, wurden erstmalig überhauptAsylverfahren angestrebt und Anträge gestellt; von eini-gen wurde darauf verzichtet. Dies wird die Schutzquotenicht schmälern. Das ist für uns als SPD das Kriterium.Wir wollen nicht auf eine relative Zahl, die zwischendem einen Extrem und dem anderen Extrem pendelt,schauen. Vielmehr gibt eine tatsächliche Zahl von Fällenund absolute Zahlen, die in Statistiken und Antwortender Bundesregierung nachgewiesen sind.Wenn sich diese Verhältnisse verändern, dann ist dasfür uns der Ausgangspunkt, das zu überprüfen. Wir ha-ben im Oktober letzten Jahres deutlich gemacht, dass wirregelmäßig auch die Staaten in den Blick nehmen, die zusicheren Herkunftsstaaten erklärt worden sind. Wir ver-schließen eben nicht die Augen, sondern werden eine An-hörung und ein entsprechendes Verfahren durchführen.Wir werden die Entscheidung auch in den Folgejahrenüberprüfen müssen; das ist klar zugesagt. Dazu habenwir gesetzliche Vereinbarungen getroffen; wir werdendiese einhalten. Umgekehrt kann aus der klaren AussageDeutschlands: „Wir haben euch und die Menschenrechts-lage im Interesse der Menschen, die in den sicheren Her-kunftsstaaten leben, klar im Blick“, auch eine Verantwor-tung für die Staaten entstehen; denn auch die Vermutunghinsichtlich der sicheren Herkunftsstaaten ist widerruf-bar. Damit ist diese Debatte nicht abgeschlossen, sondernbeginnt erst richtig.Meine Damen und Herren, neben der Entscheidungüber die entsprechenden Verfahrensschritte, die Zuwei-sung von Asyl und die Anerkennung von Flucht gibt esauch eine Folge daraus, dass eine Schutzquote nur einIndiz ist. Das Bundesverfassungsgericht hat die entspre-chenden gesetzlichen Grundlagen und ihre Begründungnoch einmal ausdrücklich bestätigt.
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage oder -be-
merkung von Frau Jelpke zu?
Ja, bitte.
Bitte.
Danke, Herr Kollege. – Ich habe zwei Nachfragen.
Erstens. Sie wissen ganz genau, dass beispielsweise in
Marokko nur verurteilt werden kann, wer auch geständig
ist. Warum sagen Sie nichts zu den Foltervorwürfen, die
von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty Inter-
national erhoben werden?
Zweiter Punkt. Es gibt vonseiten Marokkos eine völ-
kerrechtswidrige Besetzung der Westsahara. Es gibt ein
klares Votum der UN, dort ein Referendum durchzufüh-
ren, was Marokko verweigert. Es gibt dort riesige Lager
mit Flüchtlingen, die nicht nach Europa kommen wollen,
dort aber in schlimmster Armut leben. Warum sagen Sie
zu all diesen Punkten nichts? Genau das sind doch die
Kriterien, die zugrunde gelegt werden, wenn es darum
geht, ob man ein Land als sicher einstuft oder nicht.
Liebe Frau Kollegin Jelpke, vielen Dank für die-se Nachfrage. – Ich wollte gerade auf die Kriterien desBundesverfassungsgerichts eingehen. Ich lade Sie auchherzlich ein, heute Abend im Innenausschuss gemeinsamfür die Anhörung zu stimmen und den Weg für diese Dis-kussion freizumachen.Das Bundesverfassungsgericht hat uns im Zusam-menhang mit der Überprüfung des damals beschlossenenGesetzes, als wir das Grundgesetz entsprechend geänderthaben, einige Punkte auf den Weg gegeben und klar be-stätigt, dass man eben nicht nur über das Indiz der hierschon thematisierten Schutzquote sprechen darf, sondernsich auch mit den tatsächlichen Verhältnissen in den je-weiligen Staaten auseinandersetzen muss. Das ist eineklare Aufgabe an uns als Gesetzgeber. Dazu gehört, dassman von einem demokratischen System, einem Mehrpar-teiensystem, einer unabhängigen Justiz und einem effek-tiven Schutz vor Verfolgung ausgeht. Wir müssen uns einUrteil darüber bilden und unseren Entscheidungsspiel-raum als Gesetzgeber ausfüllen. Dazu dient dieses Ver-fahren. Heute beginnen wir mit der Beratung in diesemHohen Haus, die mit einer Anhörung fortgesetzt wird.
Zu guter Letzt gibt es hierzu schon eine sehr umfangrei-che Stellungnahme des Bundesrates. Auch er hat einigeHinweise gegeben, wo er weiteren Prüf- und Diskussi-onsbedarf sieht.Mit Ihrer Frage belegen Sie, dass wir in diese Diskus-sion einsteigen müssen, weil wir erst danach die Einstu-fung der drei genannten Staaten – Algerien, Tunesien undMarokko – als sichere Herkunftsstaaten beschließen kön-nen. Das ist eine Frage, die in diesem Verfahren zu klä-ren ist. Sie haben Punkte eingebracht, und der Bundesrathat Punkte eingebracht. Ich habe mich dieser Diskussionin keiner Weise verweigert, sondern gesagt: Wir werdendas im Rahmen einer ordentlichen Anhörung tun, damitdie Minimalanforderungen an die Einstufung als sichererHerkunftsstaat auf jeden Fall erfüllt werden. Das ist imEinklang mit europäischem Recht. – Vielen Dank.
Zur Einstufung als sicherer Herkunftsstaat gehörtaber Folgendes: Die Diskussion, die mit den sicherenHerkunftsstaaten begonnen hat, hat Auswirkungen. Siehaben selber als Beispiel genannt, dass die Schutzzahlenzurückgehen. Es gibt in diesem Fall gar nicht so vieleBeantragungen. Es gibt aber einen Unterschied: Im Ver-gleich zu der großen Zahl von Menschen, die hierherge-kommen sind, fällt die Zahl derjenigen, die tatsächlichSebastian Hartmann
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Asyl beantragen, relativ weit ab. Das heißt, es gibt einendeutlichen Unterschied im Hinblick auf die Menschen,die aus den drei vorgenannten Staaten kommen und tat-sächlich Asyl beantragen. Das muss man aufklären. Wirbrauchen schnelle Verfahren, damit das nicht als Umge-hungstatbestand genutzt werden kann. Wir wollen nurdenjenigen Menschen Asyl geben, die tatsächlich desAsyls bedürfen.Zweiter Punkt – ihn hat Innenminister Ralf Jäger inder letzten Debatte hier angesprochen –: Zum Konzeptder sicheren Herkunftsstaaten gehört auch, dass in diesenLändern eine entsprechende Debatte stattfindet. Es istdarüber zu informieren, welche Chancen man in einemAsylverfahren überhaupt hat, damit man das Asylrechtvor Ort nicht als Möglichkeit zur Einwanderung aus wel-chen Gründen auch immer missversteht. Ich würde jetztnicht so weit gehen, das pauschal zuzuordnen; aber dasAsylrecht ist nur für einen bestimmten Kreis vorgesehen.Dass sich die Debatte, die wir hier begonnen haben, indiesen Staaten schon im November ausgewirkt hat, zeigtsich daran, dass die Fallzahlen zurückgehen. Das ist erstrecht ein Beleg dafür, dass das Instrument der sicherenHerkunftsstaaten wirkt, wenn man es vernünftig einsetzt.Zu guter Letzt gehört zum Konzept der sicheren Her-kunftsstaaten, dass die Asylbewerber in ihre Heimatlän-der zurückgeführt werden, wenn eine negative Entschei-dung im Asylverfahren getroffen worden ist und sie auseinem sicheren Herkunftsstaat kommen. Dafür brauchtman Rücknahmeabkommen. Ich glaube, dass die Bun-desregierung hier einen weiteren Schritt gegangen ist, in-dem es zu entsprechenden Vereinbarungen mit Marokko,Algerien und Tunesien gekommen ist. Eine klare, schnel-le und rechtssichere Entscheidung würde nämlich nichtsbringen, wenn diejenigen, die nicht bleiben dürfen, hierim Land verbleiben und wichtige Plätze blockieren wür-den, die wir für die Menschen brauchen, die tatsächlichintegriert werden müssen.Meine Damen und Herren, ich sehe einer schwierigenBeratung entgegen. Für diese Diskussion müssen wir unsdie entsprechende Zeit nehmen. Heute Abend soll dieAnhörung beschlossen werden. Ich sage zu, dass für dieSPD beides zusammengehört: der Schutz der Flüchtlingeund die die Integration der Menschen, die hier bleibenkönnen, aber ebenso schnelle und rechtssichere Verfah-ren. Das ist kein Widerspruch. Deutschland ist und bleibtein weltoffenes Land, das wie kein anderes Land in Eu-ropa seine internationale Verantwortung wahrnimmt. Daslassen wir uns nicht kleinreden.Danke.
Vielen Dank, Kollege Hartmann. – Wir haben üb-
rigens gerade festgestellt, dass das Hohe Haus heute
strahlt. Das liegt nicht nur an Ihnen, sondern auch – falls
Sie es noch nicht gesehen haben – an den neuen Stuhlbe-
zügen. Vielen Dank der Verwaltung. Es ist heute wirklich
ein strahlendes Hohes Haus.
Das Strahlen geht jetzt mit der nächsten Rednerin wei-
ter: Luise Amtsberg vom Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LieberKollege Hartmann, schön, dass Sie sich in der Koalitiondie Zeit genommen haben, über diese Frage zu beraten.Das Parlament ist allerdings mehr als diese Koalition. In-sofern sind wir mit dem parlamentarischen Beteiligungs-verfahren natürlich nicht zufrieden. Es ist zu kurz.
Tun Sie bitte nicht so, als ob Sie in Bezug auf diese Fragenoch nicht festgelegt wären und als ob die Anhörung inder nächsten Woche für Sie noch etwas bringt. Das ist jasehr deutlich herausgekommen.
Das sieht man auch an dem Statement, dass die Fallzah-len zurückgehen. Das sagt nämlich nichts darüber aus,ob sich die menschenrechtliche Lage in den Ländern inder Zwischenzeit verändert hat. Genau hier liegt unserProblem.Die grüne Bundestagsfraktion hat sich in der Ver-gangenheit immer wieder auch grundsätzlich gegen dasKonzept der sicheren Herkunftsstaaten ausgesprochen.Unsere grundlegende Sorge davor, dass mit diesem Ver-fahren das Ergebnis einer individuellen Prüfung einesSchutzgesuches vorweggenommen und nicht unvorein-genommen über einen Asylantrag entschieden wird, wargroß, und ich sage Ihnen: Mit den beiden Asylpaketen istdiese Sorge noch größer geworden; denn diese richtensich ja explizit an die Menschen aus vermeintlich siche-ren Herkunftsländern.Abseits dieser grundlegenden Erwägungen, über diewir uns in der Vergangenheit schon ausgetauscht haben,möchte ich noch eine Sache ansprechen: In seinem Urteilhat das Bundesverfassungsgericht die rechtlichen Vo-raussetzungen für die Einstufung als sichere Herkunfts-staaten glasklar festgelegt. Ich weiß nicht, welche Syste-matik das Innenministerium bei der Formulierung einesGesetzentwurfes anwendet; aber als Vertreterin einesRechtsstaates, als die ich mich begreife, würde ich mirdiese Vorgaben erst einmal ansehen und sie Schritt fürSchritt durchgehen. Vielleicht sollten wir das an dieserStelle einfach einmal tun.Es heißt: Es muss Sicherheit vor politischer Verfol-gung landesweit und für alle Personen- und Bevölke-rungsgruppen bestehen. Hier drängt sich natürlich sofortMarokko mit dem Status der Westsahara auf, einem Ge-biet, das sich praktisch seit Jahrzehnten in einem dauer-haften Ausnahmezustand befindet, in dem friedliche Pro-teste brutal niedergeschlagen werden und die Saharauiswillkürlichen Verhaftungen und Folter ausgesetzt sind.Die Rechte von Frauen, besonders im Familienrecht, sindin allen drei Ländern massiv zu beklagen. In Algerienbleibt zum Beispiel die Vergewaltigung von Minderjäh-rigen straffrei, wenn das Opfer danach – sicher nicht un-ter freiem Willen – geehelicht wird. Die StigmatisierungSebastian Hartmann
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und Diskriminierung von Behinderten, Aidskranken undLGBTI-Gruppen muss man hier ebenfalls anführen.Weiter sagt das Bundesverfassungsgericht: Eine Ein-stufung ist nicht zulässig, wenn regional oder im Hinblickauf bestimmte Gruppen eine Verfolgung – Achtung –nicht ausgeschlossen werden kann. Im Umkehrschlussbedeutet das, dass Sie alle, die Sie hier sitzen und demGesetzentwurf zustimmen wollen, ausschließen können,dass es in diesen drei Ländern Menschen gibt, die auswelchen Gründen auch immer durch die Staatsgewaltverfolgt und diskriminiert werden. Können Sie das aus-schließen? Ich nicht und meine Fraktion auch nicht.
Es gilt auch als Verfolgung, wenn gesetzliche, polizei-liche oder justizielle Maßnahmen diskriminierend sind.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie finden also nicht,dass es falsch ist, dass in allen drei Ländern politischnicht opportune Menschen inhaftiert werden? Sie findennicht, dass die Berichte über Willkür, Misshandlungen,über unter Folter abgerungene Geständnisse gegen eineEinstufung als sicherer Herkunftsstaat sprechen?Das Bundesverfassungsgericht nennt als weiterenGrund gegen die Einstufung Handlungen gegen Men-schen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung. Was an-deres als eine Handlung gegen die sexuelle Selbstbe-stimmung eines Menschen ist es, wenn Homosexualitätunter Strafe steht? Wie zynisch sind Sie eigentlich, dassSie dem Bundesrat erwidern, dass nur offen praktizier-te Homosexualität tatsächlich geahndet wird? Frei nachdem Motto: Du darfst homosexuell sein, aber bitte nichtso leben. – Ist es das, was Sie unter einem freien Lebenohne Verfolgung verstehen, meine Damen und Herren?Wir nicht.
Das Bundesverfassungsgericht nennt auch Handlun-gen gegen Kinder als Ausschlussgrund. Haben Sie sicheinmal die Berichte über die Situation von saharauischenKindern in der Westsahara angesehen? Ich fand sie ziem-lich bedrückend. Der Bericht der Organisation Roster,mit der auch der UN-Menschenrechtsrat befasst war,spricht von Inhaftierungen von Kindern, von Schlägen,massiver psychologischer Gewalt und Verschleppungen.Aber auch das spielt in diesem Gesetzentwurf keine Rol-le.Zu guter Letzt nenne ich als eines von vielen Beispie-len die unverhältnismäßige Strafverfolgung oder Bestra-fung durch den Staat, die vom Bundesverfassungsgerichtebenfalls genannt wird. Die Versammlungsfreiheit ist inall diesen Ländern massiv eingeschränkt, und die Mei-nungs- und Pressefreiheit ist absolut nicht gegeben, wasdie vielen Inhaftierungen von Journalisten und Medien-schaffenden beweisen. Die demokratische Verfasstheiteines Staates – das sollten wir am besten wissen – ist we-sentlich für die Beurteilung eines Staates als sicher. Das,was einen Rechtsstaat im Wesenskern ausmacht, ist hiernicht gegeben.
Herr Bundesinnenminister, Sie sagen, Sie verschlie-ßen nicht die Augen vor den massiven Menschenrechts-verletzungen in diesen Ländern. Was Sie mit diesemGesetzentwurf tun, ist außenpolitisch gefährlich; dennSie erteilen diesen Regierungen einen Blankoscheck fürMenschenrechtsverletzungen. Das ist unbedingt abzuleh-nen.
Einfach darauf zu warten, dass sich die Menschenrechts-lage verbessert, wird es nicht bringen. Wir geben einenBlankoscheck und sagen, dass Menschenrechtsverlet-zungen in einem Land in Ordnung sind, wenn uns diesinnenpolitisch zugutekommt. Sie missachten die Vorga-be, dass Sie eine Einstufung nur nach gründlicher Prü-fung und dem Hinzuziehen menschenrechtlicher Quellenvornehmen dürfen. Nennen Sie mir eine einzige Men-schenrechtsorganisation, die keine Bedenken gegenüberIhrem Gesetzentwurf hat, und wir kommen wieder insGespräch.Dieser Gesetzentwurf ist komplett innenpolitisch mo-tiviert. Auch wenn die Rechtslage in dieser Frage kaumeine Rolle zu spielen scheint, noch einmal zur Klarstel-lung: Eine Priorisierung der Asylverfahren kann schonjetzt vorgenommen werden. Das wird auch gemacht.Insofern gibt es ausreichend Spielraum. Was aber asyl-rechtlich nicht zulässig ist, ist, eine Einstufung von Staa-ten an die Zuwanderungszahlen zu koppeln. Das passierthier immer wieder. Das widerspricht dem Grundsatz ei-nes Individualrechts, und das ist unser Asylrecht.Als Fazit: Dieser Gesetzentwurf ist nicht nur fachpoli-tisch, sondern auch menschenrechtlich eine Beleidigung,des Rechtsstaates unwürdig und dieses Hauses erst recht.Deshalb lehnen wir ihn entschieden ab.
Vielen Dank, Luise Amtsberg. – Der nächste Redner
in der Debatte: Stephan Mayer für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-ginnen! Sehr geehrte Kollegen! Es ist gut, dass wir indiesem Hohen Haus endlich den Gesetzentwurf zur Ein-stufung der drei Maghreb-Länder Marokko, Algerienund Tunesien als sichere Herkunftsstaaten beraten. Ichmöchte nicht verhehlen, dass er, wenn es nach der Uni-onsfraktion gegangen wäre, hier frühzeitiger hätte behan-delt werden können.
Ich gestehe zu, dass man hier unterschiedlicher Mei-nung sein kann. Aber, liebe Frau Kollegin Amtsberg,ich möchte mich schon in aller Deutlichkeit gegen Ihrenwirklich haltlosen Vorwurf gegenüber dem Bundesin-Luise Amtsberg
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nenminister verwahren, mit diesem Gesetzentwurf wür-de ein Blankoscheck für Menschenrechtsverletzungenausgestellt. Das ist haltlos, das ist unzutreffend, und dasgehört sich einfach nicht.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, eshat sich in der Vergangenheit herausgestellt, dass die Ein-stufung bestimmter Länder als sichere Herkunftsstaatentatsächlich etwas bewirkt. Damit setzen wir ein klaresSignal, dass Politik handlungsfähig ist. Noch im erstenHalbjahr 2015 kamen 47 Prozent der Bewerber aus densechs Ländern des westlichen Balkans. Heute spielen dieBewerber aus den sechs Westbalkanländern de facto kei-ne Rolle mehr. Im März kamen gerade einmal 1 200 Be-werber aus diesen Ländern, im Januar waren es 1 400. Esist ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen. Es zeigt sichalso sehr wohl, dass die Einstufung eines Landes als si-cheres Herkunftsland eine klare Signalwirkung entfacht.Davon geht aber auch eine deutliche Verfahrensbeschleu-nigung aus.Eines aber bleibt gewahrt – um dies klar zu sagen,Frau Kollegin Jelpke –: Es wird auch für die Bewerberaus sicheren Herkunftsstaaten ein individuelles und fai-res Verfahren gewährleistet. Nur wird das Verfahren be-schleunigt. Ich wehre mich in aller Deutlichkeit gegenden Vorwurf, dass ein schnelles Verfahren ein rechtsun-sicheres Verfahren sei. Das Gegenteil ist der Fall. Einschnelles Verfahren kann sehr wohl auch vollkommenrechtssicher sein.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
-bemerkung von Frau Brantner, Bündnis 90/Die Grünen?
Selbstverständlich. Sehr gerne.
Gut.
Herr Mayer, ich möchte kurz auf Ihren Vergleich mit
dem Balkan eingehen. Die Zahl der Antragsteller ist
momentan schon sehr gering. Von Tunesiern sind seit
Beginn dieses Jahres 132 Anträge gestellt worden, also
132 Anträge in mehr als drei Monaten bundesweit. Auf
wie viel wollen Sie die Zahl denn noch reduzieren? Wo
sind die großen Zahlen, vor denen Sie solche Angst ha-
ben und aufgrund derer Sie meinen, wir bräuchten diese
Gesetzesänderung?
Sehr geehrte Frau Kollegin Brantner, ich bin Ihnensehr dankbar für diese Frage, weil sie mir die Gelegen-heit bietet, deutlich zu machen, dass es natürlich nichtdarum geht, Angst zu haben, sondern eher darum, klareSignale zu entfachen.Im Jahr 2015 hatten wir 4 910 Antragsteller aus denLändern Tunesien, Marokko und Algerien. Es kamenaber knapp 26 000 Bewerber aus diesen drei Ländern.Es sind also noch Tausende von Marokkanern, Algeriernund Tunesiern in unserem Land, die bislang noch keinenAntrag gestellt haben. Es ist aber davon auszugehen, dasssie in den nächsten Wochen und Monaten einen Antragstellen werden. Man darf also nicht verkürzt nur die aktu-ellen Zuzugszahlen in den Blick nehmen, wie Sie es ge-tan haben. Vielmehr muss man sehr wohl auch ins Kalkülziehen, dass im letzten Jahr insgesamt 2 000 Tunesier,14 000 Algerier und etwas mehr als 10 000 Marokkanerzu uns kamen, die in den nächsten Wochen und Monatenmit großer Wahrscheinlichkeit Anträge stellen werden.Deshalb macht es sehr wohl Sinn und ist in der Sache ge-boten, dass wir diese drei Länder als sichere Herkunfts-staaten einstufen.
Die Einstufung als sicheres Herkunftsland bewirkt,dass die Verfahren innerhalb von einem Monat durchge-führt werden können. Die abgelehnten Bewerber – dieAnerkennungsquoten sind verschwindend gering – müs-sen innerhalb einer Woche unser Land verlassen. Siehaben eine Klagefrist von einer Woche. Diese Klage hatnicht einmal aufschiebende Wirkung. Der Antrag auf An-ordnung der aufschiebenden Wirkung muss auch inner-halb einer Woche gestellt werden. Zudem unterliegen sieeinem absoluten Beschäftigungsverbot. Die Einstufungeines Landes als sicheres Herkunftsland hat also ganzkonkrete Vorteile zur Folge.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, esgilt, den Blick auch einmal auf die verschwindend ge-ringen Schutzquoten zu richten. Wir hatten im gesam-ten letzten Jahr eine Anerkennungsquote bei Tunesiernvon 0,00 Prozent. Bei den Algeriern lag diese Quote bei0,97 Prozent und bei den Marokkanern bei 2,26 Prozent.
Auch in diesem Jahr haben sich die Schutzquoten nichtnach oben verändert, sondern sogar nach unten. Bei denTunesiern lag sie in den ersten beiden Monaten wiederbei 0,00 Prozent. Bei den Marokkanern waren es 1,6 Pro-zent und bei den Algeriern 1,2 Prozent. Es gibt also keinesachlichen Gründe, die dafür sprechen, diesem Gesetz-entwurf nicht zuzustimmen.Ich möchte in aller Deutlichkeit betonen, dass ausden drei Ländern, um die es heute geht, bedauerlicher-weise überproportional viele Personen stammen, die inder Silvesternacht in Nordrhein-Westfalen straffällig ge-worden sind. Von den mittlerweile 153 festgestellten Tat-verdächtigen waren 149 Ausländer. Zwei Drittel dieserausländischen Straftäter waren Algerier und Marokkaner.Insbesondere mit Blick auf die überproportional hoheStephan Mayer
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Straffälligkeit der Menschen aus diesen drei Ländern gibtes sehr gute Gründe, die Verfahren zu beschleunigen.Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich betonen, dassich Ihnen, sehr geehrter Herr Bundesinnenminister, sehrdankbar bin, dass Sie Ende Februar bzw. Anfang Märzin diese drei Länder gereist sind und in intensiven Ge-sprächen mit den drei Regierungen dafür gesorgt haben,dass zugesichert wurde, dass diese drei Länder ihrervölkerrechtlichen Verpflichtung nachkommen, eigeneStaatsangehörige zurückzunehmen. Das ist an sich eineSelbstverständlichkeit, der bislang aber leider nur sehrunzureichend nachgekommen wurde.Die Innenminister der drei Länder haben Ihnen auchzugestanden, dass sie in sehr kurzer Zeit bereit sind, zurIdentitätsfeststellung der eigenen Staatsangehörigen bei-zutragen, Marokko zum Beispiel ganz konkret innerhalbvon 45 Tagen. Alle drei Länder haben sich bereit erklärt,Rückführungen entweder im Rahmen von Charterflügenoder von Linienflügen zu akzeptieren. Alle drei Länderhaben sich auch bereit erklärt, Passersatzpapiere aus-zureichen, um eine schnelle Rückführung der eigenenStaatsangehörigen zu ermöglichen. Ich danke Ihnen na-mens unserer Fraktion ausdrücklich für Ihren erfolgrei-chen Einsatz in diesen drei Ländern.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen,wir werden dieses parlamentarische Verfahren sauber,ordentlich und seriös betreiben. Aber ich bin mit Blickauf die Zahl der in den nächsten Wochen und Monatenanstehenden Anträge der Überzeugung: Wir sollten unsnicht zu viel Zeit lassen. Deshalb ist es richtig, dass wirheute in einer Sondersitzung des Innenausschusses zu-sammenkommen und, so hoffe ich, die Durchführungder Sachverständigenanhörung in der nächsten Sitzungs-woche, Ende April, beschließen. Aus meiner Sicht stehtauch einer schnellen Behandlung und Beschlussfassungin der zweiten und dritten Lesung in diesem Hause nichtsentgegen. Um es klar zu sagen: Hier sind Seriosität undein ordnungsgemäßes Verfahren, aber auch Schnelligkeitgeboten.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollege Stephan Mayer. – Die letzte
Rednerin in dieser Debatte ist Nina Warken für die CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Die bisherige De-
batte kommt mir fast wie ein Déjà-vu vor. Sie erinnert
mich stark an unsere Diskussion um die Einstufung der
Westbalkanstaaten. Die Opposition stellt sich erneut, wie
schon bei den Balkanstaaten, gegen eine Maßnahme, um
Asylmissbrauch und unkontrollierte Zuwanderung ein-
zudämmen. Erneut haben wir eine ganze Reihe realitäts-
ferner Kritikpunkte gehört,
und erneut liegt ein Gesetzentwurf der Bundesregierung
vor, den wir ohne die Blockade schon längst beschlossen
hätten.
Nach allem, was wir auch heute gehört haben, lässt
sich feststellen: Die Einstufung von Marokko, Algerien
und Tunesien als sichere Herkunftsländer ist dringend
notwendig und rechtlich zulässig. Die Kritik daran ist un-
zutreffend und nicht haltbar. Das alles zeigt sich an den
folgenden drei Tatsachen:
Erstens. Schon bei den Balkanländern wurde von der
Opposition behauptet, die Einstufung als sichere Her-
kunftsstaaten würde nichts bringen. Das gleiche Argu-
ment haben wir in der heutigen Debatte gehört. Tatsache
ist jedoch, dass die Zahl der Asylbewerber vom Balkan
auch in der Folge der Einstufung stark zurückgegangen
ist. Zum Vergleich: 23 000 waren es im Juli 2015 und
noch knapp 5 000 im Oktober, nachdem alle Balkanlän-
der als sicher eingestuft waren. Inzwischen sind es sogar
nur noch 1 200. Der Grund für den Rückgang ist: Die
Menschen vom Balkan haben sehr schnell gemerkt, dass
es nichts bringt, unbegründete Asylanträge zu stellen;
sie können nicht in unserem Land bleiben. Damit steht
fest: Die Einstufung als sicheres Herkunftsland wirkt und
hilft, den unkontrollierten Zustrom einzudämmen. Diese
Signalwirkung brauchen wir nun auch dringend im Hin-
blick auf Algerien, Marokko und Tunesien.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Bemerkung oder
Zwischenfrage von Frau Bulling-Schröter?
Ja.
Gut.
Herzlichen Dank. – Frau Kollegin, ich möchte Sie
etwas zu Marokko fragen. Laut internen Berichten der
Bundesregierung ist Marokko eines der Länder, die be-
reits jetzt am meisten vom Klimawandel betroffen sind.
Meine Frage ist: Inwieweit gehen solche Einschätzungen
in die Einstufung als sicheres Herkunftsland ein? Das
Thema Klimaflüchtlinge wurde bekanntlich auch im Ko-
alitionsvertrag angesprochen. Es ist erwiesen, dass be-
reits Menschen aus Gründen des Klimawandels flüchten.
Im Asylverfahren wird geprüft, ob jemand individuellverfolgt oder bedroht wird. Man kann selbst dann, wennein Herkunftsland als sicher eingestuft ist, den persönli-chen Grund für einen Asylantrag vortragen. Man kannStephan Mayer
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dabei jedweden Grund vorbringen. Wenn man aufgrundklimatischer Verhältnisse flieht, kann man das ins Asyl-verfahren einbringen. Ob das zum Erfolg des Asylver-fahrens führt, ist eine andere Frage. Darüber, welcheGründe im Verfahren angeführt werden, entscheidet je-der selbst. Das hat nichts damit zu tun, ob ein Land alssicher eingestuft wird oder nicht. Jeder kann weiterhinseine Fluchtgründe darlegen. Das ist schließlich Sinn desAsylverfahrens und wird weiterhin aus rechtsstaatlichenGründen möglich sein. Dass ein individueller Schutz ausKlimagründen zu gewähren ist, bezweifle ich. Aber sol-che Gründe können weiterhin vorgetragen werden. Ichhoffe, dass ich damit Ihre Frage beantwortet habe.
Es lohnt sich nicht, sich auf den Weg zu machen. Die-se Signalwirkung hatten wir schon bei den Balkanstaa-ten. Eine ähnliche Signalwirkung brauchen wir auch beiden Maghreb-Staaten. Das Argument, dass im Momentwegen des zu geringen Zustroms aus den Maghreb-Staa-ten kein Handlungsdruck besteht, zählt nicht. Die Zahlder Flüchtlinge vom Westbalkan ist im letzten Jahr zuerstschleichend gestiegen. Im Mai waren es 10 000, im Juni14 000 und im Juli 23 000. Am Jahresende waren es ins-gesamt 150 000 Menschen, die vom Westbalkan zu unskamen. Auch bei den Maghreb-Staaten ist ein ähnlicherTrend erkennbar.Zweitens behauptet die Opposition, dass die Lage inden Maghreb-Staaten die Einstufung als sichere Her-kunftsländer nicht zulässt; das haben wir mehrfach ge-hört. Im Gesetzentwurf wurde die Lage in allen dreiLändern in aller Ausführlichkeit bewertet. Auch dieSchutzquoten sprechen eine deutliche Sprache. In Ma-rokko, Algerien und Tunesien drohen weder eine syste-matische Verfolgung noch ein Bürgerkrieg. Im Januarund Februar wurden aus allen drei Ländern zusammenlediglich sechs Personen als schutzbedürftig anerkannt.Mehr als 4 000 sind jedoch seit Jahresanfang gekommen.Wir werden die aufgeworfenen Fragen und Ihre Beden-ken, liebe Kollegen, in der Anhörung in der nächsten Sit-zungswoche ausführlich erörtern. Ich bin aber überzeugt,dass bei dem Gesetzentwurf diesbezüglich alles bedachtwurde.Drittens fordert die Opposition, Deutschland solle sichlieber um die Integration kümmern, als gegen Asylmiss-brauch und unkontrollierte Zuwanderung vorzugehen. Indiesem Sinne äußerte sich zum Beispiel der thüringischeMinisterpräsident zum vorliegenden Gesetzentwurf imBundesrat.
Diese Kritik übersieht vollkommen, wie viel bereits inDeutschland getan wird, um die Integration zu verbes-sern. Integration setzt allerdings voraus, dass man sichan die Spielregeln in unserem Land hält. Wir haben – daswird in diesem Zusammenhang oft verschwiegen – ge-rade mit Asylbewerbern aus dem Maghreb ein massivesKriminalitätsproblem, zum Beispiel in Nordrhein-West-falen, wo der Großteil der Asylanträge aus diesen Län-dern bearbeitet wird. Hier ist laut dem nordrhein-west-fälischen Innenministerium im letzten Jahr rund jederdritte Marokkaner oder Algerier, der in einer Landeserst-aufnahmeeinrichtung untergebracht war, kriminell ge-worden. Es ist kein Zufall, dass zwei Drittel der Tatver-dächtigen im Zusammenhang mit den Übergriffen in derSilvesternacht in Köln ausgerechnet aus diesen beidenLändern kommen. Das sind Tatsachen, auf die wir ent-schlossen reagieren müssen und vor denen wir die Augennicht verschließen dürfen.
Es ist deshalb richtig, dass der Bundesinnenministervor kurzem mit den Maghreb-Staaten deutliche Verein-fachungen und Verbesserungen bei der Rückführungvereinbart hat. Das stärkt die Akzeptanz unseres Asyl-systems und entlastet Kommunen wie Behörden. Die-se Vereinbarung muss nun aber auch mit Leben erfülltwerden. Rund 2 000 Marokkaner, Algerier und Tunesierhalten sich noch immer in Deutschland auf, obwohl sielängst ausreisepflichtig sind und keine Duldung haben.Hier sind der politische Wille und entschlossenes Han-deln der Länder gefragt, wenn es darum geht, diese Per-sonen zügig abzuschieben.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, warumdie Einstufung von Marokko, Algerien und Tunesien alssichere Herkunftsländer dringend notwendig ist. Erspa-ren wir den Menschen eine gefährliche Reise und die an-schließende Abschiebung, indem wir den Gesetzentwurfzügig beschließen.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Damit schließe ich dieAussprache.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 18/8039 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich seheund höre keine anderen Vorschläge dazu. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten RenateKünast, Uwe Kekeritz, Nicole Maisch, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKleidung fair produzieren – EU-Richtlinie fürTransparenz- und Sorgfaltspflichten in derTextilproduktion schaffenDrucksache 18/7881Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-sicherheit Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und EntwicklungNina Warken
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b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Ener-gie zu dem Antrag der Abgeord-neten Niema Movassat, Caren Lay, WolfgangGehrcke, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKEUnternehmen in die Verantwortung nehmen –Menschenrechtsschutz gesetzlich regelnDrucksachen 18/5203, 18/6181Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre undsehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich bitte, die spannenden Gespräche vielleicht woan-ders zu führen und der Debatte zu folgen und den Redne-rinnen und Rednern zuzuhören.Ich gebe das Wort Renate Künast vom Bündnis 90/DieGrünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In zehnTagen, am 24. April, ist der dritte Jahrestag des Unglücksvon Rana Plaza. Das war ein Gebäude in der Hauptstadtvon Bangladesch, das gar nicht für die Textilfertigungvorgesehen war. Es gab darin eine Bank und Geschäfte,und im obersten Stockwerk hat jemand Nähmaschinenaufgestellt und Notstromaggregate installiert, weil in derHauptstadt Dhaka so oft der Strom ausfällt. Wenn dasder Fall ist, gehen mehrmals am Tag mit einer großenErschütterung die Aggregate an. Vor drei Jahren, am24. April, hat sich gezeigt, dass die Statik des Gebäudesdiese Erschütterungen nicht aushielt, weil es dafür nichtgeplant war.Es sind mehr als 1 100 Menschen von den Trümmernzermalmt und unter ihnen begraben worden, mehr als2 400 Menschen sind verletzt worden, viele darunterschwer. Dieses Bild hat uns vor drei Jahren aufgerütteltund den Fokus auf die internationale Textilproduktiongerichtet. Bei der Textilproduktion findet eine Art globa-ler Wanderzirkus statt. Die Unternehmen gehen überalldorthin, wo wenige Einschränkungen für sie herrschen,wo es nur geringe Umweltstandards gibt, der Schutz derMenschenrechte wenig ausgeprägt ist, die Arbeitsbedin-gungen schlecht sind und kaum Sicherheitsstandardseingehalten werden, kurz: Sie gehen dorthin, wo siemöglichst billig produzieren können. Der globale Wan-derzirkus geht auch heute immer weiter.Die Bedingungen in der gesamten Produktionskette,angefangen von der Baumwollproduktion bis hin zumEndprodukt, sind von Unsicherheit und Nichtbeachtungder Menschenwürde geprägt. Das schließt auch Sklaven-und Kinderarbeit ein. Deshalb stehen die internationalenTextilunternehmen und der Handel zu Recht in der Kri-tik. Makaber ist, dass wir mit all diesen Ländern Inves-titionsschutzabkommen abschließen, um das Geld, dasdort investiert wird, abzusichern, aber nicht dafür Sorgetragen, dass die international anerkannten Arbeitnehmer-und Menschenrechte hundertprozentig gewahrt werden.
Wie andere aus meiner Fraktion habe auch ich mirschon manche Produktionsstätten angesehen, in China,in Bangladesch und in Myanmar. Ich habe mit Gewerk-schaftsvertreterinnen und -vertretern geredet, mit Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmern, NGOs, Unterneh-merinnen und Unternehmern und auch mit Bestellern ausEuropa. Ich sage: Die Situation ist immer noch horror-haft, selbst da, wo man sich auf den Weg gemacht hat,um etwas zu ändern, was ich durchaus anerkennen will.Ich will Ihnen ein Bild von meiner letzten Reise imFebruar nach Myanmar nennen. Ich war in einer Fabrikfür Brautkleider, und zwar Brautkleider, die auch nachEuropa und in die USA exportiert werden und in denendie Frauen wie Prinzessinnen aussehen. Aber schauenSie sich die Arbeiterinnen dort an: Es sind junge Mäd-chen, die alle im Kindesalter sind. Es ist Kinderarbeit.Auch diese Kinder arbeiten zehn Stunden am Tag. Dasist nicht in Ordnung.
Ich glaube, wir alle müssen uns anstrengen und unsbemühen, dass die Kleidung, die wir tragen, fair produ-ziert ist. Wer, wenn nicht die Europäische Union, soll ei-gentlich dafür Sorge tragen, dass die Arbeitnehmer- undMenschenrechte tatsächlich umgesetzt werden? Deshalbhaben wir einen Antrag vorgelegt, der auf dem europäi-schen Binnenmarkt Transparenz- und Sorgfaltspflichtenvorsieht, damit jeder Kunde, jede Gewerkschaft, die dasüberprüfen will, und auch jeder Unternehmer erkennenkann, woher welcher Rohstoff auf welcher Produktions-stufe kommt und zu welchen Bedingungen und unterwelchen Kontrollen das Produkt produziert worden ist.Ich sage Ihnen: Das zu wissen, ist das gute Recht derVerbraucherinnen und Verbraucher, weil die Kunden Teildes Wirtschaftslebens sind. Nicht nur die Unternehmer,sondern auch die Endverbraucher haben das Recht, zuwissen, woher die Produkte bzw. die Rohstoffe kommen.
Diese Art von Transparenz ist Voraussetzung für eineVeränderung. Nur wenn wir eine solche Transparenz-pflicht haben – natürlich wird es einige Jahre dauern,diese zu implementieren und die Systeme zu etablieren;aber wir leben im digitalen Zeitalter, und das wird wohlmachbar sein –, können wir kontrollieren und nachvoll-ziehen, wer zu welchem Standard arbeitet. Wir habendiesen Vorschlag gemacht, um uns jetzt endlich auf denWeg zu machen.Wenn Sie genau hinschauen, wissen Sie: Acht vonzehn Verbraucherinnen und Verbrauchern sagen: Wirwollen faire Arbeitsbedingungen. Aber sie fragen auch:Wie erkennen wir sie denn am Endprodukt, wenn da ge-rade einmal „Made in Bangladesch“ oder so steht, wennnicht einmal etwas dazu ausgesagt wird, wo die anderenProduktionsstufen sind, wenn man mehr nicht erkennenkann?Vizepräsidentin Claudia Roth
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Ich bin der festen Überzeugung, dass zur Durchset-zung der Interessen und der Rechte der Verbraucher auchgehört, dass die Verbraucher keinen Suchauftrag bekom-men, dass sie nicht mit Lexikon und Lupe und Handy ta-gelang durch die Läden laufen und suchen müssen, bevorsie das T-Shirt kaufen. Sie haben das Recht, zu wissen,was drin ist. Es muss einfach erkennbar sein.
Wer jetzt sagt: „Das ist wahnsinnig kompliziert“, demsage ich: Wir haben nicht hineingeschrieben: Es soll zum1. Januar 2017 in Kraft treten. – Erst einmal müssen wires in der EU durchsetzen, meine Damen und Herren. Ichhabe das alles persönlich vor Jahren schon einmal beimThema Lebensmittel durchdekliniert. Im Lebensmittel-bereich hat man den Druck der Kundinnen und Kundengehabt. Immer einmal wieder wurde enttarnt, wo dieStoffe herkommen und warum im Futter plötzlich Anti-babypillenrückstände und sonst etwas waren. Da hat mangemerkt, dass man mehr Transparenz für die Kundenschaffen muss, um sich selber im Unternehmen finanzi-ell abzusichern. Was im Lebensmittelbereich möglich ist,auch digital, nämlich eine Rückverfolgbarkeit in der gan-zen Kette, muss für den Textilbereich genauso möglichsein, meine Damen und Herren.
Ich will einen Satz zu Minister Müller sagen, der im-merhin – das kommt bestimmt nachher – ein deutschesTextilbündnis eingeführt hat. Gut so! Gute Geschichte!Aber ich sage Ihnen: 2014 wurde es eingerichtet. Bis2016 wird es nicht einmal einen gemeinsamen Arbeits-plan geben, geschweige denn Veränderungen. Green-peace ist da weiter. Greenpeace hat mit über 30 globalenMarken längst vereinbart, dass bis 2020 giftige Chemika-lien aus den Produkten raus sein müssen.
Falls gleich einer sagen möchte, dass das alles zu schwie-rig ist: Es geht also.Wir haben eine europäische Verordnung zu Transpa-renz- und Offenlegungspflichten bei Konfliktrohstoffenin Arbeit; sie wird verhandelt. Was für Konfliktrohstoffegilt, muss hinsichtlich der Menschen- und Umweltrechteauch für unsere Kleidung gelten.
Bei den Chemikalien muss gelten: Was hier gefährlichund gesundheitsgefährdend ist, ist auch in Myanmar ge-sundheitsgefährdend.Deshalb sage ich: Lassen Sie uns ein System aufbau-en, bei dem am Ende der Kunde erkennt, was Sache ist,bei dem die Unternehmen wissen, was sie zu tun haben,und die Herstellerländer wissen, was in der Europä-ischen Union gefragt ist! Lassen Sie uns, Herr Müller,unsere Entwicklungshilfe danach ausrichten! Unser Zielmuss sein, nicht nur ein paar Pioniere zu haben, die statt„Fast Fashion“ „Fair Fashion“ produzieren, sondern alsEuropäer ein Zeichen zu setzen, dass wir die Menschen-rechte umsetzen wollen. Ich bitte Sie um Zustimmungdazu, weil wir dann die Transparenz- und Sorgfaltsregelndefinieren können, sie umsetzen können, weil dann dieKunden sich danach verhalten können. Wer, wenn nichtwir, soll denn eine solche Menschenrechtsinitiative er-greifen?
Vielen Dank, Renate Künast. – Nächste Rednerin:
Mechthild Heil für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolle-ginnen und Kollegen, insbesondere von den Grünen! Ichdanke Ihnen ausdrücklich für den Antrag „Kleidung fairproduzieren“, den Sie hier eingebracht haben. Ich glaubenämlich: Es gibt niemanden in diesem Raum, der nichtdie Arbeitsbedingungen in Textilfabriken in Bangla deschund in anderen produzierenden Ländern verbessernmöchte. Auch in der Bevölkerung wächst die Zahl derer,die gern wissen wollen, ob der Kaffee, den sie trinken,und die Bluse, die sie tragen, fair produziert wurden. Vie-le Menschen in Deutschland sind sensibilisiert, und dasfinde ich richtig gut,
zeigt es doch – bei aller Abschottungsrhetorik der letz-ten Monate und bei allem lautstarken Protest und Ab-lehnungsgeschrei, zum Beispiel bezogen auf TTIP oderandere Handelsabkommen –: Es gibt in Deutschland dieLeute, die über den Tellerrand hinaussehen, denen eswichtig ist, unter welchen Bedingungen Waren im Aus-land produziert werden, die wir anschließend kaufen. Esgibt immer mehr Menschen, die verstehen, dass wir sol-che Herausforderungen nur gemeinsam lösen können –gemeinsam in Europa und in einem gemeinsamen Marktzum Beispiel mit den USA.Wir allein in Deutschland haben nicht die Markt-macht, die Arbeitsbedingungen zum Beispiel in Bangla-desch zu ändern.
Auch deswegen ist TTIP wichtig. Ich teile das Ziel, dieTransparenz für die Verbraucher in Bezug auf die Lie-ferketten zu verbessern und die Unternehmen bei derEinhaltung ihrer Sorgfaltspflichten stärker in die Ver-antwortung zu nehmen. Herzlichen Glückwunsch an dieGrünen! Frau Künast, Sie haben es wirklich geschafft,dieses Thema in dieser Woche wieder prominent in denMedien zu platzieren.
Renate Künast
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Vielen Dank für die Initiative. Das tut dem Thema gut.
Aber auch, wenn wir die übergeordneten Ziele, die Sieformuliert haben, sehr wohl teilen,
so halten wir doch Ihre Lösungsansätze weder für not-wendig noch für zielführend.
Die Wirklichkeit ist viel mühsamer und viel komplizier-ter, als Sie das hier eben dargestellt haben. Denn nichtein weiteres Gesetz in Europa ist notwendig. Wichtig ist,alle relevanten Akteure entlang der Lieferketten einzu-binden. Dazu gehören natürlich die Unternehmen, dazugehören die Länder, also die Regierungen, dazu gehörendie Gewerkschaften, und dazu gehören natürlich auchStandardorganisationen, wie zum Beispiel die ILO, dieArbeitsstandards festlegen. Alle müssen gemeinsam aneinen Tisch und in den Verbesserungsprozess eingebun-den werden.Deshalb ist unser Ansatz ein anderer. Er entsprichtübrigens auch den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft undMenschenrechte. Wir treiben den Verbesserungsprozessauf nationaler und auf internationaler Ebene voran, mitfreiwilligen und mit verbindlichen Regelungen. Ich glau-be, diese Mischung ist uns wirklich gut gelungen.Sie selber haben das Textilbündnis angesprochen. IhreKritik am Textilbündnis verstehe ich allerdings nicht. Siesagen, das Textilbündnis sei ausschließlich national undfreiwillig,
deswegen bringe es nichts.
Was ist das wieder für ein Weltbild? Von den Linken binich es gewöhnt, aber nicht von den Grünen. Also: Alles,was freiwillig geschieht, ist schlecht, alles, was auf staat-lichem Zwang beruht, ist gut. Das widerspricht nicht nurjeder menschlichen Erfahrung, sondern das ist auch sach-lich vollkommen falsch.
Ja, die Mitgliedschaft im Textilbündnis ist freiwillig.Aber: 55 Prozent des deutschen Textileinzelhandels sindin diesem Bündnis organisiert, und wenn man sich dieEntwicklung ansieht, dass stellt man fest, dass das, wasim Oktober 2014 mit 34 Teilnehmern angefangen hat,jetzt auf immerhin 180 Mitglieder angewachsen ist.
Dazu zählen im Übrigen auch große Konzerne wie Ede-ka, Aldi, Adidas, Boss, H&M, KiK oder Otto, die natür-lich alle international aufgestellt sind.
Es ist also nicht so, dass es sich hierbei um ein rein nati-onales Bündnis handelt. Eine internationale Ausrichtungwar von Anfang an unser Ziel. Dazu kommt – ich glaube,das ist auch sehr entscheidend –: Die Teilnehmer habensich auf eine hohe Verbindlichkeit geeinigt.
Dafür unterziehen sie sich einem Audit durch unabhängi-ge Dritte. Dieser Prozess läuft im Moment. Im nächstenMonat wird er beendet, und das Ergebnis wird natürlichauch veröffentlicht, damit jeder sehen kann, wie gut dieUnternehmen eigentlich sind.
Das Bündnis leistet also viel mehr, als Sie unterstel-len. Das ist ein Riesenerfolg. Das ist richtig gut, und wirsind noch lange nicht am Ende dieser Entwicklung. Da-für an dieser Stelle ein ganz herzliches Dankeschön anunseren Entwicklungsminister Gerd Müller und auch ansein Haus. Da er nicht da ist, kann es der Staatssekre-tär sicherlich ausrichten. Vielen Dank von uns an Sie fürIhre Arbeit!
Frau Heil, erlauben Sie eine Zwischenbemerkung
oder -frage des Kollegen Kekeritz?
Nein, er hat hier gleich die Gelegenheit. Er kann noch
sprechen.
Kann er nicht.
Mechthild Heil
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Sie hatten ja eine Vorreiterin. Frau Künast hat gespro-
chen. Nein.
Sie sehen: Deutschland geht in vielen Fragen voran.
Unser Ziel ist klar: Wir wollen die sozialen und ökologi-
schen Standards bei der Herstellung von Textilien erhö-
hen. Dazu brauchen wir Partner. Allein werden wir das
nicht schaffen. Die bis zu 140 Produktionsstufen, die –
C&A hat das im Moment veröffentlicht – für die Her-
stellung eines Hemdes nötig sein können, bekommt man
nicht einfach mit einem deutschen oder europäischen
Gesetz in den Griff. Wir brauchen die Partnerschaft, das
Know-how, die Einsicht der Unternehmen. Kleidung
wird in Dutzenden von Ländern produziert, in Tausenden
von Betrieben mit ganz unterschiedlichen Problemstel-
lungen: vom Mindestlohn bis hin zur Kinderarbeit, von
gentechnisch veränderten Baumwollpflanzen bis hin zu
gesundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen, vom ver-
nachlässigten Brandschutz bis hin zum fehlenden Tier-
schutz. Wenn wir darauf Einfluss nehmen wollen, brau-
chen wir Verbündete, um unsere Marktmacht zu stärken,
und wir brauchen die Bereitschaft der Länder, uns auf
diesem Weg zu begleiten.
Deswegen, liebe Grüne, liebe Kollegen von den Lin-
ken, bei den Zielen sind wir uns einig, aber die von Ihnen
vorgeschlagenen Wege sind einfach falsch. Deshalb leh-
nen wir Ihren Antrag ab.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollegin Heil. – Nächster Redner in der
Debatte: Niema Movassat für die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit gro-
ßem Tamtam bewirbt Entwicklungsminister Müller im-
mer sein Textilbündnis. Er will damit die schlechten Ar-
beitsbedingungen von Näherinnen weltweit bekämpfen.
Was die Textilkonzerne davon halten, lässt sich einem
Rundbrief des Modeverbandes German Fashion entneh-
men. Dieser Lobbyverband der deutschen Modeindustrie
schrieb letztes Jahr an seine Mitglieder – ich zitiere –:
Man habe „alle problematischen Punkte aus dem Akti-
onsplan herausverhandeln“ können, es gebe nun „kei-
ne Verbindlichkeit mehr“ beim Textilbündnis. German
Fash ion ruft seine Mitglieder zum Beitritt beim Textil-
bündnis auf, weil man damit werben könne und weil man
sich damit „unter einen Schutzschirm der Bundesregie-
rung“ begibt. Der Textillobby geht es also nicht um eine
Verbesserung der Situation der Näherinnen, sondern vor
allem um einen Schutzschirm vor schlechter Presse.
Das Textilbündnis dient vor allem der Imagepflege, so-
wohl der Textilkonzerne als auch der Bundesregierung.
Schon deshalb ist es der falsche Weg.
Zu Ihren Bündnispartnern, Herr Fuchtel, gehört auch
KiK, ein Unternehmen, das sich bis heute weigert, an-
gemessene Entschädigungszahlungen an die Opfer der
Brandkatastrophe von Ali Enterprises in Pakistan zu zah-
len. Damals starben 289 Menschen. Wir hatten hier im
Bundestag im November ein Gespräch mit Frau Parveen.
Sie ist Witwe, ihr Mann starb durch den Brand in der Fa-
brik in Pakistan. Sie beklagte, dass es KiK vollkommen
egal ist, was mit den Überlebenden und den Angehörigen
der Opfer geschieht. KiK habe seine Versprechen nicht
gehalten. Das ist ein Skandal. Und Sie wollen solche
Partner?
Letzten Monat ist mit Primark ein weiteres schwarzes
Schaf der Branche dem Bündnis beigetreten. Für das Un-
ternehmen MDC Sportswear brachte dies das Fass zum
Überlaufen. In einem Brief an Minister Müller erklärte
die Firma – ich zitiere –:
Der Beitritt von Primark, einem Unternehmen, wel-
ches mit seiner Wegwerfmode das Gegenteil dessen
macht, wofür wir stehen, macht es uns unmöglich,
noch länger dem Bündnis anzugehören.
Das Textilbündnis besteht seit Oktober 2014. – Ich zitiere
weiter –:
Seitdem hat sich gar nichts getan.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Bemerkung oder Zwi-
schenfrage von Frau Pfeiffer von der CDU/CSU?
Ja, gerne.
Vielen Dank, Frau Vorsitzende. – Lieber Kollege
Movassat, sind Sie nicht mit mir einer Meinung, dass es
besser ist, die KiKs und Primarks dieser Welt in diesem
Bündnis zu haben, als wenn sie außen vor bleiben? Von
MDC wissen wir, dass sie hervorragend produzieren und
dass alles in Ordnung ist, bei KiK und Primark wissen
wir es nicht. Sie unterwerfen sich mit dem Bündnis der
allgemeinen Verbindlichkeit, die sie sich selber geben,
und da sind sie auch zu packen. Ich finde es auch nicht
gut, dass sie ihren Verpflichtungen bis heute nicht nach-
gekommen sind. Das müssen wir einmal sehen. Aber ich
habe sie doch lieber im Bündnis, um zu fragen: Warum
bist du die Verpflichtung noch nicht eingegangen? Dann
kann man sie eher zur Verantwortung ziehen, damit sie
ihrer Verpflichtung nachkommen, als wenn sie außen vor
sind und ich noch nicht einmal ein Argument habe, sie
daran zu erinnern.
Das erste Problem ist, Frau Kollegin Pfeiffer, dass esum die Glaubwürdigkeit von Partnern geht, die man sichnimmt. Wenn Partner nicht einmal in Fällen, in denen sie
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Entschädigung zahlen sollten, reagieren, dann versprichtdas nichts Gutes für die Zukunft, wenn sie in einem Tex-tilbündnis mitmachen.Das zweite Problem ist, dass das Textilbündnis, dasHerr Müller initiiert hat, am Ende keine allgemeinen Ver-pflichtungen vorsieht. Es wird Vorschläge machen, unddie Unternehmen können sich dann individuelle Maß-nahmenkataloge geben. Das ist natürlich ganz toll: in-dividuelle Maßnahmenkataloge. Die werden mit Sicher-heit nichts hineinschreiben, was sie irgendwie schädigenkönnte. Insofern funktioniert dies so nicht.Wenn man die Unternehmen wie Primark und KiK indie Pflicht nehmen möchte, dann muss man bereit sein,allgemeine Verpflichtungen aufzuschreiben. Wie ich amAnfang mit dem Zitat von German Fashion ausführte,gibt es keine allgemeinen Verpflichtungen. Das hat dieModeindustrie herausverhandelt. Deshalb sind die über-haupt noch an Bord. Dadurch wird aufgezeigt, dass die-ses Bündnis so nicht funktionieren kann.
Um noch einmal auf MDC Sportswear zurückzukom-men: Wenn man sich diese Kritik am Textilbündnis vorAugen führt, sieht man, dass sie vernichtend ist.Herr Müller sagt, dass bis 2017 mindestens 75 Prozentder Unternehmen des deutschen EinzelhandelsmarktesMitglied des Bündnisses sein werden. Das klingt toll,aber da gilt eben: Masse vor Klasse. Denn es wird keineallgemeinen Verpflichtungen geben, sondern jedes Unter-nehmen wird das machen, was es will. Es bringt nichts,wenn man Mitglied eines Bündnisses ist, am Ende abernichts verpflichtend umsetzen muss. Das ist eine Farce.
Wenn Herr Müller den Näherinnen wirklich helfenwill, dann müsste er ein Gesetz für die Auslandstätigkeitdeutscher Unternehmen vorlegen; denn die Einhaltungvon Menschenrechten darf nicht auf Freiwilligkeit beru-hen. Dabei geht es nicht nur um die Textilindustrie. Esgeht auch um Kinderarbeit in indischen Steinbrüchen zurHerstellung von Grabsteinen auf unseren Friedhöfen, umsklavenähnliche Arbeitsbedingungen in Kongos Minenzur Rohstoffgewinnung für unsere Handys oder ebenauch um die Ausbeutung von Näherinnen. Die Problemesind dieselben.Hier soll der Nationale Aktionsplan „Wirtschaftund Menschenrechte“ Abhilfe schaffen. Die Bundes-regierung wird ihn Ende dieses Jahres vorlegen. Damitkommt sie einer Forderung der Vereinten Nationen undder EU-Kommission aus dem Jahre 2011 nach. Damalshatten die UN gefordert, dass Unternehmen Menschen-rechtsverletzungen in der gesamten Produktionsketteausschließen müssen. Die Bundesregierung hat aber erst2014 begonnen, sich damit zu befassen. Zu Beginn desBundestagswahljahres 2017 will sie den Prozess mit un-verbindlichen Empfehlungen abschließen.Klar ist: Vor der Bundestagswahl wird es nichts Kon-kretes mehr geben, und nach der Wahl wird es eine neueRegierung geben. Die wird wahrscheinlich erst einmaldie Vorschläge prüfen wollen. Das heißt auf gut Deutsch:Bis 2018 wird nichts oder fast nichts passieren. Damitwird Deutschland sieben Jahre, nachdem UN und EU na-tionale Aktionspläne gefordert haben, immer noch nichtgehandelt haben. Das ist eine schlechte Nachricht für alldie, die weltweit unter erbärmlichen Arbeitsbedingungenschuften, auch damit deutsche Konzerne saftige Gewinneerwirtschaften.Mit unserem Antrag haben wir konkrete Vorschlägefür Verbesserungen gemacht. Wir schlagen vor, dass dieBundesregierung einen Gesetzentwurf vorlegt, der ers-tens menschenrechtliche Mindeststandards entlang dergesamten Wertschöpfungskette verbindlich macht, zwei-tens die zivilrechtliche Haftung bei Menschenrechtsver-stößen ausbaut und drittens ein Unternehmensstrafrechtbeinhaltet, wie es fast alle EU-Länder mittlerweile ein-geführt haben.
Wenn die Bundesregierung die Einhaltung der Men-schenrechte bei Arbeiterinnen in Bangladesch und ähnli-chen Staaten tatsächlich verbessern will, dann sollte sieaufhören, weitere Jahre mit Scheindebatten zu verbrin-gen, und endlich konkret zur Tat schreiten.Danke schön.
Vielen Dank, Kollege Movassat. – Die nächste Redne-
rin: Elvira Drobinski-Weiß für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tri-bünen! Im Zuge der Globalisierung ist Wirtschaft, wasProduktions-, Liefer- und Dienstleistungsketten angeht,weltweit sehr weit verzweigt. Insbesondere lohnkos-tenintensive Arbeiten werden oft in den Entwicklungs-und Schwellenländern Asiens oder Afrikas erledigt. Daskönnte man positiv sehen; denn eine starke lokale Wirt-schaft in den Entwicklungsländern bietet diesen Chancenauf wirtschaftliche Entwicklung und Wissenstransfer.Multilaterale Unternehmen können also einen erhebli-chen Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung leisten.Mit „nachhaltig“ meine ich, dass diese ihre Ziele auchnach sozialen, menschenrechtlichen und ökonomischenKriterien ausrichten. Einige deutsche Unternehmen neh-men diese gesellschaftliche Verantwortung bereits wahrund engagieren sich. Sie integrieren Nachhaltigkeitsstra-tegien in ihr Kerngeschäft. Dieses Engagement jedoch –jetzt kommt eine Einschränkung – ist nur freiwillig.Bisher muss kein Unternehmen über Arbeits- und Um-weltbedingungen Rechenschaft ablegen.Die vorher schon genannten Unglücksfälle habengezeigt: Ein nachhaltiges Engagement der internationalagierenden Unternehmen ist nicht Standard. Die verant-wortungsvollen Unternehmen stehen im Wettbewerb mitdenen, die nach wie vor Diskriminierung, Lohndumpingund Umweltverschmutzung verantworten oder akzep-Niema Movassat
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tieren. Leider fehlt derzeit jegliche Transparenz. Nochschlimmer finde ich: Die Nichtanwendung menschen-rechtlicher Sorgfalt und die Zerstörung der Umwelt blei-ben für diese Unternehmen folgenlos. Das wollen wirund das wollen viele Konsumenten so nicht länger hin-nehmen.
Wir wollen, dass Kinder weltweit zur Schule gehen undnicht in Steinbrüchen oder Textilfabriken arbeiten. Wirwollen, dass Arbeiter so entlohnt werden, dass sie undihre Familien davon leben können. Wir wollen, dass ausder Verletzung von Menschenrechten kein Vorteil gezo-gen werden kann.
Das Textilbündnis, verehrte Kolleginnen und Kolle-gen, stellt eine Handlungsmöglichkeit für gelebte Verant-wortung dar. Ziel des Bündnisses ist es, konkrete Ver-besserungen der sozialen und ökologischen Standardsentlang der gesamten textilen Wertschöpfungskette zuerreichen. Mit dem Bündnis sollen unter anderem in-ternational anerkannte Leitlinien und Standards wie dieUN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte,die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmenoder die ILO-Kernarbeitsnormen – darauf wird der Kol-lege Barthel nachher noch eingehen – flächendeckend inder Bekleidungs- und Textilindustrie umgesetzt werden.Das ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Für Ver-braucherinnen und Verbraucher können derzeit unabhän-gige und transparente Textilsiegel als Orientierung die-nen, anhand derer sie erkennen können, ob ein Produktdiesen Erwartungen entspricht.Sehr geehrte Damen und Herren, die vorliegendenAnträge enthalten vorwiegend Vorschläge, wie man denBereich der Textilproduktion verbessern kann. Das reichtnicht. Nichtregierungsorganisationen decken immer wie-der Verletzungen von Arbeitsrechten und Umweltzer-störungen auf; keine Branche kann sich von diesen Vor-würfen komplett freisprechen. Deshalb begrüße ich, dassauf europäischer Ebene im Oktober 2014 die sogenannteCSR-Richtlinie verabschiedet wurde. Kapitalmarkt ori-en tierte Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern,Kreditinstitute, Finanzdienstleistungsinstitute und Versi-cherungsunternehmen müssen zukünftig eine erweiterteBerichterstattung vorlegen. Das heißt, sie sollen künftigstärker über nichtfinanzielle Aspekte und von ihnen ver-folgte Konzepte berichten. Bundesjustizminister HeikoMaas und sein Ministerium bereiten gerade die Umset-zung in nationales Recht vor.Die Pflichten zur Berichterstattung über nichtfinanzi-elle Aspekte müssen noch in diesem Jahr im Handelsge-setzbuch verankert werden. Im Bereich Umwelt müssendann beispielsweise Angaben zu Treibhausgasemissio-nen, zum Wasserverbrauch, zur Luftverschmutzung oderzum Einsatz erneuerbarer Energien gemacht werden. ImBereich der Arbeitnehmerbelange müssen Angaben zuden Arbeitsbedingungen, zur Achtung der Arbeitnehmer-rechte, zum Gesundheitsschutz oder zur Sicherheit amArbeitsplatz gemacht werden. Es gäbe hier noch weiterePunkte aufzuzählen. Doch für mich ist hier wesentlich:Ein Unternehmen, das kein Konzept hinsichtlich sozialerund ökologischer Standards hat, muss erklären, warumes sie nicht hat.Konsumenten und Investoren erhalten durch diePflichten zur Berichterstattung über nichtfinanzielle As-pekte endlich bessere Informationen über die Geschäfts-tätigkeit von Unternehmen, anhand derer sie entscheidenkönnen, ob sie in die Unternehmen investieren, Liefer-beziehungen mit ihnen eingehen oder deren Produktekaufen. Ich unterstütze diesen Ansatz. Er ist – anders alsder Antrag der Grünen – branchenübergreifend und nichtauf die Textilbranche beschränkt. Und er ist – anders alsder Antrag der Linken – auf europäische Vorgaben ausge-richtet und beschränkt sich nicht auf das nationale Recht.Soziale und ökologische Verantwortung soll ein Wettbe-werbsvorteil und darf nicht länger ein Wettbewerbsnach-teil sein.Vielen Dank.
Danke, Frau Kollegin Drobinski-Weiß. – Jetzt hat der
Parlamentarische Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel
für die Bundesregierung das Wort.
Ha
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Zunächst einmal möchte ich festhalten, dass derEinsturz des Rana Plaza wohl für uns alle ein Grund war,zu überlegen, wieweit wir unser Leben auf Kosten ande-rer gestalten, und Anlass zum Handeln gegeben hat. Wirsind uns auch einig, dass die Transparenz erhöht werdenmuss. Wir sind uns auch einig, dass Unternehmen ihreSorgfaltspflicht in entsprechender Weise wahrzunehmenhaben. Aber wir sind uns, wie ich der Debatte entneh-me, nicht einig, auf welche Weise das geschehen soll. Ichentnehme der Debatte auch, dass manche einfach nichtbereit sind, zur Kenntnis zu nehmen, was alles jetzt aufden Weg gebracht wird.
Ich halte Frau Künast zugute, dass sie von vornhereinsagt, dass die Umsetzung ihres Vorschlags Jahre in An-spruch nehmen wird. Aber gerade das wollen wir nicht.Wir wollen, dass jetzt geholfen wird, dass jetzt mit denMaßnahmen begonnen wird. Das hilft den Näherinnen inBangladesch und anderswo.
– Ja, es hat 2014 angefangen.Sie sagen, man kann als Verbraucher überhaupt nichtstun. Ich habe in meiner langen Zeit als Abgeordneter hiernoch nie mein Handy gebraucht, um etwas zu demons-Elvira Drobinski-Weiß
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trieren. Zwischenzeitlich gibt es die App „Siegelklar-heit“, die Sie herunterladen können. Sie können damitbeim Einkauf das Siegel an einem Hemd oder an einerBluse einscannen. Die App zeigt dann eine rote, einegelbe oder eine grüne Ampel. Die App sagt Ihnen zumBeispiel auch, warum eine rote Ampel zu sehen ist. Dasist doch ein Fortschritt.
Die Menschen können anfangen, selber mitzuwirken.Wir brauchen in der gesamten zukünftigen Debatteauch den Konsumenten an unserer Seite.
Wenn 87 Prozent der Verbraucher sagen, es sei ihnenwichtig, zu wissen, wie die Kleidung, die sie tragen, her-gestellt worden ist, dann müssen wir ihnen die Möglich-keit geben, sich noch im Shop zu informieren, um dannentsprechend einkaufen zu können.
Das ist ein ganz praktischer Fortschritt in dieser Ange-legenheit.
Die Debatte hat uns auch veranlasst, in neuen Katego-rien zu denken, zum Beispiel in der Kategorie „Lieferket-ten“; denn durch die Daten von Lieferketten haben wirganz andere Möglichkeiten, Probleme zu analysieren,Probleme stückweise anzugehen. Diese neue Politik derLieferketten haben wir nach Europa getragen, sogar biszum G-7-Gipfel. Das hat zu Beschlüssen geführt, derenUmsetzung jetzt ansteht. Eine Umsetzung erfolgt auchim Textilbündnis. Das ist keine kleine Veranstaltung nurzur Schau und auf Wahlen bezogen, wie hier behauptetwurde; das ist angesichts der Problematik ein bisschenzu billig, Herr Movassat. Vielmehr wollen wir dafür sor-gen, dass alle an einem Strang ziehen. Wir wollen, dassman kritisch diskutiert und Stück für Stück die Qualitätverbessert. Das ist das Ziel der ganzen Übung. Das istmeiner Meinung nach für die Zukunft sehr wichtig.
Wir sind bei weitem nicht nur national unterwegs. Wirhaben das Anliegen an die EU-Kommission herangetra-gen. Es gibt jetzt die Garment-Initiative, die wir absolutunterstützen. Wir arbeiten mit allen Ländern zusammen,die in Europa bereits etwas tun. Wir sind auch vor Ort ak-tiv. Zwischenzeitlich gehören unserem Bündnis Firmenan, die allein in Bangladesch insgesamt ein Umsatzvo-lumen von circa 1,5 Milliarden Dollar erreichen. Wer danoch behauptet, dass sich nichts bewegt, der ist in eineranderen Welt zu Hause.
– Das bewegt sich sehr wohl mit uns, und zwar zentralmit uns. So etwas gab es vorher noch nicht.
Ich kann nur dazu aufrufen, dass wir diesen konkre-ten Weg weitergehen. Wir sind sehr daran interessiertund sehen mit großer Zuversicht, dass sich immer mehrFirmen dem Bündnis anschließen. Vorhin wurde davongesprochen, dass dem Bündnis bereits so viele Firmenbeigetreten sind, dass ein Marktanteil von 55 Prozent ab-deckt ist. Man kann davon ausgehen, dass der Anteil inder Zwischenzeit bei fast 60 Prozent liegt. Das Ziel istein Marktanteil von 75 Prozent. Ich möchte sehen, ob Siedann noch solche Reden halten.
Ich bitte um weitere Debatten an dieser Stelle, damitwir über die positive Entwicklung, die mit Hilfe des BMZerfolgt, berichten können. Ich kann Sie nur einladen:Helfen Sie mit, Verbraucher zu aktivieren, damit wir beider Erreichung der Ziele noch schneller vorankommen.Vielen Dank.
Herr Fuchtel, bevor Sie das Pult verlassen: Erlauben
Sie noch eine Frage von Herrn Movassat?
Ha
Ich habe ja schon gesagt: Jede Chance, ein bisschen
länger über dieses Thema zu reden, ist gut.
Es freut mich natürlich, Herr Staatssekretär, dass ich
Ihnen mehr Redezeit verschaffen kann. Mich würde in-
teressieren: Wird es im Rahmen des Textilbündnisses am
Ende allgemeine Regeln für alle Teilnehmer, für alle Un-
ternehmen geben? Oder wird es nur einen Katalog mit
individuellen Maßnahmen geben? Ehrlich gesagt, das ist
eine Frage, die mir noch keiner aus der Bundesregierung
ganz konkret beantworten konnte.
Ha
Die Entwicklung wird natürlich dahin gehen, dassman zum Schluss eine plakative Möglichkeit hat, um zusehen, ob ein Produkt nachhaltig hergestellt wurde oderParl. Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel
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nicht, aber das kann nicht von heute auf morgen gesche-hen.
Es wurde von Frau Künast ja gesagt, dass es Jahre dau-ern wird, bis Ihre Gesetzgebung überhaupt umgesetzt ist.Ich wage allerdings die Behauptung, dass die Praxis hierschneller sein wird als die Umsetzung dessen, was FrauKünast hier sagt.
Sie ziehen völlig falsche Schlüsse. Ich kann nur sagen:Da muss ein Schritt nach dem anderen gemacht werden,damit das zu einem Ganzen werden kann. Seinerzeithatten wir sehr viele Siegel und alles Mögliche auf demMarkt. Es geht darum, dass man Konsens herstellt unddas entsprechend auf den Weg bringt.
Sie können hier aber nicht verlangen, dass das Ei bereitsgelegt ist, bevor überhaupt daran gedacht wurde, dass esentstehen soll.Insoweit, meine Damen und Herren: Stück für Stückwird sich die Sache bewegen. Wir haben aber nicht weg-geschaut, als die Kameras nicht mehr da waren, sondernMinister Müller hat weiter für die Sache gekämpft. Er hatZwischenerfolge, die wir heute darstellen konnten.
Vielen herzlichen Dank, Herr Fuchtel. – Nächster
Redner in der lebendigen Debatte: Klaus Barthel für die
SPD.
Es ist ja schön, dass es eine lebendige Debatte gibt unddass wir uns offensichtlich in den Zielen sehr einig sind.Es ist auch gut, dass das Thema Rana Plaza hier nicht inVergessenheit gerät und dass wir uns, wie das auch FrauKünast getan hat, heute nach drei Jahren noch einmal da-ran erinnern. Ich will noch einmal daran erinnern, dasssolche gefährlichen Arbeitsbedingungen und die Gefähr-dung von Gesundheit und Leben von Menschen, krank-machende Arbeit und die Zerstörung der natürlichenLebensgrundlagen zentrale Ursachen von Flucht undVertreibung sind und dass man diesen Zusammenhangimmer wieder herstellen muss.
Ich glaube auch, dass es Sinn macht, sich 14 Tage vordem 1. Mai weltweit für gute Arbeit einzusetzen.In der Tat gibt es Fortschritte zu verzeichnen, unddie sollten wir nicht leugnen. Das macht keinen Sinn.Zum Beispiel hat es im Jahr 2000 weltweit nicht einmalzehn Rahmenabkommen zwischen Arbeitgeberverbän-den und Gewerkschaften gegeben, die international Ar-beitsbedingungen regeln. Mittlerweile gibt es 85 davon.Deren Erfolg hängt zum Beispiel davon ab, dass sie inden Partnerländern wirksam kontrolliert und umgesetztwerden. Die Erfahrung zeigt: Dort, wo es starke Gewerk-schaften und betriebliche Vertretungen mit gesetzlichenRechten gibt, funktioniert das auch einigermaßen. Dortfunktioniert es jedenfalls besser. Deswegen ist es so, dassdie Sozialdemokratie zum Beispiel bei allen internatio-nalen Abkommen so penetrant für die Einhaltung vonILO-Kernarbeitsnormen kämpft,
die Streikrecht, Tarifautonomie, Verbot von Kinderar-beit, Koalitionsfreiheit usw. umfassen.Es ist andererseits natürlich auch richtig – das ist an-gesprochen worden –, dass der jetzige Stand, den wirerreicht haben, unbefriedigend ist. Es könnte viel mehrsolcher Rahmenabkommen geben. Wir haben schon seit15 Jahren die Bemühungen auf europäischer Ebene umentsprechende Regelungen beim Import von Produkten,bei Partnerschaftsabkommen usw. Die Umsetzung derinternationalen Vereinbarungen hinkt jedoch hinterher.Stichworte sind SDGs und CSR und Nationaler Aktions-plan.Wenn ich beim Nationalen Aktionsplan bin, dannmuss ich mich etwas über die Linken wundern; denn siescheinen das, worauf sich dieser bezieht, überhaupt nichtzu kennen. Herr Movassat, Sie haben übrigens zu allemMöglichen geredet, aber nicht zu Ihrem Antrag. Sie ha-ben einen Rundumschlag gemacht. Was Sie hier beantra-gen, ist ziemlich erbärmlich. Da heißt es zum Beispiel:Die Bundesregierung wird aufgefordert, „den Prozessbei den Vereinten Nationen zur Entwicklung verbindli-cher internationaler Standards im Bereich der Wirtschaftund Menschenrechte zu unterstützen“. Meine Damenund Herren, so etwas gibt es seit 2011, und es geht jetztdarum, das national umzusetzen. Das erwähnen Sie nichteinmal.
In Ihrem Antrag blenden Sie die internationale Dimensi-on völlig aus, weil Sie sich nicht trauen, die internationa-le Komponente in Ihren Reihen anzusprechen.
Sie müssen das einfach einmal nachlesen. Es gibt eineDifferenz zwischen Ihrem Antrag und Ihren Reden.
Parl. Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel
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Bei der Formulierung Ihres Antrags hatten Sie die natio-nale Brille auf; bei den Reden, die Sie hier halten, ist dasetwas anderes.
Es gibt in der Tat viel zu tun. Diese Koalition gehtdas Thema an. Das machen wir. Auch das Textilbündnisreicht nicht aus; aber es geht immerhin voran. Wir sindgespannt, was die Arbeitsgruppen im Sommer auf denWeg bringen.Diejenigen, die für verbindliche und umfassende Re-gelungen kämpfen, haben recht: Die Zeit der Freiwil-ligkeit läuft irgendwann einmal ab. Die Verantwortungtragen diejenigen, die jahrelang blockiert haben. HerrFuchtel, ich glaube, wir müssen irgendwann zu einemPunkt kommen, an dem wir sagen – den Vergleich mitder Ampel finde ich sehr gut –: Wir haben in der Stra-ßenverkehrsordnung keine freiwillige Entscheidung, obman bei Rot halten oder weiterfahren will, sondern wirhaben einen verbindlichen Halt, und wer nicht hält, wirdbestraft.
Ich glaube, an diesem Punkt sind wir langsam angekom-men.Deswegen kämpfen wir – gemäß Beschlüssen unsererFraktion und unserer Partei – für Transparenz im Welt-handel, für verbindliche Standards und Regeln, für eineverbindliche Umsetzung, für verbindliche Kontrollenund für Sanktionen. Wir kommen damit auch vorwärts,zum Beispiel bei den Konfliktmineralien. Die Bundes-regierung hat unsere Position mittlerweile übernommenund setzt sich in Europa für verbindliche Regelungen fürden Import von Konfliktmineralien ein.
Herr Kollege Barthel, ich will Sie in Ihrem Re-
deschwall nicht unterbrechen,
aber der Kollege Movassat meldet sich schon seit gerau-
mer Zeit. Darf er etwas sagen oder fragen?
Er darf, natürlich.
Herr Kollege Barthel, erstens glaube ich nicht, dass es
nationalistisch ist, wenn man fordert, dass der Bundestag
Gesetze verabschiedet. Diese Kritik finde ich ziemlich
absurd.
Zweitens. Natürlich ist es besser, wenn man bei sol-
chen Themen international agiert. Da stimmt Ihnen die
Linke völlig zu. Deshalb habe ich in meiner Rede ausge-
führt – vielleicht lesen Sie das später noch einmal nach –,
dass die UN 2011 die UN-Leitprinzipien verabschiedet
hat. Deutschland hat aber erst 2014 begonnen, sich mit
der Umsetzung zu beschäftigen. Meine Kritik ist, dass
die Bundesregierung viel zu spät begonnen hat, die in-
ternationalen Anforderungen umzusetzen. Das habe ich
hier gesagt. Ich finde es total gut, wenn dieser Prozess
zügig vorankommt. Meine Sorge ist allerdings, dass die
konkrete Umsetzung auf die Zeit nach der Bundestags-
wahl verschoben wird, sich die Umsetzung also noch
länger hinzieht. Ich finde, wir müssen hier schneller han-
deln; denn es geht um Hunderttausende, um Millionen
Menschen, die unter schrecklichen Arbeitsbedingungen
leiden. Hier ist auch Deutschland gefragt, seinen Beitrag
zu leisten, auch durch die Umsetzung internationaler Re-
gelungen.
Herr Movassat, das ist genau der Punkt. Das, wasSie hier beschreiben, ist ja richtig. Ich habe gerade be-stätigt, dass wir dabei sind, uns dafür einzusetzen, dassdieser Nationale Aktionsplan möglichst bald umgesetztwird. Dass wir diesbezüglich Druck machen, ist allge-mein bekannt. Das, was Sie hier sagen, ist richtig; aberin Ihrem Antrag steht genau das nicht drin. In Ihrem An-trag nehmen Sie darauf nicht Bezug. Ich habe ja nichtgesagt, dass wir nicht auch national handeln sollen, dasswir Klagerechte nicht schaffen sollen usw. Wir sind fürAnlaufstellen. Wir brauchen überall Anlaufstellen, beidenen man sich beschweren kann. Da sind wir uns völligeinig. Mich stört nur, dass Sie in Ihrem Antrag überhauptnicht darauf abheben, sondern so tun, als gäbe es die in-ternationale Dimension gar nicht, als ginge es nur darum,deutsche Unternehmen in Deutschland zu verpflichten.
Das führt uns aber überhaupt nicht weiter, weil das imglobalen Wettbewerb nicht funktionieren kann. Das istdas Problem, das wir mit Ihrem Antrag haben. In IhrenReden sagen Sie oft etwas anderes als das, was in diesemAntrag steht. Das müssen wir hier einfach einmal kon-statieren.
Ich war gerade dabei, auszuführen, dass die SPD-Bun-destagsfraktion und die Partei nicht nur Beschlüsse fas-sen, sondern wir diese Beschlüsse hier auch sukzessiveumsetzen. Das Europäische Parlament hat all unserePositionen, was die Anforderungen an Freihandels-abkommen betrifft, übernommen, einschließlich derILO-Kernarbeitsnormen usw. usf. Natürlich müssen dieHausarbeiten gemacht werden.
– Der Kernarbeitsnormen. Entschuldigung, wenn ichmich versprochen habe.Klaus Barthel
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Das heißt, wir wollen, dass in internationalen Verträ-gen nicht in erster Linie Kapital und Investitionen ge-schützt werden, sondern dass es eben auch einklagbareRechte, umsetzbare und durchsetzbare Rechte für dieMenschen und zugunsten der Umwelt gibt usw. Wirbrauchen eine neue Qualität von internationalen Abkom-men. Dass Sie genau diese Dimension nicht ansprechen,bringt uns dazu, dass wir Ihren Antrag ablehnen, auch mitdem Hinweis – Kollege Rebmann hat es schon ein paarMal dazwischengerufen –, dass die Koalition hier schonvor zwei Jahren ihren globalen Ansatz für gute Arbeitweltweit offengelegt hat und wir weiter daran arbeiten.Diesen müssen wir an der einen oder anderen Stelle si-cher noch präzisieren und umsetzen, aber wir dürfen dasThema nicht auf Teilaspekte verengen, sondern müssenes umfassend verstehen. Darum geht es in dieser Debatte.
Vielen herzlichen Dank, Kollege Barthel. – Wir sind
sehr weit hinter dem Zeitplan. Deswegen würde ich bit-
ten, jetzt keine Zwischenfragen mehr zu stellen; denn es
gibt im weiteren Verlauf der Gesetzesberatungen noch
viel zu reden.
– Oh, Herr Rebmann. – Letzter Redner in der Debatte:
Jan Metzler für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist sehrschade, dass keine Zwischenfragen mehr gestellt werdendürfen.
Ich versuche, mich jetzt kurzzufassen. Aber ich möchtezum Abschluss der Debatte – ich habe ja das Privileg,der letzte Redner in dieser Debatte zu sein – eines nocheinmal unterstreichen: Es ist deutlich geworden, dass wirin der gemeinsamen Zielsetzung Einigkeit haben, nur aufder Strecke dahin wollen wir einen unterschiedlichenWeg nehmen. Ich bin Frau Künast an dieser Stelle sehrdankbar, dass sie den Aspekt Rana Plaza, die schlimmeTragödie, zu Beginn dieser Debatte in den Mittelpunktgestellt hat. Ich glaube – auch das ist deutlich gewor-den –, dass keiner der hier im Haus anwesenden Kolle-ginnen und Kollegen letztlich nicht betroffen ist, wennes um die Arbeitsbedingungen geht, die sehr schrecklichsind, ob das jetzt in Bangladesch oder anderen Ländernist, und sie auch so benennt.Aber wir sind uns uneins darüber, ob wir auf Regu-lierung oder Freiwilligkeit, auf Bevormundung oderEigenverantwortung setzen. Ich bin überzeugt, dass derMittelweg die intelligenteste Lösung ist. In diesem Zu-sammenhang ist bei aller Kritik auch die internationaleDimension einzubeziehen. Ich bin dem Kollegen Barthelsehr dankbar, dass er sie gerade zentral genannt hat. Ichglaube, dass freiwillige Initiativen den gewünschten Ef-fekt erzielen können. Das sehen wir eindeutig am Textil-bündnis. Das mag man jetzt alles belächeln oder klein-reden, aber mittlerweile hat es so viele Teilnehmer, dassfast 75 Prozent des Marktes abgedeckt sind. Das ist eineHausnummer, die man hier nicht kleinreden sollte.Im Endeffekt sollte man nach dem Motto vorgehen,dass das Bessere der Feind des Guten ist. Darin sind wiruns auch alle einig. Wir sind auf dem Weg, und wir ver-bessern uns kontinuierlich. Es ist nicht so, dass an dieserStelle nichts getan wird. Das Textilbündnis ist eindeutigein richtiger und wegweisender Ansatz, um diese Proble-me zu lösen. Ich muss sagen: An dieser Stelle möchteich einen Dank an das BMZ und den anwesenden Parla-mentarischen Staatssekretär Fuchtel loswerden. Denn esist alles andere als eine Pseudoveranstaltung. Es ist einnachhaltiges Konzept, das auf Selbstverpflichtung derTeilnehmer und auf Monitoring durch externe Partnersetzt. Mitnehmen, überzeugen und handeln, das nenneich Change Management par excellence.Der Tatsache, dass gewisse Richtlinien Sinn machen,stimme ich zu. Ein gutes Beispiel sind die Berichtspflich-ten, die sozialverantwortliches Handeln für Konzerne inden Mittelpunkt stellen. Frau Kollegin Drobinski-Weißhat darauf hingewiesen, dass es ab 2017 eine Verpflich-tung für börsennotierte Unternehmen gibt, eine Erklä-rung zu Umwelt-, Arbeitnehmer- und Sozialbelangen, zuMenschenrechten und Korruption als Teil der jährlichenWirtschaftsprüfung abzugeben. Somit gibt es auch nachaußen hin Transparenz, und eigenes Handeln wird doku-mentiert. Für viele deutsche Unternehmen ist das nichtwirklich neu. Viele wissen genau, dass diese Informatio-nen die ganze Zeit über ihr eigenes Handeln bestimmen.Sie weisen sie freiwillig in ihren Geschäftsberichten oderin zusätzlichen Nachhaltigkeitsberichten aus, um in die-sem Zusammenhang letztlich auch die gute unternehme-rische Leistung nach außen zu dokumentieren.Zur Wahrheit gehört, dass sich die Bilanz der deut-schen Wirtschaft in Sachen Unternehmensverantwor-tung sehen lassen kann. Allein im sozialen Bereich en-gagiert sich die deutsche Wirtschaft jährlich im Umfangvon 11,2 Milliarden Euro. Natürlich ist vieles in diesemZusammenhang nicht völlig selbstlos. Aber ich möchtesagen: Der Optimalfall ist, durch entsprechendes En-gagement nach außen hin deutlich zu machen, dass mannachhaltig handelt. Warum soll einem das nicht auch einestärkere Marktposition ermöglichen?Ich glaube, dass wir mit vielen Dingen bereits auf demWeg zu mehr Transparenz sind und viele Informationenfür den Verbraucher in umfassendem Maße zur Verfü-gung stehen. Dass das Ganze auch auf sehr innovativeWeise geschieht, hat Staatssekretär Fuchtel mit der Appunter Beweis gestellt.Wir sollten die Verbraucher nicht unterschätzen, wasihre Mündigkeit angeht. Wir sollten auch unsere Un-ternehmerinnen und Unternehmer nicht unterschätzen.Ich bin überzeugt, dass Initiativen wie das Textilbünd-Klaus Barthel
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nis von politischer Seite und von NGO-Seite sehr wohlUnterstützung finden, dass sie beraten, den Dialog vo-rantreiben und für mehr Transparenz in der Öffentlich-keit sorgen. Im besten Fall kann man über gemeinsamePlattformen auch die Marktmacht unserer kleinen undmittelständischen Unternehmen gegenüber Zulieferernim Ausland bündeln.Die deutsche Wirtschaft steht für hohe ökologischeund soziale Standards. Gerade deutsche Unternehmengenießen weltweit einen hervorragenden Ruf; das sollteman in diesem Zusammenhang nicht vergessen und auchnicht kleinreden. Ich glaube, dass deutsche UnternehmenBotschafter für hohe Standards sind und dass die Regeln,die wir jetzt im Rahmen des Textilbündnisses vorgeben,letztlich auch eine Art Richtschnur für die Zukunft sind.Dabei sollten wir eines nicht vergessen: dass wir mit denAnträgen, die heute eingebracht wurden, natürlich auchAlternativen haben. In diesem Zusammenhang ist es derrichtige Weg, so vorzugehen.Wir sollten kein bürokratisches Monstrum aufbauen,das im Zweifelsfall in den betreffenden Ländern gar kei-ne gesetzliche Grundlage hat und nichts anderes macht,als Verwaltungsaufwand zu erzeugen. Ich glaube, dassWirtschaft neben der Kontrolle, die Sie fordern, von un-serer Seite auch eines genießt: Vertrauen. Das ist im Rah-men einer Kooperation zukunftsweisend.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Kollege Metzler. – Damit schließe
ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/7881 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein-
verstanden. – Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 7 b. Wir kommen zur Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Ener-
gie zum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel
„Unternehmen in die Verantwortung nehmen – Men-
schenrechtsschutz gesetzlich regeln“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 18/6181, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/5203 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, dagegen-
gestimmt haben die Linken, und enthalten hat sich Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkt 8 a und 8 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Bekämpfung von Korruption im Ge-
sundheitswesen
Drucksache 18/6446
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
Drucksache 18/8106
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Recht und Verbrau-
cherschutz zu dem Antrag der Ab-
geordneten Kathrin Vogler, Sabine Zimmermann
, Matthias W. Birkwald, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE
Korruption im Gesundheitswesen effektiv be-
kämpfen
Drucksachen 18/5452, 18/8106
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung, über den
wir später namentlich abstimmen werden, liegt ein Ent-
schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Auch da höre
und sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so be-
schlossen.
Wenn sich alle gesetzt und gesammelt haben, gebe ich
für die Bundesregierung dem Parlamentarischen Staats-
sekretär Christian Lange das Wort.
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Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Ich freue mich, dass wir heute über denEntwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung von Korruptionim Gesundheitswesen abschließend beraten können. Esist nämlich an der Zeit, die Strafbarkeitslücke zu schlie-ßen, die mit der Entscheidung des Bundesgerichtshofs imJahre 2012 aufgezeigt worden ist.Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen die beruf-lichen Entscheidungen von Heilberufsangehörigen unterden besonderen Schutz des Strafrechts gestellt werden.Diese heilberuflichen Entscheidungen sollen sich amPatientenwohl orientieren und nicht von eigenen finan-ziellen Interessen der Heilberufsangehörigen gesteuertwerden.Die Bundesregierung war bestrebt, mit ihrem Gesetz-entwurf den Besonderheiten des Gesundheitswesens an-gemessen Rechnung zu tragen und das strafwürdige Ver-halten klar zu umgrenzen. Ich glaube, das ist uns ganzordentlich gelungen.Der Ausschuss hat noch einige Punkte aufgegriffen,gegenüber denen in der Sachverständigenanhörung Be-denken geäußert wurden. Er schlägt vor, die beiden neu-en Straftatbestände auf die Tatvarianten der unlauterenBevorzugung zu begrenzen und die Bezugnahme auf dieberufsrechtlichen Pflichten zur Wahrung der heilberufli-chen Unabhängigkeit zu streichen. Wir hatten ursprüng-lich die zweite Variante für erforderlich gehalten, umauch Fälle außerhalb von Wettbewerbslagen erfassen zuJan Metzler
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können, in denen es keine Bevorzugung geben kann. Wirkönnen uns aber der Einschätzung des Ausschusses an-schließen, dass im Gesundheitswesen in den allermeistenFällen von einer Wettbewerbslage ausgegangen werdenkann.Die Süddeutsche Zeitung, meine Damen und Her-ren, berichtete in ihrer Ausgabe vom 8. April 2016, dasskünftig angeblich kein Arzt strafrechtlich belangt werdenkönne, wenn er einen Patienten aus wirtschaftlichemEigeninteresse falsch behandeln würde. Es war zu le-sen, dass Fälle denkbar seien, in denen Ärzte bewusstein schlechteres Medikament verschrieben, weil sie imGegenzug Geld vom Pharmaunternehmen erhielten. Einsolches Vorgehen könne zu massiven Nachteilen und imschlimmsten Fall zu gesundheitlichen Schäden der Pati-enten führen und müsse daher – das ist in der Tat richtig –auch geahndet werden können.Meine Kolleginnen und Kollegen, hier haben wir eineSituation beschrieben bekommen, in der eine medika-mentöse Behandlung indiziert ist und es offensichtlichmehrere für eine Behandlung in Betracht kommendeMedikamente gibt. Es liegt daher ein Handeln innerhalbdes Wettbewerbs vor. Das heißt, der Arzt entscheidetsich zwischen mehreren in Betracht kommenden Medi-kamenten und damit zwischen verschiedenen im Wett-bewerb befindlichen Produkten. Wenn er sich bestechenlässt, damit er ein bestimmtes Medikament bevorzugt,ist das geradezu der typische Anwendungsfall der Tat-bestandsvariante der unlauteren Bevorzugung, die auchnach den Änderungen der Koalitionsfraktionen unverän-dert fortbesteht, das heißt, strafbar bleibt.
Möglicherweise beruht das wiedergegebene Beispielaber auch auf dem Missverständnis, dass es hier um einenFall einer überhaupt nicht indizierten Behandlung geht.Von einer nicht indizierten Verordnung bzw. Behandlungkönnte aber nur dann ausgegangen werden, wenn derPatient überhaupt nicht medikamentös hätte behandeltwerden dürfen und der Arzt ohne entsprechende Indi-kation alleine deshalb ein Medikament verordnete, weiler dadurch einen Vorteil durch das Pharmaunternehmenerhält. Selbst in solchen Fällen ist aber in aller Regel einHandeln im Wettbewerb und damit eine Strafbarkeit ge-geben. Im Übrigen kommt immer auch noch eine Straf-barkeit wegen Körperverletzung zum Nachteil des Pati-enten und gegebenenfalls wegen Betrugs zum Nachteilder Krankenkasse in Betracht.Auf der Basis der Begründung der Ausschussempfeh-lung gehen wir also davon aus, dass die erste Tatbestand-variante ausreichend ist, um einen umfassenden Schutzzu gewährleisten und alle wesentlichen Fallkonstella-tionen strafrechtlich zu erfassen: Dies erfasst auch denBereich der personalisierten oder individualisierten Me-dizin und eine gezielte Therapie.Schließlich begrüßen wir ausdrücklich, dass der Aus-schuss empfiehlt, das Strafantragserfordernis aufzuhebenund die neuen Tatbestände als Offizialdelikte auszuge-stalten.Wir meinen, das ist ein sehr guter Beitrag zum Pati-entenschutz in Deutschland, und deshalb hoffe ich aufmöglichst breite Unterstützung bei Ihnen.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Christian Lange. – Nächste Rednerin:
Kathrin Vogler für die Linke.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ein Ge-setz zur Bekämpfung von Korruption im Gesundheitswe-sen ist in der Tat längst überfällig. Bisher wird hier mitzweierlei Maß gemessen. Es ist unerträglich, dass sichein angestellter Arzt in einer Klinik strafbar macht, wenner sich von einer Pharmafirma bestechen lässt, eine nie-dergelassene Ärztin aber nicht. Bislang ist es nicht straf-bar, wenn ein Pharmaunternehmen einem Hausarzt Prä-mien für die gezielte Verschreibung von Medikamentenzahlt oder wenn sich eine Ohrenärztin für die Überwei-sung von Patienten vom Hörgeräteakustiker schmierenlässt. Das muss dringend geändert werden.
Im Gesundheitswesen geht es ja um sehr viel Geld.Wir haben die Verantwortung, dass diese Milliardennicht durch Korruption verschwendet werden. Aber esgeht um noch etwas Wichtigeres: Korruption gefährdetdie Unabhängigkeit der Heilberufe und damit das Ver-trauen der Patientinnen und Patienten in die Therapie-entscheidung ihres Arztes oder ihrer Ärztin. Deswegenkämpft die Linke seit Jahren für eine Schließung dieserLücke im Strafrecht.
In der letzten Wahlperiode scheiterte das am Widerstandaus Union und FDP. Heute sind sich alle Parteien zumin-dest darin einig, dass Korruption im Gesundheitswesenstrafbar sein soll.
Der Gesetzentwurf der Koalition allerdings leidetunter einem Geburtsfehler. Sie haben die Regelung insWirtschaftsstrafrecht gelegt statt etwa bei den Amtsde-likten. Damit haben Sie sich in eine Falle begeben, ausder Sie nicht mehr herauskommen. Im Ergebnis wird nunvor allem der Wettbewerb geschützt, also konkurrieren-de Anbieter auf dem Gesundheitsmarkt, und weniger diePatientinnen und Patienten, Herr Lange.Im ursprünglichen Entwurf war noch ein Absatz ent-halten, mit dem die Verletzung der berufsrechtlichenPflicht zur Unabhängigkeit aufgrund von Bestechungebenfalls unter Strafe gestellt werden sollte. Damit wärendann zumindest auch die Fälle erfasst worden, in denenüberhaupt kein Wettbewerb existiert, weil es etwa für einProdukt keine Konkurrenz gibt. Allerdings gab es kriti-Parl. Staatssekretär Christian Lange
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sche Stimmen, die darauf hinwiesen, dass das Berufs-recht ja von den Heilberuflern selbst festgelegt wird, undzwar auf Länderebene. Damit könnten die Ärzte selbstfestlegen, welches Verhalten von Strafe bedroht ist, undzwar in Mannheim anders als in Ludwigshafen.Um diese Bedenken auszuräumen, hat die Koalitionden Absatz zu den Berufspflichten einfach gestrichenund damit aus unserer Sicht dem Gesetz seinen wesent-lichen Sinn genommen, nämlich den Schutz des Vertrau-ens. Dies ist auch den Gesundheitspolitikern und -politi-kerinnen von der SPD aufgefallen. Was konnte man dazuin den letzten Tagen nicht alles für starke Sprüche lesen!Herr Lauterbach zum Beispiel
– wo ist er überhaupt? – hat bezweifelt, dass es sichüberhaupt noch lohne, diesen Gesetzentwurf zu verab-schieden. Sie wollten nachverhandeln. Auf das Ergebnishaben wir dann ganz gespannt gewartet. Als die neueVersion am Dienstagabend kam, habe ich sie wirklichWort für Wort durchgelesen – und ich war erstaunt: Bisauf einen einzigen Satz in der Begründung hat sich garnichts getan.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, damitkönnen Sie nicht wirklich zufrieden sein. Das ist wirklichenttäuschend. Wenn Sie dem jetzt zustimmen, dann müs-sen Sie sich den Vorwurf gefallen lassen, dass der ganzeProtest von Ihnen wohl nur Theaterdonner gewesen ist.
Wir aber nehmen Ihre Kritik ernst, und wir nehmen sieauf. Deswegen werden wir gegen diesen Gesetzentwurfstimmen. Dabei hat die Linke ja auch konkrete Vorschlä-ge gemacht, wie es anders hätte gehen können. Wir woll-ten, ähnlich wie bei den Beamten, jegliche Form von Vor-teilsnahme und -gewährung unter Strafe stellen. Damitwäre ein viel größerer Teil von Korruption abgedeckt.Des Weiteren bleibt noch eine ganze Liste von Aufga-ben ungelöst.Erstens. Weil sich Korruption meistens im Geheimenabspielt, sind die Staatsanwälte darauf angewiesen, dassInsider ihnen Informationen und Hinweise auf möglicheStraftaten geben. Darum werden wir weiter für einenumfassenden Schutz für Hinweisgeber streiten und dieseForderung hier auf die Tagesordnung setzen.
Zweitens. Auch die Grünen haben in ihrem Entschlie-ßungsantrag sinnvolle Punkte aufgezeigt, zum Beispieldie Veröffentlichungspflicht von allen Zahlungen an dieÄrztinnen und Ärzte durch die Industrie. In den USA gehtdas; das kann auch bei uns gehen. Das unterstützen wir.Drittens. Auch die sogenannten Anwendungsbeobach-tungen müssen wir auf die Tagesordnung setzen. Hierbeibezahlen Pharmafirmen Ärzte für angebliche Medika-mentenstudien, die sehr oft keinen wissenschaftlichenNutzen haben. Diese Zahlungen sind also Provisionenfür die Verschreibung bestimmter Mittel: zulasten derPatienten und auf Kosten der Versicherten. Hier fließenjährlich bis zu 100 Millionen Euro von der Industrie indie Ärzteschaft. Erschreckend, dass die Bundesregierungin zwei Jahren Dialog mit der Pharmaindustrie diesesThema noch nicht einmal auf die Tagesordnung gesetzthat, nichts dazu sagt und in ihrer Antwort auf unsereKleine Anfrage keinerlei Handlungsbedarf signalisiert.Liebe Kolleginnen und Kollegen, hier werden wir Sieweiter treiben. Versprochen.
Vielen Dank, Frau Vogler. – Der nächste Redner in der
Debatte: Dr. Jan-Marco Luczak für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! „Zu Risiken und Nebenwirkungen lesenSie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oderApotheker“. Diesen Satz kennt jeder. Das ist eine gesetz-liche Verpflichtung nach dem Heilmittelwerbegesetz. Je-der Werbung für Arzneimittel muss dieser Satz angefügtwerden. Dieser Satz macht deutlich, welches Vertrauender Gesetzgeber, aber vor allen Dingen welches Vertrau-en Patienten Ärzten und Apothekern, aber auch anderenGesundheitsberufen entgegenbringen.Dieses Vertrauen, meine Damen und Herren, ist auchgerechtfertigt; denn wir haben nicht nur ein gutes Ge-sundheitssystem und hohe medizinische Standards, son-dern wir haben vor allen Dingen Menschen, die gut aus-gebildet sind, die integer sind und die sich oftmals mitgrößter persönlicher Hingabe und Aufopferungsbereit-schaft ihrem Beruf zum Wohle von Kranken und Pflege-bedürftigen widmen.
Ich denke da an Ärzte, ich denke an Apotheker, aber ichdenke vor allen Dingen auch an die Krankenschwesteroder den Pfleger im Krankenhaus. Diesen Menschensage ich: Danke für ihren persönlichen Einsatz! Umsoschwerer wiegt es dann, wenn Einzelne dieses Vertrau-en der Patienten enttäuschen, wenn Einzelne sich berei-chern, wenn sie sich Vorteile verschaffen, wenn sie sichalso bestechen lassen und korrupt sind.Meine Damen und Herren, Korruption ist ja bei wei-tem nicht nur ein volkswirtschaftliches Problem. Dasssich medizinische Leistungen verteuern, weil nicht mehrQualität, nicht mehr Leistung, nicht mehr der Preis ent-scheidend sind, sondern die Höhe des korruptiven Anrei-zes, ist das eine. Das andere ist der damit einhergehendeVertrauensverlust von Patienten in die Integrität der heil-beruflichen Entscheidungen. Wegen dieser gravierendenFolgen der Korruption sage ich: Es braucht eine klareAnsage des Gesetzgebers, dass wir ein solches Verhal-ten nicht tolerieren, dass wir Korruption ächten und un-ter Strafe stellen. Patienten müssen sich darauf verlassenKathrin Vogler
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können, dass die Verordnung eines Medikamentes oderdie Empfehlung eines Krankenhauses allein aus medizi-nischen Gründen erfolgt und nicht, weil ein Arzt in ir-gendeiner Weise einen Vorteil davon hat.
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bislang gab es in diesem BereichStrafbarkeitslücken. Mit dem Gesetzentwurf, den wir Ih-nen heute zur Abstimmung vorlegen, schließen wir die-se Strafbarkeitslücken. Insofern ist heute ein guter Tagfür Patienten, weil wir endlich ein gutes, ein wirksamesHeilmittel gegen das Geschwür der Korruption bekom-men. Korruption auf Rezept, das wird es zukünftig nichtmehr straflos geben, und das ist auch gut so, meine Da-men und Herren.
Für uns war in den Verhandlungen vor allen Dingenwichtig, dass wir klar abgrenzen zwischen verbotenerKorruption und der erlaubten, ja gewünschten Koopera-tion im Gesundheitswesen. Denn Kooperationen im Ge-sundheitswesen sind oftmals sehr wichtig für den medi-zinischen Fortschritt, für Innovationen, für ein effektivesGesundheitswesen. Das dient letztlich dem Wohle desPatienten.
Deswegen kann es auch nicht automatisch strafbar sein,wenn eine Zusammenarbeit in irgendeiner Form vergü-tet wird. Wir wollen nichts unter Strafe stellen, was demmedizinischen Fortschritt dient. Deswegen haben wirdas in der Gesetzesbegründung ausdrücklich klargestelltund verschiedene Kooperationsformen genannt, die wirselbstverständlich nicht inkriminieren wollen.
Klar, meine Damen und Herren, ist aber auch: Sol-che Kooperationsmodelle sind kein Freifahrtschein. DieGrenze der zulässigen Zusammenarbeit ist jedenfallsdann erreicht, wenn eine Unrechtsvereinbarung vorliegtoder unangemessene Vorteile für eine konkrete Gegen-leistung gezahlt werden. Hier gilt: klares Ja zur Koopera-tion, aber ein genauso klares Nein zur Korruption.
Wir haben in den parlamentarischen Beratungen denKabinettsentwurf in einem wichtigen Punkt geändert; da-rauf hat Staatssekretär Lange vorhin schon hingewiesen.Wir haben die zweite Tatbestandsalternative in § 299 aAbsatz 1 Nummer 2 gestrichen.Worum ging es bei dieser Tatbestandsalternative? Mitdieser Tatbestandsalternative sollten Fallkonstellationenaußerhalb des Wettbewerbs strafrechtlich erfasst werden.Diese Alternative war aber von Anfang an als Auffangtat-bestand konstruiert. Im Referentenentwurf hieß es noch,es solle bestraft werden, „wer … in sonstiger Weise seineBerufsausübungspflichten verletzt.“ Das war nicht nurerkennbar zu unbestimmt, sondern das ging auch amSchutzzweck des Gesetzes vorbei. Denn damit hätte manunter Umständen die Situation erfasst, dass ein Arzt sichetwa ein zu großes Praxisschild an die Tür hängt. Da dasnicht ohne Weiteres möglich ist bzw. verboten ist, wäreauch das ein Verstoß gegen die Berufsausübungspflich-ten gewesen.
Das hat natürlich mit dem Vertrauen in die Integrität vonheilberuflichen Entscheidungen rein gar nichts zu tun. Dagibt es kein korruptionsspezifisches Unrecht. Deswegenhaben wir gesagt: Das müssen wir ändern.
Das ist dann auch geändert worden. Im Kabinettsent-wurf hat man den Schutzzweck klarer und präziser he-rausgearbeitet. Nur solche Pflichtverstöße sollten einenKorruptionsvorwurf rechtfertigen, durch die die Wah-rung der heilberuflichen Unabhängigkeit infrage gestelltwird.Wir haben dann aber im Rechtsausschuss eine An-hörung durchgeführt, in der erhebliche Zweifel deutlichwurden, ob der Verweis auf das Berufsrecht hinreichendpräzise und konkret genug den Pflichtenkanon um-schreibt, den Angehörige von Gesundheitsberufen ein-zuhalten haben. Damit waren wir bei der Frage, ob demverfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot Rechnunggetragen wurde.Diese Zweifel, meine Damen und Herren, sind nichtvon der Hand zu weisen. Für die konkrete Ausgestaltungdes Berufsrechts sind die Länder zuständig. Das ist inunserem föderalen System nun einmal so geregelt; dakönnen wir als Bundesgesetzgeber ihnen nicht hineinre-gieren. Deswegen ist das Recht der Heilberufe ja auchaußerordentlich uneinheitlich und zersplittert. Selbstda, wo das Berufsrecht möglicherweise einheitlich bzw.identisch formuliert ist, gibt es Unterschiede, weil dieAuslegung zum Teil sehr unterschiedlich ist. Denn dafürsind die jeweiligen Kammern zuständig. Die Folge wäregewesen, dass wir in dem Bereich einen Flickenteppichunterschiedlicher Strafbarkeiten je nach Bundesland be-kommen hätten. Dabei hätte das Verhalten eines Arztesbeispielsweise in Hessen erlaubt sein können, währendes um die Ecke in Niedersachsen hingegen verboten undals Korruption strafbar wäre. Das haben wir als Unionaus Gründen der Rechtssicherheit für problematisch ge-halten und gesagt: Da müssen wir rangehen.
Denn das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot istkeine Petitesse. Strafrecht ist immer Ultima Ratio undhat für den Betroffenen immer einschneidende wirt-schaftliche und persönliche Konsequenzen.Wir haben uns also gefragt, was passiert, wenn wir dieberufsrechtliche Tatbestandsalternative streichen. Wis-sen Sie, zu welchem Ergebnis wir gekommen sind? Eswürde nichts passieren. Es entstehen keine Strafbarkeits-lücken. Der Schutzzweck des Gesetzes ändert sich nicht,Dr. Jan-Marco Luczak
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sondern der Schutz des Vertrauens der Patienten ist nachwie vor vollumfänglich gewährleistet. – Das sage ichdeswegen so deutlich, weil es von Kollegen aus der SPDandere Verlautbarungen gegeben hat. Diese kann ich nurzurückweisen. Man kann nur sagen: Bei Gesetzen ist esähnlich wie bei Medikamenten: Man muss manchmal diePackungsbeilage bzw. das Kleingedruckte lesen; dannversteht man auch, worum es geht.
Es ist ja tatsächlich so – das wurde schon gesagt –,dass fast ausnahmslos alle Fälle von der ersten Tatbe-standsalternative umfasst werden. Denn es gibt kaumeinen Markt, der so umkämpft ist und so im Wettbewerbsteht wie der Gesundheitsmarkt. Deswegen haben wirausdrücklich klargestellt, dass Wettbewerb in diesemZusammenhang weit zu verstehen ist. Deswegen gibt esquasi auch keine Monopolsituation. Es gibt quasi solcheMonopolsituationen nicht, weil es immer eine Therapie-alternative gibt und immer andere Medikamente gibt, dieman im konkreten Fall auch einsetzen kann. Deswegenbesteht immer zumindest potenziell eine Wettbewerbssi-tuation. Damit sind wir klar im Anwendungsbereich derersten Tatbestandsalternative.Deswegen noch einmal zur Abwägung: Auf der einenSeite gibt es verfassungsrechtliche Zweifel; auf der ande-ren Seite bestehen keine Strafbarkeitslücken. Das war füruns eine ganz klare Maßgabe. Deswegen haben wir dasgestrichen, meine Damen und Herren.
Deswegen – das darf ich zum Schluss sagen –
Deswegen ist jetzt definitiv Tatbestand: Ihre Redezeit
ist abgelaufen.
– haben wir unter dem Strich einen guten und ausgewo-
genen Entwurf eines Gesetzes vorgelegt, das Korruption
klar unter Strafe stellt, Kooperation aber nicht behindert.
Dieses Gesetz schützt das Vertrauen der Patienten, trägt
bestehenden verfassungsrechtlichen Zweifeln Rechnung,
ohne Strafbarkeitslücken zu schaffen. Deswegen bitte ich
Sie: Stimmen Sie dem Gesetz zu, damit Patienten auch
weiterhin uneingeschränkt voller Vertrauen zu Risiken
und Nebenwirkungen ihren Arzt oder Apotheker fragen
können!
Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege. Die Redezeit war recht
ausgeweitet, wenn ich das einmal so sagen darf. Ich bitte
die anderen, sich daran zu halten.
Die nächste Rednerin ist Renate Künast.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrKollege Luczak, Ihre Rede und Ihre Erklärungen habenmich an Bismarck erinnert
– ich habe nicht gesagt, dass er mich an Bismarck erin-nert,
sondern, dass seine Rede mich an Bismarck erinnert hat.
Von Bismarck stammt der Satz: Bei zwei Sachen soll mannicht dabei sein wollen, beim Gesetzemachen und beimWurstmachen. – Sie verstehen! Er hielt offensichtlichbeides für unappetitlich. So wie Sie es nun dargelegt underklärt haben, hat man ein bisschen das Gefühl, dass essich um einen unappetitlichen Vorgang handelt. Schön,dass Sie sich nach vier Jahren überhaupt bewegt habenund nicht nur sagen, alle, die Korruption im Gesundheits-wesen bestrafen und sanktionieren wollen – genauso wiein anderen Bereichen –, seien misstrauisch gegenüberallen Ärzten. Da haben Sie sich immerhin bewegt, mehraber auch nicht, Herr Luczak.
Es ist zehn Jahre her, dass Oliver Pragal aus Ham-burg in seiner Dissertation darauf hingewiesen hat, Be-stechung von niedergelassenen Ärzten im Vertragsarzt-system – früher Kassenarztsystem – sei eigentlich einFall von Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr nach§ 299 StGB und deshalb strafbar. Dann begann ein gro-ßer Streit in Wissenschaft und Politik. Es gab Revisionbeim BGH. Zwei Senate haben gesagt, dass das möglichist und dass es sich bei Ärzten um Amtsträger im staatli-chen System der Gesundheitsversorgung oder um Beauf-tragte eines geschäftlichen Betriebs handeln könnte, undhaben eine Vorlage für den Großen Senat für Strafsachengemacht. Dieser ist dann allerdings leider zu dem Ergeb-nis gekommen,
dass es sich bei ihnen nicht um Amtsträger oder Beauf-tragte im Sinne des StGB handele. Diese Entscheidungstammt von Anfang 2012. Seitdem, meine Damen undHerren, bemühen wir uns, dieses große, tiefe schwarzeLoch zu stopfen, weil Bestechung in diesem Bereichnicht strafbar ist.Dr. Jan-Marco Luczak
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Am Ende der Begründung hat der Große Senat gesagt,dass jedwede vergangene Korruption straffrei sei, dassnun aber der Gesetzgeber gefordert sei. Vier Jahre habenwir nun daran gearbeitet. Mit der FDP war hier gar nichtsmöglich. Aber ich habe das Gefühl, dass sich irgendeinFDPler in Ihre Reihen geschlichen hat.
– Ich will mich nicht festlegen, wie viele es sind. – Dennder Referentenentwurf aus dem vergangenen Jahr warbedeutend besser als das, was wir heute zur Abstimmungvorliegen haben, meine Damen und Herren von der Ko-alition.
Er war besser auch und gerade wegen des Themas, dasSie und auch die Kollegin von der Linken hier angespro-chen haben, nämlich wegen des Verweises auf die Pflicht,die eigenen berufsständischen Regeln, das Kammerrechtund den Eid des Hippokrates einzuhalten. Das war docheigentlich der Kern des Gesetzes.Mit Verlaub, Herr Luczak, mit etwas Bemühen hätteman zum Beispiel Praxisschilder und andere Dinge vonder Regelung ausnehmen können.
– Er hat ja die Sorge gehabt, dass dann die Größe vonSchildern und der damit verbundene Werbeeffekt einThema gewesen wäre.
Abgesehen von der Tatsache, dass das Quatsch ist, hätteich dem BMJV zugetraut, eine Formulierung zu finden,die Schilder vor der Tür ausschließt. Wir hätten jeden-falls gerne gehabt, dass es einen umfassenden Schutzvor unsinnigen Behandlungen gibt, die am Ende nur denZweck haben, das Portemonnaie der betreffenden Ärztinoder des betreffenden Arztes zu füllen. An dieser Stellesind Sie, selbst wenn es kritische Anmerkungen in derAnhörung dazu gab, trotzdem dem Lobbydruck erlegen.Sie haben sich nämlich noch nicht einmal um neue For-mulierungen bemüht.
– Manchmal muss man ja was besser wissen. Es könnenja nicht nur Sie alles besser wissen. Manchmal wissenauch Frauen etwas besser. Das ist halt so.
Ich glaube, es sollte eigentlich Kern des Gesetzes sein,dass wir für Begrenzungen sorgen; ich nenne zum Bei-spiel als Stichwort „überflüssige Medikamentenabgabe“.Mich irritiert bei Ihrer Argumentation – Herr Luczakhat das auch gerade gesagt –, dass Sie sagen, es gehe Ih-nen um das Vertrauen in die Ärzteschaft.
Das gehen Sie aber nicht so richtig an, wenn Sie dasKammerrecht nicht einbeziehen. Davor drücken Sie sichbei der CDU/CSU. Aber ich verstehe eines nicht: Als wirüber die Integrität des Sports diskutiert haben, haben dieSPD- und die CDU/CSU-Fraktion mit Verve gesagt: Ja,das Strafrecht ist das richtige Mittel, um die Integrität desSports zu schützen. – Wenn es aber um das Vertrauens-verhältnis des Patienten zum Arzt in einem sehr breitenSchutzbereich geht, drücken Sie sich vor der eigenenVerantwortung.
Meine Damen und Herren, für Sie war es ein gefunde-nes Fressen, hier Verweise zu streichen. So wie die Normjetzt ist, hätten wir eigentlich einfach einen Absatz an den§ 299 mit einem rein wettbewerbsrechtlichen Hinweisanfügen können. Das hätte auch ausgereicht.Ich verstehe auch nicht, wieso die Apothekerinnenund Apotheker jetzt draußen sind; denn mit den Rabatt-verträgen, die die Krankenkassen abschließen, haben dieApotheker ja auch die Möglichkeit, am Ende den einenoder anderen zu bevorzugen. Schon gar nicht versteheich, wenn die Apothekerinnen und Apotheker draußensind, warum eigentlich die anderen Heilberufe wie Heb-ammen, Physiotherapeuten oder Gehilfen immer nochdrin sind. Bei diesen kann ich mir weniger Korruptionvorstellen als bei den Apothekerinnen und Apothekern.
Ich glaube, dass Sie sich hiermit keinen Gefallen ge-tan haben, sondern dass das Ergebnis – teilweise unterBerufung auf die Anhörung zustande gekommen – dochsehr dürftig ist. Gut, dass Sie ein Offizialdelikt darausgemacht haben.
Es wäre ja noch schöner, wenn Sie auch das unterlassenhätten, nachdem Sie Regelungen zu den Whistleblowernund die Herstellung einer umfassenden Transparenzdurch entsprechende Veröffentlichungsvorschriften ver-gessen haben.Mein Fazit ist: Gut, dass es nach viel Druck endlich ei-nen Gesetzentwurf gibt, über den wir abstimmen können,sehr schlecht aber, dass Sie ihn entkernt haben. Deshalbwerden wir uns enthalten.
Vielen Dank, Renate Künast. – Nächster Redner: DirkWiese für die SPD.
Renate Künast
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Tage, in denen das Strafrecht kein geeig-
netes Mittel gegen Korruption und Bestechlichkeit im
Gesundheitswesen bot, sind gezählt. Mit dem vorliegen-
den Gesetzentwurf geben wir den Strafverfolgungsbe-
hörden ein wichtiges Mittel in die Hand, um Kriminellen
im Gesundheitsbereich das Handwerk zu legen.
Was mich dabei besonders freut, ist, dass wir Sozialde-
mokraten in den parlamentarischen Verhandlungen errei-
chen konnten, dass die Staatsanwaltschaft künftig bereits
bei Vorliegen eines Anfangsverdachts ermitteln muss und
nicht, wie ursprünglich vorgesehen, nur bei Vorliegen ei-
nes Strafantrags; denn damit schützen wir Patientinnen
und Patienten vor falschen Behandlungen; wir schützen
aber auch ehrliche Ärzte und ehrliche Leistungserbrin-
ger im Gesundheitswesen vor den Machenschaften Ein-
zelner. Denn diese schwarzen Schafe drohten die ganze
Branche in Verruf zu bringen, obwohl der Großteil der
Ärzte wichtige und absolut korrekte Arbeit leistet.
Die Ausgestaltung als Offizialdelikt ist übrigens auch
deshalb besonders wichtig, weil Patienten selbst bei ei-
nem klaren Verdacht oftmals eine Hemmschwelle haben,
ihren eigenen Arzt anzuzeigen. Gerade dann, wenn es zu
wenige Ärzte in ihrer Region gibt, wie das heutzutage
leider in vielen ländlichen Gegenden der Fall ist, kann
das häufig vorkommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte auch
noch einmal in Erinnerung rufen, dass es sich bei dem
vorliegenden Gesetzentwurf um ein Kernanliegen der
SPD handelt. Bereits während der letzten Legislaturpe-
riode stritt die SPD für eine gesetzliche Regelung, die
leider mit der damaligen schwarz-gelben Bundesregie-
rung nicht zu machen war. Erst auf Drängen der SPD
wurde die Bekämpfung der Korruption im Gesundheits-
wesen überhaupt in den Koalitionsvertrag aufgenom-
men. Denn für uns Sozialdemokraten war immer klar:
Patienten müssen sich darauf verlassen können, dass ihr
behandelnder Arzt ihnen stets die bestverträgliche und
effektivste Arznei verordnet und nicht das Mittel mit der
höchsten Prämienzahlung.
Kurzum: Das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und
Patient darf nicht dadurch gefährdet werden, dass über
ihm das Damoklesschwert des Korruptionsverdachts
schwebt. Patienten müssen ihren Ärzten vertrauen kön-
nen. Punkt! Das ist übrigens auch der Grund, warum
wir die von einigen Seiten geforderte Möglichkeit der
Telekommunikationsüberwachung bei der Strafverfol-
gung nicht aufgenommen haben. Das Vertrauensverhält-
nis zwischen Arzt und Patient ist viel zu wichtig, um es
selbst durch gerechtfertigte Ermittlungsmaßnahmen zu
gefährden. Hätten wir solche Ermittlungsmaßnahmen
erlaubt, könnte sich zukünftig kein Patient mehr sicher
sein, dass das, was er seinem Arzt etwa im persönlichen
Telefongespräch anvertraut, auch zwischen ihm und sei-
nem Arzt bleibt.
Zum Abschluss, liebe Kolleginnen und Kollegen:
Mit 10 Milliarden Euro ist der geschätzte Schaden, der
durch Korruption im Gesundheitswesen entsteht, enorm.
Ich bin überzeugt davon, dass wir mit dem heute hier zu
verabschiedenden Gesetz diesen Schaden erheblich be-
grenzen werden. Aber vor allem – und das ist noch viel
wichtiger – werden wir mit diesem Gesetz sicherstellen,
dass die optimale Versorgung der Patienten nicht mehr so
schnell Gefahr läuft, hinter den monetären Interessen des
behandelnden Arztes zurückzustehen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollege Wiese. – Ich bitte die Kolle-
gen und Kolleginnen im Saal, den drei Rednerinnen und
Rednern, die in dieser Debatte noch das Wort ergreifen
wollen, zuzuhören, ihnen sozusagen Ruhe zu schenken,
weil es wirklich nervig ist, wenn vorne versucht wird,
Argumente auszutauschen, sich die anderen aber über al-
les Mögliche unterhalten, nur nicht über das, worum es
gerade geht.
Ich bitte also, dem nächsten Kollegen, Alexander
Hoffmann von der CDU/CSU-Fraktion, gebührend zu
lauschen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kollegin-nen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Korruption ist in einem Rechtsstaat unter vielenGesichtspunkten ein Problem. Sie führt zur Benachteili-gung Einzelner. Sie erzeugt materielle und auch immate-rielle Schäden. Sie zerstört das Vertrauen in bestehendeStrukturen, und das ist wohl das Schlimmste.Kriminologisch ist auffällig, dass sich Korruption inBereichen breitmacht, in denen viel Geld im Spiel ist,und in Bereichen, in denen Entscheidungen mit erhebli-cher Tragweite getroffen werden. Das überrascht nicht. Jegewichtiger eine Entscheidung ist, umso eher beschreitenMenschen einen rechtswidrigen Weg zum Erreichen desZiels, und Geld ist schon immer eine Triebfeder für kri-minelle Energie gewesen.Unter Zugrundelegung dieser Erkenntnis ist es dannkeine Überraschung, dass auch die Gesundheitsbrancheein Bereich ist, in dem Korruption vorkommt. Die Bran-che hat einen Umsatz von jährlich circa 300 MilliardenEuro. Gerade Entscheidungen im Gesundheitsbereichsind manchmal an Tragweite nicht zu überbieten.Sensibel müssen wir in diesem Bereich mitunter auchdeswegen sein, weil uns der Große Senat des BGH –Herr Lange hat es vorhin schon anklingen lassen – am29. März 2012 im Bereich der Korruptionsbekämpfungeine Gesetzeslücke aufgezeigt hat. Er hat entschieden,dass niedergelassene Vertragsärzte keine Amtsträger undauch keine Beauftragten der Krankenkassen sind; denn
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durch die Zwischenschaltung der Kassenärztlichen Ver-einigung besteht keine Rechtsbeziehung zwischen Arztund Krankenkasse. Damit scheidet eine Strafbarkeitnach § 299 StGB – Bestechlichkeit und Bestechung imgeschäftlichen Verkehr – aus. Man wird eine ähnlicherechtliche Beurteilung bei niedergelassenen Angehörigenanderer Heilberufe vornehmen müssen.Deshalb freue ich mich, dass Bayern mit Antrag vom15. Januar 2015 einen entsprechenden Vorschlag im Bun-desrat eingebracht hat und dass wir heute diese Lückeschließen können.Der vorliegende Entwurf formuliert zwei neue Tatbe-stände, einmal die Bestechlichkeit im Gesundheitswe-sen – § 299 a StGB – und zum anderen die Bestechungim Gesundheitswesen – § 299 b StGB. Das Ganze wirdgarniert – so will ich einmal sagen – mit einer Ergänzungvon § 300 StGB, der Formulierung der besonders schwe-ren Fälle der Bestechung und Bestechlichkeit. Hier sindvor allem die Fälle der Gewerbsmäßigkeit und die Fälleder fortgesetzten Begehung gemeint.Dabei hat der Entwurf vier Zielrichtungen. Er möchtedie Integrität heilberuflicher Entscheidungen schützen.Er möchte den fairen Wettbewerb im Gesundheitswesensichern. Er möchte das Vertrauen der Patientinnen undPatienten in die Integrität heilberuflicher Entscheidun-gen erhalten. Er erzeugt mittelbaren Schutz der Vermö-gensinteressen der Wettbewerber im Gesundheitswesen,der Patienten und der gesetzlichen Kassen. Dabei ist dieRegelung – es ist vorhin schon angeklungen – als Offizi-aldelikt ausgestaltet. Die Taten sind von Amts wegen zuverfolgen. Ich glaube, auch das ist als Signal ganz wich-tig.Zugleich müssen Angehörige von Heilberufen jetztkeine Angst haben, dass bewährte Kooperationen nunplötzlich unter Strafe gestellt sind. Kooperationen sindgesundheitspolitisch oftmals gewünscht. Sie steigern dieQualität, und an mancher Stelle können sie auch wirt-schaftlich sinnvoll sein. Deswegen ist nach dem Gesetz-entwurf die Grenze da erreicht, wo es zu einer unlauterenBevorzugung im Wettbewerb kommt.Am Ende möchte ich mit zwei Behauptungen aufräu-men. Die eine Behauptung, die auch im Vorfeld immerwieder formuliert worden ist, lautet: Dieser Entwurf hatden Patientenschutz hinten runterfallen lassen. – MeineDamen, meine Herren, wer das behauptet, dem ist entwe-der die Systematik in unserem Strafrecht nicht bekannt,oder er verschweigt sie. Wir haben dieselbe Konstellati-on gewählt, wie wir sie auch bei der Korruptionsbekämp-fung im geschäftlichen Verkehr haben.Die Korruptionsbekämpfung im geschäftlichen Ver-kehr steht auf zwei Säulen. Wir haben den § 299 StGB,der die Integrität des geschäftlichen Verkehrs schützensoll. Mittelbar werden durch diese Regelung auch dieBürgerinnen und Bürger geschützt, die am geschäftli-chen Verkehr teilnehmen. Diese werden wiederum un-mittelbar geschützt durch die Bestimmungen zu Vermö-gensdelikten wie Betrug oder Untreue.Genau dieselbe Konstellation haben wir nun auchgewählt. Wir schützen in den neuen §§ 299 a und299 b StGB vor allem die Integrität des Gesundheits-wesens in Deutschland und haben durch diese Normendann auch einen mittelbaren Schutz der Patientinnen undPatienten. Der unmittelbare Schutz der Patientinnen undPatienten erfolgt vor allem durch die Bestimmungen zuKörperverletzungs- und Vermögensdelikten.Noch eine zweite Behauptung, mit der ich aufräumenmöchte – Frau Künast, sie war von Ihnen –: Dieser Ent-wurf trifft eben keine Unterscheidung zwischen einemUnternehmer und einer Hebamme.Meine Damen, meine Herren, ich glaube, Sie könnendiesem Entwurf getrost zustimmen. Dafür möchte ichwerben.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Als Nächster erhält jetzt der Kollege
Dr. Edgar Franke, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Seit über sechs Jahren versucht die SPD, ein Antikor-ruptionsgesetz im Gesundheitswesen auf den Weg zubringen. Ziel neben einer Wettbewerbsregelung war esvor allen Dingen, den Patientenschutz umfassend zu ge-währleisten. Natürlich wissen wir, Herr Dr. Luczak – dasist ganz wichtig; das sagen alle Gesundheitspolitiker –,dass wir bei Verordnungs- und Therapieentscheidungensicher sein müssen, dass nicht monetäre, sondern alleinmedizinische Entscheidungen maßgebend sind für das,was verordnet wird. Ich glaube, das ist wichtig, und daswird auch durch das Gesetz gewährleistet, meine sehrverehrten Damen und Herren.
Ich darf daran erinnern: Die Gesundheitspolitiker derSPD haben 2010 einen Antrag mit dem Titel „Korruptionim Gesundheitswesen wirksam bekämpfen“ vorgelegt;die Älteren erinnern sich, Herr Stritzl.
Damals haben alle anderen Fraktionen gegen diesen An-trag gestimmt. Teilweise wurde sogar argumentiert, dieForderungen seien überflüssig.Ich darf auch daran erinnern, dass der Große Senatfür Strafsachen des BGH in Karlsruhe unter Bezugnah-me auf unseren Antrag gesagt hat, dass wir tätig werdenmüssten. Auch Frau Künast hat zu Recht gesagt, dassder damalige FDP-Minister kein Gesetz auf den Weggebracht, sondern lediglich eine Regelung im SGB Vangestrebt hat. Wenn man das im SGB V geregelt hätte,hätte man sozusagen eine Dreiklassengesellschaft vonÄrzten gehabt: die Krankenhausärzte, die weiter nach§ 299 StGB strafbar gewesen wären, die Kassenärzte, fürAlexander Hoffmann
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die das SGB V gegolten hätte, und die Privatärzte, dienicht strafbar gewesen wären. Das hätte absolut keinenSinn gemacht, meine sehr verehrten Damen und Herren.Deswegen ist eine strafrechtliche Regelung wichtig undrichtig.
Nachdem von der Großen Koalition – Dirk Wiese hates gesagt – auf Wunsch der SPD das Thema Korruptionin den Koalitionsvertrag aufgenommen wurde, liegt unsjetzt ein Gesetzentwurf vor. Ich muss sagen: Ich glau-be, es ist kein zahnloser Tiger, was uns vorliegt; dennder Wettbewerbsbegriff ist weit gefasst. Allerdings sageich auch kritisch, dass es Fallkonstellationen in Mono-polsituationen oder bei im ersten Jahr patentgeschütz-ten Medikamenten geben kann, die nicht geregelt sind;das müssen wir sehen. Wir müssen auch sehen, dass derWettbewerbsbegriff streitig ist. All das, meine sehr ver-ehrten Damen und Herren, gilt es zu berücksichtigen.
Nicht ganz unproblematisch in diesem Gesetzent-wurf – auch das will ich kritisch anmerken – ist, dass dieAbgabe von Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln bzw. Medi-zinprodukten aus dem Tatbestand genommen wurde. Ichglaube, das darf man so sagen. Das bedeutet, dass derBezug von Arzneimitteln zum Beispiel nur dann strafbarsein soll, wenn die Produkte zur unmittelbaren Anwen-dung bestimmt sind. Da dieser Fall aber nicht eintretenwird, wird diese Regelung in der Praxis weitgehend leer-laufen. Auch das muss man kritisch anmerken.Aber ich möchte ausdrücklich betonen, meine sehrverehrten Damen und Herren, dass auch der Patienten-schutz in dem vorliegenden Gesetzentwurf enthaltenist. Durch den unbestimmten Begriff der Lauterkeit in§ 299 a ist die heilberufliche Integrität geschützt, alsoauch der Patient; das muss man auch sagen.
Denn der unbestimmte Rechtsbegriff der Lauterkeit wirddurch die Berufsordnung konkretisiert. Das sollte manerwähnen, weil das in der Diskussion, meine sehr ver-ehrten Damen und Herren, immer wieder übersehen undvergessen wird.Als SPD-Politiker sage ich: Ganz persönlich hätte ichmir gewünscht, dass im Strafgesetzbuch der Patienten-schutz präziser gefasst worden wäre und dass er insge-samt einen höheren Stellenwert bekommen hätte; daswill ich nicht verhehlen. Aber, meine sehr verehrten Da-men und Herren, Gesetzgebung ist immer ein Prozess,in dem man vielleicht auch noch nachsteuern muss. HerrStritzl, wir werden beobachten, wie der Wettbewerbsbe-griff weiter ausgelegt wird. In diesem Prozess werdenSozialdemokratinnen und Sozialdemokraten immer ander Seite der Patienten stehen.
Das Gesetz ist bei aller Kritik ein Paradigmenwech-sel, weil zum ersten Mal ein Spezialtatbestand gegenKorruption im Gesundheitswesen geschaffen worden ist.Das ist ein Erfolg für alle Patientinnen und Patienten inDeutschland. Darauf kann die SPD stolz sein.Ich danke Ihnen.
Vielen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich darf Sie noch einmal um Ihre Aufmerksamkeit bit-
ten; denn jetzt hat als letzter Redner der Kollege Rudolf
Henke das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Lieber Edgar Franke, irgend-wie müsst ihr euch schon entscheiden. Entweder stelltman es so dar, wie es eben geschehen ist, nämlich dassdie Regelung, die wir mit dem Koalitionspartner FDPin der letzten Legislatur getroffen haben, nicht geeignetist, oder man wirft uns vor, wir hätten gar keine Rege-lung geschaffen. Ich bin ausgesprochen dankbar für denHinweis, dass wir hier im Deutschen Bundestag in derletzten Legislaturperiode eine gesetzliche Regelung ver-abschiedet hatten. Man kann mit Fug und Recht sagen,dass diese dann nur im Sozialgesetzbuch einschlägig ge-wesen wäre. Man kann auch sagen, das war untauglich.Aber was man sicher nicht behaupten kann, ist, dass wirbisher nicht gehandelt hätten. Das finde ich wichtig fest-zustellen.
In den Zeiten der vergangenen Koalition haben wirmit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz die Regelun-gen, die in der Musterberufsordnung der Ärztinnen undÄrzte stehen – und das bis heute unverändert –, in das So-zialgesetzbuch übernommen. Wir haben die Kassenärzt-lichen Vereinigungen mit Recht und aus guten Gründendazu verpflichtet, die Ärzte zu sanktionieren, die gegenein Zuwendungsverbot nach dem Sozialgesetzbuch ver-stoßen. Wie immer dem auch sei, ich glaube, dass es heu-te ein guter Tag für die Patienten ist und dass wir für diePatienten eine Entscheidung treffen, die ihnen Sicherheitgibt.
Deswegen, verehrte Frau Künast, kann ich mich nichtganz damit abfinden, wenn Sie Kritik üben – keiner hatetwas dagegen, wenn Sie das machen; das ist auch Auf-gabe der Opposition – und gleichzeitig sagen, der Schutzder Patienten vor unsinnigen Behandlungen sei nicht ge-währleistet. Ich finde, dass wir alle sagen müssen, dassdas nicht stimmt.
Es stimmt übrigens nicht nur wegen dieses Gesetzent-wurfes nicht. Es stimmt auch deswegen nicht, weil wirDr. Edgar Franke
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eine Körperverletzung aufgrund einer Behandlung miteiner Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren ahnden kön-nen.
Es stimmt nicht, weil eine gefährlichen Körperverlet-zung – eine gefährliche Körperverletzung ist zum Bei-spiel die Beibringung von gesundheitsschädlichen Stof-fen – zu einer Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahrenführt. Eine Körperverletzung mit Todesfolge wird nichtunter drei Jahren bestraft.
Natürlich haben wir auch die Vermögensdelikte. Wirhaben Betrug, Untreue. Wir haben die Verstöße gegendas Heilmittelwerbeverbot. Wir haben die Verstöße ge-gen das Medizinproduktegesetz. Wir haben die Verstößegegen das Arzneimittelgesetz. Das alles sind Sachverhal-te, in denen das Strafrecht greift. Deswegen verwahre ichmich einfach gegen den Vorwurf, hier würden Lückengerissen. Das ist nicht der Fall.
Wir haben, liebe Kolleginnen und Kollegen, mit die-sem Gesetzentwurf eine zentrale Lücke geschlossen.Diese wurde in dem Beschluss des Bundesgerichtshofsbenannt, der, wie ich finde, zu Recht gesagt hat: Diefreiberuflich niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte inselbstständiger Praxis sind keine Amtsträger und sie sindkeine Art Angestellten der Krankenkassen. – Ich glaube,dass das auch dem Wunsch der Patientinnen und Patien-ten entspricht. Wenn Sie die Patientinnen und Patientenund die Versicherten fragen: „Wollt ihr, dass eure ÄrzteAngestellte der Krankenkassen oder Amtsträger sind?“,dann sagen die: Nein, das wollen wir nicht. Wir wollen,dass sie Auftragnehmer von uns Patientinnen und Patien-ten und Versicherten sind.
Deshalb haben die Ärztinnen und Ärzte ein großes In-teresse daran, dass eine klare Scheidelinie besteht zwi-schen denen, die sich an die Berufsordnung halten undsich nicht schmieren lassen, und denen, die angeklagtwerden können, weil sie sich haben schmieren lassen,und die damit Schimpf und Schande über den gesamtenBerufsstand zu bringen drohen.
Deswegen ist diese Entscheidung, die wir heute hiertreffen, richtig. Sie hilft den Patientinnen und Patienten.Sie hilft auch den Ärztinnen und Ärzten, die ihre Arbeitgut machen. Sie hilft ebenfalls den Angehörigen andererBerufe im Gesundheitswesen, die von diesem Gesetz er-fasst werden.Nun gibt es auch eine ärztliche Kritik, die lautet, dasGesetz schieße über das Ziel hinaus. Ich finde, das kannman dem Gesetz nicht vorwerfen. Von den Kooperati-onen ist ja schon die Rede gewesen. Wer sich die Be-gründung des Gesetzentwurfes genau anschaut, der stelltfest, dass wir dort ein gutes Maß gefunden haben und dieKooperationen, die beispielsweise das Sozialgesetzbuchvorsieht, ausdrücklich von einer Strafbarkeit ausnehmen,auch wenn dort natürlich für die Leistung Geld gezahltwird.Bei den Anwendungsbeobachtungen kommt es aufden Vertrag an. Wenn der Vertrag ordnungsgemäß istund die ärztliche Leistung im Rahmen der Anwendungs-beobachtung bezahlt wird, dann ist das in Ordnung undnicht strafwürdig. Wenn aber die Anwendungsbeobach-tung zur Grundlage einer Unrechtsvereinbarung gemachtwird, dann ist das natürlich strafwürdig.Wer glaubt, dass jetzt jeder Bleistift, jeder Kugel-schreiber und jede Praline, die irgendjemand in derPraxis hinterlässt, zur Strafbarkeit führt, irrt. Auch dasist nicht der Fall. Vielmehr ist das abhängig von der so-zialen Adäquanz. Dies wurde aus anderen Tatbeständenübernommen, die als Korruption gewertet werden undzur Strafe führen. Insofern haben wir hier auch keinSonderstrafrecht, das speziell eine Berufsgruppe treffenwürde.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, deswegen – das istmeine letzte Bemerkung – bitte ich darum, dass wir ge-meinsam dafür sorgen, dass die Menschen, die auf dieVerantwortung der Bundespolitik gucken, nicht das Ge-fühl haben, dass wir hier ein Gesetz machen, über daswir uns selber zerstreiten und das wir kaputtquatschen.Sorgen wir vielmehr dafür, dass die Menschen davonüberzeugt sind, dass wir ein gutes Gesetz gemacht ha-ben. Und dazu gehört auch die Art, wie wir über diesesGesetz reden.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und bitteum Zustimmung.
Vielen Dank. – Damit ist die Aussprache beendet.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Bekämp-fung von Korruption im Gesundheitswesen.1) Der Aus-schuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt unterBuchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 18/8106, den Gesetzentwurf der Bundesregierungauf Drucksache 18/6446 in der Ausschussfassung an-zunehmen. – Ich darf Sie bitten, auf Ihren Plätzen zubleiben; denn wir haben noch eine Abstimmung durch-zuführen, bevor wir zur namentlichen Abstimmung kom-men. – Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf inder Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim-1) Anlage 4Rudolf Henke
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men der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der FraktionBündnis 90/Die Grünen angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Wir stimmen über den Gesetz-entwurf auf Verlangen der Fraktion Die Linke namentlichab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, dievorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind die Plätze anden Urnen besetzt? – Dann eröffne ich die Abstimmung.Ist noch ein Mitglied des Hauses hier, das seineStimmkarte noch nicht abgegeben hat? – Wie ich sehe,haben alle abgestimmt. Dann schließe ich die Abstim-mung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Ab-stimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.1)Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent-schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenauf Drucksache 18/8109. Wer stimmt für diesen Ent-schließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen abgelehnt.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 8 b. Wir set-zen die Abstimmungen zu der Beschlussempfehlung desAusschusses für Recht und Verbraucherschutz auf Druck-sache 18/8106 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buch-stabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung desAntrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/5452mit dem Titel „Korruption im Gesundheitswesen effek-tiv bekämpfen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – DieBeschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koaliti-onsfraktionen bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten HaraldPetzold , Sigrid Hupach, NicoleGohlke, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKEFilmförderung – Impulse für mehr Innovati-on statt Kommerz, für soziale und Genderge-rechtigkeit und kulturelle VielfaltDrucksache 18/8073Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und MedienNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Das Wort zur Eröffnung hat der Kollege HaraldPetzold, Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher aufden Tribünen! Viele von Ihnen haben möglicherweise1) Ergebnis Seite 16165 Dden Film Fack ju Göhte 2 im Kino gesehen – ein Rie-senkinoerfolg mit einem der besten Filmstarts dieserRepublik, über den sich sehr viele gefreut haben. Wennman allerdings die Kriterien des Urteils des Bundes-verfassungsgerichts über die Rechtmäßigkeit der Film-förderung anlegt, in dem es sinngemäß heißt, dass diekünstlerisch-kulturelle Qualität eines Films eine Voraus-setzung für seinen Erfolg ist und deshalb Qualität undErfolg eine Einheit bilden sollten, dann müssten Sie auchalle den Film Kopfüber gesehen haben. Ich vermute mal,da ist die Zahl derjenigen, die ihn gesehen haben, schonübersichtlicher. Es ist ein Film über einen Jungen mitADS-Syndrom, ein Kinder- und Jugendfilm, gedreht voneinem Brandenburger Nachwuchsregisseur.Der wesentliche Unterschied zwischen diesen beidenFilmen: Fack ju Göhte 2, der ja schon einen Vorgängerhatte und bei dem man den Erfolg nach dem Vorgänger-film schon erwarten konnte, ist millionenschwer geför-dert worden, der Film Kopfüber so gut wie gar nicht. DieMacher von Fack ju Göhte 2 konnten sich aussuchen, wosie drehen, während man mit dem Film Kopfüber nachThüringen ausweichen musste. Er hatte von dort eineschmale Landesförderung erhalten und musste von sei-nem ursprünglichen Drehort abwandern, um den Regio-naleffekt zu erzielen; so nennt man das in der Filmförde-rung. Allein diese beiden Fakten zeigen, dass irgendetwasim System der deutschen Filmförderung nicht stimmt.Meine Fraktion hat deswegen im September des ver-gangenen Jahres gemeinsam mit den Landtagsfraktionender Linken aus den Länderparlamenten eine Anhörungin Potsdam durchgeführt, um sich von Sachverständigenaus der Filmbranche die aktuellen Probleme schildern zulassen. Die aus unserer Sicht wichtigsten Ergebnisse die-ser Anhörung haben wir Ihnen heute in dem vorliegendenAntrag zusammengefasst.Nun wird die Bundesregierung demnächst ihren eige-nen Gesetzentwurf einbringen. Der bisher bekanntgewor-dene Entwurf lässt erkennen, dass es schon schlechtereGesetzentwürfe der Bundesregierung gegeben hat alsden von Frau Staatsministerin Grütters. Das heißt abernicht, dass der Entwurf gut ist. Meine Fraktion hat sichdeswegen dafür entschieden, ihren Antrag heute schonvorzulegen und nicht erst bei der ersten Lesung des Ge-setzentwurfs dazuzulegen; denn wir haben die Hoffnung,dass er in der Phase der Erarbeitung der Stellungnahmender Bundesländer zum Gesetzentwurf vielleicht nochGehör findet und damit zu einer Änderung des Entwurfsder Bundesregierung beiträgt, noch bevor er ins Parla-ment kommt.
Für die Linke steht fest: Film ist in erster Linie Kultur,und Kinos sind Stätten der Kultur. Natürlich ist der Filmauch Wirtschaftsgut – das ist keine Frage –, und damit ister auch Gegenstand von Standortpolitik. Aber für die Le-gitimation staatlicher Filmförderung muss die kulturelleBegründung immer im Vordergrund stehen. Es darf ihrnicht in erster Linie um den gewinnträchtigen Blockbus-ter gehen. Es muss um künstlerische Vielfalt, um gesell-Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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schaftliche Relevanz, um Ästhetik und um kommunika-tiven Gehalt gehen.
Voraussetzung für die Einhaltung dieser künstleri-schen Kriterien und kulturellen Begründungen sind dieentsprechenden Rahmenbedingungen für diejenigen, dieletzten Endes am Entstehen eines Films beteiligt sind.Das sind viele verschiedene Menschen mit vielen ver-schiedenen Fähigkeiten und Berufen. Sie alle haben einRecht auf eine faire Vergütung, und die gibt es im Film-wesen inzwischen leider nicht mehr. Aber auch die Film-branche muss soziale Mindeststandards einhalten.
Die Linke fordert deshalb, dass in Zukunft nur noch sol-che Filmprojekte gefördert werden, bei denen die Tarif-löhne bzw. der Mindestlohn in die Kalkulation einbezo-gen werden. Wer Tariflöhne und den Mindestlohn zwarkalkuliert, aber dann nicht ausbezahlt, der soll mindes-tens für drei Jahre von der Förderung ausgeschlossenwerden.
Darüber hinaus fällt es auf, dass bei der Vergabe derFördermittel Frauen auf eine Art und Weise benachteiligtwerden, die nicht mehr hingenommen werden kann.
Die Linke spricht sich deswegen nachdrücklich für einebesondere Förderung solcher Filme aus, bei deren Pro-duktion Frauen an verantwortlicher Stelle beteiligt sind.Wir wollen im neuen Gesetz eine Zielvorgabe verankertwissen, die besagt, dass die Hälfte der Fördermittel anProjekte gehen soll, bei denen Frauen in der Produktion,bei der Regie oder am Drehbuch mitwirken.
Ich habe einleitend von der notwendigen künstleri-schen Vielfalt gesprochen. Deswegen sind wir dafür,dass die Referenzmittel für Kinder- und Jugendfilme, fürAnimations- und Dokumentarfilme verdreifacht werden.Wir wollen auch den Anteil des Kurzfilms verdoppeln.Wir sagen: Die Tatsache, dass sich Fördermittel zu-nehmend in den Händen der großen Produzenten kon-zentrieren, schadet der Genrevielfalt. Das muss dringendgestoppt werden. Frau Grütters hat im Vorfeld ihres Ge-setzentwurfs angekündigt, dass sie die Gremien, die überdie Vergabe der Mittel entscheiden, verkleinern will. Daswürde ich auch unterstützen. Aber es geht natürlich nichtnur um die Verkleinerung der Gremien,
sondern es geht auch um ihre Zusammensetzung, damitnicht die Großen der Branche künftig weiter das Sagenhaben und die Kreativen weiter außen vor bleiben.
Deswegen sagen wir: In keinem Gremium darf es einDauerabonnement auf eine Beteiligung und auf einenVerbleib geben. Die Zusammensetzung muss sich imTurnus ändern, sodass die bestehenden Verkrustungenaufgebrochen werden können.
Ich glaube, es ist nicht zu viel verlangt, wenn man einederartige Forderung aufstellt.Meine Damen und Herren, zusammenfassend will ichfür unsere Fraktion sagen: Das Filmfördersystem mussnatürlich insgesamt auf den Prüfstand gestellt werden, esmuss evaluiert und einer gründlichen Prüfung unterzo-gen werden; denn der Kern des Fördersystems stammtnoch aus den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts.Er hat in der Zwischenzeit mächtig Staub angesetzt. Esist ein starres System, es ist sehr komplex und ein verwir-rendes Geflecht aus Bundes- und Länderzuständigkeiten.Deswegen möchte meine Fraktion, dass diese Evaluie-rung bald in Angriff genommen wird, sofort nach Verab-schiedung der FFG-Novelle.Abschließend: Mit unserem heutigen Fördersystemhätten Filme von Rainer Werner Fassbinder keine Chan-ce gehabt. Das muss sich ändern, findet meine Frakti-on. Wir wollen darüber hinaus, dass es in Zukunft mehrDoris Dörries und Margarethe von Trottas gibt.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Bevor ich jetzt dem Kollegen MarcoWanderwitz das Wort erteile, möchte ich Ihnen das vonden Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Er-gebnis der namentlichen Abstimmung über das Gesetzzur Bekämpfung von Korruption im Gesundheitswesenbekanntgeben: abgegebene Stimmen 576. Mit Ja habengestimmt 464, mit Nein haben gestimmt 58, Enthaltun-gen 54. Damit ist der Gesetzentwurf angenommen.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 576;davonja: 464nein: 58enthalten: 54JaCDU/CSUStephan AlbaniKatrin AlbsteigerArtur AuernhammerGünter BaumannMaik BeermannManfred Behrens
Veronika BellmannSybille BenningDr. André BergheggerDr. Christoph BergnerUte BertramPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang BosbachNorbert BrackmannHarald Petzold
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Klaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexandra Dinges-DierigMichael DonthThomas DörflingerMarie-Luise DöttHansjörg DurzIris EberlJutta EckenbachDr. Bernd FabritiusHermann FärberUwe FeilerDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachDirk Fischer
Axel E. Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachThorsten FreiDr. Astrid FreudensteinDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Thomas GebhartAlois GerigEberhard GiengerCemile GiousoufJosef GöppelUrsula Groden-KranichHermann GröheKlaus-Dieter GröhlerMichael Grosse-BrömerAstrid GrotelüschenMarkus GrübelManfred GrundOliver GrundmannDr. Herlind GundelachFritz GüntzlerOlav GuttingChristian HaaseFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtMatthias HauerMark HauptmannDr. Stefan HeckDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilFrank Heinrich
Mark HelfrichUda HellerJörg HellmuthRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingPeter HintzeDr. Heribert HirteChristian HirteRobert HochbaumAlexander HoffmannThorsten Hoffmann
Karl HolmeierFranz-Josef HolzenkampDr. Hendrik HoppenstedtMargaret HorbBettina HornhuesAnette HübingerHubert HüppeErich IrlstorferThomas JarzombekSylvia JörrißenXaver JungDr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterSteffen KanitzAlois KarlAnja KarliczekVolker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterDr. Georg KippelsVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenMarkus KoobCarsten KörberHartmut KoschykKordula KovacMichael KretschmerGunther KrichbaumRüdiger KruseBettina KudlaDr. Roy KühneUwe LagoskyDr. Karl A. LamersAndreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeBarbara LanzingerPaul LehriederDr. Katja LeikertDr. Philipp LengsfeldDr. Andreas LenzDr. Ursula von der LeyenAntje LeziusMatthias LietzAndrea LindholzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsWilfried LorenzDr. Claudia Lücking-MichelDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigKarin MaagYvonne MagwasThomas MahlbergDr. Thomas de MaizièreGisela ManderlaMatern von MarschallHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Reiner MeierDr. Michael MeisterDr. Angela MerkelJan MetzlerMaria MichalkDr. h.c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergDietrich MonstadtKarsten MöringMarlene MortlerVolker MosblechElisabeth MotschmannDr. Gerd Müller
Stefan Müller
Dr. Philipp MurmannDr. Andreas NickMichaela NollHelmut NowakDr. Georg NüßleinJulia ObermeierWilfried OellersFlorian OßnerDr. Tim OstermannHenning OtteIngrid PahlmannSylvia PantelMartin PatzeltDr. Martin PätzoldUlrich PetzoldSibylle PfeifferEckhard PolsThomas RachelKerstin RadomskiAlexander RadwanAlois RainerDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergLothar RiebsamenJosef RiefDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringErwin RüddelAlbert RupprechtAnita Schäfer
Andreas ScheuerKarl SchiewerlingJana SchimkeNorbert SchindlerTankred SchipanskiHeiko SchmelzleGabriele Schmidt
Patrick SchniederDr. Ole SchröderDr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-DrüggelteDr. Klaus-Peter SchulzeUwe SchummerArmin Schuster
Christina SchwarzerDetlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertJohannes SinghammerTino SorgeJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelDr. Wolfgang StefingerAlbert StegemannPeter SteinSebastian SteinekeJohannes SteinigerChristian Frhr. von StettenDieter StierRita Stockhofe
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Gero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerThomas StritzlThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenDr. Sabine Sütterlin-WaackAntje TillmannAstrid Timmermann-FechterDr. Hans-Peter UhlDr. Volker UllrichArnold VaatzOswin VeithThomas ViesehonMichael VietzVolkmar Vogel
Sven VolmeringChristel Voßbeck-KayserKees de VriesDr. Johann WadephulMarco WanderwitzNina WarkenKai WegnerAlbert WeilerMarcus Weinberg
Dr. Anja WeisgerberPeter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannMarian WendtWaldemar WestermayerKai WhittakerPeter WichtelAnnette Widmann-MauzHeinz Wiese
Klaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerOliver WittkeDagmar G. WöhrlBarbara WoltmannTobias ZechHeinrich ZertikEmmi ZeulnerDr. Matthias ZimmerSPDNiels AnnenIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeike BaehrensUlrike BahrHeinz-Joachim BarchmannDr. Katarina BarleyDoris BarnettKlaus BarthelDr. Matthias BartkeSören BartolBärbel BasUwe BeckmeyerLothar Binding
Burkhard BlienertWilli BraseDr. Karl-Heinz BrunnerEdelgard BulmahnMarco BülowMartin BurkertDr. Lars CastellucciPetra CroneBernhard DaldrupDr. Daniela De RidderDr. Karamba DiabySabine DittmarMartin DörmannElvira Drobinski-WeißSiegmund EhrmannMichaela EngelmeierDr. h.c. Gernot ErlerSaskia EskenKarin Evers-MeyerDr. Johannes FechnerDr. Fritz FelgentreuElke FernerDr. Ute Finckh-KrämerChristian FlisekGabriele FograscherDr. Edgar FrankeUlrich FreeseDagmar FreitagMichael GerdesMartin GersterIris GleickeAngelika GlöcknerKerstin GrieseGabriele GronebergMichael GroßUli GrötschWolfgang GunkelBettina HagedornRita Hagl-KehlMetin HakverdiUlrich HampelSebastian HartmannMichael Hartmann
Dirk HeidenblutHubertus Heil
Gabriela HeinrichMarcus HeldWolfgang HellmichHeidtrud HennGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Thomas HitschlerDr. Eva HöglMatthias IlgenChristina Jantz-HerrmannFrank JungeJosip JuratovicThomas JurkOliver KaczmarekJohannes KahrsRalf KapschackGabriele KatzmarekUlrich KelberMarina KermerCansel KiziltepeArno KlareLars KlingbeilDr. Bärbel KoflerDaniela KolbeBirgit KömpelAnette KrammeDr. Hans-Ulrich KrügerHelga Kühn-MengelChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerHiltrud LotzeKirsten LühmannDr. Birgit Malecha-NissenCaren MarksKatja MastHilde MattheisDr. Matthias MierschKlaus MindrupSusanne MittagBettina MüllerDetlef Müller
Dr. Rolf MützenichAndrea NahlesUlli NissenThomas OppermannMahmut Özdemir
Aydan ÖzoğuzMarkus PaschkeChristian PetryJeannine PflugradtDetlev PilgerSabine PoschmannJoachim PoßFlorian PostAchim Post
Dr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeDr. Simone RaatzMartin RabanusMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannAndreas RimkusSönke RixPetra Rode-BosseDennis RohdeDr. Martin RosemannRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Susann RüthrichBernd RützelSarah RyglewskiJohann SaathoffAnnette SawadeDr. Hans-JoachimSchabedothAxel Schäfer
Dr. Nina ScheerMarianne SchiederUdo SchiefnerDr. Dorothee SchlegelUlla Schmidt
Matthias Schmidt
Dagmar Schmidt
Elfi Scho-AntwerpesUrsula SchulteSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeStefan SchwartzeAndreas SchwarzRita Schwarzelühr-SutterRainer SpieringNorbert SpinrathSvenja StadlerMartina Stamm-FibichSonja SteffenPeer SteinbrückChristoph SträsserKerstin TackClaudia TausendMichael ThewsDr. Karin ThissenFranz ThönnesCarsten TrägerUte Vogt
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Dirk VöpelGabi WeberBernd WestphalDirk WieseWaltraud Wolff
Gülistan YükselDagmar ZieglerStefan ZierkeDr. Jens ZimmermannManfred ZöllmerNeinDIE LINKEDr. Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W. BirkwaldHeidrun BluhmEva Bulling-SchröterRoland ClausSevim DağdelenDr. Diether DehmKlaus ErnstNicole GohlkeAnnette GrothDr. André HahnHeike HänselDr. Rosemarie HeinInge HögerAndrej HunkoSigrid HupachUlla JelpkeSusanna KarawanskijKerstin KassnerKatja KippingJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichDr. Gesine LötzschThomas LutzeBirgit MenzCornelia MöhringNorbert Müller
Dr. Alexander S. NeuThomas NordPetra PauHarald Petzold
Richard PitterleMartina RennerDr. Petra SitteKersten SteinkeDr. Kirsten TackmannAzize TankFrank TempelDr. Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerDr. Sahra WagenknechtHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerBirgit WöllertJörn WunderlichHubertus ZdebelPia ZimmermannSabine Zimmermann
EnthaltenBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENLuise AmtsbergAnnalena BaerbockVolker Beck
Agnieszka BruggerEkin DeligözKatja DörnerKatharina DrögeHarald EbnerDr. Thomas GambkeMatthias GastelKai GehringKatrin Göring-EckardtAnja HajdukBritta HaßelmannDr. Anton HofreiterBärbel HöhnDieter JanecekUwe KekeritzKatja KeulSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkOliver KrischerStephan Kühn
Renate KünastMonika LazarSteffi LemkeDr. Tobias LindnerPeter MeiwaldIrene MihalicÖzcan MutluDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffCem ÖzdemirLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Corinna RüfferManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergUlle SchauwsDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtKordula Schulz-AscheDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDr. Julia VerlindenDoris WagnerBeate Walter-RosenheimerDr. Valerie WilmsJetzt hat der Kollege Marco Wanderwitz das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der Antrag der Linken sieht einen riesigen „Problem-berg“ in der Filmförderung. So wird es dort benannt. Ichsehe ihn nicht.
Ich sehe ihn vor allem deshalb nicht, weil das, was wirim Jahr 2015 in den Kinos vom deutschen Film gesehenhaben, irgendwie gar nicht dafür spricht, dass wir einenriesigen Problemberg haben.Ich will zu Beginn einige Zahlen nennen: Mit27,5 Prozent hatten wir 2015 den höchsten Marktanteildes deutschen Films seit Erfassung der Besucherzahlen.Es gab 37,1 Millionen Besucher von deutschen Filmen.Knapp 1,2 Milliarden Euro Umsatz gab es für die Kinos,und – und das freut mich besonders – das Leinwandster-ben scheint gestoppt. Wir hatten im Jahr 2015 ein Plusvon 55 Kinosälen. Ich finde nicht, dass so ein riesigerProblemberg aussieht.
Ich finde vielmehr, dass die Verfassung, in der sich derdeutsche Film befindet, eine gute Basis ist, auf die wirmit der turnusgemäßen Novelle des Filmförderungsge-setzes, die jetzt ansteht, draufsatteln können. Insbesonde-re die Umwälzungen im Bereich der Digitalisierung unddes Internets fordern auch den Film und das Kino seitvielen Jahren heraus. Deshalb geht der Regierungsent-wurf diese Aufgabe an.Ich für meine Fraktion sehe die Hauptaufgabe in Be-zug auf die Novelle darin, zunächst einmal das hohe Ab-gabenniveau zu sichern. Wir brauchen weiterhin 50 Mil-lionen Euro plus X für diesen Teil der Filmförderung.Es gibt ja nicht nur die Förderung, die sich durch dasFilmfördergesetz ergibt. Wir müssen es schaffen, dasswir diese 50 Millionen Euro plus X mindestens für die
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fünf Jahre gewährleisten können, für die wir das neueFilmfördergesetz planen.Ich finde es sehr gut, dass sowohl die Videowirt-schaft als auch der private Rundfunk als große Einzah-ler gruppen an dieser Stelle weiteres Entgegenkommensignalisiert haben. Liebe Frau Staatsministerin MonikaGrütters, ich finde es auch sehr gut, dass es zusammenmit dem BKM gelungen ist, zu einer Vereinbarung mitdem öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu kommen, dieihren Zweck erfüllt, nämlich die Erhöhung des Abgabe-satzes auf 3 Prozent und zusätzliche Leistungen auf frei-williger Basis.Wichtig ist, dass wir die werbefinanzierten Video-on- Demand-Anbieter als neue Einzahlergruppe einbe-ziehen. Ich bin zuversichtlich, dass wir dies gerichtsfesthinbekommen. Wir müssen natürlich auch an der Abga-bepflicht der ausländischen Video-on-Demand-Anbieterfesthalten. Das haben wir bereits vor drei Jahren in derkleinen Novelle des Filmfördergesetzes angelegt. Ichbin zumindest ziemlich traurig, dass dies seit nunmehrdrei Jahren bei der EU-Kommission liegt und dass wir esimmer noch nicht geschafft haben, an dieser Stelle eineModifizierung hinzubekommen, oder, anders formuliert,dass die Kommission es nicht geschafft hat, unser deut-sches Gesetz an dieser Stelle zu notifizieren. Wir brau-chen diese Einnahmen; denn diese Anbieter profitierenvon dem Content Film, und deshalb müssen auch sie zu-künftig zu den Einzahlern gehören.
Ich für meinen Teil tue mich schwer damit, zwischendem Kulturgut Film und dem Wirtschaftsgut Film zu un-terscheiden, wie Sie das nach meiner Wahrnehmung tun.Ich will eines nicht stärker betonen als das andere. Fürmich ist der Film mindestens genauso sehr Kulturgut,wie er Wirtschaftsgut ist, und mindestens genauso sehrWirtschaftsgut, wie er Kulturgut ist.
– Vielleicht haben wir uns an der Stelle ja nur missver-standen. – Im Übrigen gibt es viele künstlerisch wertvol-le Filme, die sich an der Kinokasse ziemlich gut behaup-tet haben. Erinnern wir uns beispielsweise an Filme wie„Das weiße Band“, „Victoria“ oder „Oh Boy“. Das sindFilme, denen wohl niemand die künstlerische Klasse ab-sprechen will, die es gleichwohl geschafft haben, Kas-senschlager zu werden.Ich finde, dass natürlich auch Blockbuster gefördertwerden sollen und dürfen.
Wenn Blockbuster gewinnträchtig sind, profitieren alle:Produzenten, Verleiher, vor allen Dingen die Kinos – wirsind uns völlig einig, dass die Kinos wichtige Stätten derKultur sind –, die Kreativen und die Videobranche. Esgeht um viele Arbeitsplätze, und die großen Filme brin-gen natürlich eine ganze Menge ein.Nun ist sowohl beim Thema „künstlerische Qualitätdes Films in der Breite“ als auch beim Thema Marktan-teil noch nicht alles eitel Sonnenschein. Wir haben uns30 Prozent Marktanteil vorgenommen. Da sind wir jetztrelativ nah dran. Diese 30 Prozent wollen wir erreichen,und deswegen wollen wir noch das eine oder andere än-dern.
I
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Verstärkung und Zweistufigkeit der Drehbuchför-derung zielt, glaube ich, in die richtige Richtung. Genau-so richtig ist es, glaube ich, die Mindestfördersummen zuerhöhen; denn wir haben derzeit eine Vielzahl von – sowill ich es einmal sagen – Miniförderungen, die mit derGießkanne ausgeschüttet werden. Natürlich sagt jeder,der in den Genuss einer solchen Miniförderung kommt:Das ist eine schöne Sache; das ist ein Baustein, damit ichdiesen Beitrag machen kann. Auf der anderen Seite führtdiese Art der Förderung aber dazu – darüber wird immerwieder diskutiert –, dass wir viele Filme haben, die nurein sehr kleines Publikum erreichen, und in der Sum-me entspricht diese Gießkannenförderung einer ganzenMenge Geld. Wenn wir diesbezüglich zu einer gewissenKonzentration kommen, ist für andere Projekte schlichtein bisschen mehr Geld da.Ich finde auch die Vorschläge der Staatsministerin zurRückzahlquote der Förderung und zur Verkleinerung derFördergremien richtig. Wenn wir über Gremien sprechen,sind wir auch beim Thema – so sage ich es einmal – Män-nerüberlast. Auch dazu gibt es ja Vorschläge der BKM.Völlig klar ist: Wir müssen an der Stelle mehr tun, etwastun. Wir müssen bei den Jurys etwas tun, und wir müssenbei den Gremien, beispielsweise bei der Filmförderungs-anstalt, etwas tun. Wovon ich überhaupt nicht überzeugtbin, ist der Vorschlag, dass die in Bälde, so hoffe ich,entsprechend angepassten Jurys bei ihren Förderent-scheidungen, bei ihren Vergabeentscheidungen Quotie-rungen vornehmen, beispielsweise abhängig davon, obein Regisseur oder eine Regisseurin diesen Film gemachthat, ob ein Produzent oder eine Produzentin diesen Filmgemacht hat. Ich glaube, wir müssen sicherstellen, dassFrauen in den Jurys mitentscheiden. Ich kann mir aberschwer vorstellen, dass wir die Vergabeentscheidung imRegelfall daran festmachen, ob Männer und/oder Frauenin dieser oder jener Position am Film beteiligt sind.
Darüber sollten wir noch einmal reden. Bezogen auf denzuerst genannten Teil, auf die Jurys und Gremien, kannich für meine Fraktion sagen: Wir sind absolut willens,da etwas zu tun.Bezüglich einiger anderer Punkte, die in Ihrem Antraggenannt sind, haben wir ja bereits eigene Anträge vorge-legt bzw. sind darauf im Rahmen der letzten Novelle zumGesetz eingegangen. Das gilt beispielsweise für das The-ma Kinderfilm und das Thema Barrierefreiheit. In diesenBereichen haben wir schon eine ganze Menge getan.
Marco Wanderwitz
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Stichwort: getan haben. Begonnen unter Kulturstaats-minister Bernd Neumann, fortgeführt unter MonikaGrütters haben wir als Deutscher Bundestag, als Haus-haltsgesetzgeber, beispielsweise das Förderprogrammzur Kinodigitalisierung angelegt. Ich glaube, das war einganz wichtiger Baustein. Dabei ging es um die Frage –dieses Thema sprechen Sie in Ihrem Antrag auch an –:Wie sorgen wir dafür, dass Kinos in der Fläche erhaltenbleiben? Ich glaube, uns allen ist klar: Wenn es diesesFörderprogramm zur Kinodigitalisierung nicht gegebenhätte, dann wären die Zahlen, die ich vorhin genannthabe, nicht so, wie sie sind, dann würde es eine ganzeMenge Kinos im ländlichen Bereich nicht mehr geben.Ich finde es deswegen auch völlig richtig, als Aufla-ge für die Verleihförderung festzulegen, dass Kinos imländlichen Raum angemessen mit Kopien – natürlichnur von geförderten Filmen – versorgt werden müssen.Die Frage, wie wir es schaffen, Kinos darüber hinaus inder Fläche zu halten, kann man nicht damit beantworten,dass man anordnet: In diesem oder jenem Bereich musses eines geben.
Wie soll das praktisch funktionieren? Es gibt beispiels-weise kommunale Kinos, die das ein Stück weit auffan-gen.
– Ja, es ist gut, dass es sie gibt. – Das ist kommunaleSelbstverwaltung im besten Sinne. Aber es ist nicht Auf-gabe des Bundesgesetzgebers, dafür Regelungen zu tref-fen.
Um noch ein paar Stichpunkte zu nennen: Ich finde,wir sollten uns noch einmal sehr genau das anschauen,was die Produzenten unter dem Stichwort „Produzen-tenkorridor“ vorgeschlagen haben. Ich glaube, man kannund sollte darüber sprechen. Wir werden natürlich auchan der Baustelle „soziale Lage der Filmschaffenden“dranbleiben müssen, nur glaube ich, dass das Filmförde-rungsgesetz dafür nicht das richtige Mittel ist.Filmpolitik erschöpft sich nicht nur in der Novelle desFilmförderungsgesetzes, sondern umfasst beispielswei-se auch ein Instrument, das durch unsere Entscheidungals Haushaltsgesetzgeber jetzt wesentlich größer gewor-den ist, nämlich die kulturelle Filmförderung; die Mit-tel dafür sind um 15 Millionen Euro erhöht worden undwurden damit mehr als verdoppelt. Das ist das große In-strument, durch das insbesondere die kulturell besonderswertvollen Filme gefördert werden. Wir haben danebendie Förderung des BMWi in Form des German MotionPicture Fund als kleine Schwester oder kleinen Bruderdes DFFF.2016 sind die Filmpolitik und die Förderinstrumentemächtig im Fluss. Ich freue mich, dass wir dies mitge-stalten können. Ich freue mich auf die Diskussionen rundum die Novelle. Dafür hätten wir jetzt nicht unbedingtdiese Debatte heute gebraucht, aber es schadet auchnicht, wenn wir sie führen.
Vielen Dank. – Als Nächstes hat Tabea Rößner, Bünd-
nis 90/Die Grünen, das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Behauptung: Der deutsche Film ist tot. Tot. Totge-fördert. Totgeskriptet. Totgequatscht. Totproduziert.Totunterrichtet. Totgelehrt. Totkritisiert. Totge-schrieben. Totbetreut. Hat sich totgefeiert. Hat sichtotgelacht. Ist total unerotisch. Totgegrübelt. – Wares je anders?Das ist ein Zitat aus dem neuen Dokumentarfilm Ver-fluchte Liebe deutscher Film. Dominik Graf sucht da-rin nach einem deutschen Kino, das er lieben kann. Ichmeine, wenn wir hier über die Reform der Filmförderungreden, sollten wir genau das tun.
Als leidenschaftliche Kinogängerin wünsche ich mirnicht nur Filme, die mich gut unterhalten, sondern ichwünsche mir auch Filme, die mich anregen, die andereSichtweisen zeigen, die gegen den Strich bürsten, ja,auch welche, die provozieren. Dazu brauchen die Film-schaffenden kreative Freiheiten. Gerade in Zeiten wiediesen ist es umso wichtiger, dass wir diese Freiheitenermöglichen, den Künstlerinnen und Künstlern den Rü-cken stärken und für die uneingeschränkte Kunstfreiheiteintreten.
Einige Probleme bei der Filmförderung werden indem Antrag der Linken ganz richtig beschrieben. DieFörderstrukturen sind ineffizient und ungerecht, Frauenbekommen nur selten den Zuschlag, und viele Beschäf-tigungsverhältnisse sind prekär. In Ihren Schlussfolge-rungen aber tun sich dann Widersprüche auf. Sie fordernmehr Referenz- und weniger Projektförderung. Von derautomatischen Referenzförderung profitieren aber vor al-lem diejenigen, die erfolgreiche Kinofilme gemacht undden Fuß schon in der Tür haben. Das Problem ist aber,dass zum Beispiel gerade Frauen gar nicht bis zur Türkommen; sie werden vorher gestoppt. Mir ist die Vergabevon Fördermitteln ohne Gremien ja auch sympathisch.Die Wahrheit ist allerdings, dass automatische Förderungauch nicht gerechter ist. Das kann man ja beim DFFFsehr deutlich sehen.Ein Aspekt ist doch auch, dass Gremien viele sehr ein-fallslose Entscheidungen treffen. Da werden Filme ge-fördert, die eh schon die meisten Zuschauer haben. DerTeufel scheißt immer auf den größten Haufen. SchönesBeispiel: Fack ju Göhte 2 erhält jetzt noch eine Vertriebs-Marco Wanderwitz
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förderung, obwohl genau dieser Film diese überhauptnicht nötig hätte.
Wir brauchen aber Vielfalt im Film, und dafür brauchenwir auch den kleinen und den feinen Film.Sie fordern Gerechtigkeit bei der Förderung. Das for-dern auch wir. Weshalb fordern Sie dann aber nicht mehrTransparenz in diesem Förderdschungel? Denn Trans-parenz wäre doch die Voraussetzung für eine gerechtereSteuerung innerhalb des Systems. Ich habe dafür einenganz einfachen Vorschlag: eine umfassende Berichts-pflicht für die Filmförderungsanstalt. Ich sage Ihnenauch, warum.Neulich hat meine Fraktion einen Brief von Staatsmi-nisterin Grütters bekommen. Wir hatten sie nach Zahlenzur Effizienz, zur Gerechtigkeit und zur Nachhaltigkeitder Filmförderung gefragt. Den besten Beweis für dieIneffizienz und die Ahnungslosigkeit lieferte uns dieserBrief. Statt einer Antwort mit Zahlen habe ich eine Ant-wort bekommen, in der steht, wie lange das Zusammen-tragen der Zahlen dauern würde. Mehr als zwei Jahrebräuchte die FFA, um beispielsweise eine Aufstellungvon Rückflüssen nach Besucherzahlen vorzulegen. Sowenig kennt die FFA offenbar ihre eigenen Zahlen.In Frankreich gibt es ein zentrales Filmregister. Dortwerden bei öffentlich geförderten Produktionen alle Ver-träge hinterlegt: mit Informationen zum Gesamtbudget,zu Beteiligungen von Sendern und Koproduzenten undzu den Arbeitsbedingungen. Und in Deutschland? Da be-hält die FFA so wichtige Daten, an denen die gesamtedeutsche Filmbranche hängt, für sich oder – noch schlim-mer – erhebt sie gar nicht erst. Hier sehen wir dringendenÄnderungsbedarf.
Wir sind davon überzeugt: Wenn es bei der Förderungetwas gerechter zuginge, bräuchte sich die Branche auchnicht mehr zu verstecken, und wir alle müssten nichtmehr fluchen über unsere Liebe zum deutschen Film.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als Nächstes hat der Kollege Burkhard
Blienert, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Zunächst ein Glückwunschan den deutschen Film, nämlich an Maren Ade! Toni Erdmann, ihr Film, ist in Cannes dabei. Wir haben seitJahren wieder einen deutschen Film bei den Filmfest-spielen. Wenn auch allseits beklagt: So schlecht kann derdeutsche Film anscheinend doch nicht sein.
Neben diesem Film, der von der FFA und vomDeutschen Filmförderfonds gefördert wurde und eineBKM-Filmförderung erhielt, sind noch drei weitere mitanderen Länderförderungen geförderte Filme dabei. Ichfreue mich darauf, dass wir, wie ich glaube, in Cannesgut abschneiden werden. Das alles ist ein Zeichen dafür,dass es dem deutschen Film nicht schlecht geht, dass wirauch Gutes und kulturell Wertvolles produzieren und er-folgreich sein können. Was wollen wir denn mehr, wennwir beides tatsächlich schaffen? Denn das gehört zusam-men.Vor drei Wochen hat das Kabinett den Entwurf desneuen Filmförderungsgesetzes beschlossen. Wir werdengenug Gelegenheiten haben, darüber zu diskutieren. Esist gelungen, mit diesem Gesetzentwurf auf die großenHerausforderungen für die Filmförderung zu reagieren,ohne dabei den Konsens der vielstimmigen Filmbrancheaußer Acht zu lassen. Darüber, ob die Antworten insge-samt hinreichend sind, werden wir im Rahmen der Anhö-rung und im Ausschuss diskutieren.Die größte Herausforderung bestand darin, mit derKlage gegen das FFG fertig zu werden und die brüchiggewordene Solidarität innerhalb der Branche wiederher-zustellen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hatuns den dafür notwendigen Rückenwind gegeben. Wennich an die umfassenden Evaluierungen, Anhörungen undDiskussionen mit den betroffenen Akteuren denke, dieder Erarbeitung des Gesetzentwurfes vorangegangensind, und nun das Ergebnis sehe, dann, meine ich, ist die-ser Rückenwind gut genutzt worden.
Auch die zweite Herausforderung haben wir gemeis-tert. Dabei ging es um die prognostizierte Einnahmelü-cke, die sich gezeigt hätte, wenn wir nichts getan hät-ten. Ursächlich für diese Lücke sind, wie wir wissen, dieVerschiebungen der Abgabeleistungen unter den Abga-bepflichtigen, nämlich den Kinos, der Videowirtschaftund den Fernsehsendern. Ursächlich sind aber auch dieinzwischen nicht mehr ganz so neuen Marktteilnehmeraus der digitalen Wirtschaft, allen voran die Videoabruf-dienste mit ihren unterschiedlichsten Geschäftsmodellen.Noch nicht alle dieser Anbieter sind in die Abgabepflichteinbezogen. Als Marktteilnehmer, die mit dem deutschenKinofilm Umsätze machen, müssen aber auch sie zu des-sen Förderung beitragen.Dem Gesetzentwurf gelingt es, der absehbarenSchrumpfung des FFA-Haushaltes gegenzusteuern –zum einen durch die Anpassung der Abgabesätze derAbgabepflichtigen und zum anderen durch die Einbezie-hung weiterer Anbieter. Damit schaffen wir es, die Fi-nanzierung der Filmförderanstalt für die nächsten Jahrezu sichern.Mit der Reduzierung der Gremien, ihrer Verschlan-kung und der paritätischen Besetzung macht der Gesetz-entwurf einen weiteren großen Schritt nach vorne. DieTabea Rößner
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vorgesehene Neuausrichtung der Förderung mit demZiel, die Qualität und die Vielfalt des Filmschaffens inDeutschland nachhaltig fortzuentwickeln, halte ich füreinen wichtigen Schritt.Ob das alles in der konkreten Ausgestaltung den ge-steckten Zielen auch gerecht wird, müssen wir uns in denkommenden Beratungen noch genauer anschauen.Wie gesagt: Vor drei Wochen wurde der Entwurf derFFG-Novelle verabschiedet. Vorgestern hat die Fraktionder Linken den Antrag zur Filmförderung beschlossen,den wir heute beraten. Leider nehmen Sie mit diesem An-trag wirklich – Sie haben es zugegeben – keinen Bezugauf den Entwurf der FFG-Novelle, sondern Sie arbeitensich an einem Stand der Debatte ab, den wir eigentlichschon längst hinter uns gelassen haben. Damit werdenweite Teile Ihrer Vorlage obsolet; denn mit dem Gesetz-entwurf haben sich, wenn er dann auch in Kraft getretenist, viele Ihrer Forderungen erledigt.
Sie fordern zum Beispiel, die Fördergremien zu ver-kleinern. Genau das ist ein Schwerpunkt des Gesetzent-wurfes, durch den eine radikale Reduzierung und Neuge-staltung der Gremienstrukturen vorgenommen wird.Daneben fordern Sie die weitere Flexibilisierung derSperrfristen, zum Beispiel für Filme, die im Kino keinenErfolg versprechen. Genau das will auch der Entwurf mitder Möglichkeit der Nichtanwendung der Sperrfristenre-gelungen einführen.Sie wollen das Kino als kulturellen Ort erhalten – be-sonders in der Fläche. Das ist ein guter Vorsatz. Auchmeine Fraktion hat sich immer für eine möglichst flä-chendeckende Kinolandschaft eingesetzt, und wir kön-nen es nur begrüßen, wenn das durch den Gesetzentwurfmit zahlreichen Maßnahmen unterstützt wird.Zu nennen ist hier zuallererst die Anhebung der Um-satzschwelle, ab der die Kinos die Filmabgabe zu leis-ten haben. Das ist ein wichtiger Beitrag, um gerade dieExistenz der kleineren Kinos in Städten mit weniger als20 000 Einwohnern zu sichern. Auch die neue Regelung,wonach die Verleiher eine angemessene Anzahl an Film-kopien in Orten mit bis zu 20 000 Einwohnern einsetzenmüssen, sorgt dafür, dass auch die Kinos auf dem Landedas aktuelle Filmangebot zeigen können und damit fürdie Zuschauer attraktiv bleiben. Es lohnt sich also, docheinmal ins Detail zu gehen und nicht nur pauschal etwaszu verurteilen. So macht das keinen Sinn.Vieles von dem, was Sie mit Ihrem Antrag fordern –ich könnte weitere Punkte nennen –, ist mit dem Gesetz-entwurf bereits gegenstandslos geworden oder zumindestüberholt.
Anders sieht es bei der Forderung aus, die soziale Lageder Filmschaffenden zu verbessern. Auch mich treibt esum, dass faire Arbeitsbedingungen und eine faire Bezah-lung bei der Filmproduktion immer noch nicht die Regelsind und dass die bisherigen Versuche, das FFG entspre-chend zu ändern, bisher nicht gefruchtet haben. Im Zugeder kommenden Beratungen werden wir auch das bear-beiten und genau prüfen.Erfreulich für die Filmschaffenden ist aber, dass derGesetzentwurf eine Verbesserung für die Urheber vor-sieht. Danach greift die Pflicht zur Darlehenstilgung derProduzenten erst dann, wenn die Erlösbeteiligungen derUrheber bedient worden sind. Das sind komplexe Zu-sammenhänge, aber das macht auch Sinn.In Ihrem Antrag finden sich Widersprüche. Auf dereinen Seite möchten Sie die Produzenten durch einenErlöskorridor stärken, auf der anderen Seite durch Ab-gaben belasten. Wenn es nach Ihnen geht, dann sollen sienämlich für die Videoabrufdienste, deren Abgabepflichtvon Brüssel noch nicht genehmigt wurde, finanziell ein-springen.Viele der Forderungen in diesem Antrag haben sichdurch den Entwurf der FFG-Novelle, den wir diskutierenwerden, erledigt bzw. befinden sich zumindest nicht aufder Höhe der Debatte. Daneben gibt es Widersprüchli-ches oder Vorschläge in Ihrem Antrag, die aus unsererSicht übers Ziel hinausschießen.Meine Fraktion wird dieser Vorlage von Ihnen nichtzustimmen können, aber wir werden in den nächsten Mo-naten Zeit genug haben, im Rahmen der FFG-Novelleausgiebig über geeignete Maßnahmen zur Förderung desdeutschen Films zu diskutieren.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt
die Kollegin Dr. Astrid Freudenstein das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Verehrte Kollegin-nen! Verehrte Kollegen! Meine Damen und Herren aufder Tribüne! Ich habe ja schon zu vielen Anträgen derLinken gesprochen. Aber der jetzige Antrag gehört schonzu den tollsten. Kaum ein anderer vorher offenbarte soabseitige Ideen. Kaum ein anderer vorher war so rea-litätsfern. Kaum ein anderer vorher war so nah an derPlanwirtschaft wie der jetzt vorliegende.
Ich greife mir einmal ein paar Highlights heraus, dieSie noch gar nicht erwähnt haben. Zunächst komme ichjedoch zu einem Punkt, den auch die Kollegen schonangesprochen haben. Sie beklagen die soziale Lage derFilmschaffenden und verlangen, dass Produktionsfirmen,die keine Tarif- oder Mindestlöhne zahlen, für drei Jahrevon der Filmförderung ausgeschlossen werden.Burkhard Blienert
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Es ist richtig, dass es im Bereich der sozialen Absi-cherung von Filmschaffenden noch offene Baustellengibt; das wurde bereits erwähnt. Wir haben aber auchschon einiges getan, zum Beispiel mit dem Gesetz zurStabilisierung der Künstlersozialversicherung. Aber dassdie Beschäftigten in der Filmbranche den Mindestlohnbekommen, ist sicher nicht Sache des Filmförderungs-gesetzes. Die Einhaltung des Mindestlohns kontrolliertbei uns der Zoll. Die Arbeitgeber sind verpflichtet, dieZahlungen entsprechend zu dokumentieren. Wer sich da-ran nicht hält, dem drohen horrende Strafzahlungen. Dasist geregelt. Das ist unterliegt sicher nicht dem Filmför-derungsgesetz.Abenteuerlich ist leider auch Ihre Idee, alle 25 Kilo-meter ein Kino zu platzieren. Wie soll das denn funktio-nieren? Schon jetzt kämpfen kleinere Kinos auch in denStädten ums Überleben. Denen wollen Sie jetzt noch einbisschen Konkurrenz verpassen, indem Sie alle 25 Ki-lometer ein neues Kino hinstellen. Die Betreiber habendann bei jeder Vorstellung komplett freie Platzwahl, weilsie ganz allein sein werden.
Das ist Ihnen vermutlich egal. Das ist im Übrigen reinePlanwirtschaft. Solange der Staat das zahlt, geht das. Ir-gendwann ist er jedoch pleite. Aber das hatten wir allesschon, und das brauchen wir tatsächlich nicht mehr, HerrKollege.
Sie haben sich natürlich auch Gedanken darüber ge-macht, wie Sie die Kinos, die Sie alle 25 Kilometer bau-en wollen, füllen. Dafür müssen die Kleinen ran. Alle 4-bis 16-Jährigen sollen zweimal im Jahr ins Kino gehen,schulisch oder außerschulisch organisiert. Nun gibt esleider überhaupt keinen Grund, die Kinder nur zum Ki-nobesuch zu verpflichten. Mit der gleichen Berechtigungmüsste man sie zweimal im Jahr zum Tanz schicken, insTheater, in eine Skulpturenausstellung, in eine Fotoaus-stellung, in eine Gemäldeausstellung, zu einer Lesungund zu einem Bibliotheksbesuch.
Dann sind die Kleinen in der Tat gut unterwegs. Aber ichkann Ihnen sagen: Auch Kinder und Jugendliche dürfenin unserem Land anschauen, lesen und anhören, was siewollen und so oft sie wollen. Das ist Teil der Freiheit desEinzelnen in unserem Land.
Fast die Krone Ihres Antrags ist das Thema Gender-gerechtigkeit. Das nannte man früher die Gleichberech-tigung von Mann und Frau, die Sie jetzt neu erfinden.Sie wollen Filme, bei denen Frauen für Regie, Drehbuchoder Produktion verantwortlich sind, mit doppelten Re-ferenzmitteln ausstatten. Wie kommen Sie denn auf soetwas? Genauso gut könnten Sie Architektinnen das dop-pelte Honorar ausbezahlen oder für das Klopapier, dasvon einer Firma geliefert wird, deren Chefin eine Frauist, das Doppelte hinlegen. Das ist, kurz und gut gesagt,ein absoluter Verstoß gegen jedes Antidiskriminierungs-gesetz.
Das geht überhaupt nicht. Ich weiß überhaupt nicht, wieSie auf so etwas kommen.
Sie wollen die Mitarbeiter der Filmfördereinrichtun-gen zu Change-Seminaren schicken. Vermutlich wissenviele noch nicht einmal, was das ist.
In Change-Seminaren muss man seine Rollenbilder undseine Stereotypen hinterfragen, sozusagen eine kleinegeistige Umerziehungsmaßnahme. – Danke, auch dasbrauchen wir nicht.
Fast das Allerbeste ist: Sie verlangen spezielle Ein-reichtermine nur für Frauen. Aus irgendeinem Grundunterstellen Sie Frauen, dass sie nicht in der Lage sind,ihre Drehbücher rechtzeitig abzugeben. Mein Gott, washaben Sie für ein Frauenbild!
Zum Schluss komme ich zu Ihrem Vorschlag, es müss-ten Filme über bisher vernachlässigte gesellschaftlicheMinderheitengruppen besser unterstützt werden. Dasläuft ganz getreu nach dem Motto: Gedreht wird, was dasPublikum sehen soll, nicht das, was das Publikum sehenwill. – Wissen Sie, auch hier ist es so: Die Kunst ist frei.Niemand muss sich von der Politik vorschreiben lassen,welchen Filmstoff er sich vornimmt, damit er Fördergel-der bekommt.
Der Schwarz-Weiß-Kurzfilm eines Transgender-Re-gisseurs ist tatsächlich nicht mehr wert als die Komödieeines männlichen Drehbuchschreibers, der daheim mitFrau und Kindern lebt. Das ist die Freiheit, die wir inunserem Land genießen und die wir mit Sicherheit gegenall Ihre Bevormundungsfantasien verteidigen werden.
Für Sie zum Trost, liebe Kolleginnen und Kollegender Linken: Der Schuh des Manitu ist einer der meist-gesehenen deutschen Filme. Fast 12 Millionen Bundes-bürger wollten das schwule Indianer-Cowboy-Pärchensehen. Das ist in der Tat eine bisher vernachlässigte ge-sellschaftliche Minderheitengruppe. So schlecht ist dasPublikum also gar nicht, wie Sie sehen.Dr. Astrid Freudenstein
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Ich finde, Ihr Antrag gehört eindeutig ins Genre derUnterhaltung. Man könnte glatt sagen, er ist eine echteGag-Kanone, die aber leider nicht förderfähig ist.Herzlichen Dank.
Letzte Rednerin in der Aussprache ist die Abgeordnete
Hiltrud Lotze, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der letzte Kino-film, den ich gesehen habe, war der Film Mustang, einetürkisch-französisch-deutsche Kooperation, die mit Mit-teln der Filmförderungsanstalt, also der FFA, gefördertwurde. Dieser Film handelt von fünf jungen Schwesternin der Türkei, die nach und nach von ihrer Familie in ih-rer Freiheit eingeschränkt werden, bis hin zur Zwangs-verheiratung.Der Film hat unterschiedliche Kritiken bekommen.Bei der Vorstellung, die ich im Rahmen der Berlinalegesehen habe, hat er die Zuschauerinnen und Zuschauersehr berührt. Ich glaube, man kann sagen, er hat sie auchaufgewühlt. Dieser Film hat eine Botschaft transportiert.Regie geführt hat bei diesem Film eine Frau. Die Fra-ge, ob ein männlicher Regisseur die Geschichte genausooder anders erzählt hätte, ob er ebenfalls diese Emotio-nen ausgelöst hätte, ist müßig. Interessant ist aber, wasDieter Kosslick, der Direktor der Berlinale, gestern imKulturausschuss gesagt hat. Er hat gesagt: Die künstle-rischen Gesichtspunkte stehen bei einem Film immer imVordergrund. Die erfolgreichsten Hollywood-Produktio-nen zurzeit sind von Frauen gemacht worden. Frauen hat-ten bei der Berlinale die Hauptslots, wie man neudeutschsagt, also die besten Vorführzeiten.Meine Damen und Herren, das Kino ist ein Kulturort.Filme sind Kulturgüter. Es ist bereits gesagt worden, dassKino und Filme natürlich auch Wirtschaftsgüter sind.Deswegen brauchen wir ein starkes, aber natürlich auchein modernes Filmförderungsgesetz, um unsere wertvol-le Filmlandschaft zu erhalten und zu fördern. Wie erfolg-reich diese ist, hat mein Kollege Burkhard Blienert gera-de gesagt. Film ist letztendlich auch Bildung.Frau Staatsministerin Grütters hat mit ihrem Gesetz-entwurf zur Förderung des deutschen Films einen gutenVorschlag gemacht.
Auch das hat der Kollege Blienert schon ausgeführt. Ichmöchte besonders auf den Teilaspekt der Gendergerech-tigkeit eingehen.Im Gesetzentwurf aus dem Hause der BKM werdenerste Schritte eingeleitet, um die Situation der Produzen-tinnen, Drehbuchautorinnen und Regisseurinnen zu ver-bessern.
So soll der Frauenanteil in den Gremien der Filmför-deranstalt erhöht werden.
Für den Verwaltungsrat und das Präsidium der Film-förderanstalt soll ab Inkrafttreten des Gesetzes eineFrauenquote von 30 Prozent gelten, ab 2018 dann eineparitätische Besetzung. Auch für die einzelnen Förder-kommissionen der FFA soll ab Inkrafttreten eine paritäti-sche Besetzung gelten.
Ich möchte erwähnen, dass man im KönigreichSchweden sehr gute Erfahrungen mit einer paritäti-schen Besetzung gemacht hat. Ich glaube, Frau KolleginFreudenstein, Schweden ist von der Planwirtschaft rela-tiv weit entfernt.
Entscheidend ist aber, dass der Gesetzentwurf dieFilmförderungsanstalt im Ganzen dazu verpflichtet – ichzitiere –, „bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben auf dieBelange der Geschlechtergerechtigkeit“ hinzuwirken.Das wird der FFA nun ins Stammbuch geschrieben. Füruns als SPD-Fraktion ist es Verpflichtung und Auftrag,darauf zu achten, ob das auch umgesetzt wird.Wenn sich dann allerdings nichts ändert und nichtmehr Filmprojekte von Regisseurinnen, Drehbuchau-torinnen oder Produzentinnen gefördert werden, dannmüssen wir über weitere Maßnahmen nachdenken undsie ergreifen.
Es ist Fakt, dass es ein Ungleichverhältnis zwischenFrauen und Männern gibt.
Das zeigt die derzeitige Förderkulisse. Unser Ansatz istaber, Schritt für Schritt vorzugehen, und die jetzt zu be-schließende gendergerechte Gremienbesetzung ist einerster guter Schritt.
Was Sie in Ihrem Antrag fordern, nämlich die Hälfte derFördergelder an Projekte zu vergeben, an denen Frauenmaßgeblich mitwirken, können wir in den Blick nehmen,Dr. Astrid Freudenstein
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wenn die jetzt ergriffenen Maßnahmen nicht zum Zielführen.
Noch eine Anmerkung zum Schluss: Eine staatlichverordnete Quote steht im Widerspruch zur künstle-rischen Freiheit; das ist richtig. Aber eine Realität, dieFrauen aufgrund ihres Geschlechts strukturell benachtei-ligt, schränkt die künstlerische Freiheit ebenso ein. Unddie Freiheit gilt nun einmal für Männer und Frauen.Vielen Dank.
Die Rednerin hat sich die Freiheit genommen, etwaslänger zu sprechen. Aber das haben wir jetzt so hinge-nommen.Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/8073 an den Ausschuss für Kultur undMedien vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? –Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung sobeschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:Beratung des Antrags der BundesregierungFortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-scher Streitkräfte an der Militärmission derEuropäischen Union als Beitrag zur Ausbil-dung der malischen Streitkräfte
auf Grundlage des Ersuchens der Regierungvon Mali an die EU sowie der Beschlüssedes Rates der EU 2013/87/GASP vom 18. Fe-bruar 2013, zuletzt geändert mit dem Be-schluss des Rates der EU 2016/446/GASP vom23. März 2016 in Verbindung mit den Resolu-tionen des Sicherheitsrates der Vereinten Na-tionen 2071 vom 12. Oktober 2012 undfolgender Resolutionen, zuletzt 2227
vom 29. Juni 2015Drucksache 18/8090Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz VerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GONach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazukeinen Widerspruch. Dann haben wir so beschlossen.Als erster Rednerin erteile ich für die Bundesregie-rung das Wort Frau Bundesministerin Dr. Ursula von derLeyen.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin derVerteidigung:Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Ich war vergangene Woche mit einigenBundestagsabgeordneten in Mali. Wir waren in Bamako,Gao und Koulikoro. Ich habe in Gao, wie geplant, zweilokale Gouverneure getroffen, und sie hatten unerwarteteine weitere Person mitgebracht. Das war der gewähl-te Bürgermeister aus Gao, dem es ein Anliegen war, diedeutsche Delegation zu begrüßen und im Namen derMenschen seiner Stadt willkommen zu heißen.Ich finde, das ist ein sehr schönes Zeichen dafür, wieviel Vertrauen die Menschen in Gao in Deutschland undin die Bundeswehr haben. Es war aber auch eine Geste,die zeigte, wie groß die Hoffnungen und Erwartungen inuns sind. Es sind Hoffnungen und Erwartungen in einerschwierigen Zeit.Seit einem Jahr gibt es das Friedensabkommen zwi-schen der Regierung und den Rebellengruppen, die be-reit gewesen sind, die Waffen niederzulegen. Man kannsagen, dass der Waffenstillstand hält. Der Fokus liegtjetzt auf der Bekämpfung des Terrors, den diejenigenausüben, die unter keinen Umständen wollen, dass dasFriedensabkommen Erfolg hat, und es mit aller Machtund Brutalität stören.Der Friedensprozess geht voran. Der politische Pro-zess ist eingeleitet. Aber das Ganze geht zäh und lang-sam. Es geht um die sehr mühsame Dezentralisierung derstaatlichen Verwaltung. Es geht um die sogenannte Kan-tonierung, also darum, die ehemaligen Rebellen wiederin die Gesellschaft zu integrieren. Es geht um den Schutzder Bevölkerung, um die Begleitung des Friedensprozes-ses und die Bekämpfung des Terrors.Wir unterstützen Mali gemeinsam mit der internatio-nalen Gemeinschaft. Wir investieren viel, auch an Zeit,und wir geben Hilfe. All das ist richtig. Aber das Gan-ze wird nur dann ein Erfolg werden, wenn dieser Erfolgauch aus der Regierung und aus den Rebellengruppenheraus gewollt wird. Das, meine Damen und Herren, istmaßgeblich, und das haben wir bei den Gesprächen inMali sehr deutlich gemacht.Wir sind mit der Bundeswehr an EUTM, um die esheute Abend geht, und an der Mission MINUSMA derVereinten Nationen beteiligt. Die unterschiedlichen Ele-mente zeigen, wie gut inzwischen die vernetzte Sicher-heit in Mali aufgebaut ist. Es gibt die zivile Aufbaumissi-on EUCAP Sahel, und es gibt viele humanitäre Projektesowie bilaterale Maßnahmen zur wirtschaftlichen Unter-stützung Malis und die Operation Barkhane, die unterfranzösischer Führung den Terror bekämpft.Wenn wir heute über die Ausbildungsmission EUTMMali sprechen, dann stellen wir fest, dass Deutschlandder größte Truppensteller unter den 25 beteiligten Natio-nen ist. Die Mission dauert seit drei Jahren an und hat gutStrecke gemacht. Inzwischen sind 8 000 Soldatinnen undSoldaten ausgebildet worden. Das sind immerhin zweiDrittel der malischen Landstreitkräfte.Wir möchten nun das Mandat – das ist die Begrün-dung für ein neues Mandat, das gerade in Europa so ge-Hiltrud Lotze
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fasst wurde – auf eine andere Stufe heben; denn wir wol-len nicht nur zentral in Koulikoro Ausbildung betreiben,sondern auch in die Weite des Landes, in die Garnisons-städte gehen. Wir wollen uns darauf konzentrieren, dieAusbilder der malischen Streitkräfte auszubilden, und sodazu beitragen, dass Mali selbsttragende Strukturen zurQualifizierung seiner Soldatinnen und Soldaten aufbauenkann. Wir bilden dafür mobile Teams aus Ausbildern undBeratern. Sanität und Schutz, das ist ganz wichtig. DieseTeams werden acht bis zwölf Wochen in den verschiede-nen Garnisonsstädten und verschiedenen Regionen tätigsein, abhängig von der jeweiligen Sicherheitslage. Wirwerden im Süden anfangen. Es ist geplant, das in denNorden, bis zum nördlichen Nigerbogen, also auch in dieStädte Gao und Timbuktu, auszuweiten. Aber entschei-dend ist, dass die Sicherheitslage das zulässt.Ein Punkt ist mir besonders wichtig. Das allerbesteTraining nützt nichts, wenn die Ausrüstung nicht stimmt.Wir haben erlebt, dass malische Soldaten an Holzgeweh-ren ausgebildet werden. Wir dürfen nicht vergessen, dasses sich hier um eine europäische Trainingsmission han-delt. Der Rat der Staats- und Regierungschefs hat einensogenannten Ertüchtigungstitel auf den Weg gebracht,der genau dazu da ist, die Mittel für die benötigte Ausrüs-tung zur Verfügung zu stellen. Aber seit Monaten ist dieKommission nicht in der Lage, Vorschläge zu machen,aus denen hervorgeht, wie dieser Titel mit Geld unterlegtwird. Wenn die EU es mit der Ausbildung ernst meint,dann muss sie sich ernsthaft überlegen, wie sie die Auf-gabe, die malischen Streitkräfte auszurüsten, bewältigenwill.
Wie wir gesehen haben, hat die Ausbildung im Ver-gleich zu dem, was wir vor einem Jahr bzw. vor zweiJahren sahen, deutliche Fortschritte gemacht. Man merkt,dass die Module viel dynamischer geworden sind unddass nun die Erfahrungen aus den Gefechten im Nordenin die Ausbildung einfließen. Das Ganze stand im letztenJahr unter Führung eines deutschen Brigadegenerals. Wirwerden nun im Juli die Führung turnusgemäß an die Bel-gier übergeben. Das ist der Grund, warum wir die Ober-grenze von 350 auf 300 senken können. Wir brauchendas Führungselement nicht mehr. Aber der Kern, die200 Ausbilder, die dort im Augenblick tätig sind, und dieentsprechenden Strukturen bleiben unverändert.Unsere Soldatinnen und Soldaten sorgen bei der Aus-bildungsmission in Mali auch dafür, dass Mali als ein zen-trales Land in der Sahelregion stabil bleibt. Auch wenndie Fortschritte zäh sind, muss man sich immer wiedervor Augen halten, dass es einen Unterschied macht, obMali – das wäre durchaus denkbar gewesen – einem ähn-lichen Zerfallsprozess wie Libyen anheimgefallen wäreoder ob es gelingt, dieses Land langsam, aber sicher zustabilisieren.In diesem Sinne bitte ich um wohlwollende Beratun-gen.Vielen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Niema Movassat, Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum vier-ten Mal wollen Sie von der Bundesregierung sich vomBundestag ein Mandat für die deutsche Beteiligung aneiner europäischen Trainingsmission für das malischeMilitär erteilen lassen. Erst im Januar wurde das Bundes-wehrkontingent für den UN-Einsatz MINUSMA in Malimassiv aufgestockt. Nun geht es heute ausnahmsweisenicht um die Entsendung von mehr Soldaten. Aber mitdem neuen Mandat bekommt die Trainingsmission einenganz neuen Charakter; denn bisher agierten die Bundes-wehrausbilder im halbwegs friedlichen Süden Malis.Deshalb beschrieb die Bundesregierung den bisherigenEinsatz als sicher. Mit dem neuen Mandat aber wollenSie deutsche Soldaten auch in den gefährlichen NordenMalis schicken. Das ist eine massive Ausweitung desEinsatzgebietes. Das Ganze erinnert mich an eine Sala-mitaktik. Erst schickt man wenig Soldaten und diese inweitgehend sichere Gebiete, dann schickt man mehr Sol-daten und weitet das Einsatzgebiet auch auf gefährlichereRegionen aus.
So wollen Sie die deutsche Bevölkerung offenbarSchritt für Schritt daran gewöhnen, dass die Bundeswehrimmer mehr Teil des bewaffneten Konflikts in der Sa-helregion wird. Sie machen Deutschland mehr und mehrzur Konfliktpartei in der Region, und das lehnt die Linkestrikt ab.
Vor drei Jahren versprach uns die Bundesregierung,dass sich die Terrorgefahr in Mali und der Sahelregiondurch diese Militärmission und die Bundeswehrbeteili-gung beseitigen ließe. Das war der Kern der Begründung.Aber was damals für Afghanistan galt, gilt auch für denBundeswehreinsatz jetzt in Mali: Terror kann man nichtmit Krieg besiegen.Was Sie machen, ist blauäugig, und es ist brandgefähr-lich. Sie versuchen, Feuer mit Öl zu löschen. Die Fol-ge: Der Brand wird größer, der Terror nimmt zu. So gabes Anschläge gegen die Hauptquartiere von EUTM undMINUSMA in Malis Hauptstadt Bamako; zudem gab esin der Region drei fürchterliche Terrorangriffe auf Hotel-anlagen in Bamako, in Ouagadougou in Burkina Fasound bei Abidjan in der Elfenbeinküste.
Die Realität ist doch: Je mehr Soldaten ins Auslandentsendet werden, desto mehr verschlechtert sich die Si-cherheitslage in Afrika und hier in Europa.
Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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Deshalb wäre es richtig und wichtig, wenn Sie endlichanfangen würden, die sozialen Ursachen des Terrors zubekämpfen, statt ständig Soldaten in alle Welt zu schi-cken.Durch das neue Mandat wird sich übrigens auch derPersonenkreis der ausgebildeten Soldaten verändern.Künftig wollen Sie eben nicht nur das malische Militärausbilden, sondern auch Soldaten aus fünf anderen Län-dern der Sahelregion. Darunter werden auch Soldaten ausdem Tschad sein. Im Tschad herrscht eine Militärdiktatur.Sie wollen also eine Militärdiktatur dabei unterstützen,besser ausgebildete Soldaten zu haben. Das ist wirklichbeschämend.
Die große Frage bei solchen Einsätzen ist auch immer:Nutzen sie der Bevölkerung? Die Antwort ist hier: Nein;denn Malis größtes Problem ist die desaströse wirtschaft-liche Lage nach Jahrzehnten des Kaputtsparens unterneoliberalen Strukturanpassungsmaßnahmen. Die Armutim Land nimmt immer weiter zu. Zwei Drittel der Be-völkerung leben unterhalb der Armutsgrenze und das,obwohl es viele Rohstoffe gibt und das Land eigentlichdie Ressourcen hätte, allen Bürgern ein Leben in Würdezu ermöglichen.Aber die malischen Politiker und ihre europäischenPartner haben sich vor allem immer um ihre eigenenInteressen gekümmert und nicht um die Interessen derBevölkerung Malis. Auch die jetzige malische Regierungist nicht gewillt, dem Wunsch der Bevölkerung nach so-zialer Sicherheit und Frieden entgegenzukommen. Sorief ein Gewerkschaftsverband jetzt zum Streik auf, weildie Regierung sich absolut nicht kompromissbereit zeigt.Die Regierung verweigerte auch die Teilnahme an einemFriedensforum in Kidal.Die internationale Gemeinschaft versagt auch bei derLösung der Flüchtlingsfrage. Nach wie vor leben in denNachbarländern Malis 130 000 Flüchtlinge.
Das Welternährungsprogramm musste die Essensrati-onen aufgrund der geringen Zusagen der Geberländerkürzen. Während genug Geld dafür da ist, Soldaten nachMali zu schicken, gibt es nicht genug Geld, die Flüchtlin-ge vor dem Verhungern zu retten. Das ist eine Schande.
Frau von der Leyen, wie im Afghanistankrieg, ausdem die Bundesregierung wirklich nichts gelernt hat,verstricken Sie Deutschland nun auch hier Stück fürStück in einen undurchschaubaren Konflikt. Sie schaffenneue Fluchtgründe, statt sie zu beseitigen. Sie gefährdendie Sicherheit Deutschlands und seiner Bürger, statt siezu schützen. Sie geben Geld für das Militär aus, statt derBevölkerung und den Flüchtlingen vor Ort ausreichendzu helfen. Ihnen geht es um die Stärkung der globalenEinsatzfähigkeit der Bundeswehr. Dazu und zu diesemMandat wird die Linke Nein sagen.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort Staatsminis-
ter Michael Roth für die Bundesregierung.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Nach den Bemerkungen des AbgeordnetenMovassat ist es wichtig, noch einmal daran zu erinnern,wie sich die Ereignisse vor vier Jahren in Mali abspielten.Islamistische Gruppen aus dem Norden Malis waren aufdem Vormarsch nach Süden in Richtung der HauptstadtBamako. Die malische Armee konnte den Rebellen da-mals nicht viel entgegensetzen. Es ist nur dem entschlos-senen Eingreifen von Frankreich zu verdanken, dass dieTerroristen aufgehalten werden konnten. Niemand vonuns will sich ausmalen, was sonst passiert wäre.
Was mich an Ihren Bemerkungen am meisten stört, ist,dass Sie zu überhaupt keiner Differenzierung fähig undbereit sind.
Das Bild, das Sie zeichnen, ist nur schwarz und weiß. Ichkenne in der Bundesregierung, in der CDU/CSU-Frakti-on, in der SPD-Fraktion und auch in der Grünenfraktionniemanden, der sich nicht der Mühsal unterzieht, auchdie Grauschattierungen zu erwähnen, was zwingend ist,um ein verantwortbares Urteil zu fällen.Wir können heute sagen: Es hat sich vieles verbessert,auch wenn der Weg zu dauerhafter Stabilität immer nochsehr lang und beschwerlich ist. Vor allem die politischeEntwicklung der vergangenen Monate gibt durchaus An-lass zu vorsichtiger Zuversicht.Die malische Regierung und die separatistischen Re-bellen haben im Frühsommer 2015 ein Friedensabkom-men unterzeichnet. Der Waffenstillstand vom vergange-nen Herbst hält – immer noch –, und jetzt geht es darum,die Vereinbarungen des Friedensabkommens Schritt fürSchritt umzusetzen. Dabei sehen wir durchaus erste Fort-schritte, beispielsweise bei der Übertragung von Kompe-tenzen des Zentralstaats auf die Kommunen. Die Grün-dung von zwei neuen Regionen ist ein weiterer wichtigerSchritt, um die regionale Selbstverwaltung in Mali zustärken. Gleichwohl müssen wir feststellen, liebe Kol-leginnen und Kollegen: Die Umsetzung der politischenReformen verläuft deutlich schleppender als gewünschtund erwartet.Immer wieder wird der Versöhnungsprozess vonAnschlägen islamistischer Terrorgruppen überschattet.Dadurch kommt das Land einfach nicht zur Ruhe. Eswurde bereits erwähnt: Am 21. März wurde das Haupt-quartier der EU-Ausbildungsmission EUTM Mali in derHauptstadt Bamako selbst zum Ziel eines Anschlags. DerAnschlag konnte zwar erfolgreich abgewehrt werden –glücklicherweise kam dabei niemand von den europäi-Niema Movassat
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schen Soldatinnen und Soldaten zu Schaden –, aber derAnschlag zeigt gleichwohl, wie angespannt und wie ge-fährlich die Sicherheitslage in Mali immer noch ist. Erstgestern wurden drei französische Soldaten im Nordendes Landes bei der Detonation einer Mine getötet.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland enga-giert sich derzeit in drei internationalen Einsätzen in demwestafrikanischen Land: bei der UN-FriedensmissionMINUSMA, bei der zivilen GSVP-Mission EUCAP Sa-hel Mali und bei der Ausbildungsmission EUTM Mali.Unser militärisches Engagement ist selbstverständlichin einen umfassenden Gesamtansatz eingebettet. Dabeigeht es um politische, humanitäre und entwicklungspoli-tische Aktivitäten, die ineinandergreifen müssen.Mali, das ist ein Land, das für viele erst mit der Kri-se 2012/2013 auf die politische Bühne getreten zu seinscheint. Es ist heute ein ganz wichtiger Schwerpunktunseres sicherheits- und entwicklungspolitischen En-gagements. Warum ist das so? Die Frage wird uns immerwieder auch von kritischen Bürgerinnen und Bürgerngestellt. Die simple Antwort gibt uns ein Blick auf dieLandkarte: Seit dem faktischen Zusammenbruch Liby-ens trennt uns quasi nur noch eine Seegrenze von Mali.Schon heute ist Mali für viele Flüchtlinge Transitland aufihrem Weg nach Europa. Deutschland und die Europäi-sche Union haben daher ein erhebliches Interesse daran,die Bleibeperspektive vor Ort nachhaltig zu verbessern.Immer mehr Menschen aus der Sahelregion sucheneine bessere Zukunft in Europa. Das liegt vor allemauch daran, dass ihre Lebensträume, ihre Hoffnungenvon skrupellosen Terroristen gewaltsam zerstört werden.Terrorismus erstickt die Hoffnung, und der Terrorismusbremst die Entwicklung eines ganzen Landes. Durchden Zusammenbruch der staatlichen Ordnung in Libyenund in Mali ist ein politisches Vakuum entstanden, dasislamistische Terroristen für sich schamlos und brutalgenutzt haben. Mit Waffen aus libyschen Arsenalen ha-ben sie 2011 die malische Armee überrannt. Weit mehrals 100 000 Menschen wurden damals aus ihrer Heimatvertrieben. Und noch immer sind islamistische Grup-pen in weiten Gebieten Nordmalis aktiv. Auch das, HerrMovassat, leugnet doch niemand.Liebe Kolleginnen und Kollegen, in all unseren De-batten, gleich wann und wo wir sie führen, insbeson-dere über unser umfassendes politisches Engagementin Afrika, erlebe ich immer wieder die gleiche Gegen-überstellung: Soldaten oder Entwicklungshelfer. DieserGegensatz ist völlig falsch; denn Entwicklungshilfe istzwingend auf Sicherheit, Stabilität und eben auch gefes-tigte staatliche Strukturen angewiesen. Unser Interesseist es, dass die malischen Sicherheitskräfte die Terror-gruppen erfolgreich zurückdrängen und die Kontrolleüber das gesamte Staatsgebiet behaupten können. DasZiel der EU-Ausbildungsmission ist es, die malischenStreitkräfte durch Ausbildung und Beratung mittelfristigin die Lage zu versetzen, wieder selbst und eigenverant-wortlich für Stabilität und Sicherheit im Land zu sorgen.Es geht hier sozusagen um Hilfe zur Selbsthilfe. SeitAnfang 2013 wurden schon fast 8 000 Soldatinnen undSoldaten militärisch ausgebildet.Frau Bundesministerin von der Leyen hat eben ein-drücklich die fünf Punkte beschrieben, die wir im Man-dat entsprechend anpassen wollen. Einen kritischenPunkt, den sie hier vorgetragen hat, möchte ich in allerKürze noch einmal ausführen, damit hier kein Missver-ständnis entsteht. Ja, es ist richtig: Wir wollen das Ein-satzgebiet ausweiten. Künftig soll es bis zum Nigerbogenreichen, einschließlich der Städte Gao und Timbuktu;aber natürlich – das muss doch auch gesagt werden, HerrMovassat – geschieht dies immer unter der Maßgabe,dass die Sicherheitslage dies zulässt. Wir werden erstdann in den Norden gehen, wenn die Sicherheit gewähr-leistet ist. Das sind wir unseren Soldatinnen und Soldatenschuldig, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Insgesamt ist das natürlich auch Teamarbeit. 23 Mit-gliedstaaten der Europäischen Union beteiligen sich anEUTM Mali. Das ist also gelebte europäische Solidaritätunter denkbar schwierigen Bedingungen. Eines dürfenwir nicht vergessen: Wir leisten damit auch einen Bei-trag zur konkreten Unterstützung Frankreichs. Nach denfurchtbaren Terroranschlägen vom 13. November 2015hatte Frankreich konkrete Wünsche gegenüber der Eu-ropäischen Union und insbesondere auch Deutschlandformuliert. Es wurde um militärischen Beistand gebeten.Deshalb hat Deutschland als einer der größten Truppen-steller durch die Übernahme der Missionsführung vonEUTM Mali im vergangenen Jahr auch besondere Ver-antwortung übernommen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht doch nunwirklich nicht nur um Militär, nicht nur um Soldatinnenund Soldaten. Vielleicht stehen wir auch in der Pflicht,das den Bürgerinnen und Bürgern immer wieder undnoch besser zu erklären. Denn unser Ansatz ist dochein umfassender: Es geht um gesellschaftliche, es gehtum wirtschaftliche Stabilisierung der Sahelregion. Dazubrauchen wir das militärische Engagement. Aber wirbrauchen auch humanitäre, politische, entwicklungspo-litische Aktivitäten.Lassen Sie mich nur einige wenige Aspekte heraus-greifen, wo wir uns als Bundesregierung, als Bundes-republik Deutschland besonders engagieren: ZivileKrisenprävention, Konfliktnachsorge und Entwicklungs-zusammenarbeit stehen für uns im Vordergrund. Auchhier ist Deutschland im Rahmen der zivilen GSVP-Missi-on EUCAP Sahel Mali engagiert. Wir beraten, wir bildenaus, wir statten malische Polizeieinheiten aus, und wirsind eben auch bilateral engagiert. Wir unterstützen dasmalische Ministerium für Versöhnung in seiner zentralenRolle bei der Umsetzung des Friedensvertrages. Wir för-dern Trainingskurse für westafrikanische Polizeikräfteals Vorbereitung auf den Einsatz in Friedensmissionen.Wir unterstützen das Grenzmanagement der Afrikani-schen Union in Mali. Geplant ist noch mehr Engagementbei der Reform des Sicherheitssektors und der Förderungdes Rechtsstaats mit mehr als 2 Millionen Euro. Wir sta-bilisieren mit konkreten Maßnahmen den Norden Malis.Wir unterstützen humanitäre Hilfsprogramme.Deutschland hat bisher mehr als 5 Millionen Euro in-vestiert, damit Flüchtlinge im Norden des Landes in ihreStaatsminister Michael Roth
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Heimatstädte zurückkehren können. Daneben investiertDeutschland zwischen 2015 und 2017 mehr als 73 Milli-onen Euro für die Entwicklungszusammenarbeit in Mali.Projekte sollen im Rahmen der Dezentralisierung dielokalen Behörden stärken, im Bereich der Landwirtschaftdie Ernährungssicherheit stärken und die Versorgung mitTrinkwasser und mit Sanitäranlagen sicherstellen. Ichkann Ihnen versichern, liebe Kolleginnen und Kollegen,dass unabhängig von diesem Mandat Mali auch mittel-fristig weiter ein Schwerpunkt unseres Engagements aufdem afrikanischen Kontinent bleiben wird; denn wir ha-ben ein ganz erhebliches sicherheitspolitisches Interessedort. Terrorismus, organisierte Kriminalität und Men-schenschmuggel sind Geißeln, die Menschen in Flucht,Hoffnungslosigkeit und Tod treiben. Das dürfen wir nichtzulassen. Deshalb bitte ich Sie um Unterstützung für die-ses Mandat.Vielen herzlichen Dank.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-ordneten Agnieszka Brugger, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nie-mand macht sich Illusionen über die Sicherheitslage inMali. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen Ban Ki-moon stellt in seinem jüngsten Bericht an den Sicher-heitsrat fest, dass in Mali durch die Gewalt der Extremis-ten, Terroristen und Kriminellen die Gefahr für die Men-schen nach wie vor sehr hoch ist. Erst vorgestern Nachtwurden drei französische Soldaten der Friedensmissionder Vereinten Nationen auf grausame Weise durch einehinterhältig gelegte Landmine getötet. Diese Gräueltatmacht auch uns im Bundestag betroffen. Unser Beileidund Mitgefühl gelten ihren Familien und Freunden.Meine Damen und Herren, in den vergangenen Jah-ren haben wir Grüne trotz des gefährlichen Umfeldesdie EUTM, die europäische Ausbildungsmission für diemalischen Sicherheitskräfte, mit großer Mehrheit unter-stützt. Denn sie hat einen Beitrag dazu geleistet, dass diedemokratische Kontrolle über die Armee gestärkt wirdund dass diese in die Lage versetzt wird, in Zukunft dieeigene Bevölkerung besser zu schützen. Mittlerweilesind zwei Drittel der malischen Soldatinnen und Solda-ten ausgebildet worden. Ein solches Engagement brauchtaber auch langen Atem und viel Geduld.Mit den Änderungen im neuen Mandat soll diese Un-terstützung nun nicht mehr in den gesicherten Lagern derMission stattfinden, sondern es soll die Möglichkeit ge-schaffen werden, dass, abhängig von der Sicherheitslage,die Soldatinnen und Soldaten herausgehen, um bereitsausgebildete Verbände in Heimatkasernen zu betreuen.Diese Anpassung finde ich grundsätzlich nachvollzieh-bar, wenn es darum geht, die Nachhaltigkeit des Ausbil-dungserfolges sicherzustellen. Denn der Erwerb der mi-litärischen Grundfertigkeiten alleine macht noch keinenguten Soldaten, sondern dafür sind so wichtige Inhaltewie die Achtung der Menschenrechte, der Umgang mitden Gefangenen oder die Einhaltung des Völkerrechtesviel entscheidender.
Gleichzeitig ist auch klar, dass durch die Ausweitungdes Operationsgebiets bis nach Timbuktu und Gao dieeuropäische Ausbildungsmission riskanter wird. Wir Ab-geordnete werden vor diesem Hintergrund sehr genaudarauf achten, dass die Soldatinnen und Soldaten denbestmöglichen Schutz bekommen und, auch wenn sie dieLager verlassen, eine gesicherte Rettungskette vollum-fänglich gewährleistet ist. Wir Grüne werden bei denBeratungen diese und andere Veränderungen im Mandatkritisch und sorgfältig prüfen.Meine Damen und Herren, so schwierig und gefähr-lich die Lage in Mali ist, sie ist nicht nur düster. Damitmeine ich nicht nur, dass die Soldatinnen und Soldatenbei der Ausbildung der malischen Sicherheitskräfte vielgeleistet und viel erreicht haben. Vielmehr gibt es wei-tere Entwicklungen, die Anlass zu einer vorsichtigenHoffnung geben. Trotz aller Rückschläge und Schwie-rigkeiten konnte im letzten Jahr ein umfassendes, breitgetragenes Friedensabkommen geschlossen werden.Ohne die starke Rolle der Vereinten Nationen und ihrerFriedensmission wäre das kaum möglich gewesen. DieUmsetzung dieser Vereinbarung wird ganz entscheidenddafür sein, ob sich in Zukunft die Weichen in Mali fürmehr Stabilität, Sicherheit und Frieden stellen lassen.Ein großer Erfolg ist auch, trotz einiger Verzögerungen,dass eine Kommission für Abrüstung, Demobilisierungund Wiedereingliederung gegründet wurde und ehema-lige Rebellen wieder in die Gesellschaft und auch in dieSicherheitskräfte integriert werden sollen. Gleichzeitigmüssen aber natürlich auch die sozialen und wirtschaft-lichen Verteilungsfragen zwischen dem Norden und demSüden in einem gerechten Ausgleich geklärt werden.Die humanitäre Lage ist teilweise immer noch drama-tisch. 2,5 Millionen Menschen sind vom Hunger betrof-fen, und es gibt immer noch 90 000 Binnenvertriebene.Meine Damen und Herren, ich bin in den letzten Jah-ren häufiger nach Mali gereist. Besonders berührt undbewegt hat mich dabei die Selbstverständlichkeit, mit derdie Menschen im Süden – in einem der ärmsten Länderder Welt – die Flüchtlinge aus dem Norden aufgenom-men und unterstützt haben. Sie haben das Wenige, wassie hatten, mit ihnen großzügig geteilt. Trotz aller Armutgibt es eine starke, solidarische und friedfertige Zivil-gesellschaft. Darin liegt eine große, vielleicht sogar diegrößte Chance für die malische Zukunft.Mein Dank gilt allen Menschen, die sich in Uniformoder ohne trotz der Gefahren auch für Leib und Lebendafür einsetzen, dass der Großteil der Malierinnen undMalier auf diesem guten Weg unterstützt wird.Staatsminister Michael Roth
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Meine Damen und Herren, Ausbildung allein kann nureiner von vielen Bausteinen sein. Entscheidend ist abereine engagierte Bearbeitung der Konfliktursachen, einstimmiges Gesamtkonzept, das die Bereiche Sicherheit,Entwicklung und Staatsaufbau, aber vor allem auch denVersöhnungsprozess zusammenbringt. Hierfür kann undsollte auch die deutsche Bundesregierung mehr tun.Die Europäische Ausbildungsmission hat dazu bei-getragen, dass der Hoffnungsschimmer im Norden nichtnur von kurzer Dauer war. Die erfolgreiche Entwicklungin Mali selbst ist und bleibt aber kein Selbstläufer. Es gibtRisiken. Es gab Rückschläge, und es wird sie auch in Zu-kunft geben. Wir müssen auch deshalb die Mandate jedesMal aufs Neue sorgfältig und kritisch prüfen und beraten.Meine Damen und Herren, es ist klar: Es gibt nie eineErfolgsgarantie, und der Weg wird sicherlich schwierigsein. Es ist aber ebenso gewiss, dass die Wahrscheinlich-keit sehr hoch ist, dass ohne die internationale Unter-stützung die Menschen in Mali kaum auf Sicherheit undFrieden hoffen können.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Jürgen Hardt, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Andiesem fortgeschrittenen Punkt der Debatte möchte ichsagen, dass ich das Niveau hier insgesamt sehr gut finde.Ich halte es für gut, dass wir uns nicht in einer Schön-malerei der Situation ergehen, sondern uns dem Themadifferenziert widmen. Die beiden Reden der Regierungs-vertreter und auch die Rede von Frau Brugger waren vondiesem Charakter und Geist getragen. Von daher glaubeich, dass wir da auf einem guten Weg sind.Wenn ich sehe, was wir insgesamt in Mali machen –EUTM, also die Ausbildungsmission, ist nur ein Teil un-seres Gesamtauftritts; vor wenigen Wochen haben wir jaüber MINUSMA gesprochen –, so glaube ich schon, dassdiese Mission eine der herausforderndsten, anspruchs-vollsten und leider auch gefährlichsten ist, in die wirunsere Soldaten und Polizisten schicken. Die Situationin Mali ist aber politisch ein Stück weit stabilisiert. Dashat ganz wesentlich mit dem Engagement der Völkerge-meinschaft und auch der afrikanischen Partnerländer zutun.Natürlich stellt das, was wir an dschihadistischem Ter-rorismus oder an Terrorismus erleben, der nur seine eige-nen wirtschaftlichen Ziele verfolgt und möglicherweisedie Religion nur missbraucht, um Menschen dazu zubringen, sich ihm anzuschließen, eine wachsende Bedro-hung in der Region dar. Wenn Sie die Zahl der Anschlägebzw. Attentate im Jahr 2015 mit den Zahlen in den Jah-ren zuvor vergleichen, werden Sie leider sehen, dass eseinen Anstieg gab. Es ist auch so, dass es Anschläge bzw.Attentate im Süden – südlich der geografischen Tailledes Landes – gibt. Wir haben eigentlich immer gesagt,dass südlich von dieser Linie die Situation relativ sicherist und dass die Kämpfe nördlich davon stattfinden. Dastrifft leider so nicht mehr vollständig zu.Die Bundeswehr wird zukünftig stärker in der Flächeausbilden. Es wird nicht zu vermeiden sein, dass Bun-deswehrsoldaten mit ihren malischen Kameraden ausden Camps bzw. aus den befestigten, geschützten Com-pounds hinausfahren. Denn man wird Patrouille kaumauf dem Kasernenhof trainieren können. Man wird alsoauch Dinge tun müssen, bei denen man sich ganz konkreteiner gewissen Gefährdung aussetzt. Ich wünsche unse-ren Soldatinnen und Soldaten alles Soldatenglück, damitsie alle heil wieder nach Hause kommen.Dieses Risiko müssen wir ihnen zumuten. Wir müssendieses Risiko eingehen, weil Mali natürlich eine Schlüs-selfunktion in der Region innehat.Wenn man auf die Karte blickt, so kommt man zu demSchluss, dass das Bestreben der Terroristen, die aus demNorden Afrikas, aus dem Maghreb, herunterkommen, of-fensichtlich darin besteht, nicht nur Mali zu destabilisie-ren, sondern von Mali aus auf andere Staaten der Regionzu wirken, die in einer besseren Verfassung sind als Maliselbst, zum Beispiel Senegal, ein Land, das nicht nurein Hoffnungsschimmer, sondern ein leuchtender Hoff-nungspunkt in Afrika ist, und Burkina Faso, wo es einestarke, dynamische, positive Entwicklung gibt. Das sindLänder, die von Terror bedroht wären – teilweise auchschon von Terror bedroht sind –, wenn es uns nicht ge-länge, diese Terroristen in Afrika auf ihrem Weg in Rich-tung Süden und Südwesten zu stoppen. Da ist Mali, diemalischen Streitkräfte und die malische Regierung, mitder Unterstützung der Weltgemeinschaft in besondererWeise gefordert.Mit Blick auf die Ausbildungs- und Trainingsmissionsollten wir im Rahmen der Ausschussberatungen auchgenau schauen, wie wir da vielleicht noch nachsteu-ern und feinsteuern können. Wenn man mit Menschenspricht, die sie vor Ort durchführen, hört man, es gebeBeispiele dafür, dass die Polizei- und Militärkräfte vorOrt sehr wirksam agieren, aber leider auch Beispieledafür, dass es an der entsprechenden Führung von obenhapert. Wir sind bei der Ausbildung der Soldaten, diedie Sicherheit vor Ort gewährleisten, sehr gut. Wir soll-ten auch dafür sorgen, dass sie ordentlich geführt wer-den, dass sie schnell und effektiv zum Einsatz kommen.Es gibt Beispiele dafür, dass die malischen Kräfte nachterroristischen Anschlägen sehr schnell und umfassendreagiert haben und auch Geiseln befreien und die Terro-risten ausschalten konnten. Aber es gibt eben auch Bei-spiele dafür, dass über lange Zeit nichts geschehen ist,bis dann tatsächlich europäische Kräfte die Situation be-reinigt haben. Von daher sollten wir einen Blick auf dieFrage richten, ob wir perspektivisch auch dafür sorgenmüssen, dass die Ausbildungsmission, was die Führungder Streitkräfte vor Ort angeht, ein Stück weit intensiviertund verbessert wird.Ich wünsche allen Soldatinnen und Soldaten und auchallen Polizisten und zivilen Kräften, die in diesem Landtätig sind, alles erdenklich Gute. Ich glaube, dass wir inAgnieszka Brugger
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den Ausschussberatungen zu einem guten Ergebnis kom-men und dieses Mandat sinnvollerweise verlängern wer-den.Herzlichen Dank.
Als letztem Redner in dieser Aussprache erteile ich
dem Abgeordneten Florian Hahn, CDU/CSU-Fraktion,
das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich hatte letzte Woche die Gelegenheit, an der Rei-
se nach Mali mit Frau Bundesministerin von der Leyen
teilzunehmen. Die Reise war einmal mehr ein Beispiel
dafür, wie wichtig es ist, dass wir Abgeordnete an sol-
chen Reisen teilnehmen, um ein Stück weit ein besseres
Gefühl für bzw. eine bessere Sichtweise auf die Länder
zu bekommen, die im unmittelbaren Zusammenhang mit
Entscheidungen hier im Hohen Hause stehen.
Allein die Tatsache, dass wir für die Strecke vom
Eintreten in den malischen Luftraum im Norden, an der
Grenze zu Algerien, bis nach Bamako zwei Stunden
gebraucht haben, zeigt, wie riesig dieses Land ist, gibt
einem ein Gefühl für die Größe dieses Landes. Als wir
dann kurz vor der Landung aus dem Fenster des Flug-
zeugs auf die riesengroße Stadt Bamako mit 3 bis 4 Milli-
onen Menschen heruntergeschaut haben, haben wir gese-
hen, dass dort unglaublich viel passiert, dass unglaublich
viele Rohbaumaßnahmen angegangen werden, dass die
Menschen anfangen, Grundstücke einzuzäunen und ab-
zugrenzen und sich langfristig Wohnraum zu sichern.
Das Straßenbild in Bamako ist von unglaublich vie-
len Menschen, von extrem jungen Menschen geprägt,
vor allem von Männern. Das durchschnittliche Alter der
Malier ist 16 Jahre. Das Bevölkerungswachstum beträgt
3,6 Prozent pro Jahr. Wir haben jetzt etwa 16 Millionen
Malier, im Jahr 2050 – so ist die Prognose – werden es
über 60 Millionen sein. Es ist kaum vorstellbar, dass die-
ses Land selbst unter friedlichen oder wirtschaftlich po-
sitiven Entwicklungsbedingungen, gerade wenn wir den
Blick auf die sonstigen Rahmenbedingungen wie Klima
usw. richten, in der Lage sein wird, der Herausforderung
einer so großen Bevölkerung tatsächlich Herr zu werden.
Umso wichtiger ist es – das ist meine ganz persönliche
Erkenntnis auch aus dieser Reise –, dass wir diesem Land
helfen. Es liegt in unserem Interesse, die Lage in Mali
und in der Sahelregion insgesamt zu stabilisieren. Denn
Verfall von Autorität, von staatlicher Kontrolle bedeutet
eben Chaos, bedeutet, dass Kriminelle und Terroristen
diese Situation ausnutzen. Das hat vor allem dramatische
Folgen für die Zivilbevölkerung.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wer Flucht-
ursachen tatsächlich bekämpfen möchte, muss gerade
auch in Mali Engagement zeigen. Von zentraler Bedeu-
tung ist, dass wir die Sicherheitslage verbessern. Dafür
sind Fortschritte beim Friedens- und Versöhnungsprozess
notwendig, die Ertüchtigung der Armee und der Sicher-
heitskräfte Malis und übergangsweise die Gewährleis-
tung einer Basissicherheit auch im Norden beispielswei-
se durch MINUSMA.
Frieden und Stabilität sind wichtig, damit alle Bevöl-
kerungsgruppen an wirtschaftlicher, an sozialer Entwick-
lung und am politischen Prozess in Mali teilhaben kön-
nen. Deutschland tut hier insgesamt viel – wir haben es
schon gehört –: humanitäre Hilfe, Entwicklungszusam-
menarbeit, Ausbildung von Polizei, aber eben auch von
Sicherheitskräften, Ausbildung der Armee, beispielswei-
se durch die europäische Mission EUTM Mali.
Ausbildung und Beratung der malischen Streitkräfte
sind wichtig, damit Mali in Zukunft selbst in der Lage ist,
die Stabilität des Landes zu gewährleisten. Hier sind wir
bereits seit drei Jahren aktiv, und zwar sehr erfolgreich.
Wir sollten unser Engagement auf jeden Fall fortsetzen
und sogar verstärken.
Bei unserem Besuch in Gao, in Bamako, aber auch in
Koulikoro hatten wir mehrmals die Gelegenheit, ausführ-
lich mit unseren Soldatinnen und Soldaten zu sprechen.
Ich muss sagen: Ich war extrem beeindruckt, nicht nur,
mit welcher professionellen Einstellung die deutschen
Soldatinnen und Soldaten dort agieren, sondern auch
deswegen, weil man gesehen hat, dass sie von ihrem Auf-
trag wirklich überzeugt sind, dass sie positives Feedback
von den Maliern bekommen. Sie merken, dass das ein
wichtiger Einsatz ist, ein Einsatz, der auch etwas bringt.
Bemerkenswert ist auch die Zusammenarbeit mit den
internationalen Partnern. Wir haben es vorhin schon ge-
hört: 24 Partnernationen arbeiten zusammen und haben
500 Soldaten nach Koulikoro entsandt, die dort gemein-
sam Malier ausbilden.
Abschließend möchte auch ich betonen – da dürfen
wir uns nichts vormachen –: Die Einsätze und auch die-
ser Einsatz sind gefährlich für unsere Soldatinnen und
Soldaten. Es ist ein Risiko; das dürfen wir nicht unter
den Teppich kehren. Deswegen ist es nicht nur wichtig,
dass unsere Soldatinnen und Soldaten im Einsatz vor Ort
besonnen agieren, sondern auch, dass sie bestmöglich
ausgebildet und ausgerüstet sind. Dafür wollen wir wei-
terhin Sorge tragen.
Ich bin für eine Verlängerung des Mandates. Ich wün-
sche unseren Soldatinnen und Soldaten im Einsatz viel
Erfolg, vor allem Gesundheit und Gottes Segen.
Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/8090 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Jürgen Hardt
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Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten TomKoenigs, Kordula Schulz-Asche, Claudia Roth
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENZivilgesellschaftliches Engagement brauchtRaum – Anti-NGO-Gesetze stoppen, Men-schenrechtsverteidiger stärkenDrucksache 18/7908Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionInterfraktionell sind für die Aussprache 25 Minutenvorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist sobeschlossen.Als erster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeord-neten Kordula Schulz-Asche, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ban Ki-moon, der Generalsekretär der Vereinten Nationen, hat esaus meiner Sicht auf den Punkt gebracht. Er hat gesagt:Demokratie ist das Produkt einer aktiven und lautstarkenZivilgesellschaft. – Gerade als Mitglied des Unteraus-schusses „Bürgerschaftliches Engagement“ hier im Hau-se liegt mir sehr viel daran, in einem Land zu leben miteiner Zivilgesellschaft, die hilft und unterstützt, ja, dieaber auch hinterfragt, polarisiert, Missstände anprangertund Alternativen aufzeigt.
Deshalb stemmen wir uns auch gegen die weltweit zu-nehmende Behinderung der Zivilgesellschaft bei ihrerArbeit. Eingeschränkt wird der öffentliche Raum, dersogenannte Open Space, in dem zivilgesellschaftlicheOrganisationen arbeiten. Zu dieser Einschränkung gehörtdie Registrierung bis hin zur detaillierten Berichterstat-tung. Ihre Finanzierung durch ausländische Geldgeberwird beschränkt; das hat auch schon deutsche Stiftungengetroffen.Gesetze und Vorschriften werden oft unter Berufungauf öffentliche Sicherheit und Ordnung missbraucht, umdie Zivilgesellschaft an ihrer demokratischen Wächter-funktion zu hindern, zum Beispiel im Kampf gegen Kor-ruption. Anti-NGO-Gesetze werden derzeit weltweit inmehr als 60 Ländern erlassen. Dieses Thema darf nichtein Thema von Expertinnen und Experten sein, sondernes muss ein Thema für uns alle werden.
Wir wollen mit unserem Antrag darauf hinweisen:Es ist ein menschenrechtliches Problem, und es ist einProblem, das häufig erst sehr spät erkannt wird. Warum?Weil der Raum für die Zivilgesellschaft oft schleichendeingeschränkt wird, zumindest zu Beginn, weil es inner-halb eines Staates an verschiedenen Stellen auftaucht,beispielsweise in Parlamenten durch Anti-NGO-Gesetzeoder in Ämtern und Behörden durch die Änderung derVerwaltungspraxis, und weil es in ganz verschiedenenStaatsformen auftaucht, nicht nur in autokratischen Re-gimen, sondern auch in demokratischen, und das in allenRegionen der Welt, im Süden wie im Norden, in so un-terschiedlichen Ländern wie Ägypten, Bolivien, China,Israel, Indien und Russland.Auch bei uns, meine Damen und Herren, muss sichdie Zivilgesellschaft immer wieder neu behaupten. Sokämpft Attac derzeit vor Gericht gegen den Entzug desStatus der Gemeinnützigkeit wegen des Vorwurfs, manmische sich zu sehr in die Tagespolitik ein.Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Natürlich gibtes gerade aus menschenrechtlicher Sicht große Unter-schiede im Umgang mit Engagierten, aber wir sollten imInteresse der Menschenrechte und der Demokratisierungüberall genau hinsehen.
Es geht weltweit um die vielen kleinen, aber eben auchum die sehr großen und starken Versuche des Verkompli-zierens, Diffamierens, Behinderns und Kriminalisierensvon zivilgesellschaftlichem Engagement. Diese Prozessezu entlarven und sich zu solidarisieren, ist Aufgabe allerDemokraten weltweit, und das wollen wir mit unseremAntrag unterstützen.
CIVICUS, eine Organisation für Bürgerbeteiligungim globalen Maßstab, hat allein für das Jahr 2014 fast100 signifikante Einschränkungen der Zivilgesellschaftdokumentiert. In unserem Antrag „Zivilgesellschaftli-ches Engagement braucht Raum“, den wir hier vorgelegthaben, machen wir konkrete Vorschläge, wie diese Ein-schränkungen bekämpft werden können.Auch wenn ich weiß, dass es in dieser Wahlperiodemanchmal sehr schwer ist, fraktionsübergreifende Anträ-ge zustande zu bekommen, finde ich, dass dies ein Themaist, das dies wert ist, und ich würde mich freuen, wennSie unserem Antrag zustimmen.Danke schön.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Dr. Bernd Fabritius, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Mit dem Antrag, den wir heute debattieren,Vizepräsident Peter Hintze
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greifen die Grünen ein nicht ganz neues Thema auf. DieBeschränkung der Zivilgesellschaft in immer mehr Staa-ten fordert von der Weltgemeinschaft, von Europa undvon Deutschland engagierte Maßnahmen, um diesem be-dauerlichen Trend entgegenzuwirken, wo immer es geht.Die Bundesregierung berücksichtigt dies in ihrertäglichen Arbeit. Ich bin Ihnen, liebe Kolleginnen undKollegen von den Grünen, dennoch dankbar für die Ein-bringung des Antrags; denn es lohnt sich vielleicht, indiesem Hohen Haus erneut über solche Entwicklungenzu sprechen. Es lohnt sich ebenso, über Grenzen des ei-genen Handlungsspielraums nachzudenken, denen manbei diesem Thema bedauerlicherweise begegnet.Der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama rief1992 nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion unddes Kommunismus sein berühmt gewordenes „Ende derGeschichte“ aus, womit er die Hoffnung auf den welt-weiten Siegeszug der Demokratie weiter nährte. Nur24 Jahre danach müssen wir jedoch feststellen, dasseine „decade of decline“ hinter uns liegt, wie der jüngsteBericht von Freedom House die zurückliegenden Jahretreffend bezeichnet. Einfach ausgedrückt sind damit so-wohl der teilweise Rückzug der Demokratie als auch ihreabnehmende Qualität gemeint, die in einer ganzen Reihevon Ländern zu beobachten sind und die uns in den inter-nationalen Fachgremien tagaus, tagein beschäftigen. Wiralle kennen die prominenten Beispiele: Es sind die üb-lichen Verdächtigen. Der Antrag listet einige von ihnenauf. Sie, Frau Kollegin Schulz-Asche, haben zu Rechtweitere genannt.Die „decade of decline“ bzw. der „shrinking space“für zivilgesellschaftliches Handeln, um den Begriff desUN-Sonderberichterstatters Maina Kiai zu verwenden,hat vor vielen weiteren Ländern – unter ihnen durch-aus auch Demokratien – nicht Halt gemacht. Da wurdenWahlen manipuliert, Wähler eingeschüchtert, Mediendrangsaliert, die staatliche Propaganda ausgeweitet, Bür-gerrechte missachtet sowie NGOs stigmatisiert und mitspeziellen, darauf zugeschnittenen Gesetzen gebrand-markt. Machthaber versuchen, ihre Amtszeit auf teilsfragwürdige, teils eindeutig illegale Weise bis in dieEwigkeit zu verlängern. Menschenrechtsverteidiger wer-den inhaftiert oder verschwinden einfach spurlos.Solche Repressionen und Vorgehensweisen gab esleider schon immer. Was uns besonders besorgt, ist dieTatsache, dass sie nach einer Phase der relativen Demo-kratieausbreitung in den 90er-Jahren seit einiger Zeitwieder spürbar zunehmen. Sicher ist es kein Zufall, dassdieser Anstieg genau in dem Jahrzehnt stattfand, in demdas Internet der breiten Masse der Menschheit zugäng-lich wurde. Das Internet bot dieser eine ganz neue Formder Kommunikation und der Beteiligung sowie der In-formation. Die Menschen konnten plötzlich direkt undunmittelbar feststellen, welche Möglichkeiten es in an-deren Ländern gibt: Man kann seine Regierung friedlichabwählen, frei seine Meinung sagen, seine Religion aus-üben, man hat individuelle Rechte, auch gegenüber demeigenen Staat, und kann diese einklagen und vieles mehr.Dies führt zu einem neuen Selbstbewusstsein derMenschen. Sie fordern ihre Rechte ein und damit ihrealten Eliten heraus. Sie gehen auf die Straße und wol-len gehört werden. Bei den Machthabern führt dies zuden bereits genannten Gegenreaktionen. Rund um denGlobus sehen viele von ihnen ihre Macht und damit sichselbst in Gefahr. Sie können mit der informationellenFreiheit, die so viele aus ihrer Sicht unerwünschte Ge-danken und Ideen ins Land spülen, nicht umgehen. Siereagieren deshalb über, manchmal im Affekt, oft wohl-überlegt. Es geht ihnen schlicht und ergreifend um sichselbst, um eigene Interessen. Im Extremfall führt dieszu schweren Konflikten oder Kriegen mit vielen Toten,wie in der Ukraine oder beim sogenannten ArabischenFrühling, übrigens auch in Syrien. Auch wenn diese Fälleselbstverständlich unterschiedlich gelagert sind: Alle dreibegannen mit dem friedlichen Aufbegehren der Bürgerfür mehr Demokratie und Freiheit.Was aber bedeutet das für uns? Auch wenn wir zuRecht stolz darauf sein können, dass Deutschland imFreedom-House-Index einen der vordersten Plätze be-legt, kann und darf uns der Raumverlust für die Zivil-gesellschaft in vielen Teilen der restlichen Welt gewissnicht gleichgültig sein. Das gilt zuerst aus rein mensch-lichen, humanitären Gründen, aber auch aus ganz prak-tischen Erwägungen, wie wir angesichts der weltweitenFlüchtlingsströme erleben müssen: Neben Kriegen undArmut sind gerade staatliche Repressionen eine gewich-tige Fluchtursache.Was sollen und können wir also tun? Die Bundesre-gierung setzt sich in allen Foren und Gremien, deren Mit-glied sie ist, für Menschenrechte und deren Verteidigerein. Sie thematisiert die Einschränkung des zivilgesell-schaftlichen Raumes, wo immer es nötig ist. Selbstver-ständlich tritt die Bundesregierung nachdrücklich für dieUmsetzung der EU-Leitlinien für Menschenrechtsver-teidiger ein, wie auch für die entsprechenden Leitliniender OSZE. Darüber hinaus unterstützt sie die Arbeit desUN-Sonderberichterstatters für Menschenrechtsverteidi-ger. Der Schutz und die Unterstützung von Menschen-rechtsverteidigern sind ein Schwerpunkt der Projektför-derung von Auswärtigem Amt und BMZ. Mit regelmäßigveranstalteten Regionalkonferenzen für Menschenrechts-verteidiger fördern die deutschen Auslandsvertretungengezielt die internationale Vernetzung der Zivilgesell-schaft und den intergesellschaftlichen Dialog. Die Mög-lichkeiten zum Schutz von Menschenrechtsverteidigernsind also vielfältig. Die Bundesregierung nutzt diese allesehr engagiert und nachhaltig. Das heißt natürlich nicht,dass alles in bester Ordnung ist und wir uns gemütlichzurücklehnen können. Machthaber lassen sich immerneue Repressalien einfallen, mit denen unliebsame Ak-teure in ihrer Zivilgesellschaft drangsaliert werden. Demgilt es entgegenzuwirken.Eines ist Ihnen sicher aufgefallen: Alle Maßnahmen,die die Bundesregierung bereits ergreift und die ich in Er-innerung gerufen habe, stehen so oder so ähnlich erneutim heute vorliegenden Antrag der Grünen. Auch standvieles von dem, was die Grünen heute fordern, bereits ineinem Antrag, den der Bundestag mit Zustimmung derKoalitionsfraktionen im vergangenen Dezember verab-schiedet hat. Dem haben damals sogar die Grünen zuge-stimmt; bis heute haben sie dies vermutlich vergessen.Dr. Bernd Fabritius
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Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen,der die Grenzen eines solchen Antrages aufzeigt. Wennes um antidemokratische Tendenzen und die Einschrän-kung des zivilgesellschaftlichen Raums in anderen Län-dern geht, müssen wir realistischerweise einsehen, dassunser Einfluss an Grenzen stößt. Es handelt sich bei denbetroffenen Ländern immer noch um unabhängige sou-veräne Staaten. Ich habe in dieser Debatte bisweilen dasGefühl, dass der eine oder andere das im Eifer des Ge-fechts ein bisschen übersieht. Bereits der Titel des An-trages „Anti-NGO-Gesetze stoppen“ suggeriert nämlich,die Bundesregierung oder der Bundestag könne einfachso daherkommen und in die Gesetzgebung anderer Län-der eingreifen, diese steuern oder gar stoppen. Deshalbkann dieser Antrag maximal dafür herhalten, das Themanochmals als Debatte in den Bundestag einzubringen –das hat er erfüllt –, für viel mehr aber nicht.Der weltweite Einsatz sowohl der Bundesregierungals auch der anderen einschlägigen Gremien zeigt Erfol-ge. Lassen Sie mich daher zum Abschluss den Blick aufpositive Beispiele der letzten Zeit richten. In Myanmar,das jahrzehntelang zu den repressivsten Ländern über-haupt gehörte, konnte die oppositionelle NLD um AungSan Suu Kyi einen beeindruckenden Wahlsieg erreichen.Auch wenn aus menschenrechtlicher Sicht längst nichtalle Probleme gelöst sind – ich denke dabei vor allem andie Minderheitenpolitik –, ist ein friedlicher Wandel, derMut macht, dort in vollem Gange. Die Bürger des vonRepressionen und Misswirtschaft heimgesuchten Vene-zuela stimmten trotz Drohungen und Einschüchterungenfür die Opposition und verhalfen dieser zu einer Zweidrit-telmehrheit im Parlament, mit der sich Präsident Maduronun auseinandersetzen muss. In Nigeria ist es das ersteMal überhaupt gelungen, durch Wahlen einen friedlichenRegierungswechsel herbeizuführen. – Vielleicht könnenwir aus diesen Beispielen etwas lernen. Ich wünsche mir,dass es diesen und anderen Ländern gelingt, den positi-ven Trend zu verstetigen. Dabei sollten wir Hilfe leisten,soweit es in unserer Macht steht.Danke.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Annette Groth, Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zu-hörer auf der Tribüne! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir haben es schon gehört: In vielen, vielen Ländern,mindestens über 60, sind die Rechte von NGOs undMenschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechts-verteidigern – auch das steht in der Überschrift: Men-schenrechtsverteidiger stärken – massiv beschnitten. Dieüber missliebige NGOs verhängten Maßnahmen reichenvon einem Verbot dieser Organisationen über Gefängnis-strafen bis hin zum Entzug der Staatsangehörigkeit, zumBeispiel in Bahrain.Man muss aber auch sagen, dass insbesondere ausdem Westen finanzierte NGOs in einigen Ländern keinegute Rolle gespielt haben. Am 13. Dezember 2013 er-klärte die zuständige Abteilungsleiterin des US-Außen-ministeriums, Victoria Nuland, die US-Regierung habeseit 1991 rund 5 Milliarden Dollar für eine wohlhabendeund demokratische Ukraine investiert. Dies ist eines vonvielen Beispielen für den Missbrauch von sogenannterDemokratieförderung, die manchmal auch auf einen Re-gierungswechsel abzielt. Wir alle wissen, wie es heute inder Ukraine, im Irak oder in anderen Ländern aussieht.
– Das kommt noch; Russland kommt auch. – Es ist höchstbedauerlich, dass unter der Instrumentalisierung einigerNGOs für politische Zwecke viele Menschenrechtsver-teidiger und -verteidigerinnen leiden.
Ein Beispiel für die Verfolgung von NGOs ist Ägyp-ten. Dort werden seit vielen Jahren Aktivisten und Akti-vistinnen und NGOs, die sich für Menschenrechte ein-setzen, massiv bedroht und häufig gewaltsam an ihrerArbeit gehindert. Viele von Ihnen werden sich erinnern,dass 2013 43 Mitglieder ausländischer NGOs verurteiltwurden. Das El-Nadeem-Zentrum für die Rehabilitie-rung von Folteropfern, das ich 2012 selbst besucht habe,ist derzeit von Schließung bedroht. Die Mitarbeiter undMitarbeiterinnen dieser international hoch geschätzteneinzigen Anlaufstelle für Folteropfer leisten dort seit1993 eine hervorragende Arbeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie im Antrag derGrünen richtig erwähnt wird, wächst auch in Israel seitJahren der Druck auf die Friedensbewegung und aufNGOs, die gegen Menschenrechtsverletzungen kämp-fen. Die Organisation Breaking the Silence, selbst vonArmeeangehörigen gegründet, macht von Soldaten undSoldatinnen begangene Verbrechen bekannt. Diese inter-national hoch angesehene NGO wird jetzt von der isra-elischen Regierung als Verräter bezeichnet und ist vomVerbot bedroht. Es läuft zurzeit eine internationale Kam-pagne, um diese Menschen zu schützen.
Seit Monaten läuft eine von Justizministerin Shaked ini-tiierte Kampagne gegen ausländische NGOs. Das Kabi-nett hat im letzten Dezember ein Gesetz beschlossen, dasaus dem Ausland finanzierte NGOs verpflichtet, immerihre Geldgeber anzugeben. Mehrere israelische Mediensprachen damals von einem Gesetz à la Putin. Natürlichmüssen auch Russland und China kritisiert werden, weilauch dort der Umgang mit NGOs und Menschenrechts-verteidigerinnen und -verteidigern nicht doll ist.
Die Aussage des Antrags, dass die Behinderung undEinschränkung von NGOs keineswegs nur Praxis von au-toritären oder diktatorischen Regimes, sondern auch vonDr. Bernd Fabritius
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demokratischen Staaten ist, trifft zu. Anzumerken seienhier zum Beispiel die restriktiven Mediengesetze und diemassive Einschüchterung von NGOs in der Türkei, in Un-garn und Polen. Leider fehlt in dem Antrag eine Erwäh-nung des 2009 in Deutschland eingeführten § 51 Absatz 3Abgabenordnung, der dazu dient, missliebigen NGOs dieGemeinnützigkeit zu verweigern. Ein Beispiel hierfür istdie Vereinigung der Verfolgten des Nazire gimes, bei derzurzeit auch die Gefahr besteht, dass ihr die Gemeinnüt-zigkeit aberkannt wird. Das wäre schrecklich.
Frau Kollegin, es ist so, dass Ihre Redezeit weit über-
schritten ist.
Ich entschuldige mich.
Danke schön.
Als letztem Redner in der Aussprache erteile ich das
Wort dem Abgeordneten Frank Schwabe, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Es ist in der Tat das Verdienstder Grünen, dieses Thema erneut und so explizit auf dieTagesordnung gesetzt zu haben, wohl wissend, dass wiruns mit Grundfragen von Menschenrechtsverteidigernschon Ende des letzten Jahres beschäftigt haben und diesein Schwerpunktthema ist, auch im Ausschuss für Men-schenrechte und humanitäre Hilfe.Dass sich NGOs, also Nichtregierungsorganisationen,und die Zivilgesellschaft in einer Demokratie entfaltenkönnen, ist grundlegend für die Demokratie wie die Luftzum Atmen. Frau Kollegin Schulz-Asche hat CIVICUSschon zitiert und erwähnt, dass festgestellt wurde, dasses allein zwischen dem Sommer 2014 und dem Som-mer 2015 weltweit 96 Eingriffe in die Rechte solcherNichtregierungsorganisationen gegeben hat.Ich will kurz aus dem Antrag, der Ende letzten Jah-res verabschiedet worden ist – der Kollege Fabritius hatdas schon erwähnt –, zitieren, damit klar wird: Es ist einKonsens im Deutschen Bundestag, sich um solche Fra-gen zu kümmern, wie auch immer wir mit dem grünenAntrag umgehen. – Ich zitiere aus dem Antrag:In immer mehr Staaten werden zivilgesellschaft-liche Spielräume systematisch eingeschränkt unddamit auch die Handlungsmöglichkeiten von Men-schenrechtsverteidigern. Der Deutsche Bundestagsieht mit wachsender Sorge, dass sich diese Ent-wicklung in den vergangenen Jahren verstärkt hat.Das haben wir hier fraktionsübergreifend beschlossen.Deshalb ist es so wichtig, dass wir uns weltweit, abernatürlich auch im eigenen Land, jedem Versuch entge-genstellen, die Zivilgesellschaft zu drangsalieren undMenschenrechtsorganisationen, Journalisten und auchSatirikern über den Mund zu fahren und sie mundtot zumachen. Rede-, Presse- und Meinungsfreiheit sind dieSelbstversicherung für jede Demokratie.
Nach dem aktuellen Index von Freedom House – auchdas ist gerade schon erwähnt worden – ist es in den letz-ten zehn Jahren in sage und schreibe 105 Ländern, alsoder Mehrheit der Länder auf der Welt, zu Rückschrittenbei den bürgerlichen und politischen Rechten gekom-men. Nun kann sich hier in der Tat jeder seine Rosinenherauspicken. Ich versuche – vielleicht gelingt es mirnicht immer –, das nicht zu tun. Das kann man auchlassen; denn wenn man sich diese 105 Länder einmalanguckt, dann sieht man Länder mit Regierungen jederpolitischen Richtung. Manche Länder haben rechte Re-gierungen, andere linke. Egal welche religiöse Ausrich-tung in einem Land vorherrscht: In allen Teilen der Welthat es eine solche Gesetzgebung gegeben. Es tut mir ganzschrecklich leid, aber es ist nun einmal so: Als eine Artnegativer Vorreiter ist Russland anzusehen, das mit derKlassifizierung von NGOs als ausländische Agenten lei-der einen negativen Trend für andere Länder gesetzt hat.Ohne die einzelnen Länder miteinander vergleichen zuwollen, könnte man diese Liste lange fortsetzen.Behinderungen gibt es in ganz unterschiedlicher Aus-prägung: Es gibt schikanöse Finanzkontrollen – NGOswerden plötzlich daraufhin überprüft, ob sie ihre Finanz-geschäfte ordentlich abwickeln –, es gibt Einschüchte-rungen und Diffamierungen, und es gibt Überwachun-gen bis hin zu Kriminalisierungen, sodass Menschen amEnde im Gefängnis landen. Solche besonderen Gesetzegibt es zum Beispiel in China, in Indien, der größten De-mokratie der Welt, in Ägypten und in Ecuador. Vor kur-zem durfte eine Delegation des Deutschen Bundestagesabermals nicht in Ecuador einreisen, weil sie sich dortmit kritischen Aktivisten, unter anderem den Yasunidos,treffen wollte. Solche Gesetze gibt es aber auch in Israel,wo B’Tselem, Breaking the Silence und Al-Haq aktuellProbleme haben. In den palästinensischen Gebieten istes nicht besser – ganz im Gegenteil –, und leider kommtdas auch in Ländern der Europäischen Union vor. In Un-garn hat Ministerpräsident Orban von „gekauften politi-schen Aktivisten“ geredet, und im Jahr 2014 hat es dortbei 49 Nichtregierungsorganisationen Finanzprüfungengegeben.Was passiert hier eigentlich weltweit? Der KollegeFabritius hat ja auch die positiven Entwicklungen ge-nannt. In der Tat hat sich die Zahl der Demokratien seit1970 stark entwickelt. Man kann sagen, dass sie wie Pil-ze aus dem Boden geschossen sind. 1970 gab es 35 De-mokratien, heute sind es 110. Myanmar ist ein aktuelles,von Ihnen benanntes positives Beispiel.Es gibt eine spannende Studie des German Instituteof Global and Area Studies, GIGA, auf die, glaube ich,schon hingewiesen worden ist, in der analysiert wird, wasder Hintergrund dafür sein könnte, dass es in den letztenzehn Jahren in so vielen Ländern der Welt solche restrik-Annette Groth
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tiven Gesetzgebungen gegeben hat. Das hat wohl etwasmit der Angst vor Veränderungen zu tun, die es gegebenhat oder die es vielleicht geben könnte, zum Beispiel dieAngst vor einem Regimewechsel, nicht nur rund um denArabischen Frühling. Das hat auch mit einer gewandel-ten Protestkultur zu tun, die soziale Netzwerke nutzt, woviele Regierungen nicht wissen, wie sie damit umgehensollen. Es gibt eine Debatte über Terrorabwehr, in derenRahmen leider auch gestandene Demokratien problema-tische Gesetze auf den Weg gebracht haben. Aktuell gibtes populistische Abwehrreaktionen im Zusammenhangmit der Flüchtlingsdebatte, und – ich glaube, das gehörtauch dazu – wir haben eine wachsende soziale Spaltungin vielen Gesellschaften der Welt, die dazu führt, dassMenschen weniger an der gesellschaftlichen Entwick-lung teilhaben, wodurch der Raum für gesellschaftlichesEngagement geringer wird.Im Antrag der Grünen finden sich viele richtige undvernünftige Forderungen. Eine ganze Reihe der Forde-rungen – man könnte sie einzeln aufzählen – sind im letz-ten Jahr schon umgesetzt worden. Wenn man die Anträgeübereinanderlegen würde, würde man viele Gemeinsam-keiten finden.Zwei Dinge, die wir alle uns zu Herzen nehmen müs-sen, will ich noch ansprechen:Erstens. Es kann keinen Kontakt mit einem Land ge-ben, in dem es zu solchen Entwicklungen gekommen ist,ohne dass dies thematisiert wird. Wir werden die Gesetz-gebung dort nicht verändern können; aber wir könnenden Finger in die Wunde legen und die Dinge offen an-sprechen.Zweitens. Wir müssen uns noch mehr darüber im Kla-ren sein, dass wir bei allen Kooperationen, die wir ge-rade in der Entwicklungszusammenarbeit eingehen, denSchwerpunkt darauf legen müssen, die demokratischen,rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Werte in denMittelpunkt einer solchen Zusammenarbeit zu stellen.Ich glaube, da müssen wir uns immer wieder überprüfen.Ich habe noch 30 Sekunden für den ultimativen Wer-beblock. Ich kann es nur immer wieder sagen: Wir habenein tolles Programm. Dabei geht es nicht um die Gesetz-gebung gegenüber Nichtregierungsorganisationen, aberum den Schutz von Menschenrechtsverteidigern. Dashängt eng miteinander zusammen. Wir haben ein Pro-gramm, das weltweit Beachtung findet, allerdings nichtgenug bei allen Kolleginnen und Kollegen hier im Deut-schen Bundestag, nämlich das Programm „Parlamenta-rier schützen Parlamentarier“ oder auch: Parlamentarierschützen Menschenrechtsverteidiger. Ich habe nachgese-hen: Aktuell machen 50 Kolleginnen und Kollegen beidiesem Programm mit. Sie haben Patenschaften für Men-schen, die in vielen Ländern der Welt bedroht sind,übernommen. Ich will ausdrücklich dazu auffordern,mitzumachen. Angesichts der 630 Abgeordneten hier imDeutschen Bundestag ist da noch Spielraum.
Ich will ausdrücklich die loben, die das machen, und dieanderen bitten – ein paar sind ja auch unter uns –, sichdas zu Herzen zu nehmen. Guckt euch das an! Wenn je-mand keine Fantasie hat, wen man da aufnehmen könnte:Wir haben immer gute Ideen.Vielen Dank. Glück auf!
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/7908 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte an der durch die Europäi-
sche Union geführten Operation EU NAVFOR
Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor
der Küste Somalias auf Grundlage des See-
rechtsübereinkommens der Vereinten Natio-
nen von 1982 und der Resolutionen 1814
vom 15. Mai 2008 und weiterer Reso-
lutionen, zuletzt 2246 vom 10. Novem-
ber 2015 und nachfolgender Resolutionen des
Sicherheitsrates der VN in Verbindung mit
der Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP
des Rates der Europäischen Union vom
10. November 2008, dem Beschluss 2009/907/
GASP des Rates der EU vom 8. Dezember
2009 und weiterer Beschlüsse, zuletzt dem
Beschluss 2014/827/GASP vom 21. November
2014
Drucksache 18/8091
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die
Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär
Dr. Ralf Brauksiepe.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esgibt aus guten Gründen in unserem Land klare Regelun-gen für den Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte inFrank Schwabe
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anderen Ländern. Wir sind immer im Einsatz mit einerinternationalen Koalition und aufgrund von Beschlüssenunseres Parlaments. Gleichwohl bewahren uns solcheRegelungen nicht grundsätzlich vor Enttäuschungen.Aber wenn wir über die Fortsetzung der EU-geführtenOperation Atalanta am Horn von Afrika reden, wird mansagen können und auch sagen müssen: Dies ist wirklicheine Erfolgsgeschichte. Dies ist ein erfolgreicher Einsatz,liebe Kolleginnen und Kollegen.
Allein im Jahr 2010 wurden vor der Küste Somaliasnoch 367 Vorfälle von durchgeführten oder versuch-ten Überfällen gezählt. Seit dem Jahr 2012 hat es keineSchiffsentführung mehr geben. Auch die Zahl der ver-suchten Raubüberfälle auf Handelsschiffe – letztmaligvier im Jahr 2014 – ist auf null gesunken. Weniger alsnull geht nicht. Erfolgreicher als eine Reduzierung aufnull kann ein Mandat nicht sein, wie wir es hier erreichthaben, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Seit Beginn der Operation konnten insgesamt 478 Schif-fe des Welternährungsprogramms und 422 Schiffe derMission der Afrikanischen Union in Somalia, AMISOM,sicher ihren Bestimmungsort erreichen.Die Operation Atalanta ist zweifelsohne ein entschei-dender Faktor für die Eindämmung der Piraterie am Hornvon Afrika, wenn auch nicht der alleinige Grund für denErfolg. Auch Maßnahmen der zivilen Schifffahrt und dieKooperation aller Akteure haben dazu beigetragen. Aufder anderen Seite haben wir es in Somalia selbst wei-terhin mit fragilen staatlichen Strukturen zu tun. Einenachhaltige und umfassende militärische Stabilisierungdes Landes durch die Regierung und mit Hilfe internatio-naler Partner ist weiterhin eine zentrale Herausforderung.Weiterhin sind rund 20 Prozent der Gesamtbevölkerungin Somalia auf der Flucht.Der heute zu beratende Mandatsentwurf muss imKontext des deutschen und europäischen Gesamtengage-ments in Somalia gesehen werden. Die Ursachen der Pi-raterie liegen in erster Linie im weitreichenden Zerfallvon Staat und Gesellschaft in Somalia. Dieser ist vor al-len Dingen auf die Abwesenheit funktionierender Sicher-heitsstrukturen in weiten Teilen des Landes zurückzufüh-ren. Auf der anderen Seite dürfen die Erfolgszahlen derOperation Atalanta nicht darüber hinwegtäuschen, dassdie für die Piraterie verantwortlichen kriminellen Netz-werke an Land weiterhin intakt und in der Lage sind, dieSicherheit der Schifffahrtswege am Horn von Afrika zubedrohen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, niemand wird alsPirat geboren, niemand ist zur Piraterie veranlagt. WennMenschen zu solchen kriminellen Akten greifen, hat dasetwas mit den Schwierigkeiten im Land zu tun, mit demMangel an Perspektiven für legale Beschäftigung undfür legalen Wohlstandserwerb. Das ist und bleibt eineganz zentrale Herausforderung in dieser Region, insbe-sondere in Somalia. Deswegen kann aus unserer Sichtder Wiederaufbau des Landes nur durch den Einsatzverschiedener Instrumente der Außen-, Sicherheits- undEntwicklungspolitik gelingen. Dies ist ein bewährter An-satz der Bundesregierung. Das Auswärtige Amt und dasBundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeitund Entwicklung stehen gemeinsam mit dem Bundesmi-nisterium der Verteidigung für diesen Ansatz.Im sogenannten Strategischen Rahmen für das Hornvon Afrika der EU werden zahlreiche Aktivitäten zivilerund militärischer Art ganzheitlich erfasst. Hierzu zählenneben der Operation Atalanta auch die Mission EUCAPNESTOR und die europäische AusbildungsmissionEUTM Somalia.Wir stimmen mit Blick auf Atalanta mit unseren Part-nern in der EU in der Bewertung überein, dass die an-haltend niedrige Bedrohung durch die Piraterie einenEinstieg in den Ausstieg und eine schrittweise Reduzie-rung der eingesetzten Kräfte ermöglicht. Gleichzeitig istdie Operation fähig und muss fähig sein, bei einer sichverschlechternden Sicherheitslage auch schnell wiederaufzuwachsen.Vor dem Hintergrund der strategischen Überprüfung,aber auch im Hinblick auf das deutsche maritime En-gagement in anderen Missionen und Operationen solldeshalb die Beteiligung an der Operation Atalanta biszum 31. Mai 2017 mit einer reduzierten personellenObergrenze von 600 Soldatinnen und Soldaten fortge-setzt werden. Das bedeutet, dass wir zum dritten Malin Folge die Obergrenze des einzusetzenden Personalsabsenken. Das heißt, wir haben nicht nur Erfolge beider Bekämpfung der Piraterie erreicht, sondern reagie-ren auch darauf. Wir bleiben nicht starr hinsichtlich derObergrenze, sondern reduzieren auch, wo es militärischund politisch verantwortbar ist. Gleichwohl sind wir inder Lage, angemessen auf Lageveränderungen zu reagie-ren. Damit können wir der EU einen verlässlichen deut-schen Beitrag anzeigen.Das Mandat beinhaltet wie bisher im Kern die Schutz-leistungen für Schiffe im Auftrag der Mission AMISOMund des Welternährungsprogramms sowie die Überwa-chung der Seegebiete vor und an der Küste Somalias zurAbwehr und zur Abschreckung seeräuberischer Hand-lungen. Das Mandat sieht aber ausdrücklich auch dieUnterstützung für andere EU-Instrumente am Horn vonAfrika im Rahmen freier Kapazitäten vor. Damit kommtdie Einbindung der Operation Atalanta in den umfassen-den Ansatz der EU am Horn von Afrika zum Ausdruck.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die durch uns zumEinsatz gebrachten Fähigkeiten leisten einen wichtigenBeitrag für die Zukunft der Menschen in Somalia und zurStabilisierung des Landes. Wir sind diesen Weg in denletzten Jahren erfolgreich gegangen. Wir tun gut daran,auf Erfolge, die erzielt worden sind, mit der Reduzierungder Personalobergrenze zu reagieren. Wir tun aber auchgut daran, diesen erfolgreichen Weg fortzusetzen. Dashaben die Soldatinnen und Soldaten verdient. Deshalbbitte ich um die Unterstützung des Hauses.Herzlichen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
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Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten
Dr. Alexander Neu, Fraktion Die Linke, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Die EU-Militärmission Atalanta begann2008; sie läuft also nunmehr seit acht Jahren. Diese Mis-sion ist ein weiteres Beispiel für nicht enden wollendeMilitäroperationen. Ja, die Bundesregierung bemühtsich, eine Transitionsstrategie in der EU durchzubrin-gen, eine Exitperspektive für Atalanta aufzuzeigen. Dasläuft wahrscheinlich so wie in Afghanistan: Einstieg inden Ausstieg, dann doch kein Ausstieg. Dann wird dasPersonal wieder erhöht. – Ich würde sagen, dass sich hieralter Wein in neuen Schläuchen andeutet. Es gibt nur einneues Etikett für das Weiter-so.Jährlich hören wir dieselben Argumente für die Not-wendigkeit der Verlängerung der Operation Atalanta.Jährlich hören wir Hinweise auf die Wichtigkeit der deut-schen Beteiligung an Atalanta. Und jährlich zahlen wiralle, auch Sie auf der Besuchertribüne, 50 Millionen bis60 Millionen für Atalanta. Mit Erfolg? Vordergründig ja,
mittel- und langfristig nein. Ja, die Zahl der Piratenüber-fälle ist in den letzten Jahren auf null gesunken, und nein;denn wenn Atalanta heute beendet würde, würde die Pi-raterie morgen wieder losgehen, weil die wirklichen Ur-sachen, das soziale Elend, nicht bekämpft werden.
Warum wird das soziale Elend nicht bekämpft? Wa-rum geht man das nicht an? Warum baut man nichteinen ehrlichen Staat jenseits von Polizei und militäri-schen Maßnahmen auf? Warum findet keine ernsthafteökonomische Entwicklung Somalias jenseits neolibera-ler Konzepte statt? Warum läuft der New Deal Compactfür Somalia so schleppend? Warum gibt es nicht mehrEngagement Deutschlands und der EU jenseits des mi-litärischen Engagements? Aber wenn Sie schon der Auf-fassung sind, dass das Militär so wichtig ist, und fast aus-schließlich darauf gesetzt wird, warum bekämpfen Siedann nicht die illegalen Fischfangflotten im somalischenHoheitsgebiet? Warum lassen Sie diesen Flotten, die dasMeer dort leerfischen, freien Lauf?
Zur Klarstellung: Atalanta bekämpft Piraterie. Was istdie Ursache der Piraterie? Die Ursache ist, dass interna-tionale Fischfangflotten im somalischen Meer die Fisch-bestände leergefischt haben und somit die Fischer keineLebensgrundlage mehr haben. Die logische Konsequenzwäre, die Ursache, das heißt die illegale Fischerei dort,zu bekämpfen.
Aber Fehlanzeige. Atalanta bekämpft mitnichten die il-legale Fischerei, sondern nur die zu Piraten mutiertenFischer. Nicht die aktive Bekämpfung der illegalen Fi-scherei ist Bestandteil des Mandates und des Operations-plans, sondern nur das Sammeln und die Weitergabe vonDaten über Fischereiaktivitäten im Operationsgebiet. DieDaten werden an die EU-Kommission und an die Verein-ten Nationen weitergeleitet. Ich glaube, die internationa-len Fischfangflotten sind massiv beeindruckt von so vielGegengewalt. Wahnsinn!Aber warum ist der Unwille so groß, die illegale Fi-scherei im somalischen Meer zu stoppen? Drückt die EUetwa alle Augen zu, wenn es um die Profitmaximierungauch europäischer Fischfangflotten geht? Die Vermutungder Kumpanei liegt nahe. Ein Bericht der US-StiftungOne Earth Future von 2015 mit dem Titel „Somalia: Il-legale ausländische Fischerei bedroht die Bestände undkann Piraterie neu entfachen“ stellt fest – ich zitiere auseiner übersetzten Fassung –:Ausländische Fischereiboote verursachen einenFischbestandsabbau, Einkommensverlust für So-malis und Gewalt gegen die einheimischen Fischer.Dieses Risiko verursacht lokale Unterstützung füreine Rückkehr der Piraterie. Die Situation ist zudem, was es war, zurückgekehrt, mit einer großenAnzahl von ausländischen Schiffen, die in somali-schen Gewässern wieder raubfischen, und die Ge-fahr ist real, dass der Zyklus der Piraterie wiederauflebt.Sehr geehrte Damen und Herren, halten wir fest: Ers-tens kommt es wieder zu einer Zunahme der Raubfische-rei mit faktischer Duldung von Atalanta und somit derEuropäer. Zweitens steigt die Gefahr erneuter Piraterie,weil die Raubfischerei der Bevölkerung die Lebens-grundlage nimmt, und drittens führt das vermutlich zurFlucht derjenigen, die dort keine Lebensgrundlage mehrhaben, in die EU bzw. nach Deutschland.Fazit: Atalanta bekämpft bestenfalls die Symptomeder Piraterie, aber nicht die Ursachen. Sie ist schlimms-tenfalls eine Kumpanei mit den Raubfischern aus denEU-Staaten.Resultat: Nach acht Jahren EU-Mission gibt es keineVeränderung zum Besseren für die Menschen in Soma-lia. Nach acht Jahren deutscher Beteiligung sind rund500 Millionen Euro der Steuerzahler verschwendet wor-den, die sicherlich besser für den sozialen Wohnungsbauoder die Vermeidung von Altersarmut investiert wordenwären. Sie werden für eine Mission verschwendet, diekeinen Erfolg zeitigt.Das zeigt einmal mehr, warum militärische Maßnah-men – besonders in Somalia – kontraproduktiv sind. Siekönnen das erforderliche konkrete politische Handelnnicht ersetzen. Militäreinsätze werden auf diese Weise zueinem Selbstzweck degradiert.Danke.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2016 16189
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Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Josip Juratovic von der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen undHerren! Kaum ein Land steht aus der europäischen Per-spektive so sehr für das staatliche Scheitern wie Somalia.Seit 25 Jahren beherrschen Bürgerkrieg und Konfliktedas Land am Horn von Afrika. Seitdem gibt es keinefunktionierende Regierung mehr, die das Land kontrol-lieren könnte. Für die Menschen in Somalia fehlt es anlebensnotwendiger Infrastruktur. Kinder brauchen Schu-len. Es gibt nicht genug Krankenhäuser und zu wenigeStraßen. Doch der somalische Staat ist nach fast zwei-einhalb Jahrzehnten Bürgerkrieg kaum handlungsfähig.Vertreter der somalischen Verwaltung sagen offen, dasssie nicht in der Lage sind, flächendeckend Steuern zu er-heben, geschweige denn für Sicherheit zu sorgen.Entsprechend schlecht steht es auch um die soma-lische Politik. Das Mandat der aktuellen Regierungendet im August. Voraussichtlich wird auch die Nach-folgeregierung wiederholt eine international eingesetz-te Übergangsregierung sein. Echte freie Wahlen sindnicht in Sicht. Währenddessen regieren im somalischenAlltag Korruption und Kriminalität. Bei all dem ist dieSicherheitslage frappierend. Journalisten werden ver-folgt. Terror findet statt und findet nicht ausreichendGegenwehr. Die europäisch-amerikanisch finanziertenAMISOM-Truppen der Afrikanischen Union, die gegendie islamistische al-Schabab-Miliz kämpfen, werden vonder somalischen Bevölkerung eher als Besatzer wahrge-nommen. Gleichzeitig greift al-Schabab immer wiederAMISOM-Truppen an und verursacht hohe Verluste. DieFolge ist klar: Hundertausende fliehen.Zur ganzen Wahrheit gehört zum Glück aber auch einHoffnungsschimmer mit positiver Perspektive. Es war inSomalia früher noch schlimmer und geht nun langsamaufwärts. Immer mehr Somalier kehren zurück. Sie ver-suchen ihr Glück in funktionierenden Wirtschaftsberei-chen – sei es Telekommunikation oder Gastronomie –und bauen ihr Land wieder auf. Ich habe einen Artikelüber Ahmed Jama, einen dieser Rückkehrer, gelesen.Dieser Artikel macht Hoffnung:Es gibt wieder Straßenbeleuchtung, es gibt über-haupt Straßen, eine Müllabfuhr, Strom, Internet. Esgibt Geschäftsstraßen, Telekommunikationskon-zerne, eine Bank, und bald soll das erste Mal einsomalisches Fußballspiel live im Fernsehen gezeigtwerden.Auch die internationalen Akteure tragen dazu bei,dass es vorwärtsgeht. Die Internationale Organisationfür Migration finanziert und leitet das Aussteigerpro-gramm für al-Schabab-Mitglieder. Oft genug machenjunge Männer aus reiner wirtschaftlicher Verzweiflungbei Terroristen mit. Sie kann man wieder für den fried-lichen Weg gewinnen. Im nördlichen Teil Somalias, woal-Schabab nicht herrscht, ist die Situation besser als imSüden. Hier kann man sich recht sicher bewegen, und daskulturelle und soziale Leben entwickelt sich.Liebe Kolleginnen und Kollegen, zwar gibt esPflänzchen der Hoffnung, aber sie sind sehr zart undzerbrechlich. Deswegen ist es noch immer notwendig,im Zusammenhang mit Somalia über ausländische Un-terstützung – auch in Form militärischer Einsätze – zusprechen. Deutschland – gemeinsam mit der Europä-ischen Union – bemüht sich, im Rahmen der MissionEUTM Somalia das somalische Militär durch Trainingschlagkräftiger zu machen. Ebenso engagieren wir unsin der zivilen Mission EUCAP NESTOR beim Aufbauregionalen Wissens im Bereich der Sicherheit und desManagements der Küstenregion. Leider gibt es dabeiErnüchterung; denn der innere Zusammenhalt der natio-nalen Armee ist schwach, die Kooperation mit den Nach-barländern ebenso.Dennoch ist für mich klar: Deutschland – in Gestaltder Bundeswehr – soll sich am langen Weg der Ausbil-dung und des Aufbaus beteiligen. Ausbildungsmissionenfür Militär, Polizei und Behörden im Land sind wichtigeund notwendige Unterstützung für Somalia. Aber genau-so gilt: Solange Somalia nicht selbst für Sicherheit sor-gen kann, solange die Gefahr der Piraterie nicht vorüberist, darf die Bundeswehr zur Sicherheit der Seewege vorSomalias Küste beitragen. Im Rahmen der EU-MissionAtalanta schützen europäische Soldatinnen und Soldatendie Sicherheitsinteressen Somalias und die Sicherheitsin-teressen Europas.An dieser Stelle möchte ich allen ein Komplimentaussprechen, die auf hoher See gegen Piraterie vorge-hen. Seit 2015 gab es keine Piratenangriffe mehr. Füralle noch einmal zur Erinnerung: 2011 waren es noch237 Angriffe. Unser Dank gilt daher den Soldatinnen undSoldaten für ihren erfolgreichen Einsatz.
Gleichzeitig sende ich meine besten Wünsche für diekommende Mandatszeit an die Missionsleitung; dennseit März steht die Mission Atalanta unter deutscher Füh-rung.Wenn wir über Somalia reden, müssen wir voraus-schauend und umfassend denken und handeln. Es gehtgleichzeitig um langfristigen zivilen und militärischenAufbau und mittelfristig um die Herstellung und Wah-rung der Sicherheit. Ohne Sicherheit ist Aufbau nichtmöglich. Wir engagieren uns einerseits in der MissionEUTM Somalia und EUCAP NESTOR für den Aufbau,und solange es notwendig ist, engagieren wir uns in derMission Atalanta auch direkt für die Sicherheit. Ebenweil die Mission erfolgreich handelt, können wir die ma-ximale Truppenstärke für die nächsten zwölf Monate von990 auf 600 Personen reduzieren.Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Wohle derMenschen Somalias und im Sinne der Sicherheit der in-ternationalen Schifffahrt vor den Küsten Somalias werdeich der Verlängerung der Mission Atalanta zustimmen.Ich werbe dabei auch um Ihre Unterstützung.
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Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Doris Wagner, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Was hat unser Engagement am Horn vonAfrika eigentlich gebracht? Dieser Frage ist die EU inden letzten Monaten wirklich sehr intensiv nachgegan-gen. Man muss sagen, dass die Bilanz eher ernüchterndist. Erstens hat sie festgestellt: Die Piraterie vor der Küstevon Somalia ist eben noch nicht endgültig bezwungen.Zweitens sagt sie: Somalia braucht dringend viel mehrinternationale Unterstützung, um selbst für Sicherheit aufSee zu sorgen.Das ist doch ein wirklich klarer Auftrag, noch inten-siver hinzusehen und wirksamer zu helfen. Doch was tutdie Bundesregierung? Mit diesem Atalanta-Mandat sen-det sie ein Signal des Rückzugs. Die Obergrenze für daseingesetzte Personal wird um mehr als ein Drittel redu-ziert, und auf EU-Ebene hat sich die Bundesregierung er-folgreich dafür eingesetzt, die Mission in absehbarer Zeitganz zu beenden. Das politische Kalkül hinter diesemRückzug ist doch offensichtlich; denn was interessiertdie deutsche Öffentlichkeit schon das Horn von Afrika?
Viel beliebter macht sich die Bundesregierung natür-lich damit, wenn sie die deutsche Marine zur Flüchtlings-abwehr ins Mittelmeer schickt. Das mag innenpolitischtatsächlich Punkte bringen;
aber außenpolitisch werden Sie damit Ihrer internationa-len Verantwortung nicht gerecht.
Wir alle wissen: Atalanta bekämpft lediglich dieSymptome des Problems, die Ursachen der Piraterie be-kämpft sie nicht. Der somalische Staat steht nach wie vorauf wackligen Beinen. Staatliche Strukturen existierenoft nur auf dem Papier. Regierung, Verwaltung und Jus-tiz haben einen großen Mangel an Personal, an Geld undan technischer Ausstattung. Polizei und Armee sind im-mer noch nicht in der Lage, terroristische Anschläge odergewaltsame Konflikte zu verhindern. Fast 5 MillionenMenschen sind auf humanitäre Versorgung von außenangewiesen.Also: Es handelt sich um einen schwachen Rechts-staat, gepaart mit großer Armut und wirtschaftlicherPerspektivlosigkeit. Da braucht man wirklich keine Kris-tallkugel, um vorherzusagen, dass die Piraterie wiederauflebt, sobald das letzte EU-Marineschiff am Horizontverschwunden ist. Dafür haben wir dann die Soldatinnenund Soldaten der Bundeswehr jahrelang ans Horn vonAfrika geschickt? Meine Damen und Herren, eine sinn-volle Außen- und Sicherheitspolitik sieht in meinen Au-gen anders aus.
Bevor wir unsere Schiffe abziehen, müssen wir esdoch schaffen, in Somalia eine nachhaltige wirtschaftli-che Entwicklung in Gang zu bringen. Nur dann entziehenwir der Piraterie wirklich den Boden, nur dann gibt esauch eine stabile somalische Regierung. Den wichtigstenAnsatzpunkt für eine solche wirtschaftliche Entwicklungbietet doch das Meer. Deshalb müssen wir unser Engage-ment vor der Küste Somalias doch eher verstärken.Die Gelegenheit dazu bietet sich bereits seit vier Jah-ren mit der zivilen Mission EUCAP NESTOR. Die Auf-gabe von EUCAP NESTOR ist es, Somalia beim Auf-bau einer wirksamen Küstenwache zu unterstützen. Einefunktionierende Küstenwache ist für Somalia von enor-mer Bedeutung, um vor allem gegen illegale Fischereivorzugehen – da teile ich Ihre Problemeinschätzung –,denn drei Viertel aller Fische, die vor der somalischenKüste gefangen werden, landen in Netzen ausländischerFischer ohne Lizenz. Die Fischbestände vor der Küstesind durch Überfischung gefährdet. Das alles muss been-det werden, wenn Somalia eine wirtschaftliche Zukunfthaben soll.Somalia braucht also dringend eine wirksame Küs-tenwache. Doch leider konnte EUCAP NESTOR dabeibislang keine große Hilfe sein; denn die Mission leidetunter einem eklatanten Mangel an Personal und Materi-al, und daran trägt die Bundesregierung eine Mitschuld.Berlin hat in den vergangenen vier Jahren gerade einmalelf Fachleute in diese Mission entsandt. 137 Mitarbeite-rinnen und Mitarbeiter soll EUCAP NESTOR eigentlichumfassen, aber lediglich 56 waren Ende 2015 tatsächlichvor Ort. Die Finanzmittel für EUCAP NESTOR sind ge-rade auch mit Zustimmung der Bundesregierung um bei-nahe 30 Prozent zurückgefahren worden. Selbst für dieBoote, die die somalische Küstenwache wirklich drin-gend benötigen würde, gibt die Bundesregierung aktu-ell kein Geld – obwohl im Haushalt 100 Millionen Eurofür die Ertüchtigung von Partnerstaaten vorgesehen sind.Gestopft wurden die Löcher bisher oft durch die MissionAtalanta. Sie hat immer wieder Material und Übungs-möglichkeiten zur Verfügung gestellt. Aber selbst dieserNotnagel entfällt nun weitestgehend durch die Verkleine-rung von Atalanta.
Ich habe den Eindruck: Ihre Somalia-Politik bestehtvor allem aus unerfüllten Versprechen. Auch mit Blickauf die Ausbreitung des islamistischen Terrors im nörd-lichen Afrika ist das in meinen Augen ein Riesenfehler.Ein gescheiterter Staat wie Somalia lässt sich nicht inwenigen Jahren wiederaufbauen. Deshalb appelliere ichan die Bundesregierung: Lassen Sie Somalia bitte jetztnicht im Stich, und machen Sie endlich Ernst mit IhrerUnterstützung für die somalische Küstenwache!
Josip Juratovic
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Die Auslandseinsätze der Bundeswehr haben ihr Zielbislang zu oft nicht erreicht – weil wir zu wenig Geduldhatten und weil wir zu wenig in den zivilen Aufbau in-vestiert haben. Es ist an der Zeit, endlich etwas aus die-sen Fehlern zu lernen. Nur dann wird der Einsatz unsererSoldatinnen und Soldaten am Horn von Afrika zum Er-folg führen.Herzlichen Dank. – Das war eine Punktlandung.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Thorsten Frei, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Inder letzten Sitzungswoche haben wir die Mandatsverlän-gerung zu EUTM Somalia beschlossen, und wir habenauch in der Debatte umfangreich über die politischen unddie tatsächlichen Verhältnisse in Somalia und am Hornvon Afrika gesprochen. Ich glaube, die Quintessenz wareine ganz ähnliche wie auch in der heutigen Sitzung,nämlich dass die Bilanz auch nach Jahren internationa-len Engagements in Somalia durchaus durchwachsen ist.Al-Schabab ist immer noch stark. Natürlich führt die Per-spektivlosigkeit im Land auch dazu, dass Terror genährtwird und Wiederaufbau begrenzt wird.Aber es ist auch so: Wenn es das internationale En-gagement insbesondere der Afrikanischen Union in So-malia nicht gegeben hätte und nicht geben würde, dannwäre wahrscheinlich auch der Bürgerkrieg nicht beendet,würde der Wiederaufbau nicht beginnen und hätte Soma-lia keine Regierung.Ich glaube, vor diesem Hintergrund – darauf sind ei-nige Vorredner bereits eingegangen – darf man Atalantanicht isoliert betrachten, sondern man muss das in einengrößeren Zusammenhang rücken: gemeinsam mit derEU-Trainingsmission Somalia und auch mit EUCAPNESTOR, einer zivilen Mission. Alles miteinander istnotwendige Voraussetzung dafür, dass ein WiederaufbauSomalias gelingt.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, es ist so,dass die Verhältnisse in Somalia sehr schwierig sind.Aber das Ziel von Atalanta, nämlich Piraterie zu be-kämpfen und es zu ermöglichen, dass beispielsweisehumanitäre Hilfe nach Somalia kommt, dass die Schiffedes World Food Programme auch tatsächlich die KüstenSomalias erreichen, ist geschafft worden. Die Bilanz isteindeutig – Herr Staatssekretär, Sie haben es benannt –:In den Jahren 2009 bis 2011 gab es in jedem Jahr über150 Überfälle auf Schiffe und Geiselnahmen und seitMai 2012 keinen einzigen mehr.Aber es ist auch das richtig, Frau Wagner, was Sie ge-sagt haben: dass die kriminellen Strukturen an Land da-durch nicht beseitigt sind. Deswegen ist es zwar richtig,das Kräftedispositiv zu reduzieren; aber es ist auch rich-tig, nicht Knall auf Fall aus dieser Mission auszusteigen,weil dann das Problem, das wir bis 2012 gehabt haben,sofort wieder da wäre. Ich glaube, es ist der richtige Weg,den wir hier einschlagen.
Aber lassen Sie mich an dieser Stelle eines sagen: DasGanze ist Teil eines Maßnahmenbündels – das ist dasEntscheidende –, und es ist nicht der teuerste Teil diesesMaßnahmenbündels, sondern es sind umfangreiche zivi-le Maßnahmen, die wir ergreifen, beispielsweise wenn esdarum geht, mit Stabilisierungsmaßnahmen eine bundes-staatliche, eine föderale Ordnung in Somalia durchzuset-zen, wenn es darum geht, wirtschaftliche Betätigung zuermöglichen, wenn es darum geht, humanitäre Hilfe zuleisten und darüber hinaus eben auch langfristige struktu-relle Entwicklungszusammenarbeit voranzutreiben. Dasist genau das, was das Land braucht, nämlich wirtschaft-liche Perspektiven für die Menschen, die dort leben.Herr Neu, wenn Sie das vermeintliche Missverhält-nis von militärischen Einsätzen und humanitärer Hil-fe ansprechen, dann muss ich sagen: Ich glaube nicht,dass das zutreffend ist. Schauen Sie sich beispielsweisedas in Kenia liegende größte Flüchtlingslager der Welt,Dadaab, an, wo 350 000 Menschen, hauptsächlich So-malier, leben. Die Bundesregierung hat die bilateralenMittel dafür von 6 auf 11 Millionen Euro nahezu verdop-pelt. Die Mittel für das World Food Programme sind An-fang des Jahres deutlich aufgestockt worden, damit manverhindern kann, dass die Essensrationen um 30 Prozentgekürzt werden müssen, weil das Geld für das WorldFood Programme wieder gefehlt hat. Ich glaube, dasses grundsätzlich der richtige Ansatz ist, der dort verfolgtwird. Das ist eine humanitäre Verpflichtung, die wir ha-ben. Es ist aber letztlich auch ein Gebot der Vernunft,dass wir uns gemeinsam im europäischen Kontext hierengagieren.Als fünfter Redner ist es vielleicht möglich, den ei-nen oder anderen Exkurs zu wagen. Es ist, glaube ich,ganz entscheidend, dass wir alle Maßnahmen darauf aus-richten, Somalia zu stabilisieren, das Land in eine guteOrdnung zu bringen, wirtschaftliche Perspektiven zueröffnen, damit die Menschen vor Ort eine Chance ha-ben, damit internationaler Terrorismus bekämpft und ihmder Nährboden entzogen werden kann, aber auch, damitFluchtursachen unmittelbar vor Ort bekämpft werdenkönnen. In diesem Zusammenhang warne ich davor, denBlick derzeit nur auf den Nahen und Mittleren Osten unddie dortigen Kriegs- und Bürgerkriegsgebiete zu richten.Wenn man sich nur drei Zahlen vergegenwärtigt, erkenntman, dass Afrika für uns eine sehr viel größere Heraus-forderung sein wird: Eine afrikanische Frau bekommtim Durchschnitt sieben Kinder, im Jahr 2035 werden inAfrika mehr junge Menschen in den Arbeitsmarkt drän-gen als in der gesamten restlichen Welt, und im Jahr 2050wird sich die Bevölkerung in Afrika auf etwa 2,5 Milli-Doris Wagner
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arden Menschen mehr als verdoppelt haben. Das sind dieHerausforderungen, denen wir uns gegenübersehen.Schon heute ist der afrikanische Kontinent nicht in derLage, die Menschen zu ernähren, geschweige denn, ih-nen echte Perspektiven zu bieten. Deshalb geht es darum,mehr dafür zu tun, die Grundlagen für eine gute staatlicheOrdnung, für ein Mindestmaß an Achtung der Menschen-rechte, der Rechtsstaatlichkeit zu setzen. Ich glaube, derentscheidende Pfad ist, vor allen Dingen auf diejenigenzu setzen, die vor Ort sind, auf die Afrikanische Union.Deshalb müssen wir den Prozess zwischen Europäischerund Afrikanischer Union wie beim letzten Gipfel in Mal-ta fortsetzen. Deshalb müssen wir dafür sorgen und einenBeitrag leisten, dass es ein nachhaltiges, ein inklusivesWachstum gibt, so wie in der Zukunftsstrategie Agenda2063 der Afrikanischen Union dargelegt. Da werden wirSchritt für Schritt vorwärtskommen müssen. Nur so wer-den die Probleme letztlich auch an der Wurzel gepacktund bewältigt werden können. Ein Bestandteil davon istauch Atalanta.Deshalb werbe ich dafür, dass wir in den Ausschuss-beratungen die notwendigen Voraussetzungen dafürschaffen, in der nächsten Sitzungswoche dieses Mandatzu verlängern.Herzlichen Dank.
Das Präsidium ist nicht eingeschritten, weil wir dach-
ten, der Redner kommt zum Schluss. Das machte er mit
jedem Satz, aber es ging immer weiter. Aber gut. Ich bitte
die anderen Redner, sich etwas zurückzuhalten. – Dirk
Vöpel von der SPD-Fraktion ist der nächste Redner.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! In Zeiten wie diesen sollten wir jede Gelegen-heit nutzen, um auch wieder einmal über europäischeErfolgsgeschichten zu reden. Der aktuelle Tagesord-nungspunkt kommt da wie gerufen; denn die multinatio-nale Marineoperation der Europäischen Union am Hornvon Afrika ist genau das: eine Erfolgsgeschichte undein, wenn nicht das Vorzeigeprojekt der GemeinsamenSicherheits- und Verteidigungspolitik. Es ist erst weni-ge Jahre her, dass rund um die Küste des bürgerkriegs-geschundenen Somalias, an einer der Hauptschlagaderndes Welthandels, das historisch längst überwunden ge-glaubte Piratenunwesen wieder mit aller Macht auf-flammte. Dachte man bei dem Wort „Piraten“ bis dahindoch eher unwillkürlich an Johnny Depp, an inszenierteHollywood-Karibik, so änderte sich das an der OstküsteAfrikas ab 2005 schnell und drastisch.Schon der flüchtige Blick auf eine Karte, in der alleregistrierten Angriffe somalischer Piraten zwischen 2005und 2010 nach Ort und Zeit erfasst sind, macht klar: Wasals küstennahes Phänomen mit Schwerpunkt im Golfvon Aden begann, entwickelte sich rasant zu einer Be-drohung des gesamten Schiffsverkehrs in weiten Teilendes Indischen Ozeans. Von Jahr zu Jahr wagten sich diePiraten weiter aufs offene Meer hinaus. Heute, knappfünf Jahre später, stellt sich die Situation völlig andersdar. Und das ist zu einem großen Teil auch Verdienst derOperation Atalanta, der historisch ersten europäischenMarinemission.Meine Vorredner und Herr Staatssekretär Brauksiepehaben bereits auf die Entwicklung der Zahlen hingewie-sen. Ich erspare Ihnen und mir die Wiederholung.Mit der Sicherung der Seewege von und nach Somaliaschafft die Operation Atalanta somit überhaupt erst eineder zentralen Voraussetzungen für den Einsatz der nach-haltigeren Instrumente des umfassenden Ansatzes derEU zur Stabilisierung der politischen, wirtschaftlichenund sozialen Verhältnisse in Somalia.Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit der erstmaligenMandatierung der Operation im Dezember 2008 hat dieDeutsche Marine regelmäßig beträchtliche Kräfte undFähigkeiten für diese europäische Seemission abgestellt.Mit dem Eintreffen der Fregatte „Bayern“ im Operati-onsgebiet Ende März hat Deutschland jetzt zum drittenMal das Kommando der Task Force übernommen. In denkommenden Monaten wird Flottillenadmiral Jan Kaackvon seinem Flaggschiff „Bayern“ aus den europäischenEinsatzverband führen. Herr Admiral Kaack, Ihnen, Ih-rem Stab und allen Angehörigen der Mission wünscheich ein gutes Gelingen.
Kehren Sie beizeiten alle wohlbehalten nach Wilhelms-haven zurück!Liebe Kolleginnen und Kollegen, Atalanta hat wesent-lich dazu beigetragen, die Piraterie in den Gewässern amHorn von Afrika einzudämmen und zurückzudrängen.Die Symptome können auf See nicht bekämpft werden,die tieferen Ursachen lassen sich nur an Land beseitigen.Das erfordert mehr Ressourcen, aber es benötigt auchmehr Zeit. Diese Zeit verschafft uns auch die OperationAtalanta.Admiral Kaack hat in einem Interview anlässlich derKommandoübernahme ein, wie ich finde, sehr treffendesund anschauliches Lagebild formuliert, das ich zum Ab-schluss gern zitieren möchte. Er sagte:Was die Piraterie in diesem Seegebiet angeht, ver-gleiche ich unseren Auftrag gern mit einem Druck-verband, den man bei einer stark blutenden Wundeanlegt. Übt man genug Druck aus, stoppt die Blu-tung, lockert man zu früh, geht es wieder los.Dem, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist aus meinerSicht nichts hinzuzufügen.Vielen Dank.
Thorsten Frei
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Als letztem Redner der Aussprache erteile ich das
Wort dem Abgeordneten Dr. Reinhard Brandl, CDU/
CSU-Fraktion.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich,
dass ich heute zu dem Einsatz Atalanta sprechen darf.
Ich darf meine kurzfristig erkrankte Kollegin Julia
Obermeier vertreten, der ich von dieser Stelle gute Bes-
serung wünschen möchte.
Ich freue mich deswegen, weil ich mich noch gut an
die Zeit vor fünf Jahren erinnern kann, als wir im Ver-
teidigungsausschuss fast wöchentlich Berichte von ent-
führten Handelsschiffen, von entführten Schiffen des
Welternährungsprogramms bekamen, teilweise mit
schauerlichen Darstellungen, mit welcher Brutalität die
Piraten gegen die Besatzung vorgegangen sind. Horrende
Lösegeldzahlungen sind damals geflossen. In Deutsch-
land ist vor allem der Fall der „Hansa Stavanger“ aus
dem Jahr 2009 bekannt. 24 Seeleute befanden sich vier
Monate lang in Geiselhaft. Es wurden 2,5 Millionen Euro
Lösegeld gezahlt.
Das ist jetzt vorbei. Seit 2012 ist kein Schiff mehr er-
folgreich entführt worden. Seit 2014 hat es keinen Pira-
tenangriff mehr gegeben. Dass das so ist, dass der Golf
von Aden heute nicht mehr zu den gefährlichsten Gewäs-
sern der Welt gehört, ist ein Verdienst der EU-Mission
Atalanta.
Meine Damen und Herren, ich habe nicht gedacht,
dass ich dem Kollegen Neu von den Linken auch ein-
mal zustimmen würde. In einem Punkt aber hat er Recht.
Wenn Atalanta heute gestoppt würde, dann wäre die Pi-
raterie sofort wieder am Laufen. Deswegen ist es wich-
tig und richtig, dass die Erfolgsgeschichte von Atalanta
fortgesetzt wird.
Atalanta bringt Sicherheit in den Golf von Aden, sichert
Schiffe des Welternährungsprogramms und sichert Han-
delsschiffe. Etwa 20 000 Handelsschiffe durchqueren je-
des Jahr dieses Seegebiet.
Unsere deutschen Soldatinnen und Soldaten werden
bei diesem Einsatz gebraucht. Gestatten Sie mir – ich bin
Mitglied im Freundeskreis der Fregatte „Bayern“; dieses
Schiff hat im Moment die Führungsrolle inne –, dass ich
den Soldatinnen und Soldaten auf der Fregatte von dieser
Stelle aus einen herzlichen Dank und Anerkennung für
die Erfüllung eines anstrengenden und anspruchsvollen
Auftrags dort unten sende.
Es sind aber nicht nur die Soldaten auf der Fregatte
„Bayern“, die im Moment gefordert sind. Wir erleben
momentan, dass die Marine an allen Ecken und Enden
gefordert ist. Ich habe gerade einmal nachgezählt: Allein
in den letzten elf Monaten sind drei neue Aufgaben für
die Marine hinzugekommen. Dabei handelt es sich zum
einen um EUNAVFOR MED, zum anderen um den mari-
timen Anteil bei der Anti-IS-Mission. Drittens geht es um
den NATO-Einsatz in der Ägäis.
Deswegen ist es nicht nur militärisch richtig, sondern
schafft auch Entlastung für die Marine, wenn wir im
Rahmen der Befassung mit diesem Thema heute und in
den kommenden Wochen die Mandatsobergrenze für die
EU-Mission Atalanta weiter reduzieren können. Aber wir
können den Einsatz nicht ganz einstellen. Deutschland
hat auf EU-Ebene jetzt zwar angeregt, eine Strategie zu
erarbeiten, wie Atalanta beendet werden kann, im Mo-
ment aber müssen wir sagen, dass wir noch auf diesen
Einsatz angewiesen sind.
Der Einsatz ist – das behauptet auch niemand – auch
keine Lösung für das Problem in Somalia. Somalia
braucht einen vernetzten Ansatz. Auf der einen Seite
muss es in diesem Land stabile rechtsstaatliche Struk-
turen und funktionierende Sicherheitskräfte sowohl auf
See als auch auf dem Land geben. Wir unterstützen So-
malia auf diesem Weg durch die Mission EUTM Soma-
lia. EUCAP NESTOR ist ja von den Kollegen schon an-
gesprochen worden.
Auf der anderen Seite brauchen die Menschen in So-
malia humanitäre Hilfe, denn vielfach treibt sie die Armut
in die Kriminalität. Deswegen unterstützt Deutschland
Somalia jährlich mit 95 Millionen Euro Entwicklungs-
hilfe. Wir wollen diesen Anteil in Zukunft weiter stei-
gern. Damit dieses Geld aber wirkt, braucht es ein siche-
res Umfeld, in dem es auch investiert bzw. ausgegeben
werden kann. Da schließt sich der Kreis. Deswegen ist
es wichtig, dass die EU-Mission Atalanta noch weiter
fortgeführt wird. Sie ist nicht die Lösung, aber sie ist ein
Stabilitätsfaktor in einem unruhigen Gebiet wie Somalia.
Deshalb, meine Damen und Herren, werden meine
Fraktion und ich diesem Einsatz zustimmen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/8091 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten HalinaWawzyniak, Frank Tempel, Ulla Jelpke, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKENetzneutralität im Rahmen der Vorgaben derEU-Verordnung gesetzlich absichernDrucksache 18/6876Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss Digitale Agenda
Innenausschuss
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Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungAusschuss für Kultur und Medien Federführung strittigNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre hierzukeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat dieAbgeordnete Halina Wawzyniak, Fraktion Die Linke,das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
legen! Es steht nicht gut um die Netzneutralität in Eu-
ropa – dies ist die weit verbreitete Meinung, nachdem
im Oktober letzten Jahres das Europäische Parlament
den Kompromiss zur Telekommunikationsbinnenmarkt-
verordnung billigte. Sie erlaubt Telekommunikationsun-
ternehmen, bestimmte Angebote vom Prinzip der Netz-
neutralität auszunehmen und sie als priorisierte Dienste
auf Überholspuren auszulagern. Die Verordnung enthält
neben Unbestimmtheiten und Auslassungen allerdings
auch Bestimmungen, die ein solches Szenario, nämlich
das eines Zweiklasseninternets, ausschließen könnten.
Dementsprechend beginnt jetzt der Kampf um die Deu-
tungshoheit hinsichtlich der Verordnung.
Einen regelrechten Salto mit halber Schraube legte
die Telekom kürzlich hin, die ihre Spotify-Flatrate mit
Verweis auf die Netzneutralität einschränkte. Damit Sie
mich jetzt richtig verstehen: Das heißt nicht, dass die Te-
lekom dieses Zero-Rating-Angebot plötzlich abschafft.
Nein, die Kunden dürfen weiter dafür bezahlen, dass die
Nutzung des Musikstreamingdienstes nicht auf das Da-
tenvolumen angerechnet wird. Sollte das Datenvolumen
aber trotzdem wegen anderer Nutzungen aufgebraucht
sein, wird nun auch die Spotify-Nutzung gedrosselt. Die
Telekom schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe: Sie kann
noch mehr Geld von ihren Kunden kassieren, weil sie
noch mehr Datenvolumen brauchen, und sie kann gleich-
zeitig bei ihren Kunden Stimmung gegen die Netzneutra-
lität machen. Ich für meinen Teil kann da nur sagen, dass
mir bei dieser einseitigen Auslegung der Netzneutralität
die Spucke wegbleibt.
Wir müssen also dringend über die Umsetzung der
EU-Verordnung reden, damit solche einseitigen Ausle-
gungen nicht mehr stattfinden können. Die Linke hat jetzt
einen Vorschlag vorgelegt, wie man trotz der EU-Verord-
nung ein Zweiklasseninternet verhindern kann. Bisher ist
geplant, dass die Bundesnetzagentur gemeinsam mit den
anderen Regulierungsbehörden Richtlinien zur Umset-
zung der Verordnung aufstellt. Das reicht uns nicht aus.
Die Einhaltung der Netzneutralität ist die wesentliche
Grundlage des Internets,
und die Festigung dieser Grundlage kann nicht ausgela-
gert werden. Das muss der Gesetzgeber selbst machen.
Dies entspricht aus unserer Sicht der sogenannten We-
sentlichkeitstheorie, nach der der Gesetzgeber die we-
sentlichen Sachen selbst regeln soll.
Wir wollen, dass zweiseitige Märkte und Zero-Ra-
ting-Angebote untersagt werden. Zweiseitige Märkte
bedeuten, dass Zugangsanbieter wie zum Beispiel die
Telekom nicht nur Geld für den Internetanschluss neh-
men, sondern auch zusätzlich Geld für die Nutzung: Wer
schneller durchgeleitet werden will, muss mehr zahlen.
Dabei handelt es sich um eine Priorisierung, die nur auf
kommerziellen Erwägungen beruht. Das ist ausschließ-
lich eine Einnahmequelle für die Internetanbieter. Ver-
kehrsmanagement aus kommerziellen Gründen ist nun
aber nach Artikel 3 Absatz 3 der Verordnung nicht er-
laubt.
Gleiches gilt für Zero-Rating-Angebote wie die schon
erwähnte Spotify-Flatrate. Auch sie beruht auf einem
kommerziellen Verkehrsmanagement, und auch das wäre
nach der EU-Verordnung nicht erlaubt. Wenn wir also
die EU-Verordnung entsprechend ihrer eigentlichen Re-
gelungen auslegen würden und der deutsche Gesetzgeber
es auch entsprechend unseres Antrages so regeln wür-
de, dann gäbe es keine zweiseitigen Märkte und keine
Zero-Rating-Angebote.
Sie sehen: Es steht nur dann schlecht um die Netzneu-
tralität, wenn wir nicht selbst aktiv werden. Es gibt die
Möglichkeit, das neutrale Netz zu sichern. Wir müssen
es gemeinsam nur wollen. Denn ein neutrales Netz ist ein
Internet für alle, und ein Internet für alle bedeutet letzt-
endlich Demokratie für alle.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege
Andreas Lämmel, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Zunächst: Der Antrag der Linken ist keine neueErfindung, sondern die grüne Fraktion hat schon etwaseher einen ähnlichen Antrag auf den Weg gebracht.
Insofern sind die Inhalte durchaus ähnlich, meine Damenund Herren.Vizepräsident Peter Hintze
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Man muss erst einmal deutlich sagen – auch als Ge-genargumentation zu Ihrem Antrag –, dass wir es für einegroße Leistung halten, dass die Europäische Kommissionund das Europäische Parlament nun endlich eine euro-paweite Verordnung zur Netzneutralität, also die Ver-ordnung zum TK-Binnenmarkt, auf den Weg gebrachthaben; denn wir haben auf diesem Gebiet erstmals eineeinheitliche europäische Regelung, und genau das ist jadas Ziel unser aller Bemühungen. Deswegen kann ichnur sagen: Wenn wir als nationaler Gesetzgeber anfan-gen, die Verordnung, die sowieso gilt, wieder in Gesetzeumzusetzen, dann machen wir eine Rolle rückwärts undfangen wieder an, den Markt zu segmentieren.
So sind wir froh, dass wir endlich eine Regelung auf eu-ropäischer Ebene geschaffen haben.
Es ist also schon vom Grundansatz her eigentlich wider-sinnig, was Sie in Ihrem Antrag fordern. Außerdem ha-ben wir im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU undSPD das Thema Netzneutralität schon verankert. In derVerordnung zum TK-Binnenmarkt wurde das Thema ausunserer Sicht gut umgesetzt.Wer sich über die Jahre hinweg an der Diskussion be-teiligt hat, weiß, dass das Thema Netzneutralität ein sehrdynamisches Thema ist. Wir wissen: Wenn der sich amHorizont abzeichnende neue 5G-Standard im Bereich dermobilen Telekommunikation Einzug hält, dann wird dasThema Netzneutralität nicht mehr die Rolle spielen wiebeim 4G-Standard, den wir derzeit noch haben. Deswe-gen ist klar: Die Netzneutralität ist derzeit noch notwen-dig, aber in Zukunft wird genügend Bandbreite zur Ver-fügung stehen, sodass es überhaupt nicht nötig sein wird,das Thema Netzneutralität in einem solchen Rahmen zudiskutieren.
– Ich lade Sie ein. Wir können gerne das 5G Lab in Dres-den besuchen, um einen Eindruck davon zu gewinnen,was der neue Standard bringen wird, und um zu erfahren,wie die Bandbreiten dann abgebildet werden können.In der Gesamtkonstellation ist es richtig, dass die Bun-desnetzagentur für Deutschland die Aufgabe übernimmt,die Umsetzung der europäischen Regelungen zu überwa-chen. Wir wollen doch, dass die entsprechende Verord-nung in allen europäischen Ländern so umgesetzt wird,wie sie gedacht ist.Die Aufgabe der Spezialdienste ist in der Verordnungganz klar geregelt. Deswegen kann ich die Diskussiondarüber nicht nachvollziehen; denn Spezialdienste dürfennur angeboten werden, wenn das entsprechende Angebotnotwendig ist. Spezialdienste dürfen kein Ersatz für offe-nes Internet sein; das ist ja genau das, was wir alle hier indiesem Hohen Hause gemeinsam fordern. Spezialdienstedürfen nur bei ausreichenden Netzkapazitäten erbrachtwerden; auch das ist ein sehr wichtiger Punkt. Dort, woBandbreiten nicht ausreichend zur Verfügung stehen,werden auch keine Spezialdienste angeboten werdenkönnen. Auch noch wichtig ist: Spezialdienste dürfen diegesamte Qualität des Internets nicht beeinträchtigen.
Hier sind von europäischer Ebene aus entsprechende Si-cherungen eingebaut worden, so dass man sagen kann:Das Internet für alle – und das ist das, was wir alle wol-len – ist damit abgesichert.
Auf der anderen Seite brauchen wir diese Spezial-dienste; das wissen Sie selbst sehr genau.
Zu den Spezialdiensten gehören zum Beispiel lebens-rettende Dienste, das können telemedizinische Dienstesein. Das sind auch Dienste, die möglicherweise für diegesamte Steuerung des Straßenverkehrs notwendig sind.
Insofern stehen wir zu den Spezialdiensten. Spezial-dienste werden natürlich auch nicht zum gleichen Preisangeboten – das ist ganz klar –, aber die Voraussetzungenfür die Nutzung sind klar definiert.
Es ist jetzt ganz klar die Aufgabe der Bundesnetz-agentur, die Umsetzung der Regelungen in Deutschlandzu überwachen. Ich kann nur sagen: Wir sind bei diesemThema auf einem guten Weg. Ich hoffe, dass der dynami-sche Prozess hin zum nächsten Standard auch auf euro-päischer Ebene weiter verfolgt wird.Wir werden Ihren Antrag ablehnen müssen.
Vielen Dank. – Jetzt hat der Kollege Dr. Konstantinvon Notz, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man kann es gar nichtoft genug sagen, und an dieser Stelle wurde es auchschon gesagt: Die Netzneutralität ist eine, vielleicht so-gar die Schlüsselfrage der digitalen Welt, über die wir ausgutem Grund seit vielen Jahren im Hohen Haus diskutie-ren. Deswegen bin ich erst einmal grundsätzlich für denAntrag der Linken dankbar.Vielleicht sollte man es den Zuschauerinnen und Zu-schauern auf der Tribüne noch einmal sagen, weil Netz-Andreas G. Lämmel
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neutralität ein etwas sperriger Begriff ist: Im Kern gehtes um die Frage, ob wir alle gleichberechtigt ins Internetkommen oder ob es vom Portemonnaie abhängt, ob undwie man ins Internet kommt.
– Das ist genau der Punkt. Herr Lämmel, immer wiederwurde deswegen von Ihnen versprochen, die Netzneu-tralität gesetzlich abzusichern. Der bisherige Laisser-faire- Ansatz von Schwarz-Gelb war längst gescheitert.International hatte man das erkannt. Aus diesem Grundhat Präsident Obama sich persönlich für eine effektivegesetzliche Regelung eingesetzt. Und obwohl wir Siein den letzten Jahren immer wieder mit etlichen Initia-tiven aufgefordert haben, die Netzneutralität effektivabzusichern, obwohl die SPD noch vor kurzem, als siein der Opposition war, entsprechende Anträge vorgelegthat, die Netzneutralität gesetzlich abzusichern, und ob-wohl in Ihrem gemeinsamen Koalitionsvertrag drinsteht:„Netzneutralität sichern wir“, haben Sie eben genau dasleider nicht getan, und das ist angesichts der Bedeutungder Netzneutralität für Demokratie und Innovation ein-fach viel zu wenig, meine Damen und Herren.
Sie haben keine nationale Regelung vorgelegt undhaben zugesehen, wie ein schlechter Kompromiss aufEU-Ebene verhandelt wurde. Er ermöglicht die Einfüh-rung von „Diensteklassen“ und Special Services undschließt auch hochumstrittene Praktiken wie das ZeroRating oder Surf-only-Verträge eben nicht aus.
Die SPD-Berichterstatterin sagte, der Kompromissöffne dem Ausverkauf der Netzneutralität Tür und Tor,und recht hat die Frau. Sie haben grundlegende Prinzipi-en des Internets und wichtige Verbraucherrechte für dieohnehin schon megamächtigen TK-Anbieter aufgegebenund so einen entscheidenden Beitrag geleistet, damit derAbstand zwischen den marktmächtigen Anbietern undeuropäischen Start-ups noch größer wird. Das schädigtStart-up-Unternehmen in Europa. Erstere, die mächtigenAnbieter, werden sich über Lizenzmodelle und Zero-Ra-ting-Verträge freikaufen. Alle anderen, unzählige kleinedeutsche und europäische Unternehmen, trifft diese Fehl-entscheidung von Ihnen unglaublich hart.Was man in netzpolitischen Kongressen, Agendenund Gipfeln mühsam versucht, vorn hochzupuzzeln, dasreißen Sie hinten wieder ein. Marktkonzentration leistetman Vorschub. Das ist ein Themenfeld, um das sich jetztneuerdings auch das BMWi kümmern will – endlich,muss man sagen. So wird das aber leider nichts, meineDamen und Herren.Wir haben immer gewarnt, nicht abzuwarten, bis dasKind im Brunnen liegt. Nun liegt es da, und nun veran-staltet man Workshops, um auf nationaler Ebene nochirgendwie sicherzustellen, dass man den EU-Vorgabengerecht wird und dass die Auswirkungen auf die Innova-tionsfähigkeit des Netzes und die Verbraucher irgendwieüberschaubar bleiben. Die nationalen Behörden sollenbis zum August in einem Soft-Law-Verfahren konkreteVorschläge hierzu erarbeiten, die dann über den Zusam-menschluss der EU-Regulierungsbehörden an die Kom-mission weitergeleitet werden. Ob die Kommission danndiese Vorschläge aufnimmt, ist eine spannende, aber völ-lig offene Frage.Herr Lämmel, deutlich wird durch dieses ganze Vor-gehen, dass nichts gut ist. Es zeigt: Eine überfällige na-tionale Regelung über Jahre zu verweigern, zuzusehen,wie ein schlechter Kompromiss auf EU-Ebene verhan-delt wird, der Missbrauch Tür und Tor öffnet, um dannzu hoffen, dass die Verbesserungen angenommen wer-den, all dies ist nicht nur mühsam, es wäre auch gänzlichüberflüssig gewesen, wenn man die seit Jahren vorlie-genden Vorschläge einer effektiven gesetzlichen Rege-lung auf nationaler Ebene aufgegriffen hätte.
Bedanken möchte ich mich an dieser Stelle explizitbei allen NGOs und Vertretern der Zivilgesellschaft, diejetzt darum kämpfen, dass das Kind aus dem Brunnen he-rauskommt. Sie alle arbeiten hart, wo Sie leider versagthaben. Ich sage Ihnen: Wenn es hier nicht gelingt, dieNetzneutralität abzusichern und angesichts des schlech-ten Beschlusses, den es jetzt gibt, zurückzuerkämpfen,dann wird das eine weitere Kerbe im netzpolitischen Ver-sagen dieser Bundesregierung sein.Ganz herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der
Kollege Klaus Barthel.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen undHerren! Das war ja wieder einmal starker Tobak. Manwird sehen, dass man das nicht so rauchen darf, wie Siedas hier verkündet haben.
In zweieinhalb Wochen, am 30. April 2016, tritt diegenannte EU-Verordnung zur Netzneutralität in Kraft.Ich will die Kernpunkte dieser Verordnung kurz zitieren,weil das hier etwas schräg dargestellt wurde.Erstens. Der freie Zugang zu Inhalten im Internet wirdgrundsätzlich nicht blockiert oder gedrosselt. Ein bevor-zugter Zugang gegen Bezahlung wird verboten.
Dr. Konstantin von Notz
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Zweitens. Die Zugangsanbieter behandeln den gesam-ten Datenverkehr gleich. Sie dürfen nur eingreifen, so-weit dies zur Aufrechterhaltung eines effizienten Daten-verkehrs erforderlich ist oder im öffentlichen Interesseliegt, zum Beispiel bei der Netzsicherheit.Drittens. Die Zugangsanbieter dürfen spezielle Diens-te höherer Qualität wie zum Beispiel Internetfernsehenoder neue Anwendungen anbieten, solange dadurch dieQualität des offenen Internets nicht beeinträchtigt wird.Viertens. Sie unterliegen gegenüber ihren Nutzern be-sonderen Informationspflichten über die Gewährleistungdes offenen Internets.Fünftens. Die Mitgliedstaaten überwachen – das machtin Deutschland die Bundesnetzagentur – die Einhaltungdieser Bestimmungen und berichten der Kommission.Im Übrigen erlassen die Mitgliedstaaten wirksameSanktionen. Die Bundesregierung wird eine Erweiterungdes TKG mit entsprechenden Sanktionen jetzt vorberei-ten und in den Bundestag einbringen.Das heißt, in Wirklichkeit sind der Antrag der Links-fraktion und das, was Herr von Notz hier vorgetragen hat,in der Sache erledigt.
Es gibt auch keinen Streit über die Zielsetzung Netzneu-tralität.
Herr Lämmel hat mit Recht darauf hingewiesen, dass dasim Koalitionsvertrag steht.
Die EU-Verordnung setzt das in unseren Augen weitest-gehend um.
Das ist weltweit eine der am weitesten gehenden Rege-lungen.
Was auch richtig und wichtig ist: Es macht überhauptkeinen Sinn, durch nationale Sonderregelungen daranherumzubasteln.
Das würde nur zu neuer Rechtsunsicherheit und zu einerZersplitterung der Märkte führen, und wir wissen, dassder Telekommunikationsmarkt kein nationaler Markt ist,sondern ein globaler Markt, auf jeden Fall ein europäi-scher.
Wir wollen uns gar nicht hierhinstellen und sagen,dass missbräuchliche Geschäfte damit von vornhereinausgeschlossen sind. Es ist jetzt Aufgabe der Regulie-rungsbehörden, die Angebote – Sie haben ein Angebotder Telekom angesprochen – zu überprüfen. Es ist ihreAufgabe, das zu überwachen und im Zweifelsfall, wennman sagt, dass das Missbrauch ist, Maßnahmen dagegeneinzuleiten.
Herr Kollege Barthel, darf ich Sie unterbrechen? – Ge-
statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Wawzyniak?
Wenn es zur Erhellung beiträgt, gern.
Bitte schön.
Sie haben gerade gesagt, dass es um eine nationale
Sonderregelung geht. Mit diesem Antrag schlagen wir
vor, zu sagen, dass die Verordnung der EU gewisse, nicht
ganz genaue Formulierungen enthält. Deswegen soll sich
nach dem bisherigen Vorschlag ja auch die Bundesnetz-
agentur mit den anderen Regulierungsbehörden zusam-
mensetzen. Die sollen also im weitesten Sinne eine Aus-
legung der Verordnung vornehmen.
Wir sagen: Die Netzneutralität ist so wichtig, ein so
integraler Bestandteil eines freien Internets, dass nach
der Wesentlichkeitstheorie, nach der der Gesetzgeber die
wesentlichen Grundsatzentscheidungen zu treffen hat,
der Gesetzgeber an dieser Stelle die Rolle der Bundes-
netzagentur zu übernehmen hat. Was ist dabei das Pro-
blem?
Der Gesetzgeber ist nach unserem derzeitigen Rechts-system in diesem Fall die Europäische Union – das habenwir dargestellt –, und die hat diese Richtlinie erlassen.Jetzt ist es Aufgabe von Behörden, wie es in anderenFällen die Aufgabe von Gerichten ist, die entsprechen-den Bestimmungen umzusetzen und durchzusetzen. Wiegesagt, bezüglich der Sanktionen wird es eine Erweite-rung des TKG geben, und die Bundesnetzagentur wirddas überwachen und auslegen.Folgendes muss hier einmal dargestellt werden: Am12. Februar fand ein öffentlicher Workshop der BNetzAstatt, bei dem alle Beteiligten angehört wurden. Dannwurden weitere Stellungnahmen angefordert. Sie wurdenjetzt am 24. März veröffentlicht. Das alles ist transparentund nachvollziehbar.Daran hätten übrigens auch alle, die sich hier ver-kämpfen, teilnehmen und sich dort einbringen können.Es ist immer sehr wohlfeil, sich hier in den Bundestag zustellen und groß von Demokratie, Netzneutralität und einpaar anderen Schlagworten zu reden; aber dann, wennes darum geht, sich wirklich um das Kleingedruckte undum die Umsetzung – das fordern Sie ja – zu kümmern,Klaus Barthel
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ist man im Zweifelsfall nicht da. Da muss man Redeund Antwort stehen und genau über die Auslegung die-ser europäischen Richtlinie streiten und diskutieren. DerBundesnetzagentur wird das Ergebnis für den nächstenSchritt auf den Weg gegeben. Wir haben am vergange-nen Montag im Beirat darüber diskutiert und anberaten,dass Anfang Juni der nächste Schritt für den Entwurf ist,den die Bundesnetzagentur an die europäische Regulie-rergemeinschaft schickt. Dieser wird dann auch wiederöffentlich zur Kommentierung gestellt. Ende August solldann die BEREC, also die Arbeitsgemeinschaft der euro-päischen Regulierer, praktisch eine Auslegung erarbeitenund beschließen.
Dabei ging es im Wesentlichen um drei Themen, näm-lich um genau die Themen, über die hier diskutiert wird.Es ging also um die Fragen: Was ist das Verhältnis vonNetzneutralität und Vertragsfreiheit? Wie ist es mit demVerkehrsmanagement? Wie ist das mit den Spezialdiens-ten? Man muss sich dann die Mühe machen, das einzelndurchzudiskutieren. Jede und jeder kann mitmachen,auch alle Bürgerinnen und Bürger und Verbände, die sicheinmischen wollen. Am 4. Juli wird sich der Beirat beider Bundesnetzagentur noch einmal damit befassen. Wiegesagt, es wird dann diese Leitlinien geben.Das ist aber nicht das Ende der Geschichte, sondernes geht dann weiter. Die Regulierer, die nationalen Re-gulierer und dann wieder die BEREC, werden der Kom-mission jährlich berichten, wie es um die Netzneutralitätsteht, ob die Vorgaben eingehalten werden oder nicht undwas man im Zweifelsfall korrigieren muss. Das heißt, esgeschieht nicht das, was Sie hier jetzt befürchten. Es wirdkontrolliert und jährlich berichtet, und es gibt einen Re-view.Das heißt also, Ihr Antrag ist in großen Teilen sowie-so erfüllt, in Teilen überholt und in Teilen, nämlich da,wo es um eine Gesetzgebung geht oder zum Beispiel umso etwas Seltsames wie eine 5-Prozent-Höchstquote fürSpezialdienste, abzulehnen; denn das bringt uns über-haupt nicht weiter.Eines muss man schon noch sagen. Herr von Notz,wenn Sie sagen, die Schlüsselfrage sei jetzt die Netz-neutralität, muss ich sagen: Ich glaube, das ist es geradenicht. Vielmehr geht es um die Verwaltung eines Man-gels, nämlich um die Verwaltung von zu wenig Netzka-pazität. Netzneutralität und die Gleichbehandlung vonDiensten stellen sich bei einem Anschluss mit 124 kB/sund einem Anschluss mit Glasfaser und 50 MBit/s oder100 MBit/s – das streben wir an – ganz anders dar. Des-wegen sind die Kapazitäten die Schlüsselfrage. Es gehtdarum, das, was die Verbraucherinnen und Verbraucherin Anspruch nehmen können, zu erhöhen. Bei einer tau-sendfachen Kapazität, von der wir bei Glasfaser reden,stellt sich die Frage der Neutralität doch ganz anders alsjetzt, wo wir hier nur den Mangel verwalten.
Ich glaube, deswegen sollten wir das noch einmalgeraderücken und hier nicht immer in großen Wolkenreden. Wir sollten schauen, wie wir diese Verordnungjetzt sinnvoll umsetzen und wie wir zu einem möglichstschnellen Ausbau der Infrastruktur kommen.
Vielen Dank. – Für heute hat jetzt abschließend
zu diesem Tagesordnungspunkt der Kollege Thomas
Jarzombek, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es istnicht das erste Mal, dass wir heute im Deutschen Bun-destag über Netzneutralität reden.
Ich glaube, wir alle sind uns einig, dass die Netzneutra-lität ein hohes Gut ist. Denn sie ist der Innovationsmotordes Internets. Man bekommt eben nicht nur ein paar Ap-plikationen, die der eigene Provider entwickelt hat undvon denen er glaubt, dass sie das Beste für den Kundensind, sondern jeder, der im Internet ist, kann Anwendun-gen, Innovationen entwickeln, die allen über alle Kanälezur Verfügung stehen. Das ist ein absolut wesentlichesPrinzip.
Daran darf man nicht rütteln.Der entscheidende Punkt ist, dass wir aber auch überJahre eine Diskussion führen – die Kollegin Wawzyniakhat sie vorhin ein bisschen in dieses Licht gerückt – nachdem Motto: Gleiches Netz für alle. Das hat so etwasWundervolles, so einen Sound von einer politischen Aus-einandersetzung, die es früher einmal gegeben hat, alsnoch die Mauer vor dem Reichstag gestanden hat.
Ich dachte eigentlich, dass diese Art des Schwarz-Weiß-Denkens heute nicht mehr Stand der Dinge ist.
Insofern stehen wir bei diesem Thema doch, ehrlich ge-sagt, alle zusammen.Das Europäische Parlament, lieber Konstantin vonNotz, ist im Übrigen nicht die Bundesregierung. Ich habevorhin die ganze Zeit eine beißende Kritik an der Bun-desregierung gehört.
Aber damit es alle wissen: Es geht hier um die Beschlüs-se des gleichen Europäischen Parlaments, das heute dieKlaus Barthel
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Datenschutz-Grundverordnung freigegeben hat. Dasmuss man in einem gemeinsamen Kontext sehen.
Was ist der Kern dessen? Der Kern dessen ist: Netz-neutralität muss gewahrt bleiben. Aber – da haben wirin der Enquete-Kommission damals einen Konsens er-reicht – es muss auch Diensteklassen geben können.
Ich glaube – das ist meine Position und auch die mei-ner Fraktion –, das entscheidende Prinzip muss lauten:Wir müssen das Beste an Innovation ermöglichen. DasBeste an Innovation hat man nicht bei einem Internetder Dienste. Das Beste an Innovation hat man aber auchnicht, wenn man anfängt, Dienste zu verbieten, die esheute schon gibt, beispielsweise T-Entertain als Fernseh-dienst. Das ist ein klarer Spezialdienst – qualitätsgesi-chert –, kein Internet-Zusatzdienst.
– Melde dich und frage; sonst kann dich vor den Fernseh-geräten keiner hören.
– Bitte.
– Entschuldigung, Frau Präsidentin.
Ich wollte mein Amt noch nicht abgeben. – Aber bitte
schön, Herr Kollege von Notz.
Herr Kollege Jarzombek, vielen Dank für das Zulassen
der Zwischenfrage. – Wir haben ja gerade erst – es klang
eben auch an – über die Mangelverwaltung usw. disku-
tiert. Wie ist es denn in Sachen Internet? Ist überall genug
Breitband da, oder haben wir mit dem Vectoring, das jetzt
kommt und das, glaube ich, auch ein Plan der Bundes-
regierung ist, nicht genau das Problem, dass eben nicht
genug Kapazitäten da sind und es deswegen ein knappes
Gut ist? Wenn man die Netzneutralität festschreiben wür-
de, dann würde man die Anbieter dazu zwingen, ausrei-
chende Kapazitäten zu schaffen, damit sich alle Bürger
Videos im Netz ansehen können und nicht nur die, die
bereit sind, dafür 50 Euro im Monat zu zahlen.
Lieber Kollege von Notz, ich glaube, das ist ein bes-seres Format. Denn der Redner hört die Zwischenrufezwar, aber das Publikum an den Fernsehern oder im In-ternet nicht. Jetzt können wir darüber diskutieren.Zum Breitbandausbau in Deutschland. Diese Bundes-regierung ist die erste seit Menschengedenken,
die überhaupt ein Breitbandförderprogramm ins Lebengerufen hat.
Es geht dabei um 2,7 Milliarden Euro. Im Dezemberletzten Jahres und im Januar dieses Jahres sind sehr vie-le Förderbescheide herausgegangen, um genau die Ge-meinden, in denen es heute noch kein Breitband gibt –die meisten befinden sich im ländlichen Raum –, zuversorgen. Diese Bundesregierung hat es im letzten Jahrgemeinsam mit den Landesregierungen geschafft, einengroßen Block von Fernsehfrequenzen für schnelles Inter-net zur Verfügung zu stellen, sodass das mobile Internetab dem nächsten Jahr doppelt so schnell wird, weil esdoppelt so viel an Kapazität gibt.
Das sind, glaube ich, zwei große Erfolge.
In Deutschland haben – jetzt komme ich zum Vecto-ring – 72 Prozent der Haushalte Kabelanschluss. Vieledavon sind heute schon mit Bandbreiten von mehr als100 MBit/s ertüchtigt. Wir werden noch in diesem Jahrdie ersten dieser Anschlüsse auf 1 000 MBit/s, also imGigabyte-Bereich, sehen. Wir werden perspektivisch ineinem sehr überschaubaren Zeitraum – in den nächs-ten zwei, drei Jahren – wahrscheinlich sehr viele dieser72 Prozent der Haushalte mit Gigabyte sehen.Eine Rolle spielt in diesem Zusammenhang auch dieEntscheidung der unabhängigen Beschlusskammer derBundesnetzagentur, die ich an einigen Stellen deutlichkritisiere. Aber das ist eben so, wenn man unabhängigeGremien schafft.Ich glaube, dass die Vectoring-Technik insgesamt gutist, weil sie dafür sorgt, dass sich die Geschwindigkeitenbei DSL-Anschlüssen ebenfalls deutlich steigern lassen,und zwar auf 100 MBit/s, mit Super-Vectoring in dennächsten zwei Jahren sogar auf 200 MBit/s. Das sindKapazitäten, die ganz okay sind. Damit kann man aucheine Familie mit zwei Kindern im Teenageralter, die sich4-K-Videos ansehen wollen, ziemlich gut versorgen. Dasist ja auch nicht das Ende der Fahnenstange, sondern dasist eine Entwicklung, sodass ich nicht glaube, dass wirBrandbreitenengpässe haben werden. Es wird ja immerdarüber philosophiert, wann diese kommen könnten.Zu den Innovationen. Die Bundeskanzlerin hat sehr zuRecht einmal gesagt: Der tatsächliche AnwendungsfallThomas Jarzombek
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für Spezialdienste kommt erst noch. – Ich habe mit demFernsehdienst zwar schon einen genannt. Aber stellenwir uns doch einmal das Connected Car vor.
Da braucht man natürlich Dienste mit einer kurzen La-tenzzeit. Wenn man, um Abstände zu reduzieren, einenKonvoi von selbstfahrenden Autos steuern will, dannmuss das zwanzigste Auto in Echtzeit das Bremssignalvom ersten Auto bekommen; sonst müssten die Autos miteinem viel größeren Abstand fahren. Dafür braucht manein absolut verzögerungsfreies Netz. Dass das Prioritätgegenüber einem Bus mit Bundestagsabgeordneten – –
– Unsere gesamte Landesgruppe fährt am Wochenendenach Hamm in Westfalen zu einer Klausurtagung. Dahinkommen wir nicht mit dem Fahrrad. – Wenn also ein gan-zer Bus mit Bundestagsabgeordneten, die alle Informati-onen wie die Presseschau aus dem Internet herunterladenmöchten,
unterwegs ist, dann erschließt es sich doch dem logischenMenschenverstand, dass die Steuerung von ConnectedCars Vorrang haben muss, um diese Innovation zu er-möglichen.
Auf europäischer Ebene ist nun eine Verordnung erar-beitet worden. Jetzt können wir doch nicht allen Ernstesanfangen, in nationalstaatliche Regelungen zu verfallen.
Wer in Nordrhein-Westfalen im Internet surft, schautnatürlich immer mit Begeisterung nach Frankfurt; dennda ist der größte Internetknoten der Welt, der DE-CIX.Aber nicht sehr viel kleiner als dieser Knoten ist der imAmsterdam. Wenn in Düsseldorf, in Aachen oder imMünsterland gesurft wird, dann kann es schon einmalpassieren, dass das über den Knoten in Amsterdam ge-schieht. Wenn in Belgien oder in Holland andere Rege-lungen als in Nordrhein-Westfalen gelten, dann ist dasdoch nicht Ausdruck einer sinnvollen Regulierung. Wirkönnen doch nicht allen Ernstes einen Vorschlag zurRegulierung der Netzneutralität machen, der dazu führt,dass ein Connected Car beim Übertritt über die Grenzenach Belgien auf einmal bestimmte Funktionen nutzenkann oder andere nicht mehr nutzen kann.
Ganz im Ernst, meine lieben Kollegen: Der Zeitpunktfür die heutige Debatte ist bemerkenswert; denn die an-gesprochene europäische Verordnung tritt Ende diesesMonats in Kraft. Sämtliche nationale Regulierer führenim Sommer eine aufwändige Konsultation durch: SechsWochen lang sollen Leitlinien diskutiert werden, dieEnde August tatsächlich in Kraft treten. Wenn wir heu-te ein Gesetz verabschieden, obwohl wir genau wissen,dass im August dieses Jahres europäische Regelungenkommen, die wir alle noch gar nicht kennen können,
würde das bedeuten, dass die Konsultation im Sommerzu einer Farce wird.Insofern glaube ich, wir sollten erst einmal diesen Pro-zess vernünftig zu Ende bringen.
Danach können wir einmal schauen, wo wir stehen. Dannkann man immer noch überlegen, welche Handlungs-spielräume bestehen. Es kann aber ganz sicher nicht solaufen, dass jetzt jedes europäische Land eigene Gesetzeverabschiedet, wodurch wieder ein europäischer Flicken-teppich erzeugt wird.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, in-terfraktionell ist vereinbart worden, dass die Vorlage aufDrucksache 18/6876 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse überwiesen wird. Nicht einig sindwir uns aber in der Frage, welcher Ausschuss die Feder-führung übernimmt. Die Fraktionen der CDU/CSU undder SPD wünschen Federführung beim Ausschuss fürWirtschaft und Energie. Die Fraktion Die Linke wünschtFederführung beim Ausschuss Digitale Agenda.Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag derFraktion Die Linke abstimmen, dass die Federführungbeim Ausschuss Digitale Agenda liegen soll. Wer stimmtfür diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt da-gegen? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlagist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen dieStimmen der Opposition abgelehnt.Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag derFraktionen der CDU/CSU und der SPD abstimmen,dass die Federführung beim Ausschuss für Wirtschaftund Energie liegen soll. Wer stimmt für diesen Überwei-sungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Ers-ten Gesetzes zur Novellierung von Finanz-marktvorschriften auf Grund europäischer
Drucksachen 18/7482, 18/7826Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz-ausschusses
Drucksache 18/8099Thomas Jarzombek
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Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazukeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeMatthias Hauer, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir beraten heute abschließend den Entwurfeines Ersten Finanzmarktnovellierungsgesetzes. Dabeigeht es um drei große Themenbereiche: erstens um dieBekämpfung von Marktmissbrauch, zweitens um dieAnforderungen an Zentralverwahrer und drittens umbessere Informationen für Kleinanleger. Die EuropäischeUnion hat drei Verordnungen und eine Richtlinie zu die-sen Themenbereichen erlassen. Diese werden wir heuteim deutschen Recht verankern. Wir gehen damit einenweiteren wichtigen Schritt in Richtung besserer Finanz-marktregulierung. Wir erhöhen die Transparenz und dieIntegrität der Finanzmärkte und stärken gleichzeitig denAnlegerschutz.Nach dem Auftakt heute wird demnächst das ZweiteFinanzmarktnovellierungsgesetz folgen. Wir werden da-rin das deutsche Recht an die FinanzmarktverordnungMiFIR anpassen und die Finanzmarktrichtlinie MiFID IIin deutsches Recht umsetzen. Was erwartet uns mit MiFID II und MiFIR?Unabhängigen Anlageberatern wird es EU-weit ver-boten, Zuwendungen anzunehmen. Die EU vollziehtdamit das nach, was bei uns in Deutschland bereits seitAugust 2014 vorgeschrieben ist. Aber auch in Deutsch-land wird die Regelung verschärft: Künftig dürfen auchnichtmonetäre Vorteile grundsätzlich nicht mehr ange-nommen werden.Wir werden die Aufsichtsbehörden weiter stärken. Sieerhalten die Befugnis, bei Finanzprodukten einzuschrei-ten. Die Aufsichtsbehörden können Vermarktung, Ver-trieb und Verkauf von Finanzinstrumenten beschränkenoder gar untersagen.Wesentliches wird sich bei der Beratung und derKommunikation zwischen Kunden und Wertpapier-dienstleistungsunternehmen wie Banken ändern. Einneues europäisches Beratungsprotokoll wird eingeführt.Zudem müssen telefonische Beratungsgespräche künftigaufgezeichnet werden, um Anleger besser zu schützenund Marktmissbrauch besser zu verfolgen.Auch im Bereich des Hochfrequenzhandels vollziehtEuropa weitgehend das nach, was hier bereits gilt, wo-bei Deutschland schon seit 2013 eine Vorreiterrolle ein-nimmt.Dies alles wird erst Bestandteil des Zweiten Finanz-marktnovellierungsgesetzes sein. Die Verzögerungen aufeuropäischer Ebene nehmen uns die Möglichkeit, schonheute Klarheit über diese Details zu schaffen, was wirgerne getan hätten.Ein großer Dank gilt unserem BundesfinanzministerWolfgang Schäuble und dem Bundesfinanzministerium.Aufgrund der Verzögerung auf europäischer Ebene warenwir gezwungen, die Finanzmarktnovellierung kurzfristigin zwei Teile aufzuspalten, um die fristgerechte Umset-zung der heute zu beratenden europäischen Rechtsaktezu gewährleisten. Das hat das Bundesfinanzministeriumhervorragend geleistet. Vielen Dank dafür!Es ist sehr bedauerlich, dass die Umsetzung des zwei-ten Teils nun verzögert wird; denn gerade MiFID II undMiFIR enthalten wichtige Maßnahmen zum Anleger-schutz und zur Transparenz der Finanzmärkte. Dass wirauf den Finanzmärkten mehr Transparenz brauchen, ha-ben die letzten Tage noch einmal deutlich gezeigt. WiePanama und andere Steueroasen an Steuerhinterziehungund Geldwäsche mitwirken, ist zutiefst schäbig. Dage-gen gilt es weiterhin konsequent vorzugehen.
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble engagiertsich seit Jahren für mehr Transparenz. Die Panama-Ent-hüllungen zeigen deutlich, dass er mit seiner Politik aufdem richtigen Kurs ist, Steuerhinterziehung gerade auchdurch eine intensivere internationale Zusammenarbeitauszutrocknen.
Deutschland hat in diesem Bereich seit Jahren eineVorreiterrolle übernommen: sowohl innerhalb der G 7und der G 20, aber auch innerhalb der OECD. Dadurchsind wir auf internationaler Ebene deutlich vorangekom-men. Fast 100 Staaten bekennen sich mittlerweile zumautomatischen Informationsaustausch über Finanzkon-ten. Ab September 2017 werden Finanzinstitute auf in-ternationaler Ebene nun Informationen austauschen, da-mit besser gegen Steuerhinterziehung und andere illegaleTätigkeiten vorgegangen werden kann. Der Anstoß dazuerfolgte hier in Berlin auf der Steuerkonferenz im Okto-ber 2014. Es muss das Ziel sein, dass sich alle Staaten amInformationsaustausch beteiligen. Das ist ein mühseligerProzess, aber jeder zusätzliche Staat, der sich beteiligt, istein Schritt in die richtige Richtung.Auch bei der sogenannten BEPS-Initiative der OECDgeht Deutschland mit dieser Bundesregierung voran. Da-mit wird das grenzüberschreitende Verschieben von Ge-winnen durch multinationale Konzerne bekämpft. Es istgut, dass sich Deutschland und das Vereinigte Königreichseit 2012 verstärkt für die BEPS-Initiative einsetzen undden Prozess seitdem deutlich vorangebracht haben.Nicht zuletzt durch das große Engagement unseresBundesfinanzministers haben wir in den vergangenendrei Jahren mehr erreicht als in Jahrzehnten zuvor. Undauch der aktuelle Fall zeigt, dass es richtig war und ist,konsequent die grenzüberschreitende Zusammenarbeitzu verbessern. Diesen Weg werden wir als Union weiterfortsetzen.
Der Deutsche Bundestag hat in den vergangenen Jah-ren viel dafür getan, um die Märkte zu stabilisieren undihre Anfälligkeit für neue Finanzkrisen zu reduzieren.Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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Insgesamt haben wir seit der Finanzkrise 40 Maßnahmenumgesetzt, die zur stärkeren Regulierung der Finanz-märkte und zum Schutz der Anleger beitragen. Auch derheutige Gesetzentwurf dient in erster Linie dazu, Anlegerbesser zu schützen. Was sind die wesentlichen Punkte?Erstens. Mit den Regelungen zum Marktmissbrauchgehen wir auf europäischer Ebene konsequent vor gegenInsidergeschäfte, gegen die unrechtmäßige Offenlegungvon Insiderinformationen und gegen Marktmanipulation.Bislang war das Thema Marktmissbrauch in den einzel-nen EU-Staaten sehr unterschiedlich geregelt. Nicht ein-mal schwere Verstöße waren überall strafrechtlich sank-tioniert. Auch die Sanktionen waren von Staat zu Staatsehr unterschiedlich. Diese Lücken konnten Täter durchdie unterschiedlichen Regelungen auf europäischer Ebe-ne bislang ausnutzen. Dadurch konnte Marktmissbrauchin der Vergangenheit leider nur unzureichend bekämpftwerden. Gerade auch, weil Täter über Staatsgrenzen hin-weg agieren, ist die EU-weite Harmonisierung mehr alssinnvoll.Zweitens. Mit den Regelungen zu den Zentralverwah-rern werden auch die Anforderungen an sie EU-weit har-monisiert. Zentralverwahrer sind es, die neu emittierteWertpapiere registrieren. Sie führen zentrale Wertpapier-konten. Sie erfassen, wem welche Wertpapiere gehören.In der EU verwahren sie Wertpapiere im Gesamtvolumenvon rund 39 Billionen Euro und wickeln Wertpapierge-schäfte im Volumen von etwa 500 Billionen Euro ab.Schon bei diesen Größenordnungen liegt auf der Hand,wie wichtig es ist, dass die Verwahrer Wertpapierge-schäfte ordnungsgemäß und pünktlich durchführen.Drittens. Mit der sogenannten PRIIPs-Verordnungerhalten Anleger künftig ein EU-weit einheitliches In-formationsblatt für verpackte Anlageprodukte. Als ver-packt gelten alle Anlageprodukte, bei denen das Geld derKunden nicht direkt, sondern nur indirekt am Kapital-markt investiert wird. Das ist zum Beispiel der Fall beioffenen oder geschlossenen Investmentfonds, aber auchbei fondsgebundenen Lebensversicherungen. Diese In-formationsblätter, auch Beipackzettel genannt, sind denAnlegern vor Vertragsabschluss vorzulegen. Sie könnendamit Chancen, Risiken, aber auch Kosten besser über-blicken, aber dadurch auch die Produkte besser miteinan-der vergleichen.Für uns in Deutschland ist die Idee dieser Informati-onsblätter alles andere als neu. Wir sind auch bei diesemThema bereits in den vergangenen Jahren vorangegan-gen. Wir haben Beipackzettel vorgeschrieben für dieAnlageberatung bei Finanzinstrumenten, bei Verträgenzur Altersvorsorge oder über Versicherungen, für In-vestmentvermögen und für viele Produkte des GrauenKapitalmarkts. In den nächsten Wochen werden wir unsauch noch einmal intensiv mit den Produktinformati-onsblättern für einfache Finanzprodukte, also für Aktienund einfache Anleihen, befassen. Wir werden sehr genauevaluieren, ob in diesem Bereich Optimierungsbedarfbesteht.Ich komme zum Schluss. Selten standen die europäi-sche Idee und der europäische Zusammenhalt mehr unterBeschuss als in den letzten Monaten. Viele Menschenzweifeln an der Handlungsfähigkeit der EuropäischenUnion. Auch im Bereich der Finanzmarktregulierungzeigt sich, dass wir gemeinsame europäische Lösungenbrauchen, um Verbesserungen herbeiführen zu können.In einer immer komplexer werdenden und völlig vernetz-ten Welt sind nationale Maßnahmen selten die Lösungfür internationale Probleme – weder im Bereich der Fi-nanzmarktregulierung noch in anderen Politikbereichen.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Dann hat jetzt die Kollegin Susanna
Karawanskij für die Fraktion Die Linke das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Gäste! Die Finanzmärkte haben ja nunwirklich einen katastrophal schlechten Ruf, insbesonde-re wenn wir an die jüngst bekanntgewordenen Skandaledenken – ich will sie noch einmal aufzählen – wie Leh-man, Prokon oder German Pellets. Jetzt sollen mit demvorgelegten Gesetzentwurf die Finanzmärkte stabilerund transparenter gemacht werden.Dabei ist jetzt schon fast das zweite Gesetz in der Pipe-line. Aber wenn Sie, meine Damen und Herren von derBundesregierung oder von der Koalition, wirklich etwasfür den Anlegerschutz tun wollen bzw. ihn verbessernwollen, dann sollten Sie das nicht halbherzig tun. Mitdiesem Gesetzentwurf haben Sie jedenfalls eine großeChance vertan.Der Finanzaufsicht sollen in Zukunft mehr Eingriffs-rechte an die Hand gegeben werden, um Marktmiss-brauch vorzubeugen. Doch die Regelungen, die Sie hiervorschlagen, erschöpfen sich in der Aufklärung, Verhin-derung und Sanktionierung. Sie stärken die Finanzauf-sicht leider nur oberflächlich in der Funktion als Überwa-cherin des Wertpapiermarktes. Aber das breite Spektrumunrechtmäßiger Handlungen gegenüber Kleinanlegerin-nen oder Kleinanlegern, in dem tatsächlich Marktmiss-brauch stattfindet, bleibt davon leider unberührt. DieAufsicht, also die BaFin, oder die Staatsanwaltschaft hatin der Vergangenheit häufig erst dann eingegriffen, wennes schon zu spät war. Die Kontrollmacht der Aufsichtwird durch die Vorschläge im vorgelegten Gesetzentwurfviel zu sehr auf die Phase der Ausgabe bzw. der Emissionund des Vertriebs der Finanzinstrumente konzentriert.Die Anlageskandale haben aber gezeigt, dass dieKleinanlegerinnen und Kleinanleger auf sich selbst ge-stellt waren und sind. Ihnen fehlen einfach Informationenund Möglichkeiten, ihre Rechte durchzusetzen. Insbe-sondere die ausgebenden Institutionen, also diejenigen,die die schrottigen Finanzinstrumente auf den Markt ge-bracht haben, haben leider nichts zu befürchten. Sie war-ten nämlich ganz ungestört ab und übermitteln falscheoder irreführende Angaben. Die Kleinanleger werdenhingehalten und getäuscht, bis ihre Ansprüche verjährtsind. Zum Teil gehen solche Institutionen sogar den Weg,Matthias Hauer
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ihre Anlagepleite gar nicht mehr der Haftpflichtversiche-rung zu melden. Sie gehen bewusst in die Insolvenz undsitzen die Pleite aus. Die Kleinanleger haben dann dasNachsehen.Das geht unseres Erachtens nicht so weiter. Nach denbestehenden Regelungen werden die meisten Anlegerdurch Produkte geschädigt, die bereits auf dem Marktsind. Wir sind der Meinung, dass der Aufsicht hier stär-kere rechtliche Grundlagen an die Hand gegeben wer-den müssen, damit Verbraucher zu ihrem Recht kommenkönnen, wenn sie von einer Anlagepleite betroffen sind.
Wir fordern kollektiven Verbraucherschutz durch dieAufsicht, um sozusagen die Aufsicht verbraucherfreund-licher zu fassen. Das heißt, die Finanzaufsicht soll für diegeschädigten Anleger eintreten, damit sie ihre Ansprüchedurchsetzen können. Sie soll keine Klagen führen, abersozusagen für Gruppen eintreten und einen Zaun ziehenkönnen, damit die Betrüger nicht entwischen und Anle-ger ihre Schäden und Regressansprüche geltend machenkönnen.
Wenn Sie Verbraucherschutz tatsächlich ernst nehmen,dann müssen Sie die Aufsicht mit dem Mandat ausstat-ten, kollektiv die Rechtsverfolgung zu sichern. Für denGesetzgeber bedeutete das nur eine kleine Änderung imGesetzentwurf, aber es wäre ein wirklich großer Schrittfür den finanziellen Verbraucherschutz.Sie haben vorhin die Informationsblätter, die soge-nannten Beipackzettel, angesprochen. Hier hätten Sietatsächlich die Chance ergreifen können, sowohl Struk-tur, Inhalt und Form als auch den Umfang vorzugeben,um die Produkte für Kleinanleger, die beispielsweise et-was für ihre Altersvorsorge tun möchten, in dem ganzenDschungel tatsächlich vergleichbar zu machen. Das istnämlich bislang nicht der Fall.Schlussendlich: Wenn Sie wirklich Kleinanleger-schutz betreiben wollen, dann brauchen wir ganz klareine Verfahrensumkehr, und zwar in dem Sinne: erst prü-fen, dann zulassen.
Erst dadurch werden Sie sicherstellen, dass schrottigeFinanzmarktinstrumente, die mit unüberschaubaren Ri-siken Anlegerinnen und Anleger schädigen, gar nicht erstauf den Markt gelangen, sodass Verbraucher zukünftigtatsächlich davor geschützt sind. Das wäre wahrhaftigerVerbraucherschutz. Das würde dafür sorgen, dass der un-gleiche Kampf zwischen Anlegern und der Finanzmarkt-lobby auf Augenhöhe stattfinden kann. Solange Sie dasnicht tun, bleiben Ihre Gesetzesvorhaben leider halbher-zig.Danke.
Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der
Kollege Christian Petry.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Frau Karawanskij, der kollektive Verbraucher-schutz ist im Rahmen des Kleinanlegerschutzgesetzesbei der BaFin verankert worden; das haben wir bereitsgemacht. Den stärken wir natürlich noch und werden dasfortführen; denn das ist eine wichtige Aufgabe. Sie habenzu Recht gesagt, dass der Verbraucher auf Augenhöhemit demjenigen stehen muss, der Papiere ausgibt oderVermittler ist. Dafür muss es letztendlich auch entspre-chende Schutzinstrumentarien geben.Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein umfangreichesWerk. Herr Dr. Meister hat uns wieder einmal etwasvorgelegt, was teilweise sehr schwer zu lesen ist. Dasliegt nicht an Herrn Dr. Meister, sondern tatsächlich ander Materie. Marktmissbrauchsrichtlinie, Marktmiss-brauchsverordnung, Verordnung über Zentralverwahrersowie die Verordnung über Basisinformationsblätter fürverpackte Anlageprodukte für Kleinanleger und Ver-sicherungsanlageprodukte werden in deutsches Rechtüberführt. Auch in der Begründung des Gesetzentwurfslassen sich schwierige Formulierungen finden, die dasVerständnis erschweren. Das Ganze ist sehr kompliziert;da muss man erst einmal durchsteigen. Aber das Ziel istklar: Wir wollen Verbraucherschutz, wir wollen Trans-parenz, und wir wollen stabile Märkte. Aber wir wollenauch den Marktzugang, den Handel und den Markt alssolchen nicht überregulieren; er soll auch stattfinden. Somuss es möglich sein, in kleineren Einheiten, zum Bei-spiel in kleinen Sparkassen, eine umfängliche und guteBeratung zu bekommen. Auch dort müssen alle Produkteangeboten werden können. Wir dürfen das Ganze nichtso überfrachten, dass in kleineren Einheiten nicht mehralles angeboten werden kann.Durch die europäischen Vorgaben werden bestehen-de Sanktionsmaßnahmen technologischen Entwick-lungen wie dem Hochfrequenzhandel angepasst. Über-wachungs- und Eingriffsbefugnisse der BaFin werdengestärkt, Basisinformationsblätter verpflichtend einge-führt. Zudem werden, wie Kollege Hauer schon gesagthat, die Strafvorschriften bei ordnungswidrigem, also beivorsätzlichem oder leichtfertigem Verhalten verschärft.Wir haben hier darüber debattiert, ob es vielleicht mög-lich ist, leichtere Verstöße mit geringfügigeren Sankti-onen zu ahnden bzw. sogar ganz herauszunehmen. Wirhaben uns dafür nicht entschieden. Es bleibt dabei, dassalles, was in diesem Bereich vorfällt, strafrechtlich ver-folgt werden kann. Wer in schwerwiegenden Fällen vor-sätzlich handelt und Marktergebnisse manipuliert, kannfortan mit einer Geldstrafe oder einer Freiheitsstrafe vonbis zu fünf Jahren bestraft werden.Als „besonders strafwürdig“ werden schwerer Betrug,die organisierte, also die gewerbsmäßige oder banden-mäßige Begehung eines Betrugs sowie die Weitergabevon Insiderinformationen angesehen. Bei leichtfertigemSusanna Karawanskij
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Handeln ist neben der Geld- eine Freiheitsstrafe von biszu einem Jahr möglich.Gerne wäre ich an dieser Stelle auf die Kritik vonHerrn Schick eingegangen. Ich gehe davon aus, dass erseine Rede zu Protokoll gegeben hat, weil er in einemUntersuchungsausschuss sitzt. Aber er wollte wohl etwaszu Whistleblowern und den Beiträgen, die diese leisten,sagen. Ich nehme das jetzt trotzdem einmal auf. Wir sindsehr froh, dass diese Personen einen bedeutenden Beitragzur Aufdeckung verschiedener Sachverhalte leisten. Siemüssen auch geschützt werden. Durch das Gesetz wirdein nationales Whistleblower-System bei der BaFin alsMeldeplattform eingeführt. Zeitgleich regeln Änderun-gen im Börsengesetz die Einführung unternehmensspe-zifischer Hinweisgebersysteme. Die Kritik der Opposi-tion an diesen Regelungen ist allerdings ein bisschen zuweit gegangen; denn ein effektiver Schutz ist gegeben.Die mit dem Gesetz zu beschließenden Regelungen stel-len eindeutig klar, das Whistleblower, die Informationenbeispielsweise an die BaFin weitergeben, geschützt sind.Eine weitere wichtige Regelung betrifft die Finanz-vermittler. Auf dem Zweitmarkt werden sie nun auf derGrundlage des Kreditwesengesetzes auch durch die Ba-Fin beaufsichtigt. Wie Sie wissen, hätten wir das gernegenauso für den Erstmarkt geregelt. Das wäre nichtsNeues gewesen; denn das haben wir so schon beimKleinanlegerschutz geregelt. Hier konnten wir uns nochnicht durchsetzen. Wir werden aber dranbleiben. Es wer-den ja auch noch andere Diskussionen kommen. Mögli-cherweise werden wir es schaffen – das ist der sachlicheGrund –, dass die entsprechenden Anlagevermittlungendort kontrolliert werden, wo wir die höchste Kompetenzder Kontrolle und der Aufsicht vermuten, nämlich bei derBaFin.Mit Blick auf das vorliegende Gesetz bleibt festzuhal-ten, dass wir innerhalb der EU verbindliche, einheitlicheMaßnahmen umsetzen, die helfen, Marktmissbrauchkünftig zu vermeiden. Damit stärken wir den Anleger-schutz nachhaltig und fördern die Integrität der Märkte.MiFID II und MiFIR werden erst noch kommen. Wirhätten das gerne zusammen gemacht. Leider müssen wirda noch etwas warten. Aber das wird der nächste Schrittsein. 40 Regelungen haben wir bereits gemacht. 41 wer-den es nun sein. Es werden noch mehr für mehr Transpa-renz kommen.Zum Schluss. Das angekündigte Abstimmungsver-halten der Opposition, nämlich die Enthaltung, begrei-fen wir als die höchste Form des Lobs. Dafür herzlichenDank!In diesem Sinne: Glück auf!
Vielen Dank. – Da der Kollege Dr. Gerhard Schick
seine Rede zu Protokoll gegeben hat1), hat jetzt Sarah
Ryglewski, SPD-Fraktion, das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Es ist in der Tat eineetwas ungewöhnliche Situation. Der Kollege Petry undich hatten schon überlegt, ob wir quasi im Wechsel unse-re Rede vortragen, um bestimmte Punkte nachdrücklichzu unterstreichen, aber wir haben dann doch darauf ver-zichtet. Ich weiß auch nicht, ob das in der Geschäftsord-nung so vorgesehen ist.Sehr geehrte Damen und Herren! Ostern ist zwar ge-rade vorbei, aber ich möchte trotzdem einen Vergleichbemühen, der uns ein bisschen an Ostern erinnert. Wiralle kennen die schönen Überraschungseier. Wir wissenauch: Das Ei sieht auf den ersten Blick gut aus, schmecktlecker, aber wenn man das Ei ausgepackt hat, ist die Ent-täuschung oft groß. Statt des schönen kleinen Sammel-figürchens, das man sich erhofft hat, ist oft nur so einkleinteiliger Kram drin, den man mühselig zusammen-bauen muss und der beim Spielen keinen Spaß macht.Genauso ist es leider oft auch, wenn man sich aufdie Suche nach dem richtigen Finanzprodukt macht. ImGegensatz zur Kinderüberraschung handelt es sich beieiner Anlage aber nicht um ein Spiel, sondern für vieleMenschen, gerade für Kleinanleger – das habe ich auchin meiner letzten Rede deutlich gemacht –, geht es hierum existenzielle Sachen. Auch wenn ich natürlich da-von ausgehe, dass es nicht so wie bei dem berühmtensiebten Ei ist, dass also nur bei jeder siebten Anlagebera-tung ein passendes Produkt vermittelt wird, gibt es beimAnlegerschutz auf jeden Fall deutlichen Nachholbedarf.Deswegen ist es gut, dass wir hier heute dieses Gesetzverabschieden.Ich möchte gerne auch noch einmal, weil das vor-hin von Frau Karawanskij kritisiert wurde, auf die Pro-duktinformationsblätter eingehen. Es ist so, dass wirin Deutschland schon verschiedene gute Regelungengetroffen haben. Es ist aber zugleich so – das hat HerrHauer schon deutlich gemacht –, dass wir auch eine Re-gulierung auf europäischer Ebene brauchen, weil derMarkt international ist. Wir brauchen hier also EU-weitEinheitlichkeit.Ein weiterer Punkt, der noch wichtig ist, ist folgen-der: Wenn man sich die Produktinformationsblätter inder Praxis anschaut – ich habe mir neulich den Spaßgemacht –, dann stellt man fest, dass es sich bei die-sen tatsächlich wie mit den Beipackzetteln verhält, dieHerr Hauer beschrieben hat. Auch das kennen wir alle.Wir schauen uns die Beipackzettel an und verstehen dieHälfte davon nicht. In der PRIIPs-Verordnung ist ganzdeutlich geregelt, dass es eine klare und verständlicheSprache für Verbraucherinnen und Verbraucher geben1) Anlage 5Christian Petry
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soll. Das ist ein Punkt, von dem ich glaube, dass er eineechte Verbesserung darstellt. Ich will an der Stelle aberauch Wasser in den Wein gießen. Wir müssen da am Ballbleiben. Wir müssen schauen, dass das auch umgesetztwird und dass sich die verständliche Sprache nicht amAnlageberater orientiert, sondern am Endverbraucher,dem Kleinanleger.Zum Thema Finanzaufsicht wurde schon von demKollegen Petry etwas gesagt. Aber weil das ein Punktist, der uns besonders wichtig ist, möchte ich ihn kurzwiederholen. Ich verstehe nicht, warum wir dabei blei-ben, dass diese bei den Gewerbeämtern angesiedelt ist.Ich habe großes Zutrauen zu den meisten Leuten, diein einem Gewerbeamt arbeiten, aber wir haben die Ba-Fin extra mit dieser Kompetenz ausgestattet. Ich würdemir wünschen, dass wir in einem komplexer werdendenMarkt dazu übergehen, die Aufsicht bei der Institution zuverankern, wo die Kompetenz ist. Der Kollege Petry hates ja schon gesagt: Wir bleiben da am Ball.Eine Sache möchte ich gerne noch sagen: Bei der Um-setzung darf man nicht nur die Anlegerseite betrachten,sondern wir müssen auch die Seite betrachten, die dieProdukte anbietet. Deswegen war unser Vorschlag, es ge-rade bei den unverpackten Produkten kleineren Bankenleichter zu machen. Da soll der Emittent die Produkte er-stellen dürfen; die Daten sind ohnehin vorhanden.Ich weiß, ich muss zum Schluss kommen; deswegenmache ich es ganz kurz: Ich glaube, wir haben hier eingutes Gesetz vorliegen. Ich hoffe, dass wir mit diesemGesetz dazu kommen, dass der Spruch „Lass dich über-raschen!“ zwar weiterhin ein toller Werbeslogan für Kin-derprodukte, aber eben nicht für Finanzprodukte ist. Ichhoffe, dass wir da zu einem Fortschritt kommen.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Damit ist die Aussprache beendet.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Novel-lierung von Finanzmarktvorschriften auf Grund euro-päischer Rechtsakte. Der Finanzausschuss empfiehlt inseiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/8099,den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Druck-sachen 18/7482 und 18/7826 in der Ausschussfassunganzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, umdas Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratungmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthal-tung der Opposition angenommen.Jetzt bitte ich Sie noch um ein bisschen Bewegung:Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.– Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ge-setzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis indritter Lesung angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten KordulaSchulz-Asche, Uwe Kekeritz, Ulle Schauws,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENDie AIDS-Epidemie in Deutschland und welt-weit bis 2030 beendenDrucksache 18/6775Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
InnenausschussAusschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und EntwicklungNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazukeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. – Ich bitteSie, die Plätze einzunehmen.Ich eröffne die Aussprache, und das Wort hat die Kol-legin Kordula Schulz-Asche, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! EineWelt ohne Aids, ist das möglich?
Die Vereinten Nationen haben mit der Verabschiedungder globalen Nachhaltigkeitsziele der Weltgemeinschafteine höchst erstrebenswerte, aber auch höchst ambitio-nierte Vorgabe gemacht: Bis zum Jahr 2030 soll die Aids-epidemie weltweit beendet werden. Ich bin überzeugt:Mit politischem Willen, einer schlüssigen Strategie undeiner verlässlichen Finanzierung kann uns das gelingen.Immer noch ist die Erkrankung an HIV eine der größ-ten Herausforderungen für die globale Gesundheit – unddies, obwohl sie vermeidbar und behandelbar wäre. Trotzder internationalen Anstrengungen infizierten sich imJahr 2014 weltweit rund 2 Millionen Menschen neu, undes starben über 1 Million Menschen. Das, meine Damenund Herren, muss ein Ende haben.
Die Bundesregierung hat es nun endlich geschafft,eine neue nationale Strategie zur Eindämmung von HIV,Hepatitis B und C sowie anderen sexuell übertragba-ren Infektionen vorzulegen. Zur Erinnerung: Die letztestammte aus dem Jahr 2005. Die Vorgaben der internatio-nalen Gemeinschaft haben also die Maßstäbe neu gesetzt.Die Zusammenarbeit von Gesundheits- und Entwick-lungsministerium ist deshalb ein richtiger Weg. Auch denStrategien und den Prioritäten, die Sie in dieser StrategieSarah Ryglewski
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vorlegen, können wir weitgehend zustimmen. Aber bis-her ist alles nur Prosa und nicht mehr; denn ohne kon-krete Finanzierung, ohne festen Zeitplan und ohne einekritische Erfolgskontrolle werden wir eine Welt ohneAids nicht erreichen, und hier erwarten wir von der Bun-desregierung konkrete Zusagen.
Aus grüner Sicht – in unserem Antrag ist es ausführ-lich beschrieben – gibt es folgende zentrale Handlungs-felder:Ganz oben auf der Agenda steht für uns der Abbau vonVorurteilen, Diskriminierung und Stigmatisierung, nichtnur in anderen Ländern, auch in Deutschland; auch hiergibt es noch Handlungsbedarf.
Wir müssen uns noch stärker als bisher auf Aufklä-rung und Prävention konzentrieren, und zwar gemeinsammit den besonders betroffenen Gruppen, zum BeispielMännern, die Sex mit Männern haben, oder bestimmtenMigrantengruppen. Wir müssen auf zielgruppen- und al-tersspezifische Kampagnen und Angebote setzen. Gera-de bei Konzepten zur HIV-Prävention in der Suchthilfehat Deutschland im Gegensatz zu vielen anderen euro-päischen Ländern noch einen erheblichen Aufholbedarf.Auch bei den Pflegeangeboten für ältere Menschen mitHIV gibt es einen enorm wachsenden Handlungsbedarf.Frühzeitiges Wissen über die eigene Infektion und einegute Behandlung sind zentral im Kampf gegen Aids – inder Welt, aber auch hier in Deutschland. Nur wer den ei-genen Infektionsstatus kennt, kann richtig handeln undkann richtig behandelt werden.Weltweit muss mehr in die Gesundheitssysteme in-vestiert werden, in sexuelle und reproduktive Gesundheitund auch in Bildung und Aufklärung. Mehr als zwei Drit-tel der betroffenen Menschen leben in Afrika südlich derSahara, und mehr als die Hälfte davon sind Frauen. Esbesteht ein sehr enger Zusammenhang zwischen Armutund Infektionsrisiko.Meine Damen und Herren, die Lage ist nach wie vorernst, und sie geht uns alle an. Als sich Aids als Seucheentpuppte, kannte noch niemand den Erreger. Heute ge-hört HIV zu den besterforschten Viren, die es überhauptgibt. Und trotzdem gibt es bisher weder eine schützendeImpfung noch Heilung. Deswegen haben wir alle ge-meinsam bis 2030 noch sehr viel zu tun.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Jetzt hat die Kollegin Emmi Zeulner
für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Kollegen von den Grünen, Sie haben inIhrem Antrag wichtige Aspekte angesprochen und denFinger in die Wunde gelegt. Es ist tatsächlich so, dasssich 16 Ihrer 22 Forderungen in der Strategie der Bun-desregierung wiederfinden. Natürlich wünscht man sichimmer ein Mehr an Geld, aber auch Sie wissen, dassDeutschland zum Beispiel der viertgrößte Beitragszahlerim Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberku-lose und Malaria ist.Man fragt sich als Gesundheitspolitiker, wenn manzu diesem Thema spricht: Was mag die Diagnose HIVfür einen Menschen bedeuten, für die Partnerschaft, fürdie Familie, für die Freunde, für das Arbeitsumfeld? Wirkönnen die Antwort nicht geben, und die Ängste, die da-hinterstehen, können wir auch nur erahnen. Zu der Angstum die eigene Gesundheit kommt sicherlich die Sorgevor Diskriminierung und Stigmatisierung. Auch wennviele diesen Gedanken gerne weit von sich schieben, somüssen wir uns natürlich bewusst sein: Eine hundertpro-zentige Sicherheit vor dem Virus gibt es bis jetzt nochnicht.Das HI-Virus ist keine schmutzige Krankheit, dienur bestimmte Personenkreise angeht. Er kann jedenvon uns treffen. Ende 2014 lebten in Deutschland etwa84 000 Menschen mit HIV, und es gab leider 3 200 Neuin-fektionen. Deshalb stehen wir als Politiker in der Ver-antwortung, der Krankheit und ihren Begleiterscheinun-gen wirksam entgegenzutreten. Obwohl seit Ende der80er-Jahre große Anstrengungen unternommen wurden,um über HIV und Aids aufzuklären, so ist diese Krank-heit dennoch weiterhin mit Vorurteilen behaftet. Leiderwerden Infektionen mit sexuell übertragbaren Krankhei-ten von vielen immer noch als selbstverschuldet angese-hen. Es ist erschreckend, wenn Umfragen der DeutschenAIDS-Hilfe zeigen, dass jeder zehnte Betroffene schoneinmal davor zurückscheute, eine Arztpraxis aufzusu-chen, als dies nötig gewesen wäre, dass jedem Fünftenschon einmal eine medizinische Behandlung verwehrtwurde und dass jeder Vierte, der offen mit seiner HIV-In-fektion umgeht, vom Arbeitgeber diskriminiert wurde.Solche Diskriminierungen sind nicht nur unangebracht,sondern sie entbehren auch jeder rationalen Grundlage.Menschen mit einer HIV-Infektion können heute einnormales Leben führen. Aufgrund der enormen Fort-schritte in der medikamentösen Therapie müssen sie, an-ders als noch vor Jahrzehnten, nicht länger fürchten, jungan einer Begleitbagatellerkrankung zu sterben. Obwohlwir in einer aufgeklärten Gesellschaft leben, ist es somitnoch ein weiter Weg, bis Diskriminierung vollständig ab-gebaut ist.Liebe Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die Bun-desregierung ist sich den in Ihrem Antrag aufgezeigtenProblemen durchaus bewusst. Sie geht diese Problemeaktiv an, und sie schafft Lösungen. So konnten wir errei-chen, dass Deutschland zu den Ländern mit der niedrigs-ten HIV-Neuinfektionsrate in Europa zählt. Erst in dervergangenen Woche – Sie haben es angesprochen – hatdie Bundesregierung die Strategie zur Eindämmung vonKordula Schulz-Asche
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HIV, Hepatitis B und C und anderen sexuell übertragba-ren Infektionen vorgelegt. Diese Strategie begrüßen wirsehr; denn sie holt die Betroffenen ebenso wie potenziellGefährdete dort ab, wo sie stehen, und geht auf derenindividuelle Lebenssituation ein.
Sie umfasst auf nationaler Ebene fünf Handlungs-felder, die durch konkrete Maßnahmen mit Leben er-füllt werden sollen: erstens gesellschaftliche Akzeptanzschaffen, zweitens bedarfsorientierte Angebote weiterausbauen, drittens integrierte Prävention, Tests und Ver-sorgungsangebote weiterentwickeln, viertens sektorüber-greifende Vernetzung der Akteure fördern, fünftens Wis-sensgrundlage und Datennutzung weiter ausbauen.Es ist aber nicht nur unserer Gesundheitspolitik, son-dern auch mutigen Kampagnen wie „Gib Aids keineChance“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Auf-klärung zu verdanken, dass die Zahl der Neuinfektionenseit mehreren Jahren – leider auf einem leicht erhöhtenNiveau – stabil ist. Es ist auch ein Verdienst der BZgA,dass Kondome heute ein Alltagsgegenstand sind. DieseEnttabuisierung müssen wir auch für die Krankheit selbsterreichen.Zudem ist mir wichtig, den zahlreichen Selbsthilfeor-ganisationen, die unglaublich wertvolle Arbeit leisten, zudanken. Es muss für uns selbstverständlich bleiben, dassdiese ausreichend finanziell gestützt werden.Eine wichtige Säule der Versorgung bilden zudem un-sere niedergelassenen Ärzte, die sich auf die BehandlungHIV-Infizierter spezialisiert haben. Sie stellen eine hoheQualität sicher. Davon profitieren natürlich vor allem diePatienten.Es ist aber auch so, dass bei den Landärzten und auchden spezialisierten Ärzten in absehbarer Zeit ein Mangeldroht. Deswegen müssen wir Anstrengungen unterneh-men, den Nachwuchs für dieses Berufsfeld zu begeistern.Auch unsere Hausärzte, wie gesagt, stellen eine wichti-ge Säule der Versorgung dar. Deswegen wollen wir auchdort die Fort- und Weiterbildungsangebote ausbauen.Ich könnte noch sehr lange über dieses Thema reden.Aber meine Redezeit ist fast beendet. Dennoch möchteich noch einen ganz wichtigen Punkt ansprechen und bit-te deswegen um Verständnis – präventiv.
Wenn er nicht zu lang wird.
Nein. – Bei der Bekämpfung von HIV verzeichnen
wir auch Erfolge. Leider besteht in anderen Bereichen
zu Recht die Sorge, dass sich bei jungen Menschen ver-
schiedene Krankheiten verbreiten, zum Beispiel Chlamy-
dien, HPV. Es ist auch nachgewiesen, dass die Zahl der
Syphilisinfektionen zugenommen hat. Hier droht sich ein
Teufelskreis zu entwickeln. Wir dürfen nicht riskieren,
dass wir an der einen Front gewinnen und zeitgleich an
der anderen verlieren. Deswegen ist es hervorragend,
dass die Strategie der Bundesregierung einen ganzheit-
lichen Ansatz fährt und sich nicht nur auf eine Krankheit
fokussiert, sondern alle Krankheiten im Blick hat.
In diesem Sinne wünsche ich weiterhin gute Beratun-
gen.
Danke.
Vielen Dank. – Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt
der Kollege Harald Petzold.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Verehrte Kollegin-nen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher!Liebe Kollegin Zeulner, wenn es so ist, wie Sie sagen,dass 16 von 22 Punkten, die im Antrag der Grünen ste-hen, schon in der Strategie der Bundesregierung vorkom-men: Wieso können Sie dann nicht über Ihren Schattenspringen und sagen: „Das ist ein guter Antrag“?
Der Antrag beinhaltet Substanz, mit der wir gemein-sam umgehen können. Ich frage Sie dies deshalb, weilvor ein paar Tagen auf dem Frühlingsfest der DeutschenAIDS-Hilfe eine Politikerin aus Ihren Reihen mit der Eh-renmitgliedschaft ausgezeichnet worden ist, nämlich dieehemalige Bundesgesundheitsministerin Rita Süssmuth.Ihr haben wir es zu verdanken, dass wir in dieser Gesell-schaft zu einem Umdenken, was den Umgang mit HIVund Aids betrifft, gekommen sind.
Sie hat damals trotz Widerstandes in den eigenenReihen neue Methoden und vor allen Dingen ein neuesDenken durchgesetzt, die dazu geführt haben, dass wirgemeinsam diese Krankheit angehen konnten. Wir soll-ten uns daher nicht gegenseitig vorhalten: Wir sind dieGuten, und ihr könnt gefälligst mitmachen.Es sind in der damaligen Zeit im Bundestag ganz an-dere Töne zu hören gewesen. Hier denke ich an Redenvon Herrn Gauweiler, der eine Meldepflicht oder Reihen-untersuchungen für alle schwulen Männer gefordert hat.Hiervon sind wir Gott sei Dank weit entfernt, und solcheForderungen – das sage ich mit allem Respekt – wurdenauch nicht wieder vorgebracht, im Gegenteil. Das findeich auch gut so.Ich erinnere mich noch an Zeiten, als wir in den90er-Jahren in Brandenburg, in Potsdam, die AIDS-Hil-fe aufgebaut haben und uns rechtfertigen mussten, wa-rum wir für so wenige Menschen da sind. Wir hattenglücklicherweise nur eine niedrige Betroffenenrate undeine niedrige Infiziertenrate. Allerdings – Sie und auchFrau Schulz-Asche haben es gesagt – sterben leider nochEmmi Zeulner
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viel zu viele Menschen daran. Deswegen ist es dringendnotwendig, dass wir uns neu verständigen, dass wir eineneue Konzeption entwickeln.Ich finde, dass die Vorschläge, die die Grünen gemachthaben, es wert sind, dass man sie unterstützt. Es sind guteund richtige Vorschläge, und der Finger wird genau ander richtigen Stelle in die Wunde gelegt, zum Beispielbei der Frage des Nichtzugangs zahlreicher Infizierter zulebenswichtigen Medikamenten und des unzureichendenZugangs zu notwendiger spezieller und gesunder Ernäh-rung. Sie sprechen davon, dass wir natürlich – das musskritisch angemerkt werden – eingegangene Selbstver-pflichtungen mit Blick sowohl auf den internationalen alsauch auf den nationalen Bereich nicht eingehalten haben.Frau Süssmuth hat in ihrer Dankesrede eindeutig gesagt,dass wir im Moment vor der Situation stehen, dass esein Rollback gibt, weil in den letzten Jahren die Mittelfür Prävention leider zurückgegangen sind und weil wirwieder eine Zunahme von Diskriminierung haben.Warum lassen sich Menschen nicht testen? Weil sienatürlich Angst vor einem positiven Testergebnis haben.Aber vor allen Dingen haben sie Angst vor der Diskrimi-nierung, die damit verbunden ist. Mit ihr sind wir nachwie vor konfrontiert. In dem Antrag, den uns die Grünenvorgelegt haben, sind zu diesem Punkt gute Vorschlägeenthalten. Das gilt genauso für die Frage der Verleum-dung der Infektionsentwicklung vor allem in osteuropäi-schen Ländern. Das Beispiel der Ukraine, mit der wir jaimmer so hervorragend kooperieren, ist hier zu nennen.Es finden dort, was diese Frage angeht, ganz finstere Ent-wicklungen statt. Damit müssen wir uns auseinanderset-zen.Deswegen sage ich: Lassen Sie uns gemeinsam überden eigenen Schatten springen. Wenn 16 von den 22 For-derungen gut sind, kann man auch laut sagen, dass sie gutsind, und man kann sie in die Strategie mit aufnehmen.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Jetzt hat die Kollegin Mechthild
Rawert, SPD-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger!Liebe Kolleginnen der Grünen, ich bedanke mich dafür,dass dieser Antrag eingebracht wurde. Denn so habe ichauch die Gelegenheit, darzustellen, dass wir über IhreForderungen hinaus in vielen Bereichen längst auf derEbene der Handlungserfüllung angekommen sind.
Die Strategie zur Eindämmung von HIV, Hepatitis Bund C sowie anderen sexuell übertragbaren Infektionenist längst weiter, als dies Ihre Forderungen suggerieren.Mit dieser Strategie verfolgen wir einen bedarfsorien-tierten und sektorübergreifenden Ansatz, der vor allemaber integrierend wirkt. Das ist auch im Hinblick auf dieVielfalt der hier zur Debatte stehenden Erkrankungennotwendig. Das alles sind nämlich Erkrankungen, diedurch sexuelle Handlungen übertragen werden. Es istauch logisch, dass wir eine Strategie und nicht nur einenreinen Maßnahmenkatalog vorlegen. Denn auf diese Artund Weise können wir in den nächsten Jahren viele As-pekte aufgreifen.Die erste Forderung Ihres Antrages lautet, eine natio-nale Strategie zur Bekämpfung von HIV/Aids vorzule-gen. Das ist längst – nämlich am 6. April 2016 – passiert.Diese Forderung wäre damit also erledigt.Selbstverständlich ist der Abbau von Stigmatisierungund Diskriminierung ein zentrales Anliegen. Das istein zentrales Anliegen auch dieser Strategie. Auch die-se Forderung von Ihnen erfüllen wir. Schauen Sie sichbitte die Seiten 13 und 14 an. Da sind unter der Rubrik„Gesellschaftliche Akzeptanz schaffen“ konkrete Hand-lungsfelder zur Enttabuisierung, Antistigmatisierung undAntidiskriminierung benannt.Es werden weitere Maßnahmen – wie zum Beispieldas Harm-Reduction-Programm für Drogengebrauchen-de – gefordert. Ich übersetze, wofür das Ganze dienensoll: Dabei handelt es sich um Programme zur Minde-rung von Schäden bei drogengebrauchenden Menschen.Dabei geht es zum Beispiel um das Zurverfügungstellenvon sauberen Spritzbestecken. Auch solche Dinge be-rücksichtigen wir in der zugrundeliegenden Strategie.Auch prüfen wir bereits die sehr richtige Forderungnach Aktualisierung der Hämotherapieleitlinien. Dasist ja eine Forderung, über die wir in den letzten Jahrenschon gemeinschaftlich – über alle Fraktionsgrenzenhinweg – diskutiert haben. Selbstverständlich setzen wiruns auch dafür ein, dass beim Blutspenden der pauschaleAusschluss von Männern, die Sex mit Männern haben,beendet wird.
Das ist eine richtige Forderung in dem Antrag, die vonuns sehr unterstützt wird und an der wir auch arbeiten.Zu den internationalen Forderungen gehört, dass inLändern mit hoher HIV-Prävalenz eine Sexualaufklärungfür Mädchen, junge Frauen und Männer etabliert wird.Das ist richtig. Es ist auch ein Kernanliegen des deut-schen Beitrages zur internationalen HIV-Bekämpfung.Sie sehen, wir brauchen auch hier das Rad nicht neuzu erfinden. Ich würde mir sogar manches Mal wün-schen, dass die Beschlüsse, die wir im Hinblick auf in-ternationale Politik treffen, innenpolitisch leichter durch-zusetzen wären. In diesen Programmen sind wir nämlichmanchmal besser als das, was wir hier vor Ort machen.Ich könnte so fortfahren, aber die genannten Beispielesollten jetzt reichen.Insgesamt betrachtet, sind der Kampf gegen HIV/Aids,der Abbau von Stigma und Diskriminierung sowie dieMenschenrechte der Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter,der Drogengebrauchenden, der Menschen ohne Papiereund auch der gefährdeten Menschen in RisikoländernHarald Petzold
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längst auf der Tagesordnung der SPD und Bestandteilder Strategie. Wir Sozialdemokratinnen sind hier sogarVorreiterinnen: Die erste HIV/Aids-Bekämpfungsstrate-gie der Bundesregierung von 2005 kam auf Initiative derMinisterinnen Ulla Schmidt und Heidemarie Wieczorek-Zeul zustande. Der erste Aktionsplan zur Umsetzung derHIV/Aids-Bekämpfungsstrategie kam 2007 auf Initiativevon Ulla Schmidt zustande. Ehre, wem Ehre gebührt!
Wir haben uns des Weiteren für eine ausreichende Fi-nanzierung in diesem Bereich eingesetzt. Die SPD-Frak-tion hat 2015 eine Erhöhung der Mittel für die Aids-prävention und auch für Aufklärung und Forschung indiesem Bereich durchgesetzt. Diese Mittel sind im Haus-halt 2016 verstetigt worden.Die Aufklärung und die Prävention sind selbstver-ständlich in unserem Blick. Ein gutes Beispiel ist dasWebportal www.zanzu.de, ein Projekt des Familien-ministeriums und der Bundeszentrale für gesundheitli-che Aufklärung, das sich gezielt an Migrantinnen undMigranten und auch an geflüchtete Menschen wendet;denn Aufklärung tut hier not. Es ist alles richtig, was hierim Hinblick auf eine Konkretisierung der Zielgruppen-arbeit gesagt worden ist. Da haben wir sehr genau zu ar-beiten.Es kann sich durchaus sehen lassen, was wir als SPDbereits unternommen haben. Auf eines möchte ich gegenEnde meiner Rede aber noch hinweisen: Das, was dengemeinsamen Kampf gegen HIV/Aids, gegen sexuellübertragbare Erkrankungen ausgemacht hat, war einehohe Einigkeit zwischen sämtlichen Fraktionen in die-sem Haus. Diese Einigkeit hat nicht nur dazu geführt,dass wir breite Debatten geführt haben, sondern hat auchwesentlich zum Erfolg der Bekämpfung von HIV/Aidsbeigetragen.Es ist gesagt worden: Wir müssen mehr im Bereichder Prävention tun. Ja, das stimmt; denn seitdem insbe-sondere viele junge Menschen Aids als chronische Er-krankung, aber nicht mehr als Todesdrohung empfinden,kommt es wieder zu mehr Sorglosigkeit. Hier ist tatsäch-lich ein Mehr an Aufklärung zu leisten. Daran könnenwir alle uns beteiligen.In diesem Sinne: Machen wir in dieser Gemeinsam-keit im Kampf gegen HIV/Aids und andere sexuell über-tragbare Erkrankungen weiter!
Vielen Dank. – Jetzt spricht für die CDU/CSU-Frakti-
on der Kollege Dr. Georg Kippels.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zu diesem Zeitpunkt, in der Rolle als letzter Redner derDebatte und bei diesem hohen Maß an Übereinstimmungfällt es schon ausgesprochen schwer, einen kritischenUnterton in die Diskussion zu bringen.
Das ist zwar nicht unbedingt nötig. Aber ich denke, esmuss gestattet sein, sich zumindest mit den Punkten, andenen dieser doch sehr ausführliche Antrag den Kernder jetzt noch vorhandenen Problemstellungen vielleichtnicht so richtig trifft, kritisch auseinanderzusetzen.Die Überschrift des Antrags besagt, dass die Aidsepi-demie in Deutschland und weltweit bis 2030 beendetwerden soll. Gestatten Sie mir, dass ich eine internatio-nale Komponente hineinbringe, da ich mich als Mitglieddes AwZ schon seit längerem aktiv mit dieser Fragestel-lung auseinandersetzen darf und muss, was sich darindokumentiert, dass ich Mitglied des Vereins „Freundedes Globalen Fonds Europa“ bin, in dem Ihre ehemaligeKollegin, Frau Wieczorek-Zeul, als stellvertretende Vor-standsvorsitzende entscheidende Beiträge zur Fortent-wicklung der Arbeit des GFATM leistet.Zu Ihrer Frage, Herr Petzold, warum denn die CDU/CSU-Fraktion diesem Antrag nicht einfach vorbehaltloszustimmen kann, kann ich nur sagen: Man kann ebennicht vorbehaltlos zustimmen, wenn – und das ist nunleider auch wieder im Antrag der Grünen passiert – be-stimmte Fragestellungen mit Begeisterung ideologischüberzogen werden
und dadurch schon ein bisschen ein falscher Untertonin diese Debatte hineinkommt. Lassen Sie mich deshalbexem plarisch einige Punkte aufgreifen, die mit Sicher-heit sehr wichtig sind.Entscheidend ist, dass wir im Rahmen unserer Be-kämpfungsstrategie darauf abstellen, dass die nationaleSituation in einem untrennbaren Zusammenhang mit derinternationalen Situation steht.
Die Mobilität der Menschen, aber auch die Wanderungs-bewegungen aus osteuropäischen Ländern hin in denzentraleuropäischen Raum lösen wieder eine neue In-fektionsproblematik aus, die nicht nur durch Aufklärung,sondern darüber hinaus auch durch eine entsprechendeGesundheitsvorsorge bekämpft werden muss. Letztlichdarf aber nie vergessen werden, dass alle Maßnahmenauch in den Ursprungsländern ansetzen müssen; dennnur dann, wenn in den Entwicklungsländern eine Stabi-lisierung der Gesundheitssysteme stattfindet, vor allenDingen auch nachhaltig stattfindet, ist eine internationaleEingrenzung der Problematik gewährleistet.In einzelnen Punkten Ihres Antrags ist festzustellen,dass der Hinweis auf die ODA-Quote, auf die Mittelaus-Mechthild Rawerthttp://www.zanzu.de
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weisung bei der Prävention und beim GFATM sowie aufdie Forschungsmittel standardisiert auftritt. Wir solltenuns zunächst darüber Gedanken machen, an welcherStelle tatsächlich eine Mittelunterdeckung vorhanden ist.Das kann die CDU/CSU-Fraktion im Rahmen der Ana-lyse der einzelnen Titel absolut nicht feststellen. BeimGFATM sind wir immerhin der viertgrößte Geber. Beieinem Titel mit einem Volumen von 250 Millionen Europro Jahr ist – das hat die Diskussion auch ergeben – eineStrukturierung, eine Weiterentwicklung des GFATMselbst erforderlich und keine großzügige Mittelaufsto-ckung.In Ihrem Antrag sind ordnungspolitische Hinweiseim Kontext der Flüchtlingsfrage zu finden. Sie sprechenVeränderungen bei der Abschiebepraxis oder bei der Ge-sundheitsvorsorge an. Das mag inhaltlich zwar richtigsein, aber das betrifft die Zuständigkeit der Länder undKommunen. Insofern können wir gesetzgeberisch an die-ser Stelle überhaupt nicht tätig werden. Letztlich könnenwir die Länder durch entsprechende Empfehlungen nuranimieren, darüber nachzudenken. Aber bereits jetzt istbei den Abschiebungen eine entsprechende Berücksichti-gung im Rahmen der Einzelfallentscheidungen gegeben.Zum guten Schluss sei ein Hinweis zu den Pharma-firmen gestattet. Sehr geehrte Frau Schulz-Asche, auchIhnen wird wahrscheinlich – so hoffe ich doch jeden-falls – nicht entgangen sein, dass bereits zwölf Lizenzenim Patentpool hinterlegt sind und Boehringer Ingelheimzurzeit weitere Verhandlungen führt, um die Lizenzie-rung der pädiatrischen Formel von Nevirapin an den Poolweiterzugeben. Ich glaube, dass wir auf diesem Sektorhervorragende Ergebnisse erzielen werden. Ich glaubeauch, dass die Erfolge, die bis jetzt verzeichnet wordensind, absolut nicht möglich gewesen wären, wenn aus derPharmaindustrie und vor allen Dingen aus der Privatwirt-schaft nicht ganz erhebliche Beiträge geleistet wordenwären.Alle, die an diesem Thema verantwortlich arbeiten,wissen um die Dimension der Aufgabe. Sie wissen vorallen Dingen um die wissenschaftlichen Problemstel-lungen, mit denen wir uns in ganz erheblichem Umfangauseinandersetzen. Deshalb muss uns nachgesehen wer-den, dass wir dem vorliegenden Antrag in diesem Falldie Zustimmung verweigern; denn mit dem Papier derRegierung haben wir eine hervorragende Grundlage fürdie weitere Arbeit.Es wäre vielleicht ein gutes Signal gewesen, wenn Siein Ansehung des Regierungsvorschlages Ihren Antragzurückgezogen hätten. Das wäre eine geeignete Möglich-keit gewesen, großes Einvernehmen herzustellen.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Wir sind damit am Ende der Aussprache,
aber es wird heute noch nicht abgestimmt, sondern die
Fraktionen haben sich darauf geeinigt, dass die Vorlage
auf Drucksache 18/6775 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse überwiesen wird. Ich gehe davon
aus, dass Sie alle damit einverstanden sind? – Dann ist
die Überweisung so beschlossen. Wir werden das Thema
zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufrufen.
Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 16 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform
Drucksache 18/8045
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. – Ich bitte
die Finanzer, ihre Plätze einzunehmen.
Dann erhält jetzt für die Bundesregierung der Par-
lamentarische Staatssekretär Dr. Michael Meister das
Wort. – Bitte schön.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Investmentfonds sind definiert im Kapitalanlagege-setzbuch. Es gibt zwei verschiedene Arten von Invest-mentfonds. Es gibt Fonds, die sich an das breite Publikumwenden, das sind Publikums-Investmentfonds, in denensehr viele Menschen ihr Kapital anlegen. Hier weiß manaufgrund der Breite nicht, wer diese Anleger sind. Da-neben gibt es Spezialfonds, die sich an wenige Anlegerrichten, bei denen man aber genau weiß, mit wem man esim Kreis der Anleger zu tun hat.Wir haben das Investmentsteuerrecht, das die Besteu-erung dieser Fonds adressiert. Wir sehen als Bundesre-gierung Handlungsbedarf, das bestehende Investment-steuerrecht zu verändern, und zwar aus drei Gründen:Erstens. Wir glauben, dass wir es europafester machenmüssen, als es ist. Wir haben heute die Situation, dass esgewisse europarechtliche Risiken gibt, weil wir im deut-schen Investmentsteuerrecht an einigen Stellen inländi-sche und ausländische Fonds unterscheiden. Hier ist dieFrage zu stellen, ob dies am Ende des Tages, wenn Kla-gen vor dem Europäischen Gerichtshof eingereicht wür-den, tatsächlich Bestand hätte. Kollegen in Frankreichund Polen haben an dieser Stelle schlechte Erfahrungengemacht. Wir wollen dafür sorgen, dass unser Rechtrechtzeitig so EU-rechtsfest ist, dass es auch bei entspre-chenden Klagen Bestand hat. Daher plädieren wir andieser Stelle für eine Gleichbehandlung von inländischenund ausländischen Investmentfonds. Ich glaube, dass dasein vernünftiger Ansatz ist, meine Damen und Herren.
Zweitens hat insbesondere im Bereich der Publi-kums-Investmentfonds unser Investmentsteuerrecht heu-Dr. Georg Kippels
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te eine sehr große Komplexität. Wenn Sie in diesem Zu-sammenhang eine Besteuerung für ein Jahr durchführenwollen, dann müssen Sie 33 Parameter angeben, um IhreSteuererklärung abzugeben. Wir schlagen jetzt vor, dasswir im Bereich der Publikums-Investmentfonds einenWeg gehen, der die Anzahl der Besteuerungsgrundlagenfür die Anleger deutlich reduziert, indem wir in Zukunftnur noch vier Parameter abfordern, nämlich Angaben zuden Fragen: Was ist der Fondsanteil zum Jahresbeginnwert? Welchen Wert hat er am Jahresende? Wie hochist die Ausschüttung an den Anleger, und um welchenFondstyp handelt es sich?Ich glaube, das ist immer noch nicht einfach, aber esist wesentlich einfacher als das, was wir bisher im Be-reich des Investmentsteuerrechts haben. Deshalb werbenwir ein Stück weit für diesen Vereinfachungsansatz.Bei den Fonds entstehen heute Kosten in Höhe vonetwa 50 Millionen Euro allein für das Administrieren derBesteuerung. Dieses Geld, das man heute für die Verwal-tung der Besteuerung aufwendet, geht den Anlegern alsErtrag verloren. Deshalb kommt, so glaube ich, über dieVereinfachung auch den Anlegern etwas zugute.
Der dritte Punkt, der uns umtreibt, richtet sich eheran die Spezialfonds, bei denen wir es mit institutionellenAnlegern zu tun haben. Hier haben wir die Vermutung,dass an der einen oder anderen Stelle Investmentfondsgenutzt werden könnten, um Steuergestaltung zu betrei-ben. Daher ist unser Anliegen, diese Gestaltungsoptionenso weit als möglich zu reduzieren.Ich will als ein Beispiel das Thema Kopplungsge-schäfte ansprechen, bei denen man auf der einen Seiteversucht, Veräußerungsgewinne aus Aktien zu erzielen,und auf der anderen Seite, Verluste aus Termingeschäf-ten zu organisieren. Die Veräußerungsgewinne aus Akti-en sind steuerfrei, wenn es sich um Streubesitz handelt.Umgekehrt kann man aus Termingeschäften Verlustemachen, und die Verluste können steuerlich anerkanntbzw. geltend gemacht werden. Wenn man diese Geschäf-te gegenläufig organisiert, kann man aufgrund der steu-erlichen Vorteile quasi Geld organisieren. Wir sind derMeinung, dass diese Gestaltungsoption künftig ausge-schlossen sein sollte.
Ein weiterer Weg sind die sogenannten Cum/Cum-Ge-schäfte, bei denen man um den Dividendenstichtag he-rum seine Anteile veräußert und dann dafür sorgt, dassdie Dividendenausschüttung nach Möglichkeit bei je-mandem erfolgt, der die Dividenden steuerfrei beziehenkann. Direkt nach dem Dividendenstichtag wird der An-teil wieder bezogen, und man kann dann dafür sorgen,dass diese nicht abgeführte Besteuerung der Dividendezwischen den beiden Vertragspartnern ordentlich geteiltwird.Das ist auch heute nicht zulässig, wenn es als solchesidentifiziert werden kann, wenn man also feststellenkann, dass ein solches Geschäft gemacht worden ist, ohnedass das wirtschaftliche Risiko übergegangen ist, nur umSteuergestaltung zu betreiben. Aber das ist schwer fest-stellbar. Deshalb haben wir an dieser Stelle gesagt: Wirnehmen Anleihe am Beispiel USA und Australien, dieeine feste Zeit um den Dividendenstichtag herum ver-langen, zu der die Aktie in Besitz sein muss, wenn mandie Dividende beziehen will und diese Möglichkeit, denVeräußerungsgewinn sozusagen gegenzurechnen, nutzenwill. Ich glaube, dass wir das mit diesem Ansatz für dieFinanzverwaltung erkennbarer machen und damit dafürsorgen, dass diese Geschäfte in Zukunft unterbleiben.Abschließend will ich noch die Bemerkung machen,dass wir nicht alles vollständig ausschließen. Das liegtdaran, dass wir die Veräußerungsgewinne aus Streubesitznicht steuerpflichtig machen. Dabei haben wir allerdingsein doppeltes Anliegen: Wir wollen junges Wagniska-pital nicht treffen, aber die Veräußerungsgewinne imAllgemeinen schon. Da wir für diese Frage noch keineEU-rechtskonforme Lösung haben, haben wir in diesemGesetzentwurf leider keinen Vorschlag dazu machenkönnen; aber wir suchen weiter nach einer Lösung, diediese beiden Ziele zusammenbringt.Ich würde mich freuen, wenn das sachkundige Publi-kum hier zu einer guten Beratung dieses Gesetzentwurfskäme.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Sachkundig macht jetzt der Kollege
Richard Pitterle für die Fraktion Die Linke weiter.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kol-leginnen und Kollegen! Liebe Besucher auf der Besu-chertribüne! Erst vor einigen Tagen hat der bayerischeMinisterpräsident meinem Fraktionskollegen MatthiasW. Birkwald beigepflichtet, der im Bundestag gebets-mühlenartig die Absenkung des gesetzlichen Rentenni-veaus als Fehler bezeichnet. Wenn Seehofer des Weiterenerkannt hat, dass die Riester-Rente gescheitert ist, hat erausnahmsweise richtig recht.
Bekanntlich hat die rot-grüne Koalition mit der Ren-tenanpassungsformel das Niveau der gesetzlichen Renteabgesenkt und die Bürger stattdessen aufgefordert, selbstfür das Alter zu sparen.
– Ich komme schon noch zum Thema. Keine Angst, lie-ber Kollege.
Ein Fünftel der deutschen Haushalte ist dieser Auffor-derung gefolgt, indem sie ihr Geld in Investmentfondsangelegt haben. Die Besteuerung dieser Fonds soll mitParl. Staatssekretär Dr. Michael Meister
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dem vorliegenden Gesetz – das haben wir ja gehört – ge-ändert werden. Man will, wie es in der Begründung desGesetzentwurfs heißt, Steuervermeidungsmodelle, die indiesem Bereich besonders gehäuft vorkommen, verhin-dern. Gegen diesen Ansatz wird niemand etwas haben,selbst die Linke nicht, insbesondere wenn man bedenkt,dass sich allein seit 2008 das Volumen des in deutschenFonds verwalteten Vermögens auf fast 1,8 Billionen Euroverdoppelt hat.Aber ich frage mich angesichts der Tatsache, dassbereits 2011 an einer umfassenden Reform gearbeitetwurde, warum der selbst nach Angaben der Regierung –Zitat – „gehäuften Steuervermeidung“ fünf Jahre langtatenlos freie Hand gelassen wurde.
Nun ließe sich einwenden: Lieber spät als nie. Ich habejedoch ernsthafte Zweifel, dass die von Ihnen vorgege-benen Ziele erreicht werden. Die Reform soll das steuer-liche Gestaltungspotenzial eindämmen. Doch sie betrifftnur Fonds von der Stange, also diejenigen, die von Pri-vatanlegern genutzt werden. Mit Privatanlegern meineich zum Beispiel die Arbeitnehmer, die das hart erarbei-tete Geld zur Altersvorsorge angelegt haben. Bei den fürSuperreiche und institutionelle Anleger maßgefertigtenSpezialinvestmentfonds, bei denen zwei Drittel des ver-walteten Vermögens liegen, bleibt es beim Alten. FürFonds also, die von Anlageprofis eingerichtet und genutztwerden, bleibt es bei den Regelungen, die Steuervermei-dungen erst ermöglichen. Wenn man an die Briefkästenin Panama oder an die beim Aktienhandel verschenktenSteuermilliarden, die wir jetzt sogar in einem Untersu-chungsausschuss – Cum/Ex – hier im Bundestag untersu-chen müssen, denkt, dann erscheint die Begründung desGesetzentwurfs mehr als naiv, nach der bei diesen Spezi-alfonds nichts geändert werden müsse. Ich zitiere aus derBegründung des Gesetzentwurfs, wonach – Zitat – „dieEinhaltung von sehr komplexen Besteuerungsregelun-gen“ gewährleistet werden könne.Was ändert sich nun für den Privatanleger? KritischeUntersuchungen gehen von einer erheblichen Steuerer-höhung aus. Was ändert sich für die Reichen und Super-reichen? Nichts. Welche Fortschritte gibt es beim Kampfgegen Steuervermeidung? Keine.
Damit nicht genug. Im jetzigen Gesetz schlummerndurch den Verstoß gegen das Europarecht Milliarden-risiken durch Steuerrückforderungen. Wie reagiert derBundesfinanzminister auf die Mahnungen des Bundes-rechnungshofs? Dazu – so heißt es – hat das BMF eine„andere Meinung“ – also gar keine.Zumindest eine Änderung erscheint auf den erstenBlick zielführend: Dem Missbrauch von Steuererstat-tungen auf Dividenden mit sogenannten Cum/Cum-Ge-schäften soll der Boden entzogen werden. Ob das stimmt,werden wir in den Beratungen sehen.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Dann erhält jetzt der Kollege Lothar
Binding, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht zunächsteine Bemerkung zu den Ausführungen von RichardPitterle.
– Teile waren gut, es gab auch Teile, die weniger gut wa-ren, und es gab Teile, die waren ganz schlecht. Das istklar. – Was ich sagen wollte, ist, dass mit solchen Refor-men eben auch das Ziel einer sicheren und stabilen Al-tersvorsorge erreicht werden soll. Es ist völlig klar, dassbei der privaten kapitalgedeckten Altersvorsorge Risikenauftauchen, um die wir uns kümmern müssen. Auch dastun wir mit der heutigen Reform. Außerdem war es nieso gedacht, dass die Riester-Rente ein Ersatz für die ge-setzliche Altersvorsorge ist. Die Idee war, eine kleine Lü-cke von wenigen Prozenten auszugleichen. Insofern ist,glaube ich, die Wirkmächtigkeit deiner Aussage relativniedrig.
Die Behauptung, dass es eine Steuererhöhung für diekleinen Leute gibt, ersetzt auch nicht den Beweis die-ser Aussage. Das müsste noch gezeigt werden. Wer hiernachrechnet, kommt auf eine Größenordnung von etwa3 Euro. Wir schauen uns das später genauer an.Der Anlass dieser Reform – das hat Herr Dr. Meistervorgetragen; das hatten wir damals schon einmal bei derKörperschaftsbesteuerung im Vollanrechnungsverfahrenin unserem Trennungssystem mit der Vorbelastung in derKörperschaft und der Steuerzahlung desjenigen, der dieDividende bekommt – ist die Unterscheidung zwischeninländischen Fonds und ausländischen Fonds, bei denenes eine Dividende gibt. Im inländischen Fall ist sie vonder Steuer befreit, im ausländischen Fall wird sie besteu-ert. Das ist der klassische Fall des Verdachts, dass es eu-roparechtswidrig ist. Deshalb ist die Reform notwendig.Es gibt noch mehr Notwendigkeiten. Denn unser jet-ziges System – ich glaube, Sie haben das ausgeführt – isthochgradig gestaltungsanfällig; das muss man sagen. Wirhaben dafür ja auch ein paar Belege. Es dient bei vielender Steuerverkürzung. Wir haben im Moment sogar einenCum/Ex-Untersuchungsausschuss; auch das spielt hiernatürlich eine Rolle. Es gibt auch Cum/Cum-Geschäfte.Sie haben die Kopplungsgeschäfte erwähnt. Deshalb sa-gen wir: Diese Reform ist gut, um diesen Gestaltungenzu begegnen. Es ist ja ein allgemeiner Grundsatz, dasswir Steuergestaltungen grundsätzlich bekämpfen wollen.Nun reden wir ja viel über Briefkastenfirmen, Off-shore firmen. Wir haben gerade etwas über Panama gehört.Es ist gut, dass wir gleichzeitig die Gestaltungsmöglich-Richard Pitterle
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keiten, die im eigenen Land existieren, nicht vergessen.Insofern gefällt uns die Reform im Grundansatz sehr gut.Nun klingt sie sehr harmlos. Aber wir haben geradegehört, dass es um eine Größenordnung von etwa 2 Billi-onen Euro geht, um Vermögen in Höhe von 2 000 Milli-arden Euro. Die Bundesbank sagt 1,7 Billionen, die Bran-che spricht von 2,5 Billionen. Wir merken jedenfalls:Egal was für Erträge es dort gibt, sie müssen exorbitanthoch sein; schließlich reden wir über mehrere 1 000 Mil-liarden. Deshalb ist es klug, sich um dieses Vermögen zukümmern, indem wir die Anlageformen EU-rechtsstabilmachen, den administrativen Aufwand verringern undnatürlich die Gestaltungsanfälligkeit bekämpfen. Daswaren die drei Hauptpunkte, die auch Sie vorgetragenhaben. Wir glauben, dass das gut funktioniert.Der bürokratische Aufwand kommt übrigens durchein eigentlich gutes Ziel zustande. Wir hatten gesagt: DieDirektanlage und die Anlage über einen Fonds wollenwir gleich behandeln. Also, ob jemand eine Aktie kauftoder ob er das sozusagen über einen Fonds macht, darfeigentlich keinen Unterschied machen. Das Dumme ist:Aus diesem guten Ziel ergeben sich große Probleme.Denn durch das Prinzip der steuerlichen Transparenz –das heißt, der Fonds wird nicht besteuert, sondern derFiskus guckt durch den Fonds und, so war die Idee, derAnteilseigner soll letztendlich besteuert werden – war esnötig, dass mehr als 30 Besteuerungsgrundlagen ermitteltund administriert werden müssen. Das ist sowohl für dieFondsverwalter als auch für die Bürger eigentlich nichtseriös zu administrieren. Deshalb ist es gut, wenn wir et-was dagegen tun.Jetzt will ich noch einen Satz zu Cum/Cum-Geschäf-ten sagen. Ich glaube, keiner, der im Publikum sitzt,weiß, was das ist. Stellen wir uns einen Steuerausländer,etwa einen Franzosen, vor, der eine Aktie an eine deut-sche Bank verkauft, und zwar kurz vor dem Dividenden-stichtag. Dann erhält die Bank, weil sie die Aktie ja mitDividende gekauft hat, die Dividende und zahlt, wie essich gehört, auch zunächst Kapitalertragsteuer.Allerdings kauft der Steuerausländer wenige Tagenach dem Stichtag der Dividendenauszahlung die Aktievon der Bank zurück, und zwar zu einem niedrigerenKurs – das ist ja klar, weil kein Anspruch auf Dividendemehr existiert –, mit dem sogenannten Dividendenab-schlag. Der Steuerausländer erzielt also statt Dividendeeinen Veräußerungsgewinn. Dieser Veräußerungsgewinnist in Deutschland – Sie sagten: Streubesitz – steuerfrei.Hier haben wir einen Dissens, weil wir der Meinung sind,die steuerliche Behandlung von Dividenden und Veräu-ßerungsgewinnen sollte unbedingt gleichgestellt werden.Es geht übrigens immer noch um eine Flasche Sekt, diederjenige bekommt, der eine europarechtskonforme Lö-sung für dieses Problem findet. Es ist jeder aufgerufen,sich diese Flasche Sekt zu verdienen.Die inländische Bank erhält also die Nettodividendeplus einer Steuergutschrift für die Kapitalertragsteuer. Dasie durch den Verkauf der Aktie allerdings einen Verlusterleidet – weil ohne Dividende –, heben sich Dividenden-ertrag und Veräußerungsverlust auf. Im Ergebnis hat derFiskus nichts. Das heißt, den Gewinn aus der gespartenSteuer teilen sich der Steuerausländer und die Bank. Ge-nau diesem Umstand, dass sich eine Bank und ein Steu-erausländer die in Deutschland gesparte Steuer aufteilen,wollen wir mit diesem Gesetz begegnen. Insofern ist dieim Gesetz vorgesehene Regelung, wie ich finde, eine sehrgute Idee, allerdings mit dem Malus, dass wir nach wievor eine unterschiedliche Besteuerung von Dividendeund Veräußerungsgewinn haben. Diesen Zustand mussman sicherlich noch überwinden.Die Lösung ist letztendlich: Wir gehen in ein intrans-parentes System. Das bedeutet: Auf Fondsebene werdendie Erträge besteuert, in diesem Fall mit 15 Prozent Vor-belastung auf alle dortigen Erträge. Dann ist es möglich,dass inländische und ausländische Fonds gleichbehandeltwerden. Damit ist das Europarechtsproblem gelöst.Dass wir für gemeinnützige Anleger und Altersvorsor-geverträge Ausnahmen vorsehen, ist sicherlich eine sehrgute Sache. Dass diese Vorbelastung auf Fondsebeneletztendlich durch eine Teilfreistellung bei der Ausschüt-tung kompensiert wird, ist nicht mehr als fair. Denn mitdiesem Gesetz wollen wir nicht die Steuer anheben, son-dern die anderen genannten Ziele erreichen.Wenn wir dieses Gesetz beurteilen, dann könnenwir feststellen, dass wir das Ziel der Vereinfachung er-reichen, der Gestaltungsanfälligkeit begegnen und eseuroparechtskonform machen. Dass wir über die Höheder Teilfreistellung noch diskutieren müssen, ergibt sichvielleicht auch daraus, dass wir beobachtet haben, dassdie Prozentsätze im Vergleich zum Diskussionsvorschlagdurchweg angehoben werden. Hier gibt es sicherlichnoch einiges zu rechnen, aber wir finden einen gutenKompromiss.Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Da der Kollege Dr. Gerhard Schick
seine Rede zu Protokoll1) gegeben hat, erhält jetzt als
letzter Redner in der heutigen Debatte der Kollege Fritz
Güntzler für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Ich glaube, das war ich auch gestern schon, wenn ich
das richtig erinnere.
Ja, vielleicht. Es kommt also immer zu einem guten
Abschluss.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wir beraten, wie gesagt, inerster Lesung das Gesetz zur Reform der Investmentbe-1) Anlage 6Lothar Binding
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steuerung. Das ist etwas für die Feinschmecker des deut-schen Steuerrechts. Das ist Steuerrecht am Hochreck,wie manche gesagt haben. Von daher freue ich mich aufdiese Beratung.Das Investmentsteuergesetz, so wie wir es jetzt vor-finden, gibt es seit 2003. Wir haben im Rahmen desAIFM-Steuer-Anpassungsgesetzes im Jahre 2013 unddes Finanzmarktanpassungsgesetzes im Jahre 2014 be-reits einige Regelungen angepasst und Reformen durch-geführt. Nun gibt es diese umfassende Reform.Zweck des Investmentsteuerrechts – der Lex specialis,die allen anderen steuerlichen Regelungen vorgeht – istdie Gleichstellung der Direktanlage mit der kollektivenAnlage über einen Investmentfonds. Man will also er-möglichen, dass man sich über einen Investmentfonds anetwas beteiligt, an dem man sich sonst nicht beteiligenkönnte, dass man steuerlich aber nicht schlechter gestelltwird als derjenige, der sich unmittelbar daran beteiligenkann.Man fragt sich: Hat dieses Gesetz eigentlich eine Be-deutung? Wenn man einmal ein bisschen näher hinschaut,stellt man fest: Es hat schon eine erhebliche Bedeutung.Viele wissen es gar nicht, weil sie ihre Dividende vonder Bank bekommen und den entsprechenden Wert danneinfach in die Anlage KAP der Steuererklärung eintra-gen. Es gibt immerhin 50 Millionen Anleger in Invest-mentfonds in Deutschland. Davon sind 15 MillionenBürgerinnen und Bürger. Die restlichen Anleger sindinstitutionelle Anleger. In Investmentfonds sind 2,2 Bil-lionen Euro investiert. Circa 40 Prozent davon befindensich in den sogenannten Publikums-Investmentfonds, dieder breiten Öffentlichkeit zur Verfügung stehen. Der Restliegt in die sogenannten Spezial-Investmentfonds. Mansieht: Die Investmentfonds und damit auch die Besteue-rung ihrer Erträge haben eine große Bedeutung. Folglichist auch diese Reform bedeutend, bedeutender als man-che glauben.Wir diskutieren dieses Thema ja schon recht lange.Diesem Gesetzentwurf ist ein recht langes Beratungs-verfahren vorangegangen. Es begann mit der Länder-finanzministerkonferenz im Jahre 2011. Danach berieteine Arbeitsgruppe der Vertreter des Bundes und derLänder. Das Ganze ging dann über in ein Gutachten, dasdas Bundesfinanzministerium in Auftrag gegeben hat,um die volkswirtschaftlichen Auswirkungen der Umset-zung dieser Reformvorschläge einmal zu untersuchen.Die Gutachter sind damals zu dem Ergebnis gekommen,dass durch die Umsetzung der Reformvorschläge keinenegativen Auswirkungen auf den Kapitalmarkt, den Fi-nanzstandort oder die Altersvorsorge in Deutschland zuerwarten sind.Insofern ist es gut, dass uns jetzt ein Gesetzentwurfvorliegt. Vergleicht man ihn mit dem zunächst zur Dis-kussion gestellten Entwurf, stellt man die Fortentwick-lung fest. Ich finde, dieser Gesetzentwurf ist von Stufezu Stufe besser geworden. Vielleicht kann er durch dieparlamentarischen Beratungen noch besser werden. Ichglaube, wir sind da auf einem sehr guten Weg.
Was soll erreicht werden? Es ist mehrfach angespro-chen worden: Es geht darum, EU-rechtliche Risiken zuvermindern. Diese Risiken sind erheblich. Sie kommendadurch zustande, dass wir ausländische und inländi-sche Fonds unterschiedlich behandeln. Es könnten Mil-liardenforderungen gegenüber dem Fiskus entstehen.Daher ist es richtig, dass wir hier handeln. Es geht aberauch um aggressive Steuergestaltung, ein Thema, dasuns hier ständig betrifft. Diese Steuergestaltung wollenwir verringern. Es geht natürlich auch um Verwaltungs-und Steuererhebungsvereinfachung. Es ist bereits ange-sprochen worden, dass über 30 Besteuerungsmerkmaleerfasst werden müssen, um eine gerechte Besteuerungdurchzuführen. Das soll einfacher werden.Ich glaube, es ist richtig – es ist mehrfach angespro-chen worden –, dass wir jetzt eine Regelung zu den so-genannten Cum/Cum-Geschäften anstreben. Der Cum/Ex-Untersuchungsausschuss hat heute eine öffentlicheAnhörung durchgeführt. Es ist schon deutlich gewor-den, dass Cum/Cum-Geschäfte das nächste Problem seinkönnten, wenn wir nicht reagieren. Daher ist es richtig,dass wir hier reagieren.Nur ein Hinweis, Herr Kollege Binding: Das Problemim Zusammenhang mit den Veräußerungsgewinnen – Siehaben in Ihrem Beispiel ja sehr schön geschildert, wasCum/Cum-Geschäft heißt – ist nicht der Streubesitz,sondern es besteht darin, dass die Veräußerungsgewinnenach dem DBA grundsätzlich im Ausland zu versteuernsind. In Ihrem Beispiel wären sie in Frankreich zu ver-steuern gewesen. Ich finde es legitim, dass Sie versuchen,dieses Thema auf allen Wegen anzugehen. Aber in die-sem Punkt waren sie steuerlich fehlgeleitet.
– Okay.Ich finde gut, dass wir jetzt ein System für Publi-kums-Investmentfonds haben, in dem es auf der Fonds-ebene eine Erstbelastung von 15 Prozent gibt. Das mussauf der Anlegerebene Berücksichtigung finden. Das wer-den wir durch Freistellungsregelungen gewährleisten. Esgeht um die Freistellung von 30 Prozent der Gewinne beider Veräußerung von Aktienfonds und von 60 Prozentder Gewinne bei der Veräußerung von Immobilienfonds.Herr Binding, diese Werte sind tatsächlich größergeworden; die Freistellung muss ja auch funktionieren.Wenn wir sagen, dass wir wieder erreichen wollen, dassdie Anleger von einer Vorbelastung freigestellt werden,dann brauchen wir Prozentsätze in dieser Höhe. Das kannman rechnerisch nachweisen.Ich glaube, dass es ein guter Gesetzentwurf ist. Bezüg-lich der Cum/Cum-Geschäfte glaube ich, dass wir einegute Lösung gefunden haben. Über sie werden wir nochweiter diskutieren. Nach dem Vorbild aus Australien undden USA sieht die Regelung vor, dass die Kapitalertrag-steueranrechnung dann ausgeschlossen ist, wenn derSteuerpflichtige innerhalb eines Zeitraums von 45 Tagenvor und 45 Tagen nach der Fälligkeit der KapitalerträgeFritz Güntzler
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2016 16215
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weniger als 45 Tage wirtschaftlicher und zivilrechtlicherEigentümer der Aktien ist.Ich bin auch sehr froh – das sage ich ausdrücklich –,dass das Thema Veräußerungsgewinne – Sie haben es imZusammenhang mit dem Streubesitz schon angespro-chen – vom Tisch ist. Nachdem wir das Anrechnungs-verfahren in der Körperschaftsteuer abgeschafft haben,macht die Steuerbefreiung nach § 8 b Körperschaftsteu-ergesetz Sinn. Wir brauchen diese Freistellung, weil essonst zu Kaskadeneffekten, zu mehrfachen Belastungenkommt. Insofern ist es systematisch ein Fehler gewesen,dass wir die Dividenden bei Streubesitz besteuern. Es hateine umfassende Diskussion darüber stattgefunden, obdiese Besteuerung sinnvoll ist oder nicht. Systematischist sie eigentlich falsch.Wenn man systematisch schon einmal einen Fehler ge-macht hat, dann stellt sich die Frage, ob es sinnvoll ist,noch einen weiteren systematischen Fehler zu machen.Ich bin sehr froh, dass sich die Regierung entschieden hat,diesen Punkt, der in Diskussions- und Referentenentwür-fen noch enthalten war, aus dem Gesetzentwurf heraus-zunehmen. Ich glaube, das Ganze ist eine kluge Lösung.Ich freue mich auf die bestimmt intensiven Beratun-gen eines komplexen steuerrechtlichen Themas. Sie wer-den für alle Fachleute eine Herausforderung sein. Wirwerden mit Begeisterung die Diskussion darüber führen.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Ich gehe davon aus, dass Sie damit
einverstanden sind, dass der Gesetzentwurf auf Druck-
sache 18/8045 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse überwiesen wird, so wie es die Fraktionen
vereinbart haben. – Ich sehe auch keine anderen Vor-
schläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur
Änderung arzneimittelrechtlicher und ande-
rer Vorschriften
Drucksache 18/8034
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) –
Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind und bitte
auch hier um die Zustimmung, dass der Gesetzentwurf
auf Drucksache 18/8034 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse überwiesen wird. – Ich sehe keine
anderen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aktu-
alisierung der Strukturreform des Gebühren-
rechts des Bundes
Drucksache 18/7988
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Haushaltsausschuss
Auch hier sollen die Reden zu Protokoll gegeben
werden.2) – Ich sehe auch hier, dass Sie damit einverstan-
den sind. Dann müssen wir noch die Überweisung des
Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/7988 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse beschließen. – Sie
sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so
beschlossen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung für morgen, Freitag,
den 15. April 2016, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen allen
noch einen schönen Restabend.