Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz . Die Sitzung ist eröffnet .
Ich begrüße Sie alle herzlich, liebe Kolleginnen und
Kollegen, freue mich über die ausnehmend gute Stim-
mung vor dem Aufruf des ersten Tagesordnungspunktes
und hoffe, dass uns die über den gesamten Tag begleitet .
Ich sehe eine gewisse Chance, dass bei der ersten Mittei-
lung die Stimmung mindestens stabil bleibt, wenn nicht
weiter gesteigert wird, wenn ich dem Kollegen Heinz
Riesenhuber herzlich zu seinem 80 . Geburtstag gratu-
liere, den er vorgestern gefeiert hat .
Es kommt nicht häufig vor, dass wir hier im Haus einen
80 . Geburtstag feiern können, und es kommt auch nicht
allzu häufig vor, dass Geburtstage mit einer solch erkenn-
bar demonstrativen Sympathie aller anwesenden Kolle-
ginnen und Kollegen begangen werden .
Alle guten Wünsche für die nächsten Jahre .
Dann ist es mir eine besondere Freude, dass ich auf der
Ehrentribüne eine Delegation der Knesset unter Vorsitz
des Knesset-Präsidenten Yuli Edelstein begrüßen darf .
Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und
Kollegen, wir hatten in den beiden vergangenen Tagen
in vielen Begegnungen und Gesprächen die Gelegenheit,
wechselseitig die herausragende Bedeutung der Bezie-
hung zwischen unseren beiden Ländern zu bekräftigen
und dies gleichzeitig mit konkreten Vereinbarungen zur
weiteren Intensivierung der Zusammenarbeit unserer
beiden Parlamente zu verbinden . Wir bedanken uns aus-
drücklich für Ihren Besuch und die Art und Weise, in der
Sie mit uns gesprochen haben . Wir freuen uns auf die
weitere Zusammenarbeit .
Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, nach dem
Tagesordnungspunkt 15 als Zusatzpunkte die Beratung
der Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/6909 zu
dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung von Be-
stimmungen des Rechts des Energieleitungsbaus so-
wie danach die Beratung der Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/6910 zu dem Entwurf eines Gesetzes zur
Neuregelung des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes mit
einer Debattenzeit von jeweils 25 Minuten aufzurufen .
Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratungen
abgewichen werden . Der Tagesordnungspunkt 8 – hier
geht es um die abschließende Beratung des Entwurfs des
Vergaberechtsmodernisierungsgesetzes – soll abgesetzt
werden . Die Tagesordnungspunkte der Koalitionsfrak-
tionen rücken entsprechend vor . Des Weiteren soll der
Tagesordnungspunkt 25 abgesetzt werden; hier geht es
um die Unterrichtung der Bundesregierung zur technolo-
gischen Leistungsfähigkeit Deutschlands 2015 . Sind Sie
mit diesen Änderungen einverstanden? – Das ist offen-
sichtlich der Fall . Dann ist das so beschlossen .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf:
a) Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über den Stand der Entwicklung des
Tierschutzes 2015
Drucksache 18/6750
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Ernährung und
Landwirtschaft zu dem Antrag
der Abgeordneten Nicole Maisch, Friedrich
Ostendorff, Steffi Lemke, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Tierschutz ernst nehmen – Tierleid verhin-
dern
Drucksachen 18/2616, 18/3107
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 77 Minuten vorgesehen . – Das scheint
allgemein auf Zustimmung zu stoßen . Dann können wir
so verfahren .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201513932
(C)
(D)
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
zuständigen Bundesminister, Christian Schmidt .
Christian Schmidt, Bundesminister für Ernährung
und Landwirtschaft:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vorweg sei mir eine Bemerkung gestattet . 25 Jahre nach
dem Tag der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl,
bei der einige, die hier im Saale sitzen, bereits gewählt
worden sind –
und zwar du, lieber Volker, lieber Herr Alterspräsident
Riesenhuber, der Präsident des Deutschen Bundestages
und einige andere, mich eingeschlossen –, will ich sagen:
Es ist doch wunderschön, dass wir seit 25 Jahren ein ge-
meinsames Parlament haben und es zwischenzeitlich fast
vergessen, dass es am 2 . Dezember 1990 so weit war . –
Hier fehlt der Applaus .
Herr Minister, ich möchte mich ungern darauf einlas-
sen, dass die Regierung demnächst den Applaus bestellt,
und noch weniger darauf, dass das Parlament diesem Ap-
pell bereitwillig folgt .
Christian Schmidt, Bundesminister für Ernährung
und Landwirtschaft:
Sehr verehrter Herr Präsident, ich bitte um Entschul-
digung, dass ich nicht erkennbar gemacht habe, dass
diese Passage die des Bundestagsabgeordneten Christian
Schmidt war und dass er als Mitglied dieses Hauses diese
Möglichkeit nutzen wollte .
Ich freue mich im Übrigen in gleicher Weise darü-
ber, dass wir hier eine Delegation der Knesset begrü-
ßen dürfen . Als langjähriger Vorsitzender der Deutsch-
Israelischen Parlamentariergruppe freue ich mich sehr
darüber . Ich weiß, dass wir auch in dem Themenbereich,
über den wir hier sprechen, erhebliche Potenziale für eine
Zusammenarbeit haben . Diese Zusammenarbeit haben
wir anlässlich des Jubiläums – 50 Jahre diplomatische
Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern – ver-
stärkt und mit einigen Projekten untermauert . Ich freue
mich auf eine weiterhin gute Zusammenarbeit mit dem
Staat Israel und seinen Repräsentanten .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Der zwölfte Tierschutzbericht, den die Bun-
desregierung im November vorgelegt hat, ist Zwischen-
bilanz und Auftragsbuch für die Zukunft . Der Berichts-
zeitraum erstreckt sich auf die Jahre 2011 bis 2014, in
die die Novellierung des Tierschutzgesetzes und die In-
itiative „Eine Frage der Haltung – neue Wege für mehr
Tierwohl“ fallen . Ich habe hierüber zu berichten .
Es ist festzustellen, dass der Tierschutz erhebliche
Fortschritte gemacht hat, wenngleich noch manches
zu tun bleibt . Das Staatsziel Tierschutz, wie es in Arti-
kel 20 a unseres Grundgesetzes verankert ist, ist dabei
Leitlinie . Tiere als Mitgeschöpfe zu sehen, denen wir im
Hinblick auf ihre Bedürfnisse, auf Haltungsformen etc .
gerecht werden müssen, das ist die Daueraufgabe, die
sich wie ein roter Faden durch die Politik der Bundesre-
gierung zieht .
Dem Tierschutz kommt bei jeder Abwägung Gewicht
zu . Tierschutz ist keine Aufgabe, die man einmal als er-
ledigt abhaken kann . Tierschutz muss täglich mit Leben
gefüllt werden: bei politischen Entscheidungen, in den
Ställen, an der Ladenkasse oder zu Hause, bei der Für-
sorge für die Heimtiere . Diese gesamtgesellschaftliche
Aufgabe ist eine Grundlage für die politische Herange-
hensweise . Ziel muss es sein, die Tierhaltung in unse-
rer Gesellschaft so fortzuentwickeln, dass sie eine faire
Chance hat, den hohen Ansprüchen gerecht zu werden,
und die Tiere eine faire Chance haben, ordnungsgemäß
und anständig gehalten zu werden . Diesem hohen An-
spruch müssen Politik und Gesellschaft gerecht werden .
Dieser Weg ist anspruchsvoll, vielschichtig, aber, wie ich
meine, wirkungsvoll .
Wir müssen dabei alle an einem Strang ziehen, Kom-
munen, Länder und Bund . Eine bessere Kooperation
brauchen wir mit den Kommunen . Ich denke an die Tier-
heime . Dort leisten die Tierschutzverbände und viele
Ehrenamtliche Herausragendes . Gleichwohl können sie
den Tieren in vielen überlasteten Heimen nicht immer
gerecht werden, gerade zur Urlaubszeit und nach Weih-
nachten . Hier müssen die Kommunen Verantwortung
übernehmen . Wir sind zum Dialog hierüber bereit . Leider
konnte dieses Thema im Berichtszeitraum nicht befriedi-
gend behandelt werden .
Wir wollen konkrete Verbesserungen des Tierwohls
in der Breite erreichen und dabei unsere Landwirtschaft
wettbewerbsfähig halten, ja, wir wollen sie sogar noch
stärken, indem wir Tierschutz zum Qualitätsmerkmal
ausbauen . Deshalb fordere ich auch die Bundesländer zu
einem koordinierten Vorgehen auf . Wir sind bereit, Koor-
dinierungsarbeit zu leisten . Ich freue mich, dass die Zu-
sammenarbeit im Staatssekretärsausschuss Tierschutz,
den ich ins Leben gerufen habe, bereits Früchte trägt . Zu-
sammenarbeit steht vor Selbstprofilierung; denn es geht
nicht darum, jemandem zu dienen, sondern darum, den
Tierschutz voranzubringen .
Präsident Dr. Norbert Lammert
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 13933
(C)
(D)
Ich darf darauf hinweisen, dass wir sowohl bei der Be-
endigung der Kleingruppenhaltung von Legehennen als
auch bei der engeren Koordinierung unserer Forschungs-
aufgaben Erfolge erzielt haben und erzielen . Wichtig ist,
dass klar und deutlich wird, dass der Vollzug des Tier-
schutzgesetzes ein starkes Instrument ist . Vollzug beste-
hender Gesetze geht vor deren Änderung . Da und dort ist
festzustellen, dass der Vollzug noch besser werden kann .
Es gibt effektive Hebel, die auf diesem Ansatz auf-
bauen . Ich denke dabei beispielsweise an die dringend
notwendige Beendigung des massenhaften Tötens männ-
licher Küken . Ich fördere die Entwicklung von echten Al-
ternativen . Wir sind bei der Entwicklung schon sehr weit
fortgeschritten . Manchmal wird übersehen, dass derjeni-
ge, der ans Gesetz geht, immer an die verfassungsrecht-
lichen Grenzen auch von Übergangsfristen gebunden ist
und dass es deswegen klüger sein kann, das Gesetz anzu-
wenden, bevor man es ändert . Ich bin sehr optimistisch,
dass wir in diesen Bereichen so schneller vorankommen
als mit Gesetzesänderungen . Das gilt genauso für das
Ende des routinemäßigen Kürzens von Hühnerschnä-
beln . Schon ab August 2016 soll damit Schluss sein . Das
ist verbindliche Freiwilligkeit, die wirkt .
Der Tierschutzbericht zeigt allerdings auch, dass Re-
gulierung ein Baustein unserer Politik ist, wenn eine frei-
willige Verpflichtung nicht erfolgsversprechend ist. Wir
haben im Berichtszeitraum mit der Änderung des Tier-
schutzgesetzes wesentliche Verbesserungen erreicht . Das
trifft insbesondere auf den Schutz von Versuchstieren
zu, aber auch auf den Schutz von Heim- und Nutztieren .
Beim Schutz von Versuchstieren hat sich Deutschland
bereits in der Vergangenheit eine gute Vorreiterrolle erar-
beitet . Diesen Weg will ich mit der Einrichtung des Deut-
schen Zentrums zum Schutz von Versuchstieren, das wir
in diesem Jahr eröffnen konnten, konsequent weiterge-
hen . Ziel muss sein, für Forschungsarbeiten Alternativen
ohne Tiere zu finden.
Bei Heimtieren haben wir eine erweiterte Erlaubnis-
pflicht für die Einfuhr geschaffen, um insbesondere dem
illegalen Welpenhandel, der leider stark um sich greift,
einen Riegel vorzuschieben . Zudem gibt es seit letztem
Jahr die Pflicht, Käufer über die wesentlichen Bedürfnis-
se des Tieres und die richtige Haltung zu informieren .
Regulierungsbedarf sehe ich derzeit bei der Vermei-
dung der Schlachtung hochträchtiger Tiere . Ich will auch
ein Haltungsverbot für Pelztiere erreichen . Formulie-
rungshilfen für entsprechende Regelungen stellt mein
Haus dem Parlament zur Verfügung . Ich erwarte, dass
wir hier bald zu Lösungen kommen .
Tierwohl ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe .
Gemeinsam müssen wir eine Haltung entwickeln . Das
geht nur im verbindlichen Gespräch. Ein ganz profilierter
Tierschützer, ethisch sehr fundiert – an dieser Persönlich-
keit sollte man sich orientieren –, hat einmal Folgendes
gesagt – ich zitiere mit Genehmigung des Präsidenten –:
Ich bemerke . . ., dass wir oft in falscher Weise für
die misshandelte Kreatur eintreten; wir tun es
im Zorn, . . . und bringen die Menschen mit einem
Schein des Rechts gegen uns auf wegen der Art,
wie wir uns in die Dinge mischen, und haben es uns
dann selber zuzuschreiben, wenn wir ein barsches:
„Das geht Sie nichts an“ zu hören bekommen, wo
ein ruhiges und freundliches Wort keinen solchen
Trotz im anderen geweckt hätte .
Das ist ein Zitat von Albert Schweitzer .
Den Dialogprozess meines Hauses „Landwirtschaft
und Gesellschaft“ setze ich gerade auf diesen Punkt auf .
Ich biete an, die Vorstellungen von Verbrauchern, Tier-
schützern, Tierhaltern, Landwirten und allen Menschen
im Sinne Schweitzers im ruhigen und freundlichen Aus-
tausch auszutarieren und anzunähern . Mein Kompetenz-
kreis Tierwohl spielt hier mit konkreten Vorschlägen eine
wichtige Rolle . Ich will all denjenigen, die sich in ihrem
Wirkungskreis schon jetzt für das Tierwohl starkmachen
und verbindlich dafür eintreten, Tierschützern wie Tier-
haltern, meinen Respekt aussprechen .
Wir müssen uns die Frage stellen: Wie viel Tierschutz
wollen wir uns leisten, und wie wollen wir die Kosten ge-
sellschaftlich verteilen? Tierschutz kann nur erfolgreich
sein, wenn wir uns in der gesamten Europäischen Uni-
on zu hohen Standards verpflichten. Nur so können wir
verhindern, dass die Nutztierhaltung aus Deutschland in
Länder mit niedrigeren Standards abwandert, auch zulas-
ten der Tiere .
Hohe Standards auf Gemeinschaftsebene sind der
Schlüssel für beides: für das Tierwohl und für die ökono-
mischen Perspektiven der Landwirte . Deswegen erwar-
te ich von der Europäischen Kommission, dass sie hier
Engagement zeigt . Ich bedanke mich beim Europäischen
Parlament, das dieses Thema gerade in dieser Woche auf-
gegriffen hat . Wir stehen vor der Fortschreibung der Tier-
schutzinitiative auf europäischer Ebene . Ich kann Ihnen
sagen: Da ist noch sehr viel zu tun . Deswegen ist mein
Ziel, diese Fragen auf europäischer Ebene mit – wie man
sagt – „like-minded people“, also mit Gleichgesinnten,
auf hohem Standard gemeinsam voranzubringen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Geflügel- und
Schweinehalter haben sich gemeinsam mit dem Lebens-
mitteleinzelhandel in einer Brancheninitiative zusam-
mengeschlossen, um Fairness und Tierwohl miteinan-
der zu vereinen . Danke für diese Initiativen! Es kommt
darauf an, solches Engagement zu verstetigen; denn für
mehr Tierwohl muss es auch mehr Geld geben . Das geht
bis hin zur Frage, wie wir dieses Thema im Rahmen der
Neuausrichtung der europäischen Agrarpolitik in der
nächsten Förderperiode einbringen werden . Das wird
eine wichtige Diskussion sein .
Herr Minister, Sie müssen mit Rücksicht auf die Zeit
zum Ende kommen .
Bundesminister Christian Schmidt
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201513934
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(D)
Christian Schmidt, Bundesminister für Ernährung
und Landwirtschaft:
Herr Präsident, abzüglich der wenigen Minuten, die
ich als Abgeordneter gesprochen habe,
will ich für die Bundesregierung hier festhalten: Mit ver-
einten Kräften – nur mit vereinten Kräften – können wir
das erreichen . Ich bedanke mich auch für manch kriti-
schen Dialog,
den wir hier im Deutschen Bundestag führen . Das ist ein
ganz wichtiger Ansatz zur Erreichung eines gemeinsa-
men Ziels .
Herzlichen Dank .
Herr Minister, Ihre Ausführungen als Abgeordneter
haben mich natürlich ganz besonders beeindruckt .
Aber ich erkläre Ihnen gelegentlich einmal die kompli-
zierten Verrechnungsmechanismen bezüglich der Re-
dezeiten der Bundesregierung und der Redezeiten der
davon besonders begünstigten und zugleich betroffenen
Fraktionen .
Nun erhält die Kollegin Birgit Menz für die Fraktion
Die Linke das Wort .
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste! Ja, im zwölften Tierschutzbe-
richt der Bundesregierung sind Fortschritte in der Ent-
wicklung des Tierschutzes zu erkennen . Zugleich ist der
Bericht jedoch ein Beleg für die zahlreichen Mängel, die
in diesem Bereich noch immer bestehen . Ich möchte drei
mir besonders wichtige Themen herausgreifen .
Im Dritten Gesetz zur Änderung des Tierschutzgeset-
zes wurde festgehalten, dass die Sachkunde für Heimtier-
halterinnen und -halter zu steigern sei . Die Tierhändle-
rinnen und -händler sind nun angehalten, den Kundinnen
und Kunden etwas Schriftliches mitzugeben, das über die
wesentlichen Bedürfnisse des Tieres aufklärt . An keiner
Stelle wird jedoch überprüft, ob und wie die Tierhalterin-
nen und -halter diese Gebrauchsanleitung befolgen . Auf
diese Weise endet die öffentliche Verantwortung bereits
mit dem Kaufvertrag und bleibt der Einzelperson über-
lassen .
Bedenklich ist auch der Handel und Umgang mit exo-
tischen Tieren . Zwar räumt die Bundesregierung ein, dass
es hier immer wieder zu Tier- und Artenschutzpro blemen
kommt, dass es aber an auswertbaren Daten fehle . Es
ist durchaus zu begrüßen, dass die Bundesregierung ein
Forschungsprojekt in Auftrag gegeben hat, um herauszu-
finden, welche Maßnahmen zur Verbesserung des Tier-
schutzes bei der Haltung von exotischen Tieren in Privat-
haushalten als geeignet gelten . Wir meinen, die Erstellung
einer Roten Liste für Händlerinnen und Händler würde
eher helfen, den Handel mit exotischen Tieren einzudäm-
men und somit zumindest diese Tiere zu schützen .
Auch die rechtliche Lage betreffend die Zirkustier-
haltung ist zu kritisieren . Hierbei bestimmen lediglich
rechtlich nicht verpflichtende Leitlinien die Haltung und
Nutzung von Zirkustieren . Außerdem stehen die Grund-
rechte Tierschutz, Berufsfreiheit und Eigentumsfreiheit,
ähnlich wie bei der bereits erwähnten Haustierhaltung, in
einem Konflikt, sodass ein wirklicher Tierschutz auch in
diesem Bereich nicht erreicht werden kann .
Tiere nehmen in der deutschen Rechtsordnung eine
seltsame Position ein . Zwar sind Tiere ausdrücklich nicht
als Gegenstand oder Sache zu betrachten, jedoch werden
sie in vielen Bereichen der Gesetzgebung als solche be-
handelt . Sichtbar wird dieses Spannungsverhältnis etwa
bei Tierheimen . Den meisten Tierheimen wird nach vier
Wochen die Finanzierung zur Versorgung der herrenlosen
Tiere seitens der Kommunen versagt, indem das Fundtier
seinen Status als Lebewesen abgesprochen bekommt und
zum Gegenstand degradiert wird . Fazit: Die Tierheime
bleiben auf ihren Kosten sitzen .
Ja, die Fundtierbetreuung ist eine kommunale Aufga-
be, aber die Kommunen haben mit klammen Kassen zu
kämpfen. Wir sagen: Der Bund ist in der Pflicht, dafür
zu sorgen, dass die Umsetzung des Tierschutzes in den
Kommunen finanziell abgesichert werden kann;
denn auch ein verfassungsmäßiges Staatsziel wie der
Tierschutz wird ohne die notwendigen Ressourcen zu ei-
ner leeren Hülle .
Wir fordern auch eine klare rechtliche Regelung zur
Anerkennung des Tieres als Lebewesen,
damit erstens die Tierheime finanziell entlastet werden,
zweitens unser gesellschaftlicher Umgang mit Tieren
eine stärkere Bedeutung bekommt und drittens die Rech-
te im Interesse des Tierschutzes wirksamer gestärkt wer-
den .
Abschließend möchte ich noch auf ein sehr grausa-
mes Thema zu sprechen kommen, nämlich auf die nach
wie vor erschreckende Zahl getöteter Tiere für bzw .
durch Tierversuche. Laut offizieller Statistik sterben in
Deutschland jährlich etwa 3 Millionen Tiere in Versuchs-
laboren . Allein durch Vorratszüchtung werden Millionen
Tiere getötet . Der Grund ist, dass sie nicht das richtige
Geschlecht oder das richtige Alter haben, weshalb sie
für die Versuche nicht infrage kommen und in der Folge
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 13935
(C)
(D)
getötet werden . Ebenso skandalös ist, dass Tierversuche
für die Entwicklung von Kosmetika zwar verboten sind,
Chemikalien, die nicht ausschließlich für kosmetische
Zwecke zugelassen werden sollen, zum Beispiel Inhalts-
stoffe von Reinigungsmitteln, in Tierversuchen aber ge-
prüft werden dürfen .
Die Lösung des Problems kann nur darin bestehen,
Tierversuche – wohlgemerkt: ohne Hintertürchen – so-
fort auf das Notwendigste zu beschränken, in Zukunft
gänzlich auf sie zu verzichten und sie durch Alternativ-
methoden zu ersetzen .
Der aktuelle Tierschutzbericht der Bundesregierung
macht deutlich, dass für einen wirksamen Tierschutz
noch einiges zu tun ist .
Vielen Dank .
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Ute Vogt
das Wort .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von
Mahatma Gandhi stammt der Satz – ich zitiere, Herr Prä-
sident –:
Die Größe einer Nation und ihr moralischer Fort-
schritt können danach beurteilt werden, wie sie ihre
Tiere behandelt .
Ich denke, es ist ein gutes Zeichen, dass wir dieses
Thema heute Morgen in der Kernzeit behandeln; denn
die zivilisatorische Größe einer Gesellschaft zeigt sich in
der Tat auch im Umgang mit den Tieren .
Der vorliegende Bericht – das habe ich erfreut gehört,
auch vom Minister – ist lediglich eine Zwischenbilanz .
Noch mehr hat mich gefreut, zu hören, dass auch unser
Minister den Bericht als Auftrag sieht, bei diesem Thema
nicht nachzulassen .
Es hat sich bereits einiges getan . Wir haben zu Recht
gefeiert, als wir 2002 das Grundgesetz geändert und das
Staatsziel Tierschutz im Grundgesetz verankert haben .
Hier gilt aber, was der langjährige Vorsitzende der Tier-
schutzkommission beim Bundesministerium für Ernäh-
rung und Landwirtschaft, Professor Hartung, zu diesem
Staatsziel gesagt hat:
Es hilft aber nicht in der täglichen Praxis . Automa-
tisch geht es dadurch keinem Tier besser .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es braucht uns als
Gesetzgeber des Bundes, es braucht das Ministerium als
Verordnungsgeber für den Vollzug und für die wirksame
Überwachung; aber auch eine stärkere und intensivere
Bearbeitung des Themas in den einzelnen Bundesländern
ist notwendig .
Die Novellierung des Tierschutzgesetzes in der letz-
ten Legislaturperiode war sicher ein erster Schritt in die
Richtung, unser Staatsziel Tierschutz besser umzusetzen .
Aber mit diesem Schritt sind wir damals leider hinter
unseren Möglichkeiten geblieben, vor allem auch hinter
dem, was im Sinne der Tiere notwendig gewesen wäre .
Wir haben deshalb, als wir unseren Koalitionsvertrag ge-
schlossen haben, im Bereich des Tierschutzes ausdrück-
lich weitere Maßnahmen vereinbart . Die Kollegin Karin
Thissen wird später zum Bereich Landwirtschaft ein paar
Ausführungen machen . Ich will mich auf die anderen Be-
reiche konzentrieren .
Wir haben die erste Hälfte der Legislaturperiode da-
für genutzt, uns wirklich gründlich vorzubereiten . Jetzt
behandeln wir Themen wie das Verbot von Pelztierfar-
men, die Haltung, aber auch den Handel von Wildtieren
sowie die Fragen: „Wie gehen wir in der Zukunft mit
Tierbörsen um?“ und „Wie verhindern wir zum Beispiel
Qualzuchten?“ . All das wird zurzeit bearbeitet . An diesen
Themen sitzen wir gemeinsam und verhandeln darüber .
Ich wünsche mir, dass wir Anfang des nächsten Jahres
zu diesen Punkten zügig zu gemeinsamen Beschlüssen
kommen .
Es liegt noch einiges vor uns . Der Kompetenzkreis
Tierwohl hat bereits Ergebnisse vorgelegt, die wir um-
setzen müssen . Ich nenne hier auch das Gutachten des
wissenschaftlichen Beirates für Agrarpolitik beim Bun-
desministerium für Ernährung und Landwirtschaft . Auch
dessen Erkenntnisse harren der Umsetzung . Gleiches
gilt für das Thema Tierheime, zu dem wir im Koaliti-
onsvertrag ausdrücklich vereinbart haben, uns darum zu
kümmern . Dabei erwarte ich, dass auch der Städte- und
Gemeindetag seine Verantwortung wahrnimmt und das
Gespräch zu diesem Thema nicht länger verweigert .
Ein Punkt könnte sein, dass wir zum Beispiel den
Tierheimen dadurch helfen, dass wir eine Registrierungs-
pflicht für Haustiere einführen, sodass jeder, der sich ei-
nen Hund oder eine Katze zulegt, sein Tier registrieren
lassen muss . Das würde vielen helfen, weil damit ein
hoher Anteil der Kosten von den Verursachern getragen
würde und nicht alleine bei den Kommunen läge oder,
wie es im Moment hauptsächlich der Fall ist, bei den
Tierheimen und ihren Betreibern .
Es gibt jede Menge Punkte, die wir angehen können .
Es ist verdienstvoll, dass die Regierung dem Thema Tier-
schutz in dieser Legislaturperiode mehr Bedeutung hat
zukommen lassen, als das noch in der letzten Legisla-
turperiode der Fall war . Aber ich muss auch sagen: Im
Birgit Menz
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201513936
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(D)
Wesentlichen haben wir die ersten beiden Jahre genutzt,
um Kommissionen einzurichten, um Workshops durch-
zuführen, um Gutachten in Auftrag zu geben und um frei-
willige Vereinbarungen zu treffen .
All das sind wichtige und richtige Initiativen . Aber,
liebe Kolleginnen und Kollegen, aktiver Tierschutz
braucht Tatkraft und braucht auch konkrete Entscheidun-
gen . Er braucht vor allem manchmal Entscheidungen, die
dem einen oder anderen wehtun und mit denen man auch
einmal jemandem auf die Füße treten muss .
Wir in der SPD möchten gerne diese gute Vorarbeit
der ersten beiden Jahre zusammen mit unserem Koaliti-
onspartner nutzen, um jetzt im zweiten Teil der Legisla-
turperiode ein paar konkrete Entscheidungen zu treffen .
Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Das wird nicht gehen, ohne
das Tierschutzgesetz anzupassen . Ich weiß, aufgrund von
Erfahrungen aus der letzten Legislaturperiode haben vie-
le von Ihnen Sorgen, das zu machen . Aber wir müssen
da noch einmal ran, wenn wir im Sinne der Tiere etwas
grundsätzlich verbessern wollen .
Es geht darum, das Tierschutzgesetz zu novellieren, um
uns weiter an den Bedürfnissen der Tiere zu orientieren .
Ich sage Ihnen: Wenn Sie heute das Thema in der Be-
völkerung diskutieren, dann stellen Sie fest: Das Thema
hat inzwischen nicht nur im Deutschen Bundestag einen
höheren Stellenwert als in früheren Jahren, sondern es
hat vor allem auch bei den Bürgerinnen und Bürgern ei-
nen sehr hohen Stellenwert . Dieser Tatsache müssen wir
gerecht werden . In diesem Sinne haben wir viel vorgear-
beitet . Die Ergebnisse haben wir Ihnen zum großen Teil
schon zugeleitet . Wir sind mitten in der Diskussion .
Wie gesagt: Nach zwei Jahren gründlichster Vor-
bereitung folgen jetzt zwei Jahre der Tatkraft im Sinne
der Tiere und – am Ende dieser Legislaturperiode – ein
novelliertes Tierschutzgesetz . Das ist ein gutes Ziel für
unsere Koalition . Dann könnte der nächste Tierschutz-
bericht aufgrund erfolgreicher Arbeit noch euphorischer
sein, als der heutige Bericht es ist .
Danke schön .
Die Kollegin Maisch ist die nächste Rednerin für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister! Ich finde es schon erstaunlich, dass Sie so
stolz auf diesen Bericht sind, dass Sie ihn heute Morgen
zur besten Debattenzeit hier der Öffentlichkeit präsentie-
ren wollen .
Dieser Bericht zeigt auf über 100 Seiten, dass die Große
Koalition für den Tierschutz so gut wie nichts erreicht
hat .
Kollegin Vogt, bei allem Respekt: Euphorie über das,
was Sie bisher getan haben, sprühte weder aus Ihrem Re-
debeitrag noch aus den Worten des Ministers . Ich würde
sagen, da ist noch deutlich Luft nach oben, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen .
Schauen wir uns den Bericht daraufhin an, welches
Gesetz und welche Verordnung auf Ihre Initiative hin
erlassen wurden . Sie haben zu den drängenden Pro-
blemen im Tierschutz nicht einmal einen Zeitplan . Wir
haben eine Kleine Anfrage gestellt und gefragt: Wann
wollen Sie endlich eine Nutztierhaltungsverordnung für
die Milchkühe, für die Puten, für das Wassergeflügel ma-
chen? Wir haben keine Antwort bekommen . Es gibt nicht
einmal einen Zeitplan. Ich finde, diese Koalition zeigt
sehr deutlich, dass sie nicht viel für den Schutz der Tiere
tun will .
Ich finde es ganz interessant, dass vonseiten der SPD
schon wieder gesagt wird: Wir wollen das Tierschutzge-
setz anpacken. – Das finde ich super. Der Minister hat
gestern in der Presse gesagt: Auf keinen Fall werden wir
das Tierschutzgesetz anpacken, weil dann die ganzen
nervigen Tierschützer alle möglichen Änderungsvor-
schläge haben, die uns stören und uns in unserer Behä-
bigkeit beim Regieren hindern. – Von daher finde ich es
interessant, die Auseinandersetzung zwischen Ihnen an-
zuschauen .
Ja, das Tierschutzgesetz wollen Sie nicht anpacken .
Sie haben angekündigt, Sie wollen etwas gegen die
Schlachtung trächtiger Kühe und für den Schutz der
Pelztiere tun . Das ist durchaus ehrenwert, aber schauen
wir uns an, wie Sie das umsetzen wollen . Sie wollen ein
Gesetz nutzen, das eigentlich dafür da ist, Robbenpro-
dukte und chinesisches Hundefell vom deutschen Markt
fernzuhalten, weil Sie so große Angst davor haben, dass
dann, wenn man an das Tierschutzgesetz herangeht, noch
alle möglichen anderen Wünsche der Tierschützer aufs
Tapet kommen .
Ja, wenn wir das Tierschutzgesetz anpacken, dann
müssen wir noch über alle möglichen anderen Dinge re-
den . Bei trächtigen Kühen und bei den Pelzen sind wir
uns vielleicht schnell einig, aber was ist mit den Tierver-
suchen? Warum haben die Behörden kaum die Möglich-
keit, wirklich zwischen Tierschutz und Forschungsinte-
resse abzuwägen? Herr Schmidt, es ist ja nicht richtig,
was Sie gesagt haben . Sie haben hier von diesem Pult
aus wörtlich gesagt: „Dem Tierschutz kommt bei jeder
Abwägung Gewicht zu .“ Bei den Tierversuchen ist genau
Ute Vogt
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das nicht der Fall, und das ist Ihre Schuld, weil Sie das
Tierschutzgesetz in der letzten Legislatur im Bereich der
Tierversuche einfach nur verhunzt haben .
Wenn Sie wirklich etwas für die Versuchstiere tun
wollen, dann hinterfragen Sie doch einmal die internen
Abläufe in der Milliardenverteilungsmaschine Deutsche
Forschungsgemeinschaft . Setzen Sie sich kritisch mit
Ihrer Kollegin, der Forschungsministerin, auseinander .
Aber dann müssten Sie auch einmal einen Konflikt inner-
halb der Koalition und innerhalb des Kabinetts aushalten,
und das ist im Tierschutz bisher wirklich nicht Ihr Ding
gewesen .
Eine Koalition, die sich nicht einmal traut, beim Tier-
schutz ihren eigenen Koalitionsvertrag umzusetzen, die
sollte wirklich nicht die Backen aufblasen . Sie haben im
Koalitionsvertrag versprochen, gewerbliche Tierbörsen
für exotische Tiere zu untersagen . Das machen Sie aber
nicht . Die Kollegin Menz hat es gesagt: Es gibt jetzt noch
einmal ein Forschungsprojekt . – Schlauerweise läuft die-
ses bis kurz vor der Bundestagswahl . So kann man die
Resultate, die dabei herauskommen, nicht mehr umset-
zen. Ich finde, das ist sehr hart an der Grenze zur Arbeits-
verweigerung .
Sie erkennen die Probleme selbst und benennen sie im
Tierschutzbericht . Schauen wir uns die Zirkustiere an .
Die Haltung von Wildtieren im Zirkus ist Tierquälerei .
Elefanten, Bären, Giraffen, Tiger und sogar ein Fluss-
pferd werden in deutschen Wanderzirkussen herumge-
karrt . Wenn man hier von „leuchtenden Kinderaugen“
spricht, wie der Kollege Stier es gern im Ausschuss tut,
dann muss ich sagen: Da hat man beim Thema Arten-
schutz im Biologieunterricht etwas grundsätzlich falsch
verstanden .
Ich erwarte von Ihnen, dass Sie dann, wenn Sie hier
Schweitzer, Ghandi und alle möglichen Größen aus dem
Bereich des Tierschutzes zitieren, endlich verbieten, dass
Giraffen, Tiger, Flusspferde und Bären in Wanderzirkus-
sen gequält werden . Wenn Sie das in dieser Legislaturpe-
riode nicht hinkriegen, dann können Sie sich das ganze
Gerede zu Ethik und die ganzen Zitate sparen .
Es sind nicht nur die Wildtiere, bei denen Sie versa-
gen . In Ihrem Bericht loben Sie sich dafür, dass es jetzt
einen Tierschutzpreis im Reitsport gibt. Das finden wir
super, das soll man machen;
aber ich finde: Ein Tierschutzpreis im Reitsport ist gut
und schön . Solange es in Deutschland aber legal Verbren-
nungen dritten Grades auf den Pferdehintern geben kann,
so lange braucht man nicht über Tierschutz im Pferde-
sport zu sprechen .
Der Schenkelbrand wird im Jahr 2015 betäubungslos
ausgeführt und ist weiterhin legal . Das kann nicht Ihr
Ernst sein . Das ist keine zivilisatorische Größe . Das ist
anachronistisch . Das ist widersinnig, und das muss man
beenden .
– Herr Kauder sagt gerade: Das bleibt auch so .
– Dann habe ich mich vertan . Aber es war doch die CDU/
CSU – Ursula von der Leyen, Dieter Stier –, die sich bis
aufs Blut für den Schenkelbrand eingesetzt haben . Ilse
Aigner hatte in ihrem Entwurf schon vorgesehen, dass
diese anachronistische, brutale Methode verboten wer-
den soll .
Sie haben doch verhindert, dass das endlich beendet
wird . Es ist immer noch legal, sogar ohne Betäubung .
Das ist absurd, und das muss ein Ende haben .
Frau Kollegin .
Aber ich will den Worten des Ministers folgen, der ge-
sagt hat, wir sollen nicht immer nur im Zorn zurückbli-
cken . Das ist richtig . Man muss nach vorne schauen . Man
muss es besser machen .
Vor allen Dingen muss man zum Ende kommen, Frau
Kollegin .
Das sehe ich durchaus . Deshalb komme ich zum
Schluss . – Wir sind nicht nur wütend; wir haben Ihnen
auch konstruktive Vorschläge gemacht . Unser Antrag
liegt vor . Stimmen Sie ihm zu! Nehmen Sie die Forde-
Nicole Maisch
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201513938
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rungen ernst! Dann fällt der nächste Tierschutzbericht
auch nicht mehr so peinlich aus .
Vielen Dank .
Nun erhält der Kollege Dieter Stier das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Bevor ich
beginne, will ich eine Besuchergruppe aus einem Poli-
zeirevier in meinem Heimatbundesland persönlich be-
grüßen und mich schon jetzt entschuldigen, dass ich auf-
grund dieser aktuellen Debatte ein paar Minuten später
zu der Diskussion dazustoßen werde .
Liebe Frau Kollegin Maisch, es fällt mir schwer, nach
Ihrem Beitrag wieder zur Sachlichkeit zurückzukehren .
Ich will das gleichwohl tun . Ihre Aggressivität beim The-
ma Tierschutz erschreckt mich .
Meine Damen und Herren, die Art und Weise der
Haltung unserer Tiere, ob im Nutztierbereich oder im
Heimtierbereich, findet in unserer Gesellschaft eine
immer größere Beachtung . Das ist richtig und gut . Der
Tierschutz ist deshalb mittlerweile auch als Staatsziel in
unserem Grundgesetz verankert .
Wer sich in unserem Land einen aktuellen und vor al-
lem auch fundierten Überblick über den Tierschutz ver-
schaffen will, der kommt am Tierschutzbericht unserer
Bundesregierung, der im Übrigen nach einem Beschluss
des Deutschen Bundestages alle vier Jahre vorzulegen
ist, nicht vorbei . Dies war ein guter Beschluss unserer
Vorgängerregierung .
Der von der Bundesregierung vorgelegte Bericht ana-
lysiert den Istzustand . Er ist aber auch ein Indikator für
erreichte Verbesserungen im Tierschutz, und ich meine,
diese erreichten Verbesserungen können sich sehen las-
sen!
Zunächst einmal möchte aber auch ich mich bei den
Fraktionsvorständen und -geschäftsführungen bedanken,
dass wir heute diesem Thema ein angemessenes Forum
bieten und es im Plenum zur Kernzeit debattieren kön-
nen . Das macht deutlich, welche hohe gesellschaftspoli-
tische Bedeutung wir diesem Thema fraktionsübergrei-
fend einräumen . Dafür bedanke ich mich .
Um es gleich vorwegzunehmen: Der Tierschutzbe-
richt 2015, der heute auf der Tagesordnung steht, ist ein
Erfolgsbericht sowohl der schwarz-gelben als auch der
Großen Koalition unter Führung von CDU und CSU .
Er bestätigt den richtigen Kurs der Bundesregierung, und
er belegt an konkreten Beispielen unsere Fortschritte in
der Tierschutzpolitik .
Allein am Umfang des Berichtes kann man erkennen,
wie intensiv sich diese Bundesregierung mit dem The-
ma auseinandersetzt . Der letzte Bericht 2011 umfasste
52 Seiten . Der neue Bericht beleuchtet das Thema auf
128 Seiten, immerhin mehr als das Doppelte .
Für diese intensive Arbeit möchte ich heute der Bun-
desregierung danken . Sie ist in erster Linie auf Ihren
engagierten Einsatz zurückzuführen, sehr geehrter Herr
Bundesminister Schmidt; aber auch mit den Staatssekre-
tären und den Mitarbeitern des Hauses gibt es hier eine
gute Zusammenarbeit .
Aus Ihrem Bericht wird deutlich, dass Sie bestrebt
sind, das in der vergangenen Legislaturperiode Begonne-
ne weiterzuentwickeln und darüber hinaus mit der Tier-
wohl-Initiative eigene und neue Maßstäbe im Tierschutz
zu setzen, die richtungsweisend für unsere Zukunft sind .
Für dieses Voranschreiten in der Sache danke ich Ihnen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, den Tierschutz
stärken: Das ist ein Leitsatz, dem wir uns bereits in der
letzten Legislaturperiode mit beachtlichen Ergebnissen
gestellt haben .
Im Tierschutzbericht sind nun die positiven Auswir-
kungen aufgeführt . Er macht anschaulich, warum wir
im europäischen und internationalen Vergleich mit den
höchsten Tierschutzstandards aufwarten können .
Den entscheidenden Schritt nach vorn haben wir mit
dem gerade erst novellierten Tierschutzgesetz getan .
Eine Überarbeitung sollte man allerdings nicht jährlich
vornehmen . Selbstverständlich sind wir auch unterge-
setzlich auf dem Verordnungsweg tätig geworden; denn
zahlreiche Tierschutzdebatten in der Öffentlichkeit ha-
ben die Verbraucherinnen und Verbraucher in unserem
Land weiter sensibilisiert . Ihre Bedenken nehmen wir bei
der Überarbeitung der tierschutzrelevanten Vorschriften
ernst und haben den unterschiedlichsten Forderungen,
die an uns herangetragen wurden, Rechnung getragen,
jedoch immer mit dem Blick aufs Ganze .
Nicht nur einen Teilbereich, sondern die komplette
Spannweite von der Nutztierhaltung über den Heim-
tierbereich bis zu den Versuchstieren haben wir einer
Nicole Maisch
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 13939
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gründlichen tierschutzfachlichen Überprüfung und Ver-
besserung unterzogen . Ich will Ihnen beispielhaft an den
nachstehenden vier Punkten zur Nutztierhaltung zeigen,
wie unsere aktive Tierschutzpolitik aussieht . Mit Beginn
des Jahres 2019 gilt das Verbot der betäubungslosen Fer-
kelkastration, das wir im Tierschutzgesetz festgeschrie-
ben haben . Zum Schutz von Tieren bei Schlachtungen
haben wir mit der Tierschutz-Schlachtverordnung stren-
gere Regelungen und Vorschriften eingeführt, die sogar
über unionsrechtliche Regelungen hinausgehen . In der
Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung haben wir die
Anforderungen an die Betreuung, Pflege und Haltung
von Kaninchen, die zu Erwerbszwecken gehalten wer-
den, verschärft . Das Säugetiergutachten will ich kurz
erwähnen . Auch das ist eine wesentliche Entscheidungs-
hilfe bei der Umsetzung tierschutzrechtlicher Vorgaben .
Das sind nur einige Beispiele . Die Versuchstiere wurden
bereits erwähnt .
Noch nie wurde in so kurzer Zeit so viel für die Ver-
besserung des Tierwohls getan wie in den letzten vier
Jahren . Doch dabei werden wir es nicht belassen . Die
Tierwohl-Initiative unseres Bundesministers wurde be-
reits angesprochen . Konzeptionell umfassend, weist sie
den Weg über die bisherigen Standards hinaus . Über die
Einzelheiten haben wir hier schon oft diskutiert . Ich rufe
Ihnen gerne noch einmal einige Schwerpunkte in Erinne-
rung . Beginnen will ich mit einem ganz grundlegenden
Punkt: der Sachkunde der Tierhalter . Tierschutzgerech-
tes Handeln setzt Sachkenntnis voraus . Wir werden von
Personen, die beruflich mit Nutz-, Zoo- und Heimtieren
umgehen, künftig höhere Kenntnisse verlangen . Um
neue Tierschutzkenntnisse einzubringen, muss natürlich
geforscht werden . Deshalb wird auch die Tierwohlfor-
schung gestärkt . Wir haben gerade erst in der vergange-
nen Woche über die Haushaltszahlen debattiert . Ich den-
ke, sie sind Ihnen allen noch in guter Erinnerung .
Große Bedeutung kommt der weiteren Begrenzung
der Anzahl von Tierversuchen zu . Hier haben wir schon
einen entscheidenden Schritt getan . Das Bundesinstitut
für Risikobewertung ist hier Vorreiter mit seiner Zen-
tralstelle zur Erfassung und Bewertung von Ersatz- und
Ergänzungsmethoden zum Tierversuch, die wir zum Na-
tionalen Kompetenzzentrum ausgebaut haben . Viele von
Ihnen waren kürzlich bei der Eröffnung dabei .
Nicht zuletzt werden wir bei der Schlachtung von Tie-
ren die Tierschutzmaßnahmen erweitern, indem wir – der
Minister hat das bereits angesprochen – die Schlachtung
hochträchtiger Rinder in den Fokus stellen, damit es eine
solche Schlachtung künftig möglichst nicht mehr geben
wird .
Ja, zur Verwirklichung haben wir das Prinzip der
verbindlichen Freiwilligkeit gewählt . Wir erarbeiten
gemeinsam mit den landwirtschaftlichen Betrieben pra-
xistaugliche Lösungen . Miteinander statt gegeneinander,
Frau Maisch, das ist die Devise, die wir hier vertreten .
Nur dieser Ansatz schafft das notwendige Vertrauen, um
tatsächlich bleibende Erfolge zu erzielen; darauf kommt
es an . Die ersten Maßnahmen der Tierwohl-Initiative
greifen . Nehmen wir nur die nicht kurativen Eingriffe .
Bereits jetzt, kurz nach dem ersten Jahrestag der Tier-
wohl-Initiative, liegt die fertige Vereinbarung mit der
deutschen Geflügelwirtschaft zum Beenden des Schna-
belkürzens vor. Die Geflügel-Charta ist der Beweis dafür,
dass der eingeschlagene Weg richtig ist, und das verbind-
lich und freiwillig durch Selbstverpflichtung einer gan-
zen Branche .
Wir erarbeiten bundeseinheitliche Prüf- und Zulas-
sungsverfahren; diese stehen in den Startlöchern . Ich
will zudem daran erinnern, dass wir im Kompetenzkreis
„Tierwohl“ weiterhin diskutieren . Wir alle sind uns einig:
Nichts ist so gut, das man es nicht noch besser machen
kann . Aber Tierwohl kostet auch Geld . Das ist schon an-
gesprochen worden .
Lassen Sie mich zum Abschluss, gerade auch im
Hinblick auf die Adventszeit und auf das bevorstehen-
de Weihnachtsfest, auf ein stets wiederkehrendes Tier-
schutzthema hinweisen . Tiere sind nicht die besten Ge-
schenke unter dem Weihnachtsbaum .
Oft wiederholt sich hier die Unvernunft für kurzes
Glück mit bösen Folgen . In vielen Fällen bereits unmit-
telbar nach Neujahr, wenn das Interesse erloschen ist und
das Tier zur Belastung geworden ist, landen viele Tiere
in überfüllten Tierheimen, oder sie finden sich auf dem
Autobahnparkplatz wieder . Hier sollte sich jeder selbst
fragen: Bin ich – oder ist mein Kind – über Silvester hi-
naus bereit, Verantwortung für ein Haustier zu tragen, be-
vor ich nach staatlicher Finanzierung für Tierheime rufe?
Hier möchte ich Ihnen einen Rat geben . Es möge sich
bitte jeder bei seiner ganz individuellen Kaufentschei-
dung die Folgen aus Sicht des Tieres vor Augen halten .
Ich denke, damit wäre dem Tierschutz in unserem Land
auch durch einen ganz persönlichen Beitrag am meis-
ten gedient . Wir wollen an diesem Ziel gemeinsam und
miteinander weiterarbeiten und bieten Ihnen dies an . Ich
wünsche Ihnen in diesem Sinne eine schöne Adventszeit .
Vielen Dank .
Das Wort erhält nun die Kollegin Kirsten Tackmann
für die Fraktion Die Linke .
Dieter Stier
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201513940
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vie-
le Jahre ging es beim Tierschutz um fraktionsübergrei-
fende Konsenssuche . Aber unterdessen stellt die Union
lieber Pappkameraden auf und blockiert Lösungen . 2013
hat Kollege Stier selbst das Verbot des Schenkelbrands
bei Pferden in letzter Minute wieder verhindert . Davon
war schon die Rede .
Damit – ich erkläre das noch einmal – darf Pferden qua-
si ein Lobbyistensymbol in die Haut gebrannt werden .
Ich finde, das ist frühes Mittelalter und gehört endlich
beendet .
Minister Schmidt fällt vor allen Dingen durch sprachli-
che Kreativität auf . Seine Tierschutzinitiative heißt „Eine
Frage der Haltung“ . Auch das Prinzip der „verbindlichen
Freiwilligkeit“ hat er erfunden . Sprachlich ist das zwar
hohe Dialektik, zugegeben, aber leider heißt das Prin-
zip übersetzt: verbindliches Nichtregieren . – Deshalb ist
der Tierschutzbericht voll von Absichtserklärungen . Ge-
braucht wird aber eine wahre Erfolgsgeschichte .
Ein Lob habe ich aber trotzdem . Erstmalig enthält der
Tierschutzbericht alle Anfragen der Abgeordneten . Die
sieben Seiten zeigen: Das Parlament hat seine Hausauf-
gaben gemacht . Zugegeben, es gibt auch Fortschritte in
der Sache, aber eher trotz der Union, nicht wegen ihr, ob-
wohl ich dem Minister selbst überhaupt nicht den guten
Willen absprechen möchte .
Nach längerem Anlauf ist er im Herbst 2014 sogar
richtig furios gestartet . Nur, seitdem gibt es nichts Zähl-
bares, trotz eines unüberhörbaren Weckrufes im März .
Das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Agrar-
politik beim Ministerium war ein richtiger Paukenschlag .
Es diagnostiziert – ich zitiere –:
… erhebliche Defizite vor allem im Bereich Tier-
schutz, aber auch im Umweltschutz .
Es hält – ich zitiere weiter –:
… die derzeitigen Haltungsbedingungen eines
Großteils der Nutztiere für nicht zukunftsfähig …
Das Gutachten kritisiert aber nicht nur, es zeigt auch
Wege zu einer gesellschaftlich akzeptierten Nutztierhal-
tung auf . Es nimmt nicht nur die Tierhaltungsbetriebe in
die Pflicht, sondern alle – vom Stall und der Weide bis
hin zur Theke im Supermarkt. Ich finde das richtig und
wichtig .
Auch die Mehrkosten werden geschätzt . Für einen
Großteil der Tierhaltung wären das 13 bis 23 Prozent,
insgesamt 3 Milliarden Euro bis 5 Milliarden Euro jähr-
lich . Ja, das ist viel Geld, aber selbst wenn man das direkt
auf die Verbraucherpreise umlegen würde, wären das nur
3 bis 6 Prozent . Ich glaube, dass das vielen der Tier-
schutz wert wäre . Aber als Linke sage ich genauso deut-
lich: Würden Supermärkte auf etwas Gewinn verzichten,
könnte man selbst diese Erhöhung vermeiden .
Das Gutachten überhaupt nicht zu erwähnen, Herr
Minister, empfinde ich als eine absolute Respektlosigkeit
gegenüber den Autorinnen und Autoren .
Als Linke geht es mir beim Tierschutz aber nicht nur
um moralische Appelle, die durch Wohlfahrt finanziert
werden; Tierschutz steht schließlich in der Verfassung .
Aber stellen wir uns doch einmal die Frage, warum Kü-
ken geschreddert, Ferkeln die Schwänze oder Geflügel
die Schnäbel kupiert werden, warum Kühe ganzjährig
im Stall gehalten werden, trächtig geschlachtet werden
oder Schlachttiere über Hunderte oder Tausende Kilome-
ter transportiert werden . Die Antwort ist meistens: Etwas
anderes rechnet sich nicht . „Billig“ ist eben das völlig
falsche Prinzip in der EU-Agrarpolitik .
Wer profitiert davon? Die übermächtigen Chefetagen
der Handelskonzerne, der Schlachthöfe und der Molke-
reien . Deshalb, Herr Minister Schmidt: Tierschutz ist
eine Machtfrage . Halten Sie endlich einmal dagegen,
statt sich mit Almosen abspeisen zu lassen .
Nein, ich sage nicht, dass damit alle Probleme gelöst
wären . Als Tierärztin weiß ich, dass es oft so ist, dass
die Umsetzung eines Vorschlages zwar ein Problem löst,
aber gleichzeitig neue schafft . Kenntnislücken als Ausre-
den zu missbrauchen, muss endlich aufhören .
Vor Jahren hat die Deutsche Agrarforschungsallianz
bereits eine lange Liste mit offenen Fragen vorgelegt .
Die Linke hat immer wieder das nötige Geld beantragt .
Wir wären wesentlich weiter, wenn Sie endlich einmal
auf uns hören würden .
Der Klimagipfel in Paris stellt uns übrigens noch eine
weitere Frage: Nicht, wie viele Tiere können, sondern,
wie viele Tiere müssten gehalten werden . Die Klima-
bilanz der Tierhaltung wird zwar aus meiner Sicht oft zu
schlecht bewertet, weil CO2-senkende Effekte durch die
Nutzung von Grünland nicht bedacht werden . Mir geht
es beim Fleischkonsum aber gar nicht um Totalverzicht,
sondern um das Maßhalten . Weniger Fleisch tut gut, der
Gesundheit, dem Klima und dem Tierwohl .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 13941
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Übrigens ist auch eine geringere Lebensmittelverschwen-
dung aktiver Tier- und Klimaschutz .
Ja, beim Tierschutz werden ein breiter Konsens und
Verlässlichkeit gebraucht . Eine Enquete-Kommission
wäre genau das richtige Instrument dafür . Der Wissen-
schaftliche Beirat hatte das vorgeschlagen . Die Linke
reicht Ihnen noch einmal die Hand dazu . Ich hoffe, dass
Sie durch diese Tür hindurchgehen .
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit .
Ich erteile das Wort nun der Kollegin Elfi Scho-
Antwerpes für die SPD-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Als Bildungspolitikerin meiner Fraktion, aber
auch, weil es mir ganz persönlich ein Dorn im Auge ist,
möchte ich die Debatte um einen wesentlichen Punkt
erweitern . Wir müssen über Tierversuche sprechen, und
zwar nicht nur heute, sondern dauerhaft, und das mit er-
höhtem Tempo, um die Themen voranzubringen .
Es ist mir bei diesem Thema völlig egal, ob wir von
Primaten, Mäusen oder Kopffüßern sprechen:
Tierversuche muten im Jahr 2015 – die Kollegin Maisch
hat es eben schon gesagt – anachronistisch an . Wir müs-
sen dafür sorgen, dass wir möglichst schnell komplett auf
Tierversuche verzichten können .
Medaillen, meine lieben Kollegen und Kolleginnen,
haben bekanntermaßen zwei Seiten . Dass Tierversuche
ein abzulehnendes Übel sind, ist die eine Seite . Dass
sie ein notwendiges Übel sind, ist die andere Seite . Im
Kampf gegen Krankheiten, wie zum Beispiel Aids, Krebs
oder Alzheimer, sind wir nach dem derzeitigen Stand der
Wissenschaft auf ebensolche Tierversuche angewiesen .
Bei der Entwicklung von sicheren und hochwertigen
Medikamenten für die Humanmedizin und auch für die
Tiermedizin sind wir auf Tierversuche angewiesen . Alles
andere wäre verlogen .
Die Zielsetzung lautet: grundsätzlicher Verzicht auf
Tierversuche, und zwar schnellstmöglich . Das erreichen
wir natürlich nicht durch plakative Parolen oder Verbote .
Der Wille zu einer konsequenten Weiterentwicklung von
alternativen Forschungsmethoden wird das Bestreben er-
leichtern, das Leiden der Tiere zu begrenzen, die Zahl
der Tierversuche zu vermindern und am Ende völlig auf
Tierversuche zu verzichten .
Im aktuellen Tierschutzbericht ist nachzulesen, dass
die Zahl der Tierversuche abgenommen hat . Wir spre-
chen für das Jahr 2014 von 2,8 Millionen Tierversuchen .
Verglichen mit dem Vorjahr sind das rund 200 000 we-
niger . Das ist ein Erfolg, zumal die Zahlen in den Jahren
davor grundsätzlich steigend waren . Es ist gleichwohl
ein Erfolg, auf dem wir uns keineswegs ausruhen dürfen .
Wir müssen diese Entwicklung erstens verstetigen und
zweitens beschleunigen .
Den Anstoß für diese positive Entwicklung hat eine
Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates
aus dem Jahr 2010 gegeben, die in der Bundesrepublik
über die Änderung des Tierschutzgesetzes im Jahr 2013
und den Erlass der Tierschutz-Versuchstierverordnung
im selben Jahr umgesetzt wurde . Damit sind im deut-
schen Tierschutzgesetz wesentliche und grundsätzliche
Regelungen zu Versuchstieren enthalten . Die Verordnung
geht detaillierter auf die Haltung von Versuchstieren und
auf die Durchführung, Genehmigung und Anzeige von
Tierversuchen ein .
Übergeordnetes Ziel ist auch bei der EU-Richtlinie,
die Zahl der Tierversuche zu vermindern, Tierversuche
zu vermeiden und sie dort, wo sie noch nicht zu ver-
meiden sind, zu verbessern, um das Leiden der Tiere zu
senken . Dahinter steht das sogenannte 3R-Prinzip, das in
Europa konsequent angewendet werden soll: Replace-
ment, Reduction, Refinement; will sagen: Vermeidung,
Verminderung, Verbesserung . Das ist natürlich keine
neue Erfindung. Erdacht wurde das 3R-Prinzip bereits –
man höre und staune! – 1959 durch zwei britische Wis-
senschaftler, die sich für humanere Forschungsmethoden
eingesetzt haben .
Durch die Novellierung des Tierschutzgesetzes ist das
3R-Prinzip in deutsches Recht umgesetzt worden . Das
heißt im Einzelfall: Wissenschaftliche Arbeiter und Ar-
beiterinnen, die einen Tierversuch beantragen, müssen
gegenüber den jeweiligen Landesbehörden drei Kern-
fragen wissenschaftlich beantworten: Erstens . Gibt es
für den geplanten Versuch keine alternativen Methoden?
Zweitens . Ist die Anzahl der Versuchstiere auf das Mini-
mum reduziert? Drittens . Sind die Belastungen der Tiere
so gering wie möglich?
Hat der Tierversuch dann stattgefunden, ist es am
zuständigen Bundesinstitut für Risikobewertung, eine
allgemeinverständliche Zusammenfassung anzufertigen
und dann zu veröffentlichen . Auch das ist eine Folge des
novellierten Tierschutzgesetzes und ein wichtiger Bei-
trag zur Transparenz hinter den Tierversuchen . Durch die
Bundesgesetzgebung fördern wir also die Transparenz
und hinterfragen den Sinn von Tierversuchen – und das
ist gut so, liebe Kolleginnen und Kollegen .
Einen wichtigen Beitrag zum Abbau von Tierversu-
chen leistet die Erforschung von Alternativmethoden . Im
Koalitionsvertrag wurde vereinbart, dass die zuständi-
ge Zentralstelle, ZEBET, ausgebaut und erweitert wird .
Zum 25 . September dieses Jahres ist das bereits gesche-
Dr. Kirsten Tackmann
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201513942
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hen . Das neugeschaffene Deutsche Zentrum zum Schutz
von Versuchstieren wird mit zusätzlichen Stellen die
Forschung an Alternativen intensivieren, entsprechende
Beratung anbieten und weltweit die Anstrengungen in
diesem Bereich begleiten . Das ist ein Ausbau, der uns
weiterbringt und ein sozialdemokratisches Anliegen war .
ZEBET leistet übrigens seit 1989 ganz hervorragende
Arbeit: Erfolgreich waren die Wissenschaftler und Wis-
senschaftlerinnen dort unter anderem bei der Entwick-
lung von Alternativmethoden zur Toxizität an der Haut
und am Auge und bei der Forschung, die Versuche an
trächtigen Tieren obsolet macht . Die entwickelten Ver-
fahren sind sinnvoll . Sie sind sowohl bei der EU als auch
bei der OECD als Prüfmethoden offiziell verankert und
international anerkannt . Mit dem Ausbau von ZEBET
verfolgen wir mit noch mehr Tatkraft den richtigen Weg,
der aber noch Beschleunigung vertragen kann .
Entsprechende Forschung gibt es natürlich auch darü-
ber hinaus . Das Bundesministerium lobt seit 1980 einen
Tierschutzforschungspreis aus, der für die Entwicklung
wissenschaftlicher Alternativmethoden zu Tierversuchen
vergeben wird . Preisträger dieses Jahres ist Herr Profes-
sor Dr . Leist, der mit seinem Team an der Universität
Konstanz forscht . Die prämierte Arbeit befasst sich mit
der Frage, wie mithilfe von In-vitro-Zellkulturen die tra-
dierten pharmakologischen Anwendungen an Primaten
und Nagern zum Beispiel in der Hirnforschung ersetzt
werden können . Ich möchte an dieser Stelle Herrn Pro-
fessor Dr . Leist und seiner Arbeitsgruppe auch hier im
Hohen Hause sehr herzlich danken und ebenso gratulie-
ren .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, „der Gerechte küm-
mert sich um das Wohlergehen seines Viehs, aber das
Herz der Gottlosen ist grausam“, ist in der Bibel zu lesen .
Wir kümmern uns . Der Tierschutzbericht 2015 verdeut-
licht, dass die ergriffenen Maßnahmen funktionieren .
Lassen Sie uns aber am Ball bleiben . Lassen Sie uns
schnell spielen und diesen ersten kleinen Erfolg zu einem
großen Erfolg ausbauen .
Dazu ist eine ehrliche Debatte erforderlich . Forschung
und Wissenschaft sind zu komplex und zu wichtig, als
dass wir die Situation nur mit schwarz und weiß be-
schreiben könnten .
Forschung bedeutet auch, Zeit haben zu können, auch
für die Forschung an Alternativmethoden . Grundlagen-
forschung und die Entwicklung von Medikamenten müs-
sen höchsten qualitativen Anforderungen genügen . Wir
dürfen kein Risiko eingehen . Wir müssen auch regelmä-
ßig hinterfragen, wieweit das 3R-Prinzip in Deutschland
greift und wie ehrlich wir zu uns selbst sind .
Absichtserklärungen allein helfen keinem . Wir müs-
sen den eingeschlagenen Weg konsequent und mit Tem-
po weitergehen . Dabei dürfen wir das Ziel nicht aus den
Augen verlieren: Tierversuche gehören in Deutschland
und in Europa so schnell wie möglich ins Gruselkabinett
der Geschichte .
Ich danke für die Aufmerksamkeit .
Liebe Frau Kollegin, ich gratuliere Ihnen herzlich zu
Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag .
Ich weise vorsichtshalber darauf hin, dass der groß-
zügige Zuschlag des Präsidiums zu der eigentlich ver-
fügbaren Redezeit bei weiteren Reden nicht in Aussicht
gestellt werden kann .
Im Übrigen: Sie hatten ja dieses erstaunliche Erlebnis
jetzt zum ersten Mal . Wenn die Lampe am Rednerpult
blinkt, ist keine Attacke zu erwarten,
sondern das ist eigentlich nur der Hinweis, dass die Re-
dezeit mittlerweile abgelaufen ist .
Nächster Redner ist der Kollege Friedrich Ostendorff
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Minister Schmidt, eine Frage der Hal-
tung, so überschrieben Sie Ihre vielen Ankündigungen,
Europameister in Sachen Tierwohl zu werden . Gemein-
sam haben die Ankündigungen alle eines: Der Minis-
ter moderiert . Die Gestaltung hat er an die betroffene
Wirtschaft abgegeben: freiwillige Verbindlichkeit, ver-
bindliche Freiwilligkeit oder Wirtschaft mitnehmen, je
nach Tagesform, so die Textbausteine . Tierschutz wird
dadurch beliebig . Tierschutz braucht aber klare Regeln,
meine Damen und Herren . Das ist die Aufgabe des Ge-
setzgebers, Herr Minister .
Wo sind denn die Haltungsverordnungen für Milch-
kühe, für Puten, für Wassergeflügel? Wann hört das
Zurechtschneiden der Tiere endlich auf? Wo bleibt die
Strategie zum Ausstieg aus der betäubungslosen Ferkel-
kastration?
Elfi Scho-Antwerpes
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 13943
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Anstatt echte Strategien und echte Maßnahmen zu prä-
sentieren, berufen Sie ständig neue Arbeitskreise ein, um
die offensichtlichen Probleme zu zerreden . Immer dann,
wenn ich nicht mehr weiter weiß, . . . Das kennen wir ja .
Einen nationalen Alleingang schließt der Minister
beim Thema Tierschutz aus . Er trifft sich immer mal
wieder zum unverbindlichen Kaffeetrinken mit Vertre-
tern aus unseren Nachbarländern, anstatt die Willigen in
Europa zusammenzubringen .
Wir Grünen meinen, dass Sie von der Schweiz, von
Schweden, von Österreich und von Norwegen durchaus
noch lernen können, wenn Sie Tierwohleuropameister
werden wollen .
2015 scheint das Jahr der Wirtschaftsverbände im
Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft
zu sein . Mittlerweile wurden bereits drei freiwillige
Vereinbarungen geschlossen . Mithilfe des Ministeriums
werden die Interessen der Wirtschaft direkt umgesetzt .
Herr Minister, das Primat des Handelns liegt aber ein-
deutig bei Ihnen und nirgendwo sonst . Das kann nicht
abgegeben werden .
Von CDU und CSU hören wir beim Tierschutz nur
von Sehnsuchtsverirrungen, so will ich es einmal nennen,
von anachronistischem Schenkelbrand bei Pferden und
veganen Lederpeitschen .
Vielleicht sind diese Sehnsüchte aber auch nur die Sehn-
süchte des Tierschutzsprechers . Im Tierschutzbericht
wird die Initiative Tierwohl hoch gelobt . Das Ziel der Ini-
tiative sei es, messbare Verbesserungen für das Tierwohl
zu erreichen . Seltsam nur, dass Sie in der Antwort auf
unsere Kleine Anfrage nichts Konkretes vorweisen konn-
ten . Sie wollen zum Beispiel das Problem des Tötens
der männlichen Eintagsküken lösen, indem Sie ein paar
Milliönchen Euro in die Entwicklung der In-ovo-Ge-
schlechtsbestimmung stecken . Sind wir denn hier in der
Märchenstunde?
Alles geht weiter wie bisher, mit dem Unterschied,
dass die männlichen Küken eben ein bisschen früher ver-
nichtet werden und nur die allergrößten Brütereien dieses
bezahlen können .
Wir Grünen sehen den Weg immer noch in der Zweinut-
zung der Hühner .
Da wären wir schon beim Thema Zucht . Die Qual-
zucht sollte nach der Ankündigung des Hauses seit der
letzten Novelle des Tierschutzgesetzes eingeschränkt
werden . Geändert hat sich aber gar nichts . Beispielsweise
finden wir immer noch – viel zu oft – extrem aggressive
Sauen, die regelmäßig mehr Ferkel gebären, als die Sau
Zitzen hat . Was ist das anderes als Qualzucht, Herr Mi-
nister? Schauen Sie sich das an . Das ist ein Problem .
Den Masterplan für eine zukunftsfähige Nutztier-
haltung hat der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpoli-
tik – Ihr Beirat, Herr Minister – ausgearbeitet . Wir hören
hier im Hause, dass selbst Volker Kauder – er wird es ja
gleich bestätigen können – sich schon in dieses sehr um-
fängliche 460-Seiten-Werk eingearbeitet hat .
Die Ignoranz, mit der Sie, Herr Minister, versuchen, die-
ses Gutachten gänzlich unter den Tisch fallen zu lassen,
ist skandalös .
Mehr Tierschutz kostet Geld, eine Menge Geld . Bei
den derzeitigen Erzeugerpreisen für Milch und Schwei-
nefleisch verschärfen höhere Kosten natürlich die finan-
zielle Not . Helfen würde dabei zum Beispiel die Hal-
tungskennzeichnung für Fleisch, wie sie vorbildlich das
baden-württembergische Landwirtschaftsministerium
ausgearbeitet hat .
Darüber sollten wir sprechen, Herr Minister . Darü-
ber sollten Sie am kommenden Montag bei Hart aber
fair sprechen . Sie sollten sich dafür starkmachen und
nicht – wie wahrscheinlich wieder, wie wir es befürchten
müssen – defensiv das Falsche verteidigen . Wenn Sie tat-
sächlich europäischer Tierwohlminister werden wollen,
dann verstecken Sie sich nicht weiter hinter Arbeitskrei-
sen und verbindlicher Freiwilligkeit, sondern handeln Sie
endlich . Vergessen Sie dabei nicht die vielen Betriebe,
die ins Tierwohl investiert haben und denen jetzt vom
Handel eine lange Nase gedreht wird . Vergessen Sie da-
bei auch nicht den immer weiterlaufenden dramatischen
Strukturwandel . Hinter all den Milchvieh- und Schwei-
nebetrieben, die aufgrund Ihrer miserablen Politik in die
Knie gehen, stehen Familien, Traditionen, Werte, Dörfer
und viele Generationen von Bäuerinnen und Bauern .
Hier ist Ihre entschlossene Haltung gefordert, Herr
Minister . Das entscheidet die Frage der Haltung – und
sonst nichts .
Friedrich Ostendorff
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201513944
(C)
(D)
Das Wort erhält nun die Kollegin Kovac für die CDU/
CSU-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wissen Sie,
worauf ich heute stolz bin? Darauf, dass in unserer Frak-
tion der Fraktionsvorsitzende anwesend ist – als einziger
von allen Fraktionen hier im Bundestag .
Ich finde das gut, und das ist ein Zeichen. Das ist ein sehr
gutes Zeichen .
– Genau .
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen
und Kollegen, seit 2002 ist der Tierschutz als Staats-
ziel im Grundgesetz verankert . Der Gesetzgeber muss
somit seinen verfassungsrechtlichen Gestaltungsauftrag
für einen wirksamen Tierschutz erfüllen . Diesem Auf-
trag sind wir nachgekommen und haben das Staatsziel
erfüllt, weil wir eine aktive Tierschutzpolitik betreiben .
Am 13 . Juli 2013 ist das Dritte Gesetz zur Änderung des
Tierschutzgesetzes in Kraft getreten . Der Koalitionsver-
trag von Union und SPD greift den Tierschutz und die
Tiergesundheit explizit auf . Mit der Initiative „Eine Fra-
ge der Haltung – Neue Wege für mehr Tierwohl“ von
Bundesminister Christian Schmidt werden die Vorgaben
des Koalitionsvertrages umgesetzt . Im internationalen
Vergleich zeichnet sich Deutschland als leistungsstarke
und wettbewerbsfähige Land- und Ernährungswirtschaft
durch hohe Tierschutzstandards aus .
Gerade die Verankerung des Tierschutzes in der Ver-
fassung hat Fragen artgerechter Tierhaltung und den
Tierschutz in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Dis-
kussion gerückt . Darüber, dass Tierschutz in Deutschland
und Europa noch weiter verbessert werden soll, besteht
fraktionsübergreifend grundsätzlich Einigkeit . An der
Frage des Wie scheiden sich nach wie vor die Geister .
Obwohl viel diskutiert – und meist zu Unrecht mit dem
nicht näher definierten Begriff der Massentierhaltung
verunglimpft –, spielt die Bestandsgröße für die Tierge-
rechtigkeit keine Rolle .
Tierwohl, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist abhängig
von den Bedingungen, unter denen die Tiere gehalten
werden, und somit von der Gruppengröße, aber nicht da-
von, wie viele Tiere ein Betrieb insgesamt hat .
Und so gilt beim Tierschutz wie auch allgemein: Schnell-
schüsse sind nicht immer sachdienlich .
Durch Zwangsverpflichtungen oder bloße Verbote
laufen wir Gefahr der Standortverlegung ins Ausland,
und dies, meine Damen und Herren, würde weder den
Bürgerinnen und Bürgern noch den Tieren besonders
dienen . Die Verbesserung des Tierschutzes muss auf der
Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse und unter
Berücksichtigung der Wirtschaftlichkeit und Wettbe-
werbsfähigkeit stattfinden.
Die Tierhaltung ist ein wesentliches Standbein der
Landwirtschaft in Deutschland . Die Weiterentwicklung
des Tierwohls verlangt daher eine sorgfältige Abwägung
tierschutzfachlicher, ethischer und wirtschaftlicher As-
pekte . Ich bin davon überzeugt, dass wir mit dem Prinzip
der verbindlichen Freiwilligkeit hier einen guten Kom-
promiss gefunden haben,
zumal man nicht vergessen sollte: Tierschutz liegt im
ureigenen Interesse der Landwirte . Ein gesundes und
zufriedenes Tier wird im Zweifelsfalle mehr produzieren
als ein krankes und gestresstes Tier .
– Genau . – Erlauben Sie mir hier, Ihnen ein Beispiel von
vielen zu nennen: Eckhart Schmieder, von Beruf Land-
wirt und Milchbauer in Fischerbach im Schwarzwald –
meine Heimat –, betreibt in der 23 . Generation den
Prinzbachhof . Durch Bereitschaft, persönlichen Einsatz
und intelligente Technisierung der Tierhaltung hat er es
geschafft, dass sein Hof ein Beispiel für die Symbiose
von Mensch und Tier ist .
Meine Damen und Herren, Tierschutz umfasst eine
ganze Bandbreite an Themen bzw . Tieren: Nutztiere,
Heimtiere, Versuchstiere, Haltung, Transport, Tötung . In
all diesen Bereichen haben wir durch die Novellierung
des Tierschutzgesetzes entscheidende Verbesserungen
erreicht . Die Reduzierung des Antibiotikaeinsatzes in
der Tierhaltung wurde vorangetrieben, jede einzelne An-
tibiotikabehandlung von Tieren muss in einer dafür ge-
schaffenen Datenbank erfasst werden .
Durch unsere Präzisionslandwirtschaft mit Land-
technik made in Germany bringen wir den Tierschutz
wesentlich voran . Darüber hinaus fördern wir eine am
Tierwohl orientierte Agrarforschung . Allein im Bundes-
haushalt 2015 stehen für die Entwicklung von Modell-
und Demonstrationsvorhaben 5 Millionen Euro zur Ver-
fügung . Bis 2018 sind es insgesamt sogar 21 Millionen
Euro .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 13945
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Die Haltung von Nutztieren darf in Deutschland nur
unter Einhaltung der Regelungen des Tierschutzgesetzes
und der Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung erfol-
gen . Sinn und Zweck dieser Regelungen ist es, sicher-
zustellen, dass es Nutztieren möglich ist, ein nahezu
natürliches, der jeweiligen Tierart entsprechendes Ver-
halten auszuüben . Die Einhaltung der entsprechenden
Mindestanforderungen gewährleistet eine angemessene
Ernährung, Pflege und Unterbringung von Nutztieren.
Darüber hinaus wurde mit dem Tierschutzgesetz eine
Verpflichtung des Halters zu einer tierschutzbezogenen
Eigenkontrolle anhand von Tierschutzindikatoren einge-
führt . Damit soll der Eigenverantwortung des Tierhalters
ein höherer Stellenwert eingeräumt werden .
Ab dem 1 . Januar 2019 wird nicht nur die betäubungs-
lose Ferkelkastration verboten sein, sondern auch der
betäubungslose Schenkelbrand bei Pferden . Darüber hi-
naus prüft das Bundesministerium im Rahmen der Tier-
wohl-Initiative, wie das Schlachten trächtiger Tiere nati-
onal, so schnell es geht, grundsätzlich verboten werden
kann .
Hinsichtlich der Erforschung der In-ovo-Geschlechts-
bestimmung als Alternative zur Putentötung nimmt
Deutschland mit einer Fördersumme von rund 2 Millio-
nen Euro eine Vorreiterposition ein .
Auch der Tierschutz bei Heimtieren wurde vorange-
bracht . Im Tierschutz ist verankert, dass derjenige, der
ein Tier hält oder betreut, über die dafür erforderlichen
Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen muss . Seit dem
1 . August 2014 müssen beim Verkauf schriftliche Infor-
mationen über die wesentlichen Bedürfnisse des Tieres
mitgegeben werden . Zusätzlich verbietet das neue Tier-
schutzgesetz, ein Tier als Preis bei einer Verlosung oder
ähnlichen Veranstaltungen auszuloben . Die Rechtssi-
cherheit bei der Anwendung des Qualzuchtverbots im
Tierschutzgesetz wurde ebenfalls verbessert .
Meine Damen und Herren, Deutschland investiert da-
rüber hinaus viel, um die Erforschung von Methoden zum
Ersatz von Tierversuchen zu intensivieren . Dazu vergibt
das BMEL den Forschungspreis zur Förderung metho-
discher Arbeiten mit dem Ziel der Einschränkung und
des Ersatzes von Tierversuchen . Außerdem hat Deutsch-
land mit der Zentralstelle zur Erfassung und Bewertung
von Ersatz- und Ergänzungsmethoden zum Tierversuch,
ZEBET, beim Bundesinstitut für Risikobewertung eine
Vorreiterrolle in Europa übernommen . Die ZEBET wur-
de übrigens zum Deutschen Zentrum zum Schutz von
Versuchstieren ausgebaut; es wurde am 25 . September
dieses Jahres eröffnet . Sie wird sich künftig unter ande-
rem für die Verbesserung von Haltungsbedingungen für
Versuchstiere engagieren .
Liebe Freunde, unser Koalitionsvertrag schreibt das
Ziel vor, EU-weit einheitliche und höhere Tierschutz-
standards durchzusetzen . Auch hier sind wir vorange-
kommen – was mancher in der Opposition nicht sehen
mag . Das Bundeslandwirtschaftsministerium treibt die
Einführung eines europäischen Tierschutzlabels ähnlich
dem Bio-Siegel voran . Mit Dänemark und den Nieder-
landen haben wir am 14 . Dezember 2014 eine gemein-
same Erklärung zum Tierschutz unterzeichnet . Durch
die Erklärung soll auf die Europäische Kommission ein-
gewirkt werden, die Verbesserung des Tierschutzes zu
intensivieren, etwa beim Transport und bei der Schlach-
tung von Tieren .
Meine Damen und Herren, Tierschutz wird von uns
sehr ernst genommen . Wir haben bereits wichtige Ver-
änderungen erreicht . Im Vergleich mit anderen Ländern
hat Deutschland bereits eines der besten Tierschutzge-
setze . Die tiergerechte Haltung in Deutschland wird von
uns weiter gefördert und verbessert . Hierdurch wird dem
gesellschaftlichen Wunsch nach höheren Standards ent-
sprochen . Das kann es aber nicht zum Nulltarif geben .
Deshalb gilt: Die Wettbewerbsfähigkeit unserer landwirt-
schaftlichen Betriebe muss mit den gesellschaftlichen
Erwartungen in Einklang gebracht werden . Wir brauchen
praxisnahe Lösungen, bei denen die Kosten, die mit hö-
heren Standards im Sinne der Verbraucher und zum Woh-
le der Tiere verbunden sind, nicht einseitig auf die Pro-
duzenten abgewälzt werden, sondern von allen getragen
werden .
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Ich erteile das Wort nun der Kollegin Karin Thissen für
die SPD-Fraktion .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollegin-
nen und Kollegen! Wir mussten eine Weile auf den Tier-
schutzbericht der Bundesregierung warten . Aber das ist
in Ordnung . Gut Ding will schließlich Weile haben .
Ich hätte mich gefreut, wenn die Seiten nummeriert ge-
wesen wären . So ist es ein bisschen schwierig, darin zu
lesen. Aber prinzipiell finde ich gut, dass er da ist.
Ich finde auch gut, dass der Tierschutz in Deutschland
in den letzten 50 Jahren zunehmend an Bedeutung ge-
wonnen hat, dass sich das Thema Tierschutz inzwischen
in den Wahlprogrammen fast aller Parteien wiederfindet
und dass das Staatsziel Tierschutz 2002 in das Grundge-
setz aufgenommen wurde .
Eine Verbesserung des Tierschutzes ist somit politisch
gewollt. Das finden wir gut. Die Kollegin Vogt hat es
vorhin schon gesagt: Die SPD wird sich als Koalitions-
partner vehement dafür einsetzen, dass es den Tieren am
Ende der Legislatur besser geht als jetzt .
Auch wenn vieles noch vage ist, so nimmt doch vieles
schon Formen an . Ich möchte ein positives Beispiel aus
Kordula Kovac
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201513946
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dem Tierschutzbericht hervorheben . Es geht um das Ka-
pitel, das sich mit dem Verbot der Schlachtung tragender
Tiere beschäftigt . Ich habe mich beim Lesen darüber ge-
freut, dass konsequent der Begriff „tragende Tiere“ ver-
wendet wird . Denn immer, wenn in den letzten Monaten
darüber gesprochen wurde – wir haben es vorhin in der
Rede der Kollegin Maisch und in der Rede des Kolle-
gen Stier gehört –, ging es lediglich um das Verbot der
Schlachtung tragender Rinder . Aber es betrifft genauso
die Sauen .
– Ach, Sie hatten keine Zeit, auch noch die Sauen zu er-
wähnen . Die Zeit nehme ich mir .
– Ja, aber bei Pferden und Schafen kommt das viel sel-
tener vor .
Ich habe auf einem Schlachthof gearbeitet . Es ist noch
gar nicht so lange her, da wurde ich von einer Kollegin
angerufen, die schon seit 25 Jahren auf dem Schlachthof
arbeitet . Sie sagte mir: Morgen kriegen wir eine Liefe-
rung von 80 hochtragenden Sauen, die geschlachtet wer-
den . Karin, tu was! – Ich sagte: Was soll ich tun? Es ist
nicht verboten . – 80 hochtragende Sauen, das bedeutet,
dass 800 bis 1 200 Feten im Mutterleib ersticken .
Ich habe übrigens bewusst Feten und nicht Ferkel gesagt,
obwohl sie wie Ferkel aussehen . Das muss man sich ein-
mal genau vorstellen und sich dabei überlegen, wie sich
die Menschen fühlen, die an der Schlachtlinie stehen . Ich
sagte zu meiner Kollegin: Ich kann nichts tun, es ist nicht
verboten . Sie sagte: Dann sorge doch bitte dafür, dass es
verboten wird .
Ich möchte nicht nur auf den vorliegenden Tierschutz-
bericht eingehen – das haben meine Vorredner schon ge-
macht –, ich möchte auch auf den vorliegenden Antrag
von Bündnis 90/Die Grünen eingehen; das hat bis jetzt
kaum jemand gemacht . Der Antrag der Grünen enthält
einen Satz, der mir ein bisschen sauer aufstößt . Da heißt
es: Die Bundesregierung soll aufgefordert werden, Tie-
ren in der Landwirtschaft – ich zitiere – „ein würdiges
Dasein“ zu ermöglichen . Mit diesem „würdigen Dasein“
habe ich so meine Probleme .
Ich finde es grenzwertig, den Begriff „Menschenwürde“
auf Tiere zu übertragen . Das ist anthropozentrischer Tier-
schutz .
Herr Präsident, wie läuft das jetzt? Sie machen das
jetzt?
So ist es .
Gut . – Ich bin auch noch Anfängerin . Ich bin noch im
ersten Lehrjahr .
Aber ich habe den Eindruck, dass Sie die Zwischen-
frage zulassen wollen .
Ja, ich bin zwar noch nicht fertig, aber von mir aus .
Frau Maisch, bitte sehr .
Frau Kollegin, danke, dass Sie meine Frage zulas-
sen . – Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es
in der Debatte um Würde mehrerer Würdebegriffe jen-
seits des Begriffes der Menschenwürde gibt? Vielleicht
haben Sie unseren Entwurf eines Tierschutzgesetzes aus
der letzten Legislatur gelesen, in dem wir von der „Wür-
de als Tier“ sprechen . Wir verwehren uns gegen die Be-
hauptung, dass wir in unseren Diskussionsbeiträgen die
Menschenwürde mit einem würdevollen Dasein für Tiere
gleichsetzen . Ich würde mich sehr freuen, wenn auch Sie
das nicht weiter behaupten würden .
Ich habe das nicht behauptet . Ich habe gesagt: Ich
habe ein Problem damit, dass die Würde – –
– Sie können sich ruhig hinsetzen .
Nein, nein, nein . Sie veranstalten hier keine private
Teestunde .
Ich habe nichts dagegen . Und ich rede nicht nur über
den Schutz schwangerer Tiere, sondern auch schwange-
Dr. Karin Thissen
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 13947
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rer Menschen . Ich habe nichts dagegen, wenn Sie sich
hinsetzen .
Ja, ich aber .
Ach so, gut . – Sorry .
Wenn Sie sich privat zum Tee treffen, dann können Sie
das halten, wie Sie wollen, aber wenn Sie hier im Bun-
destag miteinander kommunizieren, sollten wir gewisse
Standards gemeinsam aufrechterhalten .
Ich bitte untertänigst um Entschuldigung . Ich dachte
nur an den Zustand der Kollegin .
– Gut, alles klar . – Jetzt weiß ich nicht mehr, was ich
sagen wollte .
Genau . Ich habe es zur Kenntnis genommen . Ich habe
trotzdem Probleme damit . Ich weiß, dass es unterschied-
liche Definitionen des Begriffes „Würde“ gibt. Trotzdem
habe ich Probleme damit, wenn man eine anthropozentri-
sche Sichtweise zugrunde legt . Das führt meines Erach-
tens nicht zu einer Verbesserung des Tierschutzes .
Ich lege Wert darauf, festzuhalten: Wenn ich über
Tierschutz rede, dann meine ich wissenschaftlichen Tier-
schutz, der nach der Devise „Wissen schützt Tiere“ han-
delt . Dazu zähle ich auch den ethischen Tierschutz; denn
auch Ethik ist Wissenschaft .
Ich möchte noch ein Beispiel aus Ihrem Antrag brin-
gen, warum Wissen Tiere schützt . Sie fordern – ich zitiere
wieder –, „das Tierleid auf Deutschlands Straßen und in
den Schlachthöfen zu beenden“ . Dazu muss man wissen,
dass es auf jedem Schlachthof, wenn die Tiere angelie-
fert werden, einen Tierarzt gibt, der darüber entscheidet,
ob die Tiere geschlachtet werden dürfen; das kann auch
eine Tierärztin sein, aber ich gender das jetzt nicht alles .
Er entscheidet darüber, ob ein Tier geschlachtet werden
darf; denn nur gesunde Tiere dürfen geschlachtet werden .
– Darf ich jetzt erst einmal reden? – Er beurteilt auch,
ob der Transport tierschutzkonform erfolgt ist und ob auf
dem Schlachthof tierschutzkonform gearbeitet wird . Die-
se Tierärzte werden an der Ausübung ihrer Arbeit massiv
gehindert .
– Das habe ich nicht behauptet . Das betrifft uns alle . Ich
kann ja ruhig zur SPD gucken, wenn Ihnen das lieber ist .
Das ist eher ein arbeitsrechtliches Problem, und das Ar-
beitsrecht ist ja ein originäres SPD-Thema .
Man muss einfach wissen, dass die Tierärzte, die letzt-
endlich dafür da sind, das umzusetzen, was wir hier be-
schließen, massiv an der Ausübung ihrer Arbeit gehindert
werden . Wir müssen uns einfach einmal überlegen, wie
wir diesen Menschen helfen können . Dabei geht es nicht
nur um die Tierärzte, sondern grundsätzlich um Men-
schen, die ihren Lebensunterhalt mit Tieren verdienen
und dabei anständig bleiben wollen . Denen wird das Le-
ben immer noch sehr schwer gemacht . Sie werden jetzt
sagen: Wir sind die Legislative und nicht die Exekutive .
Ich denke, man kann sich trotzdem des Problems bewusst
werden und es anpacken . Das ist eine Sache, die auf Län-
derebene umgesetzt werden muss, aber wir alle sind ge-
fordert, uns zu überlegen, was man da machen kann .
Ich bedanke mich bei der Kollegen Thissen für den
vorbildlichen Beitrag zur Einhaltung der Gesamtredezeit
unserer Debatte
und freue mich, wenn der Kollege Holzenkamp diesem
leuchtenden Beispiel folgt .
Herr Präsident, Sie haben mir eine Minute gestrichen .
Gehen Sie bitte gnädig mit mir um . – Verehrte Kolle-
ginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und
Herren auf den Tribünen und an den Bildschirmen! Wir
wissen, die Bedeutung von Tierschutz und Tierwohl
in unserem Land steigt . Die Sorge, ob wir mit unseren
Mitgeschöpfen richtig umgehen, wächst in unserer Ge-
sellschaft, aber auch in der Landwirtschaft . Zwei Drittel
Dr. Karin Thissen
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201513948
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aller Landwirte leben von der Tierhaltung . Somit ist der
Tierschutz ein elementarer Faktor . Tierschutz ist immer
stärker ein emotionales Thema, auch in der politischen
Auseinandersetzung . Manchmal geht das auf Kosten der
Bauernfamilien, indem sie instrumentalisiert werden,
und das ist, wie ich finde, nicht in Ordnung.
Deshalb bin ich dankbar dafür – an dieser Stelle schaue
ich auf meinen Fraktionsvorsitzenden –, dass es gelun-
gen ist, dieses Thema zur Kernzeit hier miteinander de-
battieren zu können .
Wo kommen wir her, wo stehen wir, und wo wollen
wir hin? Bei dieser Debatte muss man manchmal den
Eindruck haben, dass in Deutschland alle Dinge in der
Tierhaltung nicht in Ordnung sind . Ich möchte deshalb
vorweg feststellen: Im Vergleich mit allen vergleich-
baren Ländern der Welt gelten in Deutschland höchste
Standards .
Damit möchte ich den vorhandenen Handlungsbedarf
überhaupt nicht infrage stellen . Ich weiß wie wir alle,
dass die Akzeptanz der Lebensmittelerzeugung und das
Vertrauen in sie und insbesondere die Akzeptanz der
Tierhaltung schwinden, dass die Menschen in unserer
Gesellschaft mehr von uns erwarten .
Was hat eigentlich die Landwirtschaft in den letzten
Jahren und Jahrzehnten gemacht? Sie ist dem giganti-
schen Preisdruck der Märkte mit Effizienzsteigerungen
erfolgreich entgegengetreten .
Das kann man den Landwirten nicht vorhalten . Das
muss man anerkennen . An dieser Stelle will ich deshalb
ganz bewusst gerade die Leistung unserer Tierhalter in
Deutschland würdigen . Das haben sie nämlich wirklich
verdient .
An dieser Stelle wird das Dilemma deutlich, das schon
angesprochen wurde . Wir haben die Forderung nach bes-
seren Bedingungen, nach mehr Komfort, nach höheren
Standards, aber die Bereitschaft, hierfür mehr zu bezah-
len, ist nach wie vor leider Gottes nicht da . Das zeigt sich
an dem tatsächlichen Kaufverhalten .
Dadurch haben wir ein Spannungsfeld, das sehr span-
nungsgeladen ist . Ich kann nur feststellen: Von Umfragen
können unsere Landwirte nicht leben .
Wir haben zurzeit keinen gesellschaftlichen Konsens
über die Art und Weise der Tierhaltung und der Lebens-
mittelerzeugung – leider . Die Landwirtschaft muss sich
verändern . Die Landwirtschaft will sich auch verändern .
Das haben die Landwirte durch ihre Beteiligung an der
Brancheninitiative eindrucksvoll unter Beweis gestellt .
Nur, wie schon erwähnt, bessere Bedingungen müssen
bezahlt werden, und zwar nicht in Form einer Alimentie-
rung – das haben die Landwirte nicht verdient –, sondern
die Landwirte müssen am Point of Sale, an der Ladenthe-
ke, fair bezahlt werden, so, wie sich das gehört .
Wo wollen wir hin? Wir wollen in den Bereichen Tier-
schutz und Tierwohl messbare Verbesserungen haben .
Das Thema Versuchstiere wurde angesprochen . Wir ha-
ben ein Nationales Kompetenzzentrum zum Schutz von
Versuchstieren geschaffen . Wir reden nicht, wir machen .
Das zeichnet uns aus .
Hochgeschätzte Kollegin Maisch, zum Zirkus: Kon-
trollieren, dass die Haltung in Ordnung ist – vollkommen
richtig .
Aber wir wollen keine willkürlichen Verbote . Das ist der
Unterschied zwischen uns .
Wir verbieten nicht willkürlich, sondern schaffen prakti-
kable Lösungen . So ist es richtig .
Ich möchte nicht auf die strahlenden Augen unserer Kin-
der bei einem Zirkusbesuch verzichten . Ich denke, daran
liegt uns allen etwas .
Meine Damen und Herren, wir müssen uns verän-
dern . Ich habe schon an anderer Stelle einmal gesagt:
Die Landwirte befinden sich hinsichtlich der Tierhal-
tung in einem Hamsterrad . In der Vergangenheit hieß es
immer: Größer, weiter, schneller . Das führt uns in eine
Sackgasse . Im globalen Wettbewerb kann man so nicht
gewinnen . Der Umbau, der notwendig ist, den ich gar
nicht infrage stelle, solch eine Weiterentwicklung muss
vernünftig stattfinden nach dem Motto: Evolution statt
Revolution, miteinander statt gegeneinander, im Dialog
statt in Konfrontation . Dann sind wir vernünftig mitei-
nander unterwegs, so, wie sich das gehört .
Ich bin Minister Schmidt dankbar, dass er das Di-
alogforum einrichtet und dass er diese Woche mit dem
Lebensmittelgipfel startet; denn wir haben eine Verant-
wortung für die gesamte Erzeugungskette . Wir kämpfen,
wenn es um faire Preise für die Landwirtschaft geht, mit
den oligopolistischen Strukturen des Lebensmittelhan-
dels und zum Teil auch mit der verarbeitenden Industrie .
Franz-Josef Holzenkamp
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 13949
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Hier besteht Handlungsbedarf . Herr Minister, es ist rich-
tig, dass Sie sich dieser Sache stellen .
Wir wollen Fortschritte in Form von praktikablen Lö-
sungen erzielen; wir wollen keine willkürlichen Verbote
aussprechen . Deshalb haben wir diese Ansätze gerade
letzte Woche in den Haushaltsberatungen um zweistel-
lige Millionenbeträge erhöht . Das ist der richtige Weg .
Noch einmal: Keine willkürlichen Verbote, sondern
praktikable Lösungen .
So machen wir das mit der Initiative „Eine Frage der
Haltung – Neue Wege für mehr Tierwohl“ . Wir treffen
Vereinbarungen mit der Geflügelwirtschaft; Sie haben
das gehört . Wir machen ein Prüf- und Zulassungsverfah-
ren für Haltungssysteme . Wir verbieten die Schlachtung
trächtiger Rinder . Wir wollen das Kürzen von Schnäbeln
ganz verbieten; wir wollen so schnell wie möglich dort
aussteigen . Wir wollen Schluss machen mit dem Töten
männlicher Küken
und mit der Ferkelkastration . Aber, lieber Kollege
Friedrich Ostendorff, wir wollen auch, dass die Landwir-
te zwei oder drei Optionen haben . Deshalb machen wir
Forschung . Wir wollen nicht, dass die Landwirte mit ei-
ner Sache letztendlich erpresst werden können .
Deshalb sind wir so gut und richtig unterwegs .
Richtig ist auch: Wir leben in Deutschland nicht auf
einer Insel der Glückseligkeiten . Wir leben in Europa in
einem Binnenmarkt . Deshalb kümmert sich unser Minis-
ter darum, dass wir mit den befreundeten Mitgliedstaa-
ten, mit den Hauptwettbewerbsländern zu Absprachen
und zu gemeinsamen Lösungen kommen; sonst schießen
wir uns aus dem Markt und meinen es nicht ehrlich mit
unseren Landwirten . Deshalb ist dieser Weg genau rich-
tig .
Ich lade Sie alle ganz herzlich ein: Gehen Sie diesen
gemeinsamen Weg mit uns zusammen in Respekt vor den
Leistungen unserer Landwirte . Denn das haben sie wirk-
lich verdient .
Herzlichen Dank .
Ich schließe die Aussprache . – Interfraktionell wird die
Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 18/6750 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen . Ich nehme an, damit sind Sie einverstanden . –
Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen .
Wir kommen unter dem Tagesordnungspunkt 3 b zur
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung
und Landwirtschaft zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen mit dem Titel „Tierschutz ernst nehmen –
Tierleid verhindern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf der Drucksache 18/3107, die-
sen Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abzu-
lehnen . Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der An-
trag mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen abgelehnt
bzw . die Beschlussempfehlung angenommen .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b auf:
a) Beratung der Antwort der Bundesregierung auf
die Große Anfrage der Abgeordneten Bärbel
Höhn, Oliver Krischer, Annalena Baerbock,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Umsetzung des Aktionsprogramms Klima-
schutz 2020
Drucksachen 18/5489, 18/6763
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Klimaschutzbericht 2015
Drucksache 18/6840
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Zur Antwort der Bundesregierung auf diese Große
Anfrage liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor, über den wir namentlich ab-
stimmen werden .
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
für diese Aussprache 77 Minuten vorgesehen . – Ich höre
keinen Widerspruch . Dann verfahren wir so .
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Bärbel Höhn für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor einem Jahr haben wir hier das erste Mal über das
Klima-Aktionsprogramm der Bundesregierung disku-
tiert . Wir Grünen haben es kritisiert und gesagt: Das ist
zu wenig . Wir brauchen dreimal so viel Ehrgeiz, um das
Ziel einer 40-prozentigen CO2-Reduktion bis 2020 zu er-
reichen . – Die Bundesumweltministerin war empört . Sie
hat gesagt, wir Grünen sollten aus unserem nörgelnden
Abseits herauskommen und endlich Gabriels Zahlen ak-
zeptieren . Meine Damen und Herren, das war eine Feh-
Franz-Josef Holzenkamp
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201513950
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leinschätzung der Bundesumweltministerin, und das war
ein verlorenes Jahr 2015 .
Heute, ein Jahr später, wird dieser Bundesregierung
von Experten bescheinigt, dass die Zahlen der Grünen
stimmen . Sie sagen: Die Bundesregierung muss dreimal
so ehrgeizig sein, um das Ziel zu erreichen, und das Ziel
ist erheblich gefährdet . – Schöne Worte reichen nicht . Pa-
cken Sie das Thema endlich an, und tun Sie etwas für den
Klimaschutz!
Es wäre international ein verheerendes Zeichen, wenn
Deutschland sein Klimaziel nicht erreicht .
Was wir momentan erleben, ist, dass Klimaschutz für
die Bundesregierung nur ein Sonnenscheinthema ist . In
dem Moment, in dem die IG BCE auf die Straße geht,
wird der Klimaschutz im Zweifelsfall einfach hintan-
gestellt . Das geht so nicht . Knicken Sie nicht vor der
IG BCE ein! Das ist falsch, und das ist auch wirtschaft-
lich falsch .
Dieses Desaster begann, als die Bundeskanzlerin 2007
überall in den Medien die „Klima-Queen“ war .
Da hat sie auf internationaler Ebene gesagt, was man al-
les machen muss; das war gar nicht so schlecht . Aber als
sie dann zurückkam, hat sich genau diese Bundeskanzle-
rin auf EU-Ebene, in Brüssel, für die großen Spritschlu-
cker, für die großen Autos in Deutschland eingesetzt und
schon beschlossene Grenzwerte wieder aufgeweicht .
Das war übrigens das Zeichen an die Automobil-
industrie: Steigt ganz groß ins legale Tricksen ein! Bis
dahin gab es beim CO2-Ausstoß und beim Kraftstoff-
verbrauch der Autos zwischen Theorie und Praxis einen
Unterschied von 8 Prozent; inzwischen haben wir einen
Unterschied von 40 Prozent . Seitdem ist die Kreativität
der Ingenieure darauf gerichtet, zu tricksen, anstatt da-
rauf, mehr Energieeffizienz in die Automobilindustrie
hineinzubringen . Das geht nicht .
Das hat nämlich verheerende wirtschaftliche Folgen –
das sieht man an VW –, ist aber auch im Hinblick auf die
Bilanz im Klimaschutz falsch . Denn der CO2-Ausstoß im
Autoverkehr ist seit 1990 gestiegen und nicht gesunken .
Wir wollen aber eine Senkung erreichen . De facto ver-
brauchen wir in diesem Jahr 10 Prozent mehr Kraftstoff
als noch im Jahr 2007 .
Im Umweltbereich gilt für Industrieanlagen: Grenz-
werte sind einzuhalten – Punkt . Im Verkehrsbereich gilt:
Im Zweifelsfall sieht das Kraftfahrt-Bundesamt sowieso
nicht hin, und es hat noch nicht einmal die Kompetenz,
hinzuschauen . Das, meine Damen und Herren, muss sich
ändern .
Ansonsten schliddern wir in eine richtige Automobil-
krise hinein, die sich gewaschen hat . Was das bedeutet,
sehen wir im Energiebereich . Die großen Energiekonzer-
ne schwächeln, weil sie die Energiewende verschlafen
haben . Auch da war es so: Die Kanzlerin stellte sich in
Elmau hin, sagte: „Wir brauchen im Lauf dieses Jahrhun-
derts eine Dekarbonisierung“, und wenige Tage später
machte sie statt einer Abgabe für Braunkohlenkraftwerke
eine Subventionierung alter Braunkohlenkraftwerke in
Höhe von 1,7 Milliarden Euro . Das ist einfach unglaub-
würdig, meine Damen und Herren . So kann man keine
Klimapolitik betreiben .
Wenn die staatseigene KfW mit ihrer Tochter IPEX-
Bank immer noch Kredite für Kohlekraftwerke in aller
Welt ausreicht – insgesamt 3,3 Milliarden Euro für Koh-
lekraftwerke – und auch Hermesbürgschaften einsetzt,
dann ist das eine Doppelmoral, die nicht zu halten ist .
Das geht so nicht .
Die Allianz, die Rockefeller-Stiftung, der norwegische
Pensionsfonds steigen aus Investitionen in die Kohle aus .
Die Bundesregierung sollte diese Bewegung mitmachen,
weil sie auch wirtschaftlich begründet ist . Ansonsten ha-
ben wir hier Fehlinvestitionen, die uns alle teuer zu ste-
hen kommen .
Bundesumweltministerin Hendricks hat vor wenigen
Tagen einen interessanten Vorschlag gemacht . Sie hat
nämlich gesagt, wir könnten in 20 bis 25 Jahren aus der
Kohle aussteigen . Das ist gut . Wir wollen aber noch ehr-
geiziger sein .
Genau diese Ankündigung wollen wir hier zur Abstim-
mung stellen . Wir wollen wissen: Meinen Sie es ernst mit
dem Klimaschutz, was zwangsläufig einen Ausstieg aus
der Kohle voraussetzt, oder ist das nur ein weiteres Ver-
sprechen vor der Klimakonferenz?
Wir könnten jetzt so viel tun . Die Kosten für PV sind
stark gesunken . Wir könnten PV-Anlagen auf den Dä-
chern, Anlagen für die Kraft-Wärme-Kopplung in den
Kellern und mehrfach verglaste Fenster einbauen . Davon
würden genau die Menschen profitieren, die mit nied-
rigem Einkommen in schlecht gedämmten Wohnungen
leben. Jetzt könnten die Mieter profitieren, genau die
Menschen, von denen Gabriel immer sagt, sie würden
durch die hohe EEG-Umlage die Photovoltaik-Anlage
des Zahnarztes finanzieren.
Bärbel Höhn
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 13951
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Jetzt, da wir für eine gerechte Umverteilung sorgen
könnten – auch bei den erneuerbaren Energien –, blo-
ckieren Sie die Photovoltaik . Das ist einfach nicht nur
unökologisch, sondern auch unsozial und unwirtschaft-
lich . So nutzen Sie nicht die Chancen des Klimaschutzes:
nämlich dass Sie Arbeitsplätze schaffen und für mehr so-
ziale Gerechtigkeit sorgen könnten . Machen Sie endlich
eine andere Kohlepolitik!
Zum Schluss noch eines: Wenn Sie international lä-
cheln und national schwächeln, dann ist das die falsche
Politik . Ändern Sie diese Politik für unsere Kinder und
Enkelkinder!
Das Wort erhält nun der Kollege Josef Göppel für die
CDU/CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gegen-
stand der heutigen Debatte sind der Klimaschutzbericht
und der Maßnahmenplan bis 2020; das ist also sozusagen
das Kleingedruckte . Nach der fulminanten Einführung
der Kollegin Höhn ist es vielleicht ganz gut, auf die gro-
ßen Zusammenhänge zu schauen .
Frau Höhn, Sie kritisieren an Frau Merkel, dass sie
nicht entschlossen genug vorangeht .
Ich möchte Ihnen sagen: Frau Merkel hat im Jahr 2007,
in einer Situation, als der Klimaschutz für manche Re-
gierungschefs in Europa noch kaum ein Thema war, das
Dreimal-20-Prozent-Ziel im Europäischen Rat erreicht .
Ich möchte daneben darauf hinweisen, dass sie 2011 –
nach Fukushima – die Energiewende eingeleitet und dies
auf ihre Kappe genommen hat .
Ich möchte weiter daran erinnern, dass sie 2014 im Eu-
ropäischen Rat das Ziel durchgesetzt hat, dass die Treib-
hausgasemissionen in der Europäischen Union bis 2030
um 40 Prozent im Vergleich zum Jahr 1990 sinken . Au-
ßerdem hat sie in Elmau bei den Regierungschefs der
Welt ein Klima herbeigeführt, das zu dem Bekenntnis
zum 2-Grad-Ziel und zur Dekarbonisierung der Wirt-
schaft geführt hat, und dies wird nun auf der Konferenz
in Paris von der deutschen Verhandlungsdelegation fort-
gesetzt .
Schauen Sie doch in den Spiegel von dieser Woche .
Sie beschreiben sehr schön, welche Verhandlungsgrup-
pen es jetzt in Paris gibt . Da heißt es: Die ambitioniertes-
te Gruppe: Deutschland gibt den Ton an .
Liebe Frau Höhn, das ist der Grund, warum ich für
Frau Merkel bin . Sie handelt nämlich alles andere als zö-
gerlich und hat eine durchgehende Linie . Man spürt eben
die physikalische Grundhaltung bei dieser Frau . Das ist
für Deutschland gut . Das ist für die Modernisierung un-
serer Volkswirtschaft gut . Das ist für unseren Erfolg auf
den internationalen Märkten gut .
Man darf natürlich schon fragen: Wo stehen wir? Wir
Deutschen hatten vor zehn Jahren einen Primärenergie-
verbrauch pro Kopf von 50 000 Kilowattstunden . Jetzt
sind wir bei 47 000 Kilowattstunden . Man kann also sa-
gen: Das ist ein Erfolg, eine leichte Senkung . – Wir müs-
sen aber auch sehen, dass der europäische Durchschnitt
bei 36 000 Kilowattstunden pro Kopf liegt . Hier kommt
natürlich ins Spiel, dass wir – das hat sich geschicht-
lich so ergeben – ein sehr viel stärker industrialisiertes
Land sind und dass die alten Industrieanlagen einen er-
heblich höheren Energieverbrauch hatten . Daraus ergibt
sich klar, wo unsere Handlungsfelder sind . Der Ausstoß
der Treibhausgase verteilt sich auf folgende Sektoren:
40 Prozent im Energiesektor, 20 Prozent in der Industrie,
20 Prozent im Verkehr, 10 Prozent in den Haushalten –
das macht insgesamt 90 Prozent –, und der Rest entfällt
auf Landwirtschaft, Gewerbe und kleine Sonderbereiche .
Das heißt, es war strategisch völlig richtig, Frau Kolle-
gin Höhn, bei der Energiewende mit dem Stromsektor
anzufangen .
In dem Bericht, der heute Gegenstand der Beratung
ist, steht, dass die Minderung von 110 Millionen Tonnen
Treibhausgasen auf Maßnahmen des EEG zurückgeht .
Wenn wir uns anschauen, dass im selben Bericht für das
Jahr 2014 eine Senkung um 27 Prozent gegenüber 1990
ausgewiesen ist, dann wird klar, dass diese 110 Millio-
nen Tonnen ein Drittel dieser Senkung gegenüber dem
Jahr 1990 ausmachen . Das ist ein Erfolg, der unsere
Wirtschaft in eine bessere Ausgangsposition auf den
Weltmärkten bringt und im Inland zur Modernisierung
unserer Wirtschaft führt .
Ich muss bei dieser Gelegenheit leider auch sagen: Für
Leute, die meinen, dass durch das EEG mit seinen rie-
sigen volkswirtschaftlichen Kosten ein Windradfriedhof
erzeugt wurde, für Leute, die derart arrogant und borniert
daherreden, kann ich mich nur schämen; denn schon
technisch betrachtet ist das falsch . Die alte Wirtschaft
hinterlässt uns riesige Nachfolgelasten . Ein Windrad aber
kann man bis zur letzten Schraube recyceln .
Aus diesem Grund muss man auch darauf hinweisen,
dass sich die deutsche Bevölkerung an der Energiewen-
de stark beteiligt und die politischen Vorgaben in einem
außerordentlichen Maß positiv aufgegriffen hat . Es gibt
in anderen europäischen Ländern in Bezug auf eine
CO2-freie Energieversorgung nicht den Mittelstand und
die Basisinitiativen in dem Ausmaß wie in Deutschland .
Diese Bevölkerungsbeteiligung ist ein wichtiger Wert,
weil es jetzt um die sektorenübergreifende Betrachtungs-
weise geht, also die Einbeziehung von Wärme und Mo-
bilität .
Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass die von uns
festgelegten Korridore unter dem Gesichtspunkt der sek-
torenübergreifenden Sichtweise überprüft werden müs-
Bärbel Höhn
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201513952
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(D)
sen . Wenn Ende dieses Jahres der Anteil an Strom aus er-
neuerbaren Energien bei 33 Prozent liegt und unser Ziel
bis 2025 bei 40 bis 45 Prozent liegt, dann ist dieses Ziel
bei Einbeziehung der Elektromobilität und der Strom-
überschüsse im Heizungssektor nicht mehr angemessen .
Ich sehe die Notwendigkeit, die Korridore an die Erfor-
dernisse der sektorübergreifenden Politik anzupassen .
Ich möchte bei dieser Gelegenheit noch einmal die
Bevölkerungsbeteiligung aufgreifen . Wir haben beim
Verhältnis von Groß- und Kleininvestoren im Bereich
der erneuerbaren Energien zurzeit einen Anteil von etwa
50 Prozent auf der einen und rund 50 Prozent auf der
anderen Seite. Ich finde, das ist eine gute Verteilung. Die
alten Konzerne sollen ihr neues Geschäftsmodell haben;
das sehen wir jetzt an der Neuausrichtung von RWE . Wir
dürfen aber durch das Mittel der Ausschreibungen nicht
die Kleininitiativen abwürgen .
Ich habe die Sorge, dass die breite Bevölkerungsbeteili-
gung, die Beteiligung von Landwirten, von Handwerkern
und kleinen Gewerbetreibenden, unter die Räder kommt .
Wenn es so ist, dass in den europäischen Beihilfericht-
linien eine Freigrenze für eine bestimmte Anzahl – drei
Windräder – vorgesehen ist, dann fordere ich, diese
Freigrenze auch in Deutschland anzuwenden . Man kann
nämlich nicht immer wieder auf die europäischen Beihil-
ferichtlinien wie auf die Bibel verweisen, jedoch dort, wo
sie einmal eine Öffnung erlauben, sagen: Nein, das ist für
uns aber nicht ganz passend .
Die Bevölkerungsbeteiligung auf breiter Ebene ist
entscheidend dafür, dass wir die Modernisierung unserer
Volkswirtschaft in alle Lebensbereiche hineinbringen: in
den Verkehr, das Heizen und den ganzen Lebensstil .
Unsere Bevölkerung ist ja bereit . Ich sehe im neuen
KWK-Gesetz einen wichtigen Erfolg, indem jetzt die
Direktbelieferung durch Arealnetze und die KWK-Ver-
gütung von 5,41 Cent auch für Endkunden möglich sind .
Das wird auch die Mieter in den Großstädten endlich
dazu bringen, dass sie in den erneuerbaren Energien
einen Vorteil sehen . Das Argument „Das betrifft ja nur
Leute auf dem Land“ kann auf diese Weise überwunden
werden .
Wir müssen diesen Punkt aber 2016 auch in das EEG ein-
bringen; denn das ist das Gegenstück zum KWK-Gesetz .
Das ist doch eine vorzügliche Schlussbemerkung,
Herr Kollege Göppel .
Genau, zu dieser möchte ich jetzt kommen .
Als ich mich heute früh auf die Rede vorbereitet habe,
habe ich noch einmal den Vers 212 der Umweltenzyklika
von Papst Franziskus gelesen . Er schreibt darin in einer
wunderbaren Sprache: Glaubt nicht, dass eure kleinen
Bemühungen nicht einen Wert hätten . In ihnen steckt ein
Wert, der über das Sichtbare hinaus Gutes in der Welt
bewirkt . – Das ist für uns alle sicherlich eine Motivation,
bei diesem Thema gemeinsam entschlossen weiterzuar-
beiten .
Die Kollegin Bulling-Schröter ist die nächste Redne-
rin für die Fraktion Die Linke .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kollege Göppel hat Papst Franziskus zitiert, ich möchte
das auch tun . Papst Franziskus sagt auch: Dieses System
tötet . – Im Klimawandel macht dieses System das schon,
und wir wollen verhindern, dass noch mehr Menschen
am Klimawandel sterben .
Es ist genau ein Jahr her, dass das Aktionsprogramm
Klimaschutz 2020 und der Nationale Aktionsplan Ener-
gieeffizienz verkündet wurden. Es gibt jetzt eine Große
Anfrage der Grünen, und ich sage Ihnen: Irgendwie ist
die Antwort wenig ergiebig ausgefallen . Jetzt müssen wir
uns fragen: Hat die Bundesregierung ihre eigenen Ziele
erreicht oder sie auf einen guten Weg gebracht? Und was
ist aus den Sofortmaßnahmen bei der Energieeffizienz
geworden?
Ich denke, wir können ein Zwischenzeugnis ausstel-
len . Für die Linke sage ich nur: Sehr mangelhaft, da muss
noch vieles nachgebessert werden . Denn Sie haben nur
etwa die Hälfte der Maßnahmen des Aktionsprogramms
Klimaschutz 2020 und ebenfalls nur etwa die Hälfte der
Maßnahmen des Nationalen Aktionsplans Energieeffi-
zienz erreicht oder auf den Weg gebracht . Damit ist die
Bundesregierung eben nicht die Musterschülerin, als die
sie sich immer darstellt .
Wenn wir uns die Klimaschutzlücke anschauen, dann
müssen wir zur Kenntnis nehmen: Es sind nur ein Vier-
tel der geplanten Einsparungen auf dem Zielpfad . Dies
zeigen uns zum Beispiel die Zahlen des Fraunhofer-In-
stituts .
Mit jedem Jahr, mit dem wir näher an das Jahr 2020
heranrücken, wird die Zeit knapper . Die Zeit läuft uns
davon, liebe Kolleginnen und Kollegen . Die Anstrengun-
Josef Göppel
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 13953
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(D)
gen müssen vervielfacht werden, wenn die Bundesregie-
rung das Klassenziel der Treibhausgasreduzierung um
40 Prozent noch erreichen will .
Die Experten, die vor zwei Wochen den Monito-
ring-Bericht „Die Energie der Zukunft“ kommentiert
haben, haben dieses Mal ungewöhnlich deutliche Wor-
te gefunden . Sie sehen das 40-Prozent-Ziel erheblich
gefährdet, und sie machen deutlich, dass die Anstren-
gungen in der verbleibenden Zeit verdreifacht werden
müssen . Die schlimmsten Versäumnisse liegen im Ver-
kehrsbereich . Darauf wird meine Kollegin Sabine Leidig
noch eingehen .
Der größte Rückschlag bei diesen ganzen Aktivitäten
ist für mich nach wie vor das Scheitern der steuerlichen
Förderung bei der energetischen Gebäudesanierung . Da-
für hätte 1 Milliarde Euro bereitgestellt werden sollen .
Das allein hätte 12 Prozent der drohenden Klimaschutz-
lücke schließen können, und das ist nicht nichts; das ist
ziemlich viel . Das daraufhin von Ihnen ins Spiel gebrach-
te „Anreizprogramm Energieeffizienz“ ist im Vergleich
dazu mit seinen 165 Millionen Euro, mit Verlaub, ein
Witz .
Die Experten sagen:
Ohne zusätzliche Maßnahmen ist somit die Ziel-
verfehlung absehbar . Für das Jahr 2020 kann die
Deckungslücke auf bis zu 90 Millionen Tonnen
CO2-Äquivalente und für 2030 auf rund 150 Millio-
nen Tonnen CO2-Äquivalente veranschlagt werden .
Das können Sie auf Seite 116 der Stellungnahme nachle-
sen . Schauen Sie sich das an! Sie müssen etwas tun .
Ich meine, wir brauchen eine Regulierung . Andere
europäische Länder machen uns das vor: Dänemark ist
mutiger und konsequenter . Während dort seit 2013 Öl-
heizungen im Neubau und ab 2016 auch im Altbau ver-
boten sind, ist bei uns nichts dergleichen in Sicht . Na-
türlich müsste man ein solches Verbot sozial abfedern,
aber es wäre eine gute und effektive Maßnahme, um sich
von den 5,2 Millionen Ölheizkesseln in Deutschland zu
verabschieden .
An dieser Stelle möchte ich die Umweltministerin ein-
mal loben . Sie hat keine Zugeständnisse bei der Energie-
einsparverordnung aufgrund des Wohnraumbedarfs für
Flüchtlinge gemacht, wie es verschiedentlich gefordert
wurde . Das ist begrüßenswert, und das unterstützen wir
auch .
Aber es gibt große Defizite bei der Effizienzstrategie
Gebäude, vor allem bei öffentlichen Gebäuden . Dazu
ist uns mitgeteilt worden, dass Ende des Jahres ein Sa-
nierungsfahrplan vorliegen soll . Jetzt wird den Grünen
gesagt, dass er nächstes Jahr kommt . Also bitte, da müs-
sen Sie jetzt endlich nachsteuern, und Sie müssen bei den
öffentlichen Gebäuden etwas tun . Das schreibt auch die
EU-Energieeffizienzrichtlinie vor. Tun Sie also etwas!
Bei Bundesliegenschaften ist das ganz, ganz wichtig .
Jetzt kommen wir zur größten Enttäuschung – für
mich war es auch eine persönliche Enttäuschung –: Sie
schenken den Konzernen Geld dafür, dass sie ihre Koh-
lekraftwerke abschalten . Dabei geht es um 230 Millionen
Euro pro Jahr .
– Ja, ehrlich . Vielleicht können Sie nicht rechnen . Aber
lassen Sie sich dazu informieren, wenn Sie nicht Be-
scheid wissen .
Es geht noch weiter mit der Unterstützung der Kon-
zerne RWE und Eon,
Stichwort „Nachhaftungsgesetz“ . Ihre Fraktion hat bis-
her verhindert, dass dieses Gesetz durch den Bundestag
kommt . Sie müssen gar nicht lachen . Sie sind einer der-
jenigen, der die Konzerne richtig pusht, und die Leute
vor Ort müssen das bezahlen . Glauben Sie doch nicht,
dass sie doof sind! Sie sprechen uns darauf an und fra-
gen: Was macht ihr da überhaupt in Berlin? Ihr braucht
gar nicht mehr abzustimmen; das machen die Konzerne
für euch . – Und die KfW vergibt weiter Kredite für Koh-
lekraftwerke .
Frau Kollegin, apropos Abstimmung: Die Redezeit ist
überschritten .
Das ist eine Politik für die Konzerne . Das muss anders
werden .
Eine breite Mehrheit der Bevölkerung will das auch an-
ders . Sie will es nicht mehr so wie Sie .
Für die Bundesregierung erteile ich der Parlamentari-
schen Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter das
Wort .
Ri
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Deutschland hat sich das Ziel gesetzt,
die Treibhausgasemissionen bis 2020 um mindestens
40 Prozent gegenüber 1990 zu senken . Für uns ist klar:
Wenn wir uns auf internationaler Ebene für ambitionierte
und verbindliche Klimaschutzziele einsetzen, dann müs-
Eva Bulling-Schröter
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201513954
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sen wir daheim unsere Hausaufgaben machen, und das
tun wir .
Wir haben gleich zu Beginn dieser Legislaturperiode
begonnen, festzustellen, ob wir das Ziel bis 2020 errei-
chen oder ob wir nachlegen müssen, also zusätzliche
Maßnahmen benötigen, um dieses Ziel zu erreichen . Mit
den bis 2013 beschlossenen und umgesetzten Maßnah-
men können wir danach bis 2020 eine Minderung um
etwa 33 bis 34 Prozent – plus/minus 1 Prozentpunkt
Unsicherheit – erreichen . Das heißt, wir stehen vor einer
Lücke bei der Treibhausgasminderung von 5 bis 8 Pro-
zentpunkten, die wir bis 2020 schließen müssen und auch
schließen wollen .
Nur wenn wir diese Klimaschutzlücke schließen,
bleibt der Weg zum Erreichen der 2030er, 2040er und
2050er Klimaschutzziele realisierbar; wir sind dann auf
dem Pfad . Nur so kann auch das Klimaschutzziel auf
europäischer Ebene erreicht werden . Deshalb hat die
Bundesregierung im Dezember vergangenen Jahres das
Aktionsprogramm Klimaschutz 2020 mit über 100 Ein-
zelmaßnahmen auf den Weg gebracht . Ein wichtiger Be-
standteil dieses Klimaschutzprogramms ist der NAPE . Er
beschreibt die Energieeffizienzstrategie der Bundesregie-
rung .
Frau Bulling-Schröter, tun Sie nicht so, als ob wir
nichts getan hätten . Bei der Gebäudesanierung wurden
die Mittel für das entsprechende Programm aufgestockt .
Bei der energetischen Stadtsanierung haben wir die För-
derbedingungen wesentlich erleichtert . Mit Verlaub, die
Maßnahmen müssen auch erst einmal wirken, wie im Be-
richt aufgezeigt wird . Mit dem NAPE wurden zugleich
die Eckpunkte für die Ausarbeitung der Energieeffizienz-
strategie „Gebäude“ beschlossen .
Die Umsetzung des Aktionsprogramms wird in einem
kontinuierlichen und transparenten Prozess begleitet .
Hierfür hat das Kabinett das BMUB beauftragt, jährlich
einen Klimaschutzbericht zu erstellen . Das heißt, wir
stellen uns durchaus den Problemen und schauen, wo wir
stehen . Der Klimaschutzbericht stellt die aktuellen Trends
der Emissionsentwicklung dar, berichtet zum Stand der
Umsetzung der Maßnahmen des Aktionsprogramms und
gibt einen Ausblick auf die zu erwartenden Minderungs-
wirkungen bis 2020 . Der erste Bericht wurde am 18 . No-
vember vom Kabinett verabschiedet, ebenso wie die Ant-
wort auf die Große Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen zur Umsetzung des Aktionsprogramms . Mit der
Verabschiedung des ersten Klimaschutzberichts vor der
COP 21 in Paris zeigt die Bundesregierung: Wir legen
Rechenschaft ab, geben einen Ausblick auf die künftige
Entwicklung und lenken den Blick auf das, was tatsäch-
lich noch zu tun ist, um das Ziel im Jahr 2020 sicher zu
erreichen .
Unser Ziel für 2020 ist ein wichtiges Etappenziel im
Hinblick auf das langfristige Minderungsziel der EU und
Deutschlands von mindestens 80 bis 95 Prozent bis 2050
gegenüber 1990 sowie für die definierten Zwischenzie-
le 2030 und 2040 . Mit dem Gipfel in Elmau ist der Weg
ganz klar vorgezeichnet . Wir streben bis zum Ende die-
ses Jahrhunderts eine weitgehende Dekarbonisierung der
Weltwirtschaft an und gehen voran . Der Klimaschutzbe-
richt zeigt: Wir sind auf einem guten Weg . Die Umset-
zung nahezu aller Maßnahmen des Aktionsprogramms
wurde in Angriff genommen . Einige Maßnahmen wirken
bereits . Aber mit Verlaub, es ist schon sehr ambitioniert,
zu erhoffen, dass über 100 Maßnahmen ihre volle Wir-
kung schon im ersten Jahr entfalten .
Wir haben 2010 beschlossen, dass der Anteil der
erneuerbaren Energien an der Deckung des Strom-
verbrauchs bis 2020 bei 35 Prozent liegen soll . – Herr
Krischer, regen Sie sich nicht auf . Wir sind inzwischen
bei 33 Prozent .
Wollen Sie angesichts dieser Zahl ernsthaft behaupten,
dass wir in den nächsten fünf Jahren die 35 Prozent nicht
erreichen werden? Wir sind auf einem guten Pfad . Sie
müssen es nicht schlechterreden, als es tatsächlich ist .
Ich möchte noch einmal auf die Kohlefinanzierung
eingehen . Sie, Frau Höhn, haben die 3,3 Milliarden Euro
angesprochen; aber Sie haben nicht gesagt, dass die KfW
im gleichen Zeitraum Umwelt- und Klimaschutzmaß-
nahmen in einem Volumen von 177 Milliarden Euro fi-
nanziert hat . Das muss man einmal im Vergleich sehen:
177 Milliarden Euro zu 3,3 Milliarden Euro . Sie tun so,
als ob die KfW nur die Kohletechnologie fördere . Das
stimmt einfach nicht .
Ich appelliere, dass wir uns gemeinsam auf den Weg
machen und uns in den Dialogprozess und das Aktions-
bündnis Klimaschutz einbringen . Dieses ist ganz gut
gestartet und umfasst die Länder, Kommunen, die Wirt-
schaft und alle gesellschaftlichen Gruppen . Alle diese
Akteure gemeinsam müssen dazu beitragen, die Maßnah-
men auf dem Weg der Dekarbonisierung voranzubringen .
Diesen Ansatz der Beteiligung verfolgen wir auch im
Zusammenhang mit unseren mittel- und langfristigen
Klimaschutzzielen . Im Lichte der Ergebnisse von Paris
und der vereinbarten EU-Ziele wollen wir unsere Kli-
maschutzpolitik langfristig aufstellen . Dies soll mit dem
Klimaschutzplan 2050, den wir nächstes Jahr beschlie-
ßen wollen, geschehen . Ich glaube, es ist wichtig, dass
wir diesen Dialogprozess haben . Es kommt nicht darauf
an, ob wir einen Monat früher oder später damit begin-
nen. Wir befinden uns auf dem richtigen Weg, und wir
machen das gründlich . Wir haben dazu, wie gesagt, einen
breiten Dialog- und Beteiligungsprozess mit Bundeslän-
dern, Kommunen und Verbänden initiiert . Sie sehen: Für
uns ist nicht in fünf Jahren Schluss . Wir wissen, dass bis
2050 ein langer Weg zu gehen ist . Wir haben angefangen,
diesen Weg zu gehen, und wir werden die Dekarbonisie-
rung der Weltwirtschaft bis Ende dieses Jahrhunderts vo-
rantreiben . Dabei spielt auch eine Rolle, diesen Prozess
sozialverträglich zu gestalten und sinnvolle Investitionen
Parl. Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 13955
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zu tätigen . Dafür brauchen wir die Unterstützung aller .
Dafür werbe ich .
Herzlichen Dank .
Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten
Carsten Müller, CDU/CSU-Fraktion, das Wort .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Ich will – die Frau Kollegin Staatssekretärin hat das
eben richtigerweise gemacht – einen zentralen Punkt
dieser Debatte noch einmal unterstreichen . Die beiden
Kolleginnen der Oppositionsfraktionen haben unter an-
derem auf die Frage abgehoben, in welchem Umfang
die KfW die Kohletechnologie finanziert. Richtig, sie tut
das in einem Umfang von 3,3 Milliarden Euro . Das ist
zweimal gesagt worden, und ich sage es jetzt ein drittes
Mal . Darüber kann man sich durchaus streiten, aber Sie
haben zwei Dinge verschwiegen: zum einen, dass diese
Investitionen zur Modernisierung von alten Kohlefeue-
rungsanlagen verwendet worden sind,
zum anderen haben Sie den wesentlichen Punkt ver-
schwiegen – das ist ehrlich gesagt schon in der Nähe
der Unredlichkeit –, dass ein Finanzierungsvolumen von
173 Milliarden Euro von der KfW für Klimaschutz und
grüne Technologien ausgelegt worden ist. Ich finde, es
ist eine bemerkenswerte Aufgabenteilung – die finde ich
auch gut –: Sie von der Opposition kümmern sich um
1,87 Prozent, und wir von der Großen Koalition küm-
mern uns um 98,13 Prozent . Das ist eine vernünftige
Aufgabenteilung .
Etwas überraschend ist heute sowohl von Vertretern
der Regierungsfraktionen als auch aus den Reihen der
Opposition Papst Franziskus zitiert worden . Ehrlich ge-
sagt: Ja, es lohnt sich, die Umweltenzyklika zu lesen, und
es wäre vermessen, zu sagen, dass der Papst von wesent-
lichen Programmen der Großen Koalition abgeschrieben
hätte .
Aber ich finde es bemerkenswert, dass wir doch einen
weitgehenden gesellschaftlichen Gleichklang haben . Das
zeigt, dass die Große Koalition und die Bundesregierung
auf dem richtigen Pfad sind .
Ich will einige wenige Gesichtspunkte herausgrei-
fen . Unzweifelhaft ist die wirksamste Art, das Klima
zu schützen, der Energieverschwendung Einhalt zu ge-
bieten. Deswegen finde ich es richtig, dass wir gerade
heute, am ersten Geburtstag des Nationalen Aktionsplans
Energieeffizienz, eine solche Debatte führen. Der NAPE
ist durchaus ambitioniert . Wir wollen versuchen, 25 Mil-
lionen bis 30 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente einzu-
sparen, und das bis 2020 .
Da ist in den letzten zwölf Monaten eine ganze Men-
ge sehr Vernünftiges angedacht und formuliert worden .
Ich nenne die KfW-Energieeffizienzprogramme und die
Energieauditpflicht für größere Unternehmen. Mit den
wettbewerblichen Ausschreibungsmodellen für Energie-
effizienz und mit der Contracting-Förderung haben wir
wichtige Schritte nach vorne gemacht . Es gibt auch klei-
nere Maßnahmen, die durchaus wirkungsvoll sind, bei-
spielsweise das Effizienzlabel für Heizungsaltanlagen.
Aber – auch das hat mein Kollege Josef Göppel richti-
gerweise gesagt, und auch ich sage das ganz freimütig –
ich könnte mir durchaus etwas mehr Geschwindigkeit
bei der Umsetzung der einzelnen Schritte des NAPE vor-
stellen . Entsprechend ist auch mein Appell an die Bun-
desregierung . Ich bin, ehrlich gesagt, etwas enttäuscht
darüber, dass es nach wie vor nicht gelungen ist, die steu-
erliche Förderung der energetischen Gebäudesanierung
umzusetzen . Ich will meine Worte mit einem Appell an
die Bundesländer verbinden . Sie stehen auf der Bremse .
Das darf nicht sein . Klar ist auch, dass das „Anreizpro-
gramm Energieeffizienz“ der KfW mit einem Volumen
von 165 Millionen Euro dieses wichtige und zentrale
Vorhaben des NAPE keinesfalls ersetzen kann .
Meine Damen und Herren, ich darf daran erinnern,
dass der NAPE das Finanzierungsvolumen bereits vor-
gesehen und eingeplant hat . Wir reden über rund 1 Milli-
arde Euro, die zwischen 2015 und 2019 ausgegeben wer-
den sollen . Das ist eine lohnenswerte Investition, nicht
zuletzt deswegen, weil jeder Förder-Euro erwiesenerma-
ßen 11 weitere Euro Investitionen nach sich zieht . Wir
haben hier unmittelbar zu liefern . Das ist mein Appell an
die Bundesregierung .
Wir dürfen als Parlament nicht nachlassen; denn wenn
das Parlament – das sehen wir heute an einem anderen
Tagesordnungspunkt – etwas unzureichende Gesetzent-
würfe der Regierung besonders in Augenschein nimmt,
dann wird etwas Gutes daraus .
Auch da schließe ich mich dem Kollegen Göppel an .
Die Novelle zum Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz, die
heute Abend beraten wird, ist meines Erachtens ein be-
sonders gutes Beispiel dafür . Es ist eben im parlamen-
tarischen Verfahren gelungen – das ist meines Erachtens
Parl. Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201513956
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(D)
elementar –, dass wir beispielsweise eine Anhebung des
Ausbauziels formuliert haben, dass wir einen viel frü-
heren Zeitpunkt der Rechts- und Investitionssicherheit
geschaffen haben, dass wir auch wichtige Technologien
wie beispielsweise die ORC-Technologie nicht außen
vor lassen, sondern weiterhin fördern . Ich bin da insofern
sehr optimistisch, als wir als Parlament wichtige Impulse
setzen können .
Ich will einen weiteren Punkt aufgreifen, über den
wir uns hier gelegentlich unterhalten und bei dem wir
ebenfalls einen verstärkten Handlungsbedarf haben . Das
ist der Verkehrssektor . Das Aktionsprogramm Klima-
schutz 2020 sieht vor, dass wir 7 bis 10 Millionen Ton-
nen CO2-Äquivalente einsparen müssen . Wir haben es
bedauerlicherweise mit der Situation zu tun, dass der An-
teil der verkehrsinduzierten CO2-Emissionen seit 1990
von 13 Prozent auf 18 Prozent angestiegen ist . Damit
sind Effizienzgewinne, die im Übrigen erheblich waren,
bedauerlicherweise überkompensiert worden . Das heißt,
wir müssen dieses Thema neu aufsetzen und uns deswe-
gen um einige wichtige Bausteine kümmern, beispiels-
weise um alternative Antriebstechnologien . Wir haben
es zustande gebracht, dass Gasantriebe künftig weiterhin
steuerlich gefördert werden . Wir erwarten bis zum Ende
des erstens Quartals 2016 einen entsprechenden Gesetz-
entwurf . Das ist wichtig, damit es Investitionssicherheit
gibt, sodass man sagen kann: Jawohl, wir fördern und un-
terstützen klimafreundliche Gasantriebe in Fahrzeugen .
Meine Damen und Herren, wir sollten durchaus – dazu
gab es in der Vergangenheit verschiedentlich Gelegen-
heit – die Frage von Emissionen von verbrennungsange-
triebenen Fahrzeugen in den Blick nehmen . Dabei sollten
wir uns nicht nur die Emissionen anschauen, die von den
Verbrennungsmotoren selber ausgehen, sondern – ich
habe das schon einmal in aller Kürze gemacht – das
Fahrzeug insgesamt . Für mich war es eine erschreckende
Information, dass beispielsweise Fahrzeuge mit Kühlag-
gregat – 180 000 Stück fahren davon auf deutschen Stra-
ßen – genauso viele Emissionen in Bezug auf Stickoxid-
partikel ausstoßen wie 10 Millionen dieselangetriebene
Pkws . Das zeigt mir, dass wir dieses Thema angehen
müssen .
– Kollege Krischer, Sie haben sich dieses Themas doch
noch gar nicht angenommen .
Für Sie ist das, was ich Ihnen hier heute erzähle, eine ab-
solute Neuigkeit . Ich freue mich über Ihre Unterstützung .
Aber, ehrlich gesagt, die Anzahl Ihrer Interventionen in
diesem Bereich war doch außergewöhnlich überschau-
bar .
Insofern müssen wir uns diesem Thema zuwenden . Da
sehe ich konkreten Handlungsbedarf . Wir werden dieses
Thema aufgreifen .
Ich will auf einen letzten Punkt zu sprechen kommen,
auf das Thema Elektromobilität . Da hat die Bundesregie-
rung eine Menge auf den Weg gebracht .
Wir haben Schaufensterprogramme gefördert .
Es gibt Privilegierungen beim Parken und auch bei der
Nutzung von Sonderfahrspuren . Es gab eine Ladesäu-
lenverordnung . Es gibt Modelle der Steuerbefreiung .
Wir haben einen Nachteilsausgleich bereits beschlossen
und auf den Weg gebracht . Es gibt auch erhebliche For-
schungs- und Entwicklungsaktivitäten .
Aber zugegebenermaßen: Der erhoffte Erfolg hat sich
nicht vollständig eingestellt . Ich glaube, dass wir zu ei-
nem Erfolg nur dann kommen, wenn wir E-Mobilität neu
denken .
„E-Mobilität neu denken“, darunter verstehe ich genau
das nicht, was Sie, Herr Krischer – ich nehme Sie mal als
Beispiel –, darunter verstehen, nämlich einfach dummes
Geld rausschleudern,
Kaufzuschüsse geben . Damit verschleudern Sie Steuer-
mittel und vergeben Chancen .
Ich sage Ihnen eines: Fast alle in der Republik sind sich
einig – Sie sind da einer der letzten Mohikaner –, dass
dieses Geld beispielsweise bei der Erforschung von Bat-
teriezellen, in der Frage „Wie setzen wir eine Batteriezel-
lenproduktion in Deutschland um?“, wesentlich besser
investiert ist .
Ich glaube, wir müssen Elektromobilität neu verste-
hen, weil es deutlich zu kurz greift, bei einem konven-
tionell angetriebenen Fahrzeug den Verbrennungsmotor
herauszunehmen, einen Elektroantrieb und ein Batterie-
pack hineinzusetzen und zu sagen: Das ist Elektromobi-
lität .
Carsten Müller
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 13957
(C)
(D)
– Herr Kollege Hofreiter, das passiert im Übrigen häufi-
ger, wenn Sie mir zuhören .
Vielmehr müssen wir uns integrierte Ansätze anschau-
en . Wir müssen das Thema Intermodalität viel stärker be-
trachten . Wir müssen dafür sorgen, dass Menschen, die
ein E-Mobil fahren, sich nicht sozusagen mit der Kom-
pensation von Minderwerten beschäftigen müssen, son-
dern echte Mehrwerte haben .
– Er soll sich doch einfach mal melden . Aber das traut er
sich nicht . – Ich greife ein Beispiel heraus, auch für den
Kollegen Hofreiter .
Es klappt bei den elektrisch angetriebenen Zweirädern .
Da zeigt sich: Kaufanreize sind überhaupt nicht notwen-
dig . Wir müssen Mehrwerte generieren . Die Pedelecs
und die erfolgreichen E-Räder haben heute einen erheb-
lichen Marktanteil, nämlich von fast 20 Prozent . Meine
Damen und Herren, warum ist das so? Weil die Leute
Mehrwerte haben . Das sind sozusagen die Abschaffung
des Gegenwinds und die Abschaffung der Bergauffahrt .
Das wollen die Menschen, und dann klappt es auch mit
der E-Mobilität .
Ich habe nur zwei Einzelpunkte herausgegriffen . Sie
zeigen Ihnen allerdings: Die Bundesregierung ist auf
dem richtigen Weg . Klimaschutz ist bei der Bundesre-
gierung und bei den sie tragenden Fraktionen bestens
aufgehoben .
Lieber Kollege .
Damit möchte ich gern schließen .
Vielen Dank .
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Sabine Leidig, Fraktion Die Linke .
Herr Präsident! Werte Damen und Herren! Bevor ich
zum Thema spreche, will ich sagen, wie sehr es mich
bewegt und auch entsetzt, dass Deutschland demnächst
Kriegspartei in Syrien sein wird .
Ich weiß, dass es vielen ebenso geht. Ich finde, dass So-
lidarität mit den Opfern von Terror und Gewalt anders
aussehen muss . Krieg war und ist auch heute die falsche
Antwort auf den Terror .
Nun reden wir über eine andere globale Herausforde-
rung, nämlich über den Klimawandel, der für Millionen
von Menschen heute schon lebensbedrohliche Folgen
hat, und wir reden über die konkreten Maßnahmen der
Bundesregierung zum vereinbarten Klimaschutz .
Mein Augenmerk liegt auf dem Verkehrssektor – der
Kollege hat ihn gerade schon angesprochen –; denn er ist
der zweitgrößte Klimakiller und der einzige Bereich, in
dem die Treibhausgasemissionen weiter gestiegen sind,
und zwar in den letzten 25 Jahren um 30 Prozent . Da
traue ich meinen Ohren nicht: Pünktlich zum Klimagip-
fel in Paris – dorthin ist ein Promotionzug mit Promis
gefahren – hat der Vorstand der Deutschen Bahn AG mit-
geteilt, dass alle Nachtreisezüge eingestellt werden . Statt
also im Schlafwagen in die europäischen Nachbarländer
zu reisen, soll man künftig in Nachtbussen oder im ICE
sitzen, oder man muss fliegen. Damit wird die klima-
freundlichste Art, zu reisen, durch die klimaschädlichs-
te ersetzt . Die Bundesregierung schweigt . Wir fordern,
dass das Angebot an Nachtreisezügen europaweit als um-
weltfreundliche Alternative zum Flugverkehr ausgebaut
wird – für Klimaschutz und für sinnvolle Arbeitsplätze .
Es geht nicht um irgendwelche Kennzahlen, sondern
darum, konkrete sozial-ökologische Umbauprojekte ins
Werk zu setzen . Die Politik muss dazu beitragen, unsere
Lebensweise in klimaverträgliche Bahnen zu lenken .
Das Europäische Parlament hat das erkannt und – üb-
rigens unter Beteiligung der sozialdemokratischen und
christdemokratischen Fraktionen – dazu einen, wie ich
finde, sehr wegweisenden Beschluss gefasst. Zum Ver-
kehr heißt es dort – ich zitiere –, dass „ehrgeizige Ziele in
Bezug auf die Senkung der Treibhausgasemissionen nur
verwirklicht werden können, wenn es sowohl kurz- als
auch langfristige Strategien zur Verringerung des Ver-
kehrsaufkommens gibt“ .
Genau darum geht es . Der Verkehr muss reduziert wer-
den .
Was ist aber vom zuständigen Minister, von Herrn
Dobrindt, zu vernehmen? Er schwärmt vom 40-prozenti-
gen Zuwachs des Güterverkehrs bis 2030 . Ich zitiere ihn:
Wohlstandssicherung geht nur über Mobilitätsge-
winnung . . . . Da, wo Güterverkehre, Personenver-
Carsten Müller
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201513958
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kehre und Datenverkehre wachsen, da wächst am
Schluss auch der Wohlstand .
Hallo? Wo leben Sie denn? Haben Sie nicht mitbekom-
men, dass Verkehrslärm und Abgasbelastungen die Men-
schen krank machen und Stress verursachen?
Wissen Sie nicht, dass die Zerstörung von Umwelt und
Klima unseren Wohlstand schon längst untergräbt?
Von einem solchen Minister sind keine Konzepte zur
Verkehrsvermeidung zu erwarten . Dabei arbeiten rund
1 300 qualifizierte Beschäftigte im Bundesverkehrsmi-
nisterium . Da müsste doch etwas möglich sein .
Die kleine Alpen-Initiative in der Schweiz hat konkre-
te Ausarbeitungen zum Thema Verkehrsvermeidung . Sie
hat zum Beispiel dargestellt, dass Schlagsahne in Sprüh-
dosen, die mit einem Enzian verziert sind, 2 000 Trans-
portkilometer hinter sich haben, wenn sie in der Schweiz
gekauft werden, weil der Rahm in Belgien abgefüllt wird .
Eine wichtige Forderung ist, dass Transporte so verteu-
ert werden, dass sich dieser Wahnsinn nicht rentiert und
Arbeitsplätze in der Region bleiben . Das ist doch ver-
nünftig .
Unter Verkehrsminister Dobrindt aber ist die Lkw-Maut
abgesenkt worden . Außerdem denkt er darüber nach, zu
prüfen, inwieweit bis 2018 die Kosten der Umweltzer-
störung angelastet werden können . Wie armselig ist das?
Werte Kolleginnen und Kollegen, wer Klimaschutz
ernst nimmt, muss Verkehr vermeiden und verlagern . Ein
Verkehrsminister, der viele Milliarden für neue Straßen
verpulvert, ist klimaschädlich und heutzutage fehl am
Platze .
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Klaus Mindrup, SPD-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Bei allem Streit
freue ich mich, dass wir hier Konsens haben, dass der
menschengemachte Klimawandel eine große Gefährdung
darstellt und wir entschieden dagegen vorgehen müssen .
An die Atomkatastrophen von Tschernobyl und Fu-
kushima kann ich mich genau erinnern . Das waren Er-
eignisse, die an einzelnen Tagen stattgefunden haben .
Der Klimawandel vollzieht sich jedoch schleichend, und
das macht ihn so gefährlich . Kohlendioxid bleibt durch-
schnittlich 120 Jahre in der Atmosphäre, bei Methan sind
es 15 Jahre . Dadurch wird die Reichweite unseres Han-
delns deutlich . Ich will jetzt aber nicht 120 Jahre zurück-
gehen, sondern nur 15 Jahre . Im Jahr 1999 betrug der
Anteil der erneuerbaren Energien ungefähr 5,5 Prozent
und bezog sich überwiegend auf die Wasserkraft . Die
Vergütung für eine Kilowattstunde Strom aus Photovol-
taik betrug damals 50,6 Cent . Heute machen die erneu-
erbaren Energien im Strombereich über 30 Prozent aus –
bei stark fallenden Preisen . Da zeigt sich, dass wir eine
Vorbildfunktion in Europa und in der Welt haben . Das ist
ein Weg, den wir weiter gehen sollten .
Vollkommen klar ist, dass die Dekarbonisierung pri-
mär bei der Energie stattfinden kann und weniger bei den
Grundstoffindustrien, weil wir natürlich auch an unsere
Volkswirtschaft denken müssen .
Wichtig ist aber auch, dass die Energiewende sowie der
Kampf gegen den CO2-Ausstoß und den menschenge-
machten Klimawandel eine Gemeinschaftsaufgabe sind .
Es sind alle gefordert, die Bürgerinnen und Bürger, die
Initiativen, die Unternehmen, die Gewerkschaften, die
Kommunen, die Länder und der Bund . Das ist etwas, was
man nicht einfach so bei der Bundesregierung abladen
kann .
Die Energiewende wird dezentral sein . Sie wird in den
Dörfern und Quartieren stattfinden. Deswegen – das ist
heute schon mehrfach erwähnt worden – freue ich mich,
dass wir heute Abend die Förderung des Mieterstroms
aus KWK-Anlagen beschließen werden . Ich hoffe, dass
das ein Signal sein wird, dass wir es auch bei der Photo-
voltaik hinbekommen, die dort vorhandenen Kostenvor-
teile an die Mieter weiterzugeben .
Das ist sozialpolitisch wichtig . Vor allen Dingen stärkt
es die Akzeptanz der Energiewende bei den Menschen .
Die Bundesregierung ist hier schon von der Opposi-
tion – das ist auch das Geschäft der Opposition – hef-
tig kritisiert worden . Was ich hier ausdrücklich loben
möchte, ist die Transparenz der Bundesregierung . Hier
wird nichts unter den Tisch gekehrt, sondern eine ganz
reale Bestandsaufnahme gemacht, wo wir im Augenblick
stehen . Ich bin sicher, dass das vorbildlich ist und auch
einen Standard für weitere Bundesregierungen setzt . De-
mokratie ist Macht auf Zeit . Hinter diese Entwicklung
Sabine Leidig
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 13959
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wird keine Bundesregierung nach dieser Bundesregie-
rung zurückfallen können .
Auch da sind wir vorbildlich in der Welt; denn wir dis-
kutieren darüber . Auch das, was wir hier machen, ist vor-
bildlich . Dass die Opposition Kritik äußert, ist normal,
dass sie sagt: „Ihr müsst schneller sein“, ist normal . In
anderen Ländern findet das gar nicht statt. Das können
wir nach außen darstellen . Dafür müssen wir uns über-
haupt nicht schämen .
Wir müssen darüber hinaus natürlich unsere Ziele
einhalten . Das wird Schritt für Schritt passieren . Wir
müssen auch unsere internationalen Förderzusagen ein-
halten . Auch wenn der Dollarkurs steigt – oftmals sind
unsere Etats in Euro berechnet –, müssen unsere Zusagen
verlässlich sein . Und wir müssen jedes Jahr besprechen,
was wir besser machen können, weil wir jedes Jahr die
entsprechenden Berichte bekommen . Ich glaube, wir
müssen uns keine Sorgen machen . Wir reduzieren die
Energie importe . Meines Erachtens müssen wir auch viel
stärker über den Ausstieg aus Öl reden . Wir fördern Wert-
schöpfung vor Ort und Arbeitsplätze im eigenen Land .
Auch ich bin mit dem Klimazug nach Paris gefahren .
Spannend war die Diskussion mit Vertretern der Stif-
tung 2°, spannend waren auch die Diskussionen mit Ver-
tretern der NGOs und der Gewerkschaften . Da bahnt sich
ein neuer Konsens an, den ich sehr positiv finde.
Hier ist auch VW angesprochen worden . Dazu kann
man, glaube ich, nur einen Satz sagen: Mogeln lohnt sich
nicht . – Das muss Konsens in unserer Wirtschaft sein .
Was wir angehen müssen – das halte ich für sehr we-
sentlich –, ist, die Streichung umweltschädlicher Sub-
ventionen stärker in den Blick zu nehmen und auch darü-
ber zu reden, wie wir hinsichtlich der Steuern zukünftig
ökologische Fortschritte stärker belohnen .
Der Fortschritt, den wir bei den Finanzinvestitionen ha-
ben, dass also viele internationale Geldgeber und Banken
aus klimaschädlichen Investitionen aussteigen, ist ein
wunderbares Signal . Das wird auch dazu führen, dass wir
internationales Kapital nach Deutschland holen können
für unseren Weg zu einem höheren Anteil erneuerbarer
Energien . Schließen möchte ich mit einem alten sozial-
demokratischen Ausdruck: zur Sonne, zur Freiheit .
Danke schön .
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Oliver Krischer, Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Schwarzelühr-Sutter, ich kann, ehrlich gesagt, nicht
verstehen, wie Sie sich hier als Vertreterin der Regierung
hinstellen und sagen können, die Bundesregierung sei
beim Klimaschutz auf dem richtigen Pfad . Das exakte
Gegenteil ist der Fall .
Dazu muss man gar nicht die Gutachten der Opposition
herauskramen, sondern nur auf die Seite des Bundeswirt-
schaftsministeriums schauen . Die Expertenkommission
zur Energiewende sagt klipp und klar und unverblümt:
Wenn die Politik so weitergeht, werden wir das Klima-
schutzziel 2020 verfehlen, nicht knapp, sondern kra-
chend . – Das ist Ihre Politik, Frau Schwarzelühr-Sutter .
Ich kann jedem nur empfehlen, in diesen Bericht einmal
reinzuschauen . Das, meine Damen und Herren, ist die
finale Bankrotterklärung der Klimaschutzpolitik dieser
Bundesregierung, und es ist die Bundesregierung, die
diese Expertenkommission berufen hat, niemand ande-
res .
– Herr Müller, ehrlich gesagt, dass Sie sich hierhinstellen
und sagen: Papst Franziskus hat bei der Großen Koalition
abgeschrieben . – Also bitte! Geht es noch?
Ich glaube, als bei Ihnen zu Hause die Arroganz verteilt
worden ist, da sind Sie ins Töpfchen gefallen . Das ist Ihr
Problem .
Herr Kollege, Sie bekommen die Chance einer kleinen
Redezeitverlängerung, wenn Sie eine Zwischenfrage von
Frau Schwarzelühr-Sutter zulassen .
Aber selbstverständlich .
Sehr geschätzter Kollege Krischer, Sie haben gerade
gesagt, dass Sie es nicht verstehen, wie man hier solche
Äußerungen machen kann . Ich frage Sie: Haben Sie den
Monitoringbericht zur Energiewende denn gelesen? Er
bezieht sich auf das Jahr 2014 . Das Klimaschutzpro-
gramm haben wir im Dezember 2014 beschlossen . Ehr-
licherweise muss man sagen: Das, was Sie bezüglich der
Energiewende äußern, haben Sie, glaube ich, nicht gele-
Klaus Mindrup
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201513960
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sen . Aber ich habe es verstanden, dass es damals noch gar
nicht beschlossen war .
Frau Schwarzelühr-Sutter, danke für die Nachfrage .
Dazu wäre ich nämlich jetzt gekommen . Der Monitoring-
bericht der Bundesregierung ist eine schöne Selbstdar-
stellung . Interessant sind aber die von Ihnen berufenen
Experten, die jeder grünen Umtriebe und sonst etwas un-
verdächtig sind . Die sagen: Wenn wir das Klimaschutz-
ziel erreichen wollen, dann müssen wir das Tempo in den
verbleibenden drei Jahren verdreifachen gegenüber dem,
was in der Vergangenheit stattgefunden hat . Und sie sa-
gen klipp und klar, dass die Politik der Bundesregierung,
wie sie sie im Moment macht, dazu keinerlei Anlass gibt,
Frau Schwarzelühr-Sutter . Das ist die Wahrheit . Das
sagen Ihre eigenen Experten . Das sollten Sie sich bitte
schön hinter die Ohren schreiben .
Wenn man über die Gründe der gescheiterten Klima-
schutzpolitik spricht, dann muss man sich hier nur im
Saal umschauen . Das Problem ist nämlich, dass Klima-
schutzpolitik bei der Großen Koalition Schönwetterpoli-
tik ist . Es reden immer nur Josef Göppel, manchmal auch
Andreas Jung, Frank Schwabe, der Kollege Mindrup .
Aber diejenigen, die dann, wenn es in der Energie- und
Verkehrspolitik einmal konkret wird, entscheiden, tau-
chen bei diesen Debatten nicht auf . Die machen die Ent-
scheidungen . Da sitzt plötzlich Sigmar Gabriel, wenn es
um die Kohle geht, oder die energiepolitische Todeszone
Fuchs–Pfeiffer–Bareiß macht jede sinnvolle Maßnahme
kaputt . Das ist die Realität . Das ist der Grund dafür, wes-
halb Ihre Klimaschutzpolitik gescheitert ist .
Ich könnte aus den letzten zwei Jahren drei Dutzend
Dinge aufzählen, wo Sie sich immer dann, wenn es kon-
kret wird, wenn die Sonntagsreden und das internationale
Parkett nicht angesagt sind, gegen den Klimaschutz ent-
schieden haben . Ich will nur ein Thema herausgreifen .
Das ist die Verkehrspolitik .
Letzte Woche hat sich Herr Dobrindt hierhingestellt und
hat zum Haushalt geredet . Er hat in bester 70er-Jah-
re-Straßenbaurhetorik irgendetwas erzählt . Er hat es ge-
schafft, in 20 Minuten nicht ein einziges Mal die Worte
„Klimaschutz im Verkehr“ unterzubringen . Meine Da-
men und Herren, wer einen solchen Verkehrsminister hat,
der braucht sich um das Scheitern seiner Klimaschutzpo-
litik keine Sorgen mehr zu machen .
Ich will zu einem anderen Thema kommen . Gerade
wurde über die Kraft-Wärme-Kopplung gesprochen . Ja,
das Thema wird heute um 20 Uhr behandelt . Da verste-
cken Sie diesen Tagesordnungspunkt . Es ist offensicht-
lich nötig, dass Sie diesen Tagesordnungspunkt verste-
cken, weil Sie beschließen – neben ein paar sicher auch
sinnvollen Sachen –, dass Sie in die Förderung von Be-
standskohlekraftwerken einsteigen . Meine Damen und
Herren, es kann doch nicht sein, dass die Allianz aus der
Kohleförderung aussteigt, und diese Bundesregierung
steigt nicht nur in die Förderung von Braunkohle ein,
sie beschließt heute Abend auch noch den Einstieg in die
Kohleförderung bei der Kraft-Wärme-Kopplung . Meine
Damen und Herren, das kann doch nicht das Signal sein,
das wir an die Konferenz in Paris schicken . Das muss das
exakte Gegenteil sein .
Ich sage dazu eines: Richtig wäre ein Signal, das die
Umweltministerin Barbara Hendricks in der vergange-
nen Woche in der Tat offen ausgesprochen hat . Sie hat
gesagt: Man kann in den nächsten 20 bis 25 Jahren aus
der Kohle aussteigen . Darüber müsste es in Deutschland
endlich eine Verständigung geben . – Ich sage: Recht hat
die Frau . Deshalb stellen wir hier und heute einen Antrag
zur namentlichen Abstimmung .
Unterstützen Sie Frau Hendricks, wenn diese Forderung
ernst gemeint sein soll und nicht nur eine Nebelkerze vor
Paris war, sodass von Deutschland das Signal ausgeht:
Deutschland steigt in den nächsten 20 bis 25 Jahren aus
der Kohle aus . Das wäre das richtige Signal, um die Kon-
ferenz in Paris voranzubringen, um auch die deutsche
Wirtschaft zu stärken; denn die Kohle ist keine Zukunft,
nicht nur aus Klimaschutzgründen, sondern wir müssen
da raus, der nachfolgenden Generation, der Umwelt und
einer nachhaltigen Energieversorgung zuliebe .
Danke schön .
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Oliver Grundmann, CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege
Krischer, wenn Dampfplauderer CO2 ausstoßen würden,
dann wären Sie hier sicherlich der größte CO2-Emittent
im ganzen Hause .
Parl. Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 13961
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben in
den Bereichen Klimaschutz und Energiewende eine Vor-
reiterrolle . Wir können Vorbild für viele Länder auf der
Welt sein . Wir haben schon ein gutes Stück an Strecke
zurückgelegt . Die neuesten Zahlen belegen: Schon heu-
te beträgt der Anteil aus erneuerbaren Energien 33 Pro-
zent – so viel wie in keiner anderen Industrienation der
Welt . Das ist etwas, was wir vor wenigen Jahren noch für
undenkbar gehalten haben .
Bei aller Euphorie: Wir dürfen uns dabei nicht über-
nehmen . Vor uns liegt noch eine Marathonstrecke, die
wir zu bewältigen haben . Ein radikaler Kohleausstieg,
ein Sprint am Anfang der 42 Kilometer, ist – bei aller
Ungeduld – die falsche Schrittgeschwindigkeit, wenn wir
wirklich erfolgreich ins Ziel kommen wollen . Wenn wir
unser industrielles Herz erlahmen ließen, dann wären wir
nicht mehr Vorbild, sondern stünden für ein gescheitertes
Experiment .
Es nützt niemandem, wenn wir die Konkurrenzfähigkeit
unserer Wirtschaft gefährden, um geringste Mengen CO2
einzusparen . Das wäre dann eine schädliche Übertrei-
bung . Wenn wir scheiterten, dann wären wir nicht mehr
Vorbild, dann würden uns andere Länder auf der Welt
nicht mehr nachfolgen wollen; dann hätten wir eine gro-
ße Chance vertan, wirkliche Mengen CO2 einzusparen
und damit einen wirklichen Beitrag zum Klimaschutz zu
leisten .
Ich sage Ihnen, meine sehr geehrten Damen und Her-
ren: Ein zeitgleicher Atom- und Kohleausstieg ist für
eine Industrienation wie Deutschland sehr riskant . Wir
brauchen auch in Zukunft verlässliche Grundlastträger,
zumal uns erforderliche Leitungen und Speicher für er-
neuerbare Energien in Deutschland noch fehlen . Es ist
daher erforderlich, die Kohle als verlässlichen, heimi-
schen Energieträger im Sinne einer Brückentechnologie
zumindest mittelfristig weiter zu nutzen, so lange jeden-
falls, bis andere Technologien eine sichere und bezahlba-
re Alternative darstellen .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich begrüße
grundsätzlich das Ziel einer Dekarbonisierung; aber ich
bin als ehemaliger Geschäftsführer ein Mann der Praxis
und kenne den Bereich des Umweltschutzes daher nicht
nur aus Anträgen . Ich sage Ihnen: Wir können nicht zwei
Schritte vor dem ersten tun . Andernfalls kommen wir ins
Straucheln, stolpern und landen dann auf dem Asphalt .
Wir müssen uns einmal die Dimension dieser politi-
schen Frage vor Augen führen . Wir haben immer noch
die besten und effizientesten Kohlekraftwerke der Welt;
sie können heute bereits Wirkungsgrade von bis zu
46 Prozent erreichen . Diese Technik gilt es fortzuentwi-
ckeln . Wir müssen weiterhin technologischer Vorreiter
bleiben, bei den erneuerbaren – ja! –, aber genauso bei
den konventionellen Energieträgern . Sonst haben wir
rein gar nichts gewonnen .
Sie stimmen mir da vielleicht in diesem Hause zu: In
China geht bald jede Woche ein neues Kohlekraftwerk
ans Netz, –
gut für das Weltklima ist das mit Sicherheit nicht . Wir
können die Chinesen aber auch nicht dazu zwingen, aus
der Kohle auszusteigen . Wir können sie wohl aber er-
muntern, umzusatteln, indem wir nur wettbewerbsfähi-
ge Umwelttechnologien an den Markt bringen . Für das
Weltklima ist es in letzter Konsequenz egal, wo wir eine
Tonne CO2 einsparen . Genau aus diesem Grund haben
wir den Emissionshandel technologieoffen gestaltet . Ich
sage Ihnen: Bleibt Deutschland eine führende Industrie-
nation, dann kann der Energiebedarf in unserem Land
kaum sinken, wenn unsere Wirtschaft nicht an einer
Herzmuskelschwäche erliegen soll .
Herr Kollege, es gibt den Wunsch nach einer Zwi-
schenfrage bei Frau Verlinden von den Grünen . Mögen
Sie sie zulassen, oder wollen Sie weitersprechen?
Ja, ich lasse sie zu .
Bitte schön .
Herr Grundmann, Sie haben eben gesagt, dass Sie
grundsätzlich dem Ziel der Dekarbonisierung positiv ge-
genüberstehen, dass Sie es unterstützen . Sie sagen, Kli-
maschutz ist wichtig . Aber das beinhaltet doch auch den
Ausstieg aus den fossilen Energieträgern .
Sie kommen aus Stade, wo gerade ein Kohlekraftwerk
geplant wird . Ich wüsste gerne, wie Sie dazu stehen, vor
allen Dingen – was die Bedenken der örtlichen Bevöl-
kerung angeht – in Bezug auf gesundheitliche Aspekte .
Ich habe eine zweite Frage . Sie sitzen doch im Um-
weltausschuss . Wir haben im Frühjahr eine Anhörung
zum sogenannten Fracking-Gesetzespaket durchgeführt .
Wir Grüne finden es sehr bedauerlich, dass nach wie vor
keine gesetzliche Regelung verabschiedet werden konn-
te .
Wir Grüne waren nach den im Frühjahr sowohl im
Umwelt- wie auch im Wirtschaftsausschuss durchge-
führten Anhörungen relativ schnell mit unseren Ände-
rungsanträgen zu dem Gesetzespaket fertig . Wir hätten
Oliver Grundmann
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201513962
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diese sehr gerne hier im Bundestag diskutiert und zur
Abstimmung gestellt . Leider hat die Große Koalition den
entsprechenden Tagesordnungspunkt kurzfristig von der
Tagesordnung genommen . Ich möchte von Ihnen wis-
sen – Sie sind ja Umweltpolitiker –: Wann sind Sie in
der Großen Koalition endlich so weit, dass wir hier über
das wichtige Thema Fracking debattieren und abstimmen
können?
Die Mehrheit der Menschen will kein Fracking in
Deutschland . Das hat sehr viel mit Klimaschutz zu tun .
Denn es geht um die Frage: Wie lange wollen wir das
fossile Zeitalter noch fortsetzen?
Sehr geehrte Frau Kollegin Verlinden, auf die von
Ihnen genannten Aspekte werde ich im Rahmen meiner
Rede noch eingehen . Zu dem von Ihnen genannten Kraft-
werk werde ich noch ausführlich Stellung nehmen .
Zum Bereich Fracking-Technologie kann ich Ihnen
nur sagen: Das Gesetzgebungsverfahren ist auf den Weg
gebracht worden, dann allerdings abrupt zum Stoppen
gekommen . Aber ich bin sehr zuversichtlich, dass wir in
den nächsten Monaten eine vernünftige und sachgerechte
Lösung im Sinne der Menschen in unserem Land finden
können .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, angesichts
der ideologischen Vergrämung konventioneller Energie-
träger, die in diesem Land stattfindet, habe ich eine Sorge:
Wenn das so weitergeht, dann wird in Deutschland über-
haupt kein Kraftwerk mehr gebaut, obwohl wir auf die-
se wichtige Brückentechnologie angewiesen sind . Dann
werden wir abhängig von anderen Ländern und Strom
beziehen, der auf ganz andere Art und Weise produziert
wird, als wir uns das hier in Deutschland wünschen .
Investoren brauchen sichere und verlässliche Rahmen-
bedingungen . Sie brauchen ein positives Umfeld, damit
sie mutig und entschlossen unsere Zukunft anpacken und
gestalten können . Ich will Ihnen daher, Frau Kollegin
Verlinden, das Beispiel aus meinem Wahlkreis nennen .
Es gibt in Stade das größte niedersächsische Chemie-
werk, die Dow Chemical . Das Unternehmen braucht für
den laufenden Betrieb etwa so viel Strom wie 1 Million
Privathaushalte . So ein Unternehmen ist auf eine lang-
fristige, stabile und wettbewerbsfähige Versorgung mit
Strom und Wärme angewiesen . Jetzt frage ich Sie: Wie
soll ein solches Unternehmen seinen gigantischen Ener-
giebedarf rund um die Uhr, 8 700 Stunden im Jahr, allein
aus erneuerbaren Energien decken? Dann wäre mein hal-
ber Wahlkreis mit Photovoltaikanlagen zugepflastert, wir
bräuchten Hunderte von Windrädern, aber vor allen Din-
gen bräuchten wir Stromspeicher, die es in Deutschland
zurzeit gar nicht gibt .
Wir haben bei uns nun einmal nicht nur dauerhaften Son-
nenschein und steife Brisen; auch wenn ich mir das bei
uns im norddeutschen Raum sehr wünschen würde .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Mittelstand
und Bürger stöhnen unter der Last der Energiepreise . Wir
sind heute schon europäischer Spitzenreiter bei den In-
dustriestrompreisen .
Ich hatte erst kürzlich den Dow-Betriebsrat in Berlin bei
mir zu Gast . Energieintensive Unternehmen machen sich
ernsthafte Sorgen .
Aber Sorgen alleine helfen nicht weiter . Dow Chemi-
cal nimmt seine Zukunft selbst in die Hand und plant
ein eigenes hochinnovatives KWK-Kraftwerk . Durch
modernste Technologien könnten dann sowohl fossi-
les Gas als auch Wasserstoff, Biomasse und Steinkohle
als Brennstoffe eingesetzt werden . Da Wasserstoff als
Nebenprodukt der Chlorelektrolyseprozesse in großem
Umfang anfällt, könnte das in Zukunft sogar der Haupt-
brennstoff werden . Bei einem solchen Kraftwerk hätten
wir eine Brennstoffeffizienz von bis zu 60 Prozent und
würden dann rund 40 Prozent weniger CO2 emittieren .
Ich sage Ja zu erneuerbaren Energien . Auch das ist
Zukunft und darf nicht verteufelt werden, wenn wir neue
Wege gehen und solche Kraftwerke wie am Standort Sta-
de vorantreiben . Aber dafür brauchen wir Investitionssi-
cherheit, sonst bleibt auch dieses Projekt nur eine schöne
Vorstellung der Investoren .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, was mo-
mentan in diesem Land passiert, betrachte ich mit einer
gewissen Sorge: Ein Großprojekt nach dem anderen
wird zerredet, verzögert oder ganz auf Eis gelegt . Dies
wird versucht bei Autobahnen, beim Kraftwerksbau, bei
den Freihandelsabkommen oder auch bei dem Ziel, die
Olympischen Spiele in Hamburg auszutragen . „German
Angst“ wird damit zum Mantra der Fortschrittsverwei-
gerer . Dabei gerät ganz aus dem Blick, dass unser Wohl-
stand nicht vom Naturtourismus auf dem Lande und den
Biomärkten in den Großstädten abhängt, sondern vom
Fleiß von Abertausenden von Industriearbeitern, Mittel-
ständlern, Handwerkern und Beschäftigten, die täglich
Dr. Julia Verlinden
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 13963
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aufstehen, arbeiten, ihre Pflicht tun und damit Wohlstand
für alle schaffen .
Dieser im Weltvergleich fast einzigartige Wohlstand
hat die Energiewende erst möglich gemacht . Ich warne
davor, unserer Wirtschaft immer neue Knüppel zwischen
die Beine zu werfen . Ich bin im Gegenteil dafür, die
Chancen der Energiewende gemeinsam zu nutzen . Mit
Power-to-Gas, Wärmespeichern und intelligenten Net-
zen sowie im gesamten Bereich der Energieeffizienz, vor
allem im Gebäudebereich, bieten sich uns große Chan-
cen . Hier lassen sich riesige Potenziale erschließen, ohne
wertvolle Wirtschaftskraft opfern zu müssen . Hier haben
wir einen riesigen Schatz, den es zu heben gilt . Wenn wir
hier die Goldmedaille erringen, dann stehen wir auf der
Siegertreppe und sind ein wirkliches Vorbild für die gan-
ze Welt . Wenn wir Benchmark sind für andere Länder,
wenn insbesondere die Chinesen angespornt werden, bei
uns abzuschauen, dann können wir dadurch mehr errei-
chen als durch jeglichen kurzfristigen Aktionismus . Das
nenne ich dann eine wirklich nachhaltige Klimapolitik .
Dafür setzen wir von der CDU/CSU uns entschlossen
ein .
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Arno Klare, SPD-Fraktion .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Uns eint
die Erkenntnis, dass die Planetary Boundaries, also die
Grenzen der ökologischen Dimension dieses Globus, in
Gefahr stehen, erreicht und überschritten zu werden . Bei
dem Stickstoff ist das bereits passiert . Bei CO2 haben wir
noch ein riesiges Budget . Die Zahl sieht zumindest riesig
aus; aber so groß ist es gar nicht . Genau deshalb hat diese
Bundesregierung den Klima-Aktionsplan und den NAPE
beschlossen . Ich bin sehr dankbar, dass darin 140 oder
150 Bausteine, Instrumente enthalten sind, dass nicht
versucht worden ist, einen großen Wurf zu machen; denn
diesen großen Wurf gibt es nicht . Nur in der Addition der
vielen kleinen Schritte wird das gelingen .
Der zweitgrößte Emittent von Treibhausgasen ist der
Verkehr. Hier haben wir eine gegenläufige Entwicklung:
Die Personen- und Tonnenkilometer, die auf der Welt zu-
rückgelegt werden, nehmen dramatisch zu, während die
THG-Emissionen pro Personenkilometer und Tonnenki-
lometer abnehmen. Trotz dieser gegenläufigen Entwick-
lungen nehmen die Emissionen zu; das stimmt natürlich .
Wir haben aber vieles schon getan, und zwar auf na-
tionaler Ebene . Zu sagen, es sei gar nichts passiert, ist
völliger Unfug .
Wir haben zum Beispiel gesagt: Wir müssen die nachhal-
tige städtische Mobilität stärken .
Die Regionalisierungsmittel sind von 7,299 Milliarden
Euro auf 8 Milliarden Euro im Haushalt 2016 erhöht
worden .
Das entspricht fast der Forderung der 16 Länder . Wir ha-
ben für diesen Bereich eine Dynamisierung von 1,8 Pro-
zent beschlossen . Ich höre aus den Ländern, dass bezüg-
lich dieses Beschlusses ein hohes Maß an Zufriedenheit
herrscht . Wir haben das EmoG I beschlossen . Wir werden
auch ein EmoG II machen . Wir haben auch deutlich ge-
macht – darauf ist gerade schon hingewiesen worden –,
dass wir den positiven Beschluss zur Erdgasbesteuerung
über 2018 hinaus fortsetzen werden . All das ist schon
geschehen bzw . auf dem Weg . Sich hinzustellen und zu
sagen, es sei gar nichts passiert, ist schlichter Unsinn .
Das heißt aber nicht, dass wir nicht noch viele Dinge
vor uns haben . Wir müssen zum Beispiel im Flugverkehr
dafür sorgen, dass das ICAO-Offsetting-System, um kli-
maneutral fliegen zu können, auch tatsächlich auf den
Weg gebracht wird . Da ist die Bundesregierung natürlich
gefordert . Verblüfft hat vor einiger Zeit der Antrag eines
großen deutschen Flugzeugherstellers – es gibt nur ei-
nen –, Mitglied der Nationalen Plattform E-Mobilität zu
werden . Die sind nicht verrückt geworden .
Nein, am 10 . Juli dieses Jahres ist ein vollelektrisch be-
triebenes Flugzeug über den Ärmelkanal geflogen und
wieder zurück . Das ist Zukunft, und in diese Zukunft
müssen wir investieren .
Ich war vor kurzem bei einer Tagung, auf der das Bau-
haus Luftfahrt – das ist ein Thinktank, der über Mobili-
tät und Luftfahrt nachdenkt – vorgestellt hat, wie man
Solarkerosin herstellt, und zwar schlicht aus CO2, H2O
und Sonnenenergie . In diesem Fall ist das klimaschädli-
che CO2 plötzlich eine wertvolle Ressource, die in Bio-
kerosin umgewandelt wird . Das ist bisher nur im Labor
möglich . Man könnte sich vorstellen, dass wir dies in
das Luftfahrtforschungsprogramm aufnehmen . Brigitte
Zypries sitzt hier; sie hat es einmal in einer Rede vertre-
Oliver Grundmann
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201513964
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ten. Es gibt die Programmlinie „Ökoeffizientes Fliegen“;
genau da passt das hinein . Wörtlich steht im Haushalt:
Deshalb muss heute bereits erforscht werden, was in
10 bis 20 Jahren zum Einsatz kommt .
Man könnte sich auch vorstellen, dass man einen Teil
der Luftverkehrsteuer nimmt und in diesen Fonds sozu-
sagen überführt, um ein deutlich höheres Maß an For-
schung und Entwicklung – auch Entwicklung bis zur
serienreifen Produktion – zu erreichen . Denn so wird da-
raus wirklich ein sinnvolles Innovationsprogramm . Wir
müssen aus den Innovationen im Klimaschutzbereich
Business Cases entwickeln und damit die Arbeitsplätze
von morgen mit dem Klimaschutz vereinbaren . Das ist
das Ziel unserer Großen Koalition .
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Artur Auernhammer, CDU/CSU-Fraktion .
Vielen Dank . – Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Dass wir während der Klimakonfe-
renz in Paris heute hier im Deutschen Bundestag über
Klimaschutz diskutieren, ist ein gutes und wichtiges Sig-
nal . Es zeigt auch, wie erfolgreich gerade unsere Kanz-
lerin und unsere Bundesregierung bei diesem Thema un-
terwegs sind .
Der Klimaschutzbericht 2015 macht deutlich, dass
alle Lebensbereiche zur CO2-Reduzierung beitragen und
weiterhin beitragen werden müssen . Wer die Umwelt bis-
lang stärker in Anspruch nimmt, hat selbstverständlich
ein größeres technisch-wirtschaftliches Potenzial zusätz-
licher Minderungen als andere . Dieses CO2-Minderungs-
potenzial haben auch die deutsche Lebensmittelprodukti-
on und die Landwirtschaft .
Klimaschutz darf allerdings nicht in der Abschaffung
der deutschen Landwirtschaft und Lebensmittelproduk-
tion enden . Man stelle sich einmal vor, sämtliche Nah-
rungsmittel müssten importiert werden . Wir würden dann
zwar die Klimabilanz bei uns verbessern, aber nicht im
Ausland. Deshalb müssen wir Lösungen finden, um dies
auf einen vernünftigen Weg zu bringen . Denn Klima-
schutz macht nicht vor Staatsgrenzen halt, auch nicht im
Bereich der Landwirtschaft und der Ernährungspolitik .
Die international vereinbarte Obergrenze von 2 Grad
Celsius muss unser großes Ziel sein . Die deutsche Land-
wirtschaft fühlt sich dem ganz besonders verpflichtet.
Wir alle merken und spüren es in der Praxis . Durch eine
große Trockenheit in diesem Jahr in unserem Land ist
die Landwirtschaft massiv betroffen worden . Deshalb ist
es unser Bestreben, die Treibhausgasemissionen zu ver-
mindern .
Ich spreche hier die sogenannte NEC-Richtlinie und
auch die Novelle der Düngeverordnung an, die der Land-
wirtschaft einiges abverlangen . Hier müssen wir auf eine
praktikable und zukunftsfähige Lösung setzen . Wir dür-
fen die Verordnung, wie sie jetzt vorliegt, nicht einfach
so durchwinken, sondern wir sollten uns wirklich an der
Praxis orientieren . Mein besonderes Augenmerk liegt auf
der kleinstrukturierten Landwirtschaft .
Heute ist bereits viel von regenerativer Energie ge-
sprochen worden . Wir haben leider Gottes die Situation,
dass wir Wind- und Solarstrom nicht in der Form spei-
chern können, wie wir ihn speichern wollen . Wir sind
aber bereits in der Situation, dass wir 30 Prozent der
deutschen Energieversorgung mit regenerativen Ener-
gien abdecken . Hier bietet gerade die Landwirtschaft,
der ländliche Raum eine große Alternative . Hier gilt es,
gerade in dieser Phase dafür zu sorgen, dass der gesamte
Bereich der Biomasse zukunftsfähig ist und bleibt .
Leider Gottes gibt es die eine oder andere Überlegung,
diese Zukunftsfähigkeit infrage zu stellen . Aber ich for-
dere Sie auf: Diskutieren wir intensiv über die Zukunfts-
fähigkeit der Biomasse! Biomasse ist die einzige Ener-
gieform, die heute wirtschaftlich speicherfähige Wärme
liefern kann . Deshalb müssen wir unsere ganz besondere
Aufmerksamkeit darauf legen .
Wenn von Biomasse die Rede ist, fokussieren sich
viele von Ihnen natürlich gleich auf Biogas und Biogas-
anlagen . Wir haben eine große Vielfalt bei der Biomas-
seproduktion . Allein im Bereich Holz, etwa im Hinblick
auf die Kraft-Wärme-Kopplung bei Holzfeuerung, haben
wir ein großes Potenzial . Das gilt es in Zukunft intensiver
zu nutzen .
Da ich gerade beim Holz bin – Holz kommt ja aus dem
Wald –: Auch der Wald hat Probleme im Zusammenhang
mit dem Klimawandel . Wir müssen durch einen weiter
fortschreitenden Waldumbau dafür sorgen, dass der deut-
sche Wald gesund bleibt und die Herausforderungen des
Klimawandels besteht . Diese Probleme bemerken wir
aktuell ganz besonders bei den Nadelhölzern . Der Bor-
kenkäferbefall bereitet uns in trockenen Regionen sehr
große Schwierigkeiten . Gerade deshalb müssen wir den
Wald umbauen .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Klima-
schutz und die Bekämpfung des Klimawandels fordern
uns alle, nicht nur in der Politik, sondern auch im gesam-
ten Land, vor allem im ländlichen Raum . Deshalb kann
es eine effektive Klimapolitik nur dann geben, wenn wir
den Klimaschutz gemeinsam mit dem ländlichen Raum
und der Landwirtschaft voranbringen . Klimaschutz geht
nicht gegen die Landwirtschaft, sondern nur mit der
Landwirtschaft .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir stimmen
heute auch über einen Entschließungsantrag der Grünen
ab . Sie fordern uns darin auf, schnellstmöglich aus der
Nutzung der Kohleenergie auszusteigen .
Arno Klare
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 13965
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Ich frage Sie: Was passiert, wenn wir aus der Kohle
aussteigen und keine Alternativen haben? Wir brauchen
doch zuerst Alternativen in der Energieversorgung, be-
vor wir uns von konventionellen Energieformen verab-
schieden können . Wenn wir heute aus der Nutzung der
Kohle aussteigen, würde das zur Konsequenz haben, dass
wir Strom aus europäischen Nachbarländern beziehen
müssten . Ich gehe davon aus, dass die eine oder andere
Kilowattstunde aus einem benachbarten Kernkraftwerk
stammen würde . Deshalb bin ich der Meinung, wir soll-
ten diesen Entschließungsantrag der Grünen ablehnen .
Vielen Dank .
Letzter Redner in der Aussprache ist der Abgeordnete
Michael Groß, SPD-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich bin ein
bisschen kleinwüchsig; deswegen muss ich erst einmal
das Pult herunterfahren . Ansonsten werde ich mich be-
eilen, weil Sie alle abstimmen wollen . Trotzdem einige
Worte von mir: Klimaschutz ist ein wichtiges Thema . Wir
stehen in der internationalen Verantwortung, auch und
vor allen Dingen gegenüber den Menschen in Deutsch-
land . Die Generationengerechtigkeit ist schon angespro-
chen worden . Das alles sind wichtige Themen . Aber wir
sind natürlich auch in einer gewissen Flughöhe gestartet .
Hier war von Trickserei die Rede . Hier war davon
die Rede, dass wir gegenüber der IG BCE nicht einbre-
chen sollen . Frau Höhn, ich kann Ihnen nur sagen: Die
Kolleginnen und Kollegen vor Ort – ich komme ja aus
einer Kohleregion, stehe mit ihnen in engem Kontakt
und führe einen Dialog mit ihnen – arbeiten sehr inten-
siv daran, dass wir die Energiewende schaffen und den
Klimaschutz vorantreiben . Ich bitte Sie, nicht mehr zu
unterstellen, dass hier getrickst wird oder dass wir vor
ihnen einbrechen .
Wir brauchen alle Menschen in Deutschland, auch und
vor allen Dingen diejenigen, die in den entsprechenden
Bereichen arbeiten, um hier eine vernünftige Lösung zu
finden.
Herr Krischer, Sie haben von einer energiepolitischen
Todeszone gesprochen . Das war ja alles Populismus . Su-
per, was Sie gesagt haben!
– Ja, die Flughöhe . – Ich habe von Ihnen aber nicht ein
Wort dazu gehört, wie Sie das umsetzen wollen .
Ich muss sagen – Herr Göppel ist gerade nicht da –,
dass ich an dieser Stelle den Wirtschaftsminister und die
Bau- und Umweltministerin, Frau Hendricks, unterstütze
und weniger die Kanzlerin . Sie haben einen Plan vorge-
legt, der einen Pfad beschreibt, auf dem wir seit einem
Jahr die Ziele erreichen wollen . Es ist klar – die Linken
haben das gerade betont –: Wir haben bisher 50 Prozent
der Maßnahmen umsetzen können . Das ist relativ viel .
Ich weiß nicht, wie viel Sie in Ihrer politischen Karriere
inzwischen umgesetzt haben, Herr Krischer .
Sie müssen mir einmal nachweisen, dass Sie bisher
50 Prozent umsetzen konnten . Das wäre dann schon eine
ganze Menge .
Ministerin Hendricks und Minister Gabriel haben die
Energiewende vom Kopf auf die Füße gestellt . Sie haben
den Prozess nämlich mit kleinen, effektiven Maßnahmen
von unten nach oben entwickelt . Man wird sich nicht
wundern, dass dabei auch ein Begriff wie Forschung vor-
kommt . Wir benötigen Forschung auch, um zu wissen,
ob wir auf dem richtigen Weg sind .
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wir wollen 350 000 Woh-
nungen bauen .
Frau Hendricks und der Finanzminister haben sich geei-
nigt, dass es dafür eine steuerliche Förderung geben soll,
und ich hoffe, die Länder machen dabei mit .
Es ist doch interessant, zu wissen, wie viel graue Energie
wir verbrauchen, wenn wir neu bauen . Diese interessante
Frage muss man sich doch stellen .
Ein weiteres wichtiges Thema ist „Bildung und Auf-
klärung“ . Ich komme aus einer Region, in der sich die
Städte darum kümmern, dass die Bürger mitgenommen
werden . Sie wollen Aufklärungs- und Mitmachstädte
sein, gehen in die Schulen und sorgen dafür, dass schon
die Kinder lernen, wie sie ein Ziel, zum Beispiel den
Sportplatz, erreichen können . Die Kinder fragen sich:
Ist es besser, wenn ich mich von meinen Eltern mit dem
Auto fahren lasse, oder ist es besser, wenn ich den öffent-
lichen Nahverkehr nutze?
Mit diesen Themen müssen wir uns doch beschäfti-
gen .
Dabei ist natürlich klar, dass wir einen öffentlichen
Nahverkehr brauchen, der auch funktionsfähig ist . Ein
wichtiges Thema ist hierbei auch, wie wir die Kommu-
nen entlasten, damit sie diese Infrastruktur vorhalten
können . Diesen Fragen müssen wir uns stellen, und sie
müssen natürlich auch beantwortet werden .
Artur Auernhammer
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201513966
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(D)
– Doch, wir haben viele Dinge auf den Weg gebracht,
zum Beispiel das Investitionszukunftsprogramm und die
Klimaschutzinitiative, durch die die ausfallenden steuer-
lichen Förderungen im energetischen Bereich kompen-
siert werden sollen .
Ich glaube, das ist ein Erfolg für diese Regierung . Darauf
kann man stolz sein .
Wir haben auch noch viele Projekte in der Pipeline . So
wollen wir beim Wohngeld zum Beispiel die Klimakom-
ponente einführen . Außerdem wollen wir dafür sorgen,
dass die Basis in den Bereichen SGB II – KdU – und
SGB XII die Warmmiete ist .
Das alles sind Dinge, die wir überprüfen wollen und um-
setzen müssen .
Wer nach einem Jahr sagt, wir hätten noch nicht viel
erreicht, der hat den Prozess des letzten Jahres verschla-
fen . Noch einmal: Ich glaube, Sie haben in Ihrer Karriere
noch nicht 50 Prozent dessen umgesetzt, was Sie wollten .
Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Damit ist die Aussprache beendet .
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/6900 .
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat namentliche
Abstimmung verlangt . Ich bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzuneh-
men . – Sind die Plätze an den Urnen besetzt? – Das ist
überall der Fall . Ich eröffne die Abstimmung über den
Entschließungsantrag .
Haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimmkarte
abgegeben? – Okay . Dann schließe ich die Abstimmung
und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit
der Auszählung zu beginnen . Das Ergebnis der Abstim-
mung wird Ihnen später bekannt gegeben .1)
Wir haben jetzt noch eine Abstimmung vorzunehmen .
Deshalb bitte ich alle, wieder Platz zu nehmen, und bitte
die Geschäftsführer um Aufmerksamkeit .
1) Ergebnis Seite 13969 D
Tagesordnungspunkt 4 b . Interfraktionell wird Über-
weisung der Vorlage auf Drucksache 18/6840 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen . Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der
Fall . Dann ist die Überweisung so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Schutz von Menschenrechtsverteidigerinnen
und -verteidigern weltweit verstärken
Drucksache 18/6880
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen . – Ich bit-
te die Kolleginnen und Kollegen, die an dieser Debatte
nicht teilnehmen wollen, ihre Gespräche draußen fortzu-
führen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat Frank
Schwabe, SPD-Fraktion .
Vielen Dank . – Frau Präsidentin! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Das Menschenrechtskomitee
CODIGO-DH, 2011 gegründet, ist eine Nichtregierungs-
organisation im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca, die
einen integralen Ansatz der Menschenrechtsarbeit ver-
folgt: juristisch, medizinisch und psychologisch .
Die Rechtsanwältin Alba Cruz ist Koordinatorin der
juristischen Arbeit bei CODIGO-DH . Trotz der Anerken-
nung, die ihr sowohl in Mexiko als auch auf internatio-
naler Ebene zuteilwird, erhält sie häufig Morddrohungen
und wird in ihrer Arbeit behindert . Alba Cruz setzt sich
für Opfer von willkürlicher Verhaftung und Folter ein,
zum Beispiel für Mitglieder der Bewegung „Yo soy 132“,
und fordert Gerechtigkeit in Fällen extralegaler Hinrich-
tung im Bundesstaat Oaxaca .
Alba Cruz ist ebenso in einen sehr brisanten Fall in-
volviert, in dem der Oberste Gerichtshof des Landes ge-
urteilt hat, dass die Regierung des Bundesstaats Oaxaca
für die 2006 bis 2007 begangenen massiven Menschen-
rechtsverletzungen verantwortlich sei . Sie vertritt indige-
ne Gemeinden, die sich für ihre wirtschaftlichen, sozialen
und kulturellen Rechte einsetzen, wie zum Beispiel die
der indigenen Zapoteken am Isthmus von Tehuantepec,
die ihre Landrechte aufgrund des Baus von Windkraftan-
lagen bedroht sehen .
Alba Cruz erhält aufgrund ihres Engagements häufig
Morddrohungen, wird in den Medien diffamiert und er-
leidet Aggressionen unterschiedlicher Art, obwohl die
Interamerikanische Menschenrechtskommission bereits
2007 Schutzmaßnahmen für sie anordnete . Auch ihre Fa-
milie hat Morddrohungen erhalten . Im Jahr 2013 wurde
im Büro von CODIGO-DH eine Razzia durchgeführt,
wobei Dokumentationen über Menschenrechtsverlet-
zungen sowie Fallakten entwendet wurden . Aufgrund
der kontinuierlich prekären Sicherheitslage werden Alba
Michael Groß
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 13967
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Cruz und andere Mitarbeitende der Organisation von
Peace Brigades International bei ihrer täglichen Arbeit
begleitet .
Alba Cruz ist eine in Mexiko und auch auf internati-
onaler Ebene bekannte und geschätzte Menschenrechts-
verteidigerin . 2013 erhielt sie im Rahmen der Verleihung
des deutsch-französischen Menschenrechtspreises eine
Ehrenbezeugung durch die Botschaften der beiden Län-
der .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Alba Cruz ist eine
von Tausenden, von Zehntausenden, wahrscheinlich von
Hunderttausenden Menschenrechtsverteidigerinnen und
-verteidigern weltweit, die eine wesentliche, ja, eigent-
lich muss man sagen, zentrale Rolle bei der Verteidigung
von Menschenrechten spielen . Dabei sind sie selber
massiven Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt . Men-
schenrechtsverteidiger brauchen ein sicheres Umfeld, in
dem sie aktiv sein können . Das ist leider oft, meist, nicht
der Fall . Deshalb ist es die zentrale Aufgabe internatio-
naler Politik, unserer Politik, alles zu tun, damit solche
Menschenrechtsverteidiger den bestmöglichen Schutz
gewährt bekommen .
Beim Schutz von Menschenrechtsverteidigern gibt
es widersprüchliche Entwicklungen . Auf der einen Seite
gibt es mehr internationale Schutzmechanismen über die
Europäische Union, den Europarat, die Vereinten Natio-
nen, die OSZE, aber auch über den Deutschen Bundes-
tag, auf der anderen Seite gibt es die negative Entwick-
lung, dass der Druck nationaler Regierungen zunimmt,
die internationale Unterstützung von Menschenrechts-
verteidigern schwieriger zu machen .
Es gibt leider zahlreiche Fälle, und täglich kommen
weitere dazu . Unter anderem in Russland, in China, in
der Türkei, in Indien, in Aserbaidschan und ganz aktuell
in Israel werden die Möglichkeiten der internationalen
Unterstützung von Menschenrechtsverteidigern durch
nationale Gesetzgebung eingeschränkt . In Israel ist es so,
dass erst vor einem Monat die Justizministerin einen Ent-
wurf eines sogenannten Transparenzgesetzes vorgelegt
hat, das nichts anderem dienen soll, als im Prinzip den
internationalen Geldhahn für nationale Menschenrechts-
organisationen zuzudrehen .
Das Argument ist immer das gleiche . Die nationa-
len Staaten verbitten sich internationale Einmischung .
Manchmal werfen sie gar Kolonialismus vor . In Russland
wird von ausländischen Agenten geredet . Es ist natürlich
so: Menschenrechtsverteidiger kritisieren Staaten . Das
ist aber auch die zentrale Aufgabe von Menschenrechts-
verteidigern . Deswegen müssen wir auf deutscher und
auf europäischer Ebene dafür sorgen, dass der Schutz
von Menschenrechtsverteidigern in der Außen- und
Menschenrechtspolitik eine zentrale Aufgabe ist .
Die Einmischung in nationale Angelegenheiten ist
kein Willkürakt von anderen Staaten . Vielmehr ist am
Ende das, was wir tun und tun müssen und wovon wir
uns nicht abbringen lassen dürfen: die Staaten daran zu
erinnern, dass sie in den verschiedenen Organisationen
internationale Abkommen unterzeichnet haben . Wir
müssen sie daran erinnern, dass sie diese Abkommen am
Ende auch einzuhalten und umzusetzen haben .
Herzlich bedanken will ich mich bei denjenigen, die
sich in Deutschland, aber auch weltweit um Menschen-
rechtsverteidiger kümmern . Peace Brigades International
wurde eben bereits erwähnt . Weiter sind es Amnesty In-
ternational, Human Rights Watch, die mexikanische und
die kolumbianische Koordination sowie viele andere in-
ternationale Organisationen, die wiederum andere Men-
schenrechtsorganisationen koordinieren . Sie alle leisten
eine wertvolle Arbeit .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wichtig ist, dass
wir unseren Teil wahrnehmen, nämlich unsere politische
Verantwortung . Es gibt seit mittlerweile elf Jahren die
EU-Leitlinien zum Schutz der Menschenrechtsverteidi-
ger . Das ist eine wichtige Errungenschaft . Inzwischen
liegt auch die Fortschreibung der Leitlinien mit Hinwei-
sen für die nationalen Botschaften und die EU-Kommis-
sion vor, wie man mit diesem Schutz umgehen sollte .
Aber ich glaube, Michel Forst, der Sonderberichter-
statter der Vereinten Nationen für den Schutz von Men-
schenrechtsverteidigern, hat recht – er war vor kurzem in
Deutschland und hat auch unseren Ausschuss für Men-
schenrechte und humanitäre Hilfe besucht –, wenn er be-
klagt, dass die Botschaften die Frage des Schutzes von
Menschenrechtsverteidigern durchaus unterschiedlich
ernst nehmen . Das erleben auch wir in unserer Praxis,
wenn wir in andere Länder fahren . Wenn wir dort sol-
che Fragen ansprechen, erleben wir, dass die Botschaf-
ten mit den Themen unterschiedlich umgehen und dass
es sehr häufig vom Engagement des Botschafters und
von einigen sehr engagierten Mitarbeitern der Botschaft
abhängt, wie man mit dieser Frage umgeht . Ich glaube,
in der europäischen und in der deutschen Außenpolitik
müssen wir alle noch lernen, dass das kein Thema ist,
das man einfach so zusätzlich behandeln kann und das
ansonsten vom Engagement Einzelner abhängt, sondern
dass es eine konstitutive Aufgabe jeder Botschaft und je-
der EU-Vertretung in jedem Land ist, sich um den Schutz
von Menschenrechtsverteidigern zu kümmern .
Als Bundestag haben wir eine weltweite Vorbild-
funktion . Das hat Michel Forst uns auch ausdrücklich
attestiert . Wir haben nämlich mittlerweile das Programm
„Parlamentarier schützen Parlamentarier“ – oder auch
„Parlamentarier schützen Menschenrechtler“ –, bei dem
man eine Patenschaft für Menschenrechtsverteidiger
weltweit übernehmen kann .
Es ist ein wunderbares und wichtiges Programm, das
man sicherlich noch vertiefen kann, sowohl was die kon-
krete Ausgestaltung als allerdings auch die Nutzung des
Programms angeht . Ich bin dankbar, dass wir in den letz-
ten Jahren einen Aufwuchs des Programms hatten . Trotz-
dem sind es derzeit 50 Parlamentarier – ich nehme an,
alle Anwesenden sind dabei; das kommt ungefähr hin –,
die sich bei uns daran beteiligen . Das ist gut und wichtig .
Frank Schwabe
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201513968
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(D)
Aber es gibt noch über 550 Parlamentarierinnen und Par-
lamentarier mehr, die eine solche Aufgabe übernehmen
könnten . Man sollte es nicht unterschätzen: Es ist für
viele Menschen zum Teil überlebensnotwendig, dass sie
eine solche Patenschaft haben und den entsprechenden
Schutz genießen . Deshalb die herzliche Bitte: Überlegen
Sie es sich! Uns fallen genug Menschen ein, die man
schützen kann . Nutzen Sie die Gelegenheit, und nehmen
Sie bitte an diesem Programm teil!
Danke schön, Herr Kollege . Kommen Sie jetzt bitte
zum Schluss .
Was wir in begründeten Ausnahmefällen auch tun
sollten – das wird auch getan; das hängen wir nicht an
die große Glocke –, ist, Menschenrechtsverteidigern in
bestimmten Fällen konkreten Schutz in Deutschland zu-
kommen zu lassen . Auch das ist eine wichtige Aufgabe .
Es ist so: Menschenrechte brauchen Menschenrechts-
verteidiger, und Menschenrechtsverteidigerinnen und
-verteidiger brauchen unseren Schutz . Den sollten wir
ihnen gewähren .
Glück auf .
Vielen Dank . – Nächste Rednerin ist für die Fraktion
Die Linke Annette Groth .
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren auf
der Tribüne! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Lage
der Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger hat
sich in den letzten Jahren in vielen Ländern erheblich
verschlechtert, so der kürzlich veröffentliche Bericht des
UN-Sonderberichterstatters zur Situation der Menschen-
rechtsverteidigerinnen und -verteidiger .
Anhand einiger weniger Beispiele möchte ich ihre
schwierige Arbeit aufzeigen . Eines der Länder, in denen
die Menschenrechtsarbeit systematisch verfolgt wird, ist
Saudi-Arabien . Laut Amnesty International wurden dort
in diesem Jahr bereits mindestens 151 Menschen hin-
gerichtet . Im Oktober hat der Oberste Gerichtshof die
Todesurteile gegen den schiitischen Geistlichen Scheich
Nimr al-Nimr, seinen Neffen sowie zwei weitere Minder-
jährige bestätigt . Die Verurteilten hatten 2009 an friedli-
chen Protesten gegen das sunnitische Königshaus teilge-
nommen und sich für ein Ende der Diskriminierung der
schiitischen Gemeinschaft in Saudi-Arabien eingesetzt .
Vor einer Woche wurde der in Saudi-Arabien gebo-
rene palästinensische Dichter Ashraf Fayadh zum Tode
verurteilt . Fayadh gilt als eine der wichtigsten Stimmen
der saudischen Kunstszene und hat viele Ausstellungen
im In- und Ausland kuratiert . Der 23-Jährige wurde vor
zwei Jahren verhaftet und wegen Abfalls vom Glauben
Mitte November zum Tode verurteilt . Ich hoffe, dass
eine breite internationale Protestwelle sein Leben retten
kann und dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen auf
der Regierungsbank, ebenfalls Druck auf die saudische
Regierung ausüben, damit er nicht getötet wird .
Es ist ein Skandal, dass die Bundesregierung noch im-
mer Waffen nach Saudi-Arabien liefert .
Damit muss endlich Schluss sein . Sie alle wissen, dass
etliche saudische Familien zu den größten Unterstützern
des IS gehören . Dazu gehört neben Katar auch die Tür-
kei . Es ist skandalös, dass die EU und die Bundesregie-
rung die Angriffe des türkischen Staates auf die kurdi-
sche Zivilbevölkerung nicht lautstark verurteilen .
Anstatt den IS wirksam zu bekämpfen und beispielswei-
se IS-Kämpfer nicht weiterhin über die türkische Gren-
ze nach Syrien zu lassen, richtet sich das Vorgehen der
türkischen Streitkräfte in erster Linie gegen Kurden und
Kurdinnen .
Vor einigen Tagen ist der bekannte Menschenrechts-
anwalt Tahir Elci erschossen worden, der noch kurz vor
seinem Tod Frieden in der Region gefordert hatte . Die
Menschenrechtsverletzungen der türkischen Polizis-
tinnen und Polizisten sowie Soldatinnen und Soldaten
gegenüber kurdischen und türkischen oppositionellen
Journalistinnen und Journalisten sowie Menschenrechts-
verteidigern und -verteidigerinnen müssen Sie, verehrte
Kolleginnen und Kollegen, endlich deutlich verurteilen
und ein sofortiges Ende der Gewalt fordern . Stattdessen
hofieren Sie und die EU die türkische Regierung und ko-
operieren mit ihr in der Flüchtlingsabwehr. Ich finde das
skandalös .
In diesem Zusammenhang sprach der syrische Bischof
Mirkis aus Kirkuk, den einige von uns am Montag ge-
troffen haben, von „schmutzigem Geld“, das die EU nun
der Türkei für die Versorgung der Flüchtlinge zur Verfü-
gung stellt .
Am 16 . November haben zwei UN-Sonderberichter-
statter zur Einhaltung der Menschenrechte und zu einem
Ende der Gewalt in Israel und Palästina aufgerufen . An-
lass für diesen Appell war der Mord an einem Palästinen-
ser in einem Krankenhaus in Hebron . Die israelischen
Undercover-Agenten waren als Palästinenser verkleidet
in das Krankenhaus eingedrungen. Perfide ist, dass ei-
ner der Agenten der israelischen Tageszeitung Haaretz
zufolge als schwangere Palästinenserin verkleidet war,
wodurch der Zugang in das Krankenhaus wesentlich er-
leichtert wurde . Seit dem 1 . Oktober sind circa 100 Pa-
lästinenser und Palästinenserinnen durch israelische
Frank Schwabe
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 13969
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Streitkräfte oder durch Siedlergewalt getötet worden .
Mehr als 9 000 sind verletzt . Durch palästinensische At-
tacken wurden 19 jüdische Israelis getötet und mehr als
100 verletzt . 2 650 Palästinenserinnen und Palästinenser
wurden verhaftet . 80 Prozent davon sind Minderjährige .
Auch auf friedliche Mahnwachen und Demonstratio-
nen reagieren die israelischen Behörden mit repressiven
Maßnahmen wie zum Beispiel mit der Administrativhaft .
Bei der so angewandten, völkerrechtswidrigen Form der
Haft erfolgt die Inhaftierung der Beschuldigten ohne An-
klage und ohne Gerichtsverfahren . Der entsprechende
Haftbefehl kann immer wieder verlängert werden, sodass
die Verhafteten nie wissen, wie lange sie im Gefängnis
bleiben müssen . Betroffen von der Administrativhaft
sind oft Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidi-
ger . Im März 2014 wurde die Menschenrechtsanwältin
Shireen Issawi administrativ inhaftiert . Issawi hat sich
mit großem Engagement für palästinensische Gefangene
eingesetzt . Schon lange fordern nicht nur palästinensi-
sche Menschenrechtsverteidiger und -verteidigerinnen,
sondern auch viele jüdische Aktivistinnen und Aktivisten
im In- und Ausland einen sofortigen Stopp der Waffenex-
porte nach Israel und in die gesamte Region .
Unser Grundgesetz verbietet Waffenexporte in Kon-
fliktgebiete. Das müssen wir doch endlich einmal beher-
zigen und befolgen .
Ein weithin auch in Ihrem Antrag unbeachtetes Land,
in dem systematisch Menschenrechte verletzt und Men-
schenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger Repressio-
nen ausgesetzt sind, ist Bahrain . Oppositionspolitiker und
Oppositionspolitikerinnen sowie insbesondere Journalis-
ten und Journalistinnen werden oft lange ohne Anklage
inhaftiert . Jüngstes Opfer ist der preisgekrönte Fotograf
Sajjid Ahmad al-Musawi . Er wurde letzte Woche zu zehn
Jahren Haft verurteilt . Ihm und zwölf weiteren Bahrai-
nern und Bahrainerinnen wurde die Staatsangehörigkeit
entzogen, weil sie angeblich in terroristischen Gruppen
aktiv sind und Anfang 2009 an Demonstrationen teilge-
nommen haben .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, grundsätzlich hat
Ihr Antrag einen Fehler . Er verliert kein Wort zur Situati-
on der Menschenrechtsverteidiger und -verteidigerinnen
in Deutschland . Zahlreiche antirassistische und antifa-
schistische Initiativen setzen sich für die Rechte von Ge-
flüchteten und Minderheiten ein und werden durch Poli-
zei oder Gerichte kriminalisiert . Aktive Unterstützer und
Unterstützerinnen der Geflüchteten werden durch den
Verfassungsschutz beobachtet und in ihrer Arbeit behin-
dert . Hier besteht bei uns dringender Handlungsbedarf .
Das darf so nicht weitergehen .
Die Zahl der unverbindlichen Anträge sollte einmal zu
Ende gehen . Was wir brauchen, sind konkrete Handlun-
gen . Deshalb möchte ich Sie auffordern, endlich die mi-
litärische und polizeiliche Zusammenarbeit mit diktato-
rischen Regimen, die Menschenrechte mit Füßen treten,
zu beenden .
Waffenexporte an Diktatoren und Regierungen, die Men-
schenrechtsverteidiger und Menschenrechtsverteidige-
rinnen verfolgen und unterdrücken, müssen endlich be-
endet werden .
Vielen Dank .
Vielen Dank . – Bevor ich nun die nächste Rednerin
aufrufe, gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen
und Schriftführern ermittelte Ergebnis der Abstimmung
über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen bekannt: abgegebene Stimmen 578 . Mit Ja
haben gestimmt 118 . Mit Nein haben gestimmt 460 . Da-
mit ist der Entschließungsantrag abgelehnt .
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 579;
davon
ja: 118
nein: 461
enthalten: 0
Ja
DIE LINKE
Jan van Aken
Dr . Dietmar Bartsch
Karin Binder
Matthias W . Birkwald
Heidrun Bluhm
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr . Diether Dehm
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Annette Groth
Dr . Andre Hahn
Heike Hänsel
Dr . Rosemarie Hein
Inge Höger
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Ulla Jelpke
Susanna Karawanskij
Kerstin Kassner
Katja Kipping
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Stefan Liebich
Dr . Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Birgit Menz
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Norbert Müller
Dr . Alexander S . Neu
Thomas Nord
Petra Pau
Harald Petzold
Richard Pitterle
Martina Renner
Michael Schlecht
Dr . Petra Sitte
Kersten Steinke
Dr . Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr . Axel Troost
Alexander Ulrich
Annette Groth
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201513970
(C)
(D)
Kathrin Vogler
Dr . Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Jörn Wunderlich
Hubertus Zdebel
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Luise Amtsberg
Kerstin Andreae
Annalena Baerbock
Marieluise Beck
Volker Beck
Dr . Franziska Brantner
Agnieszka Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Katharina Dröge
Harald Ebner
Dr . Thomas Gambke
Matthias Gastel
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Britta Haßelmann
Dr . Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Dieter Janecek
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Stephan Kühn
Christian Kühn
Markus Kurth
Monika Lazar
Steffi Lemke
Dr . Tobias Lindner
Nicole Maisch
Peter Meiwald
Irene Mihalic
Beate Müller-Gemmeke
Özcan Mutlu
Dr . Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Cem Özdemir
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth
Corinna Rüffer
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Ulle Schauws
Dr . Gerhard Schick
Dr . Frithjof Schmidt
Kordula Schulz-Asche
Dr . Wolfgang Strengmann-
Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr . Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Dr . Julia Verlinden
Doris Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Dr . Valerie Wilms
Nein
CDU/CSU
Stephan Albani
Artur Auernhammer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr . Andre Berghegger
Dr . Christoph Bergner
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr . Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr . Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr . Ralf Brauksiepe
Dr . Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Alexander Dobrindt
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Iris Eberl
Jutta Eckenbach
Dr . Bernd Fabritius
Hermann Färber
Uwe Feiler
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dr . Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr . Astrid Freudenstein
Dr . Hans-Peter Friedrich
Michael Frieser
Dr . Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr . Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Josef Göppel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Dr . Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Olav Gutting
Christian Haase
Florian Hahn
Dr . Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr . Stefan Heck
Dr . Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich
Mark Helfrich
Uda Heller
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Peter Hintze
Dr . Heribert Hirte
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Alexander Hoffmann
Thorsten Hoffmann
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr . Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M . Huber
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Erich Irlstorfer
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Dr . Franz Josef Jung
Andreas Jung
Xaver Jung
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr . Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Dr . Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr . Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr . Roy Kühne
Günter Lach
Andreas G . Lämmel
Dr . Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Paul Lehrieder
Dr . Katja Leikert
Dr . Andreas Lenz
Philipp Graf Lerchenfeld
Antje Lezius
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 13971
(C)
(D)
Andrea Lindholz
Dr . Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr . Claudia Lücking-Michel
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer
Reiner Meier
Dr . Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr . h .c . Hans Michelbach
Dr . Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Volker Mosblech
Elisabeth Motschmann
Dr . Gerd Müller
Carsten Müller
Stefan Müller
Dr . Philipp Murmann
Dr . Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr . Georg Nüßlein
Julia Obermeier
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Dr . Tim Ostermann
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr . Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Dr . Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Dr . Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr . Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr . Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr . Wolfgang Schäuble
Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Christian Schmidt
Gabriele Schmidt
Ronja Schmitt
Nadine Schön
Dr . Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr . Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Armin Schuster
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr . Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Erika Steinbach
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Frhr . von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Karin Strenz
Thomas Stritzl
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr . Sabine Sütterlin-Waack
Dr . Peter Tauber
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr . Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel
Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Dr . Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Nina Warken
Kai Wegner
Albert Weiler
Marcus Weinberg
Dr . Anja Weisgerber
Peter Weiß
Sabine Weiss
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Marian Wendt
Waldemar Westermayer
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-
Becker
Oliver Wittke
Dagmar G . Wöhrl
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Dr . Matthias Zimmer
Gudrun Zollner
SPD
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann
Dr . Katarina Barley
Klaus Barthel
Dr . Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding
Burkhard Blienert
Willi Brase
Dr . Karl-Heinz Brunner
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr . Daniela De Ridder
Dr . Karamba Diaby
Sabine Dittmar
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier
Dr . h .c . Gernot Erler
Petra Ernstberger
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr . Johannes Fechner
Dr . Fritz Felgentreu
Elke Ferner
Dr . Ute Finckh-Krämer
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr . Edgar Franke
Ulrich Freese
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Angelika Glöckner
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Michael Groß
Uli Grötsch
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Michael Hartmann
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil
Gabriela Heinrich
Marcus Held
Wolfgang Hellmich
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz
Thomas Hitschler
Matthias Ilgen
Frank Junge
Josip Juratovic
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201513972
(C)
(D)
Marina Kermer
Cansel Kiziltepe
Arno Klare
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Anette Kramme
Dr . Hans-Ulrich Krüger
Helga Kühn-Mengel
Christine Lambrecht
Dr . Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Hiltrud Lotze
Kirsten Lühmann
Dr . Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Katja Mast
Dr . Matthias Miersch
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
Bettina Müller
Detlef Müller
Michelle Müntefering
Dr . Rolf Mützenich
Ulli Nissen
Thomas Oppermann
Mahmut Özdemir
Aydan Özoğuz
Markus Paschke
Christian Petry
Jeannine Pflugradt
Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Achim Post
Dr . Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr . Sascha Raabe
Dr . Simone Raatz
Martin Rabanus
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr . Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Petra Rode-Bosse
Dennis Rohde
Dr . Martin Rosemann
Dr . Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth
Susann Rüthrich
Bernd Rützel
Sarah Ryglewski
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr . Hans-Joachim
Schabedoth
Axel Schäfer
Dr . Nina Scheer
Marianne Schieder
Udo Schiefner
Dr . Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt
Matthias Schmidt
Dagmar Schmidt
Carsten Schneider
Elfi Scho-Antwerpes
Ursula Schulte
Swen Schulz
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Rainer Spiering
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Dr . Karin Thissen
Franz Thönnes
Carsten Träger
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dirk Vöpel
Gabi Weber
Bernd Westphal
Dirk Wiese
Waltraud Wolff
Gülistan Yüksel
Dagmar Ziegler
Stefan Zierke
Dr . Jens Zimmermann
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
Nächste Rednerin ist jetzt die Kollegin Erika Steinbach,
CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
legen! Wir nehmen alljährlich den Tag der Menschen-
rechte, der immer am 10 . Dezember begangen wird, auch
zum Anlass, die Menschenrechtssituation weltweit kri-
tisch zu beleuchten und zu betrachten und auf aktuelle
Brennpunkte hinzuweisen . Wir müssen feststellen: Auch
die Bilanz für 2015 fällt leider wiederum nicht positiv
aus . Die Diskrepanz zwischen Soll und Haben bei der
Umsetzung der Menschenrechte ist gewaltig, und man
hat den Eindruck, dass sie immer noch zunimmt, anstatt
dass es besser wird .
Auch mehr als 65 Jahre nach der Verabschiedung der
Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte kommt es
weltweit immer wieder zu schwersten Menschenrechts-
verletzungen . Das Problem einer solchen Debatte ist:
Wenn wir all das beleuchten wollten, dann würde keine
ganze Stunde ausreichen, es würde kein Tag ausreichen,
und es würde keine Woche dafür ausreichen, wenn wir
allen Menschen, die verfolgt sind, Gerechtigkeit wieder-
fahren lassen wollten .
Deshalb nur einige wenige besonders dramatische
Beispiele . Die Gewaltherrschaft der Terrormiliz „Isla-
mischer Staat“ in Teilen Syriens und des Iraks entsetzt
jeden Menschen, der ein Herz im Leibe hat . Der IS ist
für schwerste Menschenrechtsverletzungen wie Massen-
hinrichtungen, gezielte Angriffe auf Zivilisten und zivi-
le Infrastruktur verantwortlich, und seit der Ausrufung
des Kalifats vor eineinhalb Jahren muss von mindestens
3 600 Hinrichtungen allein in den syrischen Gebieten
ausgegangen werden . Die Begründungen für die Hin-
richtungen lauten: Homosexualität, Hexerei, Ehebruch,
Abfall vom islamischen Glauben .
Der IS rekrutiert Kinder für seine Zwecke, und die
Schergen des IS scheuen auch nicht davor zurück, Frau-
en und selbst Kinder systematisch zu vergewaltigen .
Religiöse und ethnische Minderheiten wie Jesiden und
Christen werden nicht nur unterdrückt, sondern auch ver-
trieben und ermordet . Das haben wir sehr dramatisch in
dem Film der Jesidin Düzen Tekkal sehen können . Die-
ser Film hat uns das plastisch und sehr beklemmend vor
Augen geführt .
Eine regelrechte Entführungsindustrie ist inzwischen
zu einer der wichtigen Finanzierungsquellen der Islamis-
ten herangewachsen . Das ist Sklavenhandel im 21 . Jahr-
hundert – eine Vokabel, die man bisher immer in der Ver-
gangenheit verortet hat . Das barbarische Vorgehen dieser
Terrormiliz muss von der Staatengemeinschaft gezielt
und auch planvoll gemeinsam beendet werden, zumal –
das sehen wir – auch Europa inzwischen zu deren Akti-
onsfeld gehört .
Der Antrag der Koalition, über den wir heute bera-
ten, greift einen weiteren zentralen Punkt heraus; er ist
jenen gewidmet, die sich oft unter Einsatz ihres eigenen
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 13973
(C)
(D)
Lebens selbstlos für die Einhaltung der Menschenrech-
te in ihrem jeweiligen Land einsetzen: Er ist den Men-
schenrechtsverteidigern gewidmet . Sie engagieren sich
in ihrem Land, wenn Menschenrechte missachtet, wenn
Menschenrechte verletzt werden . Das Risiko für dieses
Engagement ist teilweise extrem hoch . Immer wieder
werden Menschenrechtsverteidiger inhaftiert, sie wer-
den gefoltert, oder sie werden sogar getötet, und manche
verschwinden ganz einfach spurlos und tauchen niemals
wieder auf .
International dürfen wir die Augen nicht verschließen,
wenn in Russland, in der Türkei oder in China und in vie-
len anderen Ländern die Zivilgesellschaften immer mehr
eingeschränkt werden, wenn Nichtregierungsorganisati-
onen in ihrer Arbeit behindert werden und wenn kritische
Journalisten in größter Gefahr sind . In Russland eröffnen
Gesetze gegen die Nichtregierungsorganisationen den
Behörden inzwischen die Möglichkeit, Andersdenkende
zu verfolgen und die Versammlungs- und Vereinigungs-
freiheit massiv einzuschränken . Russland stellt Men-
schenrechte nun sogar unter seinen nationalen Vorbehalt .
Mit dem gestrigen Beschluss der Duma kann das russi-
sche Verfassungsgericht selbst Urteile des Europäischen
Gerichtshofes für Menschenrechte zurückweisen .
Es ist auch zutiefst beunruhigend, wenn international
das hohe Gut der Meinungs- und Medienfreiheit massiv
unter Druck steht . Laut „Reporter ohne Grenzen“ wur-
den allein 2015 63 Journalisten getötet, 152 sind in Haft,
161 Blogger und Bürgerjournalisten sitzen ebenfalls in
Gefängnissen . Leider – das muss man sagen – ist auch
die Menschenrechtslage in der Türkei besorgniserregend,
insbesondere vor dem Hintergrund der derzeit laufenden
Verhandlungen zur Bekämpfung des IS und in Fragen der
Flüchtlingspolitik .
Nach dem jüngsten sogenannten EU-Fortschrittsbe-
richt – besser wäre, von „Rückschrittsbericht“ zu spre-
chen – ist die Türkei auf dem Wege zu Menschenrechts-
standards nicht vorwärtsgegangen, sondern sie ist auf
dem Wege rückwärts in eine ungute Zeit . Die Werte der
Europäischen Union, so wie wir sie manifestiert haben,
werden nicht geachtet . In Istanbul durften die Menschen
den Tod des Menschenrechtsanwalts Tahir Elci, der am
vergangenen Samstag unter ungeklärten Umständen auf
offener Straße erschossen wurde, nicht einmal betrauern .
Die Versammlung von Hunderten Trauernden wurde mit
Tränengas und Wasserwerfern gewaltsam beendet .
Im Iran haben sich die diplomatischen Annäherun-
gen zur Entschärfung des iranischen Atomprogrammes
bislang leider noch nicht auf die Menschenrechtslage
im Land ausgewirkt . Menschenrechtsanwälte und Men-
schenrechtsverteidiger werden, zum Teil über Jahrzehnte
hinweg, weggesperrt, und ihnen werden rechtsstaatliche
Verfahren verwehrt, um sie mundtot zu machen, damit
man sie nicht mehr hört . Wir signalisieren diesen Opfern
mit unserer Debatte auch, dass sie nicht vergessen sind,
selbst wenn wir ihnen nicht direkt helfen können .
Unvergessen sind auch die inhaftierten sieben
Bahai-Führungsmitglieder, unter ihnen zwei Frauen, de-
ren Freilassung immer noch aussteht . Sie verbüßen auf-
grund falscher Anklagen und ausschließlich wegen ih-
rer Religionszugehörigkeit 20-jährige Haftstrafen unter
menschenunwürdigen Bedingungen .
Liebe Kollegin Groth, Sie haben einen Tunnelblick in
Richtung Israel;
aber es könnte Ihnen nicht schaden, wenn Sie Ihren Blick
auch einmal nach Kuba richten würden .
In Kuba hat auch das diplomatische Tauwetter die Men-
schenrechtslage im Land nicht verbessert . Allein im Au-
gust wurden 768 Kubaner aus politischen Motiven kurz-
zeitig festgenommen . Mehr als 50 Regimekritiker sind
im September 2015 von der Internationalen Gesellschaft
für Menschenrechte als politische Gefangene registriert
gewesen . Kuba geht mit ungeheurer Härte gegen die
Frauen der Nichtregierungsorganisation Damen in Weiß
vor .
Die Förderung und der Schutz von Menschenrechts-
verteidigern sind ein wesentliches Element der EU-Au-
ßen- und -Menschenrechtspolitik . Herzlichen Dank allen,
die sich für Menschenrechte und für deren Verteidiger
einsetzen! Wir wollen das seitens des Bundestages tun .
Wir können nicht sehr viel helfen, aber indem wir öffent-
lich darüber debattieren, können wir das Sensorium dafür
vielleicht ein wenig aufbauen .
Danke schön .
Vielen Dank . – Als Nächstes hat der Kollege Tom
Koenigs, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vorige Woche ist in der Generalversammlung
der Vereinten Nationen eine Resolution durchgegan-
gen, die üblicherweise im Konsens durchgeht, eine Re-
solution zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern .
Diesmal haben Russland und China die Abstimmung
verlangt . 117 Länder haben zugestimmt, 14 haben die
Resolution abgelehnt, darunter Russland, China und die
üblichen Verdächtigen: Saudi-Arabien, Iran, Syrien, Bu-
rundi, Myanmar, aber auch Indien, Vietnam, Südafrika
und Nigeria . 40 Staaten haben sich enthalten .
Erika Steinbach
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201513974
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(D)
In der Debatte wurde gesagt, die Menschenrechtsver-
teidiger bräuchten keinen besonderen Schutz;
wenn der Rechtsstaat funktioniert, dann seien die Men-
schenrechte auch ausreichend geschützt . Das sind sie
eben nicht!
Auch die Rechtsstaaten brauchen die Menschen-
rechtsverteidiger; denn alle Menschenrechte sind durch
Kampf erreicht worden . Die Geschichte der Sozialde-
mokratie ist voll vom Kampf für die Versammlungsfrei-
heit . In der Türkei gilt das für die Pressefreiheit – ein
umkämpftes Gut, ein umkämpftes Menschenrecht . Reli-
gionsfreiheit – der ganze Orient kämpft um Religions-
freiheit . Viele Flüchtlinge kommen zu uns, weil wir die
Religionsfreiheit umsetzen . Freizügigkeit – ein Thema,
das in Deutschland seinesgleichen sucht, aber jetzt auch
in Europa wieder ein umkämpftes Menschenrecht .
Der Sonderberichterstatter für Versammlungsfreiheit,
Maina Kiai, hat von „shrinking political space“ gespro-
chen . Das heißt, der Freiraum für Menschenrechte wird
enger: durch Gesetze, durch NGO-Gesetze – da werden
Menschenrechtsverteidiger als Agenten bezeichnet –,
durch willkürliche Verhaftungen, durch Verbot der freien
Rede oder der Versammlungen .
Der Mord am Menschenrechtsanwalt Tahir Elci in der
Türkei vor wenigen Tagen ist schon angesprochen wor-
den . Im Juli wurde die Aktivistin und Künstlerin Nadia
Vera in Mexiko vergewaltigt, gefoltert und ermordet,
zusammen mit drei weiteren Frauen und ihrem Kolle-
gen Rubén Espinosa . In Saudi-Arabien sitzt unter vielen
anderen auch der inzwischen 21-jährige Ali al-Nimr im
Gefängnis . Er wurde mit 17 Jahren zur Kreuzigung ver-
urteilt .
Die Vorwürfe sind immer gleich: Das sind Staatsfein-
de . – Aber Menschenrechtsverteidiger sind keine Staats-
feinde . Der Staat braucht Menschenrechtsverteidiger, die
den Zustand der Menschenrechte ständig überprüfen und
beobachten .
Auch Whistleblower sind Menschenrechtsverteidiger .
Es ist eine Schande für die westliche Welt, dass Edward
Snowden immer noch in Russland, das sich gegen solche
Menschenrechtsverteidigerresolutionen wehrt, verfault,
vergammelt .
Herr Schwabe, Sie haben gesagt – auch in Ihrem Antrag
kommt das vor –, dass man humanitäres Asyl gewähren
soll . Warum dann nicht da? Es gibt kaum jemanden, der
sich um das Menschenrecht auf Privacy mehr verdient
gemacht hat als Edward Snowden .
Ja, das schafft einem Ärger . Aber diesen „double stan-
dard“, dass wir da, wo es uns Ärger macht und wo es die
Freunde sind, die sich vielleicht ärgern, wie die Vereinig-
ten Staaten, dass man da nichts macht, aber sonst, wenn
es um Saudi-Arabien geht, alles an die große Glocke
hängt, den werfen uns diese Staaten vor . Das sind „doub-
le standards“, und das ist die Pest für die Umsetzung von
Menschenrechten .
Es gibt starke Institutionen zum Schutz von Men-
schenrechten, vor allem den Menschenrechtsrat . Glück-
licherweise ist dieses Jahr Botschafter Rücker dort Prä-
sident . Er setzt sich dafür ein, dass die Zivilgesellschaft
dort vortragen kann und dass die Menschenrechtsvertei-
diger auch bis an die Institution herankommen . Es kann
nicht sein, dass eine eritreische Delegation aus der Zivil-
gesellschaft, die dort Kritik übt, von Jubel-Eritreern in
einem Hotel in Genf verprügelt wird .
Es gibt scheinbar hoffnungslose Fälle: die Staaten, die
ich genannt habe, Gefangene, die fast vergessen sind . Da
sagt man oft: Da können wir ja nichts machen . Man kann
aber immer etwas machen . Auch wir können von hier aus
etwas machen .
Das Allererste, was wir machen können, ist, diese
Menschenrechtsverteidiger zu kennen und sie nicht zu
vergessen, sie bekannt zu machen . Sie müssen auch wis-
sen, dass wir sie kennen, und auch die Staaten, aus denen
sie kommen, müssen wissen, dass wir diese Menschen-
rechtsverteidiger kennen .
Wir machen so viele Reisen und Besuche, sowohl die
Regierung als auch wir Abgeordnete . Wir sollten auf je-
der Reise Menschenrechtsverteidiger empfangen . Wir
sollten in jeder Botschaft fragen: Kennen Sie die Men-
schenrechtsverteidiger? – Wir sollten bei jedem Empfang
in einer Botschaft darauf drängen, dass diese auch einge-
laden werden . Denn oft ist das die einzige Möglichkeit,
dass sie sich überhaupt zeigen, dass sie auch untereinan-
der reden . Die deutschen Botschaften sollen diesen Kon-
takt halten .
Das gilt aber auch für deutsche Unternehmen . Auch
diese haben eine Verantwortung . Wir versuchen derzeit
durch Diskussionen, diese Verantwortung der Unterneh-
men mehr zu fassen . Auch die deutschen Unternehmen
haben eine Verantwortung für die Menschenrechte und
für den Schutz der Menschenrechtsverteidiger in den
Ländern, in denen sie investieren .
Der Investitionsschutz im internationalen Bereich wird
immer weiter entwickelt und immer mehr verschärft . Es
Tom Koenigs
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 13975
(C)
(D)
werden Gerichte eingesetzt, um das umzusetzen . Der
Schutz der Menschenrechte und der Menschenrechtsver-
teidiger aber bleibt im Internationalen weit zurück .
Die Menschenrechtsverteidiger brauchen Schutz und
Unterstützung, gerade auch in Auseinandersetzungen,
die Unternehmen haben . Schutz vor Sicherheitskräften,
Schutz vor Paramilitärs oder selbsternannten Sheriffs .
Es ist immer ein falsches Signal, nur den Mächtigen
die Hand zu reichen, ohne diejenigen, die für unsere ge-
meinsamen Werte eintreten, auch zu ermutigen und zu
stärken . Wo Menschenrechtsverteidiger verfolgt werden,
muss es auch unbürokratische Möglichkeiten der Unter-
stützung geben . Da ist das humanitäre Visum ein Teil .
Wenn ich mir den vorliegenden Antrag ansehe, der ja
sicher Konsens ist – denn „motherly love“ und „apple
pie“ ist auch Konsens – ,würde ich mir doch wünschen,
dass nach dem tapferen Gebrüll am Anfang im Feststel-
lungsteil auch einige Forderungen kommen, die nicht nur
Samtpfötchen haben, sondern vielleicht auch Zähne und
Krallen . Und wenn wir das gemeinsam bearbeiten, wäre
es ja vielleicht gut, dass nicht nur „hingewiesen“ und
„sensibilisiert“ wird, wenn man sich nicht nur „einsetzt“
und besser „berücksichtigt“, wenn man nicht nur „an-
mahnt“, dass man nicht nur das „diplomatische Personal
für Leitlinien sensibilisiert“, sondern wenn man auch et-
was Mut zeigt . Denn das, was die Menschenrechtsver-
teidiger wirklich auszeichnet, ist Mut . Ein bisschen Mut
sollten wir auch bei einem Antrag haben .
Vielen Dank .
Vielen Dank . – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die
Kollegin Gabriela Heinrich .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Auf den Tag
genau heute vor einem Jahr hatte ich in meinem Büro
ein Gespräch mit einer Verteidigerin von Frauenrechten .
Ich habe sie gefragt, wie wir aus Deutschland ihre Arbeit
unterstützen könnten . Sie sagte: Stärken Sie die Regie-
rung von Somalia . – Ich habe das zuerst nicht verstanden .
Wir sollten ihre Regierung stärken, in einem zerfallenen
Staat? Ich habe erst später begriffen, was Fartuun Adan,
Menschenrechtspreisträgerin der Friedrich-Ebert-Stif-
tung 2014, gemeint hat . Fartuun Adan ist Direktorin der
Organisation Elman Peace and Human Rights Center .
Sie hat drei Töchter . Ihr Mann wurde ermordet, und von
seinem erfolgreichen Unternehmen erbte sie nichts . Sie
hatte keinen Sohn, aber sie könne ja wieder heiraten,
sagte seine Familie, die sich das Geld unter den Nagel
riss . Sie gründete dennoch eine Organisation, die Frau-
en in Not rechtliche und psychologische Unterstützung,
gesundheitliche Versorgung und Zuflucht bietet. Fartuun
Adan und ihre Mitstreiterinnen leisten Aufklärungsarbeit
und haben mehrere Häuser als Anlaufstellen für Frauen
eröffnet .
In Somalia werden Frauenrechte mit Füßen getreten:
Genitalverstümmelung, Vergewaltigung, Zwangsheirat,
Rechtlosigkeit . Diese Gewalt wird nicht direkt vom Staat
ausgeübt, aber Täter und Täterinnen werden kaum be-
straft. Es herrscht Straflosigkeit. Genau darauf zielte die
Antwort von Fartuun Adan ab . Nur ein stärkerer Staat
könne die Menschenrechtsverletzungen der Clans und
Milizen einschränken, auch die aus dem familiären Be-
reich gegenüber Frauen .
Es gibt viele Regierungen auf dieser Welt, die für
Menschenrechtsverletzungen in ihren Staaten verant-
wortlich sind . Auf sie müssen wir einwirken . Es muss
aber auch gelingen, die Menschenrechte in den Gesell-
schaften durchzusetzen .
Dafür brauchen wir die Köpfe der Menschen . Denn Men-
schenrechtsverteidiger werden nicht nur durch Staaten,
Regierungen oder Behörden verfolgt und bedroht, son-
dern auch durch Teile der Zivilgesellschaft . Das relati-
viert in keiner Weise die ungeheuren Zahlen von staat-
licher Verfolgung . Es zeigt aber, dass es ausgesprochen
kompliziert sein kann, wenn man Menschenrechtsvertei-
digerinnen und -verteidiger schützen will .
In Uganda begünstigt eine diskriminierende Gesetz-
gebung gegenüber Homosexuellen nicht nur die Ver-
folgung von LGBTI-Personen durch staatliche Stellen .
Einschlägige Medien hetzen gegen Homosexuelle . Mit-
ten aus der Gesellschaft kann sich ein Mob bilden, der
Homosexuelle und ihre Verteidiger bedroht oder verletzt .
Leider kommen die Täter manchmal direkt aus dem Got-
tesdienst; denn rund um den Globus sind es oft religiös
motivierte Gruppen, die gegen Menschenrechtsverteidi-
ger vorgehen . Das können christlich-fundamentalistische
Gemeinschaften ebenso sein wie islamistische Gruppie-
rungen und viele andere . Nichtstaatliche Milizen schüch-
tern Frauenrechtlerinnen ein, Unternehmen bekämpfen
Gewerkschafter . Es gibt viele Beispiele .
Wir müssen auch gar nicht so weit schauen . Auch in
Deutschland werden Menschen, die sich zum Beispiel
für Flüchtlinge einsetzen, oder Aktivisten oder Journa-
listen, die gegen Nazis vorgehen, mittlerweile wieder be-
droht, wie letzte Woche in meinem Wahlkreis . Vier Neo-
nazi-Gegner aus Mittelfranken erhielten Morddrohungen
in Gestalt einer fiktiven Todesanzeige. Hier muss unser
Rechtsstaat dafür sorgen, dass das nicht straflos bleibt.
Die meisten Regierungen legen Wert auf eine gute
internationale Reputation . Man kann versuchen, auf sie
einzuwirken, und Menschenrechtsverletzungen in ihren
Ländern immer wieder benennen – natürlich besonders
bei Gesprächen im jeweiligen Land . Oft ist es damit aber
nicht getan . Unser Antrag zeigt sehr deutlich, dass uns
ein vielfältiger Maßnahmenkatalog zur Verfügung steht,
Tom Koenigs
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201513976
(C)
(D)
mit dem wir Menschenrechtsverteidiger verteidigen kön-
nen . Diese Vielzahl der Mittel braucht es dringend .
Im Hinblick auf die Zivilgesellschaft fordern wir de-
zentrale Maßnahmen für ein sicheres Umfeld und men-
schenrechtliche Leitlinien in den örtlichen Sprachen, die
dem Volk auch bekannt gemacht werden müssen . Wir re-
den heute über Menschen, die für die Menschenrechte in
ihren Ländern ihr Leben und ihre Freiheit riskieren . Sie
sind Vorbild für die Zivilgesellschaft und oft die Einzi-
gen, die dem Terror trotzen . Sie sind uns Mahnung, wie
wenig selbstverständlich die Menschenrechte in vielen
Teilen der Erde sind und dass sich der Kampf lohnt . Sie
brauchen all unsere Unterstützung .
Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als Nächstes hat der Kollege Dr . Bernd
Fabritius, CDU/CSU-Fraktion, das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vor wenigen Wochen hat der Unterausschuss
für Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik eine Reise
nach Kuba unternommen, um ein bilaterales Kulturab-
kommen voranzubringen . Zu unserer Kultur gehören
auch Menschenrechte und deren Schutz, auch wenn Sie,
Frau Kollegin Groth, und die Linken meinen, dieser Bun-
desrepublik Deutschland ein distanziertes Verhältnis zu
Menschenrechten vorwerfen zu müssen . Das ist nicht nur
ein Tunnelblick, sondern das ist ungeheuerlich, und es ist
eine Unterstützung der Schurkenstaaten, die solche Ver-
gleiche dazu nutzen, eigenes Unwesen zu legitimieren .
Während dieser Reise in die Sozialistische Repu-
blik Kuba wurden wir mit dem Schicksal der berühm-
ten Damen in Weiß konfrontiert, die Sie, Frau Kollegin
Steinbach, zu Recht angesprochen haben . Es war eine
Erfahrung, die ich Ihnen heute gerne etwas näherbringen
möchte . Die Damen in Weiß sind eine Gruppe von Men-
schenrechtsverteidigerinnen, die sich im Jahre 2003 zu-
sammenschlossen, um öffentlich für die Freilassung ihrer
Angehörigen zu kämpfen . Diese waren 79 Regimekriti-
ker, die sich gewaltlos für die Menschenrechte in ihrem
Land eingesetzt hatten . Sie wurden während des soge-
nannten Schwarzen Frühlings vom kommunistischen Re-
gime auf Kuba verhaftet und zu hohen Gefängnisstrafen
verurteilt . Seitdem marschieren die Damen in Weiß jeden
Sonntag durch Havanna und setzen ein sichtbares, fried-
liches Zeichen gegen die Willkür des Regimes und für
Menschenrechte und Meinungsfreiheit .
Wie so viele Menschenrechtsverteidiger wurden auch
die Damen in Weiß schließlich selbst Opfer von Verleum-
dungen, Behinderungen und Repressionen durch ihren
eigenen Staat . Regelmäßig werden sie von den kubani-
schen Sicherheitsbehörden während ihres Marsches ohne
ersichtlichen Grund verhaftet . Sie werden zwar nicht
mehr wie früher lange festgehalten, dafür aber irgendwo-
hin, weit vor die Tore Havannas, verschleppt und dort,
im Nirgendwo, regelrecht ausgesetzt, von wo sie dann
in Ermangelung eines Systems öffentlichen Nahverkehrs
den langen und beschwerlichen Weg nach Hause zu Fuß
antreten müssen – ungeachtet ihres Alters, der körperli-
chen Verfassung, des Wetters oder anderer Umstände, die
schikaneverschärfend wirken . Mit solchen Einschüchte-
rungen sollen nicht nur die Damen in Weiß von ihrem
friedlichen, aber wirksamen Protest abgehalten werden;
es soll der erhobene Zeigefinger gegen die eigene Be-
völkerung sein, dass man sich mit derlei Aktionen in
Kuba nur Scherereien einhandelt . Mit solchen Methoden
wollen autoritäre Regimes weltweit einheimische Kriti-
ker mundtot machen und ihren eigenen Machtanspruch
sichern .
Menschenrechtsverteidiger handeln aus den edelsten
Motiven . Sie setzen ihre eigene Sicherheit aufs Spiel,
um sich für die Rechte anderer einzusetzen . Dafür ernten
sie Einschüchterungen, Repressionen, Verhaftungen und
Entführungen . Im schlimmsten Fall werden sie gefoltert,
ermordet oder verschwinden einfach für immer .
Deshalb bin ich sehr dankbar, dass wir mit dem heute
vorliegenden Antrag – passend zum Tag der Menschen-
rechte – ein starkes Signal der Unterstützung und Soli-
darität mit Menschenrechtsverteidigern weltweit aussen-
den .
Es geht uns mit diesem Antrag, meine Damen und
Herren, aber nicht nur um ein Signal . Wir wollen einen
Beitrag zur konkreten Unterstützung von Menschen-
rechtsverteidigern leisten . Unser Antrag nennt hierzu
eine ganze Reihe von Maßnahmen und Zielsetzungen .
Wesentlich hierbei sind auch die geltenden EU-Leitlini-
en, die unter anderem den Aufbau und die Pflege syste-
matischer Kontakte zu Menschenrechtsverteidigern so-
wie die regelmäßige Berichterstattung zu deren Situation
durch unsere Auslandsvertretungen und ein allgemeines
Mainstreaming in der EU-Außenpolitik vorsehen . Diese
Leitlinien, die Sie, Kollege Schwabe, zu Recht schon er-
wähnt haben, haben sich als Instrument bewährt . Auch
der Einsatz verschiedenster internationaler Organisati-
onen als wichtige Akteure im Kampf gegen Menschen-
rechtsverletzungen wird in unserem Antrag erwähnt,
namentlich etwa die Parlamentarische Versammlung des
Europarates und die Interparlamentarische Union, die
weiter gestärkt und gefördert werden müssen .
Der Ausschuss für die Menschenrechte von Parlamen-
tariern in der IPU, in dem ich als Vertreter Deutschlands
die 47 Staaten der Gruppe 12+ vertreten darf, befasst sich
vor allem mit den Fällen jener Oppositionsvertreter, die
aufgrund ihrer politischen Einstellung von der Regierung
ihres Landes drangsaliert, verhaftet, gefoltert oder er-
mordet werden .
Der Fall des omanischen Politikers Talib al-Maama-
ri sei als ein erschreckendes Beispiel dafür genannt, wie
Gabriela Heinrich
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 13977
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missliebige Regimekritiker selbst in solchen Staaten be-
handelt werden, die im Reigen autoritärer Systeme noch
als weitsichtig gelten können . Der 2011 ins omanische
Parlament gewählte Abgeordnete hatte schwere Umwelt-
schäden in seiner Heimatregion angeprangert und sich für
nachhaltigen Umweltschutz eingesetzt . Seine Teilnahme
an einer Demonstration nahmen die Behörden schließ-
lich zum Anlass, ihn trotz Immunität als Abgeordneter
einige Tage später zu inhaftieren und in der Folge mehr-
fach zu unterschiedlich langen Haftstrafen zu verurteilen .
Als Berichterstatter dieses IPU-Ausschusses konnte
ich mir mit dem Ausschussvorsitzenden vor Ort ein Bild
machen, Herrn al-Maamari sogar in der Haftanstalt be-
suchen und mit Vertretern des dortigen Parlaments über
den Fall sprechen . Mit klaren und verbindlichen Entlas-
sungszusagen beendeten wir die Fact Finding Mission .
Man wollte im Oman Öffentlichkeit um jeden Preis ver-
meiden .
Dieser Fall, meine Damen und Herren, zeigt zweier-
lei: Zum einen unterstreicht die Reaktion der omanischen
Behörden, wie wichtig der Einsatz internationaler Orga-
nisationen wie der IPU für bedrängte Menschenrechts-
verteidiger ist und welche Möglichkeiten diese haben .
Öffentlichkeit fürchten Staaten mit schlechtem Gewissen
vielleicht am meisten .
Zum anderen führt der Fall uns auch vor Augen, wie groß
die Angst autoritärer Regime vor Menschenrechtsvertei-
digern ist; denn Herr al-Maamari sitzt trotz aller Zusagen
bis zum heutigen Tage im Gefängnis . Passiert ist nämlich
noch nichts . Wir bleiben aber dran .
Wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, Menschen-
rechtsverteidigern konkrete Unterstützung zu gewähren,
sei einfach . Das wäre eine bisweilen gefährliche Illusi-
on . Am Rande der IPU-Vollversammlung in Hanoi im
vergangenen März veranstalteten die deutsche und die
schwedische Botschaft vor Ort ein gemeinsames Tref-
fen mit Menschenrechtsverteidigern – übrigens ganz
im Sinne der bereits angesprochenen EU-Leitlinien . Ich
möchte der deutschen Botschaft in Hanoi ausdrücklich
für ihre Unterstützung danken . Ich möchte auch Ihnen,
Frau Staatsministerin Böhmer, danken, dass Sie heute
hier sind und damit unterstreichen, welche Bedeutung
das Thema für Sie hat .
Die Veranstaltung in Hanoi wurde von vietnamesi-
schen Sicherheitsbehörden massiv behindert . Sämtliche
vietnamesischen Teilnehmer wurden gefilmt und foto-
grafiert. Viel schlimmer war jedoch, dass wir direkt nach
unserer Abreise aus Vietnam erfahren mussten, dass eini-
ge Interessierte gar nicht erst zur Veranstaltung anreisen
konnten, da sie von Sicherheitskräften mit Gewalt sogar
aus Flugzeugen herausgefischt und dabei teils übel zuge-
richtet wurden . Ein solches Vorgehen, liebe Kolleginnen
und Kollegen, dürfen wir nicht akzeptieren .
Ich danke Herrn Präsidenten Lammert ausdrücklich da-
für, dass er als Leiter der deutschen IPU-Delegation in
Hanoi diese eklatante Verletzung von Freiheitsrechten
gegenüber dem Präsidenten des vietnamesischen Parla-
ments mit deutlichen Worten angesprochen hat .
Gerade zum Tag der Menschenrechte muss ich leider
auch darauf hinweisen, dass wir in der letzten Zeit deut-
liche Rückschritte bei der Sicherung von Rechtsstaat-
lichkeit und beim Schutz von Menschenrechten selbst
in Ländern beobachten müssen, die zunächst auf einem
guten Weg schienen . Offenkundig soll in diesen Ländern
der eigene Machtanspruch erneut mit Schikanen, Behin-
derung und Bedrohung von Menschenrechtsverteidigern
gesichert werden .
Russland, meine Damen und Herren, hat erst am
Dienstag in der Staatsduma entschieden, Urteile des Eu-
ropäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht mehr
als verbindlich anzuerkennen . Dieses Gesetz soll es der
Regierung dort ausdrücklich erlauben, ihre eigenen Ab-
sichten selbst gegen Menschenrechte durchzusetzen . Das
ist beschämend .
Lassen Sie mich zum Abschluss noch einmal auf die
Damen in Weiß zurückkommen . Diese konnten letztlich
trotz aller Repressionen und Behinderungen die Frei-
lassung ihrer Angehörigen durchsetzen . Das hält sie je-
doch nicht davon ab, bis zum heutigen Tage weiter jeden
Sonntag durch Havanna zu ziehen, um so auf die desola-
te Menschenrechtslage ihrer Landsleute aufmerksam zu
machen . Stoisch nehmen sie weiter jede Woche den be-
schwerlichen Weg zu Fuß zurück in die Stadt auf sich und
setzen so Zeichen der Beharrlichkeit und des Willens, in
ihrem Land zu wirklichen Verbesserungen beizutragen –
die schönste Form echter, revolutionärer Vaterlandsliebe .
Genauso beharrlich müssen auch wir dranbleiben . Im
steten Kampf für Menschenrechte dürfen wir nicht nach-
lassen . Ich bitte deswegen um Zustimmung zu unserem
Antrag .
Danke .
Vielen Dank . – Nächste Rednerin ist die Kollegin
Dr . Ute Finckh-Krämer, SPD-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer oben
auf der Tribüne! Ich möchte Ihnen den Fall der Men-
schenrechtsaktivistin Leyla Yunus aus Aserbaidschan
näherbringen, die im August zu achteinhalb Jahren Haft
verurteilt worden ist . Der Fall steht beispielhaft für das
Schicksal einer ganzen Reihe von Menschenrechtsver-
teidigern in Aserbaidschan, gegen die das Regime mit
drastischen Maßnahmen vorgeht . Sie ist Vorsitzende der
aserbaidschanischen Nichtregierungsorganisation Insti-
tute for Peace and Democracy, und sie setzt sich aktiv für
einen Friedensprozess im Berg-Karabach-Konflikt ein.
Dr. Bernd Fabritius
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201513978
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In eingefrorenen Konflikten ist es wichtig, dass Men-
schen, die nicht die offizielle Regierungslinie vertreten,
für den Friedensprozess eintreten . Wenn die Regierung
von Aserbaidschan möchte, dass die Menschen, die we-
gen des Konfliktes ihre Heimat verlassen mussten, nun
zurückkehren können, dann könnte Leyla Yunus mit ih-
rem Institut einen wertvollen Beitrag dazu leisten . Das
geht aber nur, wenn sie freigelassen wird .
Aserbaidschan ist allen wesentlichen internationalen
Menschenrechtsabkommen beigetreten, 2002 auch der
Europäischen Menschenrechtskonvention . Leyla Yunus’
Gesundheitszustand hat sich in der Haft stark verschlech-
tert . Insofern hoffen wir, dass sie bald freikommt, ebenso
wie ihr Mann, der aus der Haft entlassen wurde und jetzt
unter Hausarrest steht .
Menschen, die gewaltfrei von der Regierungslinie ih-
res Heimatlandes abweichende Positionen vertreten, dür-
fen nicht kriminalisiert werden . Das muss für alle Länder
gelten, aber wir setzen uns ganz besonders für die Länder
ein, mit denen wir im Europarat zusammenarbeiten .
Menschenrechte wie die Presse- und Meinungsfreiheit
oder das Recht, sich zu Vereinigungen, etwa zu Gewerk-
schaften, zusammenzuschließen, werden wertlos, wenn
sie nicht wahrgenommen werden können . Menschen-
rechtsverteidiger nehmen einerseits diese Rechte selber
wahr und setzen sich andererseits dafür ein, dass andere
sie wahrnehmen können . Dafür gebührt ihnen unser be-
sonderer Dank .
Unser gemeinsames menschenrechtspolitisches An-
liegen muss es deshalb sein, Menschenrechtsverteidiger
in ihrer Arbeit zu unterstützen und sie dort, wo sie ver-
folgt werden, so gut wie möglich zu schützen . Das kann
nicht nur dadurch geschehen, dass wir uns von hier aus
öffentlich für sie einsetzen . Es wurden auch andere Me-
thoden entwickelt, zum Beispiel von Organisationen wie
den Peace Brigades International, die in lateinamerikani-
schen Ländern, aber auch in Kenia Menschenrechtsver-
teidiger vor Ort begleiten und ihnen helfen, Unterstüt-
zernetzwerke in ihrem jeweiligen Land aufzubauen, die
bei Angriffen oder Verhaftung protestieren können . Aber
auch Schulungen in gewaltfreier Konfliktbearbeitung
sind hilfreich; denn wer in seinem Umfeld für seinen
konstruktiven Umgang mit Konflikten geschätzt wird,
der ist besser vor Angriffen geschützt, weil andere sich
aktiv für ihn einsetzen .
Eine weitere Möglichkeit, politisch Verfolgte zu un-
terstützen, zeigt uns die Hamburger Stiftung für politisch
Verfolgte . Sie lädt politisch Verfolgte für ein Jahr ein,
damit sie in Hamburg ohne Angst und in Sicherheit ar-
beiten und sich von der Repression, unter der sie gelitten
haben, erholen können . Bis auf eine Menschenrechtsver-
teidigerin sind übrigens alle ehemaligen Stipendiatinnen
und Stipendiaten dieser Hamburger Stiftung in Freiheit .
Das heißt: Dieses eine Jahr Erholung und die Aufmerk-
samkeit, die sie durch dieses Stipendium erhalten haben,
haben ihnen geholfen, haben sie unterstützt . Die einzige
Ausnahme ist leider Leyla Yunus .
Die Hamburger Stiftung hilft ihren Gästen dabei, sich
mit deutschen und internationalen Meinungsbildnern aus
Politik, Medien und Zivilgesellschaft zu vernetzen . Ich
freue mich, dass es in Deutschland eine solche Einrich-
tung gibt .
Vielen Dank .
Vielen Dank . – Letzter Redner zu diesem Tages-
ordnungspunkt ist der Kollege Frank Heinrich, CDU/
CSU-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuhörer! Wir haben es inzwischen fest-
gestellt: Anlässlich des Tages der Menschenrechte, der
nächste Woche begangen wird, legen wir heute einen
Antrag vor, in dessen Mittelpunkt Menschenrechtsvertei-
diger und ihr Schutz stehen .
Ich möchte Ihnen heute ebenso, wie viele meiner Kol-
legen es getan haben, einige Personen vorstellen:
Eine dieser Personen ist Frau Do Thi Minh Hanh . Ich
hatte letztes Jahr die Gelegenheit, sie gleich zweimal zu
treffen . Einmal wie auf dem Bild in meinem Büro in Ber-
lin . Einige meiner Kollegen haben sie damals getroffen .
Herr Brand ist ein Pate von ihr . Sieben Monate vorher
musste ich, um sie zu besuchen, in ein vietnamesisches
Gefängnis in Hanoi gehen; das haben einige Kollegen
schon erzählt . Zu diesem Zeitpunkt war sie als Gewerk-
schafterin mit etwa drei Dutzend anderen Vietnamesen
inhaftiert, die als willkürlich Verhaftete von den Ver-
einten Nationen namentlich benannt wurden und deren
Freilassung gefordert wurde . Kurze Zeit nach meinem
Besuch wurde sie ohne Auflagen entlassen. Es wurde
ihr empfohlen, wenn sie ins Ausland reist, bitte dort zu
bleiben . Das war das Einzige, was man damit verband .
Im November hatte sie dann die Möglichkeit, hierherzu-
kommen und uns zu besuchen . Unter anderem entstand
damals dieses Bild in meinem Büro .
Letzte Woche musste ich erfahren, dass Frau Hanh
als Mitglied der Lao Dong Viet Independent Trade Uni-
on gemeinsam mit ihrem Kollegen verhaftet wurde . Ihr
Verbrechen war: Sie war Teilnehmer eines Treffens mit
Arbeitnehmern eines südkoreanischen Unternehmens,
bei dem es um Arbeitnehmerrechte und Verdienstausfall
ging . Polizeikräfte haben dieses Zusammentreffen be-
endet . Frau Hanh und ihr Kollege, Herr Duc, wurden in
Polizeigewahrsam genommen . Bis zum Morgen darauf
wurden sie festgehalten und offenbar von Polizeikräften
Dr. Ute Finckh-Krämer
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 13979
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brutal geschlagen . Inzwischen konnten die Verletzungen
an Kopf und Auge im Krankenhaus behandelt werden .
Sie leidet aber bis heute unter Sehstörungen .
Ein weiterer Fall – ähnliche wurden schon genannt –
aus Aserbaidschan: Rasul Jafarov ist Gründer und Vorsit-
zender eines Menschenrechtsclubs, einer unabhängigen
Menschenrechtsgruppe . Er ist laut Human Rights Watch
einer der angesehensten und schärfsten Kritiker der po-
litisch motivierten Strafverfolgung in seinem Land . Im
August vergangenen Jahres brachte er eine Kampagne –
Sport for Rights – in Umlauf . Sportler sollten während
der Europaspiele in Aserbaidschan im Juni dieses Jah-
res – der eine oder andere mag sich daran erinnern – auf
die Freilassung widerrechtlich inhaftierter Aktivisten
hinweisen . Er konnte seine Pläne aber nicht durchführen,
weil er am nächsten Tag verhaftet und im April dieses
Jahres zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt wurde . Ihm
wurden illegales Unternehmertum, Machtmissbrauch,
Steuerhinterziehung – was man alles da so findet – vor-
geworfen .
Während dieser Spiele wurde uns unterdessen ein Bil-
dermärchen eines Landes vorgelegt . Wer von gefälsch-
ten Wahlen, Korruption oder fehlender Meinungsfreiheit
berichtet hat, wurde drangsaliert, bedroht und inhaftiert .
In diesem Land gibt es etwa 100 politische Gefangene . –
Herr Strässer, Sie als Menschenrechtsbeauftragter könn-
ten ganze Lieder darüber singen . Er ist derjenige, der
deswegen bald nicht mehr ins Land darf, weil er seinen
Finger immer wieder draufgelegt hat .
Auch Europaratskommissar Nils Muižnieks – ich hof-
fe, ich habe den Namen richtig ausgesprochen – verur-
teilt das klare Muster der Unterdrückung von Journalis-
ten, Bloggern und anderen Aktivisten in Aserbaidschan .
Einige weitere wichtige Zivilgesellschaftsvertreter haben
seit Sommer 2014 das Land verlassen . In einem Fall wur-
de auch um humanitäres Asyl in einer westlichen Bot-
schaft ersucht .
Ein drittes Beispiel möchte ich nennen: Letzte Woche
saß eine junge Frau aus Bahrain – dieses Beispiel wurde
schon zweimal angeführt – in meinem Büro . Sie ist Jour-
nalistin und berichtete von ihren Erfahrungen und den
Missständen in ihrem Land . Für ihr Engagement bekam
sie einen Menschenrechtsaward, den ich jetzt genau-
so wenig nenne wie ihren Namen, weil ich sie nicht in
Schwierigkeiten bringen will . Eine solche Ehrung ist die
eine Seite . Die andere Seite ist: Sie wurde in der Zeit, in
der sie inhaftiert war, von fünf Polizisten gefoltert . Für
dieses Verbrechen hat sie keine Gerechtigkeit walten se-
hen. Sie und ihre Kollegen finden in ihrem Land keinen
Schutz vor Folter und willkürlicher Verhaftung . Sie sagte
in der letzten Woche in meinem Büro: Ich muss aufpas-
sen, was ich wem wie erzähle; denn ich will das so nicht
noch einmal erleben . Doch möchte ich, meinem Gewis-
sen folgend, deutlich Kante zeigen .
Auch für den Menschenrechtsverteidiger Nabeel Ra-
jab, ebenfalls aus Bahrain, konnte ich mich letztes Jahr
einsetzen; mehrere von uns ebenfalls . Er ist Präsident des
Bahrain Centers for Human Rights, Mitglied bei Human
Rights Watch, und er ist Blogger . Er hat zehn Jahre dafür
bekommen, dass er über die Menschenrechtssituation in
seinem Land berichtet hat . Laut Amnesty International
ist er im Juli aus gesundheitlichen Gründen aus der Haft
entlassen worden .
Laut einem Bericht von Human Rights Watch, den ich
zitieren möchte, foltern bahrainische Sicherheitskräfte
Häftlinge bei Verhören . Die Opfer müssen stehen blei-
ben . Sie werden extremer Kälte ausgesetzt . Sie werden
sexuellen Übergriffen ausgesetzt .
Die im Jahr 2011 gegründeten Institutionen, die Be-
schwerden entgegennehmen . . . sollen,
– also formelle Verbesserungen bewirken sollten –
arbeiten weder unabhängig noch transparent .
Es fiel vorhin die Zahl von Reporter ohne Grenzen –
Frau Steinbach hat das erwähnt –: 63 getötete Journa-
listen und mehrere Hundert Inhaftierte allein in diesem
Jahr . Die Zahlen als solche sind erschreckend . Deshalb
haben wir ja auch diesen Antrag eingebracht . Natürlich
geht es uns nicht nur darum, strukturell die Bedingungen
zu verbessern, sondern es geht uns auch um diese Ein-
zelpersonen wie Do Thi Minh Hanh, Rasul Jafarov und
Nabeel Rajab. Vorhin fiel auch der Name al-Maamari.
Immer wieder wird auch Badawi erwähnt, der Blogger,
der 1 000 Peitschenhiebe bekommen soll .
Viele Namen und Gesichter fallen uns da ein . Es
geht um Menschen, die ihre physische und psychische
Gesundheit riskieren, um sich für die Verbesserung der
Menschenrechtslage in ihrem Land einzusetzen, und, wie
Do Thi Minh Hanh, sogar in ihr Land zurückkehren – ob-
wohl sie die Chance hätte, wegzubleiben –, damit sich
die Bedingungen dort strukturell verbessern .
Jetzt hat sie wieder eine Strafe dafür kassiert .
Rasul Jafarov war derjenige, der mich eingeladen hat-
te . Ich habe ihn besucht, und er hat mir gesagt: Es könnte
mir jeden Tag passieren, verhaftet zu werden . – Damals
ging es um den European Song Contest . Der Schutz die-
ser mutigen Menschen ist ein wichtiges menschenrechts-
politisches Anliegen . Deshalb haben wir nicht nur heute
einen Schwerpunkt mit dieser Debatte gesetzt, sondern
der Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hil-
fe wird aus diesem Grund auch im nächsten Jahr einen
Schwerpunkt auf den Schutz von Menschenrechtsvertei-
digern legen . Er wird dies dann bei den genannten Be-
suchen, bei unseren Aufforderungen an Botschafter und
auch dann, wenn wir hier mit den Botschaftern der be-
troffenen Länder reden, immer wieder verstärkt einbrin-
gen .
Oft fehlen wie in Bahrain die rechtsstaatlichen Struk-
turen . Nur selten werden die Verbrechen aufgeklärt und
die Täter verurteilt . Deshalb bin ich dankbar – das habe
ich eben schon gesagt – für Organisationen, die sich an
dieser Stelle engagieren . Auch hier in Deutschland gibt
es Personen, die sich innerhalb der Organisationen en-
gagieren . So, wie wir als Politiker versuchen, Solidarität
Frank Heinrich
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201513980
(C)
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zu äußern, bitte ich Sie, Briefe zu schreiben und sich zu
engagieren, Licht auf die Einzelschicksale zu werfen und
Hoffnung zu machen .
In unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung
auf, alle diplomatischen Mittel wie nur irgendwie mög-
lich zu nutzen, um gegen die Kriminalisierung von NGOs
und friedlichen Menschenrechtsverteidigern vorzugehen,
Organisationen zu unterstützen, die für Menschenrechts-
verteidiger einstehen .
Als Abgeordnete können wir das, wie wir gerade ge-
hört haben, tun, zum Beispiel als Pate . Wir können Peti-
tionen unterschreiben . Das können Sie auch als Bürger,
als Einzelperson . Man kann als Prozessbeobachter aktiv
werden . Ja, wir müssen an der Stelle noch mehr unserer
Kollegen bitten – Herr Schwabe hat vorhin darauf hinge-
wiesen –, Paten zu werden, um Licht auf die Menschen-
rechtssituation zu werfen . Wir müssen Menschenrechts-
verteidiger mehr über ihre Rechte und Möglichkeiten des
Schutzes aufklären . Ihnen muss bekannt sein, welche
Unterstützung sie aus unserem Land, in dem wir tatsäch-
lich diese Freiheiten haben, erhalten können und an wen
sie sich wenden können .
Ich komme zum Schluss . Es geht um viele Personen,
für die man sich auch als Privatperson einsetzen kann .
Ich selber habe mich entschieden, Männer und Frauen
wie Do Thi Minh Hanh weiterhin zu unterstützen, sie im
Gefängnis zu besuchen, wenn wir dort sind, ihnen auch
mit Briefen Mut zuzusprechen, ihnen zu sagen, dass sie
nicht vergessen sind . Ich werde überall, wo es möglich ist,
einen kleinen Beitrag dazu zu leisten, dass das an ihnen
begangene Unrecht aufgeklärt wird . Aber das wollen wir
auch körperschaftlich als Parlament und als Regierung .
Ich danke für die Aufmerksamkeit .
Ich bedanke mich auch . – Damit sind wir am Schluss
der Aussprache angelangt .
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksa-
che 18/6880 mit dem Titel „Schutz von Menschenrechts-
verteidigerinnen und -verteidigern weltweit verstärken“ .
Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Damit ist der Antrag bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke angenommen .
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 30 a bis 30 d
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette
Groth, Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Freiheit für Leonard Peltier
Drucksache 18/2622
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
b) Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungs-
schutz 2013
Drucksache 18/208
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit
Ausschuss Digitale Agenda
c) Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungs-
schutz 2014
Drucksache 18/3682
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit
d) Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht zur Verordnung über Vereinbarungen
zu abschaltbaren Lasten
Erforderlichkeit und Eignung abschaltbarer
Lasten, um Gefährdungen oder Störungen der
Sicherheit und Zuverlässigkeit des Elektrizi-
tätsversorgungssystems zu beseitigen
Drucksache 18/6096
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit
Es handelt sich hierbei um Überweisungen im ver-
einfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen . Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe,
das ist der Fall . Dann ist so beschlossen .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a bis 31 f auf .
Auch hierbei handelt es sich um die Beschlussfassung
zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist .
Tagesordnungspunkt 31 a:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
– zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und SPD
Die Alpen – Vielfalt in Europa – Ziele der
Alpenkonvention voranbringen und nach-
haltig gestalten
– zu dem Antrag der Abgeordneten Markus
Tressel, Dr. Anton Hofreiter, Steffi Lemke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Frank Heinrich
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 13981
(C)
(D)
Tourismusprotokoll der Alpenkonvention
umsetzen – Wintertourismus nachhaltig
gestalten
Drucksachen 18/6187, 18/4816, 18/6848
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktio-
nen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 18/6187
mit dem Titel „Die Alpen – Vielfalt in Europa – Ziele
der Alpenkonvention voranbringen und nachhaltig ge-
stalten“ . Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist die
Beschlussempfehlung bei Enthaltung der Fraktionen Die
Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen .
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ableh-
nung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 18/4816 mit dem Titel „Tourismuspro-
tokoll der Alpenkonvention umsetzen – Wintertourismus
nachhaltig gestalten“ . Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Damit ist die Beschlussempfehlung gegen die
Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen angenommen .
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-
titionsausschusses .
Tagesordnungspunkt 31 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-
onsausschusses
Sammelübersicht 255 zu Petitionen
Drucksache 18/6819
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Sammelübersicht 255 ist einstimmig an-
genommen .
Tagesordnungspunkt 31 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-
onsausschusses
Sammelübersicht 256 zu Petitionen
Drucksache 18/6820
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Sammelübersicht 256 ist gegen die Stim-
men der Fraktion Die Linke bei Enthaltung von Bünd-
nis 90/Die Grünen angenommen .
Tagesordnungspunkt 31 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-
onsausschusses
Sammelübersicht 257 zu Petitionen
Drucksache 18/6821
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Sammelübersicht 257 ist einstimmig an-
genommen .
Tagesordnungspunkt 31 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-
onsausschusses
Sammelübersicht 258 zu Petitionen
Drucksache 18/6822
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Sammelübersicht 258 ist gegen die Stim-
men der Fraktion Die Linke angenommen .
Tagesordnungspunkt 31 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-
onsausschusses
Sammelübersicht 259 zu Petitionen
Drucksache 18/6823
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Sammelübersicht 259 ist gegen die
Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen angenommen .
Dann rufe ich den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
auftragten
Jahresbericht 2014
Drucksachen 18/3750, 18/6093
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre hierzu
keinen Widersprich . Dann ist so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Wehr-
beauftragte des Deutschen Bundestages, Dr . Hans-Peter
Bartels .
Dr. Hans-Peter Bartels, Wehrbeauftragter des Deut-
schen Bundestages:
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Diese Debatte zum Jahresbericht 2014 passt ganz gut in
diese Sitzungswoche . Es ist richtig, dass der Istzustand
der Bundeswehr und das, was sich ändern muss, gerade
jetzt zum Thema gemacht wird; denn unserer Streitkräfte
werden heute wirklich gebraucht – fast möchte man sa-
gen: mehr denn je .
Sie werden unter anderem in den klassischen Ausland-
seinsätzen – out of area – gebraucht . Die Beanspruchung
dafür war in diesem Sommer schon auf gut 2 500 Solda-
tinnen und Soldaten abgesunken . Jetzt ist EUNAVFOR
MED im Mittelmeer dazugekommen, und die Einsätze in
Afghanistan und im Nordirak werden wieder etwas grö-
ßer und wohl auch noch länger dauern . Auch für den Ein-
satz in Mali werden wir deutlich mehr Personal stellen,
und das in dieser Woche durch das Parlament gehende
Anti-IS-Mandat bedeutet quantitativ und qualitativ auch
noch einmal ein starkes Plus .
Alles in allem werden dann rund 5 000 Soldaten
Deutschland in mandatierten internationalen Einsätzen
vertreten – doppelt so viele wie Mitte dieses Jahres . Die
Bundeswehr kann das leisten – kein Thema –, wenn es
die einzige Beanspruchung unserer Soldatinnen und
Soldaten wäre . In ganz ähnlicher Größenordnung – gut
5 000 Soldaten – kommen allerdings noch NATO-Ver-
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201513982
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pflichtungen hinzu. Diese sind spätestens mit Beginn der
Ukraine-Krise auch sehr ernst gemeint . Ich meine kon-
kret die NRF mit 4 600 deutschen Soldaten, davon 2 700
in der besonders schnellen Speerspitze . Das ist mehr als
früher, und diese Truppen haben eine hohe Bereitschaft .
Sie üben tatsächlich . Das sind keine reinen Papierbu-
chungen mehr . Außerdem kommen noch die Air Policing
Baltikum, die rotierenden deutschen Heereskompanien
in Polen, Estland, Lettland und Litauen und die ständigen
maritimen Einsatzverbände der NATO hinzu .
Die kollektive Verteidigung ist wieder ein Thema . Das
Bündnis bindet Kräfte in Europa . Aber die Bundeswehr
kann das . Die äußere Sicherheit ist ihr Kernauftrag; dafür
ist sie da . Weil die Bundeswehr da ist, hat die deutsche
Politik, hat dieses Parlament international Handlungs-
optionen . Nach 60 Jahren Bundeswehr sind unsere Sol-
datinnen und Soldaten ein gesuchter Partner in der inter-
nationalen militärischen Zusammenarbeit . Dafür, glaube
ich, ist dieses Parlament dankbar .
Die Bundeswehr kann auch im Innern helfen, wenn
es wirklich nicht anders geht . Die Amtshilfe in Sachen
Flüchtlinge bindet im Augenblick 8 000 Männer und
Frauen unserer Streitkräfte . Viele Soldaten haben sich
freiwillig gemeldet . Der Vorteil unserer Bundeswehr ist,
dass sie in Krisen schnell zur Stelle sein kann . Das macht
sie auch im Innern so beliebt . Sie macht das gut .
Uns allen sollte aber klar sein, dass Flüchtlingshilfe
keine Dauereinsatzaufgabe der Bundeswehr werden darf;
denn das ginge auf Kosten von Ausbildung und Einsatz-
bereitschaft für den Kernauftrag, die äußere Sicherheit .
Viele Soldaten sagen mir genau das bei meinen Besuchen
in der Truppe, und ich teile diese Sorge . Die Soldaten hel-
fen gern, zur Not auch als Lückenfüller, aber die Lücken
müssen irgendwann auch wieder zivil gefüllt werden .
Warum rede ich heute zuallererst über die Beanspru-
chung des Personals? Weil ich mir Sorgen mache, dass es
zu einer Überbeanspruchung kommen könnte . Niemand
muss sich Gedanken über neue Aufgaben für die Bun-
deswehr im Innern machen; die Belastung wächst gerade
jetzt in diesen Wochen auch so schon enorm .
Gleichzeitig ist auch noch die letzte Bundeswehrneu-
ausrichtung mit neuen Organisationsstrukturen, neuen
Standorten und veränderten Arbeitsbeziehungen zu be-
wältigen . Es ist richtig, dass die Reform jetzt nachgesteu-
ert wird . Die Bundeswehr braucht 100 Prozent Ausrüs-
tung – große und kleine – für 100 Prozent Bundeswehr,
und zwar schnell, nicht irgendwann .
Diese Ausrüstung muss aber auch in der Realität und
nicht nur auf dem Papier verfügbar sein . Das heißt, es
müssen zum Beispiel Ersatzteile gekauft werden, auch
für die alten Tornados . Vielleicht geht es auch darum,
wieder mehr selber machen zu können . Jedenfalls muss
Schluss sein mit der Toleranz für Fehlanzeigen . Wenn
das Gerät für Ausbildung und Übungen nicht da ist, ist
der Beruf nicht attraktiv; auch das höre ich bei jedem
Truppenbesuch .
Vieles ist in Bewegung . Die Stellungnahme des Mi-
nisteriums zum Jahresbericht 2014 zeigt, dass Kritik an-
kommt – nicht immer, aber, wie ich hoffe, immer öfter .
Mein Vorgänger Hellmut Königshaus – ich begrüße ihn
auf der Tribüne – kann ganz zufrieden sein .
Er hat Anregungen gegeben, die tatsächlich zu Verbes-
serungen führen, etwa bei der Kasernensanierung . Nur
etwas Tempo fehlt noch; darüber haben wir schon im
Ausschuss diskutiert . Ein paar offene Punkte will ich hier
noch ansprechen .
Erstens . Es ist gut, dass das Ministerium zwei Arbeits-
gruppen – Sie sagen: Taskforces – eingerichtet hat, die
helfen sollen, die Verfügbarkeit von Hubschraubern und
Flugzeugen zu verbessern . Das ist dringend nötig . Die
Ausbildung für NH90, Tiger, Sea King und Sea Lynx
leidet extrem . Für unsere Piloten und angehenden Pilo-
ten ist das eine unmögliche Situation . Ich höre aus dem
BMVg, kurzfristige Lösungen seien nicht zu erwarten .
Aber das Problem kennen wir seit Jahren . Insofern bitte
ich auch hier um Tempo .
Zweitens . Der Verteidigungsausschuss wie auch mein
Amtsvorgänger haben immer wieder auf eine Einhaltung
des 20/4-Monatssystems für eingesetzte Soldatinnen und
Soldaten gedrängt . Das gelingt noch nicht immer zuver-
lässig . Aber dann sollte wenigstens der Rücktransport,
zum Beispiel aus Afghanistan, planbar und zur festge-
setzten Zeit stattfinden und nicht immer mit tagelanger
Verzögerung . Das ist für die Soldatinnen und Soldaten
und für ihre Familien nur schwer erträglich .
Drittens . Das Beurteilungssystem gerecht zu gestal-
ten, ist gewiss eine enorm anspruchsvolle Aufgabe . Aber
je existenzieller es in seinen Konsequenzen wird, etwa
beim Übergang vom Zeit- zum Berufssoldaten, desto öf-
ter scheint es zu versagen; so ist jedenfalls der Eindruck
bei vielen Betroffenen . Das schadet der Bundeswehr . Ich
glaube, wir brauchen hier ein neues und transparenteres
System .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, abschließend möch-
te ich sagen, dass ich den Berichterstatterinnen der Frak-
tionen, den Kolleginnen Schäfer, Henn, Buchholz und
Wagner, für die fraktionsübergreifend gute Zusammen-
arbeit im Interesse unserer Soldatinnen und Soldaten
dankbar bin . Ich danke meinen Mitarbeiterinnen und
Mit arbeitern und unseren Ansprechpartnern im Minis-
terium und in den Streitkräften, die ganz überwiegend
auf die Anmerkungen des Wehrbeauftragten konstruktiv
eingehen .
Ich danke auch den vielen Soldatinnen und Soldaten,
die mit ihren Eingaben immer wieder dafür sorgen, dass
Missstände thematisiert und beseitigt werden können .
Manchmal geht es eben nicht nur um den Einzelfall, son-
dern um eine Art militärisches Verbesserungsmanage-
ment . Keine andere Armee der Welt hat so ein Rückmel-
desystem . Wir sind damit in 60 Jahren gut gefahren . Es
Dr. Hans-Peter Bartels
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 13983
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wird uns auch jetzt helfen, wo die Zeiten sicherheitspoli-
tisch erkennbar härter werden .
Vielen Dank .
Vielen Dank . – Die Kollegin Anita Schäfer spricht
jetzt für die CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter! Vor et-
was mehr als sieben Monaten haben wir das erste Mal
den Jahresbericht für 2014 debattiert, der noch von Ihrem
Vorgänger Hellmut Königshaus verantwortet wurde . An-
gesichts der Ereignisse in der Zwischenzeit scheint der
Berichtszeitraum kurz vor Ende des Jahres 2015 in weite
Ferne gerückt .
Im letzten Jahr war unser Augenmerk vor allem auf
die Ukraine-Krise gerichtet . Wir sprachen über eine
Rückbesinnung auf die klassische Bündnisverteidigung,
über die notwendige Rückkehr zur Vollausstattung von
Kampftruppenbataillonen mit Großgerät, über die Stär-
kung schneller Eingreifkräfte und über lange nicht geüb-
te Fähigkeiten zur Truppenverlegung in Europa . In die-
sem Sommer wurden dann die Folgen des seit vier Jahren
andauernden Bürgerkriegs in Syrien und der Schreckens-
herrschaft des sogenannten „Islamischen Staates“ auch
hierzulande für jedermann deutlich; denn die Flucht vor
Gewalt und Terror in Syrien war wesentlich für die Zu-
spitzung der aktuellen Flüchtlingskrise verantwortlich .
Seither ist auch die Bundeswehr stark in der Flücht-
lingshilfe engagiert, mittlerweile mit durchschnittlich
7 500 Soldaten . Die Bundeswehr hilft beim Aufbau und
dem Betrieb von Unterkünften, bei der Aufnahme von
Flüchtlingen, bei der Organisation, bei Transport und
medizinischer Betreuung und durch die Abgabe von Ver-
pflegung, Betten und anderem Material. All das geschieht
neben ihren eigentlichen Aufgaben im Grundbetrieb und
im Auslandseinsatz .
Gestern haben wir nun über die Unterstützung Frank-
reichs im Kampf gegen den IS nach den neuerlichen
Anschlägen in Paris debattiert und werden morgen vo-
raussichtlich die Einsätze über Syrien und im Mittelmeer
beschließen . Damit kommen neue gefährliche Aufgaben
auf die Bundeswehr zu . Gleichzeitig sind die bisherigen
Herausforderungen nicht verschwunden . Lieber Herr
Wehrbeauftragter, vor diesem Hintergrund haben Sie sich
bereits mehrfach und auch heute zu den Bedürfnissen der
Bundeswehr geäußert, unter anderem auch zum Ausstat-
tungsgrad mit Großgerät, wobei, so glaube ich, fast jeder
darin übereinstimmt, dass kein Weg an der Rückkehr zur
Vollausstattung vorbeiführt .
Im Hinblick auf die Vielfalt der Herausforderung-
en kann es aber nicht nur darum gehen, dass jedes
Kampftruppenbataillon des Heeres einen vollständigen
Fahrzeugbestand hat . Wir müssen auch darauf achten,
welcher Anteil der vorhandenen Bestände überhaupt
einsatzbereit ist . Insbesondere bei den Flugzeugen und
Hubschraubern gibt es weiterhin niedrige Bereitschafts-
stände . Das ist teilweise mit der Einführung neuen Geräts
zu erklären, bei dem die Versorgungsreife noch nicht er-
reicht ist, und umgekehrt mit dem Alter von Luftfahrzeu-
gen, die vor der Ausmusterung stehen . Allerdings zeigt
sich auch weiterhin, dass frühere Sparmaßnahmen bei
der Ersatzteilbeschaffung erst Jahre später ihre vollen
Auswirkungen entfalten . Eine vorausschauende Sicher-
heitspolitik kann aber nicht zulassen, dass auf Kosten der
Zukunft gespart wird . Das ist eine Lektion, die wir nicht
vergessen dürfen .
Meine Damen und Herren, so viel zur Ausrüstung .
Viel wichtiger aber sind die Menschen in der Bundes-
wehr . Die bereits hohe Einsatzbelastung wird sich natür-
lich mit neuen Aufgaben weiter erhöhen . Das gilt beson-
ders für Organisationsbereiche und Truppengattungen,
die ohnehin stark gefordert sind . Dazu kann man prak-
tisch alle zur See fahrenden Teile der Marine zählen . Der
gerade beendete Patriot-Einsatz in der Türkei hat auch
die Flugabwehrtruppe der Luftwaffe sowohl materiell als
auch personell sehr beansprucht .
Beim Heer tragen die Spezialpioniere, die für Bau und
Betrieb von Feldlagern verantwortlich sind, eine große
Last . Schließlich ist die Situation im Sanitätsdienst wei-
terhin verbesserungsbedürftig, nicht zuletzt, weil sich
Einsatzbelastung und Personalprobleme gegenseitig ver-
stärken. Bereits absehbar ist, dass die Verpflichtungen
weiter zunehmen, wenn wir 2019 wieder die Führung der
NATO-Speerspitze übernehmen .
Umso wichtiger ist es, zumindest gute Grundbedin-
gungen und Ausgleichsmöglichkeiten im Dienst zu ge-
währleisten . Einer der entscheidenden Themenblöcke
bleibt daher die Attraktivität des Dienstes in der Bundes-
wehr . In der letzten Debatte hatte ich angesprochen, dass
uns mit dem damals gerade erst beschlossenen Bundes-
wehr-Attraktivitätssteigerungsgesetz ein großer Schritt
gelungen ist . Mittlerweile haben wir mit dem Besol-
dungsänderungsgesetz darüber hinaus einige zusätzliche
Verbesserungen eingeführt .
Dazu gehören die Erhöhung diverser Stellenzulagen und
die Einbeziehung weiterer Gruppen wie die Bundes-
wehr-Feuerwehr sowie die Schaffung zusätzlicher hö-
herdotierter Dienstposten, insbesondere in der Feldwe-
bellaufbahn .
Zum 1 . Januar 2016 wollen wir zudem die EU-Ar-
beitszeitrichtlinie für die Bundeswehr umsetzen . Zum
ersten Mal seit ihrem Bestehen wird damit eine gesetz-
lich geregelte Arbeitszeit für Soldaten im Grundbetrieb
eingeführt . Allerdings ergeben sich dadurch auch neue
Probleme, gerade bei der Marine, wo die Besatzungen
bislang im Hafen an Bord ihrer Schiffe untergebracht
sind, was auch entsprechende Wachdienste erfordert, die
das ganze Konstrukt der geregelten Arbeitszeit zum Zu-
Dr. Hans-Peter Bartels
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201513984
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sammenbrechen bringen würden . Erschwerend kommt
hinzu: Bislang erhalten die Besatzungen für solche
Dienste Zulagen .
Künftig müssen sich die nicht unterkunftspflichtigen
Soldaten eigene Unterkünfte an Land besorgen . Al-
lein am Marinestützpunkt Wilhelmshaven betrifft das
1 200 Männer und Frauen . Schon die notwendigen Un-
terkünfte in dieser Zahl zu finden, stellt eine gewaltige
Herausforderung dar . Das Bundesministerium der Vertei-
digung hat aber erklärt, auch unkonventionelle Lösungen
wie Wohngemeinschaften verfolgen zu wollen, sodass
sich hoffentlich im Laufe der nächsten beiden Jahre die
Situation zufriedenstellend einspielt .
Allerdings wird die Umsetzung der Arbeitszeitrichtli-
nie Auswirkungen auf alle Teilstreitkräfte haben, gerade
was das Ableisten von Wachdiensten betrifft, die sehr
viel Zeit binden . Dadurch wird sich voraussichtlich ein
noch stärkerer Bedarf an Bewachung von Bundeswehr-
objekten durch zivile Dienstleister ergeben .
Wichtig ist vor allem, dass die Soldaten jederzeit um-
fassend über die Entwicklung informiert sind . Am Ende
muss und wird dann klar werden: Niemals zuvor ist so
viel für die Verbesserung der Bedingungen im Grundbe-
trieb der Bundeswehr getan worden wie in dieser Legis-
laturperiode, meine Damen und Herren .
Herr Wehrbeauftragter, ich möchte zum Schluss auf
ein Interview eingehen, das Sie im Sommer der Wochen-
zeitung Bundeswehr aktuell gegeben haben . Besonders
interessant fand ich dabei Ihre Aussage zur Diversität in
der Truppe . Dazu gehört das Thema „Frauen in der Bun-
deswehr“, bei dem wir auf einem guten Weg sind . Der
Frauenanteil liegt bereits bei über 10 Prozent, nicht mehr
weit entfernt beispielsweise von den knapp 14 Prozent
bei der Bundespolizei .
Gleichwohl hat im vergangenen Jahr die Studie
„Truppenbild ohne Dame?“ auch noch Probleme bei der
Integration aufgezeigt, die wir im Blick behalten müssen .
Gerade angesichts der Flüchtlingskrise und der Debatte
um bestmögliche Integration von Zuwanderern geht es
bei Diversität aber auch um den gemeinsamen Dienst
von deutschen Staatsbürgern unterschiedlicher Herkunft .
Deshalb sollten wir nicht nur darauf hinweisen, dass die
Bundeswehr Seite an Seite mit vielen anderen Institutio-
nen und Freiwilligen Großartiges in der Flüchtlingshilfe
leistet –
was auch von den anderen Helfern anerkannt wird, die
teilweise sogar wie hier in Berlin um den Einsatz der
Bundeswehr bitten, selbst wenn sie politisch eigentlich
eher, ich sage mal, bundeswehrfern sind –, sondern auch
darauf, dass die Bundeswehr selbst ein gelungenes Bei-
spiel von Integration ist .
Mittlerweile ist der Anteil von Menschen mit Migra-
tionshintergrund bei der Bundeswehr genauso groß wie
in der gesamten Gesellschaft . Diese Soldaten erfahren
in der Truppe nach Aussage des Vereins „Deutscher .Sol-
dat .“ im Vergleich zur Gesamtgesellschaft praktisch kei-
ne Diskriminierung . Der Verein hat sich gerade deshalb
gegründet, um gesellschaftlichen Vorurteilen sowohl von
links, von rechts als auch unter Immigranten selbst ent-
gegenzuwirken, dass man als – in Anführungszeichen –
„Ausländer“ doch nicht bei der Bundeswehr sein könne .
Diese Vorreiterrolle der Bundeswehr können wir ruhig ab
und zu mal betonen .
Meine Damen und Herren, am Ende eines Jahres, das
uns alle in Atem gehalten hat, möchte ich besonders den
Soldatinnen und Soldaten sowie den Zivilangestellten
der Bundeswehr und ihren Familien danken:
für das, was sie geleistet haben und in den neuen Einsät-
zen leisten werden, und für die persönlichen Opfer, die
sie für die Sicherheit in Deutschland und Europa bringen .
Nicht zuletzt möchte ich auch dem Wehrbeauftragten
und seinen Mitarbeitern noch einmal für ihre Arbeit dan-
ken . Frau Präsidentin, gestatten Sie mir, dass ich auch
unserem früheren Wehrbeauftragten Herrn Königshaus
noch einmal für seine besondere Arbeit danke . Herzli-
chen Dank!
Ihnen und uns allen wünsche ich ein hoffentlich friedli-
ches Weihnachtsfest und ein gutes neues Jahr .
Vielen Dank .
Vielen Dank . – Nächste Rednerin ist Christine
Buchholz, Fraktion Die Linke .
Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftrag-
ter! Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter! Meine Da-
men und Herren! Die heutige Debatte zum Jahresbericht
des Wehrbeauftragten steht erneut unter dem Eindruck
des Umbaus der Bundeswehr zu einer Armee im Einsatz .
Nun geht es in den nächsten Krieg, nach Syrien und Irak .
Die Bundesregierung peitscht in nicht weniger als einer
Woche den größten Kampfeinsatz seit Afghanistan durch .
Das hat natürlich auch direkte Folgen für die Soldatinnen
und Soldaten . Beispielsweise wird dieser Einsatz dazu
führen, dass deutsche Soldaten mitverantwortlich sein
Anita Schäfer
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 13985
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werden, wenn französische Bomber und Bomber anderer
Nationen zivile Ziele treffen .
Es wird sie betreffen, weil schon jetzt klar ist, dass dieser
Einsatz nicht nach einem Jahr vorbei ist . Der Bundes-
wehrVerband spricht davon, dass mit circa zehn Jahren
zu rechnen ist . Das sagt auch jeder andere, der sich mit
diesem Thema auch nur wenige Stunden auseinanderge-
setzt hat .
Außerdem wird die Terrorgefahr erhöht . Das gilt für je-
den, der in diesem Land lebt, aber auch für die Soldatin-
nen und Soldaten, egal wo sie sich befinden. Die Linke
wird sich diesem Wahnsinn – gemeinsam mit vielen an-
deren Menschen in diesem Land – entgegenstellen, hier
im Parlament und auf der Straße .
Es geht nicht nur um Syrien . Als der vorliegende Be-
richt des Wehrbeauftragten geschrieben wurde, hieß es
noch, die Bundeswehr werde bald aus Afghanistan zu-
rückgezogen . Die Bundesregierung sprach von Erfolgen
bei der Stabilisierung des Landes . Jetzt eroberten zu-
nächst die Taliban Kunduz . Dann griff die US-Armee in
der Stadt das einzige Krankenhaus an .
Wir sehen in den letzten Tagen wieder Bilder von zivi-
len Opfern in Afghanistan durch sogenannte Sicherheits-
vorfälle . Hier werden inzwischen wieder Höchstzahlen
erreicht .
Was macht die Bundesregierung? Sie steigt aus dem
Ausstieg aus und beschließt die Aufstockung des Mili-
tärkontingents . Die Wahrheit ist: Die Bundesregierung
schafft es in Windeseile, Deutschland in den nächsten
Krieg im Nahen Osten zu verwickeln . Aber sie schafft es
nicht, die Armee nach 15 Jahren aus Afghanistan zurück-
zuholen . Das ist leider die traurige Wahrheit .
Dann kommt noch die Entsendung einiger Hundert
Soldaten in den umkämpften Norden Malis und den
Nord irak hinzu . Sie alle wissen, wie gefährlich es dort
ist .
– Das hat sehr viel damit zu tun; denn es sind die Solda-
tinnen und Soldaten, die dorthin geschickt werden . Sie
baden es nicht aus . Nicht Sie, Herr Jung, werden nach
Gao in den Norden Malis geschickt . Nicht Sie werden die
Tornados steuern . Es sind die Soldatinnen und Soldaten
der Bundeswehr und ihre Familien, die das mit Leib und
Leben sowie mit ihrer Gesundheit bezahlen werden .
Im letzten Jahr hat Frau von der Leyen viel Wirbel um
den familienfreundlichen Umbau der Bundeswehr ge-
macht . Die neuen Maßnahmen, die nun ergriffen werden,
stehen dem diametral entgegen . Es gibt nämlich keine fa-
milienfreundlichen Kriegseinsätze . Der vorliegende Be-
richt belegt das Problem . Der Wehrbeauftragte bemän-
gelt darin – genauso wie seit Jahren – „unverantwortliche
dienstliche Belastung insbesondere im Zusammenhang
mit den Auslandseinsätzen“ . Betroffen sind zum Bei-
spiel die seegehenden Einheiten der Marine . Das BMVg
verspricht in der vorliegenden Stellungnahme dazu – ich
zitiere –: „Wann immer möglich“, würde „durch orga-
nisatorische Maßnahmen die abwesenheitsbedingte Be-
lastung abgemindert“ . Das muss doch wohl wie Hohn in
den Ohren derjenigen klingen, die nun auf einer Fregatte
einen französischen Flugzeugträger schützen sollen .
Natürlich stellt sich die Frage, wovor sie ihn schützen
sollen . Der IS hat keine Luftwaffe . Der IS hat keine
Marine . Der IS hat keinen Zugang zum Meer . Anstatt
Weihnachten auf einer Fregatte im Mittelmeer Dienst zu
schieben, sollten die betroffenen Soldatinnen und Sol-
daten Weihnachten besser bei ihren Familien zu Hause
verbringen .
Die familiäre Belastung von Soldaten in der Truppe
ist überdurchschnittlich hoch . Dementsprechend sind
auch die Scheidungsraten überdurchschnittlich hoch .
Die nun getroffenen Entscheidungen der Bundesregie-
rung werden einen Beitrag dazu leisten, diese Probleme
zu verschärfen . Das nehmen Sie in Kauf . Andere Pro-
bleme, die mit der Einsatzorientierung einhergehen, wer-
den vom Tisch gewischt . So beharrt das Ministerium auf
seinem Standpunkt, dass eine Schädigung erst in einem
zähen Verfahren zur Anerkennung von Wehrdienstbe-
schädigungen festgestellt werden soll . Für Soldaten mit
Posttraumatischen Belastungsstörungen ist das entwürdi-
gend . Es muss das Prinzip gelten – ich zitiere den Wehr-
beauftragten –:
Wem der Dienstherr
– also die Bundeswehr -
vor einem Auslandseinsatz die Auslandsverwen-
dungsfähigkeit bescheinigt hat, der ist im Beschä-
digtenverfahren versorgungsrechtlich so zu behan-
deln, als sei er gesund in den Einsatz gegangen .
Die Linke unterstützt diese Forderung aus vollem
Herzen .
Was wir nicht unterstützen, ist, wenn die Debatte über
die Ausstattung der Bundeswehr zu einer Debatte über
die Aufrüstung wird . Fakt ist: Die Bundeswehr ist über-
Christine Buchholz
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201513986
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dehnt, weil die Auslandseinsätze immer mehr werden .
Die Antwort ist Abrüstung und nicht Aufrüstung .
Vielen Dank, meine Damen und Herren .
Vielen Dank . – Für die SPD-Fraktion hat jetzt die Kol-
legin Heidtrud Henn das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr
Wehrbeauftragter! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Soldatinnen und Soldaten! Der Bericht des Wehr-
beauftragten für das Jahr 2014 liegt mit den Stellungnah-
men des Verteidigungsministeriums vor . Ich danke nicht
nur dem Wehrbeauftragten und seinen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern, sondern auch den Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern des Verteidigungsministeriums für ihre
wichtige Arbeit .
Viele von uns haben am Dienstag vor den Fraktions-
sitzungen die gelben Bänder mit Grüßen beschriftet . Da-
rüber habe ich mich sehr gefreut; denn wir zollen damit
unseren Soldatinnen und Soldaten im Einsatz Anerken-
nung und zeigen Solidarität . In den Einsatzgebieten wird
sehr genau wahrgenommen, was im politischen Berlin
passiert .
In der vorletzten Woche habe ich als Vorstandsmit-
glied der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Sol-
datenbetreuung gemeinsam mit meiner Kollegin Gisela
Manderla, der Vorsitzenden der Katholischen Arbeitsge-
meinschaft für Soldatenbetreuung, die OASE in Erbil er-
öffnen dürfen . Ich habe mir das Feldlager angeschaut und
viel gelernt . Das Feldlager ist von der Fläche her nicht
groß . In den knapp vier Tagen, in denen ich dort gewesen
bin, habe ich einen großen Teil unserer Soldaten kennen-
lernen dürfen . Man fasst Vertrauen auf einem sehr engen
Raum . Ich danke allen in Erbil für ihre Freundlichkeit
und ihre Herzlichkeit, mit der ich dort empfangen wor-
den bin, vor allem für das offene Wort .
Ich habe keine Klagen gehört. Truppenverpflegung,
Anstehen im Regen im Freien, Unperfektes, Enge, Dreck
und Container, in die es regnet, werden hier ausgehal-
ten . Wie wichtig Militärseelsorge vor Ort ist, hat man
deutlich gespürt . Man hält zusammen und gibt das Bes-
te . In den Gesprächen merkt man, dass die Soldaten die
Ausbildung der Peschmerga gerne machen und es für
sie schön ist, die Erfolge zu sehen, besonders im Sani-
tätsdienst . Das sollten wir auch unseren Soldatinnen und
Soldaten garantieren: das Beste, die beste Ausrüstung
und Ausbildung, die beste medizinische Versorgung, die
beste Unterkunft . Das sind wir allen schuldig, die wir in
Einsätze schicken .
Stellen Sie sich vor, Sie wären für mehrere Monate
auf Dienstreise in einem fernen Ort . Sie haben den Tag
der Rückreise schon geplant, Familie und Freunde haben
schon eine Willkommensfeier organisiert, und Sie freuen
sich auf Ihr eigenes Bett, auf die Umarmung Ihrer Liebs-
ten und die Wärme Ihres Zuhauses . Dann erhalten Sie die
Nachricht, dass Sie länger bleiben müssen, da Ihr Nach-
folger noch auf sein Visum warten muss, um Sie abzulö-
sen – nicht Tage, nicht Wochen, sondern zwei Monate!
So ist es einigen Soldaten ergangen . Ein Verwaltungs-
akt, ein fehlender Stempel legt alles lahm . Ich war schon
wütend darüber . Ich möchte, dass dafür Sorge getragen
wird, dass die Einsatzplanung nicht an der Verzögerung
bei der Visavergabe scheitert .
Das dürfen wir unseren Soldatinnen und Soldaten nicht
zumuten . Mir ist hier rasche Abhilfe zugesagt worden;
denn das darf so nicht sein .
Den Bericht des Jahres 2014 hat der ehemalige Wehr-
beauftragte Königshaus als das „Jahr der Wahrheit“ be-
titelt . Mir hat das sehr gut gefallen, weil der Bericht des
Wehrbeauftragten dafür da ist, Mängel aufzuzeigen, da-
mit sie behoben werden können .
Aber wir müssen nicht nur Lösungen für Ausrüs-
tungsprobleme finden, sondern auch Lösungen für die
Menschen, die mit der Ausrüstung arbeiten . Ich habe
eben über die Probleme mit der Vergabe eines Visums
gesprochen . Das klingt nach etwas, was eine verheerende
Wirkung nach sich zieht . Verheerende Wirkungen kön-
nen auch falsche Schuhwerke nach sich ziehen: Rücken-
schmerzen, Fehlstellungen der Füße . Blasen sind da noch
das geringste Problem . Ja, Kolleginnen und Kollegen,
wenn man aus der Pflege kommt, kann man hier mitre-
den . Richtige Kampfstiefel für die Soldaten sind mit der
wichtigste Teil der Ausrüstung .
Hartnäckigkeit mag für manche unangenehm sein;
aber sie ist notwendig, wenn man den Eindruck hat, dass
Lösungen zu lange auf sich warten lassen . Das gilt auch
für die elektronische Patientenakte für Soldatinnen und
Soldaten . 2017 soll sie kommen . Ab dann sollen Da-
ten und nicht mehr Patienten auf Reisen zur Genesung
gehen . An dieser Stelle möchte ich mich ganz herzlich
b
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Vielen Dank!
Es gibt Erkrankungen und Schwierigkeiten, die sich
leicht behandeln und lösen lassen . Das gilt nicht für see-
lische Probleme . Wenn die Seele krank und wenn sie
schwach ist, gibt es kein Patentrezept, keine Tinktur,
kein Pflaster, das hilft. Mir gefällt der Begriff „gestörte
Psyche“ nicht; denn der Mensch ist ja niemals perfekt .
Wenn ein Soldat oder eine Soldatin schweren Schaden an
der Seele genommen hat, muss das Beste getan werden,
um ihm zu helfen . Das gilt insbesondere für Traumata
nach Einsätzen . Jedem von uns ist vielleicht schon ein-
mal Verständnislosigkeit begegnet, wenn wir Termine
nicht wahrnehmen können oder sogar kurzfristig absagen
müssen . Das liegt daran, dass man sich unseren Alltag
schwer vorstellen kann . Wir hetzen von Sitzung zu Sit-
zung, versuchen, dabei gut auszusehen, wir lächeln auf
Fotos, wollen perfekt sein . Unsere Kalender ändern sich
Christine Buchholz
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 13987
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stündlich . Schmunzelnd sage ich manchmal: Kein nor-
maler Mensch kann sich vorstellen, was hier los ist .
Wenn es schon so schwer ist, unseren Tagesablauf zu
verstehen, wie fast unmöglich ist es dann, die Erlebnis-
se eines Soldaten zu verstehen, der zum Gehorsam ver-
pflichtet ist?! Bei der Behandlung von Traumata, Depres-
sionen und psychischen Erkrankungen ist der Aufbau
von Vertrauen zum Arzt oder zum Seelsorger der Schlüs-
sel zum Behandlungserfolg . Ich habe den Eindruck, dass
Helfende, die die Bundeswehr und die Einsatzrealität
kennen, besser als zivile Therapeuten in der Lage sind,
zu unterstützen, wenn die Seele verschlossen ist . Den zi-
vilen Therapeuten fehlt hier oft das tiefere Verständnis
für unsere Soldatinnen und Soldaten .
Eine wichtige erste und unverzichtbare Anlaufstelle
sind hier die Lotsen . Sie vermitteln, und sie sind An-
sprechpartner auf Augenhöhe, die die soldatische Spra-
che verstehen . Sie kennen den Truppenalltag . Lotsen sol-
len zum Teil freigestellt werden; denn auch sie brauchen
neben dem Tun für den Nächsten Raum, um Belastendes
verarbeiten zu können .
Eine aufgeräumte Seele wohnt in einem aufgeräumten
Zimmer, so sagt man . Wir haben es gut: Wir können unser
Büro so einrichten, wie es uns gefällt . Soldaten können
dies nicht . Es wurmt mich, wenn ich höre, dass sich Sol-
daten in ihren Stuben und Kasernen wie zu Hause fühlen
sollen . Da fragt man sich, wie es bei manch einem, der so
etwas sagt, zu Hause aussieht . Ich habe zivile Mitarbeiter
bei Begehungen schon oft gefragt, wie sie sich das Leben
eines Soldaten zu Hause vorstellen: Feldbett, keine Tape-
ten an der Wand oder Stroh auf dem Boden? Da steigt der
Blutdruck des Gegenübers .
Ich sende an dieser Stelle ganz herzliche Grüße nach
Büchel . Der Zustand der Unterbringung dort war eine
Zumutung, als ich dort zu Besuch sein durfte . Ich hoffe,
man hat dort mit der Arbeit für die Unterbringung unse-
rer Soldatinnen und Soldaten begonnen .
Baumaßnahmen dauern viel zu lange . Das liegt manch-
mal daran, dass die Beteiligten nicht miteinander reden,
kein Verständnis für den Bedarf des Auftraggebers ha-
ben und die Verantwortung für Fehler von einem auf den
anderen geschoben werden . Man muss vielleicht auch
damit aufhören, sich um Form und Farbe von Lichtschal-
tern zu kümmern, um sich auf das Wesentliche zu kon-
zentrieren . Hier wiehert manchmal der Amtsschimmel,
und zwar so lange, bis der Schimmel an den Wänden ist .
Mut zur Fehlerkultur ist hier erforderlich . Schließlich ist
niemand von uns perfekt .
Ich freue mich ganz besonders, dass unser Wehrbeauf-
tragter Hans-Peter Bartels die Frauen in der Bundeswehr
besonders im Blick hat .
– Ja, mein Lieber . – Er weiß, dass wir auf Frauen in der
Truppe nicht verzichten können und wollen .
Aber viele Frauen kommen zur Bundeswehr und bleiben
nicht. Warum das so ist, müssen wir herausfinden, und
wir müssen überzeugende Angebote machen . Meine Kol-
legin Gabi Weber und ich haben hier den Gesprächsfaden
mit den zivilen und militärischen Gleichstellungsbeauf-
tragten aufgenommen und freuen uns über das große In-
teresse .
Ich habe große Achtung vor unseren Soldatinnen und
Soldaten – Achtung und Wertschätzung auch dafür, wie
schnell unsere Truppe bereit ist, ihren Auftrag auszufüh-
ren . Liebe Soldatinnen und Soldaten, Gott schütze und
behüte euch bei eurem Auftrag in In- und Auslandsein-
sätzen .
Ich freue mich auf die zukünftige Zusammenarbeit
mit Ihnen, sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, lieber
Hans-Peter .
Mit einem Zitat von Irmgard Erath möchte ich schlie-
ßen:
Manchmal brauchen wir mehr Kraft, als wir haben .
Aber nie mehr, als wir von Gott erbitten können .
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ih-
nen Gottes Segen .
Vielen Dank . – Als Nächstes hat Doris Wagner, Bünd-
nis 90/Die Grünen, das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Lieber Herr Bartels!
Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Stellen Sie sich
vor, Sie sind Soldatin, Sie machen einen echt guten Job,
Sie machen einen so guten Job, dass Sie im Ausland eine
Auszeichnung erhalten . Stolz gehen Sie zu Hause zu Ih-
rem Vorgesetzten und berichten . Und was sagt der dann?
Na ja, wenn Sie das geschafft haben, dann wird die Lage
vor Ort nicht so schlimm sein . – Das ist nicht nur eine
Frechheit; das ist schlechtes Führungsverhalten, meine
Damen und Herren .
Leider ist diese Geschichte so wahr wie typisch . Die
Soldatinnen werden in der Bundeswehr noch immer be-
handelt wie früher die Stiefkinder . Ihre Leistungen wer-
den häufig nicht gewürdigt, ihre Bedürfnisse zu wenig
betrachtet. Sie werden mit ihren Problemen häufig allein-
gelassen – und das, obwohl die Bundeswehr dringend
Personal braucht, insbesondere die Frauen .
Ich will eine Bundeswehr, deren Angehörige respekt-
voll miteinander umgehen . Ich möchte eine Bundeswehr,
die auch die privaten Bedürfnisse ihrer Soldatinnen und
Soldaten berücksichtigt . Ich möchte eine Bundeswehr, in
der alle eine faire Chance auf Karriere erhalten .
Heidtrud Henn
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201513988
(C)
(D)
Trotz der aktuellen Bemühungen ist die Bundeswehr
von einer solch modernen Armee noch ziemlich weit ent-
fernt . Beispiel: Chancengleichheit . Bis heute sind in den
obersten Dienstgraden der Bundeswehr nur sehr wenige
Frauen zu finden. Das gilt auch für den Sanitätsdienst. In
40 Jahren haben es hier gerade mal drei Ärztinnen bis zur
Generalin gebracht . Noch immer gibt es keine einzige
Leiterin einer klinischen Abteilung .
Frau von der Leyen hat deshalb in diesem Jahr über-
prüfen lassen, wie eigentlich die Karrieren von Soldatin-
nen im Sanitätsdienst verlaufen, wo eigentlich die Brüche
in der Karriere sind . Dabei hat sich bestätigt, wovon auch
Herr Königshaus in seinem letzten Bericht spricht: Sol-
datinnen werden von ihren Vorgesetzten meist genauso
gut beurteilt wie ihre männlichen Kollegen – solange es
um die Leistung geht . Wenn es aber um die Empfehlung
für eine Karriereperspektive geht, schneiden die Solda-
tinnen plötzlich deutlich schlechter ab . Das ist höchst
ungerecht, meine Damen und Herren, und hier muss sich
dringend etwas ändern .
Das Ministerium und der Inspekteur des Sanitäts-
dienstes haben eine Zielvereinbarung zur Erhöhung des
Anteils von weiblichen Sanitätsoffizieren in Spitzen-
positionen geschlossen . Das ist ausdrücklich zu begrü-
ßen . Wir brauchen jedoch eine ganze Reihe von Maßnah-
men darüber hinaus .
Wir müssen endlich ein Beurteilungssystem schaf-
fen – Herr Bartels, da stimme ich Ihnen wirklich zu –,
das auf objektiven Kriterien basiert und das kein Einfall-
stor für strategische Beurteilungen und Diskriminierung
bietet . Herr Königshaus hat in seinem Wehrbericht wie-
derholt angesprochen, dass die Gleichstellungsbeauftrag-
ten viel stärker als bisher in die Beurteilungsverfahren
einbezogen werden müssen .
Absolut grundlegend ist schließlich eine Veränderung
der immer noch enorm männlich geprägten Unterneh-
menskultur der Bundeswehr . Vielen Vorgesetzten fällt
es sehr schwer, die Leistungen von Soldatinnen anzu-
erkennen und zu würdigen . Weibliche Erfolge werden
kleingeredet nach dem Motto: Eine Herausforderung, die
eine Soldatin gemeistert hat, war eben keine Herausfor-
derung .
Vor kurzem berichtete mir eine Soldatin, dass sie nicht
wie üblich vor der Truppe befördert worden sei, sondern
im Büro ihres Vorgesetzten . Der Grund war, dass der
Vorgesetzte keinen Neid bei den männlichen Kollegen
aufkommen lassen wollte . Das ist doch grotesk, meine
Damen und Herren .
Das Nachsehen haben die Soldatinnen aber nicht
nur in puncto Chancengleichheit . Besonders zu leiden
haben sie auch unter den undurchsichtigen und famili-
enunfreundlichen Personalplanungen der Bundeswehr .
Herr Königshaus berichtet, dass das Personalamt nur in
absoluten Ausnahmefällen auf die Standort- und Verwen-
dungswünsche der Soldatinnen eingeht .
Zudem haben die Frauen damit zu kämpfen, dass der
Verwendungsaufbau zu wenig Flexibilität für Babypau-
sen, Elternzeit und Teilzeit vorsieht . O-Ton einer jun-
gen Soldatin: Nach der Elternzeit hat man keine Chance
mehr . – Frau von der Leyen, deshalb fordere ich Sie auf,
Ihren Personalpartnern endlich mehr Dampf zu machen .
Wir brauchen innovative Modelle des Verwendungsauf-
baus .
Der dritte Bereich, in dem dringend etwas für die Sol-
datinnen getan werden muss, betrifft das Thema der se-
xuellen Belästigung . Ja, es ist schon richtig: Das Ausmaß
der sexuellen Belästigung in der Bundeswehr ist nicht
größer als in anderen Streitkräften . Die Wehrberichte
der vergangenen Jahre zeigen aber leider, dass die Bun-
deswehr nicht immer eindeutig genug gegen die Täter
vorgeht, sondern Opfer bisweilen wirklich skandalös im
Stich lässt . Das ist absolut inakzeptabel . Hierbei erwarte
ich ein deutlich entschiedeneres Handeln von Ihnen, Frau
Ministerin .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sagte am An-
fang, Frauen würden bei der Bundeswehr behandelt wie
Stiefkinder . Das Wort „Stiefkinder“ klingt mittlerweile
sehr altmodisch . Dennoch habe ich das mit Bedacht ge-
sagt . Eine moderne Politik hat aus den benachteiligten
Stiefkindern von einst längst völlig gleichberechtigte
Patchworkkinder gemacht .
Frau von der Leyen, genau das sollten Sie nun auch
endlich tun . Sie müssen dafür sorgen, dass die Soldatin-
nen in der Bundeswehr endlich Anerkennung, Respekt
und Unterstützung erfahren . Das haben die Soldatinnen
verdient, und das liegt auch im Interesse der Bundeswehr .
Vielen Dank .
Das Wort hat die Kollegin Julia Obermeier für die
CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zu Beginn dieser Legislaturperiode hat kaum
jemand mit den Herausforderungen gerechnet, die sich
uns in diesen zwei Jahren gestellt haben: die völker-
rechtswidrige Annexion der Krim, die Ebolaepidemie in
Westafrika, der ISIS-Terror in Syrien und im Irak, das
epochale Ausmaß der Flüchtlingsströme und das Über-
schwappen des islamistischen Terrors auf Europa .
Diese sicherheitspolitischen Umwälzungen fordern
auch unsere Bundeswehr . Wir haben in unterschiedlicher
Weise schnell und flexibel reagieren können.
Doris Wagner
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 13989
(C)
(D)
Die Bundeswehr beteiligt sich verstärkt am Air Poli-
cing über dem Baltikum . Deutsche Soldatinnen und Sol-
daten leisteten Nothilfe bei der Ebolabekämpfung . Die
Bundeswehr bildet seit 2014 im irakischen Erbil kurdi-
sche Peschmerga für ihren Kampf gegen die IS-Terror-
miliz aus . Zwei deutsche Schiffe beteiligen sich seit Mai
dieses Jahres an der Seenotrettung im Mittelmeer und
seit Oktober auch an der Schleuserbekämpfung .
Seit diesem Sommer helfen Bundeswehrangehörige
im Inland bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise .
Mittlerweile stehen bis zu 8 000 Soldatinnen und Sol-
daten hierfür bereit . Morgen werden wir einen Einsatz
in Syrien zur weiteren Bekämpfung des IS beschließen .
Die Vielfalt allein dieser neuen Aufgaben zeigt, wie
sehr wir unsere Bundeswehr brauchen und wie wertvoll
einsatzbereite, gut ausgebildete und gut ausgestattete
Streitkräfte sind .
Auf die wichtigen Bereiche der Ausstattung und der
Ausbildung blickt auch der Wehrbeauftragte in seinem
Bericht . Unsere Soldatinnen und Soldaten müssen ihr
Gerät im Einsatzfall beherrschen können . Daher braucht
es ausreichend Übung im Regelbetrieb . So ist es besorg-
niserregend, wenn im Bericht des Wehrbeauftragten zu
lesen ist, dass die Zahl der Fälle zugenommen hat, in
denen Ausbildungsmängel oder fehlendes Ausbildungs-
material die Ursache für ungewollte Schussabgaben
sind, zumal hierbei auch Soldaten verletzt wurden . Da-
raus folgt: Die Bundeswehr braucht auch im Grund- und
Übungsbetrieb eine bedarfsorientierte Vollausstattung;
denn eine gute Ausrüstung und Ausbildung sind der bes-
te Schutz für unsere Soldatinnen und Soldaten . Hierfür
haben die Bundeswehr als Dienstherr, aber auch wir als
Parlament eine Fürsorgepflicht.
Daher freut es mich, dass wir bei den Haushaltsbera-
tungen in der vergangenen Woche einen Aufwuchs der
Mittel für die Verteidigung erreichen konnten . Künftig
werden wir jedoch noch mehr Mittel brauchen, um den
Schutz unserer Soldatinnen und Soldaten in allen Lagen
gewährleisten zu können .
Es geht hier nicht nur um die körperliche, sondern
auch um die seelische Unversehrtheit . Hier leistet im
Bereich der Prävention die Militärseelsorge einen sehr
wichtigen Beitrag, wie auch der Wehrbeauftragte in sei-
nem Bericht feststellt . Etwa 200 Militärgeistliche beglei-
ten unsere Soldatinnen und Soldaten im In- und Ausland .
Mein Dank gilt an dieser Stelle vor allem den Militär-
seelsorgern, die zusammen mit den Männern und Frauen
in Uniform in den Feldlagern und auf den Schiffen der
Deutschen Marine an Auslandseinsätzen teilnehmen .
Sie sind dort wichtige Ansprechpartner, und das unab-
hängig vom religiösen Bekenntnis der einzelnen Solda-
tinnen und Soldaten . Sie geben Rückhalt und leisten auf
vielfältige Weise Beistand . Dafür auch im Namen der
CDU/CSU-Fraktion ein herzliches „Vergelts Gott!“ .
Unsere Soldatinnen und Soldaten verdienen neben der
Fürsorge und der Seelsorge auch die nötige Anerkennung .
Diese Anerkennung kann materiell in Form von Zulagen
erfolgen . Es freut mich, dass wir jüngst zum Beispiel
die Zulage für die Heeresbergführer und die Feuerwehr
erhöhen konnten . Vom für 2016 angekündigten Vetera-
nenkonzept erhoffe ich mir, sehr geehrte Herren Staats-
sekretäre, neue Formate bei der Anerkennung für unsere
Soldatinnen und Soldaten . Eine bewährte Form der An-
erkennung sind Einsatzmedaillen . So ist es bestürzend,
im Bericht des Wehrbeauftragten zu lesen, dass es immer
wieder zu Verzögerungen und Problemen bei der Verlei-
hung von Einsatzmedaillen kommt . Ich hoffe, dass diese
wichtigen Auszeichnungen künftig reibungslos erfolgen
können . Zudem würde ich es sehr begrüßen, wenn wir,
ähnlich wie bei der Flutkatastrophe 2013, auch für den
Einsatz bei der Flüchtlingskrise mit Einsatzmedaillen
danken könnten .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Dienst
in der Bundeswehr hat viele Gesichter . Unser Dank gilt
allen ehemaligen und aktiven Soldatinnen und Soldaten
und an dieser Stelle auch ausdrücklich dem amtierenden
Wehrbeauftragten Hans-Peter Bartels sowie seinem Vor-
gänger Hellmut Königshaus, der, wie sein Bericht belegt,
sich als Anwalt für die Belange der Soldatinnen und Sol-
daten starkgemacht hat .
Vielen Dank .
Ich schließe die Aussprache .
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Vertei-
digungsausschusses zum Jahresbericht 2014 des Wehr-
beauftragten . Es handelt sich hier um die Drucksa-
chen 18/3750 und 18/6093. Der Ausschuss empfiehlt, in
Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzuneh-
men . Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist einstimmig angenommen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Heike Hänsel, Wolfgang Gehrcke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Keine militärische Antwort auf Terror
Drucksache 18/6874
Julia Obermeier
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201513990
(C)
(D)
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat die Kollegin
Sevim Dağdelen für die Fraktion Die Linke.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Gestern hat die Bundesregierung ihren Antrag auf einen
Kriegseinsatz in Syrien hier im Deutschen Bundestag
eingebracht . Schon morgen sollen die Abgeordneten da-
rüber abstimmen . Im Eiltempo wollen CDU, CSU und
SPD das Land in einen Krieg stürzen .
Weder das Gebiet noch die Dauer des sogenannten
Kriegs gegen den Terror sind klar, noch ist eine politische
Strategie erkennbar . Wird dieser Krieg über zehn Jahre
dauern, wie es zum Beispiel der BundeswehrVerband
angibt? Wen werden Sie in Ihrem Einsatz in Syrien als
Bodentruppen nehmen: al-Qaida-Verbände, andere isla-
mistische Terrormilizen, die dann als moderate Rebellen
umetikettiert werden, wie Sie es in den letzten Jahren
immer getan haben? Auf alle diese entscheidenden Fra-
gen haben Sie uns Abgeordneten und der Öffentlichkeit
keine Antworten geliefert . Es waren gestern im Auswär-
tigen Ausschuss nur Sprechblasen zu vernehmen . Dieses
Kriegsabenteuer, meine Damen und Herren, lehnen wir
als Linke ab .
Wir sind solidarisch an der Seite der Bevölkerung in
Frankreich . Aber diese Solidarität kann nicht bedeuten,
dass wir als Antwort auf die barbarische Ermordung von
Zivilisten in Paris jetzt Zivilisten in Mali, in Afghanistan
und in Syrien per Bombenkrieg morden . Das darf nicht
die Antwort auf die Barbarei sein .
Wie ein Schüler, der sich gerade dadurch unglaub-
würdig macht, dass er fünf verschiedene Gründe für sein
Zuspätkommen anführt, nennt der Antrag der Bundesre-
gierung verschiedenste vermeintliche Rechtsgrundlagen
für diesen Einsatz, jedoch keine einzige ist tragbar .
Die Wahrheit ist: Der Einsatz ist weder vom Völkerrecht
noch vom Grundgesetz gedeckt, was bezüglich der Bun-
deswehreinsätze noch engere Grenzen setzt als das Völ-
kerrecht .
Sie führen hier einen Angriffskrieg, meine Damen und
Herren .
Es gibt keine UN-Sicherheitsratsresolution,
die die terroristischen Anschläge von Paris als bewaffne-
ten Angriff auf das Hoheitsgebiet von Frankreich wertet
und dieses Selbstverteidigungsrecht explizit nach Ar-
tikel 51 UN-Charta erwähnt . Es gibt auch kein Mandat
nach Kapitel VII der UN-Charta .
Ich sage Ihnen eines: Wer wie Sie anfängt, sich im
Völkerrecht nur das herauszusuchen,
was ihm politisch genehm ist, der öffnet der Willkür Tür
und Tor beim Thema Völkerrecht .
Sie zertrümmern das Völkerrecht . Bei dieser Zertrüm-
merung werden wir nicht mitmachen . Wir als Fraktion
Die Linke sagen Nein zu Ihrem Angriffskrieg . Union und
SPD machen hier nämlich Willkür zum Recht . Das kann
man nicht zulassen .
Als Grundlage für diesen Krieg berufen Sie sich auch
auf die Aktivierung der EU-Beistandsklausel nach Arti-
kel 42 Absatz 7 des Vertrages der Europäischen Union .
Sie behaupteten sogar, um diesen Einsatz grundgesetz-
lich legitimieren zu können, dass die Europäische Uni-
on ein kollektives Sicherheitssystem sei . Diese Lüge der
Bundesregierung ist schon nach 24 Stunden in sich zu-
sammengebrochen; denn Ihre Behauptung widerspricht
diametral dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu
ebendiesem EU-Vertrag . Dieses Gericht hat eindeutig
festgelegt, dass auch die Europäische Union nach dem
Vertrag von Lissabon kein – ich betone: kein – kollek-
tives Sicherheitssystem ist . Dazu kommt, dass Sie auf
dem Rat der Verteidigungsminister nicht einmal einen
Beschluss haben fassen lassen, als es um die Aktivierung
der Beistandsklausel ging . Per Zuruf schlitterte die Euro-
päische Union, wie der Staatssekretär Steinlein des Aus-
wärtigen Amtes gegenüber meiner Fraktion letzte Woche
betonte, in den Krieg .
Ich sage Ihnen deshalb: Ihr willkürlicher Umgang mit
dem Recht wird sich noch rächen, meine Damen und
Herren .
Hören Sie auf, den Menschen Sand in die Augen zu
streuen! Es geht hier nicht um die Entsendung von ein
paar Tornados nach Syrien . Es geht Ihnen um einen gro-
ßen, völlig entgrenzten, neuen Krieg gegen den Terror .
Der Grund für Ihre Hast liegt darin, dass sich der Wider-
stand in der friedliebenden Bevölkerung in Deutschland
nicht formieren soll . Die Linke steht aber an der Seite
der friedliebenden Bevölkerung und auch der Friedens-
Vizepräsidentin Petra Pau
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 13991
(C)
(D)
bewegung . Wir sagen deshalb Nein zu Ihrer Politik des
überstürzten Kriegseintritts .
Sie sagen, Sie wollen in Syrien Feuerwehr spielen .
Doch in Ihrem Feuerwehrwagen sitzen Brandstifter, mei-
ne Damen und Herren .
Dort sitzt das Terrorregime Saudi-Arabien, dort sitzen
die Terrorunterstützer Katar und Türkei . Während Sie ge-
meinsam mit dem Terrorpaten Erdogan angeblich Krieg
gegen den IS führen, lässt Erdogan die Kurden, die effek-
tivste Kraft im Kampf gegen den IS, in Syrien bombardie-
ren und den Chefredakteur der türkischen Tageszeitung
Cumhuriyet, Can Dündar, inhaftieren . Wissen Sie, was
Erdogan, Ihr Helfershelfer, dem Chefredakteur vorwirft?
Er wirft ihm vor, dass er Fotos veröffentlicht hat, die die
Waffenlieferungen der Türkei an die Terrororganisation
IS zeigen . Während Sie in Zukunft mit Erdogan koope-
rieren, den Sie mit deutschen Steuergeldern großzügig
unterstützen, läuft der gesamte Ölschmuggel des IS über
die Türkei . Der Erdogan-Clan, seine ganze Familie, ist
darin tief verwickelt .
Und jetzt mehren sich auch noch die Berichte, dass
Erdogan frische Waffen an den IS liefert . Sie können auf
unsere Nachfrage hin nicht einmal ausschließen, dass die
Waffen, die Sie fröhlich weiter an die Türkei liefern, von
Erdogan an den IS weitergegeben werden .
Frau Kollegin .
Das ist wirklich großer Irrsinn . Ich sage Ihnen des-
halb: Wenn Sie den IS wirklich bekämpfen wollten, hät-
ten Sie die Möglichkeiten dazu – nicht in einem völker-
rechtswidrigen Angriffskrieg .
Kollegin Dağdelen, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss . – Vielmehr müssten Sie den
Weg des Geldes, der Waffen und auch des Öles zum IS
kappen .
Ich nenne einen letzten Punkt .
Nein .
Aus der Erfahrung der beiden Weltkriege hatte Willy
Brandt einst gefordert:
Kollegin Dağdelen, es tut mir wirklich leid; aber Sie
müssen einen Punkt setzen .
Gut . – Die Linke lehnt diesen Einsatz ab, weil von
deutschem Boden kein Krieg ausgehen darf, meine Da-
men und Herren .
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Henning
Otte das Wort .
Frau Präsidentin, herzlichen Dank . – Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich möchte Ihre Interpretation des Völkerrechts
mit aller Kraft zurückweisen, sehr geehrte Frau Kollegin
Dağdelen. Sie interpretieren hier das Völkerrecht bewusst
falsch, und Sie behaupten hier bewusst die Unwahrheit .
Sie sagen den Menschen von diesem Pult aus nicht die
Wahrheit, sondern Sie verunsichern die Menschen, und
das ist einfach nur abzulehnen .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der inter-
nationale Terrorismus ist die größte Bedrohung für den
Weltfrieden und auch für unsere Gesellschaftsordnung .
Die Terroristen töten rücksichtslos Menschen, sie brin-
gen Leid über die Hinterbliebenen . Die Kinder müssen
oft mit ansehen, wie ihre Väter getötet werden, wie ihre
Mütter verschleppt, vergewaltigt, verkauft werden .
Meine Damen und Herren, als Deutscher Bundestag
dürfen wir diese Grausamkeiten nicht dulden . Wir müs-
sen ein Zeichen gegen diese Grausamkeiten setzen und
dürfen nicht nur schlau darüber reden wie Sie von den
Linken . Wir müssen diesen Terror zurückdrängen, nicht
nur militärisch, aber auch mit militärischen Mitteln,
wenn es notwendig ist . Und es ist notwendig, meine Da-
men und Herren .
Wir werden mit diplomatischen Mitteln arbeiten, einge-
arbeitet in einen Gesamtprozess für den Frieden . Aber
wir müssen diesen Terror beenden .
Sevim Dağdelen
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201513992
(C)
(D)
Der Frieden, meine Damen und Herren, ist das kost-
barste Gut für die Menschen . Diesen Frieden wollen wir
erhalten . Wir sind auch bereit, ihn zu verteidigen .
Kollege Otte, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-
kung der Kollegin Hänsel?
Frau Präsidentin, herzlichen Dank, aber ich möchte
meine Rede erst einmal im Zusammenhang vortragen .
Vielleicht hilft es ja auch der Fraktion Die Linke, sich
einmal mit Argumenten auseinanderzusetzen .
Meine Damen und Herren, ich verweise auf die ge-
samte Bandbreite der Möglichkeiten, um gegen den
IS-Terror vorzugehen: diplomatisch, humanitär, aber
eben auch militärisch .
Wir diskutieren in dieser Woche, ob und wie wir ge-
gen den IS-Terror militärisch vorgehen . Darüber wird
aber nicht nur im Deutschen Bundestag diskutiert, son-
dern auch in unserer Gesellschaft . Das ist richtig, und das
ist gut . Der vorliegende Antrag der Linken ist allerdings
kein Beitrag zur Diskussion über den richtigen Weg: Er
offenbart Realitätsferne, eine Verweigerungshaltung . Ich
muss schon sagen: Den Menschen Sand in die Augen zu
streuen und sie an der Nase herumzuführen, ist betrüblich
und beschämend .
Gutgläubigen Menschen von diesem Pult aus die Un-
wahrheit zu sagen, so wie die Linke das tut, ist unredlich .
Das lassen wir nicht durchgehen .
Noch schlimmer ist es in der Außen- und Sicherheits-
politik . Ihre Geisteshaltung zeugt offensichtlich von zy-
nischer Kaltherzigkeit . Sie sind bereit, Menschenleben
auf dem Altar Ihrer Ideologie, Ihrer Parteiprogrammatik
zu opfern .
Das ist linke Arroganz, und das lassen wir Ihnen nicht
durchgehen .
Wir diskutieren in den Fachausschüssen sehr differen-
ziert und ausführlich über den Beitrag, den Deutschland
im Kampf gegen den IS-Terror leisten wird . Wir haben
auch vor einem Jahr diese Diskussion geführt, als es da-
rum ging, den kurdischen Kämpfern der Peschmerga im
Kampf gegen den IS-Terror beizustehen, indem wir sie
durch Ausrüstungshilfe und Ausbildung unterstützen . Sie
haben damals dagegen opponiert . Was wäre wohl aus den
Menschen geworden, wenn wir Ihnen, den Linken, ge-
folgt wären? Es ist gut, dass wir den Menschen geholfen
haben . Sprechen Sie mit den kurdischen Kämpfern vor
Ort .
Es ist gut, dass die Union Verantwortung trägt, und
dass wir deutlich machen: Terror hat in unserer Gesell-
schaft keinen Platz . Die Kurden vor Ort sind bereit, tap-
fer und mutig gegen den IS-Terror zu kämpfen, sich ent-
gegenzustellen, und zwar erfolgreich .
Sindschar ist zurückerobert worden .
Das Wüten des IS-Terrors zeigt ein furchtbares Er-
gebnis: Mehr als 3 000 jesidische Männer sind getötet,
5 000 jesidische Frauen sind verschleppt worden . Man
kann das Leid, das diesen Menschen angetan worden ist,
nicht in Worte fassen . Diese Art des Terrors überzieht die
ganze Region und gefährdet den Weltfrieden . Mit dem IS
kann man nicht verhandeln, man kann ihn nur militärisch
stoppen . Wir sagen den Menschen, die Opfer dieses Ter-
rors sind, Hilfe in der Not zu, und zwar auch mit militä-
rischen Mitteln .
Die Anschläge in Paris haben deutlich gemacht, dass
ganz Europa gefährdet ist . Die Angriffe des IS richten
sich gegen Andersdenkende und Andersgläubige, gegen
die freiheitliche Demokratie und gegen unsere Weltord-
nung . Der IS schlägt überall dort zu, wo sich für ihn die
Gelegenheit bietet, die freie Gesellschaft zu verunsi-
chern . Der Terror richtet sich schlicht und einfach gegen
die Gesellschaftsordnung, wie wir sie leben . Das bedeu-
tet, dass wir mit Passivität die Sicherheit unseres Landes
nicht gewährleisten können . Außenpolitische Zurückhal-
tung wird uns nicht weniger zu einem Anschlagsziel ma-
chen . Ganz im Gegenteil: Wir müssen im Rahmen einer
gemeinsamen Allianz alles unternehmen, um Frankreich
beizustehen, um gegen den Terror vorzugehen, vor allem
aber auch, um die Sicherheit Deutschlands und damit die
Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger zu stärken .
Deutschland engagiert sich bereits im Kampf gegen
den IS-Terror . Wir bilden die kurdischen Peschmerga
im Norden Iraks aus . Wir helfen auch, indem wir sie mit
Ausrüstung beliefern . Wir stärken regionale Akteure vor
Ort und befähigen sie, gegen den IS-Terror zu kämpfen .
Wenn wir mit der Bundeswehr die Sicherheitskräfte
anderer Staaten ausbilden, dann leisten wir einen Beitrag
dazu, dass das Gewaltmonopol über das jeweilige Staats-
gebiet wiederhergestellt wird . Das ist die beste Basis,
um den Sumpf des Terrors auszutrocknen . Deswegen ist
es richtig, dass wir morgen über einen weiteren Beitrag
diskutieren und entscheiden werden . Dieser Beitrag wird
eingebettet sein in ein Gesamtkonzept, nämlich dem Wie-
ner Prozess . Wir stellen uns, eingebettet in eine Allianz
Henning Otte
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 13993
(C)
(D)
von 64 Staaten, dem IS-Terror entgegen; vorbehaltlich
des morgigen Beschlusses des Deutschen Bundestages .
Mir ist wichtig, zu sagen, dass es nicht darum geht,
einen Angriffskrieg vorzubereiten, wie die Kollegin der
Linken, Frau Dağdelen, es dargestellt hat. Deutschland
entsendet eine Fregatte zum Schutz eines französischen
Flugzeugträgers, wir entsenden eine Handvoll Tornados,
die Aufnahmen machen und damit das Informationsbild
bzw . das Lagebild verbessern können, und wir entsen-
den ein Tankflugzeug, um die Logistik und die Versor-
gung mit Betriebsstoffen sicherzustellen . Das ist ein fein
abgestimmter und ausgewogener Beitrag zur Stärkung
der gesamten Allianz gegen diesen Terror und nicht der
Quatsch, den Sie hier behaupten, meine Damen und Her-
ren von den Linken .
Meine Damen und Herren, der Antrag der Fraktion
Die Linke setzt auf polizeiliche Methoden und auf Straf-
verfolgung im Kampf gegen diesen Terror . Die Sicher-
heitspolitik der Union basiert dagegen auf dem Prinzip
der vernetzten Sicherheit,
wie es vom früheren Verteidigungsminister Dr . Franz
Josef Jung entwickelt worden ist: ressortübergreifend,
humanitär, entwicklungspolitisch, aber eben auch militä-
risch, wenn es notwendig ist, und mithilfe der Nachrich-
tendienste, um eine maximale Informationsgewinnung
zu erreichen .
Ich bin klar der Überzeugung, dass der IS nicht auf-
hören wird, Menschen zu töten und Terroranschläge in
Europa vorzubereiten, weil die Linken im Deutschen
Bundestag den IS-Terroristen strafrechtliche Konsequen-
zen androhen wollen – gerade die Fraktion Die Linke,
die ohnehin ein angespanntes Verhältnis zu Recht und
Ordnung hat .
Kollege Otte, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-
kung des Kollegen Neu?
Nein, Frau Präsidentin, ich möchte die Argumente
gerne weiter vortragen .
Meine Damen und Herren, der IS kann nach meiner
festen Überzeugung nur mit militärischen Mitteln ge-
stoppt werden . Deutschland ist bereit, sich dieser Ver-
antwortung zu stellen, zum Wohle der Sicherheit unseres
Landes und zum Wohle der Sicherheit der friedlichen
Völkergemeinschaft . Wir wollen und werden Verant-
wortung in der Welt übernehmen; denn wir verschließen
nicht die Augen vor dem Leid anderer Menschen .
Ich zitiere den Theologen und Philosophen Georg
Picht, der auch Mitglied der Deutschen Gesellschaft für
Friedens- und Konfliktforschung war:
Wer die Verantwortung in der Welt bejaht, darf sich
der Last, die sich daraus ergibt, nicht entziehen .
Sie als Linke wollen sich dieser Last entziehen . Sie sa-
gen: Wir verabscheuen die terroristischen Anschläge in
Paris .
Sie sagen, Sie lehnen die Gewalt des IS ab;
aber Sie weigern sich, die Last zu tragen, diese Verant-
wortung zu übernehmen, allein um Ihrer angestaubten
ideologischen Parteiprogrammatik gerecht zu werden .
Das tun Sie auch, indem Sie Menschen verunsichern .
Schlimm ist auch, dass Sie damit den Soldatinnen und
Soldaten und deren Familien in den Rücken fallen . Das
lassen wir als Union nicht zu .
Ich hoffe sehr, dass niemand von Ihnen in eine Notsi-
tuation gerät und dann erleben muss, dass ihm aus ideo-
logischer Verblendung heraus nicht geholfen wird . Ich
freue mich auch für Sie, aber vor allem für die Menschen,
die in Not geraten sind, dass wir ihnen die notwendige
Hilfe zukommen lassen und deswegen Ihren kurzsichti-
gen und, ich sage auch, kaltherzigen Antrag mit demo-
kratischer Mehrheit ablehnen .
Vielen Dank .
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Neu das
Wort .
Kollege Otte, Sie haben jetzt sehr umfassend erklärt,
warum militärische Maßnahmen erforderlich sind . Ges-
tern Abend wurde in der Tagesschau darüber berichtet,
dass die beiden Finanzminister Frankreichs und Deutsch-
lands sich darauf verständig hätten, im Rahmen der EU
dafür Sorge tragen zu wollen, die Finanzströme des IS
einzugrenzen bzw . einzuengen . Wieso kam man nach
zwei Jahren IS-Tätigkeit erst gestern auf die Idee, die Fi-
nanzströme auszutrocknen? Ich meine, das ist doch nun
wirklich eine einfache Aufgabe . Sie schicken Flugzeuge,
es gibt einen Flugzeugträger etc . Das ist ein martialischer
Aufmarsch; aber es gibt ganz einfache Maßnahmen, mit
denen man den IS austrocknen kann . Warum werden die
Henning Otte
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201513994
(C)
(D)
zivilen, die politischen, die verwaltungstechnischen Mit-
tel nicht angewandt?
Wie verhalten Sie sich zur Türkei? Es ist bekannt, dass
die Türkei bis heute Tanklaster vom IS annimmt, dass
über die türkisch-syrische Grenze jeden Tag Blutöl fließt.
Wie gehen Sie mit der Türkei um? Sagen Sie das einmal .
Auf diese Fragen möchten wir von Ihnen Antworten ha-
ben, bevor wir über militärische Mittel reden möchten .
Sie haben das Wort zu einer Erwiderung .
Danke schön, Frau Präsidentin . – Sehr geehrter Herr
Kollege Dr . Neu, nur weil Sie erst gestern in der Tages-
schau diese Informationen bekommen haben und es ver-
säumt haben, einmal im Verteidigungsausschuss nach-
zufragen, heißt das nicht, dass diese Absprache erst seit
gestern gilt .
Ich sage auch deutlich: Dieser Auftrag im Kampf
gegen den IS ist in ein Gesamtkonzept, in den Wiener
Prozess, mit humanitären und mit diplomatischen Mit-
teln eingebettet . Aber es geht auch darum, die Strukturen
des IS-Terrors und damit die Keimzelle des Terrors und
gerade auch die Einnahmequellen, von denen Sie spre-
chen, zu zerstören, sodass technisch die Gewinnung von
Öl und damit der Verkauf nicht mehr möglich sind . Das
ist effektives Handeln . Nicht nur schlau reden, sondern
handeln und Verantwortung tragen – das machen wir .
Wir fahren fort in der Debatte . – Das Wort hat die Kol-
legin Katja Keul für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Kollege Otte, ich glaube, etwas kom-
plexer als Ihre vereinfachte Sicht der Dinge ist es schon .
Aber wahrscheinlich lässt es sich damit etwas einfacher
leben .
Zum Antrag der Linken . Ihr Antrag wirft eine gute und
berechtigte Frage auf, zieht dann aber am Ende die fal-
schen Schlussfolgerungen, wenn es um Artikel 42 Lissa-
bon-Vertrag geht .
Die berechtigte Frage lautet: Lassen sich Terroristen mit
Militäreinsätzen und Krieg bekämpfen? Die Attentäter
von Paris haben ein furchtbares Verbrechen begangen .
Sie waren französische und belgische Staatsbürger, sind
bei uns in Europa aufgewachsen und haben sich hier bei
uns radikalisiert . Dringende Hilfeleistungen für Frank-
reich sind vor allem ein besserer Austausch von polizeili-
chen Informationen, Zusammenarbeit bei der Prävention,
aber auch bei der Kontrolle der EU-Außengrenzen .
Was Terroristen mit Sicherheit nicht abschrecken
wird, ist die Bombardierung von Syrien, im Gegenteil .
Es ist genau das, was der IS erreichen wollte: den ver-
hassten Westen in einen Krieg hineinziehen, den er nicht
gewinnen kann . Die Bomben werden dem IS weiteren
Zulauf sichern, sie werden die Heimat der Syrer weiter
zerstören, aber sie werden das Problem nicht lösen . Der
IS kann sich überall dorthin zurückziehen, wo Militärein-
sätze staatliche Strukturen zerstört und rechtsfreie Räu-
me hinterlassen haben, wie es in Libyen längst der Fall
ist . Damit dürfte klar sein: Der IS kann militärisch nicht
besiegt werden .
Jetzt kommen wir zu der nächsten Frage: Dürfen wir
überhaupt militärisch reagieren, oder sind wir gar dazu
verpflichtet, und was hat Artikel 42 Lissabon-Vertrag da-
mit zu tun? Artikel 42 Lissabon-Vertrag spricht zunächst
einmal von einem „bewaffneten Angriff“ . Ich denke
schon, dass man das Attentat von Paris als bewaffneten
Angriff bezeichnen kann . Frankreich ist getroffen, und
wir schulden unseren Freunden und Nachbarn unsere
Solidarität und alle in unserer Macht stehende Hilfe und
Unterstützung . Daran habe ich keinen Zweifel .
Artikel 42 enthält aber noch eine Einschränkung:
Alle Maßnahmen müssen im Einklang mit Artikel 51
der UN-Charta stehen . Das versteht sich eigentlich von
selbst: Maßnahmen, die der UN-Charta widersprechen,
können nicht geschuldet sein . Was also sind die Grenzen
der Selbstverteidigung nach Artikel 51? Nach dem Not-
wehrprinzip darf sich ein Staat gegen einen gegenwärti-
gen oder unmittelbar bevorstehenden Angriff zur Wehr
setzen . Ein allgemeines präventives Staatsnotwehrrecht,
wie es die USA für sich seit 15 Jahren als War on Terror
reklamieren, gibt es im Völkerrecht nicht .
Das hat sogar der eigene Supreme Court so gesehen .
Das bedeutet, dass man einen Terroranschlag im ei-
genen Land nicht ohne Weiteres als andauernden ge-
genwärtigen Angriff qualifizieren kann, und wenn, dann
stellt sich die Frage, ob dieser Angriff einem anderen
Staat zugerechnet werden kann . Es dürfte auf der Hand
liegen, dass wir den IS nicht als Staat anerkennen wol-
len und dass die Bombardierung ohne Einwilligung des
Regimes die staatliche Souveränität Syriens verletzt .
Dem syrischen Regime können die Angriffe von Paris
aber eindeutig nicht zugerechnet werden . Auch die hoch
umstrittene Hilfskonstruktion des Safe Harbor, auf die
man nach 9/11 zurückgegriffen hat, kommt hier nicht in
Betracht, da das syrische Regime dem IS keinesfalls Zu-
flucht bietet, sondern diesen vielmehr selbst bekämpft.
Man kann es drehen und wenden wie man will: Die Bom-
bardierung Syriens ohne Einwilligung des Regimes und
Dr. Alexander S. Neu
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 13995
(C)
(D)
ohne Autorisierung nach Kapitel VII der UN-Charta ist
und bleibt völkerrechtswidrig .
Daran kann auch der Lissabon-Vertrag nichts ändern .
Als Vertrag zwischen EU-Mitgliedern kann er selbstver-
ständlich keine Gewaltanwendung zulasten Dritter legi-
timieren . Eine völkerrechtswidrige Handlung kann auch
nach Artikel 42 Lissabon-Vertrag gar nicht geschuldet
sein . Nicht einmal die Bundesregierung behauptet, Ar-
tikel 42 sei Grundlage für einen Militäreinsatz . Sie er-
wähnt diesen Artikel zwar hier und da, um etwas Verwir-
rung zu stiften
und darüber hinwegzutäuschen, dass ihre Berufung auf
Artikel 51 UN-Charta nicht wirklich trägt . Am Ende
bleibt es aber genau dabei, dass sie sich als Grundlage
für den Militäreinsatz einzig und allein auf das Notwehr-
recht beruft .
Ich bedaure allerdings schon, dass der linke Mythos
von der Militarisierung der EU im Lissabon-Vertrag
durch die Argumentation der Bundesregierung Auftrieb
erhält . Wer aber noch bereit ist, genau hinzusehen, wird
erkennen: Es bleibt ein Mythos . Die EU ist kein Militär-
bündnis,
und Artikel 42 Absatz 7 Lissabon-Vertrag ist nicht die
Ausrufung des Bündnisfalles .
Der Beschluss vom 17 . November 2015 ist eine sym-
bolisch starke Geste, die den politischen Willen zur Un-
terstützung Frankreichs ausdrückt . Dieser Beschluss ist
völlig berechtigt, und er sollte keineswegs zurückgenom-
men werden .
Vielen Dank .
Das Wort hat der Kollege Thomas Hitschler für die
SPD-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zur rechtlichen Diskussion empfehle ich das
aktuelle Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des
Bundestages, das zu einem relativ klaren Urteil kommt,
nämlich zu dem Urteil, dass die Verfahrens- und Vorge-
hensweise der Bundesregierung juristisch absolut recht-
mäßig und korrekt ist .
Ich möchte an dieser Stelle ein Stück weit auf die po-
litische Argumentation eingehen . Gestatten Sie, dass ich
mit einem kleinen Lob an die Linksfraktion beginne .
Sie greifen in Ihrer Antragsbegründung einige durch-
aus sinnvolle Einzelmaßnahmen auf: Sie wollen, dass
Deutschland diplomatisch auf die Türkei einwirkt . Sie
finden, die Finanzierung des IS müsse geschwächt wer-
den . Sie mahnen stärkere soziale Präventionsmaßnahmen
an . Das alles können sinnvolle Einzelmaßnahmen sein .
Sie verpuffen aber, wenn sie nicht in ein Gesamtkonzept
eingearbeitet werden .
Dabei nennen Sie einen entscheidenden Punkt leider
nicht . Es ist doch unbestritten: Der IS ist mit militärischen
Mitteln allein nicht zu besiegen . Gerade deshalb braucht
es ein umfassendes und international abgestimmtes Maß-
nahmenpaket . Deutschland arbeitet bereits genau daran,
speziell unser Außenminister Frank-Walter Steinmeier,
im Rahmen der Syrien-Kontaktgruppe gemeinsam mit 16
anderen Staaten – erst vor zwei Wochen wurde auf dem
Syrien-Gipfel in Wien ein Zeitplan für eine Übergangsre-
gierung und für Wahlen in Syrien verabschiedet – und im
Rahmen der internationalen Koalition gemeinsam mit 63
anderen Staaten . Die Unterbrechung der Finanzströme
und des Zulaufs ausländischer Kämpfer, eine Kommuni-
kationsstrategie und die Stabilisierung der Region stehen
dort schon längst auf der Tagesordnung, liebe Kollegin-
nen und Kollegen .
Aber die bittere Wahrheit ist auch: Ohne militärische
Mittel ist der IS auch nicht zu besiegen . Genau diese
wollen Sie aber ausschließen . Sie kritisieren lauthals die
Luftangriffe gegen den selbsternannten „Islamischen
Staat“ . Aber wissen Sie was? Kobane wäre ohne die
Luftschläge der USA und ohne die militärische Unter-
stützung der Peschmerga heute noch in den Händen der
Dschihadisten .
Haben Sie die fürchterlichen Verbrechen, die in der Re-
gion Tag für Tag geschehen, etwa schon vergessen? Die
Pappschildsolidarität auf Facebook hilft vielleicht dem
eigenen Gewissen, aber ganz bestimmt nicht den Men-
schen, die unter der Barbarei des sogenannten „Islami-
schen Staats“ leiden .
Katja Keul
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201513996
(C)
(D)
An anderer Stelle argumentierten Sie, dass eine deut-
sche Beteiligung in Syrien die Terrorgefahr in unserem
Land erhöhen würde . Liebe Kolleginnen und Kollegen,
wir sind längst im Fadenkreuz der Dschihadisten . Das
Freundschaftsspiel zwischen Frankreich und Deutsch-
land war ein ganz bewusst gewähltes Ziel der Terroran-
schläge von Paris . Seit Monaten gibt es Drohvideos ge-
gen Deutschland im Internet .
Kollege Hitschler, es gibt gleich zwei Wünsche nach
einer Frage oder Bemerkung . Als Erste hat sich die Kolle-
gin Dağdelen gemeldet, dann noch der Kollege Ströbele.
Ich würde sie gerne zum Ende beantworten, also nach
der Rede .
Nach der Rede, das wird nichts . Nach der Rede haben
Sie dann maximal die Möglichkeit, auf eine Kurzinter-
vention zu reagieren .
Ich denke, ich werde das im Laufe der Rede beant-
worten .
Gut . – Im Moment lassen Sie das also nicht zu . Dann
sehen wir einmal, wie sich das entwickelt . Ich lasse die
Uhr jetzt weiterlaufen .
Das ist nett; vielen Dank . – Liebe Kolleginnen und
Kollegen, ich komme zu meiner Argumentation zurück .
Ich sage: Wir werden bereits angegriffen, unsere Part-
ner, unsere Staatsbürger, unsere Art zu leben, und unsere
gemeinsamen Werte . Da müssen wir wachsam sein . Die
Dschihadisten werden uns nicht verschonen, nur weil wir
sie in Ruhe lassen . Sie bekämpfen nicht nur ihre mili-
tärischen Gegner, sie bekämpfen alles, was nicht ihrem
kruden Weltbild entspricht .
Der Einsatz militärischer Mittel darf dabei aber kein
blinder Aktionismus sein . Dafür braucht es immer gute
Gründe, und ich meine, die gibt es in diesem Fall .
Der IS hält große Teile Syriens und des Irak in Geisel-
haft . Das neue Pseudokalifat ist sein Propagandakern und
maßgeblich für die Rekrutierung und Ausbildung neuer
Terroristen . Es ist Rückzugsraum, ein zentraler Bestand-
teil und Baustein im Wirtschaftssystem des IS und die
Basis seiner militärischen Operationen und seiner Raub-
züge . Hier ist der IS angreifbar . Hier kann man sein mili-
tärisches Potenzial schwächen .
Wer militärische Einsätze aber ausschließt, der
schließt auch aus, dem IS dieses Potenzial und diese Ba-
sis zu nehmen, der lässt zu, dass der IS weiter Steuern
eintreiben kann, dass er über Ölquellen verfügt, dass er
einen geschützten Raum hat, in dem sich seine Kämpfer
regenerieren können, und der lässt zu, dass die Bevölke-
rung in diesem Gebiet weiter unter der Terrorherrschaft
und unter der Unrechtsjustiz leidet .
Solange der IS weite Teile des syrischen und des iraki-
schen Staatsgebiets kontrolliert, ist ein politischer Frieden
in dieser Region nicht zu erreichen . Wo Entwicklungs-
helfer gezielt exekutiert werden, ist Entwicklungshilfe
ohne militärischen Schutz kaum zu verantworten .
Ich sehe auch keine Möglichkeit, wie man mit dem IS
diplomatisch umgehen könnte . Wären es „nur“ Islamis-
ten mit lokaler Agenda, dann könnte man sie ja vielleicht
noch mit Biegen und Brechen irgendwie in Verhandlun-
gen einbeziehen . Aber bei Dschihadisten mit dem Ziel
eines Weltkalifats kann ich keinerlei Verhandlungsmasse
ausmachen . Ohne Militär ist dieser IS nicht zu besiegen .
Dazu braucht es eine international abgestimmte,
militärische und politische Strategie . Es braucht eine
Exit-Strategie, und es braucht ein Konzept dafür, wie es
in Syrien und im Irak weitergehen soll . Genau daran ar-
beiten wir .
In Bezug auf die militärische Strategie halte ich drei
weitere Punkte für grundsätzlich notwendig:
Erstens . Ein Kampf aus der Luft allein wird nicht
ausreichen . Damit kann man zwar die Expansion des IS
aufhalten, aber am Ende brauchen wir verbündete Struk-
turen am Boden .
Zweitens . Das können aber keine westlichen Boden-
truppen sein . Sobald der Westen als Besatzer wahrge-
nommen wird, spielt das nur der IS-Propaganda in die
Hände . Wir brauchen arabisch-sunnitische Verbündete .
Drittens . Das darf nicht Assad sein . Für eine langfristi-
ge politische Lösung müssen auch gemäßigte Pro- Assad-
Kräfte an den Tisch geholt werden . Aber an der Seite
Assads zu kämpfen, wäre ein Verrat an der syrischen
Bevölkerung .
Deutschland kann einen sinnvollen militärischen Bei-
trag leisten . Nicht viele Staaten besitzen die Fähigkeit,
die wir mit unseren Tornados anbieten . Das ist ein sinn-
voller Beitrag zur Aufklärung, ein Beitrag, der dabei hel-
fen kann, Ziele in diesem Bereich zu identifizieren.
Kolleginnen und Kollegen, wir müssen diesen Verbre-
chern das Handwerk legen . Das erklärte Ziel muss sein:
Jeder IS-Kämpfer gehört vor Gericht . Mit der Erreichung
dieses Ziels würden wir auch unserer moralischen Ver-
antwortung gerecht werden . Das unterscheidet uns näm-
lich auch von diesen IS-Schlächtern, und das sollten wir
auch deutlich betonen .
Ihr Antrag lautet „Keine militärische Antwort auf Ter-
ror“ .
Ehrlicherweise hätten Sie ihn gleich „Keine Antwort auf
Terror“ nennen können .
Thomas Hitschler
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 13997
(C)
(D)
Das kann keine Lösung sein . Deshalb kann ich nur emp-
fehlen, diesen Antrag abzulehnen .
Vielen Dank .
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Ströbele
das Wort .
Herr Kollege Hitschler, Sie haben vorhin keine Zwi-
schenfrage zugelassen, aber jetzt klappt es ja mit einer
Kurzintervention, und Sie können sich dann ja auch dazu
äußern .
Auch ich fange mit einem Lob an, mit einem Lob für
Sie . Sie haben einiges gesagt, was gut und richtig ist,
zum Beispiel, dass die IS-Kämpfer – vor allen Dingen
die, die diese Gräueltaten in Syrien und im Irak begehen,
nicht nur die, die das ausführen, sondern auch diejenigen,
die das anordnen; alle, die irgendwelche Verantwortung
dafür tragen – vor Gericht gehören . Darin sind wir uns
völlig einig . Sie haben auch recht, dass es Notwehrsitu-
ationen gibt – beispielsweise für die Kurden dort –, in
denen man auch Gewalt anwenden muss .
Bei Folgendem haben Sie aber nicht recht – und
dazu haben Sie auch überhaupt nichts gesagt –: Schon
jetzt erfolgen Angriffe auf Städte und Dörfer mit über
200 Flugzeugen . Hinzu kommen noch die Russen mit 30
bis 35 Flugzeugen und bald vielleicht auch 3 deutsche
Flugzeuge . Wieso soll das die Gräueltaten, die dort pas-
sieren, verhindern?
Ist ihre Zahl geringer geworden? Es ist ja nicht so, dass
diese Geschichte neu ist und erst morgen beginnt, son-
dern sie läuft seit Monaten, wenn nicht seit Jahren, im
Irak schon sehr viel länger . Haben diese Bombardements
diese Gräueltaten verhindert, oder ist nicht eher das Ge-
genteil der Fall?
Haben Sie sich einmal um die Ziele gekümmert, die
dabei getroffen werden? Jeden Tag sind 250 Flugzeuge
mit mehreren Einsätzen unterwegs. Die finden gar kei-
ne Ziele mehr . Sie kommen zum Teil mit den Bomben
wieder zurück, weil sie diese gar nicht losgeworden sind .
Die Flugzeuge bombardieren jetzt immer mehr auch
zivile Ziele, etwa Krankenhäuser . Da können Sie doch
nicht sagen: Zur Verhinderung der Gräueltaten, der vie-
len Toten und Verletzten müssen diese Flugzeuge ein-
gesetzt werden . – Das ist einfach kontraproduktiv, ganz
abgesehen davon, dass die Bilder von den Luftangriffen
sowohl in der Bevölkerung vor Ort als auch in der Bevöl-
kerung Iraks, sowohl in den Nachbarstaaten als auch hier
in Deutschland bzw . in Europa zur Rekrutierung neuer
IS-Kämpfer führen .
Auch das haben wir heute wieder gehört: Die Attentä-
ter von Paris und auch vorherige Attentäter kamen aus
Europa, auch aus Deutschland und den Nachbarländern .
Hier hat sich ihr Hass angesammelt, hier haben sie ihren
Entschluss gefasst und die Tat geplant, und zwar von hier
aus . Sie kommen gegen diese Hasswelle und gegen diese
Gräueltaten nicht dadurch an, dass Sie dort aus der Luft
bombardieren .
Das ist immer mit sogenannten Kollateralschäden ver-
bunden, also mit zusätzlichen Verlusten in der Bevölke-
rung .
Sie haben das Wort zur Erwiderung .
Nein, ich werde nicht in der gleichen Länge antwor-
ten . – Aber ich beginne erst einmal damit: Lieber Kollege
Ströbele, vielen Dank für das Lob . Das nehme ich ger-
ne zur Kenntnis . Ich will aber mit zwei Argumenten ein
Stück weit gegenhalten .
Erstens . Sie fragen: Welche Ziele kann man angrei-
fen? Und was wäre sinnvoll? Wir haben gerade, vor drei
Wochen, gesehen, dass Flugzeuge der Koalition über
200 Öllaster, glaube ich, angegriffen haben, die genau
auf dem Weg unterwegs waren, den Sie vorhin kritisch
angesprochen haben . Ich glaube, dass man mit diesen
Luftangriffen die logistische Unterstützung des soge-
nannten „Islamischen Staates“ schwächen kann, und ich
glaube ferner, dass wir das in den letzten Wochen gese-
hen haben .
Zweitens . Sie fragen, lieber Herr Ströbele: Was genau
können wir gegen diese Attentäter tun, gegen die Fo reign
Fighters, die wieder zurückkommen? Genau das ist das
entscheidende Argument, das Sie nicht sehen wollen:
Diese Menschen waren in Syrien, wurden dort ausge-
bildet und haben kämpfen gelernt. In einer perfiden Ter-
rorkette wurden sie zu Kämpfern gemacht . Ich glaube,
dass wir genau gegen diese Ausbildungslager militärisch
angehen können .
Gestatten Sie, dass ich mir jetzt doch noch eine Se-
kunde mehr Redezeit nehme . – Sie haben gerade die Ar-
gumentation dafür genannt, warum deutsche Aufklärer
hier gut eingesetzt werden können: Diese Tornados kön-
nen im Tiefflug relativ flexibel Ziele ausmachen. Daher
sind sie in diesem Einsatz notwendig . Dabei haben wir
nämlich die Chance, die Kollateralschäden, wie Sie sie
genannt haben, zu minimieren .
Unterhalten Sie sich mit militärischen Experten! Diese
werden Ihnen sagen, dass genau das der Fall ist, liebe
Kolleginnen und Kollegen . Denken Sie deshalb einmal
Thomas Hitschler
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201513998
(C)
(D)
darüber nach, ob Sie nicht morgen dem Mandat der Bun-
desregierung aus genau diesem Grund zustimmen .
Das Wort hat der Kollege Volker Mosblech für die
CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die
terroristischen Angriffe des 13 . November 2015 erfor-
dern ein entschlossenes und gemeinsames Vorgehen ge-
gen den sogenannten „Islamischen Staat“ . Die EU-Bei-
standsklausel nach Artikel 42 Absatz 7 EU-Vertrag
umfasst eine Rechtspflicht zur Hilfe der Mitgliedstaaten.
In Verbindung mit Artikel 51 der Charta der Vereinten
Nationen ergibt sich eine Rechtsgrundlage für das militä-
rische Eingreifen in Drittstaaten, das sogenannte Selbst-
verteidigungsrecht .
Die völkerrechtliche Frage lautet hier, inwieweit eine
nichtstaatliche Terrorgruppe im Rahmen des Selbstver-
teidigungsrechtes in einem fremden Land angegriffen
werden darf . Einerseits kann dies auf Ersuchen des be-
treffenden Staates geschehen, wie dies beim Irak der Fall
ist . Andererseits wird in der Völkerrechtslehre der Ansatz
vertreten, dass ein Staat auf seinem Gebiet militärische
Maßnahmen erdulden muss, wenn er weder willens noch
in der Lage ist, terroristische Gruppen in seinem eigenen
Staatsgebiet zu bekämpfen, wie dies in Syrien der Fall
ist .
Der IS stellt eine globale Bedrohung für Frieden und
Sicherheit dar . Dies zeigt sich nicht zuletzt durch die
Serie der jüngsten Anschläge in Paris, Beirut, Ankara
oder auf dem Sinai . Schon der Anschlag auf das Satire-
magazin Charlie Hebdo Anfang dieses Jahres in Paris
hat uns deutlich vor Augen geführt, dass speziell unsere
freiheitliche Werteordnung angegriffen wird . Der IS hat
Frankreich, Deutschland, Europa, die Vereinigten Staa-
ten, sprich: die gesamte westliche Welt, zu seinem Feind
erklärt .
Die jüngsten Anschläge in Paris haben die vorherr-
schende Bedrohungslage noch einmal sehr deutlich ge-
macht . Die Bedrohung Frankreichs ist in diesem Falle
die Bedrohung Deutschlands und Europas . Aus diesem
Grunde stehen wir entschlossen an der Seite Frankreichs
und unserer internationalen Verbündeten;
denn auch wir tragen die Verantwortung dafür, dass der
IS sich nicht noch weiter in Syrien ausbreitet . Wir müs-
sen dem IS die Fähigkeit nehmen, den weltweiten Terror
aus dieser Region heraus zu steuern . Syrien darf für Ter-
roristen kein Rückzugsort sein .
Unser Engagement in der Allianz gegen den IS be-
ginnt ja nicht erst heute . Wir sind bereits seit über einem
Jahr Teil dieser Allianz gegen den Terror . Wir haben vor
mehr als einem Jahr begonnen, im Nordirak Verantwor-
tung zu übernehmen, indem wir die kurdischen Pesch-
merga-Kämpfer mit Waffen ausrüsten und ausbilden .
Dadurch können sie für ihre Freiheit, für ihre eigenen
Familien und für ihre Heimat kämpfen . Den Peschmerga
ist es gelungen, den IS zurückzudrängen und kurdische
Gebiete zurückzuerobern wie die strategisch wichtige
Stadt Sindschar .
Diese Ausbildungsmission der Bundeswehr mit weite-
ren europäischen Partnern ist bis hierhin – und das muss
man einmal deutlich sagen – ein Erfolg . Dies müssen wir
als Vorbild für das gesamte Gebiet nehmen, in dem der IS
aktiv ist . Unser Ziel lautet, den IS zurückzudrängen, da-
mit die Menschen in dieser Region wieder eine Perspek-
tive haben und dort ein friedliches Leben möglich ist .
Damit dieses friedliche Leben möglich wird, muss die
militärische Beteiligung durch einen politischen Dialog
mit allen Akteuren begleitet werden . Dieser Dialog soll-
te mit dem Ziel des Wiederaufbaus und der Versöhnung
geführt werden . Deshalb werte ich es als einen großen
Erfolg, dass sich nun alle relevanten Akteure in Wien
austauschen .
Es ist unsere Pflicht, unseren französischen Freunden
beizustehen . Zugleich treten wir mit dem Einsatz bewaff-
neter deutscher Streitkräfte zur Unterbindung terroristi-
scher Aktivitäten ebenso entschlossen für unsere eigene
Sicherheit und die der übrigen freiheitlichen Welt ein .
Wir nehmen damit unsere Verantwortung im Rahmen
einer breiten Mehrheit der Staatengemeinschaft wahr .
Genau für Missionen wie diese wurden die EU-Bei-
standsklausel nach Artikel 42 Absatz 7 EU-Vertrag sowie
der Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen durch
die internationale Gemeinschaft entwickelt . Auf diese
beiden Artikel gründen wir unser Recht, unsere frei-
heitliche und demokratische Grundordnung verteidigen
zu dürfen . Es versteht sich von selbst, dass wir unsere
Freunde und Partner bei deren Selbstverteidigung unter-
stützen .
Aus diesem Grund werde ich morgen dem Antrag der
Bundesregierung zum Einsatz bewaffneter deutscher
Streitkräfte zur Verhütung und Unterbindung terroristi-
scher Handlungen durch die Terrororganisation IS zu-
stimmen . Gleichzeitig bitte ich Sie heute, den Antrag der
Fraktion Die Linke abzulehnen . Ich bin davon überzeugt,
dass wir den IS nicht allein durch die rechtsstaatlichen
Mittel der Strafverfolgung besiegen können .
Wir wünschen den Soldatinnen und Soldaten viel
Glück im Einsatz gegen den internationalen Terrorismus,
den der Deutsche Bundestag in dieser Woche beschließen
wird . Unsere Einsatzkräfte leisten damit einen wichtigen
Beitrag an der Seite Frankreichs und unserer Partner .
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit .
Thomas Hitschler
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 13999
(C)
(D)
Kollege Mosblech, Sie sind am 20 . Juli dieses Jahres in
den Deutschen Bundestag eingetreten und haben gerade
eben Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag gehalten .
Kollege Mosblech, dabei ist Ihnen etwas gelungen, was
den wenigsten neu eintretenden Abgeordneten bei ihrer
ersten Rede gelingt: Sie sind nicht nur in der verabre-
deten Redezeit geblieben, sondern sogar darunter . Ich
wünsche Ihnen im Namen des gesamten Hauses eine er-
folgreiche Arbeit im Deutschen Bundestag .
Das Wort hat der Kollege Josip Juratovic für die
SPD-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Der Antrag der Linken stellt die Situation
dar, als sei der Einsatz der Bundeswehr in Syrien aus-
schließlich eine Antwort auf den Terror in Paris und das
einzige Mittel, das wir im Syrien-Konflikt zum Einsatz
bringen . Aber, meine Damen und Herren, die Antworten
auf politische Fragen sind selten eindeutig . Politische
Lösungen sind selten schwarz oder weiß, sondern er-
scheinen meistens in Grautönen . Das gilt besonders für
Entscheidungen über Militäreinsätze .
Der Einsatz der Bundeswehr in Syrien ist mehr als
Terrorabwehr und findet zu einem Zeitpunkt statt, zu
dem viele Akteure mit ausschließlich eigenen Interessen
teilweise gegeneinander in Syrien verstrickt sind . Des-
halb ist es wichtig, dass gemeinsames internationales
Handeln die nationalen Interessen in geordnete Bahnen
lenkt . Der Einsatz der Bundeswehr ist ein europapoliti-
sches Zeichen . In Zeiten eines schwachen Europas lassen
sich Frankreich und Deutschland, die Hauptsäulen der
Europäischen Union, nicht trennen . Unser Engagement
ist auch ein Weg, überhaupt Einfluss auf den weiteren
Fortgang zu haben . Nur so können wir außenpolitisch
mäßigend mitwirken .
Dementsprechend ist unser wichtigster außenpoliti-
scher Beitrag rund um die Frage Syrien der Wiener Pro-
zess . Unserem Außenminister Steinmeier ist gelungen,
was von außen einfach erscheinen mag, aber sehr viel
diplomatisches Feingefühl und Ausdauer erfordert .
Er hat alle im Syrien-Konflikt relevanten Akteure an einem
Tisch versammelt . Beim Treffen in Wien sind 18 Staaten
und die EU zusammengekommen, um Antworten auf die
Frage zu finden, wie der Gewalt so schnell wie möglich
ein Ende gesetzt werden kann . Dieser Prozess steht leider
erst am Anfang, und wir brauchen einen langen Atem .
Zusätzlich zur Arbeit auf dem diplomatischen Parkett
engagieren wir uns mit strukturbildender Übergangshil-
fe, Mitteln zur Krisenbewältigung und humanitärer Hil-
fe . Auch diese Maßnahmen gehören zum Gesamtbild .
Kolleginnen und Kollegen, alles, was wir im Dialog
lösen können, erfordert keine Waffen . Allerdings: Ohne
Waffen geht es auch nicht immer . Aus Erfahrung weiß ich
eines: Die Dämonen dieser Welt sind nicht mit Dialog und
gutem Zureden aufzuhalten . Deswegen ist Militär leider
oft notwendig, um politische Lösungen zu ermöglichen .
Letztendlich hat niemand die Weisheit gepachtet . His-
torisch gibt es Beispiele für gelungene militärische Mis-
sionen, wie auch leider für misslungene . Ich möchte zu
bedenken geben, dass es sich niemand in diesem Haus
mit seiner anstehenden Entscheidung leicht macht .
Kolleginnen und Kollegen, Syrien kann heute mit
Bosnien und Herzegowina während der Balkankriege
verglichen werden . Ich frage: Muss nun auch noch ein
zweites Srebrenica geschehen, ehe wir unser „Punkt und
Komma“ richtig setzen?
Zu bedenken ist dabei auch das Leid der Flüchtlinge .
Viele Menschen sind Geiseln des Terrors in Syrien, be-
sonders die Ärmsten der Armen, die nicht das Geld hat-
ten, das Land zu verlassen . Wollen wir sie ihrem Schick-
sal überlassen? Denken wir auch an die Vergessenen?
Ich will hoffen, dass unser Beitrag dem Frieden und
der Zukunft dieser Menschen dient . Dafür wollen wir
unseren Soldatinnen und Soldaten, die unsere politische
Entscheidung würdig in die Tat umsetzen müssen, einen
klaren Auftrag mitgeben .
Kolleginnen und Kollegen, als Integrationsbeauftrag-
ter meiner Fraktion sage ich: Natürlich werden wir Ter-
rorismus nicht allein mit militärischen Mitteln besiegen
können . Terrorismus ist Folge der geistigen Brandstif-
tung auch in unseren Gesellschaften . Die Brandstiftung
beginnt mit der „Ja, aber“-Propaganda der Radikalen und
endet mit brennenden Häusern oder Bomben . Deshalb
ist es besonders wichtig: Wir müssen Rattenfängern, ob
Faschisten oder Salafisten, früh und entschlossen entge-
gentreten .
Diese Menschen sind keine Patrioten und erst recht
keine Gläubigen . Sie sind einfach Kriminelle, die Pa-
triotismus oder den Glauben für ihre Zwecke missbrau-
chen . Aber um zu verhindern, dass sich Menschen den
radikalen Predigern anschließen, ist es wichtig, auch mit
unserer eigenen Sprache sensibel umzugehen . Unsere
Worte können verletzen . Unsere Worte können zu gegen-
seitigem Misstrauen und zu Schweigen führen, zu Ab-
schottung und im schlimmsten Fall zu Radikalisierung .
Deswegen müssen wir im Dialog bleiben, Empathie ent-
wickeln und gemeinsam die geistigen Grundlagen des
Terrors bekämpfen, und zwar als Bündnis der Vernünf-
tigen aus allen Parteien, allen Nationen und allen Glau-
bensgemeinschaften .
Danke schön für die Aufmerksamkeit .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514000
(C)
(D)
Vielen Dank, lieber Kollege . – Einen schönen Tag Ih-
nen und den Gästen auf der Tribüne!
Ich schließe die Aussprache .
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/6874 mit dem Ti-
tel „Keine militärische Antwort auf Terror“ . Wer stimmt
für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Der Antrag ist abgelehnt bei Zustimmung
der Linken und Gegenstimmen von CDU/CSU, SPD und
Bündnis 90/Die Grünen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte am NATO-geführten Ein-
satz Resolute Support für die Ausbildung, Be-
ratung und Unterstützung der afghanischen
nationalen Verteidigungs- und Sicherheits-
kräfte in Afghanistan
Drucksache 18/6743
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind
38 Minuten für die Aussprache vorgesehen . – Ich höre
und sehe keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlos-
sen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Kollege
Wolfgang Hellmich für die SPD .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist eine
notwendige und richtige Entscheidung, das Mandat für
Afghanistan fortzusetzen . Unsere klaren Worte an den
afghanischen Präsidenten, der gerade in Berlin weilt,
lauten im Zusammenhang mit der Entscheidung für die
Verlängerung dieses Mandats, dass wir Afghanistan wei-
terhin helfen werden, dass wir an der Seite des afghani-
schen Volkes stehen und es in Zukunft bei der weiteren
Entwicklung seines Landes nicht nur begleiten, sondern
auch aktiv unterstützen werden .
Es war in der Vergangenheit das falsche Signal – vor
allem von unseren Freunden aus den USA –, in erster
Linie aus innenpolitischen Gründen deutlich zu machen,
dass wir Afghanistan verlassen werden . Dort wurde das
so verstanden, dass wir Afghanistan alleinlassen . Das
war das falsche Signal . Ich bin froh darüber, dass trotz
aller wahlpolitischen Auseinandersetzungen in den USA
eine andere Entscheidung getroffen wurde, die uns in
die Lage versetzt, unsere Fähigkeiten, abgestimmt in der
NATO, zur Verfügung zu stellen und so unser Mandat
nicht nur fortzusetzen, sondern auch zu präzisieren, aus-
zuweiten und auf das realistische Lagebild in Afghanis-
tan zuzuschneiden .
Zum realistischen Lagebild . Die afghanischen Si-
cherheitskräfte haben die Verantwortung für die Sicher-
heit Afghanistans übernommen. Sie befinden sich aber
manchmal in einer überdehnten Situation, in der sie nicht
in der Lage sind, das, was notwendig ist, in den Griff
zu bekommen . Sie brauchen weiterhin unsere Hilfe bei
der Feststellung eines Lagebildes für ihre bzw . unsere
Einsätze . Sie brauchen das, was wir tun, bis hin zu einer
qualifizierten und gezielten Ausbildung der Soldatinnen
und Soldaten der afghanischen Armee zu Gebirgsjägern
im Norden, wo wir noch im Wesentlichen die Verantwor-
tung tragen . Die afghanischen Sicherheitskräfte müssen
ihre Qualität steigern, um die Auseinandersetzung mit
den Taliban und anderen aufnehmen zu können .
Zum Lagebild gehört auch, dass die Taliban ihre Stra-
tegie verändert haben . Erinnern wir uns nur an Kunduz .
Es gibt keine Kampfsaison mehr . Die Taliban führen
ihren Kampf nun über das ganze Jahr . Zudem wird die
Front nicht mehr an vielen Stellen breit gehalten . Viel-
mehr greifen die Taliban konzentriert und gezielt einzel-
ne Städte und Orte an und verschwinden im Zweifelsfall
wieder . Das ist eine andere militärische Kampfsituation
als zuvor, auf die die afghanische Armee vorbereitet wer-
den muss . Dazu können wir beitragen, indem wir die
Kommunikation und die kommunikativen Kräfte stär-
ken sowie Führungsunterstützung und konkrete Hilfe im
Einsatz leisten . Aber das ist, wie in anderen Einsätzen
auch, nur ein Teil dessen, was wir in Afghanistan tun .
Wenn wir genau in dieser Zeit die Anschlussmandate der
NATO vorbereiten – die NATO beteiligt sich aktiv an der
Veränderung ihrer Strategie –, um nach diesem Einsatz
eine Folgeunterstützung für Afghanistan zu organisieren,
dann ist das genau der richtige Weg . Bekämpfung der
Korruption und Bekämpfung des Drogenmissbrauchs –
das sind die Ursachen für Menschenhandel, mit dem die
Taliban und inzwischen auch der IS horrende Gelder
verdienen –, das ist genau die richtige Strategie, um für
Sicherheit zu sorgen, damit wir den Menschen in Afgha-
nistan sagen können: Bleibt dort .
Wir brauchen die Fortsetzung von UNAMA, um auch
bei der Regierungsbildung in Afghanistan weiter zu hel-
fen, und wir brauchen die Ansätze, die aus unserer Wirt-
schaft kommen und darin bestehen, über Bildung und
Ausbildung in Afghanistan zu einer besseren Qualität der
wirtschaftlichen Strukturen zu kommen, zu einer eigenen
Produktion, zu eigenen Absatzmärkten, die zu organisie-
ren wir mithelfen müssen . Zudem müssen wir mit un-
seren Instrumenten zu Wissenschaft, Bildung und guter
Ausbildung in Afghanistan beitragen . Damit können wir
den Menschen in Afghanistan Perspektiven bieten . Da-
mit können wir ihnen helfen, in Afghanistan zu bleiben
und dort eine sichere Zukunft zu finden.
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 14001
(C)
(D)
Uns haben die Soldatinnen und Soldaten bei unse-
ren Besuchen gesagt: Wir kämpfen für unser Land . Wir
möchten aber, dass unsere Familien in Sicherheit leben
können . Wenn wir den Eindruck haben, dass sie dieses
in Afghanistan nicht tun können, dann werden wir ihnen
sagen: Geht . – Wir werden sie auch darin unterstützen, zu
gehen, weil ihre Sicherheit – das liegt uns an dieser Stelle
sehr am Herzen – im Zentrum unserer Bemühungen liegt .
Diese Sicherheit können wir nicht garantieren . Deshalb
müssen wir dafür Sorge tragen, dass der Staat Afghanis-
tan dies mit seinen militärischen Kräften, mit seinen Po-
lizeikräften und mit seinem politischen System tun kann .
Afghanistan liegt nicht in Mitteleuropa . Es ist ein an-
deres Land, dort herrschen andere Ausgangsbedingun-
gen . Ich möchte anmerken, dass die Evaluierung aller
Einsätze in Afghanistan nach wie vor dringend nötig ist .
Wir haben sie immer noch nicht auf dem Tisch . Ich gehe
davon aus, auch in meiner Eigenschaft als Sonderbe-
richterstatter der NATO-Parlamentarierversammlung für
Afghanistan, dass wir die nötigen Beschlüsse hinbekom-
men, auch über die NATO eine entsprechende Evaluie-
rung auf den Weg zu bringen, damit wir ein realistisches
Bild des Einsatzes in Afghanistan bekommen .
Herzlichen Dank an die Ministerin – der Staatssekre-
tär wird ihr den Dank überbringen –
dafür, genau die Länder für die Speiche Nord zusam-
menzubringen, die ihre Zusage gegeben haben, weiter
dabei zu sein . Deutschland wird das tun . Die Aussage des
Generals Brinkmann, der der Leiter der UNAMA war,
die deutsche Uniform sei manchmal mehr ein Schutz in
Nordafghanistan als alles andere, ist ein deutliches Zei-
chen dafür, dass die Afghanen von uns erwarten, dass wir
an ihrer Seite bleiben und ihnen helfen .
Vielen Dank .
Vielen Dank, Kollege Hellmich . – Der nächste Redner
in der Debatte für die Linke: Wolfgang Gehrcke .
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie ernst die Bun-
desregierung die Fortführung des Mandats nimmt, kann
man erkennen, wenn man auf die Regierungsbank blickt
und sieht, wer alles nicht da ist .
Ich erwarte von einer Regierung, dass sie, wenn sie ein
solches Mandat einbringt, dieses auch ernsthaft verficht.
Der Staatssekretär, der da herumsitzt, kann mich nicht
davon überzeugen, dass die Regierung ernsthaft dieses
Mandat verfechten will . Das stellen wir hier erst einmal
fest .
Ich denke, dass es der Fluch der bösen Tat ist, dass im-
merfort Böses sie gebären muss . Die böse Tat war, dass
sich Deutschland vor 14 Jahren entschieden hat, mit ei-
genen Soldaten in den Krieg in Afghanistan einzugreifen .
Wir sind bislang nicht herausgekommen, wir wollten of-
fensichtlich auch nicht herauskommen . Dabei kann man
aber eines erwarten – das ist eine Minimalanforderung –,
nämlich dass man nach 14 Jahren einmal hinschaut und
erörtert, was dieser Kriegseinsatz gebracht hat .
Das kann man doch auch von Ihnen erwarten . Sie wollen
die Augen vor der Katastrophe des Krieges, der geschei-
tert ist, verschließen .
Es ist eine blutige Niederlage in Afghanistan, die Sie
verantworten . Sie wollen die Augen vor diesem Ergebnis
verschließen .
Ich nenne Ihnen einmal einige Punkte meiner Beurtei-
lung des Krieges in Afghanistan:
70 000 Tote hat dieser Krieg gebracht . Wir, Deutschland,
haben mit dem Krieg in Afghanistan das Völkerrecht tief
verletzt . 55 Bundeswehrsoldaten sind in Afghanistan
umgekommen . Das Mindeste wäre gewesen, dass man
sich angesichts dieser Opfer einer Auseinandersetzung
die Frage stellt: Hat es sich gelohnt, in diesen Krieg zu
gehen, oder wäre es besser gewesen, es zu unterlassen?
Ich bin entsetzt darüber, dass in den Debatten dieser
Tage über Syrien die gleichen Krampfargumente benutzt
werden, die schon zur Rechtfertigung des Afghanis-
tan-Krieges benutzt worden sind . Sie haben gar nichts
dazugelernt . Gehen wir doch einmal einige Gesichts-
punkte durch . Es sind immer vier ernstzunehmende Ar-
gumente angeführt worden .
Erstes Argument: Der Terror muss militärisch be-
kämpft werden; anders ist er nicht zu besiegen .
– Sie haben dazugelernt . Früher haben Sie gesagt: Der
Terror muss militärisch bekämpft werden . – Jetzt sagen
Sie: Auch . – Für Sie ist Militär immer der Eckpfeiler .
Ich frage Sie nach 14 Jahren Krieg gegen den Terror: Ist
die Gefahr von terroristischen Anschlägen kleiner oder
Wolfgang Hellmich
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514002
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(D)
größer geworden? Sie ist weltweit größer geworden; das
werden Sie zugeben müssen .
Man kann doch einräumen, dass der Terror mit Krieg nie-
mals erfolgreich bekämpft werden kann .
Das ist doch eine erste Erkenntnis, die nicht so schwer-
fallen dürfte .
Zweites Argument: Der Krieg gegen den Terror ist
ein Krieg für Abrüstung . – Ich frage mich überhaupt,
woher die terroristischen Banden immer ihre Waffen ha-
ben? Der IS hat zwar keine Waffenfabrik, verfügt aber
über Waffen . Wer liefert die denn? Woher kommen die
Waffenlieferungen? Die Antwort darauf könnten Sie hier
einmal vortragen . Hat der Krieg gegen den Terror zur
Abrüstung geführt oder nicht? Er hat zur Aufrüstung ge-
führt . Das ist beweisbar .
Drittes Argument: Wir wollen uns mit dem Krieg ge-
gen den Terror für Demokratie einsetzen . – Wo ist in die-
sen Staaten Demokratie gewachsen?
Viertes Argument: Genauso wie Deutschland nie eine
Chance gehabt hat, den USA nach dem 11 . September
2001 zu sagen: „Wir werden uns militärisch nicht enga-
gieren“, hat Deutschland jetzt keine Chance, Frankreich
zu sagen: Wir machen vieles zusammen; aber wir werden
nicht zu Waffen greifen . – Das ist ein ernstzunehmendes
Argument . Kann der deutsche Staat seinen Verbündeten
sagen: „Vieles können wir gemeinsam machen; aber wir
wollen nicht gemeinsam zu Waffen greifen“? Ich finde,
wenn man es mit der Freundschaft zu Frankreich ernst
meint, muss man Frankreich sagen: Wir agieren politisch
zusammen . Wir können innenpolitisch viel gemeinsam
leisten, etwa bei Polizeieinsätzen . Aber: Hände weg von
Waffen! Wir wollen nicht, dass gemeinsam in Kriege ge-
zogen wird . –
Das sagt übrigens auch die französische Linke .
Haben wir das Recht gehabt, den USA zu sagen: „Wir
wollen nicht zusammen Krieg führen“? Ich finde, wir
hätten die Verpflichtung gehabt, den USA unsere Ein-
wände vorzutragen .
Das heißt, es gibt kein ernstzunehmendes Argument
für einen Kriegseinsatz . Man kann den Kampf gegen den
Terror gewinnen, wenn man das macht, was man machen
kann. Warum, frage ich Sie, wird der Zufluss an Kämp-
fern nach Syrien nicht endlich unterbunden? Sie kommen
doch auch aus unserem Land . Sie kommen aus Europa,
aus unserer Nachbarschaft . Warum wird der Waffenhan-
del nicht endlich unterbunden? Das können Sie doch
leisten . Man sollte damit anfangen, endlich aufzuhören,
deutsche Waffen in diese Region zu liefern .
Wir könnten auch einmal zusammen die menschenver-
nichtende Ideologie dieses Terrors angreifen
und Alternativen aufzeigen . Nichts haben wir gemacht .
Ich empöre mich darüber, dass wir mit den gleichen
Drecksargumenten wieder in einen Krieg getrieben wer-
den . Das will ich nicht, und deswegen muss der Afgha-
nistan-Krieg beendet werden .
Wir sind dafür, dass die deutsche Bundeswehr sofort
aus Afghanistan zurückgezogen wird . Das würde dem
Land die Chance für einen zivilen Aufbau bieten .
Danke .
Vielen Dank . – Nächster Redner in der Debatte: für
die Bundesregierung Dr . Ralf Brauksiepe, Parlamentari-
scher Staatssekretär .
D
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
meiner Heimatstadt Hattingen im Ruhrgebiet, eigentlich
eine sehr schöne Stadt, die seit kurzem auch einen guten
parteilosen Bürgermeister hat, war von 1979 bis 1989
die DKP im Stadtrat . Mein Vorredner ist ausweislich des
Kürschner Gründungsmitglied dieser Partei . Er könnte
genauer erklären, wie das damals ablief . Es war keine
bundesweit sehr große Partei, trotz finanzieller Unterstüt-
zung . Es gab aber Schwerpunktbezirke . Wo die Partei im
Stadtrat war, wurden die Bürger flächendeckend regel-
mäßig mit deren Parteipamphlet ausgestattet .
Das waren die zehn Jahre, in denen die Sowjets Afgha-
nistan überfallen und dann dort zehn Jahre Krieg geführt
haben . In dem Pamphlet war nicht von „böser Tat“ die
Rede . Ich kann zu meinem Vorredner nur sagen: Damals
hätten Sie mal was von „Krieg beenden“ sagen sollen .
Wenn einer immer die Augen zugemacht hat, wenn einer
überhaupt nichts dazugelernt hat, dann sind Sie es . Vor
dem Hintergrund Ihrer eigenen Propaganda müssten Sie
sich eigentlich für das schämen, was Sie heute sagen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Ausbildungs-,
Beratungs- und Unterstützungsmission Resolute Sup-
Wolfgang Gehrcke
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 14003
(C)
(D)
port läuft insgesamt erfolgreich jetzt seit elf Monaten .
Der Norden Afghanistans, für den Deutschland als Rah-
mennation besondere Verantwortung übernommen hat,
gilt dabei als Vorbild multinationaler Kooperation im
Einsatzland . Wir können und werden dabei Rückschläge
nicht ignorieren . Richtig ist, dass sowohl in der politi-
schen wie auch in der militärischen Führung in Afghanis-
tan immer noch viele Probleme vorherrschen . Das haben
vor allem die Ereignisse um die zeitweise Einnahme von
Kunduz im September dieses Jahres gezeigt . Richtig ist
aber auch, dass Afghanistan mehr ist als nur Kunduz . Die
afghanischen Sicherheitskräfte haben unter schweren Be-
dingungen mit einer hohen Zahl eigener Opfer bewiesen,
dass sie für ihr Land einstehen, dass sie die Sicherheits-
verantwortung für ihr Land effektiv wahrnehmen wollen
und dass sie es mit Anleitung auch können . Dies ist auch
vor dem Hintergrund der Ereignisse in Kunduz keines-
wegs kleinzureden, liebe Kolleginnen und Kollegen .
Resolute Support ist durch die NATO als Operation in
drei Phasen angelegt gewesen und angelegt: erstens Prä-
senz in den Regionen, zweitens Rückführung auf Kabul
und schließlich Rückverlegung . Die Übergänge in diese
Phasen sollen lageabhängig vollzogen werden . Das war
immer unsere Prämisse .
Basierend auf einer Bewertung der Leistungsfähigkeit
der afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräf-
te sowie der Sicherheitslage wurde deshalb vorgestern
beim Treffen der NATO-Außenminister die formale Ent-
scheidung gefällt, die Phase 1 bei Resolute Support wei-
ter fortzusetzen . Die Vereinigten Staaten haben bereits
entschieden, ihre Kräfte im Jahr 2016 auf dem gleichen
Niveau in Afghanistan zu belassen . Dadurch und durch
die vom Kollegen Hellmich zu Recht erwähnte Zusage
unserer multinationalen Partner im Norden, für die wir
dankbar sind, sind auch für uns die Voraussetzungen für
die Fortführung der Ausbildungs-, Beratungs- und Unter-
stützungsmission gegeben . So wird die Bundeswehr im
Rahmen von Resolute Support auch weiterhin vorrangig
auf der ministeriellen und der nationalen institutionellen
Ebene die afghanischen nationalen Verteidigungs- und
Sicherheitskräfte befähigen helfen, ihrer Sicherheitsver-
antwortung nachzukommen .
Unsere nationale Bewertung der Leistungsfähigkeit
der afghanischen Kräfte im Norden hat ergeben, dass es
in der Tat Optimierungsbedarf bei den Beratungsleistun-
gen gibt und dass dieser auch personell im Mandat hin-
terlegt werden muss . Mit der Anhebung der Obergrenze
auf 980 Soldatinnen und Soldaten können wir die erfor-
derliche Feinjustierung umsetzen, unseren Verpflichtun-
gen zur Gestellung von zusätzlichem Personal für die
NATO – circa 40 Dienstposten für das NATO-Fernmel-
debataillon – nachkommen und verfügen zudem über die
notwendige Flexibilität, unseren Auftrag als Rahmenna-
tion erfolgreich umsetzen zu können .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei allen Anpassun-
gen ist dabei klar: Resolute Support ist und bleibt eine
Non-Combat-Mission . Zum einen begleiten wir in der
NATO diesen Prozess sehr eng und haben mit den USA
einen Verbündeten, der dies ebenso wie wir auch für die
Zukunft so sieht . Zum anderen haben wir immer auch die
Möglichkeit, uns bei der Frage einer möglichen Anpas-
sung des OPLANs einzubringen .
In der NATO wird unser verstärktes Engagement
sehr wohl dankbar zur Kenntnis genommen . Das zeigt
uns: Wir sind auf dem richtigen Weg, Afghanistan auch
in Zukunft nicht alleinzulassen . Mit dem verstärkten
Engagement senden wir zugleich mehrere Signale . Wir
senden das Signal an unsere afghanischen Partner, an die
afghanische Bevölkerung, dass wir weiter eng an ihrer
Seite stehen . Wir senden das Signal an die regierungs-
feindlichen Kräfte, dass es für sie in Afghanistan auch in
Zukunft militärisch nichts zu gewinnen geben wird . Wir
senden schließlich auch ein Signal an die afghanische
Regierung der nationalen Einheit, dass wir ein ebenfalls
verstärktes Engagement bei Reformen, bei der Bekämp-
fung von Korruption und bei den Anstrengungen für ei-
nen Friedens- und Versöhnungsprozess erwarten .
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie
mich an dieser Stelle allen eingesetzten Soldaten, Poli-
zisten, Diplomaten und Mitarbeitern des zivilen Wieder-
aufbaus ausdrücklich für ihren Einsatz danken . Das wird
ja oftmals öffentlich nicht so deutlich, mit welchem Mix
an Maßnahmen wir hier agieren . Es gibt gute Gründe,
dass im Parlamentsbeteiligungsgesetz geregelt ist, dass
das Parlament über den Einsatz bewaffneter deutscher
Streitkräfte entscheidet . Das heißt aber nicht, dass wir
an anderer Stelle nicht tätig werden . Wir müssen nicht
über jede diplomatische und jede entwicklungspolitische
Maßnahme hier in diesem Parlament gesondert debattie-
ren und abstimmen . Dass wir das bei militärischen Ein-
sätzen tun, ist zwar richtig . Das darf aber nicht den Blick
darauf verstellen, dass alles, was wir militärisch tun, im-
mer eingebunden ist in diplomatische und entwicklungs-
politische Anstrengungen, die wir gemeinsam mit vielen
Menschen vor Ort unternehmen, die dankbar sind, dass
gerade ihr ziviles Engagement auch durch die Bundes-
wehr militärisch abgesichert wird . Allen Männern und
Frauen, die sich dort einsetzen, gilt unser Dank!
Unser Ziel bleibt unverändert ein stabiles Afghanis-
tan, das als zuverlässiger Partner in der Region den Frie-
dens- und Versöhnungsprozess selbst aktiv vorantreibt;
denn selbsttragende Sicherheit braucht Verständigung,
Versöhnung und eine gute Regierungsführung . Das muss
aus der Mitte der Afghanen selbst kommen und benötigt
gleichzeitig einen langen Atem . Diesen müssen auch wir
haben . Wir sind bereit, dabei weiterhin Unterstützung zu
leisten . Das ist die Absicht der Bundesregierung . Dafür
bitte ich Sie um Ihre Unterstützung .
Vielen Dank .
Danke, Herr Kollege Brauksiepe . – Das Wort zu einer
Kurzintervention hat der von Dr . Brauksiepe angespro-
chene Wolfgang Gehrcke .
Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514004
(C)
(D)
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin . – Herr Brauksiepe,
ich kann nachvollziehen, dass es Sie verwundert, dass
hier im Parlament Leute sitzen, die vor ihrer Vergangen-
heit nicht weglaufen und sich ihrer Vergangenheit stellen .
Ich brauche auch keine Weißwaschanlage einer anderen
Partei . Ich habe so oft in diesem Parlament erklärt – aber
Sie hören ja nie zu; Sie wollen auch nichts aufnehmen –,
dass ich mit den gleichen schlechten Argumenten, die Sie
jahrelang hier gebraucht haben, den sowjetischen Militär-
einsatz in Afghanistan gerechtfertigt habe . Im Ergebnis
war dieser Einsatz jedoch falsch und ist gescheitert .
Gehen Sie doch einmal Ihren Argumenten nach!
Davor drücken Sie sich . Sie glauben, dass ein Hinweis
reicht, dass jemand einmal Kommunist gewesen ist oder
von mir aus Kommunist ist . Man kann schlechte Argu-
mente vorbringen . Man kann aber auch irgendwann ein-
mal begreifen, dass die Argumente nicht stimmig waren
und dass man die Politik, die man in der Vergangenheit
falsch bewertet hat, anders bewerten muss . Das ist meine
Position . Ich möchte nicht den gleichen Unsinn mit an-
deren Deutungen heute wiederholen, den ich damals zum
sowjetischen Militäreinsatz in Afghanistan gesagt habe .
Ich kann Ihnen ja einmal aus den Programmen vorlesen,
die die Machthaber damals vorgelegt haben . Diese be-
treffen die Bildungspolitik und die Bodenreformen . Es
waren auch sehr viele vernünftige Sachen enthalten . Ei-
nes ist aber klar: Man kann Textilien exportieren, man
kann aber keine Revolution exportieren . Man konnte sie
nicht nach Afghanistan exportieren, und man wird sie
nicht in andere Teile dieser Welt exportieren können .
Verstehen Sie doch endlich, dass man die eigene Politik
auch einmal kritisch zu betrachten hat, wenn man etwas
neu gestalten will . – Ich wollte es Ihnen nicht ersparen,
sich das anzuhören .
Herr Brauksiepe .
D
Herr Kollege Gehrcke, es mag für Sie persönlich ein
weiter Weg sein, jetzt deklarierterweise eine Position der
Äquidistanz zur sowjetischen Invasion in Afghanistan
und zu dem Einsatz der Völkergemeinschaft im Auftrag
der Vereinten Nationen einzunehmen . Mit einer sachge-
rechten Beurteilung der Lage hat das aber nichts zu tun .
Wir haben niemals den Anspruch gehabt, eine Revo-
lution zu exportieren . Das mag der Anspruch anderer ge-
wesen sein . Wir sind auf der Grundlage des Mandats und
im Auftrag der Völkergemeinschaft in Afghanistan aktiv,
um dieses Land nach Jahrzehnten des Krieges und der
Zerstörung wiederaufzubauen und die Afghanen mit mi-
litärischer Sicherheit in die Lage zu versetzen, dies selbst
zu tun . Wir arbeiten mit am Aufbau dieses Landes . Wir
wissen, dass dazu viele Maßnahmen gehören . Wir wis-
sen, dass es am Ende ein Prozess sein muss, der sich auch
selber trägt, mit einem Bündel von Maßnahmen . Das ist
eben der Unterschied zu dem von Ihnen angesprochenen
gescheiterten Revolutionsexport . Darum ist es uns nie
gegangen .
Das eine mit dem anderen gleichzusetzen, ist abwegig
und spricht Hohn für all diejenigen, die sich für ein fried-
liches und prosperierendes Afghanistan einsetzen – und
an deren Seite stehen wir, Herr Kollege Gehrcke .
Nächster Redner in der Debatte: Dr . Frithjof Schmidt
für Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir sind uns mit den Regierungsfraktionen einig, aber,
wie ich glaube, auch mit der Linken, dass die zivile und
entwicklungspolitische Unterstützung Afghanistans un-
eingeschränkt fortgesetzt werden muss . Hier stimmen
wir in den politischen Zielen und Maßnahmen überein,
und das ist gut . Ich glaube, das ist ein wichtiges Signal,
das nach Afghanistan gesendet werden sollte .
Vor einem Jahr hat meine Fraktion dem militärischen
Mandat für Resolute Support mit großer Mehrheit nicht
zugestimmt . Ich habe damals kritisiert, dass der Man-
datstext gefährlich ungenau ist . Ich habe die Sorge for-
muliert, dass ein Abrutschen in einen erneuten, länger-
fristigen Einsatz droht mit der Verwicklung in Kämpfe
ohne Exit-Strategie, also das, was man auf Englisch ei-
nen Slippery Slope nennt . Sie von den Regierungsfrakti-
onen haben das weit von sich gewiesen . Und nun kommt
es genau so . Deshalb verändern Sie jetzt das Mandat
in zentralen Punkten . Sie haben beim Abzug von ISAF
versprochen, dass diese Ausbildungsmission nach zwei
Jahren, 2017, endet . Damit haben Sie für Akzeptanz ge-
worben . Davon ist jetzt nicht mehr die Rede . Das Ende
des Einsatzes wird bewusst offengelassen; etliche Jahre
mehr stehen im Raum . Im alten Mandat gab es ausdrück-
liche Restriktionen für die Begleitung von afghanischen
Verbänden in Einsätze . Diese haben Sie bei diesem Man-
dat herausgestrichen . Jetzt ist im Mandat ausdrücklich
die Begleitung der zu beratenden afghanischen Einhei-
ten durch deutsche Kräfte vorgesehen . Das ist eindeutig .
Wenn afghanische Spezialkräfte ausgebildet oder beraten
werden – das sieht das Mandat vor –, dann werden sie
auch in ihren Einsatz begleitet . Das ist natürlich in der
Regel ein Kampfeinsatz . Was denn sonst? Sie passen sich
damit der erklärten Praxis der USA an, sich doch wieder
direkt an der Aufstandsbekämpfung zu beteiligen . Dieser
Einsatz – darüber sollte man hier nicht hinwegreden –
verändert damit seinen Charakter . Wenn Sie das in das
Mandat schreiben, dann sollten Sie hier auch dazu stehen
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 14005
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(D)
und nicht wie Sie, Herr Brauksiepe, sagen: Das ist keine
Combat Mission . – Das stimmt nicht mehr .
Resolute Support wird so immer mehr zu einer re-
duzierten Fortsetzung von ISAF, nur mit stärkerem
Schwerpunkt auf der Aufstandsbekämpfung . Sie erhöhen
die Zahl der eingesetzten Bundeswehrsoldaten von 850
auf 980. Teilweise werden damit finnische und dänische
Soldaten ersetzt, die von ihren Ländern abgezogen wer-
den, weil diese ihre Truppen reduzieren; teilweise soll
die Zahl der Berater erhöht werden, die mit den ausge-
bildeten Spezialkräften in Einsätze ziehen . Erhoffen Sie
sich davon ernsthaft einen wichtigen Beitrag zur militä-
rischen Stabilisierung der Lage Afghanistans? Ich kann
nicht glauben, dass Sie das glauben .
Noch vor drei Jahren waren über 100 000 NATO-Sol-
daten im Land präsent . Insgesamt sind rund 350 000 af-
ghanische Sicherheitskräfte ausgebildet und ausgerüstet
worden . Die rund 12 000 verbliebenen Soldaten von
RSM sollen jetzt schaffen, was ISAF in all dieser Zeit
nicht geschafft hat?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Afghanistan befin-
det sich in einer politischen Führungskrise . Präsident
Ghani und Premier Adullah bekämpfen sich politisch .
Sie können sich nach einem Jahr nicht auf einen Vertei-
digungsminister einigen . Afghanistans Armee ist nicht zu
klein, sondern politisch führungslos . Das ist das zentrale
Problem .
Das lässt sich nicht militärisch lösen . Ja, in dieser Lage
nehmen Einfluss und Stärke der Taliban in vielen Regi-
onen weiter zu . Herr Jung hat vorhin einen Zwischenruf
gemacht und gesagt, 80 Prozent von Afghanistan wären
befriedet und stabil . Ich weiß nicht, woher Sie das haben .
Ich kenne niemanden, der das glaubt .
So ist es nicht . Die Sicherheitslage verschlechtert sich,
aber das ändern ein paar Hundert Ausbilder mehr ebenso
wenig wie die Rückkehr zu Kampfeinsätzen durch die
relativ kleine RSM-Truppe .
Der Schlüssel bleibt die politische Lösung, und zwar
sowohl innerhalb der afghanischen Regierung – das ist
eine ganz wichtige Frage – als auch in Verhandlungen
mit den Taliban . Wenn das nicht geschieht, wird es nichts
ändern, ob Sie die Zahl der Soldaten ein bisschen rauf-
oder runtersetzen oder die Zahl der Kampfeinsätze ein
bisschen intensivieren . Es ist eine Fiktion, dass Sie damit
einer Lösung auch nur einen einzigen Schritt näherkom-
men. Ich finde, das sollte man klar aussprechen und nicht
der Bevölkerung Sand in die Augen streuen, man hätte
hier eine praktische Lösung .
Ich kann meiner Fraktion auch diesmal eine Zustimmung
nicht empfehlen .
Abschließend möchte ich die Bundesregierung auf-
fordern, sich für eine unabhängige Untersuchung der
tragischen Bombardierung des Krankenhauses von Ärz-
te ohne Grenzen in Kunduz einzusetzen . Machen Sie
deutlich, dass Sie ein Interesse an der Aufklärung haben,
selbst wenn dies mit unangenehmen Wahrheiten verbun-
den sein sollte!
Danke für die Aufmerksamkeit .
Vielen Dank, Frithjof Schmidt . – Nächster Redner:
Roderich Kiesewetter für die CDU/CSU-Fraktion .
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/
CSU-Bundestagsfraktion unterstützt das Mandat . Ich
möchte bei Bündnis 90/Die Grünen an dieser Stelle aus-
drücklich dafür werben . Herr Kollege Schmidt, Sie ha-
ben Äpfel mit Birnen verwechselt . Unser Mandat sieht
Ausbildung, Beratung und Unterstützung vor und nicht
den Kampf . Was Sie ansprechen, ist das gesonderte Si-
cherheitsabkommen, das die USA mit Afghanistan abge-
schlossen haben .
Das sollten Sie durchaus unterscheiden; Ziffer 7 unseres
Mandatstextes .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das, was vorhin von
den Linken vorgetragen wurde, ist eine furchtbare Stel-
lungnahme, die der Wirklichkeit nicht gerecht wird .
Wir haben im Jahr 2011 als Gastgeber auf dem Pe-
tersberg beschlossen, dass das Land Afghanistan bis
2024 auf das Niveau eines normalen Entwicklungslandes
zu bringen ist .
Das sind noch neun Jahre . Es wird eine schwierige Ge-
burt . Zu der Zeit, als wir dies beraten haben – viele Kol-
legen waren seinerzeit auf dem Petersberg dabei –, wa-
ren auch drei Kolleginnen des Kollegen Gehrcke dort,
die sich nicht an den Beratungen beteiligt haben, sondern
lautstark vor den Kameras Transparente entrollt haben .
Lieber Kollege Gehrcke, ich wünschte mir, dass Ihre drei
Kolleginnen wenigstens in Ansätzen die Ernsthaftigkeit
ihrer Argumente einmal ventiliert hätten . Selbst das ist
bei den Linken nicht erfolgt .
Dr. Frithjof Schmidt
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514006
(C)
(D)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir Afghanis-
tan betrachten, ist es sicherlich für eine Bilanz bei wei-
tem zu früh . Wenn wir Afghanistan mit unseren Maßstä-
ben betrachten, müssen wir auch gewahr sein, dass ein
Großteil der Welt nicht so ist, wie wir es uns wünschen .
Dass viele Staaten in der Fragilität die Normalität erle-
ben, bedeutet für uns, mitzuhelfen, mitzuwirken, dass
diese Staaten sich trotzdem an diplomatischen Verhand-
lungen beteiligen und sich als verlässliche Nachbarn
erweisen . Ich möchte hier Beispiele nennen: Ghana,
Burundi, Bangladesch . All diese Staaten beteiligen sich
in ihrer Nachbarschaft an Stabilisierungen . Wir müssen
versuchen, dass Afghanistan auf dieses Niveau kommt .
Afghanistan hat dazu noch einige Jahre Zeit und bedarf
unserer Unterstützung . Herr Kollege Schmidt, gerade
die Anpassung des Mandats innerhalb eines Jahres zeigt
doch, dass die internationale Gemeinschaft nicht stur ei-
nen Plan abarbeitet, sondern auf Herausforderungen re-
agiert . Deshalb ist es so wichtig, dass wir das Mandat
angepasst haben . Deshalb stehen die Union und die Koa-
lition hinter dem Mandat .
Wir müssen aber auch Erfolgsbedingungen beschrei-
ben . Dazu gehört zunächst einmal eine grundsätzliche
Stabilität innerhalb Afghanistans . Dazu brauchen wir
eine legitime Regierung, so wie sie in Afghanistan nach
langem Ringen gefunden worden ist . Dazu brauchen wir
grundsätzlich eine Art soziale Sicherheit, so wie sie in
Afghanistan in weiten Teilen des Landes gegeben ist . Wir
brauchen aber auch die Bereitschaft, innerhalb Afgha-
nistans Verantwortung für die Regionen zu übernehmen .
Deshalb brauchen wir die Beratungsmission .
Zweitens . Aus unserer Sicht ist es auch ganz entschei-
dend, dass sich Afghanistan nicht an den Rivalitäten in
der Nachbarschaft beteiligt, sondern begonnen hat, di-
plo matisch ausgleichend zu wirken . Wir haben Rivali-
täten zwischen Iran und Pakistan, zwischen Indien und
Pakistan . Afghanistan geht einen diplomatischen Weg,
und darin müssen wir Afghanistan unterstützen .
Drittens muss uns sehr daran gelegen sein, dass sich
USA, Russland und China als Vetomächte im Weltsicher-
heitsrat bei aller Konkurrenz wenigstens auf eines fokus-
sieren: Der internationale Terrorismus darf in Afghanis-
tan keine Zukunft haben .
Viertens . Die letzte sinnvolle Erfolgsbedingung ist,
dass die afghanische Regierung nachhaltig Stabilität ge-
währleistet .
Herr Kiesewetter, erlauben Sie eine Zwischenfrage
oder -bemerkung vom Kollegen Ströbele?
Ich wundere mich, dass er nicht im NSA-Untersu-
chungsausschuss ist .
Er will Ihnen zuhören .
Wenn er hier mehr zu Wort kommen kann, gerne .
– Nein, ich wundere mich nur .
Bitte schön .
Das war eine zutreffende Bemerkung: Ich wundere
mich auch, –
Roderich Kiesewetter [CDU/CSU]:
Dass Sie nicht im NSA-Untersuchungsausschuss
sind?
– dass ich wegen der von der Union durchgesetzten Re-
gelung zur Redezeit für die kleineren Fraktionen dort tat-
sächlich viel zu wenig zu Wort komme . Aber das kann
man vielleicht an anderer Stelle noch einmal diskutieren .
Vielleicht wird sich der Ältestenrat damit beschäftigen .
Roderich Kiesewetter [CDU/CSU]:
Ihre Frage, bitte!
Herr Kollege Kiesewetter, ich spreche Sie als Solda-
ten an .
Roderich Kiesewetter [CDU/CSU]:
Bin ich nicht mehr! Ich bin außer Dienst .
Ja, das weiß ich . – Ich kenne auch andere Soldaten,
frühere Oberbefehlshaber, Herrn Kujat zum Beispiel,
die, nachdem sie aus dem Militärdienst ausgeschieden
sind, eine sehr kritische Haltung zu dem äußern, was in
Afghanistan passiert und was dort möglich ist . Ich ver-
misse jetzt bei Ihnen, dass Sie als Militär auch einmal
darauf eingehen: Wie stellen Sie sich denn militärisch die
Zukunft in Afghanistan vor?
In den letzten Jahren ist die Zahl der Opfer in Afgha-
nistan immer größer geworden – die Zahl der zivilen Op-
fer, aber auch die Zahl der Opfer in der Armee und in
der afghanischen Polizei . In den letzten Jahren ist es in
Afghanistan immer unsicherer geworden . Wie lange soll
der Bundeswehreinsatz nach Ihrer Meinung jetzt noch
dauern? Man muss als Soldat ja auch ans Ende denken .
Wann kann das zu Ende gehen? Geht es noch 2 Jahre,
noch 14 Jahre oder noch 28 Jahre weiter? Wie lange soll
es noch weitergehen? Dazu erbitte ich von Ihnen eine
Äußerung .
Roderich Kiesewetter
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 14007
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Sagen Sie mir bitte auch: Warum wird eigentlich in
Afghanistan gekämpft? Wir haben in Afghanistan keine
al-Qaida mehr . Ihr galt ursprünglich der Krieg . Wir ha-
ben dort Taliban . Die Taliban haben noch nie Deutsche,
Europäer oder US-Amerikaner außerhalb ihres Landes in
irgendeiner Weise bedroht . Warum wird der Krieg trotz-
dem noch geführt?
Wenn Sie sich so für den Kampf gegen den internatio-
nalen Terrorismus einsetzen, müssen Sie auch zur Kennt-
nis nehmen, dass der internationale Terrorismus in Ge-
stalt des IS in Afghanistan immer stärker wird und eher
die Gefahr besteht, dass der IS eine deutliche Alternative
zu den Taliban in Afghanistan wird . Wie können Sie un-
ter diesen Voraussetzungen den Krieg fortsetzen?
Jetzt erhält Herr Kiesewetter das Wort zu einer kurzen
Antwort auf eine lange Frage .
Nein, ich werde mir schon Zeit nehmen . Die haben
wir ja auch .
Schaun mer mal!
Lieber Herr Kollege Ströbele, zunächst einmal: Ich
hätte mir gewünscht, dass die vielen Generäle, die sich,
zehn Jahre nachdem sie in den Ruhestand versetzt wur-
den, öffentlich äußern, das während ihrer aktiven Dienst-
zeit gemacht hätten .
So viel Zivilcourage gehört dazu .
Zweitens . Ich maße mir nicht an, militärische Vorgän-
ge im Nachhinein zu bewerten . Ich habe mich als alter
Oberstleutnant, kurz bevor ich zum Oberst befördert
wurde, sehr stark dafür eingesetzt, dass wir in Afghanis-
tan geschützte Fahrzeuge bekommen . Seinerzeit haben
viele Offiziere mit ihrer praktischen Erfahrung sehr viel
dazu beigetragen, dass die politische Führung des Ver-
teidigungsministeriums sich für geschützte Fahrzeuge in
Afghanistan einsetzt . Dann gab es einen parlamentari-
schen Prozess, und das Parlament hat dem zugestimmt .
So stelle ich mir eine gute Zusammenarbeit vor . Über
andere Dinge möchte ich hier nicht mutmaßen .
Allerdings möchte ich zu unserem Einsatz sagen: Wir
sind uns, glaube ich, einig, dass die Herbeiführung einer
Lösung in Afghanistan militärisch nur unterstützt wer-
den kann . Die Gesamtlösung muss tatsächlich in einem
Aufbauprojekt unter politischer Begleitung erfolgen . Ge-
nau den Fehler, den wir anfangs in Afghanistan gemacht
haben, nämlich der Öffentlichkeit zu suggerieren, dass
wir Teil eines friedlichen Wiederaufbaus sind, nur weil
wir im ruhigen Norden waren, wiederholen wir nicht bei
der Terrorbekämpfung in Syrien und im Irak und bei der
Stabilisierung des Libanon und Jordaniens, die auf uns
zukommen wird, Herr Kollege Ströbele . Deshalb möchte
ich auch Sie auffordern, anzuerkennen, dass Militär nur
ein Teilinstrument, aber notwendig ist, und dass wir ge-
meinsam an einer übergeordneten Strategie arbeiten .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
abschließend denjenigen danken, die mehr als zehn Jah-
re für eine grundsätzliche Herbeiführung von Stabilität
gekämpft und vielfach mit Leben und Gesundheit dafür
bezahlt haben: unseren Soldatinnen und Soldaten . Es ist
auch unseren Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan
zu verdanken, dass der Terror in bestimmten Regionen
massiv eingedämmt wurde
und dass die Situation in Teilen Nordafghanistans und
auch in anderen Bereichen inzwischen vergleichbar ist
mit Neapel bei Tag .
Wir müssen uns darauf einstellen, dass der Einsatz –
das bezieht sich noch einmal auf die Frage des Kolle-
gen Ströbele – noch viele Jahre dauern wird . Es wäre
ein schlechtes Zeichen, wenn wir das nicht offen anspre-
chen . Es ist Aufgabe dieses Parlaments, jährlich über den
Einsatz zu beraten und ihn zu bewilligen . Aber wir alle
sollten uns bewusst sein, dass manches mehrere Legisla-
turperioden überdauert . Wir werden morgen Gelegenheit
haben, über diese Thematik mit Blick auf Syrien und Irak
noch ausführlich zu beraten .
Die Union jedenfalls steht hinter dem Einsatz . Wir
hoffen, dass die zivilen und auch die sozialen Kräfte in
Afghanistan gestärkt werden, weil Militär für Sicherheit
sorgt .
Herzlichen Dank .
Vielen Dank, Herr Kollege Kiesewetter . – Die nächste
Rednerin: Gabi Weber für die SPD .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen
und Kolleginnen! „Lasst uns jetzt nicht allein!“, so oder
so ähnlich lautet der eindringliche Appell gerade vieler
junger Menschen in Afghanistan, die in ihrem Land blei-
ben und sich in ihrem Land für eine gute Entwicklung
einsetzen .
Die erste Post-Taliban-Generation kommt mittlerwei-
le aus den Schulen und Universitäten . In dem von der
Friedrich-Ebert-Stiftung unterstützten Projekt Young
Leaders Forum wurden seit 2004, also seit elf Jahren,
circa 280 junge Menschen begleitet, die heute in Af-
ghanistan an verantwortlichen Positionen arbeiten bzw .
verantwortliche Menschen beraten . Diese Menschen ap-
pellieren an uns, sie nicht alleine zu lassen, und wir müs-
Hans-Christian Ströbele
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514008
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sen ihnen unsere Unterstützung weiterhin anbieten und
zukommen lassen .
Ohne durch die von der Resolute Support Mission
unterstützten Rahmenbedingungen können sich die pro-
gressiven Kräfte der Gesellschaft in Afghanistan nur sehr
schwer durchsetzen . Auch deshalb steigern wir die Zahl
der einsetzbaren Soldatinnen und Soldaten von 850 auf
bis zu 980 . Entwicklung braucht Sicherheit!
Ich bin dem Kollegen Kiesewetter sehr dankbar für
seinen Hinweis, dass es nicht einfach darum geht, einen
Plan abzuarbeiten, sondern dass es darum geht, zu ana-
lysieren, wo Veränderungen notwendig sind, und genau
an dieser Stelle ziehen wir die richtigen Konsequenzen .
Pessimisten sind immer schnell zur Stelle, wenn es um
Afghanistan geht;
das hören wir von der linken Seite des Raumes immer
wieder . Aber ist Afghanistan wirklich ein Fass ohne Bo-
den?
Nein! Wenn wir überlegen, von welcher Basis aus Af-
ghanistan vor über 35 Jahren gestartet ist, dann können
wir heute konstatieren, dass es eine enorme Entwicklung
gegeben hat . Man muss nur überlegen, von welcher Basis
aus man etwas betrachtet .
Ein Beispiel . Die Nutzung sozialer Medien in Afgha-
nistan steigt spürbar . Für uns ist das etwas völlig Norma-
les; wir ärgern uns manchmal darüber . Für Afghanistan
heißt das, dass es junge Menschen gibt, die in der Lage
sind, die Medien zu handhaben, und diese kann ich nur
handhaben, wenn Bildung voranschreitet . Wenn ich eine
Gesellschaft haben will, in der lebendiger Diskurs und
Meinungsvielfalt vorhanden sind, dann muss ich weiter
in die Bildung investieren . Auch das ist ein Grund, war-
um wir in Afghanistan bleiben müssen .
Wir sind jetzt im Jahr eins nach dem Ende des
ISAF-Einsatzes . Alle haben gewusst, dass dieses Jahr, in
dem die afghanischen Sicherheitskräfte die Verantwor-
tung für ihr Land selbst in die Hand genommen haben,
ein äußerst schwieriges Jahr werden wird . Mit welchen
Schwierigkeiten sie zu kämpfen haben, sehen wir an den
Opferzahlen, auch an den Opfern unter den afghanischen
Sicherheitskräften . Wöchentlich haben Polizei und Mi-
litär viele Verwundete zu beklagen . Das zeigt, woran es
hapert . Es muss eine wesentlich engere Verzahnung der
Arbeit von Zentralregierung, regional Verantwortlichen,
Lokalregierungen und Sicherheitskräften geben . Da be-
steht ein Riesenmanko . An dieser Stelle ist dringend zu
arbeiten .
Die Wahlrechtsreform ist ein weiterer Punkt . Sie
kommt sehr schleppend voran . Die elektronischen Per-
sonalausweise sind noch nicht eingeführt . Hier steht Herr
Ghani, der Präsident Afghanistans, der zurzeit im „Ad-
lon“ ist, in der Verantwortung . Er hat reibungslose Wah-
len als Ziel ausgerufen . An dieser Stelle muss er natürlich
liefern . Ich denke, da muss unser politischer Druck noch
stärker werden .
Was im Zusammenhang mit Afghanistan ganz wichtig
ist, ist die regionale Einbindung . Es muss unbedingt re-
gionale Konferenzen von Afghanistan und seinen Nach-
barn geben . Insbesondere der Iran und Pakistan müssen
einbezogen werden . Der Ausgleich zwischen Pakistan
und Afghanistan ist absolut notwendig, wenn sich Pakis-
tan, ein stillschweigender Unterstützer der Taliban, be-
wegen soll . Dies ist ein weites Feld für die Diplomatie,
auf dem gearbeitet werden muss .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt kommt der
entwicklungspolitische Teil meiner Rede – den werde
ich Ihnen nicht ersparen –: Zusammengerechnet werden
wir nächstes Jahr 580 Millionen Euro in Afghanistan
investieren . Ein großer Teil davon wird für die Regie-
rungsführung sein, für die Wirtschafts- und Beschäf-
tigungsförderung, für die Trinkwasserversorgung und
die Abwasserentsorgung . Aber auch die Sicherung der
Rechtsstaatlichkeit, zum Beispiel durch Unterstützung
bei der Durchführung von Wahlen, ist für uns ein wich-
tiger Punkt .
Mit der Entscheidung, das deutsche Engagement
fortzusetzen, senden wir das deutliche Signal an die
afghanische Bevölkerung und ihre Regierung, dass
Deutschland Afghanistan nicht im Stich lässt . Der Satz
aus Afrika, der von den Taliban genutzt wird: „Die in-
ternationale Gemeinschaft hat die Uhr, aber wir haben
die Zeit“, darf nicht Wirklichkeit werden . Dieses Kalkül
müssen wir durchkreuzen . Auch deshalb ist unser Einsatz
in Afghanistan weiterhin wichtig und richtig .
Vielen Dank .
Vielen Dank, Kollegin Weber . – Letzter Redner
in dieser Debatte: Dr . Reinhard Brandl für die CDU/
CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Für kaum ein anderes Land auf der Welt hat Deutschland
so viel Verantwortung übernommen wie für Afghanistan .
Wir reden heute über einen Einsatz der Bundeswehr . Ge-
rade eben war ich auf der Webseite des BMZ . Man kann
dort über die Projektdatenbank abfragen, wo und wie wir
uns weltweit engagieren . Im Moment laufen in Afghanis-
tan 101 Projekte mit einem Volumen von 1,1 Milliarden
Gabi Weber
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 14009
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Euro . Ich betone das, weil wir den Eindruck haben, dass
in manchen öffentlichen Debatten unser Engagement in
Afghanistan einzig und allein an der Anzahl der Soldatin-
nen und Soldaten gemessen wird . Der Schwerpunkt unse-
res Engagements in Afghanistan – das ist die eigentliche
Herausforderung – liegt im zivilen Bereich . Wir haben
gerade schon einige Beispiele gehört . Die Aussöhnung
mit den Taliban, die guten nachbarschaftlichen Bezie-
hungen mit Pakistan – auf der Konferenz von Paris gab
es in den letzten Tagen Annäherungen –, Fragen der gu-
ten Regierungsführung, der Kampf gegen die Korrupti-
on, die Beschäftigungspolitik, die Wirtschaftspolitik, der
Aufbau von Infrastruktur, Energie, Wasser, Bildung – das
sind die Themen, bei denen Afghanistan vorankommen
muss . Der Kollege Kiesewetter hat dargestellt, wie lang
der Weg Afghanistans ist, bis es das Niveau eines – in
Anführungszeichen – „normalen“ Entwicklungslandes
erreicht .
Der ISAF-Einsatz von 2001 bis 2014 hat die Grund-
lage dafür gelegt, dass diese 101 Projekte heute laufen
können . 2001 gab es dort null Projekte . Unser Engage-
ment dort war quasi nicht vorhanden . Das Land war auf
dem Weg ins Mittelalter . Diesen Weg haben wir gestoppt .
Auch wenn es nur kleine Fortschritte sind, können wir
stolz auf das sein, was wir in den letzten Jahren in Afgha-
nistan erreicht haben .
Wir reden im Moment auch mit Blick auf Afghanis-
tan viel über die Bekämpfung von Fluchtursachen . Dafür
sind zwei Dinge wichtig: Erstens müssen die Menschen
eine wirtschaftliche Perspektive in ihrem Land haben,
und zweitens müssen sie in Sicherheit leben können . Ge-
nau an diesen Punkten arbeiten wir in Afghanistan mit
schwankendem Erfolg .
Dass die Afghanen heute die Sicherheitsverantwor-
tung in ihrem Land haben und selbst wahrnehmen, ist
natürlich ein Erfolg . Der Resolute Support beschränkt
sich nur noch auf die Beratung und Unterstützung höhe-
rer Führungsebenen . Die Afghanen und die afghanischen
Sicherheitskräfte haben gezeigt, dass sie grundsätzlich
in der Lage wären, diese Verantwortung wahrzunehmen .
Leider sind sie an manchen Stellen auch krachend ge-
scheitert .
Die Nachrichten aus Kunduz waren natürlich für vie-
le von uns, die sich seit langem mit diesem Land, mit
diesem Einsatz beschäftigen, ein Stich ins Herz . Auch
den Anstieg der Anzahl der zivilen Opfer haben wir uns
natürlich nicht so gewünscht; das haben wir uns nicht
so vorgestellt . Aber es wäre die falsche Antwort, jetzt
angesichts dieser Lage zu resignieren und zu sagen:
Mein Gott, es hat halt nicht funktioniert, wir lassen das
Land im Stich . – Wir müssen eine gegenteilige Antwort
geben .
Ich bin froh, dass die USA angesichts dieser Rück-
schläge entschieden haben, länger in Afghanistan und
auch mit einer größeren Personalstärke zu bleiben, weil
sie damit die Grundlage dafür legen und die Infrastruktur
dafür stellen, dass auch wir unser Engagement fortfüh-
ren können . Wir weiten unsere Mandatsobergrenze jetzt
leicht von 850 auf 980 aus . Natürlich ändert das nichts .
Es ist eine kleine Anzahl von Soldaten . Aber es hat na-
türlich eine hohe symbolische Wirkung . Die Wirkung ist,
dass wir dem afghanischen Volk demonstrieren, dass wir
nicht auf einem automatischen unumkehrbaren Abbau-
pfad sind, der irgendwann bei null ankommt, sondern
dass wir unser Engagement der Lage anpassen. Ich finde
dieses Signal wichtig .
Das zweite Signal, das wir in diesen Tagen genauso
gut senden müssen, ist, dass wir der afghanischen Re-
gierung sagen: Für diese Leistung, für dieses Entgegen-
kommen der internationalen Koalition erwarten wir im
Gegenzug, dass sie ihren Verpflichtungen, die sie in den
letzten Wochen, Monaten und Jahren der internationalen
Gemeinschaft immer wieder zugesagt hat, zum Beispiel
bei der Frage der Regierungsführung, zum Beispiel im
Umgang innerhalb des Landes mit der Koalition, nach-
kommt .
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, heute ist ein guter Tag, die beiden Signale zu
senden, zum einen hier im Parlament mit der Verlänge-
rung des Mandates und zum anderen in den Gesprächen,
die Präsident Ghani im Moment in Berlin führt . Nutzen
wir diesen Tag, um Signale zu senden .
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
Vielen Dank, Kollege Brandl . – Damit schließe ich die
Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/6743 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sie sind damit ein-
verstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen .
Es geht beim nächsten Tagesordnungspunkt eigentlich
auch um Afghanistan, es könnte also auch die Vorredner
interessieren . Ansonsten bitte ich, den Platzwechsel zü-
gig vorzunehmen .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Luise
Amtsberg, Omid Nouripour, Tom Koenigs, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Schutz für Flüchtlinge aus Afghanistan
Drucksache 18/6774
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Sevim Dağdelen, Frank Tempel, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Dr. Reinhard Brandl
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514010
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(D)
Abschiebestopp und Schutz für Flüchtlinge
aus Afghanistan
Drucksache 18/6869
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat die Kollegin
Luise Amtsberg für Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist tatsächlich ein Zufall, dass wir diese Debatte direkt
im Anschluss an den vorherigen Tagesordnungspunkt,
bei dem es um ein ähnliches Thema ging, führen. Ich fin-
de, das ist sehr günstig – auch wenn es nicht so geplant
war –, weil das wieder einmal verdeutlicht, wie sehr In-
nenpolitik und Außenpolitik miteinander verknüpft sind .
Ich kann einleitend schon festhalten, dass das Bundesin-
nenministerium die nötige Weitsicht scheinbar nicht hat
und zu einem Blick über den Tellerrand wohl nicht in der
Lage ist .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Antrag zum
Schutz afghanischer Flüchtlinge ist eine Reaktion auf
den Plan des Innenministers, Afghanen wieder verstärkt
abzuschieben und die Entscheidungspraxis des Bundes-
amtes für Migration und Flüchtlinge für afghanische
Asylsuchende entsprechend anzupassen .
Damit es allen klar ist: Die Gruppe afghanischer
Schutz suchender ist die zweitgrößte in Deutschland .
Bislang wurden zwangsweise Rückführungen nach Af-
ghanistan zum Glück nur in Einzelfällen durchgeführt .
Aber der Wind hat sich gedreht . Das können am besten
unsere Kolleginnen und Kollegen im Bayerischen Land-
tag berichten . Dort hat der Petitionsausschuss mehrheit-
lich, also auch mit den Stimmen von Kolleginnen und
Kollegen Ihrer Fraktion, für einen sicheren Aufenthalt
von afghanischen Jugendlichen votiert . Dies wurde vom
Innenministerium abgelehnt, weil es in Afghanistan an-
geblich sichere Landesteile gebe,
in die diese Jugendlichen zurückkehren könnten .
Ein weiteres Beispiel ist das eines afghanischen
Flüchtlings, der gerade im Flughafenverfahren in Frank-
furt steckt . Sein Antrag wurde als offensichtlich un-
begründet – offensichtlich unbegründet! – abgelehnt .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist mit der
außenpolitischen Realität in keinem Fall zu vereinbaren .
„Offensichtlich unbegründet“? „Sichere Landestei-
le“? Liebe Kolleginnen und Kollegen, Masar-i-Scharif,
die Hauptstadt der Provinz Balkh, ist laut Bundesregie-
rung sicher, so sicher, dass die deutschen Kräfte der GIZ
in den letzten Wochen wegen der Sicherheitslage abge-
zogen wurden und sich afghanische Ortskräfte wegen der
Bedrohung durch die Taliban kaum noch aus dem Haus
trauen . Die Lage der Paschtunen in der Provinz Balkh ist
dramatisch . Dort, aber auch in Bamiyan sind Paschtunen
nicht willkommen . In Kabul führt die prekäre Sicher-
heitslage zu einer massiven Einschränkung der Bewe-
gungsfreiheit der dort lebenden Menschen . Das sieht im
Übrigen auch das Auswärtige Amt so . Diese Provinzen
sind nicht sicher, und sie bieten auch keine inländische
Fluchtalternative, meine Damen und Herren .
Etwas anderes zu behaupten, ist völliger Unsinn . Es lässt
auch außer Acht, dass man sichere Regionen erst einmal
erreichen muss, sofern es sie denn überhaupt gibt . Das
gilt besonders für die Menschen, die wir dorthin zurück-
schicken .
UNAMA berichtet, dass der Konflikt in diesem Jahr
mehr Opfer unter der Zivilbevölkerung gefordert hat als
in den Vorjahren . Allein zwischen Januar und Juni dieses
Jahres sollen 1 600 Zivilisten getötet und über 3 300 wei-
tere verletzt worden sein . Inzwischen gibt es mehr Opfer
durch Kampfhandlungen am Boden als durch Attenta-
te oder Sprengsätze . Die Zahl der Binnenvertriebenen
stieg weiter, auf 945 000 Menschen bis Mitte 2015; das
ist ein Anstieg von 43 Prozent . Den Grund hierfür sieht
UNAMA in den Bodenkämpfen zwischen regierungs-
treuen und regierungsfeindlichen Gruppen in unmittel-
barer Nähe von Zivilisten . Uns allen muss klar sein: Die
Konfliktparteien sind nicht in der Lage, die Zivilbevölke-
rung zu schützen .
Die Provinz Kunduz, ehemals Standort der Bundes-
wehr in Afghanistan, ist die wichtigste Region für Land-
wirtschaft in Afghanistan . Nachdem die Provinzhaupt-
stadt im September kurzzeitig von Taliban eingenommen
wurde, ist die Situation dort auch nach der Rückerobe-
rung durch die afghanische Armee kritisch . Es wird be-
richtet, dass die Felder von den Taliban vermint wurden .
Den Bauern, die nun zu ihren Feldern zurückkehren wol-
len, droht der Verlust ihrer gesamten Existenzgrundlage .
Auch die Lebensmittelversorgung im gesamten Land hat
sich dadurch noch weiter verschlechtert . Durch steigen-
de Nahrungsmittelpreise ist die Ernährungssicherheit für
viele Afghanen bedroht .
Ich kann nur sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen:
Wenn die Kanzlerin vor diesem Hintergrund gestern in
der gemeinsamen Pressekonferenz mit dem afghanischen
Präsidenten Ashraf Ghani gesagt hat, dass Schutzsuchen-
de vermehrt aus wirtschaftlichen Gründen kommen,
dann wird das der menschenrechtlichen Realität vor Ort
überhaupt nicht gerecht .
Die Menschen – auch solche, die noch einen Job in Af-
ghanistan haben – sind aufgrund der persönlichen Bedro-
hungen so verunsichert, dass sie Schutz in Deutschland
und Europa suchen . Diese Flüchtlinge als vermeintliche
Vizepräsidentin Claudia Roth
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 14011
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Wirtschaftsflüchtlinge zu brandmarken, ist einfach nicht
in Ordnung und zynisch .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich frage Sie ernst-
haft: Wollen Sie es sich wirklich zum politischen Auftrag
machen, Menschen in großem Stil zwangsweise dorthin
zurückzuführen? Ich finde, all das, was ich gerade ge-
sagt habe, ist Argument genug – Stichwort: Sicherheits-
lage – für ein maßvolles und umsichtiges Vorgehen bei
der Bearbeitung von Asylanträgen afghanischer Schutz-
suchender .
Die Gesamtschutzquote für das Herkunftsland Afgha-
nistan lag im dritten Quartal dieses Jahres bei 86,1 Pro-
zent . Es kann also wirklich nicht die Rede von unberech-
tigten Asylanträgen sein .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, von den ge-
planten Abschiebungen könnten 7 000 afghanische
Schutzsuchende betroffen sein . Viele von ihnen sind
in Deutschland seit längerem nur geduldet . Die Recht-
sprechungspraxis hält insbesondere Abschiebungen von
alleinstehenden jungen Männern für möglich, mit dem
Tenor, diese hätten in Kabul die Möglichkeit, wieder Fuß
zu fassen .
Das Resultat ist – das wissen Sie alle hier, und jeder
von uns hat wahrscheinlich durch Gespräche auch einen
persönlichen Bezug zu Flüchtlingen in Deutschland –,
dass junge Afghanen seit vielen Jahren quasi ein Schat-
tendasein in Deutschland fristen – ausgeschlossen von
Deutschkursen und mit der ewigen Angst vor Abschie-
bung . Das ist integrationspolitisch kurzsichtig, mittler-
weile aber auch menschenrechtlich nicht mehr zu ver-
treten .
Meine Fraktion fordert angesichts der Sicherheitsla-
ge in Afghanistan einen Abschiebestopp für afghanische
Staatsangehörige sowie das Einvernehmen des Bundes-
ministeriums des Innern für die Erteilung einer Aufent-
haltserlaubnis nach § 23 Absatz 1 des Aufenthaltsgeset-
zes . Außerdem fordern wir, dass das Bundesamt keine
Asyl- und Flüchtlingsanerkennungen und keinen subsidi-
ären Schutz mit dem Hinweis auf eine angeblich positiv
veränderte Lage oder irgendwelche sicheren Fluchtalter-
nativen widerruft . Die Gründe dafür habe ich vorgetra-
gen .
Dieses Vorhaben, afghanische Geflüchtete nun ver-
mehrt gezielt zurückzuführen, passt nicht zur außenpo-
litischen Situation . Das ist auch aus der vorhergehenden
Debatte deutlich geworden . Es ist und bleibt doppelbö-
dig – dazu müssen Sie sich hier verhalten –, sein militä-
risches Engagement in Afghanistan auf der einen Seite
auszubauen und auf der anderen Seite Flüchtlinge dahin
zurückzuschicken, weil es dort angeblich so sicher ist .
Ich hoffe wirklich, dass Sie dieser Argumentation eine
Minute ihre Aufmerksamkeit schenken und dass Sie sich
ihr öffnen, sodass wir das im Ausschuss ergebnisoffen
beraten .
Herzlichen Dank .
Vielen Dank, Luise Amtsberg . – Nächste Rednerin in
der Debatte: Nina Warken für die CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir sprechen hier heute über zwei Anträge von Linken
und Grünen, die die Lage in Afghanistan, die Situation
von Flüchtlingen aus Afghanistan und die Überlegungen
und Vorschläge der Koalition hierzu zum Inhalt haben .
Ich denke, es ist passend, dass wir das gerade heute tun
können, nachdem die Kanzlerin gestern den afghani-
schen Staatspräsidenten zu Gast hatte .
Dies gibt mir auch die Gelegenheit, die Vorschläge
der Koalition zu den aufgeworfenen Fragen darzustel-
len, und das ist gut so; denn ich glaube, wir befinden uns
derzeit noch immer – das sieht man, wenn man in die
Kommunen blickt – in einer Art Notfallsituation bzw . im
Notfallmodus .
Vielerorts kann die Unterbringung nur in provisori-
schen Unterkünften, wie Turnhallen, erfolgen, und die
Versorgung findet durch Ehrenamtliche statt. Nach wie
vor kommen trotz des Wintereinbruchs täglich Tausende
Menschen zu uns nach Deutschland . Laut der EASY-Sta-
tistik sind in diesem Jahr schon über 129 000 Asylsu-
chende aus Afghanistan zu uns eingereist . Afghanistan
steht somit an zweiter Stelle .
Es ist daher wichtig, dass man über Lösungsansätze
für einzelne Personengruppen, die zu uns kommen, nach-
denkt und dass Maßnahmen ergriffen werden . Das haben
die Parteivorsitzenden von CDU, CSU und SPD in den
Beschlüssen vom 5 . November 2015 getan, und das tun
auch wir als Koalition .
Ein wichtiger Schritt ist, dass in jedem Einzelfall ge-
nau geprüft werden muss, wer schutzbedürftig ist und
wer nicht – auch wenn jemand aus Afghanistan oder Sy-
rien kommt . Nur das ist angesichts der aktuellen Lage
gerecht und vermittelbar .
Genau das, was die Kollegin Amtsberg gesagt hat,
nämlich im Einzelfall maßvoll und umsichtig zu prü-
fen, wollen wir tun . Verbunden damit müssen dann auch
Rückführungen sein, wenn sie im Einzelfall angezeigt
und vertretbar sind . Von pauschalen Abschiebungen
spricht niemand .
Forderungen nach einem pauschalen Abschiebestopp
und einer pauschalen Anerkennung von Asylbewerbern
aus Afghanistan sind weder gerecht noch vermittelbar .
Dennoch verstehe ich die Intention Ihrer Anträge . Wei-
te Teile Ihrer Fraktionen lehnen Abschiebungen generell
Luise Amtsberg
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514012
(C)
(D)
und grundsätzlich ab . Es fehlt Ihnen die Einsicht, dass
Abschiebungen notwendig sind, um Entscheidungen
im Asylverfahren auch durchzusetzen und ein faires
und vermittelbares Asylsystem zu erhalten . Es muss ja
schließlich einen Unterschied machen, ob jemand blei-
ben darf oder nicht .
Ihre Parteikollegen, die in den Kommunen und in den
Ländern politische Verantwortung tragen, wissen das .
Es verwundert daher nicht, dass sie aus dieser grund-
sätzlichen Ablehnung heraus auch die Dinge bezüglich
der Situation der Migranten aus Afghanistan teilweise
einseitig darstellen . So wird pauschal von einer prekären
Sicherheitslage gesprochen, weshalb niemand nach Af-
ghanistan abgeschoben werden könne .
Das trifft keineswegs zu . Vielmehr ist es so, dass die Si-
cherheitslage in Afghanistan von Region zu Region sehr
unterschiedlich ist .
Es ist unbestreitbar: In bestimmten Gebieten – das ha-
ben wir eben auch gehört – ist die Lage sehr gefährlich .
Afghanistan hat in vielen Bereichen Probleme . Aber wie
das Auswärtige Amt schon mehrmals betont hat, gibt es
auch Gebiete, in denen die Situation anders, besser ist,
nämlich dort, wo unterschiedliche Volksgruppen wie
Paschtunen, Usbeken oder andere weitestgehend unter
sich bleiben . Es kommt stets auf den Einzelfall an, ob
eine Rückführung in eine sichere Region möglich ist .
Das und nichts anderes soll angesichts der steigenden
Zahlen von Asylbewerbern aus Afghanistan künftig ge-
nauer geprüft werden .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, eine wei-
tere Tatsache sollten wir in der heutigen Debatte nicht
ausblenden . Deutschland und andere Länder unterstüt-
zen Afghanistan bei der Bewältigung der vorhandenen
Probleme massiv . Allein Deutschland stellt dafür jedes
Jahr Hunderte Millionen Euro als Entwicklungshilfe zur
Verfügung und unterstützt die afghanischen Streitkräfte .
Für 2016 sind das 250 Millionen Euro Entwicklungshil-
fe . Weitere 180 Millionen Euro kommen für den zivilen
Wiederaufbau und 150 Millionen Euro für die nationalen
Sicherheitskräfte hinzu . Die Unterstützungsmission der
Bundeswehr, wodurch vor Ort die Sicherheitskräfte aus-
gebildet werden, wurde auf 980 Soldaten erhöht . Auch
darüber haben wir eben gesprochen .
Insgesamt ist das ein deutliches Signal an die afgha-
nische Regierung und an die afghanische Bevölkerung .
Wir lassen Afghanistan jetzt und auch in Zukunft nicht
im Stich, weder in der Übergangsphase noch beim Wie-
deraufbau . Wir lassen Afghanistan nicht allein . Im Ge-
genzug – da pflichte ich dem Bundesinnenminister voll-
kommen bei – können wir erwarten, dass die Afghanen
selbst und vor allem die Jugend am Wiederaufbau des
Landes mitwirken . Wie wichtig das ist, zeigt eine Kam-
pagne einer Gruppe junger Afghanen mit dem Namen
„Afghanistan needs you“ . Die Initiatoren sagen selbst:
Es kann nicht sein, dass der Wegzug der Jungen das Land
in die Krise stürzt . Die letzten 15 Jahre dürfen nicht um-
sonst gewesen sein .
Es trifft sehr wohl zu, auch wenn die Opposition das
immer wieder bestreitet: Seitdem es den massiven Zu-
strom von Flüchtlingen nach Deutschland gibt und in den
Medien pausenlos darüber berichtet wird, machen sich
immer mehr Menschen aus Afghanistan auf den Weg,
darunter auch viele, die nicht gefährdet sind, die der Mit-
telschicht angehören und für den Wiederaufbau dringend
gebraucht werden . Wie die Bundeskanzlerin und auch
der afghanische Präsident gestern gemeinsam betont ha-
ben, müssen wir gegen diesen Trend der illegalen Migra-
tion vorgehen .
Deutschland wird seiner humanitären Verantwortung
gerecht . Selbstverständlich helfen wir Afghanen, die für
die Bundeswehr oder andere deutsche Einrichtungen ge-
arbeitet haben und deswegen nun in Gefahr sind . Die-
jenigen jedoch, die allein aus wirtschaftlichen Gründen
nach Deutschland kommen, müssen wir nach Afghanis-
tan zurückschicken .
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich in diesem
Zusammenhang einen weiteren Punkt ansprechen . Unse-
re Aufgabe ist es doch auch, die Menschen, die sich zu
uns auf den Weg machen, über alle Folgen der Flucht
aufzuklären . Das hat nichts mit Abschreckung zu tun,
sondern ist ehrlicher und menschlicher, als falsche Hoff-
nungen zu wecken .
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass ein Grund
für die gestiegenen Zahlen von Asylbewerbern aus Af-
ghanistan falsche Gerüchte und Lügen über die Flucht
nach Deutschland sind . Schleuser streuen insbesondere
in den sozialen Medien gezielt Falschinformationen, um
ihr kriminelles Geschäft zu beleben . Dazu gehört etwa
die falsche Behauptung, dass Flüchtlinge in Deutsch-
land sofort eingebürgert werden . Richtigerweise geht das
Auswärtige Amt dagegen mit einer Aufklärungskampa-
gne vor; denn es ist wichtig, die Menschen darüber zu
informieren, was sie auf der Flucht und in Deutschland
erwartet .
Wir müssen verhindern, dass sie mit völlig falschen Er-
wartungen ihre Existenz und ihre Heimat aufgeben . Auch
Staatspräsident Ghani hat gestern betont, seine Landsleu-
te müssten „ein realistisches Bild von Deutschland er-
halten, wo die Straßen mitnichten mit Gold gepflastert
sind“ .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
deshalb noch einmal ganz deutlich sagen: Ein Abschie-
bestopp und eine pauschale Anerkennung für Asylbewer-
ber aus Afghanistan mit mindestens subsidiärem Schutz
wären ein völlig falsches Signal . Ich möchte nicht be-
streiten, dass es in Afghanistan Gegenden gibt, in denen
geschlechtsspezifische Gewalt und die Ausgrenzung von
Frauen oder andere schlimme Dinge geschehen . Doch
das trifft eben nicht bei jedem zu, der nach Deutschland
Nina Warken
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 14013
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kommt . Deswegen brauchen wir genaue und zügige Ein-
zelfallprüfungen sowohl bei der Schutzbedürftigkeit als
auch bei der Rückführung . Falsch wäre auch der Ver-
zicht auf Widerrufsprüfungen durch das Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge, den die Opposition ebenfalls
fordert .
Zu einem gerechten Asylsystem gehört, dass in regel-
mäßigen Abständen überprüft wird, ob die Schutzgründe
im Einzelfall weiterhin vorliegen oder ob eine Rückkehr
unter Würdigung aller Umstände möglich ist . Das ist
nicht mehr und nicht weniger als die Anwendung unseres
geltenden Rechts .
Neben diesen Aspekten müssen wir dazu beitragen,
dass die Menschen in Afghanistan innerstaatliche Flucht-
alternativen haben . Das tun wir bereits durch unser En-
gagement zur Stärkung der afghanischen Sicherheitskräf-
te, durch Entwicklungshilfe und nicht zuletzt auch durch
eine von Deutschland mitinitiierte und vom UNHCR
koordinierte Strategie zur Verbesserung der Situation
von Flüchtlingsrückkehrern und Binnenvertriebenen .
Dazu gehören unter anderem beschäftigungsorientierte
Bildungsprogramme für bis zu 180 000 junge Menschen
sowie Alphabetisierungskurse für Frauen .
Vor diesem Hintergrund ist auch das europäische
Rückübernahmeabkommen mit Afghanistan zu sehen .
Hier geht es um ein geordnetes Verfahren, womit wir
den Menschen eine Möglichkeit geben, in ihre Heimat
zurückzukehren, und wodurch sie die notwendige Un-
terstützung bekommen, dort auch wieder Fuß zu fassen .
Viele andere Länder haben solche Abkommen bereits mit
Afghanistan geschlossen .
Meine Damen und Herren, das ist der Kurs, den wir,
die Union, in Bezug auf Afghanistan verfolgen . Es ist ein
Kurs, der stets die humanitäre Verantwortung Deutsch-
lands, aber genauso auch die Akzeptanz unseres Asylsys-
tems durch unsere Bürgerinnen und Bürger im Blick hat .
Vielen Dank .
Vielen Dank, Kollegin Warken . – Nächste Rednerin in
der Debatte: Ulla Jelpke für die Fraktion Die Linke .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollegin
Warken, ich muss sagen: Das ist einfach zynisch, wenn
man vorher die Debatte verfolgt hat und mitbekommt,
dass der Bundeswehreinsatz verlängert wird, weil die
Lage in Afghanistan unsicher ist,
gleichzeitig aber darüber nachgedacht wird, Massenab-
schiebungen nach Afghanistan vorzunehmen .
Das ist jedenfalls die bisherige Ansage, und Sie haben sie
hier nicht klar dementiert .
Ich will auch deutlich sagen: Der Lagebericht des
Auswärtigen Amtes spricht von relativ sicheren Regio-
nen . Da muss man – zusammengefasst – ganz einfach sa-
gen: Es kann eigentlich nicht schlimmer sein . Deswegen
sagen wir ganz klar: Abschiebungen nach Afghanistan
dürfen nicht stattfinden.
Es ist heute schon gesagt worden: Im ersten Halbjahr
hat es 5 000 Tote und Verletzte in Afghanistan gegeben .
Die Zahl ist seit 2001 die höchste, und die Dunkelziffer
ist wahrscheinlich sehr hoch . Noch nie hat es seit Beginn
des westlichen Interventionskrieges so viele zivile Opfer
gegeben wie heute . Und ausgerechnet in dieser Situation
wird die Abschiebefrage diskutiert . Wir sagen ganz klar:
Nein, es darf keine Abschiebungen geben, weil Afgha-
nistan nicht sicher ist .
Ich habe noch einmal nachgesehen, was Vertreter
der Bundeswehr vor zwei Jahren nach dem Abzug aus
Kunduz erklärt haben . Man sprach ausdrücklich von ei-
ner Erfolgsgeschichte . Die Sicherheit in Kunduz sei nun
gewährleistet . Das war die reinste Schönfärberei . Tat-
sächlich werden die Taliban immer stärker . Erst kürzlich
überrannten sie Kunduz . Das zeigt wirklich: Afghanistan
ist nicht sicher .
Hier ist eben schon über den Zynismus der Bundes-
kanzlerin gesprochen worden, die so tut, als würden die
Flüchtlinge aus Afghanistan nur hierherkommen, weil
sie besser leben wollen . Andererseits verhandelt sie mit
dem Präsidenten aus Afghanistan um sichere Schutzzo-
nen . Ist das nicht ein Eingeständnis Ihrer Kanzlerin, dass
es in Afghanistan nicht sicher ist? Im Übrigen: Auch die
Gebiete, die in Afghanistan von der Regierung kontrol-
liert werden, sind keine alternativen Fluchtziele . 15 Pro-
zent der geschädigten Zivilisten fielen nach UN-Angaben
Übergriffen afghanischer Sicherheitskräfte zum Opfer .
Nach diesem Bericht der UN berichten 35 Prozent, dass
sie durch die Polizei Folter erlitten haben . Das ist für die
Bevölkerung in der Tat kein Schutz, sondern eher eine
Bedrohung . Das Auswärtige Amt hält im aktuellen La-
gebericht fest: Vor allem in den Rängen von Armee und
Polizei ist der sexuelle Missbrauch von Kindern und Ju-
gendlichen in weiten Teilen Afghanistans nach wie vor
ein Problem . Die uniformierten Täter genießen völlige
Straffreiheit .
Da finde ich es eigentlich nur noch zynisch, dass der
Bundesinnenminister vor kurzem gesagt hat, wir hätten
Millionen an Entwicklungshilfe nach Afghanistan ge-
schickt, jetzt sollten die Afghanen gefälligst einmal dank-
bar sein und ihr Land aufbauen, statt zu uns zu fliehen.
Nina Warken
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514014
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Doch Deutschland hat auch Milliarden in den Krieg
gesteckt und will jetzt erneut Soldaten nach Afghanistan
schicken: in einen Krieg, der vielen Menschen nur die
Wahl zwischen Tod und Flucht lässt . Es ist kein Wunder,
dass sich unter den Flüchtlingen aus Afghanistan beson-
ders viele unbegleitete Minderjährige befinden; denn es
sind oft Kinder, die Angst vor Zwangsrekrutierung der
Warlords, der Taliban, aber auch der afghanischen Armee
haben. Deswegen haben wir die verdammte Pflicht, die-
sen Flüchtlingen hier Schutz zu gewähren .
Meine Damen und Herren, selbst dort, wo die afgha-
nische Verfassung Menschenrechte gewährt, ist sie das
Papier nicht wert, auf dem sie steht . Glaubensfreiheit
ist eine völlige Fehlanzeige . Auf die Abkehr vom Islam
steht die Todesstrafe . Homosexuelle können – in Anfüh-
rungsstrichen – „froh“ sein, wenn sie nicht 20 Jahre im
Gefängnis landen . Staatliche Akteure denken überhaupt
nicht daran, Frauenrechte zu schützen . Die Justiz ist kor-
rupt bis zum Gehtnichtmehr . 36 Prozent der Bevölkerung
in Afghanistan leben unterhalb der Armutsgrenze, und
1 Million Kinder sind unterernährt .
Das alles weiß auch das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge . Deswegen liegt die Anerkennungsquote bei
Asylanträgen von Afghanen derzeit auch bei 86 Prozent .
Das lässt nur einen vernünftigen Schluss zu: Es darf
keine Abschiebung nach Afghanistan geben .
Es ist doch völlig absurd, dass afghanische Flüchtlinge
13 Monate lang warten müssen, bis ihr Asylantrag ent-
schieden wird . Sie müssen zumindest von Anfang an das
Recht haben, Integrationskurse zu besuchen und unsere
Sprache zu lernen . Das wird ihnen gegenwärtig verwehrt .
Das ist ein Skandal, meine Damen und Herren .
Die Bundesregierung muss endlich der Realität ins
Auge sehen und damit aufhören, die von Deutschland
mitverschuldete Hölle in Afghanistan schönzureden .
Stimmen Sie den Anträgen von Grünen und Linken zu,
damit die Menschen keine Angst mehr haben! Ich habe
mit vielen Jugendlichen gesprochen, die Angst haben,
abgeschoben zu werden . Deshalb bitte ich Sie: Stimmen
Sie diesen Anträgen zu!
Ich danke Ihnen .
Vielen Dank, Ulla Jelpke . – Nächster Redner:
Sebastian Hartmann für die SPD-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde
es sehr passend, dass die jetzige Debatte direkt an die
Debatte zu dem vorhergehenden Tagesordnungspunkt
anknüpft . Denn wir werden dadurch noch einmal damit
vertraut gemacht, dass Innen- und Außenpolitik untrenn-
bar miteinander verknüpft sind . Wir leiten allerdings un-
terschiedliche Schlüsse daraus ab, Frau Kollegin Jelpke .
Ich werde auf Ihre Position auch eingehen; denn es tut
not, das zu differenzieren .
Zunächst einmal ist es entscheidend, dass es einen
Bericht zur Sicherheitslage in Afghanistan gibt . Wir ha-
ben die unterschiedlichen Entwicklungen über die Jahre
verfolgen müssen . Das sage ich in aller Klarheit, die das
Auswärtige Amt uns auch gibt . Wir, die SPD-Fraktion,
nehmen diese Berichte sehr ernst; denn sie sind auch
die Maßgabe unseres Handelns . Wir nehmen das nicht
nur einfach als regierungsamtliche Dokumentation zur
Kenntnis, sondern daraus ergibt sich auch unsere Posi-
tionierung .
Wir wissen auch, dass sich die Menschenrechtssituati-
on nur sehr, sehr langsam verbessert hat . Aber es gibt ei-
nen Unterschied zu 2001, und auch das muss man einmal
sagen: Deutschland nimmt seine Verantwortung wahr,
auch wenn dies schwieriger wird .
Die Situation von Frauen, die in der Region insgesamt
schwierig ist, ist ebenso wie die Problematik des Innen-
und Justizsystems angesprochen worden . Die humanitä-
re Situation in Afghanistan ist in keiner Weise bestritten
worden . Auch aufgrund dessen hat die vorherige Debatte
stattgefunden und zu einer entsprechenden Entscheidung
der Großen Koalition geführt .
Aber es gibt einen Unterschied je nach Sicherheitslage
in den einzelnen Gebieten Afghanistans, und wir haben
entsprechende Anstrengungen unternommen . Das ma-
chen zum Beispiel die Berichte des BMZ deutlich .
Für uns ist die militärische Option keine ausschließ-
liche und nicht die einzige . Tatsächlich wird sie in eine
gesamtpolitische Strategie eingebettet .
Frau Merkel hat zu Recht gesagt: Deutschland hat sich
dem Wohlergehen aller Afghaninnen und Afghanen ver-
pflichtet. Das haben wir nicht nur hier vor Ort zu tun,
sondern auch in Afghanistan . Daraus leiten wir auch un-
sere internationale Verantwortung ab .
Aber wir belassen es nicht bei einem Lippenbekennt-
nis . Wir bringen auch entsprechende Sicherheitskräfte
zur Ausbildung und kümmern uns darum, dass sich die
Sicherheitslage vor Ort verbessert . Deutschland hat ei-
nen entsprechenden Beitrag geleistet und ist seinen inter-
nationalen Verpflichtungen nachgekommen. Dass über
55 Soldaten der Bundeswehr, die gekämpft und Verant-
wortung übernommen haben, verwundet wurden oder
gefallen sind, spricht eine sehr deutliche Sprache . Auch
das zeigt, was Deutschland hier getan hat .
Ulla Jelpke
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 14015
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Sie haben von Zynismus gesprochen . Tatsächlich sind
Sie inkonsequent . Wenn Sie einerseits gegen ein militäri-
sches Engagement sind und andererseits die Taliban und
die verschärfte Sicherheitslage in Afghanistan als Grund
dafür nennen, dass sich die Flucht verstärkt, dann ist das
in sich inkonsequent; denn entweder tun wir vor Ort et-
was, dass Flucht nicht notwendig ist,
und nehmen unsere internationale Verantwortung wahr,
oder wir machen es uns so einfach wie Sie, die Sie am
Ende der Debatte über den vorangegangenen Tagesord-
nungspunkt gegen ein militärisches Engagement ge-
stimmt haben, um dann anschließend keine Abschiebun-
gen zu fordern, weil Flucht die einzige Möglichkeit ist,
dem Wüten der Taliban oder anderer Terrorgruppen in
Afghanistan zu entkommen . Das bezeichne ich als zy-
nisch, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken .
Wenn Sie das als internationalen Maßstab an jeden Kon-
flikt anlegen, dann würde ich Ihre Position zur Krim
gerne hinterfragen, meine Damen und Herren von der
Linken .
Die Position zu Merkel und Ghani habe ich dargelegt .
Es ist wichtig, dass Deutschland mittlerweile mit einem
souveränen Staat Afghanistan verkehrt und dass wir Ge-
spräche darüber führen, wie wir die Sicherheitslage vor
Ort verbessern können . Wenn Sie sich generell für einen
Abschiebestopp aussprechen, dann bedeutet das, dass
das Asylverfahren gar nicht mehr durchgeführt werden
muss . Aber wir wollen eine Einzelfallprüfung .
– Die Anerkennungsquote spricht dafür, dass es ein ge-
ordnetes, rechtsstaatliches Verfahren gibt . Die geringe
Anzahl derjenigen, die zurückgeführt werden, bedeutet,
dass es keine pauschale Gruppenprüfung gibt und dass
wir entsprechenden Schutz zuweisen .
Reden wir konkret über die Anzahl der Abschie-
bungen . 2010 wurden 16 Abschiebungen, 2011 zwölf
Abschiebungen, 2012 neun Abschiebungen, 2013 acht
Abschiebungen und 2014 ebenfalls neun Abschiebun-
gen vorgenommen . Für uns, die SPD-Fraktion, gibt es
überhaupt keinen Anlass zur Abkehr von der Einzelfall-
prüfung und der Zuerkennung eines besonderen Schut-
zes für einzelne, gefährdete Gruppen, wie sie von den
Grünen und der Linken genannt wurden . Darin besteht
großes Einvernehmen .
Wenn sich die Parteivorsitzenden allerdings auf eine
bestimmte Vereinbarung einigen, dann ist das Ergebnis
durch diese Vereinbarung nicht vorweggenommen . Tat-
sächlich lautet der vollständige Beschluss:
Deutschland wird sich weiterhin an der Stabilisie-
rung von Afghanistan beteiligen, sein finanzielles
Engagement zur Entwicklung des Landes aufrecht-
erhalten und gemeinsam mit den USA und weiteren
Partnern auch sein militärisches Engagement in Af-
ghanistan verlängern .
Das bedeutet gerade nicht Flucht vor der Verantwortung .
Weiter heißt es:
Wir wollen zur Schaffung und Verbesserung inner-
staatlicher Fluchtalternativen beitragen und vor die-
sem Hintergrund
– man muss das im Zusammenhang lesen –
die Entscheidungsgrundlagen des BAMF überarbei-
ten und anpassen . Dies ermöglicht auch eine Inten-
sivierung der Rückführungen .
Aber das eine bedingt das andere . Aus der Sicherheits-
lage vor Ort ergibt sich überhaupt erst eine Änderung der
Rechtspraxis . Umgekehrt wäre das völlig falsch inter-
pretiert . Sie dürfen diese Chimäre nicht aufbauen, liebe
Kolleginnen und Kollegen insbesondere von der Linken .
Wir werden das alles immer unter Berücksichtigung
der Sicherheitslage vor Ort tun . Wir werden die Berich-
te des Auswärtigen Amtes immer als Maßgabe nehmen,
wenn wir zu solchen Punkten kommen . Selbst wenn es
zu einer Einigung zwischen der deutschen Regierung und
Afghanistan kommen sollte und entsprechende Rückfüh-
rungsabkommen geschlossen würden, wie sie übrigens
andere europäische Staaten haben, die weiterhin Asyl-
und Bleibegründe im jeweiligen nationalen oder europä-
ischen Rechtsrahmen kennen, bleibt es uns Parlamenta-
rierinnen und Parlamentariern überlassen, darüber noch
einmal gesondert zu befinden. Aber wir werden aus einer
besonders hohen Anerkennungsquote bei denjenigen, die
zu Recht bleiben können, nicht die Schlussfolgerung zie-
hen, dass ein pauschaler Abschiebestopp notwendig ist;
denn dann kann man sich das ganze Verfahren schenken
und braucht kein Vertrauen in das rechtsförmige Verfah-
ren eines Rechtsstaates zu haben, der Asyl als Grundrecht
für jeden anerkennt, dem dieses nachweisbar zusteht .
Abschließend möchte ich noch zu einem weiteren
Punkt kommen . Wenn man anerkennt, dass die Lage in
Afghanistan schwierig ist und dass sich die Sicherheits-
lage nur sehr mühsam und langsam verbessert, man sich
aber zugleich weigert, internationale Verantwortung da-
durch zu übernehmen, dass man auch einer militärischen
Beistandsverpflichtung nachkommt, dann kann man
es sich nicht so einfach machen und sagen: Wir waren
gegen den Krieg, wir waren gegen ein militärisches En-
gagement und setzen uns deswegen nicht für die Bevöl-
kerung in Afghanistan ein, die Schutz und internationale
Unterstützung braucht .
Denn das bedeutet, dass es dann, wenn man weder für
den militärischen Beistand noch für die Zusammenarbeit
im Entwicklungsbereich ist, nur eine einzige Alternative
für die Menschen in Afghanistan gibt, die fliehen wollen,
Sebastian Hartmann
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514016
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nämlich dass sie ihr Hab und Gut verkaufen, das Wenige,
das sie haben, nehmen, sich in die Hände zumeist krimi-
neller Schleuser begeben und möglicherweise auf dem
Weg hierhin ihr Leben verlieren . Ehrlicher ist es, zu sa-
gen, dass das der Weg nicht sein kann .
Wir sagen sehr deutlich: Wir wollen, dass sich die Si-
cherheitslage vor Ort verbessert, wir wollen dafür sor-
gen, dass es überhaupt keinen Fluchtgrund mehr gibt .
Wer den Abschiebestopp fordert, aber auf der ande-
ren Seite nicht bereit ist, internationale Verantwortung zu
übernehmen, der ist der denkbar schlechteste Anwalt für
die Rechte der Menschen in Afghanistan .
Deswegen sehen wir in aller Ruhe den Verhandlungen
zwischen der deutschen und der afghanischen Regierung
entgegen . Wir wissen, dass dort entsprechende Kenntnis-
se vorliegen . Die Anfragen sind hier im Plenum beant-
wortet worden . Das ist die Grundlage für die weiteren
Beratungen auch im Innenausschuss . Ich sage Ihnen zu,
dass wir, die SPD-Fraktion – ich bin mir sicher, dass das
für die gesamte Große Koalition gilt –, uns die Entschei-
dung nicht einfach machen; denn wir wollen die Sicher-
heit der Menschen vor Ort garantieren, und wir werden
niemanden ohne ein ordentliches rechtsstaatliches Ver-
fahren – Einzelfallprüfung und Rechtsschutz – abschie-
ben .
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit .
Vielen Dank, Kollege Sebastian Hartmann . – Letz-
te Rednerin in dieser Debatte: Andrea Lindholz für die
CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Beide Anträge der Opposition zielen
im Kern darauf ab, jedem afghanischen Asylbewerber
pauschal ein Bleiberecht einzuräumen . Sie begründen
das mit der prekären Sicherheitslage in Afghanistan . Ich
frage mich, warum Sie diese Forderung nur für Afgha-
nistan aufstellen . Genauso gut könnten Sie auch ein pau-
schales Bleiberecht für alle Asylbewerber aus Nigeria
oder Mali fordern .
Schließlich werden auch manche Gebiete in diesen Län-
dern von islamistischen Milizen beherrscht .
Laut dem heute in Berlin vorgestellten UN-Weltbe-
völkerungsbericht leben weltweit 1 Milliarde Menschen
in Konfliktgebieten. Ein pauschales Bleiberecht, wie Sie
es für bestimmte Staatsangehörige fordern, ist unverant-
wortlich .
Deutschland wird dieses Jahr wohl 1 Million Asylbe-
werber aufnehmen . Das sind fünfmal mehr als im Vor-
jahr . Eine der Ursachen ist auch, dass wir für syrische
Flüchtlinge ein pauschales Bleiberecht umgesetzt ha-
ben, das wir jetzt zu einer Einzelfallprüfung hin korri-
gieren müssen . Inzwischen sollte jedem klar sein, dass
Deutschland den Flüchtlingszustrom, den wir in diesem
Jahr erlebt haben, nicht dauerhaft bewältigen kann . Viele
deutsche Kommunen haben längst ihre Belastungsgrenze
erreicht .
Sogar die humanitäre Großmacht Schweden hat in-
zwischen die Notbremse gezogen . Stockholm hat die
Asylrechtsverfahren extrem verschärft und strikte Grenz-
kontrollen eingeführt . Der schwedische Botschafter hat
in dieser Woche hier vor den Europapolitikern der Union
ausdrücklich für ein Umdenken in der Asylpolitik plä-
diert . Schweden kann, so seine Aussage, keine Flüchtlin-
ge mehr aufnehmen . Auch Schweden hat erkannt, dass
man Fehlanreize, die die Menschen dazu veranlassen, zu
uns zu kommen, abschaffen muss .
Ihre Anträge würden die Politik der Fehlanreize fort-
setzen, anstatt sie zu korrigieren . Sie würden weiterhin
falsche Signale aussenden, sie würden Hoffnungen we-
cken, die wir so nicht erfüllen können .
Jeden Monat verlassen Tausende Afghanen ihr Land
und zahlen für die Reise nach Europa bis zu 10 000 Dol-
lar an die Schleusermafia. Mit Ihren Anträgen spielen Sie
auch den kriminellen Schleusern in die Hände .
Es gibt weltweit über 60 Millionen Flüchtlinge . Wir
müssen angesichts dieser Dimension ganz eindeutig klar-
stellen, dass unser Asylrecht – hierum geht es – nur im
begründeten Einzelfall helfen kann .
– Da nützt Ihre Schreierei auch nichts .
Asyl ist und bleibt ein Individualrecht, und es ist kein
Recht, auf das sich ganze Völker berufen können . Des-
wegen fordert weder der Bundesinnenminister noch die
Unionsfraktion, das Asylrecht oder gar die Einzelfallprü-
fung für bestimmte Gruppen aufzuheben . Im Gegenteil:
Wir fordern eine Einzelfallprüfung für alle Asylbewer-
ber, egal ob Afghanen oder Syrer . Wir wollen, dass end-
lich wieder europäisches und nationales Asylrecht konse-
quent angewendet wird .
Das bedeutet im Übrigen, dass Schutzberechtigte natür-
lich bei uns bleiben dürfen und die, die abgelehnt wur-
den, unser Land verlassen müssen .
Sebastian Hartmann
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 14017
(C)
(D)
Ja, die Sicherheitslage in Afghanistan ist schwierig .
Die Bundeswehr unterrichtet den Innenausschuss darü-
ber regelmäßig . Auch der letzte Bericht betont, dass die
Bedrohungslage landesweit sehr unterschiedlich ist . Die
aktuell tagende Innenministerkonferenz ist sich darüber
einig – zumindest sind das die ersten Pressemeldungen –,
dass eine Rückführung in sichere Gebiete Afghanistans
grundsätzlich möglich ist .
Die Sicherheitslage erlaubt dies in einigen Gebieten, und
die Innenministerkonferenz bittet die Bundesregierung
ausdrücklich, die Rahmenbedingungen für Rückführun-
gen und freiwillige Ausreisen durch Absprachen mit der
afghanischen Regierung und dem UNHCR zu verbessern
und auch zu Einzelfallprüfungen zurückzukehren .
An dieser Innenministerkonferenz nehmen meines Wis-
sens nicht nur Innenminister der Union teil .
Deutschland engagiert sich darüber hinaus massiv für
mehr Sicherheit und Stabilität in Afghanistan . Den zi-
vilen Wiederaufbau unterstützen wir mit 430 Millionen
Euro pro Jahr . Deutschland hat die Leitung der EU-Poli-
zeiausbildungsmission übernommen und stellt eines der
größten Kontingente der insgesamt 12 000 Mann starken
NATO-Unterstützungsmission in Afghanistan .
Am Dienstag hat der NATO-Rat beschlossen, den
Truppenabzug weiter zu verzögern und die aktuellen mi-
litärischen Kräfte mindestens bis Ende 2016 im Land zu
belassen . Auch wir werden unser Kontingent aufstocken .
Denn es muss unser Ziel bleiben, dass die Afghanen ei-
genverantwortlich für die Sicherheit ihres Landes sorgen .
Auch das ist eine aktive Bekämpfung von Fluchtursa-
chen .
Die Bewertung, ob eine Abschiebung zulässig ist oder
nicht, obliegt aus gutem Grund nicht uns, sondern in je-
dem Einzelfall der Entscheidung des Bundesamtes für
Migration und Flüchtlinge .
Die Schutzquote für afghanische Bewerber lag bis
Oktober bei rund 45 Prozent . Aktuell sind rund 7 700
Afghanen ausreisepflichtig. Der Kollege von der SPD
hat gerade die Zahlen zur tatsächlichen Abschiebung in
diesem Jahr und in den vergangenen Jahren ausgeführt .
Man sieht daran eben ganz genau, dass wir unserer Ver-
antwortung im Rahmen der Einzelfallentscheidung nach-
kommen und daher auch keine pauschalen Behandlun-
gen einzelner Gruppen beschließen sollten .
Die mangelhafte Durchsetzung der Ausreisepflicht ist
ein strukturelles Problem, das wir aktuell im deutschen
Asylsystem haben . Das Rückübernahmeabkommen der
EU mit Afghanistan, das im Übrigen auch andere Länder
schon abgeschlossen haben, wäre ein weiterer sinnvol-
ler Schritt, der in erster Linie der Durchsetzung unseres
Asylrechts dienen würde .
In unserer Debatte sollte es grundsätzlich nicht darum
gehen, pro oder kontra Flüchtlinge zu argumentieren .
Entscheidend ist die Frage, wie wir unsere begrenz-
ten Mittel einsetzen . Die Wirtschaftsweisen prognos-
tizieren uns, dass die Versorgung der Asylbewerber im
nächsten Jahr bis zu 14,3 Milliarden Euro kosten könn-
te . Das wiederum wäre fast doppelt so viel wie der Etat
des Bundesentwicklungsministeriums . Die Hilfe vor Ort
ist – das weiß wirklich jeder von uns – um ein Vielfaches
effektiver als die Hilfe in Deutschland . Wir müssen da-
her immer wieder schauen, wo und in welchem Umfang
wir Hilfe leisten und worauf wir unseren Fokus richten .
Deutschland engagiert sich deshalb auch in Mali, im Irak
und in Afghanistan .
Bundeswehrsoldaten riskieren ihre körperliche und
seelische Gesundheit nicht nur für ihr Land, sondern vor
allem auch für die Sicherheit der Bevölkerung vor Ort .
Ihnen gebühren heute unser Dank und unsere Anerken-
nung . Ihre Anträge ignorieren diesen Einsatz vollständig .
Wir haben im Tagesordnungspunkt zuvor über eine Ver-
längerung des Einsatzes gesprochen . Insgesamt sind Ihre
Anträge an vielen Stellen nicht zielführend und werden
von uns daher abgelehnt .
Vielen Dank .
Vielen Dank, Frau Kollegin . – Damit schließe ich die
Aussprache .
Ich gehe davon aus, Kollege Bosbach, dass Sie auf
Ihre Zwischenbemerkung verzichten; über ein Unent-
schieden kämen Sie eh nicht hinaus .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/6774 und 18/6869 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen .
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall . Dann
sind die Überweisungen so beschlossen .
Bevor ich den Tagesordnungspunkt 12 aufrufe, möch-
te ich hier bei uns ganz herzlich 20 Weinmajestätinnen
aus dem Weinbaugebiet Rheinhessen begrüßen; Sie er-
kennen sie an den Krönchen .
Ich hoffe, es ist dieses Jahr eine gute Lese gewesen . Au-
ßerdem hoffe ich, diese nicht einfachen Debatten sind
auch für Sie sehr informativ . Schön, dass Sie bei uns sind,
und schön, dass Sie Ihre Krönchen mitgebracht haben!
Ich bitte nun die Innenpolitikerinnen und -politiker,
die an der nächsten Debatte nicht teilnehmen wollen,
Platz für die Außen- und Sicherheitspolitikerinnen und
Andrea Lindholz
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514018
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-politiker zu machen, und ich bitte, die Gespräche ein-
zustellen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte an der NATO-geführten
Operation ACTIVE ENDEAVOUR im Mittel-
meer
Drucksache 18/6742
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Staatsminister Michael Roth für die Bundesregierung .
Guten Abend, liebe Frau Präsidentin! Kolleginnen
und Kollegen!
In diesen Tagen diskutieren wir nicht nur in Deutschland,
sondern in ganz Europa und in der Welt über Solidari-
tät und militärischen Beistand unter Partnern . Die Fra-
ge, ob und wie wir unsere französischen Freunde nach
den brutalen Anschlägen von Paris auch militärisch im
Kampf gegen den Terror unterstützen wollen, beschäftigt
uns diese Woche hier im Deutschen Bundestag ganz be-
sonders intensiv . Fast erscheint es wie ein Déjà-vu; denn
vor 14 Jahren haben wir in diesem Hohen Hause schon
einmal über eine militärische Operation beraten, die eine
unmittelbare Antwort auf den islamistischen Terror war,
nämlich auf die Anschläge vom 11 . September 2001 in
New York und in Washington .
Damals hat die NATO zum ersten und bislang einzi-
gen Mal in ihrer Geschichte den Bündnisfall nach Arti-
kel 5 des NATO-Vertrags ausgerufen . In der Folge wurde
im Oktober 2001 die Operation Active Endeavour ins
Leben gerufen, um durch eine Überwachung des Mittel-
meerraums die Terrorgefahr an der Südflanke der NATO
abzuwehren . Seitdem – Sie wissen das mindestens ge-
nauso gut wie ich – ist diese Operation mehrfach verlän-
gert worden .
Aktuell schätzt die Bundeswehr die terroristische Be-
drohung im Mittelmeerraum als eher abstrakt ein, und es
stellt sich die Frage: Warum brauchen wir die Operation
auch noch im Jahr 2015 und länger?
Dazu möchte ich drei Begründungen formulieren:
Erstens . Wir sollten uns nicht zu sehr in Sicherheit
wiegen . Wie schnell aus einer abstrakten Bedrohung ein
konkreter Anschlag werden kann, das haben wir zuletzt
auf ganz dramatische Weise erlebt . Nicht nur in Paris,
auch in Tunesien, in Ägypten, im Libanon und in der
Türkei sind Hunderte Menschen dem islamistischen Ter-
ror zum Opfer gefallen . Nicht nur die Anschlagsziele lie-
gen in Ländern, die unmittelbar an das Mittelmeer gren-
zen . Das gilt ebenso für die Gebiete, in denen Terroristen
rekrutiert und ausgebildet werden .
Die Gefahren des internationalen Terrorismus für unsere
europäischen Gesellschaften sind heute so präsent wie
vermutlich selten seit 2001 .
Zweitens . Die Sicherheitslage im Mittelmeer ist seit
2001 vielschichtiger, ich könnte auch sagen, kompli-
zierter geworden . Organisierte Kriminalität, Schlep-
per, Schleuser sowie eine zunehmende und nur schwer
zu berechnende Präsenz Russlands im Mittelmeer sind
Entwicklungen, über die wir uns ein umfassendes Bild
verschaffen müssen, auch um uns notfalls vor daraus er-
wachsenden Gefahren zu schützen .
Drittens . Der internationale Terrorismus bedroht –
auch das dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren – nicht
nur unsere Sicherheit, sondern auch eine der wichtigsten
Lebensadern unseres wirtschaftlichen Wohlstands .
Das Mittelmeer hat für Deutschland als Transport- und
Handelsweg eine überragende Bedeutung . 300 Millio-
nen Tonnen Fracht wurden allein 2014 auf dem Seeweg
aus und nach Deutschland importiert und exportiert . Der
größte Teil der Handelsrouten nach Asien verläuft eben
durch das Mittelmeer . Wir sind also auch im Mittelmeer
wirtschaftlich verwundbar .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, all diese Punkte
verdeutlichen: Es gibt auch heute noch nachvollziehbare,
gute Gründe, die Operation Active Endeavour fortzuset-
zen .
Klar ist aber auch – darüber sollten wir reden, und da-
rüber reden wir ja auch schon seit längerem –: Die Opera-
tion muss inhaltlich und konzeptionell weiterentwickelt
werden, und sie muss sich den veränderten Anforderun-
gen anpassen . Denn die ursprüngliche Ausrichtung der
Operation aus dem Jahr 2001 wird der Einsatzrealität
nicht mehr gerecht . Heute benötigen wir ein viel breite-
res Einsatzprofil, um die vielschichtigen Risiken und die
Vizepräsidentin Claudia Roth
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 14019
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Bedrohungen im Mittelmeer noch stärker in den Blick
nehmen zu können .
Das heißt also: weg vom robusten Mandat der An-
fangszeit hin zu einer breitaufgestellten Lagebilderstel-
lung und der Schaffung einer Plattform zur Zusammen-
arbeit vor allem mit den südlichen Anrainerstaaten des
Mittelmeeres und anderen Nationen, die sich an dieser
Operation beteiligen .
Ein weiteres Gravamen – darüber haben wir auch
intensiv mit Ihnen gesprochen – ist die Rechtsgrundla-
ge, die seit 2001 gilt . Diese beruht immer noch auf dem
NATO-Bündnisfall nach Artikel 5 des NATO-Vertrages .
Das ist 14 Jahre nach den Terroranschlägen in den USA
schlicht und ergreifend nicht mehr zeitgemäß .
Deshalb setzt sich die Bundesregierung seit mehreren
Jahren dafür ein, das Einsatzprofil zeitgemäß auszuge-
stalten und die Operation von Artikel 5 des NATO-Ver-
trags zu entkoppeln .
Bundesaußenminister Steinmeier und Bundesverteidi-
gungsministerin von der Leyen haben diesen Prozess im
Februar 2014 angestoßen . Wir haben uns dazu mit dem
NATO-Generalsekretär in Verbindung gesetzt . Seitdem
haben wir in Brüssel und in den Hauptstädten unserer
NATO-Partner intensive Überzeugungsarbeit geleistet .
Wir werben dafür, die Operation in eine maritime Sicher-
heitsoperation der NATO umzuwandeln .
Diese soll sich dem spezifischen Bedarf im Mittelmeer
anpassen . Sie muss für jedes Aufgabenfeld auf einer soli-
den rechtlichen Grundlage stehen .
Dafür bietet sich die maritime Strategie der NATO
aus dem Jahr 2011 an . Diese beruht auf insgesamt sieben
Sicherheitsaufgaben . Diese sieben Aufgaben der soge-
nannten maritimen Sicherheitsstrategie sind nicht glei-
chermaßen relevant für das Mittelmeer . Deshalb sollte
das künftige Operationsprofil eine Auswahl vornehmen:
zwischen aktiv wahrzunehmenden Aufgaben einerseits
und ruhenden Aufgaben andererseits . Letztere sind nur
bei nachvollziehbarer und konkreter Notwendigkeit ein-
zeln durch einen Beschluss aller 28 NATO-Mitglieder zu
aktivieren .
Sie haben mich vorhin danach gefragt, Herr Kollege
Gehrcke: Unsere Bemühungen waren erfolgreich . Am
3 . Juli 2015 haben die NATO-Bündnispartner einver-
nehmlich die Umwandlung der Operation im Grundsatz
beschlossen . Die Umsetzung dieses Kompromisses, der
auch die Entkopplung von Artikel 5 des NATO-Vertrags
vorsieht, ist damit auf einem guten Weg . Nun müssen
wir noch einen neuen Operationsplan erstellen . Das soll
bis zum NATO-Gipfel in Warschau am 8 . und 9 . Juli des
nächsten Jahres gelingen .
Um diese Arbeiten abschließen zu können, bitten wir
Sie um Zustimmung zur Fortsetzung der deutschen Be-
teiligung unter unveränderten Bedingungen . Wir wer-
den aber die Laufzeit dieses Mandates bis zum 15 . Juli
2016 begrenzen . Damit signalisieren wir gegenüber dem
Bündnis, aber auch Ihnen gegenüber die ganz klare Er-
wartung: Die Umwandlung der Operation muss bis zum
NATO-Gipfel in Warschau im Juli abgeschlossen sein .
Wenn das geschehen ist, werden wir uns erneut mit ei-
nem Mandatsantrag an den Bundestag wenden . Bis dahin
bitte ich Sie um Unterstützung .
Vielen Dank .
Vielen Dank, Michael Roth . – Nächster Redner in der
Debatte: Dr . Alexander Neu für die Linke .
Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Ich möchte drei Anmerkungen zu den Aus-
landseinsätzen der Bundeswehr machen .
Erste Anmerkung . Bundeswehreinsätze wollen ein-
fach nicht enden . Sie fangen an, aber sie hören nicht
mehr auf .
Die Antiterroroperation Operation Active Endeavour im
Mittelmeer ist ein anschauliches Beispiel für einen Mili-
täreinsatz ohne Beendigungsperspektive, obschon nicht
einmal eine konkrete Bedrohung vorliegt . Man rutscht
offensichtlich immer viel schneller in einen Einsatz hi-
nein, als man wieder herauskommt oder herauskommen
will . Beispiele: Operation Active Endeavour im Mittel-
meer, angefangen im Oktober 2001 . 14 Jahre später re-
den wir immer noch darüber, dass diese Mission faktisch
nicht beendet wird, und es ist auch nicht gewollt, dass sie
beendet wird .
Kosovo: 16 Jahre . Afghanistan: 14 Jahre . Der Afghanis-
tan-Einsatz sollte ursprünglich 2016 beendet werden . Es
gab einen neuen Missionsnamen: Resolute Support stand
für die Beendigungsphase . Stattdessen hören wir nun:
Nein, wir setzen das fort – mit sogar noch mehr Soldatin-
nen und Soldaten . Außerdem bekommt man seitens der
Bundesregierung immer dieselben Durchhaltephrasen
zu hören. Eine Lösung des Konflikts ist nicht erkennbar.
Stattdessen ist immer das gleiche Argument vernehmbar .
Sie hätten die Rede, die Sie gerade hier gehalten haben,
Staatsminister Michael Roth
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514020
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Herr Roth, auch vor zehn Jahren halten können . Da wäre
inhaltlich kaum ein Unterschied gewesen .
All dies beweist: Militärische Einsätze lösen keine Kon-
flikte, sondern vertiefen sie.
Die Phrasendrescherei ist einfach nicht zu übersehen;
da kann die PR-Abteilung der Bundesregierung sich
noch so abstrampeln und von erfolgreichen Friedensmis-
sionen schwafeln .
Zweite Anmerkung . Das Argument der „abstrakten
Bedrohung“ – ich habe mir das einmal durch den Kopf
gehen lassen, auch einmal die Bundesregierung befragt,
was das heißt – ist nichts anderes als ein Legitimations-
rahmen für Großmachtdenken . Bis heute gibt es keine
konkrete Bedrohung im Mittelmeer und keinen konkre-
ten Vorfall, nur eine – ich zitiere – „als abstrakt zu bewer-
tende terroristische Bedrohungssituation“, so die Bun-
desregierung in ihrem Antrag . Die Argumentation der
„abstrakten Bedrohung“ ist nichts anderes, sehr geehrte
Damen und Herren, als ein Blankoscheck für militärische
Einsätze, die das Ziel verfolgen, eine räumlich und zeit-
lich unbegrenzte Kontrolle und Sicherung geografischer
Räume zu leisten . Die Bundesregierung räumt das ja so-
gar ein . Sie räumt den globalen Einsatz- und Kontrollan-
spruch ein . In der Antwort, die die Bundesregierung auf
eine Kleine Anfrage der Linksfraktion im Januar 2015
gegeben hat, sagt sie – ich zitiere –:
Abstrakte Bedrohungen lassen sich geografisch
nicht eindeutig einzelnen Regionen zuordnen . Viel-
mehr können „abstrakte Bedrohungen“ aufgrund
der fortgeschrittenen Globalisierung grundsätzlich
in vielen Teilen der Welt bestehen .
Also: Es gibt keine Grenzen, „abstrakte Bedrohung“ ist
global, und wir müssen entsprechend reagieren .
Die Argumentation der „abstrakten Bedrohung“ ist
auch ein Blankoscheck für eine sich selbst ermächti-
gende weltweite Ordnungsmacht . Auch das bestätigt die
Bundesregierung, und zwar im Antragstext . Hier heißt es,
die „Präsenz der Einsatzverbände“ sei ein „präventiver
Ordnungsfaktor“ . Mit anderen Worten: Zwar sprachlich
beschönigt, erklärt die Bundesregierung ihr Bestreben,
überall militärisch mitwirken zu wollen – natürlich im
Rahmen der NATO, natürlich im Rahmen der Europä-
ischen Union, ganz klar; das sind die Vehikel, mit de-
nen man fährt –, aber letztendlich ist man dabei als eine
Großmacht – in der Hoffnung, es zu sein .
Dritte Anmerkung . Sie haben gerade erwähnt, Herr
Roth, dass der Bündnisfall zum Thema „Operation Ac-
tive Endeavour“ wahrscheinlich im Sommer aufgehoben
wird . Ich sage Ihnen: Darüber kann man sich freuen; das
ist gar keine Frage . Aber dieser Bündnisfall hätte niemals
ausgerufen werden dürfen .
Denn was 2001 in New York passiert ist, war ein terro-
ristischer Anschlag und kein militärischer Angriff . Aber
statt aus den Fehlern zu lernen, machen Sie 14 Jahre spä-
ter genau den gleichen Fehler . In dieser Woche reden wir
genau darüber . Infolge der Anschläge in Paris reden Sie
erneut von einem Angriff und von einem Bündnisfall ge-
mäß Artikel 42 EUV .
Obschon Artikel 5 des NATO-Vertrages vermutlich
demnächst aufgehoben wird, kann man nicht davon aus-
gehen, dass die Mission zum Ende kommt . Da hat man
die Rechnung ohne den Wirt, ohne die NATO, gemacht .
Im Gegenteil: Wir machen weiter . Das heißt dann „Ma-
ritime Sicherheitsoperation“ im Rahmen der „Maritimen
Strategie der NATO“ . Was heißt maritime Sicherheit der
NATO? Die Antwort steht im Text: Sicherung maritimer
Seewege mit allen denkbaren Mitteln außerhalb des ei-
genen Hoheitsgebietes . – Das lehnen die Linke und, ich
glaube, auch die Mehrheit der Menschen in diesem Land
ab .
Danke .
Danke, Kollege Neu . – Nächster Redner: Roderich
Kiesewetter für die CDU/CSU-Fraktion .
Keine schlechte Alternative .
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mein Vorred-
ner hat gerade behauptet, nie würde ein Bundeswehr-
einsatz zu Ende gebracht, immer würden die Einsätze
verlängert . Drei Gegenbeispiele – ich glaube, es war eher
Absicht als Unwissen, diese unerwähnt zu lassen –: 2006
wurde der Bundeswehreinsatz im Kongo beendet, 2012
der Einsatz der Bundeswehr in Bosnien bei Althea und in
diesem Jahr der Einsatz Active Fence mit Patriot in der
Türkei . Das sind drei Beispiele, wo der Bundestag in der
Lage war, einen Einsatz zu beenden . Das steht Ihrer Aus-
sage eindeutig entgegen, lieber Herr Kollege Neu .
Staatsminister Roth hat eben sehr klar geschildert,
wie die Zukunft des Einsatzes Active Endeavour ausse-
hen soll . Die NATO fußt auf drei Säulen: Das ist erstens
die kollektive Verteidigung – das war die Ursache für die
Operation, über die wir heute beraten –, das sind zwei-
tens Konsultationen – das macht die NATO, wenn krisen-
hafte Herausforderungen kommen –, und das ist drittens
Kooperation .
Dr. Alexander S. Neu
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 14021
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Bis zur Ukraine-Krise und der Besetzung der Krim
hat die NATO sehr großen Wert auf Kooperation und
die Verständigung mit Partnern gelegt . Die Operation
Active Endeavour bietet die große Chance, dass wir in
der NATO als Deutsche wieder Einfluss nehmen und das
Thema Kooperation in den Vordergrund stellen . Das ist
gerade im Mittelmeerraum von größter Bedeutung .
In Zeiten, wo der internationale Terror um sich greift
und der IS versucht, auch mit Bodentruppen in einen
Krieg zu ziehen, kommt es darauf an, dass wir uns mit
allen zur Verfügung stehenden sicherheitspolitischen In-
strumenten um die Nachbarn in der Peripherie Europas
kümmern . Im Mittelmeer – das wurde vorhin angedeu-
tet – findet der wesentliche Waren- und Güterexport und
-import der Europäischen Union statt . 80 Prozent der see-
gehandelten Güter kommen über das Mittelmeer . Des-
halb hat sich die Operation Active Endeavour in den letz-
ten zwölf Jahren in eine etwas andere Mission gewandelt .
Der ursprüngliche Grund der Terrorbekämpfung ist zur
Seite getreten, und die Operation Active Endeavour ist
eine Mission geworden, die sich vorrangig um die Lage-
bildgewinnung und um die maritime Sicherheit im Mit-
telmeer gekümmert hat .
Gerade die Weiterentwicklung der Operation hat uns
in der Bundesrepublik Deutschland dazu gebracht, diese
Operation entsprechend weiterzuentwickeln . Wir sind als
Parlamentarier sehr froh, dass auch die Bundesregierung
den Vorschlag aus dem Jahre 2012, der einst aus dem
Parlament kam, aufgreift, den Artikel 5 zu entkoppeln,
und den Schwerpunkt auf kooperative Maßnahmen legt .
Worum geht es dabei? Es geht schlichtweg darum, dass
Mittelmeeranrainerstaaten im nördlichen Afrika wie Tu-
nesien, Marokko oder auch Länder wie Libanon an dem
gemeinsamen Lagebild partizipieren sollen und an den
Einsatzverfahren, wie sie die NATO hat, teilhaben sol-
len . Auch Russland hat schon in der Durchfahrt durch das
Mittelmeer zum Roten Meer mit einem Schiffsverband
an der Operation Active Endeavour teilgenommen . Das
war vor der Ukraine-Krise .
Ich sehe also eindeutig, dass die Mission Active En-
deavour zu einer Plattform der Zusammenarbeit, der
Verständigung mit arabischen, mit afrikanischen Staa-
ten führen kann und wir gemeinsam in eine Sicherheits-
kooperation kommen, die wir als Zeichen der Verständi-
gung von Warschau, wo im Juli kommenden Jahres der
NATO-Gipfel stattfindet, ausgeben könnten.
Das muss doch unser Ziel sein: dass die NATO in der
Lage ist, einerseits zu stabilisieren, auf Terror zu antwor-
ten, sich weltweit in Einsätzen zu bewähren, andererseits
aber auch die Hand zur Kooperation zu reichen, wenn sie
feststellt, dass bestimmte Operationen überlebt sind . Sie
einfach aufzugeben, hielte ich für falsch, weil Nachbar-
staaten der EU und der NATO Zugang zu diesem Koope-
rationsmechanismus gefunden haben .
Warum sollten wir nicht aus der Not eine Tugend
machen und zeigen, dass zur Schaffung von Sicherheit
viel mehr gehört als nur Abschreckung, dass die Schaf-
fung von Sicherheit viel stärker auf Kooperation und
Zusammenarbeit, auf gegenseitige Verständigung, auf
Austausch von Verbindungsoffizieren, auf Austausch
hinsichtlich der Einsatzverfahren ausgerichtet sein muss?
Das würde letztlich dazu dienen, das Mittelmeer sicherer
zu machen, den Schleusern und anderen ihre Grenzen
aufzuzeigen und die maritime Sicherheit, beispielsweise
mit Blick auf die Flüchtlingshilfe, zu erhöhen .
In diesem Verständnis möchten wir als CDU/
CSU-Bundestagsfraktion die Bundesregierung ermuti-
gen, eine Fortentwicklung der Operation Active Endea-
vour zu erreichen . In diesem Sinne bitte ich Sie um Un-
terstützung für das Mandat .
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
Vielen Dank, Kollege Kiesewetter . – Der nächste Red-
ner ist Dr . Tobias Lindner für Bündnis 90/Die Grünen .
Geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Wohl jeder von uns weiß noch, wo er am 11 . Septem-
ber 2001 war, als die schrecklichen Bilder über die Fern-
sehmonitore kamen . Ich will für mich persönlich sagen:
Es mag individuell nachvollziehbar sein, dass die NATO
kurz danach den Bündnisfall nach Artikel 5 des Nordat-
lantikvertrags festgestellt hat; aber ich habe heute, mit ei-
ner gewissen zeitlichen Distanz, deutliche Zweifel daran,
dass es wirklich die richtige Entscheidung war . Ich will
hinzufügen: dass heute, mit diesem zeitlichen Abstand,
der Bündnisfall nach Artikel 5 immer noch nicht aufge-
hoben ist, ist schlichtweg anachronistisch .
Dass wir hier alle Jahre wieder über Bundeswehrman-
date reden, ist gut und vernünftig . Aber, Herr Staatsminis-
ter, meine Damen und Herren von der Bundesregierung,
dass Sie uns nun zum wiederholten Male im Jahrestur-
nus ein Mandat mit einer anachronistischen Begründung
vorlegen, ist alles andere als vernünftig . Sie schreiben
ja selbst in der Begründung des Mandats, dass Sie die
Einsatzgrundlage für überholt halten . Sie schreiben, dass
sowohl die ursprüngliche Ausrichtung der Mission nach
Auffassung der Bundesregierung der Einsatzrealität nicht
mehr gerecht wird als auch die Kopplung an Artikel 5 des
Nordatlantikvertrages nicht sinnvoll ist .
Außenminister Steinmeier hat bei der letzten Beratung
des Mandates hier in diesem Hohen Haus gesagt – ich
zitiere wörtlich –:
Der Bündnisfall kann heute, mehr als zwölf Jahre
nach 9/11, nicht mehr dauerhaft tragfähige Rechts-
grundlage sein …
Dieser Auffassung schließen wir uns an .
Jetzt haben Sie angekündigt, dass Sie das Mandat auf
ein halbes Jahr beschränken wollen, dass sich die Bun-
desregierung für die Entkopplung des Mandats von Arti-
kel 5 einsetzt . Das tun Sie seit mehreren Jahren und holen
Roderich Kiesewetter
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514022
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sich dabei in verschiedenen europäischen Hauptstädten
regelmäßig Abfuhren ab, was schade ist .
Aber wenn sich die Hoffnung, dass es vorangeht, im
Sommer tatsächlich erfüllt und es zu einer Entkopplung
des Mandats kommt, dann ist das ein Ergebnis, das wir
nicht bedauern, sondern begrüßen . Nur muss man dann
immer noch fragen, ob das entkoppelte Mandat in sich
eine vernünftige Lösung für die Herausforderungen hin-
sichtlich der Sicherheitssituation im Mittelmeerraum ist .
Sie haben es selbst gesagt: Das, was heute im Rahmen
des Mandats stattfindet – Lagebildgenerierung, Seeraum-
überwachung –, sind Routineaufgaben, die die NATO im
Normalfall sowieso durchführt .
Kollege Kiesewetter, Sie erwähnen, was man alles un-
terhalb von Einsätzen tun kann, wie man diesen Raum
mit Kooperationen, Austausch und anderen Maßnahmen
sicherer gestalten kann . Da klingt für mich persönlich ei-
niges durchaus sympathisch; man kann in eine Diskussi-
on darüber eintreten . Nur, brauchen wir dann zwingend
ein solches Mandat dafür? Warum führen wir dieses
Mandat nicht wirklich auf die Routineaufgaben zurück?
Warum beenden wir nicht gar dieses Mandat, liebe Kol-
leginnen und Kollegen?
Ein letzter Punkt . Artikel 5 des Nordatlantikvertra-
ges zwingt uns nicht zum Handeln . Auch wenn immer
wieder so getan wird: Es gibt hier keinen Automatismus .
Nachdem alle Redner in dieser Debatte unsere Auffas-
sung teilen, dass der Artikel-5-Fall als Grundlage für
dieses Mandat nicht mehr zeitgemäß ist, würde ich mich
freuen, wenn auch Sie sich unserer Auffassung anschlie-
ßen könnten .
Das vorliegende Mandat ist nicht mehr zeitgemäß,
nicht einmal seine Begründung . Alle Jahre wieder legen
Sie uns das Mandat mit einer anachronistischen Begrün-
dung vor . Aber wie in den Vorjahren wird meine Fraktion
dafür werben, das Mandat abzulehnen .
Ich danke Ihnen .
Vielen Dank, Kollege Lindner . – Letzte Rednerin in
der Debatte: Julia Obermeier für die CSU/CDU-Frakti-
on .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sucht man im Internet nach dem Stichwort
„Mittelmeer“, bekommt man hauptsächlich Informa-
tionen zu zwei Themen: zu den Hunderttausenden von
Flüchtlingen, die über diese gefährliche Route ihren Weg
nach Europa suchen, und zu Urlaubsangeboten aus der
Region . Größer könnte der Kontrast kaum sein .
Was dabei allerdings in den Hintergrund gerät, ist: Das
Mittelmeer ist eine der Hauptschlagadern des weltwei-
ten Handels . Es ist sowohl für den innereuropäischen als
auch für den transatlantischen Handel von vitaler Bedeu-
tung . Rund ein Drittel aller über See verschifften Güter
und ein Viertel aller Öltransporte weltweit werden über
das Mittelmeer geleitet . 200 000 Handelsschiffe durch-
kreuzen jedes Jahr das Mittelmeer . Für Deutschland als
Exportnation sind sichere Seewege von großer Bedeu-
tung .
Die möglichen Bedrohungen im Mittelmeer sind
vielfältig angesichts der Schmuggler- und Fluchtrouten,
der Instabilität in Syrien und in weiten Teilen Nordaf-
rikas sowie der erhöhten Präsenz Russlands . Die Be-
teiligung der Bundeswehr an der Mittelmeer-Operation
Active Endeavour folgt dementsprechend den deutschen
Sicherheitsinteressen . Seit die USA vor 14 Jahren den
NATO-Bündnisfall in Verbindung mit den Anschlägen
vom 11 . September ausgerufen haben, beteiligt sich die
Bundeswehr an OAE . Deutschland ist hier ein wichtiger
Truppensteller .
Ursprünglich sollte die Mission einen aktiven Beitrag
zur maritimen Terrorismusabwehr leisten . Allerdings hat
der Einsatz mittlerweile hauptsächlich die Funktion, ein
umfassendes Lagebild für den gesamten Mittelmeerraum
zu erstellen und den Seeraum zu überwachen . Die Opera-
tion stellt durch die Einsatzverbände einen bedeutenden
Ordnungsfaktor im Mittelmeer dar und hat eine wichtige,
vertrauensbildende Frühwarnfunktion .
Aufgrund der sich verändernden Einsatzrealität be-
müht sich die Bundesregierung seit Jahren darum, den
NATO-geführten Einsatz auf eine neue rechtliche Grund-
lage zu stellen . Wir verfolgen das Ziel, die Mission von
Artikel 5 des NATO-Vertrages zu entkoppeln . Die Ope-
ration Active Endeavour soll in einem neuen Rahmen
fort- und weiterentwickelt werden . Das braucht aber Zeit,
und zwar leider mehr Zeit, als wir erwartet hatten .
Das Auswärtige Amt und das Bundesministerium für
Verteidigung haben auf allen Ebenen intensiv für die-
se Entkopplung geworben . Mittlerweile haben sich die
28 Alliierten grundsätzlich darauf geeinigt, und zwar
am 3 . Juli 2015 . Nun soll der Auftrag von OAE bis zum
nächsten NATO-Gipfel in Warschau am 8 . und 9 . Juli
2016 neu ausgestaltet werden . Deshalb ist die Dauer des
Mandats auch bis zum 15 . Juli 2016 verkürzt . Sie sehen
also: Wir meinen es sehr ernst mit der Überführung in
eine nicht auf Artikel 5 gestützte Mission .
Ein übereilter, plötzlicher Ausstieg aus OAE, wie ihn
die Kolleginnen und Kollegen der Opposition fordern, ist
daher unnötig und wäre das falsche Signal zum falschen
Zeitpunkt .
Bedenken Sie: Das Mandat hat einen besonderen
Symbolcharakter . Es basiert auf dem ersten und bisher
einzigen Artikel-5-Fall in der Geschichte der NATO . Ge-
rade in diesen geopolitisch unsicheren Zeiten in diesen
sicherheitspolitisch unruhigen Fahrwassern, dürfen wir
Dr. Tobias Lindner
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 14023
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unseren Bündnispartner nicht vor den Kopf stoßen, in-
dem wir das Mandat plötzlich auslaufen lassen .
Mit der Verlängerung senden wir ein klares Signal des
Zusammenhalts und der Verlässlichkeit: Deutschland
trägt Verantwortung, und Deutschland steht zu seiner
Bündnistreue .
Aber mit der Befristung bis zum Sommer 2016 signali-
sieren wir auch: Wir wollen eine Entkopplung von Arti-
kel 5 .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es gibt somit
drei gute Gründe für die verkürzte Fortführung der Ope-
ration Active Endeavour: mehr Sicherheit im Mittelmeer,
die absehbare Überführung von OAE in eine nicht auf
Artikel 5 gestützte Mission bis zum 15 . Juli 2016 und
ein Signal der Bündnistreue . Daher unterstützen wir den
Antrag der Bundesregierung .
Vielen Dank .
Vielen Dank . – Damit schließe ich die Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/6742 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung
so beschlossen .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörn
Wunderlich, Cornelia Möhring, Sigrid Hupach,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Lebenssituation von Alleinerziehenden deut-
lich verbessern
Drucksache 18/6651
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend zu dem An-
trag der Abgeordneten Jörn Wunderlich, Halina
Wawzyniak, Diana Golze, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Alleinerziehende entlasten – Unterhaltsvor-
schuss ausbauen
Drucksachen 18/983, 18/6902
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . Gibt es dazu
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall . Dann ist das so
beschlossen .
Ich kann die Aussprache eröffnen, sobald die Kolle-
ginnen und Kollegen ihre Plätze eingenommen haben .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat als erster
Redner Jörn Wunderlich von der Fraktion Die Linke .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir behandeln heute zwei Anträge meiner Fraktion, ei-
nen Antrag zum Unterhaltsvorschuss abschließend und
einen Antrag, in dem es um den Unterhaltsvorschuss und
weitere Maßnahmen zur Entlastung von Alleinerziehen-
den geht, in erster Lesung; dieser wird an die Ausschüsse
überwiesen .
Ich will mich aufgrund der Kürze der mir zur Verfü-
gung stehenden Zeit auf einen wesentlichen Punkt be-
schränken, der letztlich beide Anträge betrifft, auf den
Unterhaltsvorschuss . Unterhaltsvorschuss heißt gegen-
wärtig: Wenn der Unterhaltspflichtige nicht zahlt, kann
der andere Elternteil bis zum zwölften Lebensjahr des
unterhaltsberechtigten Kindes und für maximal 72 Mo-
nate Unterhaltsvorschuss beziehen . Mit anderen Worten:
Ein Elfjähriger oder eine Elfjährige kann nur wenige Mo-
nate Unterhaltsvorschuss beziehen . Seit 2008 wird auf
den Unterhaltsvorschuss auch noch das volle Kindergeld
angerechnet . Bis 2007 war es nur die Hälfte .
Nun hat meine Fraktion schon 2006 im Bundestag
gefordert, diese Alters- und Zeitgrenzen fallen zu las-
sen . Schon damals hieß es seitens der CDU, von Frau
Fischbach – leider ist sie gerade nicht anwesend; viel-
leicht könnte sie sich daran erinnern –: Jawohl, Probleme
erkannt, Lösungen aufgezeigt, leider falsche Partei . – Na
gut . Es hat ein bisschen gedauert, aber im Koalitionsver-
trag von CDU, CSU und FDP stand: Wir werden die Al-
tersgrenze auf 14 Jahre anheben . – Warum auf 14 Jahre,
konnte kein Mensch erklären . Aber immerhin zwei Jahre,
das war ja was . Es hieß: Wir werden die Altersgrenze an-
heben .
Gemacht wurde es nicht, aus finanziellen Gründen.
Vielleicht kann sich Kollegin Winkelmeier-Becker da-
ran erinnern . Das hat sie damals jedenfalls so begrün-
det . Auch die SPD hat damals im Familienausschuss
moniert – Frau Marks weiß das vielleicht noch –, dass
diese Anhebung auf 14 Jahre nicht erfolgt ist . Wir ha-
ben damals einen gleichlautenden Antrag wie den heute
vorliegenden eingebracht: Anhebung auf 18 Jahre und
Entfristung der 72 Monate . Dazu hieß es, der Antrag der
Linken sei super, klasse und wünschenswert, aber eben
nicht finanzierbar. Auch Frau Dörner von den Grünen
hat damals gesagt: Wunderbar, super, das ist notwendig .
Aber wie ist das mit der Finanzierung?
Im Sommer dieses Jahres beschloss die Kommission
der CDU,
Julia Obermeier
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514024
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die sich „Zusammenhalt stärken – Zukunft der Bürger-
gesellschaft gestalten“ nennt, unter dem Vorsitz von Ar-
nim Laschet, Kollegin Widmann-Mauz und Professorin
Grütters Folgendes – ich zitiere –:
Auch wollen wir dafür sorgen, dass der Unterhalts-
vorschuss länger als 72 Monate und über das 12 . Le-
bensjahr des Kindes hinaus gezahlt werden kann .
Zitat Ende . Jetzt frage ich mich: Wann denn endlich?
Heute wäre eine Gelegenheit dazu .
Die Gelegenheit ist günstig . Stimmen Sie unserem
Antrag zu . Alle wollen es . Aber wer soll es bezahlen?
Das war die alles überschattende Frage seit Jahren . Alle
wollen es, alle sind dafür, aber woher das Geld nehmen?
Wenn wir die Altersgrenze von gegenwärtig 12 sofort
auf 18 anheben würden, dann wären wahrscheinlich
die 134 Millionen Euro, die wir hier morgen für einen
Kriegseinsatz in Syrien beschließen werden, ausrei-
chend, um die Mehrkosten damit zu decken .
Morgen fragt komischerweise niemand: Wer soll das be-
zahlen? Dafür ist Geld da . Für die Kinder nicht .
Wie gesagt, der Antrag der Linken, der heute in die
Ausschüsse überwiesen wird, beinhaltet neben der For-
derung zum Unterhaltsvorschuss – ich gebe mich keiner
Illusion hin; in diesem Parlament wird, was Anträge der
Linken angeht, ohne Ansehen des Inhalts, aber mit Anse-
hen der Person entschieden – noch einen bunten Strauß
familienpolitischer Maßnahmen – ich bleibe einmal im
Regierungsjargon –, die, denke ich, geeignet sind, um Al-
leinerziehende aus der Armutsfalle herauszuholen .
Im Ausschuss wird darüber beraten . Wir werden dazu
eine Anhörung durchführen, vielleicht am 16 . März . Die
Anhörung wird dann unsere Einschätzung belegen . Inso-
weit freue ich mich auf die Beratungen .
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Gudrun
Zollner von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Im Gegensatz zum Kollegen Wunderlich
möchte ich in meiner Rede gerne auf den kompletten An-
trag eingehen .
– Aber nur eine Minute . – Als ich meine zwei Kinder
allein großziehen musste, gab es noch keinen Rechts-
anspruch auf einen Kitaplatz . Offene oder gebundene
Ganztagsschulen – Fehlanzeige . Kinderförderungsge-
setz, Elterngeld und Entlastungsbetrag – das gab es an-
fangs auch noch nicht .
Zwischenzeitlich hat sich viel getan . Wir investieren
weiter in unsere Familien . Ich sage ganz bewusst „unse-
re Familien“, denn Alleinerziehende sind auch Familien .
Allein bis 2014 hat der Bund den Ländern 5,4 Milliarden
Euro für die Investitionen und Betriebskosten von Kitas
zur Verfügung gestellt . Wir haben das Sondervermögen
„Kinderbetreuungsausbau“ um 1 Milliarde Euro aufge-
stockt . Seit 2015 beteiligt sich der Bund sogar dauerhaft
an den Betriebskosten der Kitas mit jährlich 845 Millio-
nen Euro .
Ergänzend fördert das Bundesfamilienministerium ab
2016 das Bundesprogramm „KitaPlus“ mit 100 Millio-
nen Euro, das erweiterte Öffnungszeiten in Kitas vor-
sieht . Der Entlastungsbetrag für Alleinerziehende wurde
in diesem Jahr um 600 Euro auf 1 908 Euro, für jedes
weitere Kind nochmals um 240 Euro erhöht . Ich könnte
die Liste noch fortführen, aber dazu reicht meine Rede-
zeit leider nicht .
Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Linken,
schreiben in Ihrem Antrag: Die Bundesregierung hat vor
allem bei der Unterstützung und Entlastung von Allein-
erziehenden versagt . – Außerdem, so schreiben Sie, seien
die Betreuungsangebote für Einelternfamilien unzurei-
chend . Sie sitzen doch mit mir im Ausschuss und hier im
Plenum . Diese ganzen Investitionen, die natürlich auch
Alleinerziehenden zugutekommen, können doch wirk-
lich nicht alle spurlos an Ihnen vorübergegangen sein .
Wir brauchen auch keine Sachverständigenkommissi-
on in den Kitas, wie von Ihnen gefordert; denn es gibt
schon Elternbeiräte, die sich sehr engagiert einbringen .
Sie nehmen zum Beispiel auch zusammen mit den Er-
zieherinnen am Coaching „Kitaverpflegung“ teil, das
in Bayern zur Verbesserung der Verpflegungsangebote
kostenfrei angeboten wird . Mich persönlich freut sehr:
87 Prozent der bayerischen Kindertageseinrichtungen
bieten eine Mittagsverpflegung – diese wird von Ihnen
gefordert – bereits an .
Nun ist es in erster Linie Sache der Länder und Kom-
munen, sich um die Qualität und Quantität der Kitas zu
bemühen. Damit die Länder finanziell noch besser aus-
gestattet sind, haben wir ihnen darüber hinaus die im
Zusammenhang mit dem Betreuungsgeld freiwerdenden
Mittel überlassen . Auch das wollte die Fraktion Die Lin-
ke durch ihren Antrag vom 5 . November 2015 verhin-
dern .
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, beim Thema
Unterhaltsvorschuss sind die Länder ebenso gefordert .
Es betrifft zu zwei Dritteln die Länder und nur zu einem
Drittel den Bund .
Wenn ich mir die Rückholquoten der einzelnen Bundes-
länder ansehe, stelle ich fest: Wieder einmal ist Bayern
am erfolgreichsten, nämlich mit aktuell 36 Prozent, Ten-
Jörn Wunderlich
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 14025
(C)
(D)
denz steigend . Schlusslicht ist seit Jahren Bremen, mit
nur 11 Prozent .
Ich will betonen, dass der Unterhaltsvorschuss keine
auf Dauer angelegte zusätzliche Leistung des Staates ist .
Vielmehr gehen Bund und Länder hier gemeinsam in
Vorleistung, wenn ein Elternteil seiner Unterhaltspflicht
nicht nachkommen kann oder will .
Leider gibt es noch viel zu viele, die Kinder in die Welt
setzen und sich dann ihren Verpflichtungen entziehen.
Die Bundesländer müssen sich in Sachen Rückholquoten
viel mehr engagieren, um auch einmal ein Zeichen ge-
genüber den Unterhaltspflichtigen zu setzen.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, Alleinerzie-
hende sind Meisterinnen und Meister im Vereinbaren von
Beruf und Familie . 70 Prozent von ihnen sind erwerbstä-
tig, davon 45 Prozent in Vollzeit . Ich selbst war jahrelang
in Teilzeit beschäftigt, weil ich – freiwillig – nachmittags
für meine Kinder da sein wollte . Natürlich muss man ein
Organisationstalent sein, um alles unter einen Hut zu be-
kommen . Alleinerziehende möchten eigenständig sein,
selbst entscheiden und selbstbewusst ihr Leben mit ih-
ren Kindern führen . Der Staat hat die Aufgabe, ihnen in
schwierigen Zeiten unter die Arme zu greifen . Dafür gibt
es viele Angebote, auch Beratungsangebote und Förder-
mechanismen, zum Beispiel von der Agentur für Arbeit .
Es gibt auch Teilzeitausbildungen und Fort- und Weiter-
bildungsangebote, auch für Wiedereinsteigerinnen; sie
bekommen alles, was sie brauchen .
Die Stellung der Einelternfamilie zu stärken, ist auch
eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe .
Wir müssen endlich anerkennen: Familie ist da, wo Kin-
der sind .
Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss .
Abschließend möchte ich im Hinblick auf den vorlie-
genden Antrag nochmals unterstreichen: Unterstützung
für Alleinerziehende – ja, jederzeit . Luftschlösser ohne
Sicherstellung der Finanzierung – nein, danke .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat die Kollegin
Dr . Franziska Brantner von der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Häufig schreiben mir Mütter und Väter – übri-
gens fast gleichermaßen Väter wie Mütter –, die für ihre
Kinder allein verantwortlich sind . Sie fragen: Warum be-
komme ich weniger Geld vom Staat, obwohl ich meine
Kinder allein ernähre und betreue? Warum organisiere
und bezahle ich eine Kinderbetreuung, damit ich Vollzeit
arbeiten kann, wenn es am Ende des Monats dann doch
nicht für den Urlaub mit dem Kind reicht?
Was sollen wir diesen Müttern und Vätern antworten?
Dass wir alle wissen, dass das aktuelle System ungerecht
ist, und wir es trotzdem nicht ändern? Sollen wir ihnen
antworten, dass wir alle Studien dazu haben und alle Stu-
dien ihnen recht geben, wir aber trotzdem nicht handeln?
Was sollen wir diesen Müttern und Vätern eigentlich ant-
worten?
Dass wir – natürlich zu Recht – 275 Millionen Euro für
die Erhöhung des Kindergeldes ausgegeben haben, den
Kinderzuschlag aber nicht wirklich reformiert haben?
Oder dass es uns immer noch nicht gelungen ist, den Un-
terhaltsvorschuss so zu reformieren, dass es diese absur-
den Altersgrenzen und die Begrenzung der Bezugsdauer
nicht mehr gibt? Es kann doch wirklich keiner von uns
begründen, warum ein 14-jähriges Kind diese Leistung
nicht mehr bekommen soll, ein 11-jähriges Kind aber
schon . Ich habe bis jetzt keine Antwort auf diese Frage
gehört .
Wie ich sehe, ist der Herr Ausschussvorsitzende gera-
de nicht da .
– Ich wollte gerade etwas zu Ihnen sagen, Herr Lehrieder .
Herr Lehrieder, die Höhe der Rückholquoten ist sehr
unterschiedlich – Frau Zollner hat das schon gesagt –,
und das ist natürlich ein Problem . Ich würde mir wün-
schen, dass wir, wenn wir die Anhörungen durchführen,
Experten einladen, die sich zur Frage äußern, wie man
die Rückholquote verbessern kann; denn hier gibt es ei-
nen Missstand . Er hängt zwar von den Verhältnissen in
den Bundesländern und vor Ort ab, aber es gibt hier auch
Gudrun Zollner
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514026
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gemeinsame Schwierigkeiten, über die wir nicht nur dis-
kutieren sollten, sondern die wir endlich auch angehen
müssen . Wir könnten es hier in diesem Hause doch viel-
leicht wirklich schaffen, gemeinsam Reformvorschläge
einzubringen, um wenigstens bei diesem Aspekt voran-
zukommen .
Da wir über Geld sprechen, möchte ich kurz auch
noch eine aktuelle Reform ansprechen . Es wird gerade
die Reform und die Vereinfachung der Grundsicherung
diskutiert . Das betrifft zwar nicht primär unseren Haus-
halt, aber wenn man weiß, dass jedes zweite Kind, das
im ALG-II-Bezug ist, in einem Ein-Elternteil-Haushalt
aufwächst, dann ist auch klar, wie sehr es dabei auch um
diese Gruppe geht .
Es bietet sich hier die Chance, diese Reform dazu zu
nutzen, die Situation der Alleinerziehenden und auch der
Elternteile, die sich die Erziehung partnerschaftlich auf-
teilen, zu verbessern und sie besserzustellen . Momentan
besteht die Gefahr, dass es eher in die andere Richtung
geht, dass nämlich durch die Reform jene Elternteile be-
nachteiligt werden, die es schaffen, sich die Sorge um
ihre Kinder nach ihrer Trennung wenigstens einigerma-
ßen gleichmäßig aufzuteilen .
Ich glaube, wir haben hier wirklich eine Verantwor-
tung, darauf zu schauen und zu sagen: Bei dieser Reform
darf es nicht zu einer Schwächung der Alleinerziehenden
kommen . Es darf keine negativen Anreize geben, sodass
man sich die Sorge nicht teilt, sondern es muss einen An-
reiz dafür geben, dass man es auch nach der Trennung
gemeinschaftlich und partnerschaftlich schafft .
Dafür ist es notwendig, dass der Regelsatz nur dann
hälftig gezahlt werden darf, wenn das Kind auch annä-
hernd hälftig in beiden Haushalten lebt; denn dann gibt
es auch einen Mehrbedarf für beide . Es ist nämlich nicht
so, dass man als Mutter einen Raum weniger benötigt,
nur weil der Vater in der anderen Hälfte der Zeit das
Kind betreut . Die Miete für den Raum muss immer be-
zahlt werden . Auch die Milch wird schlecht – unabhän-
gig davon, ob das Kind am nächsten Tag beim Vater ist –,
sodass man sie neu kaufen muss . Deswegen gibt es hier
Mehrbedarfe, wenn sich beide Elternteile die Erziehung
gleichberechtigt aufteilen . Diese müssen dann auch ent-
sprechend finanziell gewürdigt werden. Ich glaube, das
ist ein sehr wichtiger Punkt .
Wenn wir das in den Ausschüssen nicht erreichen,
dann können wir einen erheblichen Schaden anrichten .
Auch hier lautet mein Appell an uns alle: Lassen Sie uns
gemeinsam daran arbeiten . Die Alleinerziehenden tragen
sehr viel Verantwortung und schaffen Unglaubliches . Sie
gehen permanent über ihre Grenzen . Lassen Sie uns diese
Arbeit würdigen und ihnen das Leben nicht noch schwe-
rer machen .
Ich danke Ihnen .
Vielen Dank . – Als nächster Redner spricht Dr . Fritz
Felgentreu von der SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Lin-
ke bringt heute einen Antrag ein, der einen weiten Bogen
schlägt, um die Lebenssituation von Alleinerziehenden
zu verbessern . Alleinerziehende, ihre Sorgen und Nöte
sowie die Frage, wie die Politik ihnen helfen kann, das
Leben zu meistern, waren in dieser Legislaturperiode mit
Recht schon mehrfach Gegenstand unserer Beratungen .
„Helden des Alltags“ haben wir die Alleinerziehenden
genannt, weil sie all das irgendwie alleine hinkriegen
müssen, was andere partnerschaftlich organisieren kön-
nen . Die Koalition hat das erkannt und deshalb auch
schon einiges auf den Weg gebracht .
Vor allem haben wir den Entlastungsbetrag bei der
Einkommensteuer – endlich, muss man sagen, nach über
zehnjährigem Auf-der-Stelle-Treten – um fast 50 Prozent
erhöht .
Außerdem wird jedes Geschwisterkind mit zusätzlichen
240 Euro Entlastung bei der Einkommensteuer berück-
sichtigt . Auch die Erhöhung des Unterhaltsvorschusses
um gut 10 Euro im letzten Jahr war hilfreich und rich-
tig . Dazu kommen allgemeine Verbesserungen, von de-
nen Alleinerziehende überproportional profitieren. Ab
Juli wächst der Kinderzuschlag um 20 Euro auf, eine
Unterstützungsleistung, die Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer mit niedrigem Einkommen erreicht, und das
sind Alleinerziehende alleine schon deshalb sehr oft, weil
viele von ihnen in Teilzeit arbeiten .
Die aus Sicht der SPD-Fraktion wichtigste Hilfe – ge-
rade für Alleinerziehende – ist aber natürlich der Ausbau
der Betreuungsangebote . Die unterschiedlichen Maß-
nahmen des Bundes zur Ausweitung und Verbesserung
der Kinderbetreuung in Kitas und Schulhorten erreichen
2017 ein Gesamtvolumen von knapp 3 Milliarden Euro .
Das ist eine große, lohnende Anstrengung . Kinder und
Familie fördern wir generell am besten durch erstklassige
Kitas und Schulen .
Aber für Alleinerziehende gilt dieser Grundsatz in beson-
derem Maße .
In diesem Zusammenhang verweise ich deshalb be-
sonders gerne auf das Modellprogramm „KitaPlus“, das
den Kindergärten helfen soll, auch früh morgens oder
spät abends und am Wochenende ihre Türen zu öffnen .
Dr. Franziska Brantner
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 14027
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Eine Kita, in der es auch mal Abendbrot oder sogar ein
Bettchen für die Nacht gibt: Das ist das, was eine allein-
erziehende Krankenschwester oder ein alleinerziehender
Taxifahrer braucht, um Schichtdienst und Familienleben
vernünftig zusammenzubringen . 100 Millionen Euro
wird der Bund dafür ab dem nächsten Ersten zur Verfü-
gung stellen . Eine wunderbare Initiative, für die ich Ih-
nen und Ihrem Haus, Frau Staatssekretärin Marks, für die
SPD-Fraktion sehr herzlich danke .
Ich bin aber auch Ihnen von der Fraktion der Linken
durchaus dafür dankbar, dass Sie das Interesse am The-
ma Alleinerziehende mit Ihrem aktuellen Antrag weiter
wachhalten . Ihr Antrag enthält eine ganze Reihe von An-
regungen, über die es sich zu diskutieren lohnt .
Allerdings verstehe ich immer noch nicht, warum Sie
sich bei dem durchaus sinnvollen Plan, die Bezugsdauer
des Unterhaltsvorschusses über das 12 . Lebensjahr eines
Kindes hinaus auszudehnen, mechanisch an die Zahl 18
klammern . Logisch wäre es doch, die Bezugsdauer von
der Dauer der Unterhaltsverpflichtung des getrennt le-
benden Elternteils abhängig zu machen . Oder um es
einmal etwas platter zu formulieren: Wenn, wie es leider
meistens der Fall ist, der Vater sich verdünnisiert hat, so-
dass Vater Staat einspringen muss, dann doch bitte eine
Bezugsdauer bis zum Abschluss der ersten Ausbildung,
also genau so lange, wie der biologische Vater Alimente
zahlen müsste .
Wir wissen aber alle, warum wir, Kollege Wunderlich,
das eben nicht durch einen Federstrich so vernünftig re-
geln können, weil es nämlich viel Geld kostet, das wir
erst einmal auftreiben müssen,
und weil etwa zwei Drittel davon die Länder zahlen, so-
dass wir den Unterhaltsvorschuss auch nicht über deren
Köpfe hinweg reformieren können .
In diesem Zusammenhang, Kollege Wunderlich, ha-
ben Sie eben etwas gemacht, bei dem ich denken muss-
te: Sie kritisieren hier oft einen billigen Populismus von
rechts, es gibt aber auch so etwas wie einen billigen Po-
pulismus von links .
Wenn man die Ausgaben für den Unterhaltsvorschuss in
einen direkten Zusammenhang mit den Ausgaben für den
geplanten Syrien-Einsatz stellt, dann haben wir genau da
ein Beispiel für einen solchen Populismus von links .
Das ist die gleiche Art wie die, die Kosten für Polizei-
einsätze gegen die für Kinderbetreuung aufzurechnen .
Kollege Wunderlich, mein guter Rat: Lassen Sie es ein-
fach bleiben, solche Bezüge herzustellen! In den Augen
derjenigen, an die wir heute am allermeisten denken
müssen, in den Augen unserer französischen Freunde, in
den Augen der Angehörigen der Opfer von Paris und der
Überlebenden hört sich das nicht wie billiger Populis-
mus, sondern wie übelster Zynismus an . Lassen Sie das
einfach sein!
Aber auch der Ärger über solche Bezüge sollte uns
nicht davon abhalten, sinnvolle Reformschritte zumin-
dest zu entwerfen und hier zu diskutieren, um für den
Zeitpunkt vorbereitet zu sein, an dem wir sie durchsetzen
können .
In dem Punkt finde ich Ihren Antrag, Kollege
Wunderlich, inkonsequent . In anderen Punkten wieder-
um haben Sie es dafür mit der Konsequenz ein bisschen
übertrieben . In einem Antrag, der dazu führen soll, die
Situation Alleinerziehender zu verbessern, hätten Sie
besser nicht alles hineingeschrieben, was der Linken je-
mals zum Thema Hartz IV eingefallen ist . Die Abschaf-
fung des Arbeitslosengeldes II und die Einführung einer
allgemeinen Grundsicherung sind ein so weit gespann-
ter Reformvorschlag, dass er den Rahmen Ihres Antrags
nicht nur verbiegt, sondern sprengt, einmal ganz abge-
sehen davon, dass das mit der SPD nicht zu machen ist .
Insofern also mein Appell: Schuster, bleib bei deinen
Leisten! Familienpolitiker, bleib bei der Familienpolitik!
Lassen Sie uns gemeinsam diskutieren, was wir für
Alleinerziehende weiter tun können, zum Beispiel im
Zuge der Einführung einer Familienarbeitszeit oder ei-
nes Familiensplittings, mit dem alle Formen von Familie
wertgeschätzt und gefördert werden . Auf diese Debatte
können wir uns dann wirklich freuen .
In der Zwischenzeit bedanke ich mich für Ihre Auf-
merksamkeit, liebe Kolleginnen und Kollegen .
Dr. Fritz Felgentreu
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514028
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(D)
Vielen Dank . – Als letzte Rednerin in der Debatte hat
Ingrid Pahlmann von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Mütter
oder Väter, die die Verantwortung für die Erziehung ihrer
Kinder allein tragen, verdienen – ich denke, da sind wir
uns alle einig – unseren größten Respekt . In rund 20 Pro-
zent aller Familien trägt nur ein Elternteil, und das ist
meistens die Mutter, die Verantwortung für Erziehung
und Betreuung. Nicht immer, aber häufig brauchen die
Alleinerziehenden dabei besondere Unterstützung .
Diese Unterstützung erschöpft sich aber nicht nur in
finanziellen staatlichen Leistungen, sondern sie ergibt
sich vor allem aus der Schaffung einer Infrastruktur, die
den Alleinerziehenden nicht auch noch Steine in den oft-
mals sowieso nicht gradlinigen Weg legt . Ohne gute An-
gebote in der Kinderbetreuung werden Alleinerziehende
erhebliche Schwierigkeiten bei der selbstständigen und
unabhängigen Bewältigung der Aufgabe haben, das Fa-
milieneinkommen zu erzielen . Ich denke, da sind wir ei-
ner Meinung .
Aber hier haben wir in der Vergangenheit bereits vieles
auf den Weg gebracht; auch das müssen Sie anerkennen .
Der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz war ein
ganz entscheidender Meilenstein und bei weitem nicht die
letzte Maßnahme des Bundes . Das Sondervermögen Kin-
derbetreuungsausbau wurde in dieser Legislaturperiode
auf 1 Milliarde Euro aufgestockt . Auch die Beteiligung
an den Betriebskosten wurde um zusätzliche 100 Milli-
onen Euro für die Jahre 2017 und 2018 angehoben . Die
Qualität der Kitas wurde kontinuierlich ausgebaut . Nicht
zuletzt ist die Flexibilisierung der Betreuungszeiten – wir
haben es gerade gehört – im Rahmen des mit 100 Milli-
onen Euro geförderten jüngsten Programms „Kita Plus“
gerade für berufstätige Alleinerziehende, egal ob für Vä-
ter oder für Mütter, eine wichtige Unterstützung .
Gute Betreuungsmöglichkeiten sind eine Vorausset-
zung, um gleiche Chancen im Erwerbsleben zu haben .
Hier waren und sind auch heute noch Alleinerziehende
oftmals gegenüber kinderlosen Arbeitsplatzkonkurrenten
benachteiligt . Es ist aber ein elementares Interesse und
auch Aufgabe der Kommunen vor Ort, hier bessere und
passgenauere Strukturen zu schaffen, und das sage ich
Ihnen in meiner Eigenschaft als Stadträtin einer mittel-
großen Kommune .
Nicht nur die Kommunen, auch die Arbeitgeber sind
in der Pflicht. Der Bedarf an Arbeitskräften ist da, wir
hören es immer wieder . Von der guten Lage auf dem
Arbeitsmarkt profitieren auch Alleinerziehende, die von
den Unternehmen ja so händeringend als Fachkräfte
gesucht werden . Unternehmen, die den vermeintlichen
Fachkräftemangel beklagen, müssen aber auch eine stär-
kere Bereitschaft und ein größeres Engagement zeigen,
Alleinerziehenden mit flexiblen Arbeitszeitmodellen den
Wiedereinstieg in den Beruf zu ermöglichen . Staatliche
Zwangsmaßnahmen sind hier aus meiner Sicht kontra-
produktiv . Sie sind eben nicht die richtige Antwort, da sie
die Gruppe der Alleinerziehenden auf dem Arbeitsmarkt
eher noch benachteiligen würden .
Neben der Arbeitsmarktsituation ist auch für Alleiner-
ziehende bezahlbarer Wohnraum ein weiterer wichtiger
Baustein. Die Ankündigung des Bundesfinanzministers
zur steuerlichen Förderung des Wohnungsbaus ist auch
für diese Klientel eine gute Nachricht;
denn auch sie haben zunehmend Schwierigkeiten, geeig-
nete und bezahlbare Wohnungen für sich und ihre Kinder
zu finden. Von der Entlastungswirkung einer steuerlichen
Förderung profitieren letztendlich alle Mieter. Den beste-
henden Bedarf können wir meiner Meinung nach jedoch
nicht allein durch den Bau neuer Sozialwohnungen de-
cken . Zusätzliche Anreize für private Investoren wären
darum auch aus meiner Sicht nötig .
Auch von der geplanten Reform des Wohngelds wer-
den Alleinerziehende profitieren. Die Verantwortung
für die Kindererziehung allein zu tragen, ist häufig mit
großen finanziellen Lasten verbunden; das haben wir ge-
hört, und auch hier sind wir einer Meinung . Deshalb ist
es durchaus richtig, Alleinerziehende finanziell zu ent-
lasten; da bin ich bei Ihnen . Der Unterhaltsvorschuss ist
hier eine wichtige Säule . Wir haben ihn in diesem Jahr
für Kinder bis fünf Jahre auf monatlich 140 Euro und
für Kinder zwischen sechs und elf Jahren auf monatlich
188 Euro angehoben . Im Jahr 2016, im kommenden Jahr,
kommt die nächste Erhöhung .
Ihre Forderung, den Unterhaltsvorschuss auch über
mehr als 72 Monate und über das zwölfte Lebensjahr des
Kindes hinaus zu zahlen, finde ich gar nicht so ganz ab-
wegig. Ich finde dies sogar erstrebenswert.
Aber ich muss Ihnen auch sagen, das lösen wir als Bund
nicht allein .
Es klang schon mehrfach an: Der Bund trägt ein Drit-
tel der Kosten . Und die Länder müssen mitspielen . Die
tragen nämlich zwei Drittel der Kosten . Wie Länder mit
zusätzlichen Zahlungen umgehen, das haben wir schon
oft genug erlebt .
Machen Sie etwas mit Ihren Ländern . Versuchen Sie,
dort, wo Sie Verantwortung haben, etwas zu bewegen .
Es wird sich nicht viel tun, das sage ich Ihnen gleich . Wir
können nicht hier Forderungen stellen, die dann von den
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Ländern nicht gegenfinanziert werden. Das bringt uns
kein Stück weiter .
Darüber hinaus haben wir – Herr Dr . Felgentreu hat es
schon gesagt – den steuerlichen Entlastungsbetrag rück-
wirkend zum 1 . Januar um rund 50 Prozent erhöht . Auch
von der Reform des Elterngeldes profitieren die Allein-
erziehenden .
Vieles haben wir angestoßen, manches müssen wir
noch vorantreiben . Das werden wir im Sinne der Famili-
en, egal welchen Modells, vorantreiben . Dafür steht die
CDU/CSU, und das macht sie auch in Zukunft, wenn es
irgendwie möglich ist .
Ich danke Ihnen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich
die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/6651 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall . Dann ist das auch so
beschlossen .
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 11 b: Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senio-
ren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Fraktion Die
Linke mit dem Titel „Alleinerziehende entlasten – Un-
terhaltsvorschuss ausbauen“. Der Ausschuss empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/6902,
den Antrag der Fraktion Die Linke auf der Drucksa-
che 18/983 abzulehnen . Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Damit ist diese Beschlussempfehlung angenom-
men worden mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung von
Bündnis 90/Die Grünen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen jetzt
zum Tagesordnungspunkt 14:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines
… Gesetzes zur Änderung des Parteiengeset-
zes
Drucksache 18/6879
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . Gibt es dazu
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall . Dann ist das so
beschlossen .
Ich werde die Aussprache eröffnen, sobald die Kolle-
ginnen und Kollegen ihre Plätze eingenommen und die
Gespräche eingestellt haben .
Ich eröffne die Aussprache . Als erster Redner hat
Helmut Brandt von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren Zuschauer! Wir be-
schäftigen uns heute in erster Lesung mit Änderungen,
die das staatliche Parteienfinanzierungssystem betreffen.
Die Praxis der vergangenen Jahre hat gezeigt, dass eini-
ge Regelungen verbesserungswürdig sind und an einigen
Stellen Entbürokratisierung notwendig ist .
Leider ist es bei den Verhandlungen nicht gelungen,
dass wir den Gesetzentwurf fraktionsübergreifend ein-
stimmig werden beschließen können . Das war in der
Vergangenheit immer Usus, aber das hat bei diesem Vor-
haben nicht funktioniert . Ich bedauere das sehr, zumal
der Kollege Nord in der vorletzten Berichterstatterrunde
zu Recht den Vorschlag gemacht hat, erst einmal das zu
verabschieden, worin sich alle einig sind . Das war näm-
lich bei den meisten Punkten der Fall . Dieser Vorschlag
war vernünftig, und das hätte deutlich gemacht, dass zu
diesem Gesetzentwurf weitestgehend Einigkeit besteht .
Meine Damen und Herren, gemäß Artikel 21 unseres
Grundgesetzes haben Parteien den Anspruch, aber auch
die Pflicht, an der politischen Willensbildung mitzuwir-
ken . Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, benötigen
die Parteien eine angemessene und ausreichende Finan-
zierung . Wir, CDU/CSU und SPD, wollen die Parteien
in die Lage versetzen, dieser Aufgabe auch in Zukunft
gerecht werden zu können . Denn so, wie sich die Le-
benshaltungskosten für jeden Normalbürger verändern,
ist dies auch bei den Kosten der Parteien der Fall . Für
Veranstaltungen, die Unterhaltung der Büros und die Be-
schäftigung der Mitarbeiter sind die Kosten gestiegen .
Wir haben uns deshalb entschlossen, die Beträge, die die
Parteien jährlich im Rahmen der staatlichen Teilfinanzie-
rung erhalten, zu erhöhen .
Dabei ist mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass die
letzte Festlegung 2002 war, also 13 Jahre zurückliegt, so-
dass schon aus diesem Grund eine Anpassung vonnöten
ist .
Zum Schluss wurde bei den Vorgesprächen insbeson-
dere von Bündnis 90/Die Grünen die Forderung nach
mehr Transparenzvorschriften, als wir sie ohnehin haben,
erhoben .
Es ist keine Frage, dass Transparenz gerade in den Fäl-
len, in denen öffentliche Mittel fließen, ein wichtiges
Moment darstellt; das ist unbestritten . Aber ich bin der
Auffassung, dass wir bereits in der Vergangenheit hin-
Ingrid Pahlmann
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514030
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reichend Sorge dafür getragen haben, dass Transparenz
tatsächlich hergestellt ist .
Entweder brauchen die Parteien das Geld, um ihre Ar-
beit vernünftig zu machen, oder sie brauchen es nicht .
Wir sagen: Sie brauchen es . Deshalb werden die Parteien
künftig die Erhöhung bekommen, die wir ab 2017 dyna-
misieren wollen, damit es nicht immer wieder zu Auf-
wüchsen kommt .
Wir haben bereits im Jahr 2013 eine Debatte über die
Transparenzregelungen geführt . Ich meine, dass damals
hinreichend klar geworden ist, wie wir dazu stehen . Al-
lerdings haben wir in den letzten Jahren feststellen müs-
sen, dass mit den gesetzlichen Regelungen betreffend
die Parteienfinanzierung Missbrauch betrieben wird. Ich
erinnere an die Aktion der AfD, Goldankäufe zu tätigen,
oder an die Aktion von Herrn Sonneborn von der Partei
„Die Partei“, 100 Euro für 80 Euro zu erwerben .
– Ich nehme an, dass Sie davon mehrfach Gebrauch ge-
macht haben, wenn Sie das gut finden.
Eine solche Aktion ist absurd und zeigt, dass nur die
Umsätze erhöht werden sollen, um ein größeres Volumen
zu erreichen und so erst in den Genuss der Parteienfinan-
zierung zu gelangen . Das ist nicht Zweck des Gesetzes
und der Parteienfinanzierung. Das wollen wir künftig un-
terbinden, indem mit Blick auf die relative Obergrenze
nur noch der positive Erlös solcher Geschäfte wirksam
wird . Wir wollen nicht verteufeln – das ist für kleine wie
für große Parteien wichtig –, sich durch wirtschaftliche
Betätigung Einnahmen zu verschaffen . Aber dabei darf
es sich nicht um unwirtschaftliche Tätigkeiten handeln,
nur um in den Genuss der Parteienfinanzierung zu kom-
men .
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Abgabe von Re-
chenschaftsberichten . Wir haben in der Vergangenheit
feststellen müssen, dass insbesondere kleinere Parteien
dieser Verpflichtung oft jahrelang nicht nachkommen,
ihre Ein- und Ausgaben nicht veröffentlichen und dem
Bundestagspräsidenten keine Prüfergebnisse vorlegen .
Wir sind der Auffassung, dass dies nicht hinnehmbar ist,
und sehen deshalb vor, dass dann, wenn das sechs Jahre
nacheinander nicht geschieht, neben Zwangsgeldaufla-
gen des Bundestagspräsidenten ein Parteiverbot in Erwä-
gung zu ziehen ist .
Ich komme zum Schluss . Ich möchte noch auf einen
weiteren Punkt hinweisen, den wir geändert haben . Zu-
künftig werden die Strafgeldzahlungen in die Staatskas-
se fließen. Das ist nach unserer Auffassung sachgerecht.
Insofern bitte ich abschließend alle um Zustimmung zu
unserem Gesetzentwurf .
Besten Dank .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Halina
Wawzyniak von der Fraktion Die Linke das Wort .
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Kollege Brandt hat schon darauf hinge-
wiesen: Artikel 21 des Grundgesetzes gesteht den Par-
teien eine herausragende verfassungsrechtliche Rolle zu .
Es ist deshalb folgerichtig, dass im Parteiengesetz Rege-
lungen zur staatlichen Teilfinanzierung getroffen werden.
Aber ich bin auch der Meinung, dass der Staat aufgrund
der herausgehobenen verfassungsrechtlichen Bedeutung
der Parteien die Pflicht hat, Grundbedingungen für das
Funktionieren des Parteiensystems zu schaffen . Das ist
mit dem System der staatlichen Parteienfinanzierung
geschehen . Es begrenzt im Übrigen auch die staatliche
Parteienfinanzierung. Deswegen sagen wir: Die staatli-
che Teilfinanzierung der Parteien dürfen wir alle nicht
infrage stellen .
– Ich dachte, dass an dieser Stelle alle Fraktionen klat-
schen . Aber das scheint nicht der Fall zu sein .
Wir finden jedenfalls: Wer das staatliche Teilfinanzie-
rungssystem infrage stellt, der will eine Demokratie, wie
wir sie nicht haben wollen, eine Demokratie, in der vor
allem wirtschaftlich Mächtige die Parteien finanzieren.
Wir wollen das staatliche Teilfinanzierungssystem erhal-
ten .
– Es geht doch . Wunderbar .
Nun hat sich aber gezeigt, dass es ein paar Lücken
in diesem staatlichen Teilfinanzierungssystem gibt. Das
vorrangige Ziel dieses Gesetzentwurfs ist es, diese Lü-
cken zu schließen .
Ich will das so deutlich sagen .
Es ist schon angesprochen worden: Eine Partei, die
sechs Jahre keinen Rechenschaftsbericht abgibt,
verliert die Parteieigenschaft. Das ist richtig, das finden
wir gut . Es ist auch richtig, dass bei den Einnahmen aus
Unternehmenstätigkeit eine Saldierung von Einnahmen
und Ausgaben stattfindet, damit kein Missbrauch betrie-
Helmut Brandt
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 14031
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ben wird. Auch das finden wir gut. Wir finden auch gut
und richtig – auch das ist schon angesprochen worden –,
dass die Strafzahlung bei rechtswidrig erlangten und
nicht veröffentlichten Spenden nicht mehr vom Bundes-
tagspräsidium verteilt wird, sondern in den Staatshaus-
halt zurückfließt.
– Immer mit der Ruhe . – Jetzt gibt es den Vorschlag,
die Zuwendung pro von den Bürgerinnen und Bürgern
abgegebener Stimme um einige Cent zu erhöhen . Es ist
richtig, dass die letzte Erhöhung 2002 stattgefunden hat .
Ich verstehe sogar das Argument, dass es Tarifsteigerun-
gen bei den Beschäftigten und auch sonstige Kostenstei-
gerungen gibt . Wäre ich Bundesschatzmeisterin, würde
wahrscheinlich auch ich so argumentieren . Für uns wäre
aber eine solche Erhöhung nur dann akzeptabel, wenn
es auch Regelungen zu Sponsoring und Spenden juristi-
scher Personen in diesem Gesetzentwurf gegeben hätte .
Einen kleinen Punkt will ich noch erwähnen . Wäre
ich Landesschatzmeisterin, würde ich allerdings noch
darum kämpfen, dass auch der Betrag von 0,50 Euro, die
den Landesverbänden pro abgegebener Stimme bei einer
Landtagswahl gesetzlich zustehen, etwas erhöht wird .
Aber ich bin nicht Landesschatzmeisterin; insofern ist
das nicht mein Problem .
Ich will als Letztes noch Folgendes sagen: Wir haben
bereits im Jahr 2014 einen Antrag zum Verbot von Spen-
den juristischer Personen eingebracht . Nach dem Partei-
engesetz sind Parteien Vereinigungen von Bürgerinnen
und Bürgern . Wir haben schon jetzt die Situation, dass
Transferleistungsempfangende und Menschen mit gerin-
gem Einkommen a) unterdurchschnittlich oft zur Wahl
gehen und b) unterdurchschnittlich in Parteien repräsen-
tiert sind . Wir glauben, dass das Signal von Unterneh-
mensspenden an dieser Stelle wäre: Die, die viel Geld
haben, nehmen noch mehr Einfluss auf Parteien. Eine
Spende – das muss man ehrlich sagen – wird nie nur aus
gutwilligen Motiven geleistet, sondern es wird eine Ge-
genleistung erwartet .
Ein letztes demokratietheoretisches Argument: Dieje-
nigen, die den Gewinn erwirtschaften, entscheiden gar
nicht darüber, wohin der Gewinn verteilt wird .
Ich komme zum Schluss . Wegen des verfassungs-
rechtlichen Status der Parteien und wegen der im Par-
teiengesetz getroffenen Definition von Parteien glauben
wir, dass die staatliche Teilfinanzierung plus die eigenen
Einnahmen, und zwar ohne Zuwendungen von juristi-
schen Personen, ausreichen müssen, um Parteien zu fi-
nanzieren .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Gabriele
Fograscher von der SPD-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Über die Bedeutung der Parteien, die in Artikel 21 des
Grundgesetzes festgelegt ist, haben Sie alle schon ge-
sprochen, auch darüber, dass den Parteien die finanziel-
len Mittel zur Verfügung stehen müssen, damit sie ihren
Aufgaben nachkommen können . Die Einzelheiten regelt
das Parteiengesetz .
Die Parteien in Deutschland finanzieren sich über
einen Einnahmemix . Der setzt sich aus Mitgliedsbei-
trägen, Mandatsträgerabgaben und Spenden zusammen .
Diese sind neben dem Erfolg der Partei bei Europa-,
Bundestags- und Landtagswahlen die Grundlage für
die staatliche Teilfinanzierung. Hinzu kommen noch die
Einnahmen aus unternehmerischer Tätigkeit . Um die Un-
abhängigkeit politischer Parteien vom Staat zu gewähr-
leisten, regelt das Parteiengesetz, dass die Höhe der staat-
lichen Teilfinanzierung nicht die Summe der Einnahmen
übersteigen darf .
In der letzten Zeit kamen zwei Parteien auf die Idee,
ihre Einnahmen künstlich zu erhöhen, um so mehr staat-
liche Mittel zu erhalten . Die AfD hat den Goldhandel be-
trieben, damit ihre Einnahmen gesteigert und somit auch
die staatlichen Zuwendungen . Die Partei „Die Partei“
war noch dreister und verkaufte 100-Euro-Scheine für
80 Euro . Auch so konnten die Einnahmen erhöht werden,
und die zusätzlichen staatlichen Zuwendungen überstie-
gen den Verlust dieses Geldverkaufs .
Das entspricht nicht dem Grundgedanken, dass sich
Parteien mindestens zur Hälfte selbst finanzieren sollen.
Diesen Missbrauch wollen wir mit diesem Gesetz abstel-
len .
Wir werden deshalb die Saldierung im Rechenschafts-
bericht wieder einführen . „Einnahmen minus Ausgaben“,
also der Gewinn, wird wieder die Grundlage für die Be-
messung der staatlichen Zuschüsse und nicht mehr allein
der Umsatz . Damit ist der Missbrauch des § 19 a Partei-
engesetz nicht mehr möglich .
Über diesen Punkt waren sich alle Fraktionen einig .
Ebenso einig war man sich, dass Spenden, Mitglieds-
beiträge und Mandatsträgerabgaben eines Zuwenders
zusammengefasst werden . Das wird dazu führen, dass
mehr Einzelpersonen über die Grenze von 10 000 Euro
pro Jahr kommen, damit der Veröffentlichungspflicht un-
Halina Wawzyniak
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514032
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terliegen und dann mit Namen und Anschrift im Rechen-
schaftsbericht ausgewiesen werden .
Der Bundestagspräsident, der für die staatliche Teil-
finanzierung der Parteien und die Prüfung der Rechen-
schaftsberichte zuständig ist, bat mehrfach darum, von
dieser Aufgabe entbunden zu werden . Diesem Wunsch
konnte sich keine Fraktion anschließen . Wir fanden keine
Institution und kein Gremium, das die zweifellos schwie-
rige Aufgabe der Prüfung der Parteienfinanzen so verant-
wortungsbewusst, glaubwürdig und gewissenhaft erle-
digt, wie es der Bundestagspräsident mit Unterstützung
der Damen und Herren der Bundestagsverwaltung tut .
Wir werden aber einen anderen Wunsch unseres Prä-
sidenten erfüllen . Bislang wurden Strafzahlungen, die
durch die Abgabe unrichtiger Rechenschaftsberichte
entstanden, vom Präsidium des Deutschen Bundestages
quasi freihändig an wohltätige Organisationen verteilt .
In Zukunft werden die Strafgelder, wie vom Bundes-
tagspräsidenten vorgeschlagen, in den Bundeshaushalt
zurückfließen.
Unstrittig war auch die Verschärfung der Sanktionen
für die Nichtabgabe von Rechenschaftsberichten . Wir
ändern deshalb den entsprechenden Paragrafen im Par-
teiengesetz . Eine Vereinigung verliert ihre Rechtsstel-
lung als Partei, wenn sie sechs Jahre lang ihrer Pflicht der
Rechenschaftslegung nicht nachgekommen ist . Über die
Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung werden wir in der
anstehenden Anhörung nochmals beraten .
Trotz all dieser Gemeinsamkeiten war es nicht mög-
lich, einen gemeinsamen Gesetzentwurf einzubringen .
Grund dafür – auch das ist genannt worden – ist die ge-
plante Änderung in § 18 Absatz 3 Parteiengesetz, der die
Höhe der staatlichen Zuwendungen regelt . Seit 2002 ist
dieser Betrag nicht mehr erhöht worden, und deshalb
passen wir die Beträge an die parteispezifische Preisent-
wicklung an und lassen diese künftig wie die absolute
Obergrenze ansteigen .
Allerdings – das muss ich hier zugeben – enthält der
Gesetzentwurf, wie er jetzt vorliegt, einen Fehler, den
wir erst spät in den Beratungen und Verhandlungen er-
kannt haben . Es geht um den Prozentsatz, um den die
absolute Obergrenze der staatlichen Teilfinanzierung, ge-
messen an Zuwendungen, also Spenden, Mitglieds- und
Mandatsträgerbeiträgen, steigen soll . Diese sollen laut
Gesetzentwurf ebenfalls erhöht und indexiert werden .
Da die Preissteigerungen entweder durch Indexierung
der Mitgliedsbeiträge oder das Verhalten der Mitglie-
der bzw . der Spender die Zuwendung ohnehin erhöhen,
wäre es widersinnig, hier zu dynamisieren . Ebenso wür-
de eine Erhöhung des Grundbetrags keine Preissteige-
rung ausgleichen, sondern es würde sich um eine pro-
zentuale Zuschusserhöhung handeln, die das Verhältnis
zwischen staatlichen Geldern für Wählerstimmen und
Zuwendungen verschiebt . Wir hätten gern diesen Fehler
vor Einbringung in den Bundestag behoben . Unser Ko-
alitionspartner will dies aber erst im parlamentarischen
Verfahren ändern .
Die Erhöhung der Beträge um circa 20 Prozent ist
unter den Fraktionen strittig . Sie wird vermutlich auch
öffentliche Kritik hervorrufen . Da eine Anpassung aber
13 Jahre lang nicht vorgenommen wurde, halte ich sie
für notwendig, für angemessen und auch für vertretbar .
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
Sie haben uns mitgeteilt, dass Sie bei der Erhöhung der
Beträge der staatlichen Zuwendungen nur mitmachen,
wenn wir bereit sind, Vorschläge, die Sie für eine Verbes-
serung der Transparenz halten, mitzutragen . Sie fordern
unter anderem, die Spenden von juristischen Personen
ganz zu verbieten .
Ich persönlich finde es transparent, zu wissen, wel-
ches Unternehmen an welche Partei wie viel spendet .
Intransparent wäre es für mich, wenn zum Beispiel ein
Strohmann im Auftrag eines Unternehmens als Privat-
mann spendet, ich den Spender aber dem Unternehmen
nicht zuordnen kann . Somit ist nicht erkennbar, also in-
transparent, ob größere Spenden im Zusammenhang mit
politischen Entscheidungen stehen . Das ist nicht mehr,
sondern weniger Transparenz .
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposi-
tion, machen Ihre Zustimmung zum Gesetzentwurf von
unserer Zustimmung zu – angeblichen – Transparenzver-
besserungen abhängig, und da werden wir nicht mitma-
chen . In Wirklichkeit scheuen Sie öffentliche Kritik .
Sie wollen sich einen schlanken Fuß machen .
Denken Sie noch mal nach! Hören Sie auf Ihre Schatz-
meister, und stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu!
Danke schön .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Britta
Haßelmann von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren Besucherinnen und Besucher! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Kollegin der SPD, da machen Sie es
sich mal wieder ein bisschen einfach . Ich rate nur dazu:
Wenn Sie das nächste Mal auf einem Parteitag wieder
ganz großzügig Transparenzregeln diskutieren und ver-
abschieden, dann erinnern Sie sich daran, was Sie gerade
gesagt haben . – Zur Not erinnere ich Sie daran .
Dass ausgerechnet die SPD sich bei solch einer Frage so
wegduckt, kann ich nicht verstehen .
Meine Damen und Herren, ich finde es bedauerlich,
dass wir im Rahmen dieses Gesetzentwurfes zur Partei-
enfinanzierung nicht zu einer gemeinsamen Auffassung
gekommen sind . Ja, den Parteien müssen ausreichende
Gabriele Fograscher
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 14033
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finanzielle Mittel zur Verfügung stehen, damit sie ihre
Aufgaben wahrnehmen können . Damit sie nicht auf Drit-
te, Externe, Wirtschaftsverbände oder andere angewiesen
sind, muss es eine staatliche Finanzierung und eine klare
Regelung dafür geben . Darüber bin ich froh, und dazu
stehen auch die Grünen .
– Meine Damen und Herren, ich komme gleich zu den
Unterschieden .
Wir sind auch froh, dass wir uns im Hinblick auf einzelne
kleine Änderungen verständigen konnten, die der Gesetz-
entwurf nun auch enthält . Das eine ist die Sanktionierung
für den Fall, dass eine Partei keinen Rechenschaftsbericht
vorlegt . Das andere – darauf ist gerade hingewiesen wor-
den – ist die trickreiche und künstliche Erhöhung der einer
Partei zustehenden staatlichen Mittel durch die Kreierung
von Einnahmen, denen gleich hohe Ausgaben gegenüber-
stehen, was verhindert, dass die Einnahmen die tatsächli-
che Verankerung der Partei in der Gesellschaft widerspie-
geln . Das wird mit diesem Gesetzentwurf abgestellt . Das
ist richtig, und das ist gut . Diese beiden Punkte haben wir
selbstverständlich auch unterstützt . Das trifft insbesondere
die Partei „Die Partei“ und die AfD mit ihrem Goldhan-
del, der aus unserer Sicht schon durch das geltende Gesetz
nicht abgesichert war; aber durch den Gesetzentwurf wird
das endlich klargestellt .
Was den beiden großen Koalitionsfraktionen bei der
Änderung des Parteiengesetzes besonders wichtig war –
das ist ein springender Punkt –, ist die Änderung des § 18
Absatz 3 . Sie erhöhen sich die Euro- bzw . Cent-Beträge
pro abgegebener gültiger Stimme – das haben Sie gerade
beschrieben – um 20 Prozent .
Gleichzeitig verzichten Sie aber darauf, notwendige
Transparenzregeln zur Parteienfinanzierung im Gesetz-
entwurf viel stärker und klarer zu formulieren . Bei der
Frage von Transparenz sind wir längst nicht am Ende,
Herr Brandt . Ich sage Ihnen mal ein paar Punkte, die wir
längst nicht geregelt haben . Deshalb haben wir sie in die
Verhandlungen eingebracht .
Regelungen zum Sponsoring . Sie waren nicht bereit,
auch Sie von der SPD nicht, solche Regelungen aufzu-
nehmen . Absenkung der Beträge im Zusammenhang mit
Veröffentlichungspflichten: keine Bereitschaft bei Uni-
on und SPD, sich darauf einzulassen . Beschränkung der
Spendenmöglichkeit auf natürliche Personen: keine Be-
reitschaft, darauf einzugehen, weder bei der Union noch
bei der SPD . Sanktionierung von Barspenden: keine Be-
reitschaft . Auch das wäre eine Maßnahme zur Transpa-
renz . Schließlich: Sanktionierung einer verspäteten Mel-
dung von Spenden über 25 000 Euro .
Meine Damen und Herren, dafür werbe ich . Das sind
sehr sinnvolle Transparenzregelungen . Wir als Parteien
und Fraktionen haben, da wir mit öffentlichem Geld um-
gehen, gegenüber der Öffentlichkeit immer die Nachwei-
spflicht und die Darlegungspflicht. Das wären notwendi-
ge und richtige Transparenzregeln, die wir, wenn wir das
Parteiengesetz schon ändern, auch hätten einfließen las-
sen können . Deshalb kann ich an der Stelle nicht verste-
hen, dass Sie von Union und SPD diese Chance vertun .
Vielen Dank . – Als letzter Redner in der Debatte hat
Michael Frieser von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Trotz der erhobe-
nen Stimme beim letzten Redebeitrag muss man feststel-
len, dass die Unterschiede tatsächlich gar nicht so groß
waren . Ob man draußen noch darstellen kann,
worin die wesentlichen Unterschiede liegen, wage ich
einmal zu bezweifeln . Wenigstens einen Lerneffekt gab
es, und zwar, dass das Privileg der Parteien auch mit ei-
ner Last verbunden ist . Artikel 21 GG gibt uns eine Auf-
gabe auf, die die Parteien zu mehr machen als zu einer
normalen Personenvereinigung, einem normalen Verein
oder einer normalen wie auch immer gearteten Zusam-
menkunft von Menschen .
Die wesentliche Funktion setzt voraus, dass es nicht
nur eine staatliche Teilfinanzierung, sondern vor allem
auch eine Kontrolle gibt . Ich glaube, dass es entscheidend
ist, dass wir jetzt dieses Gesetz wieder anpassen können .
Wir haben im Rahmen der Konsensfindung erklärt und
erkannt, dass wir an dieser Stelle nicht weit voneinander
entfernt sind .
Liebe Kollegen von den Grünen, dass man als Oppo-
sition am Ende ein Argument finden muss, warum man
der Erhöhung der Beträge nicht zustimmen kann, dafür
habe ich aus oppositionstechnischen und demokratiethe-
oretischen Gründen Verständnis . Ganz nachvollziehbar
ist das aber nicht .
Dass Missbräuche vorkamen, mussten wir immer mal
wieder erleben; denn natürlich ist kein Gesetz vor Miss-
brauch gefeit . Dafür sind wir aber auch ein Rechtsstaat .
Es ist mir ganz wichtig, zu sagen, dass es nicht nur um
eine Anpassung von Grenzen und von Beiträgen geht,
sondern es geht in erster Linie selbstverständlich um die
Frage der Anwendung des Gesetzes sowie um die Bilanz-
technik bzw. die Vorlagepflichten.
Britta Haßelmann
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514034
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Es ist entscheidend, dass jemand, der über sechs Jah-
re hinweg nicht in der Lage oder nicht willens ist, nach-
zuweisen, wie sich seine Partei finanziert und wie seine
Bilanz aussieht, nicht nur das Geld, das er vom Staat be-
kommen hat, zurückzahlen muss – das war bisher schon
der Fall –, sondern dass wir uns auch aufgrund von äu-
ßeren Einflüssen dieser Rechte annehmen müssen. Wer
sechs Jahre nicht bei Wahlen antritt und wer sechs Jahre
lang weder einen Rechenschaftsbericht noch eine Bilanz
vorlegen kann, der hat den Status der Partei auch nicht
verdient. Nur so kann man Einfluss von anderer Seite
ausschließen und zurückdrängen .
Spenden sind ein wesentlicher Faktor . Ich werde all-
mählich müde, immer gegen das Bild der Käuflichkeit
der Politik anzugehen . Gäbe es in diesem Land nicht die
Spendenbereitschaft von Menschen wie auch von juris-
tischen Personen und Organisationen, dann läge unser
gesellschaftliches Leben am Boden .
Das gilt für alle Vereine und Verbände und auch für die
Parteien .
– Aufregung allein ersetzt keine Argumentation . Ich bin
schon erstaunt, dass man bei so wenig Ahnung so viel
Meinung transportieren kann . Das tut mir furchtbar leid .
Das Ergebnis bleibt: Wir wissen doch, dass eine na-
türliche Person, die spenden will, ohne unterhalb der
Transparenzgrenze spenden zu müssen, dies tatsächlich
auch tun kann . Warum man diese Dispositionsfreiheit
des Eigentums nach Artikel 14 GG juristischen Personen
nehmen sollte, versteht kein Mensch und ist auch nicht
im Sinne unseres Grundgesetzes .
Herr Frieser, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kolle-
gin Haßelmann zu?
Wenn es der Rechtsfindung dient, lasse ich sogar eine
Zwischenfrage zu .
– Das hat mit Großzügigkeit gar nichts zu tun, sondern
das hat etwas mit hohen Schmerzgrenzen zu tun .
Bitte schön, Frau Haßelmann .
Wenn man keine Argumente hat, greift man vielleicht
zu solchen Dingen. Herr Frieser, empfinden Sie sich in
der Debatte nicht als reichlich aufgeblasen?
Ich versuche, im Rahmen meines Körpergewichtes,
das nicht über meinem politischen Gewicht liegt, deut-
lich zu machen, dass ich von den Regelungen überzeugt
bin .
– Jetzt lassen Sie bitte ein bisschen die Luft raus . Sonst
ist die Debatte gar nicht mehr zu ertragen .
Zurück zum Kern, Frau Haßelmann . Sie müssen das
den Menschen gegenüber schon begründen . Wir haben
die Transparenzregeln angepasst . Wir haben deutlich ge-
macht, warum wir das machen .
– Jetzt wollen Sie gar nicht mehr zuhören . Das ist auch
egal .
Man muss den Menschen deutlich machen, dass Par-
teien etwas anderes als normale Vereine sind . Deshalb
müssen Parteien andere Regeln befolgen . Deshalb müs-
sen Parteien in der Lage sein, transparenter zu handeln .
Das haben wir ja nun wirklich getan . Um das mal auf
ein Beispiel anzuwenden – Frau Haßelmann, vielleicht
nützt es was –: Die 10 000 Euro, die wir vor Jahren als
Grenze für die Transparenzpflicht festgelegt haben, sind
mittlerweile, obwohl wir eine sehr niedrige Inflation ha-
ben, wesentlich weniger wert .
Die Grenze für die Transparenzpflicht entwickelt sich
also automatisch nach unten, und das entspricht im Grun-
de einer Erhöhung, wie Sie sie gefordert haben . Also
kommt man genau dieser Art von Transparenzforderun-
gen tatsächlich entgegen .
Ich will zum Schluss kommen und noch einmal deut-
lich sagen: Ich sehe die Unterschiede als nicht so we-
sentlich . Das stimmt mich auch wieder einigermaßen
zufrieden, weil demokratische Parteien einerseits einen
Abwehrkampf gegen ein wirklich schiefes Bild in der
Öffentlichkeit führen, was die Parteienfinanzierung an-
betrifft . Andererseits sind wir uns aber auch einig darü-
ber, dass wir bestimmte Regeln verschärfen müssen, dass
wir bestimmte Regeln deutlich machen müssen, damit
wir am Ende des Tages sagen können: Die Parteienfinan-
zierung setzt sich aus den Mitgliedsbeiträgen, den Spen-
den, dem Sponsoring und der staatlichen Finanzierung
zusammen und ist die Grundlage dafür, dass die Par-
teien ihrem Auftrag, an der politischen Willensbildung
mitzuwirken, nachkommen können . Deshalb hoffe ich,
Michael Frieser
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 14035
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dass wir nicht nur in der Lage sind, das miteinander zu
beschließen, sondern dass wir auch über den Malus hin-
wegkommen, dass die Oppositionsparteien diesmal nicht
dabei sind . Vielleicht wird das ja bei der nächsten Ände-
rung der Fall sein . Es sollte mich freuen .
Vielen Dank .
Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen . Damit
sind wir am Schluss dieser Debatte .
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf der Drucksache 18/6879 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt es ander-
weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall . Dann ist die
Überweisung so beschlossen .
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Tom Koenigs, Kordula Schulz-Asche, Omid
Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gewalt in Burundi stoppen – Weitere massive
Menschenrechtsverletzungen verhindern
Drucksache 18/6883
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . Gibt es dagegen
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall . Dann ist das so
beschlossen . Ich eröffne die Aussprache, sobald die Kol-
leginnen und Kollegen ihre Plätze eingenommen haben .
Ich eröffne die Aussprache . Als erste Rednerin hat
Kordula Schulz-Asche von der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen das Wort .
Vielen Dank . – Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! In den 90er-Jahren stand die Region der Großen
Seen in Zentralafrika in Flammen . Dazu gehörte auch
der Bürgerkrieg in Burundi mit über 300 000 Toten und
mit Hunderttausenden von Flüchtlingen in den Nachbar-
ländern . Im Jahr 2000 kam es dann zu einer Einigung
zwischen den verschiedenen Parteien . Man beschloss
zwei Dinge: Das eine war die Entwaffnung der Milizen
und deren Integration in die nationale Armee, das andere
waren eine neue Verfassung und ein neues Wahlgesetz .
Die neue Verfassung begrenzte die Amtszeiten der Prä-
sidenten auf zwei Legislaturperioden . Deswegen, mei-
ne Damen und Herren, ist es nicht banal, wenn heute in
verschiedenen Ländern in der Region darüber diskutiert
wird, die Anzahl der möglichen Amtszeiten zu erhöhen .
Seit der Ankündigung von Präsident Nkurunziza, bei
der Wahl am 21 . Juli 2015 für eine dritte Amtszeit zu
kandidieren, kommt es in Burundi zu schweren Unru-
hen, zu schweren Menschenrechtsverletzungen seitens
der Regierung, aber auch seitens bewaffneter Milizen .
Im November dieses Jahres drohte die gesamte Situati-
on extrem zu eskalieren . Man muss dankbar sagen: Die
Bundesregierung, die Parlamentariergruppe Östliches
Afrika, aber natürlich auch andere – die EU, die Verein-
ten Nationen, vor allem die Afrikanische Union und die
Ostafrikanische Gemeinschaft – haben dazu beigetragen,
dass eine weitere Eskalation verhindert werden konnte .
In dieser Situation befinden wir uns heute.
Die aktuelle Lage in Burundi ist angespannt . Nach
wie vor geht es in dem Konflikt um politische Kontro-
versen . Doch wir müssen alle im Blick haben: Je länger
dieser Konflikt dauert, umso größer ist die Gefahr einer
erneuten Ethnisierung des Konfliktes und damit auch die
Gefahr eines Völkermords .
Was ist jetzt zu tun? Wir haben mit der Resoluti-
on 2248 des UN-Sicherheitsrates eine gute Grundlage .
Deshalb fordern wir in unserem Antrag, dass die Präsenz
der Vereinten Nationen, der Afrikanischen Union und
der Peacebuildung Commission gestärkt wird, dass die
juristische Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzun-
gen eingeleitet wird, dass Hilfe für die in Nachbarländer
geflohenen Flüchtlinge angeboten wird und dass auch
Deutschland Asyl anbietet . Meine Damen und Herren,
notwendig ist auch – das ist eine Aufforderung an die
Bundesregierung – eine konsequente Strategie im Um-
gang mit den verlängerten Amtszeiten, auch in Ruanda
und der Demokratischen Republik Kongo, wo es das
gleiche Problem gibt .
Die Entwicklung in Burundi hat uns ein weiteres sehr
zentrales Problem aufgezeigt: Wir – ich meine die Welt-
gemeinschaft, aber auch und gerade Deutschland – müs-
sen die vorhandenen Instrumente der Früherkennung und
der Verhinderung von schwersten Menschenrechtsverlet-
zungen im Sinne der Schutzverantwortung weiter schär-
fen. Hier gibt es noch große Defizite. Deswegen haben
wir mit unserem Antrag versucht, auch auf diesen Punkt
zu zeigen .
Meine Damen und Herren, Burundi mag geografisch
in einer anderen Region liegen, aber wir sind eine Welt-
gemeinschaft, und die Menschenrechte sind unteilbar .
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Frank Heinrich
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Ich stehe dazu: Für mich entscheidet sich die
Menschlichkeit unserer Welt am Schicksal Afrikas .
Michael Frieser
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514036
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Das hat Horst Köhler, der ehemalige Bundespräsident,
am Ende einer Rede gesagt .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Erst einmal ein ganz herzliches Dankeschön
für diesen Antrag . Er führt dazu, dass wir über dieses
Thema zu einer respektablen Uhrzeit debattieren dürfen .
Wir teilen die Befürchtungen . Ich glaube nicht, dass
Sie einen kennen, der das Gegenteil sagt . Es ist gut, heu-
te darüber zu reden . Wir reden in der letzten Zeit immer
wieder – es ist schon fast ein geflügeltes Wort gewor-
den – über Fluchtursachen . Hier wird es ganz deutlich,
auch wenn es uns nicht hier betrifft, sondern die Nach-
barländer Burundis . Auch das, was wir als Parlament
und als Bundesregierung in solchen Fällen tun und tun
können, um Fluchtursachen zu bekämpfen, ob sie uns
betreffen oder nicht, noch bevor es zu Chaos und Vertrei-
bung kommt, steht nicht immer im Mittelpunkt . Das ist
auch gut so und hat mit Diplomatie zu tun, ist aber von
elementarer Bedeutung . Zugleich macht die Situation um
Burundi deutlich, worin das Dilemma politischen Han-
delns besteht . Greifen wir nicht ein, können Situationen
wie damals in Ruanda entstehen; Sie haben gerade dar-
an erinnert . Greifen wir ein, laufen Teile der Opposition
Sturm . Das lesen wir jetzt in Briefen, die sich auf die
Situation in Syrien beziehen .
Ruanda hat uns gelehrt: Die Weltgemeinschaft darf
nicht nur zuschauen . Auch Deutschland muss Verantwor-
tung übernehmen . Die aktuelle Lage und die damit ver-
bundene Gewalt, auch in den Äußerungen aus Burundi,
wecken in uns Erinnerungen an die Völkermorde, die wir
bisher erleben mussten . Es wurden Hunderttausende von
Toten gezählt .
Seit mehreren Wochen kommt es in Burundi zu re-
gelmäßigen Schusswechseln, Folter, Verhaftungen und
Überfällen . Das alles – das schreiben Sie in Ihrem An-
trag – sind Indizien – die haben wir als messbare Größen
festgelegt – für einen Völkermord . Auslöser der Proteste
war die auch in der eigenen Regierungspartei hochum-
strittene Kandidatur des Präsidenten für eine dritte Amts-
zeit . Teilweise werden einzelne Stadtteile Bujumburas,
der Hauptstadt, tagelang abgeriegelt . Seit dem geschei-
terten Putsch an Präsident Nkurunziza vonseiten eines
Teils des Militärs im Mai hat sich das Klima deutlich
verschärft . Die Regierung und inzwischen auch Teile der
bewaffneten Opposition setzen bislang ausschließlich
auf Einschüchterung und Gewalt .
Der Präsident kündigte in einer Rede am 2 . November,
also vor gut einem Monat, ein Ultimatum bis einschließ-
lich 7 . November an und sprach von der letzten Chance
zur freiwilligen Entwaffnung und zur Beendigung aller
kriminellen Aktivitäten . Er drohte mit einer Verfolgung
derer, die dieser Aufforderung nicht nachkämen, und be-
zeichnete sie als Feinde der Nation . Verängstigte Bürger
flohen nach Ablauf des Ultimatums, teilweise schon vor-
her, aus den betroffenen, oppositionsnahen Stadtvierteln .
Über 200 000 Burundis befinden sich nach Zahlen des
UNHCR mittlerweile in den Nachbarländern – Flucht-
ursachen, Fluchtfolgen .
Zumindest die befürchtete Eskalation der Gewalt
blieb nach Ablauf des Ultimatums aus; wir haben auf-
geatmet . Das ist auch auf das abgestimmte Handeln der
gesamten internationalen Gemeinschaft zurückzuführen,
an dem sich die Bundesregierung beteiligt hat . Ich konn-
te Termine mit Vertretern des Auswärtigen Amtes nicht
wahrnehmen, weil sie genau damit beschäftigt waren .
Momentan orientiert sich der Konflikt an politischen
Linien . Die Regierung versucht zurzeit, diesen Kon-
flikt zu ethnisieren. Auch wenn die Situation nicht eins
zu eins übertragbar ist: Wenn es zu einer Intensivierung
des Konflikts, zu einem Bürgerkrieg und womöglich zu
Massakern kommt, sind wir in meinen Augen nicht weit
von der Situation in Ruanda 1994 entfernt . Die Zahl der
Toten haben wir alle vielleicht noch im Kopf . Die inter-
nationale Gemeinschaft hat damals versagt, und das darf
uns bei Burundi heute nicht wieder passieren .
Ich stimme mit Ihrem Antrag darin überein, dass in der
derzeitigen Lage viele der allgemeinen Kriterien erfüllt
sind, die der Sonderberater des Generalssekretärs der
Vereinten Nationen für die Verhütung von Völkermord –
ich habe es gerade schon erwähnt – als übliche Warnsig-
nale für drohende Verbrechen gegen die Menschlichkeit
identifiziert hat: schwere Menschenrechtsverletzungen,
anhaltende Gewalt, Diskriminierung bestimmter Grup-
pen . Doch genau deshalb setzt sich die Bundesregierung
für die Stabilisierung der Situation in Burundi ein:
Schon im April hat sich Bundesaußenminister
Steinmeier persönlich an die burundische Regierung ge-
wandt und intensiv mit den europäischen und vor allem
den afrikanischen Partnern für eine Stabilisierung der Si-
tuation gekämpft .
Am Tag vor dem Ablauf des Ultimatums traf sich der
Krisenstab der Bundesregierung und hob die Krisenstufe
an, um auf eine weitere Zuspitzung der Lage angemessen
reagieren zu können .
Der Afrika-Beauftragte des Auswärtigen Amtes reiste
mehrfach zu Gesprächen in die Region und zur Afrikani-
schen Union und hat unsere Gremien hier im Bundestag
darüber informiert .
Um ein deutliches Zeichen zu setzen und weiter
Druck auf die Regierung aufzubauen, hat die Bundesre-
gierung bereits Anfang Juni regierungsnahe Aktivitäten
der deutschen bilateralen Entwicklungszusammenarbeit
mit Burundi beendet . Die Teile der Entwicklungszusam-
menarbeit, die der Bevölkerung direkt zugutekommen,
wurden fortgesetzt . Vertreter der Zivilgesellschaft haben
dies ausdrücklich gewürdigt . Aber es ist nicht möglich,
es jedem recht zu machen; ich habe auch Klagen darüber
gehört .
Sie fordern in Ihrem Antrag, dass sich die Bundesre-
gierung dafür einsetzt, dass die internationale Gemein-
schaft, insbesondere die Afrikanische Union und die
Vereinten Nationen, ihre diplomatischen Anstrengungen
verstärkt, um alle politischen Akteure an einen Tisch zu
bringen und um weitere Menschenrechtsverletzungen
und einen drohenden Bürgerkrieg abzuwenden .
Frank Heinrich
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 14037
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(D)
Wir wollen unserer Schutzverantwortung – hier fällt
oft der Begriff „Responsibility to Protect“ – gerecht
werden . Die vor drei Wochen verabschiedete Resoluti-
on 2248 des VN-Sicherheitsrates ist in diesem Zusam-
menhang ein maßgeblicher Baustein . Da passiert also
etwas; da sind die ersten Dinge festgelegt worden . Da-
für hat sich die Bundesregierung insbesondere bei den
ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates, darunter
Russland, und den afrikanischen Partnern eingesetzt . Der
Sicherheitsrat hat auch erklärt – Sie erwähnen es in Ih-
rem Antrag –, dass er bei ungünstiger Lageentwicklung
weitere Maßnahmen gegen Personen, die eine friedliche
Lösung verhindern, ins Auge fasst .
Innerhalb der EU hat sich die Bundesregierung auf
mehreren Ebenen intensiv für die mittlerweile getrof-
fenen Beschlüsse eingesetzt . Sie unterstützt außerdem
die im September 2015 gefasste Resolution des Men-
schenrechtsrats zu Burundi . Dazu gehört zum Beispiel
auch der Vorschlag eines neuen VN-Vermittlers . Erst am
Montag hat der Generalsekretär der Vereinten Nationen
drei Vorschläge zum weiteren Vorgehen gemacht . Dazu
gehört die Entsendung von Blauhelmsoldaten zur Frie-
denssicherung .
Besonders positiv ist eine Seite hervorzuheben, die
bei den vielen Krisen in Afrika in den letzten Jahren und
Jahrzehnten so nicht zu bemerken war, nämlich die Rolle
und das Auftreten der Afrikanischen Union . Sie hat zivi-
le Beobachter und Militärbeobachter nach Burundi ents-
andt, die von der Europäischen Union mitfinanziert wer-
den . Die Bundesregierung und ihre Partner arbeiten mit
allen diplomatischen Mitteln einschließlich möglicher
Sanktionen, mit einer Mischung aus Druck und Anreizen
daran, zu einer friedlichen Lösung zu kommen, wo und
wie auch immer sie möglich ist .
Die gemeinsamen Bemühungen tragen Früchte . Zum
Beispiel ist eine leichte Änderung der Haltung des re-
gional wichtigen Akteurs und nichtständigen Sicher-
heitsratsmitglieds Angola zu erkennen, das bis dato den
Präsidenten Burundis bedingungslos unterstützt hatte,
jetzt aber auch ein Ende der Hassreden fordert . Der ke-
nianische Präsident Kenyatta rief anlässlich eines Be-
suchs des chinesischen Afrika-Beauftragten in Nairobi
den burundischen Präsidenten dazu auf, alle wichtigen
burundischen Akteure in die Lösung der Krise einzubin-
den . Auch die Regierung der Demokratischen Republik
Kongo zeigte sich weit besorgter als zuvor .
Wir können aus der Ferne viel Richtiges sagen, aber
es braucht auch die gleichen Reaktionen aus dem afri-
kanischen Kontext . Darüber bin ich an dieser Stelle sehr
dankbar .
Zur Versorgung der Flüchtlinge in Nachbarländern hat
die Bundesregierung dem UNHCR 1 Million Euro aus
Mitteln für humanitäre Hilfe zugesagt . Sie haben in der
Begründung Ihres Antrags richtig erklärt, dass die He-
rausforderung nun darin bestehen wird, die notleidende
Bevölkerung, die unter dem drohenden Bürgerkrieg am
meisten leidet, nicht im Stich zu lassen und gleichzeitig
die Regierung zur Achtung der Menschenrechte zu ver-
pflichten. Wir sehen, dass es bereits entsprechende An-
strengungen im Handeln der Bundesregierung gibt, und
plädieren daher dafür, dass wir in den Ausschüssen an
dem vorliegenden Antrag weiterarbeiten . Das soll auch
keine Rechtfertigung sein im Sinne von: Damit haben
wir genug getan . Aber auf der Basis dessen – und es ist
eine gute Basis – sollten wir weiter reden .
Ich komme zum Schluss . Zusehen ist keine Option .
Deswegen: Lasst uns Verantwortung übernehmen!
Danke .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin spricht Inge
Höger von der Fraktion Die Linke .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Burundi
steht vor einer humanitären Katastrophe, vor einem po-
litischen Abgrund . Mindestens 240 Menschen sind bei
gewalttätigen Auseinandersetzungen vor und nach den
Wahlen im Mai dieses Jahres ums Leben gekommen .
Rund 200 000 Menschen flohen in die Nachbarländer
Tansania, Ruanda, in die Demokratische Republik Kon-
go und Uganda . Viele der Flüchtlinge sind Minderjäh-
rige, die versuchen, sich der Rekrutierung durch regie-
rungsnahe oder oppositionelle Milizen zu entziehen .
Ein erster Schritt zur Vermeidung einer weiteren Es-
kalation ist die Unterstützung des UN-Flüchtlingshilfs-
werks UNHCR bei der Versorgung dieser jungen Men-
schen . Es ist eine Schande, dass das UNHCR chronisch
unterfinanziert ist. Hier könnte mit überschaubaren Sum-
men ganz konkret geholfen werden .
Wir haben es in Burundi mit einem politischen und so-
zialen Konflikt zu tun. Glücklicherweise ist er noch nicht
zu einem ethnischen Konflikt geworden, obwohl die Re-
gierung und ihr nahestehende Medien alles tun, die Wut
der Hutu-Mehrheit auf die Tutsi-Minderheit zu lenken .
Die Jugendorganisation der regierenden CNDD-FDD-
Partei ist mitverantwortlich für zahlreiche Angriffe auf
Oppositionelle und deren Familienangehörige . Gleich-
zeitig spielt die Polizei eine erhebliche Rolle bei der
gewalttätigen Unterdrückung der Medien und der Oppo-
sition . Diese wiederum setzte anfänglich auf friedlichen
Protest und reagierte dann zunehmend ebenfalls mit Ge-
walt . Dieser Teufelskreis muss mit politischen Initiativen
durchbrochen werden .
Dabei kann die von Ban Ki-moon Anfang der Woche ins
Spiel gebrachte Entsendung eines Unterstützungsteams
für die Wiederaufnahme des politischen Dialogs eine
wichtige Rolle spielen .
Die Eskalation in Burundi ist auch ein Ergebnis des
Versagens der internationalen Geldgeber . Anstatt die
Regierung bereits 2010 nach den damaligen Wahlen
zu ermutigen, rechtzeitig einen Nachfolger oder eine
Nachfolgerin aufzubauen, lag der Schwerpunkt in der
Sicherheitskooperation . Die westlichen Geber haben
Frank Heinrich
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514038
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Prestigeprojekte wie den Aufbau einer gut ausgerüsteten
burundischen Interventionstruppe mit 5 000 Mann für
AMISOM, die Mission in Somalia, betrieben . Gleichzei-
tig stagnierte die ökonomische Entwicklung . Armut und
Arbeitslosigkeit sind nach wie vor die größten Probleme .
Ohne die entschiedene Bekämpfung der Armut gibt es
keine Chance für einen dauerhaften Frieden .
Oberflächlich gesehen hat sich der Konflikt an der
Entscheidung des Präsidenten, entgegen der Friedensver-
einbarung für eine dritte Amtszeit zu kandidieren, ent-
zündet . Nun stellt sich die Frage, wie glaubwürdig diese
Vorwürfe bezüglich einer dritten Amtszeit sind; denn
gleichzeitig hat der international bestellte Vermittler, der
ugandische Präsident Museveni, entsprechende Regelun-
gen in seinem Land außer Kraft gesetzt, und es ist ab-
sehbar, dass der Druck auf den ruandischen Präsidenten
Kagame, der 2017 auch ein drittes Mal kandidieren wird,
wohl eher symbolischer Natur sein wird, da er als zuver-
lässiger Partner der USA und der EU eingeschätzt wird .
Eine Politik der doppelten Standards und des geopoliti-
schen Opportunismus sorgt kaum für Glaubwürdigkeit .
In ihrem Antrag mahnen die Grünen eine verantwor-
tungsbewusste und vorausschauende Politik an . Diese ist
ohne Zweifel nötig . Dafür brauchen wir bessere Struktu-
ren und mehr zivile Ressourcen . Dabei auf das Konzept
der Schutzverantwortung zu setzen, ist aber ein Irrweg .
Die verheerenden Folgen der sogenannten Verantwor-
tung zum Schutz können wir in Libyen sehen . Sie öffnet
die Türen für eine Erosion des Völkerrechts und beför-
dert militärische Interventionen und Eskalationen .
Wenn mit der gleichen Entschlossenheit, mit der in
diesem Haus zurzeit Kriege beschlossen werden, zukünf-
tig in zivile Krisenprävention und Konfliktbearbeitung
investiert wird und wenn dafür die gleichen Ressourcen
zur Verfügung gestellt werden, dann wäre dies eine wirk-
lich verantwortliche Außenpolitik .
Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als letzte Rednerin in dieser Debatte
hat Gabi Weber von der SPD-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Parlamentariergruppe Östliches Afrika
war in diesem Frühjahr in Burundi . Mit mir sind heu-
te Abend drei Mitglieder dieser Gruppe hier . Wir haben
damals Bob Rugurika im Gefängnis besucht . Bob ist ein
Journalist, der damals im Gefängnis war und uns in die-
ser Situation über die schwierige politische Lage seines
Landes informiert hat . Schon damals war zu erkennen,
dass weder Rechtsstaatlichkeit noch Demokratie in die-
sem Lande funktionieren . Und dennoch: Kurz nach dem
Gespräch erfuhren wir, dass Bob freigelassen wurde . Er
ist in Sicherheit . Er war in Brüssel und ist mittlerweile
in Kigali . Dieses Ereignis zeigt, wie wichtig es ist, Men-
schen in ihrer Not anzunehmen und zu unterstützen .
Eine wichtige Rolle hat in diesem Zusammenhang –
das muss man einfach anerkennen – unser Botschafter in
Burundi gespielt . Er hat zusammen mit den Botschaftern
der anderen EU-Staaten der burundischen Regierung im-
mer wieder Druck gemacht, auch im vergangenen Drei-
vierteljahr . Ich denke, dafür kann man unserem Botschaf-
ter einmal einen Dank nach Burundi schicken .
Wir sind uns einig, dass die Situation in Burundi be-
sorgniserregend ist . Es droht ein weiterer grausamer Bür-
gerkrieg . In der angespannten Lage führt verbale Hetze
dazu, dass weder verbal noch mental abgerüstet wird .
Vielmehr glaubt man sich im Recht, auch mit Gewalt auf
die anderen zuzugehen bzw . einzuschlagen .
Wir können nicht zulassen, dass Oppositionelle und
Vertreter der Zivilgesellschaft verschleppt, misshandelt
und schließlich getötet werden . Über die Situation der
Flüchtlinge haben einige Kollegen hier schon einiges
gesagt . Das will ich nicht weiter vertiefen, sondern nur
darauf hinweisen, dass, wenn es zu einem Bürgerkrieg in
Burundi käme, dieser nicht auf Burundi beschränkt wäre .
Dann hätten wir einen Flächenbrand in Ostafrika, und
den gilt es auf jeden Fall zu verhindern . Deshalb ist es
wichtig, dass die alten Wunden, dass die Kriegstraumata
geheilt werden, der Vertrag von Arusha umgesetzt wird
und in Burundi nicht neue Konflikte heraufbeschworen
werden .
Wichtig ist mir, noch einmal festzustellen: Es ist kein
ethnischer Konflikt. Dieser Konflikt wird hervorgerufen
durch das kompromisslose Festhalten der burundischen
Regierung und ihres Präsidenten an der politischen
Macht . Im Juli dieses Jahres hat er, obwohl er wusste,
welche Diskussionen und welche Gewalt er damit her-
aufbeschwört, zum dritten Mal als Präsident kandidiert .
Seitdem kommt Burundi nicht mehr zur Ruhe . Wir müs-
sen verhindern, dass diese Situation so bleibt oder noch
schlimmere Ausmaße annimmt . Deswegen müssen wir
handeln und Druck ausüben .
Ich komme noch einmal auf die Parlamentariergruppe
Östliches Afrika zu sprechen, die dem burundischen Bot-
schafter hier eine Note übergeben hat . Ich zitiere daraus:
Wir fordern Sie auf,
sich bei der Regierung Ihres Landes für eine sofor-
tige friedliche Lösung einzusetzen, um eine weitere
Eskalation der Situation zu verhindern . Das heißt:
Die Resolution des Peace and Security Committees
der Afrikanischen Union und die Mediationsbemü-
hungen der East African Community zu akzeptieren
und sich zusammen mit Vertretern der Vereinten
Nationen sofort für die Rückkehr aller burundischen
Inge Höger
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 14039
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Akteure an den Verhandlungstisch und eine dauer-
hafte, friedliche Entwicklung einzusetzen .
Das war das, was wir dem burundischen Botschafter
mit auf den Weg gegeben haben . Er war nicht amüsiert .
Er wollte diese Botschaft, die ihm in Deutsch übergeben
wurde, unbedingt noch einmal auf Französisch haben,
damit er auch wirklich alles versteht . Hoffentlich hat es
geklappt .
Unsere Parlamentariergruppe wird sich auch weiterhin
für den Friedensprozess einsetzen .
Mittlerweile wurden seitens internationaler Organi-
sationen einige Schritte unternommen, um das Nkurun-
ziza-Regime zum Dialog zu bewegen . Einer wurde ge-
nannt: die UN-Resolution 2248 . Das ist spannend, weil
sie mit Russland und China verabschiedet wurde, die an
dieser Stelle sonst zu ewigen Blockaden neigen . Aber
hier haben sie mitgemacht . Nach 15 Tagen hat die UNO
dann auch gesagt: Okay, wir fassen jetzt stärkere Schritte
ins Auge . – Diese sind im Antrag der Grünen mit aufge-
führt .
EZ-Mittel wurden gesperrt, sofern sie regierungsnah
eingesetzt werden; nicht die EZ-Mittel, durch die Bevöl-
kerung unterstützt werden kann .
Ein wichtiger Punkt, der auch zur Entspannung mit
beigetragen hat, ist, dass die Chefanklägerin beim In-
ternationalen Strafgerichtshof angekündigt hat, gegen
burundische Akteure ermitteln zu wollen . Die Bestra-
fung der Verantwortlichen wäre ein wichtiger Schritt zur
Stabilisierung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie .
Nach Berichten aus Burundi – ich habe gestern noch
einmal mit einigen Personen telefoniert – zeigen diese
Schritte auch Wirkung .
Sie sind absolut winzig . Und trotzdem sagen uns Men-
schen aus Burundi heute, dass die Sicherheitskräfte zu-
rückhaltender sind, was Razzien angeht, weil diese Raz-
zien nicht mehr nachts stattfinden, sondern am Tage. Das
ist zwar ein winziger Schritt, aber die Menschen dort sa-
gen: Das lässt uns ein bisschen aufatmen, weil wir nicht
ständig in Angst leben müssen .
Wichtiger an dieser Stelle ist, dass die vor 14 Tagen
bzw . drei Wochen befürchtete Eskalation nicht eingetre-
ten ist . Wir müssen aber noch mehr tun, um eine politi-
sche Lösung zu finden. Dazu müssen die Afrikanische
Union, die Vereinten Nationen und wir mit eingebunden
sein . Wir brauchen gezielte Sanktionen, die die Regie-
rung treffen . In diese Maßnahmen sollten auch China und
Russland eingebunden sein .
Ein spannender kleiner Aspekt am Rande ist: Burundi
finanziert sich zurzeit zum Teil durch Kredite der OPEC
und der Organisation islamischer Staaten . Das sollte uns
ganz, ganz hellhörig machen .
Ausländische Konten von burundischen Regierungs-
vertretern sollten blockiert sowie Reiseverbote erteilt
werden . Es sollte aber auch überprüft werden, ob die
Vergütung für die 1 256 burundischen VN-Polizisten,
VN-Militärexperten und Missionssoldaten dem Regime
entzogen werden könnte . Ich glaube, auch das wäre ein
Punkt, um sie empfindlich zu treffen.
Der zivile Friedensdienst muss weiter unterstützt
werden . Ein besonderes Anliegen ist mir, die Frauen in
diesem Konflikt als Schlüssel zur Lösung zu betrachten.
Burundische Frauen haben im Mai mehrere Demonstra-
tionen veranstaltet . Sie haben damit klargemacht, dass
sie mitgedacht werden wollen und vor allen Dingen mit
handeln wollen . In diesem Sinne erinnere ich auch an die
Resolution 1325 des UN-Sicherheitsrates . Frauen sollten
hier eine große Rolle spielen . Das wünsche ich mir auch
im Hinblick auf die Lösungen für Burundi .
Vielen Dank .
Vielen Dank . – Damit schließe ich die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/6883 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall . Dann ist das so beschlos-
sen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages-
ordnungspunkt 16 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Zwei-
ten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über
Bausparkassen
Drucksachen 18/6418, 18/6680
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz-
ausschusses
Drucksache 18/6903
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat als erste
Rednerin Anja Karliczek .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste! Wir haben uns in den letzten
Wochen intensiv mit dem engmaschigen Regelwerk der
Bausparkassen auseinandergesetzt . Bausparkassen sind
besondere Banken . Sie unterliegen deshalb einer Men-
Gabi Weber
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514040
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ge Regeln . Aber sie haben wohl auch deswegen in der
vergangenen Finanzkrise zu den Lichtblicken im Finanz-
wesen gehört . Nun trifft auch sie die Niedrigzinsphase .
Die Kombination aus engem regulatorischem Rahmen
und niedrigen Zinsen ist für Bausparkassen ein Problem .
Wir wollen unsere Bausparkassen zukunftsfähig ma-
chen . Der Erwerb von Wohneigentum ist ein wichtiges
Instrument der privaten Altersvorsorge . Wir können den
Menschen nicht vorschreiben, wie sie Vorsorge betrei-
ben . Aber was wir tun können, ist, die richtigen Rahmen-
bedingungen für verlässliche Anlageformen zu schaffen .
Ein eigenes Dach über dem Kopf ist auch eine Form von
Vermögensaufbau .
Bausparkassen unterstützen Menschen, die ein eige-
nes Dach über dem Kopf haben wollen . Deshalb wollen
wir ihnen in verantwortbaren Grenzen Erleichterungen
und Flexibilität in ihrer Geschäftspolitik zugestehen .
Eine Gebäudeversicherungspflicht ausschließlich für
Häuser, die durch Bausparkassen finanziert werden, hal-
ten wir deshalb nicht für sachgerecht . Das ist genau das
Gegenteil von Erleichterung und Flexibilität . Das führt
nur zu mehr Verzerrungen im Wettbewerb mit anderen
Kreditgebern .
Wir haben uns lieber dafür entschieden, dass Bau-
sparkassen bei Baufinanzierungen für selbstgenutzten
Wohnraum fortan 100 Prozent statt 80 Prozent finanzie-
ren können . Tatsächlich können sie das auch schon heu-
te tun – nur, dass sie heute für die fehlenden 20 Prozent
eine Bürgschaft nachweisen müssen . Ich denke, dass die-
se Regelung angesichts sehr geringer Kreditausfallraten
und einer hohen eigenen Geschäftsexpertise vertretbar
ist .
Des Weiteren sollen sie in größerem Umfang normale
Baudarlehen und Zwischenfinanzierungen vergeben kön-
nen; auch dies passt zu ihrem Geschäftsmodell .
Ebenso soll der Fonds zur bauspartechnischen Absi-
cherung mehr Verwendungsmöglichkeiten bekommen .
Er wurde vor Jahren eingeführt, um in einer Hochzins-
phase eine gleichmäßige Zuteilung der Bauspardarlehen
zu gewährleisten . Eine Hochzinsphase können wir uns
heute kaum noch vorstellen . Aber damals gab es wirklich
Liquiditätsengpässe bei den Bausparkassen, und die galt
es zu überwinden .
Heute verfügen die Bausparkassen über eine enorm
hohe Liquidität . Jedoch erwirtschaften sie leider nicht
immer genug Rendite, um alle Zinsversprechen dauer-
haft erfüllen zu können . Deshalb kann der Fonds ab heu-
te in Hoch- wie in Niedrigzinsphasen zur Überwindung
kurzfristiger Engpässe genutzt werden .
Wenn Sie, liebe Frau Karawanskij, diesen Gesetz-
entwurf heute allen Ernstes wegen der Kündigung von
Bausparverträgen durch Bausparkassen ablehnen wollen,
dann muss ich ihnen leider sagen: Sie sind beim falschen
Gesetzentwurf . Denn wir schaffen hier und heute gera-
de die Voraussetzungen dafür, dass Bausparkassen über-
haupt in der Lage sind, die versprochenen Zinsen weiter
zu zahlen .
Ferner werden wir Bausparkassen künftig erlauben,
Aktienanlagen zu tätigen . Über diesen Punkt haben wir
lange diskutiert . Denn dieses Geschäft hat nichts mit der
Finanzierung von Bauen im eigentlichen Sinne zu tun .
Ich denke aber, wir haben eine gute Lösung gefunden .
Die Bausparkassen dürfen nun ab dem 1 . Januar 2017
maximal 5 Prozent ihrer freien Zuteilungsmasse in Ak-
tien anlegen .
Uns war es wichtig, dem Spezialbankprinzip Rech-
nung zu tragen und den Grundsatz zu wahren, dass Bau-
sparkassen nur in überschaubare Risiken investieren dür-
fen . Erstens dürfen sie die neuen Anlageformen deshalb
nun erst ab 2017 nutzen, zweitens müssen sie bis dahin
ein eigenes Risikomanagement aufbauen, und drittens
bekommen sie von der BaFin qualitative und quantitative
Vorgaben für die Aktienanlage .
Ein letzter wichtiger Punkt ist die Befreiung des De-
ckungsvermögens für Pensionsrückstellungen von den
sehr restriktiven Anlagemöglichkeiten der Bausparkas-
sen . Die Bausparkassen bieten ihren Mitarbeitern, wie
andere Unternehmen auch, eine betriebliche Altersvor-
sorge an. Dieses Anlagevermögen, das explizit zur Ausfi-
nanzierung der Pensionsverpflichtungen in den Bilanzen
der Bausparkassen gebildet wird, unterliegt bisher jedoch
den gleichen Regeln wie die Anlagebeträge der Bauspa-
rer . Dies ist bei unterschiedlichen Fristigkeiten nicht
sachgemäß und auch nicht notwendig .
Deshalb sollen zukünftig Vermögensanlagen, die im
Rahmen der betrieblichen Altersvorsorge der Erfüllung
von Pensionszusagen dienen, unabhängig von den An-
lagebeschränkungen der Bausparkassen angelegt wer-
den können . Auch Konzernlösungen zur betrieblichen
Altersvorsorge stehen damit den Mitarbeitern der Bau-
sparkassen offen . Auch dies halten wir im Rahmen des
Geschäftsmodells für maßvoll und systemgerecht .
Insgesamt haben wir die Anlagemöglichkeiten der
Bausparkassen so maßvoll wie möglich und so weit wie
nötig erweitert .
Ich möchte an dieser Stelle nochmals darauf hin-
weisen: Dieser Gesetzentwurf regelt ausschließlich das
Aufsichtsrecht über die Bausparkassen . Das Vertragsver-
hältnis gegenüber Kunden wird an keiner Stelle berührt .
Deshalb werbe ich nochmals dafür, diesem Gesetzent-
wurf zuzustimmen .
Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin spricht Susanna
Karawanskij von der Fraktion Die Linke .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste! Frau Karliczek, der Skandal besteht genau
darin, dass zahlreiche Bausparkassen Tausende Verträge
mit ihren Kunden einseitig gekündigt haben . Diese Ver-
träge waren gut verzinst und liefen in der Regel schon
Anja Karliczek
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 14041
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mehrere Jahre . Dieser Schritt wurde mit den derzeit nied-
rigen Zinsen begründet .
Zu Recht klagen viele Kunden dagegen . Wenn etwas
zu Vertragsabschluss versprochen wurde, dann muss das
aus meiner Sicht auch eingehalten werden . Dieses Ver-
halten der Bausparkassen ist ein Schlag ins Gesicht der
Kunden .
– Ich glaube, alle Abgeordneten hier im Haus haben auch
diese Weihnachtspost von den Bausparkassen bekom-
men . Darin wird schon fast höhnisch auf die Notwen-
digkeit dieser Kündigungen hingewiesen . Nun versucht
die Bundesregierung mit diesem Gesetzentwurf, den wir
heute hier verhandeln, den Bausparkassen im aktuellen
Niedrigzinsumfeld zur Seite zu stehen – und eben nicht
den Kundinnen und Kunden .
Sie unternehmen keine Schritte gegen dieses Kündi-
gungsgebaren und damit gegen diese Vertragsuntreue der
Bausparkassen,
und das, obwohl es 30 Millionen Bausparverträge gibt .
Sie versäumen es – das haben Sie auch beim Lebensver-
sicherungsreformgesetz getan –, sich hier an die Seite der
Kundinnen und Kunden zu stellen . Ich sage es jetzt noch
einmal: Das geht so nicht .
Wir haben Kritikpunkte bei diesem Gesetzentwurf,
und ich will sie gleich formulieren: Am Anfang Ihres
Gesetzentwurfs schreiben Sie von einem Bausparkollek-
tiv . Wenn jemand einen Bausparvertrag abschließt, dann
interessieren ihn der Zinssatz und wann die Darlehens-
summe ausgezahlt wird . Es interessiert, glaube ich, nicht,
welches fiktive Kollektiv es gibt. Den Kunden interes-
sieren also die ganz individuellen Vertragsbedingungen .
Kein Bausparer denkt daran, dass er Teil eines Kollektivs
ist und dass vor allen Dingen sein Vertragsinteresse ei-
nem fiktiven Gemeinschaftsinteresse untergeordnet wer-
den könnte .
Was das bedeutet, ist klar: Die Bausparkassen können
fortan ihr eigenes Interesse als Kundeninteresse, als das
fiktive Kollektivinteresse, ausgeben. Dadurch können
sie Kunden vorzeitig aus ihren gut verzinsten Verträgen
drängen .
Es sieht also wieder so aus, als ob hier die Rechte der
Verbraucherinnen und Verbraucher geschliffen werden .
Frau Karliczek, dazu sagen wir ganz klar – und dabei
bleiben wir auch –, dass das mit der Linken nicht zu ma-
chen ist .
Ein zweiter kritischer Punkt ist, dass die Änderungen
an den laufenden Bausparverträgen einseitig – ich beto-
ne: einseitig – mit der Genehmigung der Finanzaufsicht
BaFin vorgenommen werden können . Die Regelungen zu
dieser Sondergenehmigung der einseitigen Vertragsände-
rung sind zu lasch formuliert; das bleibt . Ich denke, dass
ein solcher Eingriff in bestehende Verträge nur als letzter
Ausweg möglich sein sollte, nämlich genau dann, wenn
einer Bausparkasse Insolvenz droht und die Einlagen be-
ziehungsweise die Finanzierungen der Bausparkunden
gefährdet sind . Die bestehende Regelung ermöglicht es,
dass Bausparkassen diese Änderungen ohne diese Not-
situation zulasten ihrer Kunden vornehmen können . Das
kann nicht im Interesse der zahlreichen Bausparerinnen
und Bausparer sein .
Insbesondere Kunden mit der weit verbreiteten Kom-
bifinanzierung beziehungsweise dem Bausparsofortdar-
lehen stehen bei einer Bausparkasseninsolvenz vor ei-
nem Problem; denn sie sind nur unzureichend geschützt .
Um auch das noch zu sagen: Sie verlieren kein Wort über
diese Bausparsofortdarlehen . Auch das ist ein weiterer
Kritikpunkt von uns .
Meine Damen und Herren, wir von der Linken lehnen
diesen Gesetzentwurf ab . Sie gehen kaum auf die Risiken
und Probleme im Bauspargeschäft ein . Ich hoffe, dass
wir nicht in ein paar Jahren hier wieder zusammensitzen
und den Zusammenbruch einiger Bausparkassen zu be-
klagen haben, weil Sie heute nicht die richtigen Weichen
gestellt haben, um die Bausparkassen zu stabilisieren . Sie
schützen die Verbraucherinnen und Verbraucher und ihre
Interessen zu wenig .
Das ist ganz klar der falsche Weg .
Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Manfred
Zöllmer von der SPD-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bausparkassen in Deutschland haben ein erfolgreiches
und bewährtes Modell, Menschen zu Wohnung und Ei-
gentum zu verhelfen . Das zeigt die Vergangenheit; das
zeigen aber auch die aktuellen Zahlen . Ihr Geschäftsmo-
dell basiert auf der Grundidee des kollektiven Bauspa-
rens . Dieser Idee sind in Deutschland sehr viele Men-
schen gefolgt . Das zeigen 30 Millionen Bausparverträge
mit Einlagen in Höhe von über 150 Milliarden Euro .
Susanna Karawanskij
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514042
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Meine Damen und Herren, das können nicht alles nur
Spießer sein, um eine alte Fernsehwerbung zu zitieren .
Aktuell sind die Bausparkassen allerdings unter Druck
geraten, infiziert von den Nullzinsen. Die aktuelle Nied-
rigzinsphase bedroht das bewährte Geschäftsmodell der
Bausparkassen . Viele Kunden belassen ihr angespartes
Geld, das noch ordentlich verzinst wird, lieber in der
Bausparkasse und holen sich einen Immobilienkredit am
Markt . Dort ist er billiger als das, was mit der Bauspar-
kasse vertraglich vereinbart worden ist . Dies ist ein Di-
lemma für die Bausparkassen und eine Herausforderung
für den Gesetzgeber . Mit dem neuen Bausparkassen-
gesetz wollen wir den Bausparkassen helfen, ihr bewähr-
tes Geschäftsmodell auch in einer Niedrigzinsphase bei-
zubehalten . Offensichtlich wird diese Niedrigzinsphase
noch sehr lange anhalten . Man muss sich nur die heuti-
gen Beschlüsse der EZB ansehen .
Wir wollen mit einer maßvollen Geschäftsausweitung
einige Beschränkungen lockern, damit Bausparkassen
auch in einer Niedrigzinsphase wirtschaftlich bestehen
können –
– für ihre Kunden –, ohne unverhältnismäßige Risiken
einzugehen . Die gute Nachricht für alle Verbraucherin-
nen und Verbraucher lautet, liebe Frau Karawanskij:
Dies geht nicht zulasten der Kunden . Ihre Rechtsstellung
bleibt unverändert . Dies ist eine gute Nachricht .
Was ändert sich nicht? Auch in Zukunft wird die Bau-
sparkasse ein Spezialkreditinstitut bleiben . Was ändert
sich? Ich will auf einige der Änderungen kurz eingehen .
Wir werden die Beleihungsgrenze von 80 auf 100 Pro-
zent des Beleihungswertes erhöhen . Die bisherige Belei-
hungsgrenze führte in der Praxis dazu, dass real nur eine
Beleihung von ungefähr 65 Prozent des Verkehrswertes
einer Immobilie ohne Zusatzsicherheiten möglich war .
Das ist für viele junge Familien zu wenig und benachtei-
ligt gleichzeitig die Bausparkassen im Wettbewerb .
Diese Erhöhung gilt für selbstgenutzten Wohnraum .
Auch die Anhörung hat gezeigt, dass diese Ausweitung
sinnvoll und geboten ist und dass die Bausparkassen da-
mit mehr verfügbare Mittel in Wohnungsbaufinanzierung
anlegen können .
Das Ausfallrisiko der Bausparkassen ist sehr gering, wie
die Zahlen zeigen . Damit gibt es keine unvertretbaren
Stabilitätsrisiken .
Bausparkassen erhalten die Möglichkeit, künftig Mit-
tel aus der Zuteilungsmasse, die vorübergehend dafür
nicht verwendet werden können, auch zur Gewährung
von sonstigen Baudarlehen zu verwenden . Damit reagie-
ren wir auf die veränderten Bedingungen im Niedrigzins-
umfeld . Dem gleichen Zweck dient die Ausweitung des
Verwendungszwecks des Fonds zur bauspartechnischen
Absicherung .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden das enge
Korsett der Anlagemöglichkeiten einer Bausparkasse
moderat erweitern . Zukünftig dürfen Bausparkassen bis
zu 5 Prozent der Zuteilungsmasse in Aktien anlegen . Das
gilt allerdings erst ab 2017, weil es notwendig ist, dass
sie ein eigenes Risikomanagement aufbauen . Darüber
hinaus wird es noch eine Verordnung des Ministeriums
geben, in der entsprechende Vorschriften gemacht wer-
den, wie man zum Beispiel Anlagen diversifizieren und
streuen soll .
Wenn eine höhere Rendite erzielt werden soll, dann
ist das immer mit höheren Risiken verbunden . Es kommt
darauf an, diese Risiken sinnvoll zu begrenzen, und das
machen wir . Jede Art der Anlage ist letztendlich mit Ri-
siken verbunden . Das gilt, wie die Vergangenheit gezeigt
hat, auch für Staatsanleihen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, etwas ratlos machen
mich die Kritik der Linken und das, was die Grünen kri-
tisiert haben . Wir haben das im Ausschuss gehört . Lie-
be Frau Karawanskij, ausgerechnet die Linke findet den
Kollektivgedanken beim Bausparen verwerflich.
Das ist so, als ob die katholische Kirche von der Bibel ab-
lassen soll . Alle ideologischen Väter Ihrer Partei würden
im Grabe rotieren, wenn sie das erfahren würden .
– Ja, das ist in Ordnung, aber für mich macht das eines
wirklich deutlich, nämlich dass Ihre Kritik ziemlich hilf-
los ist . 30 Millionen Bausparverträge sprechen hier eine
andere Sprache . Offensichtlich vertrauen die Menschen
kollektiven Systemen, und ich finde das gut.
Bei den Grünen ist mir nicht klar geworden, welche
Kritik Sie letztendlich haben . Ich hatte das Gefühl, Sie
haben einfach ein Problem mit Bausparkassen . Sie haben
keine Alternative aufgezeigt . Ich habe das dumpfe Ge-
fühl, Sie haben auch keine Alternative . Sie handeln nach
dem Motto von Konfuzius: Wer etwas will, sucht Wege .
Wer etwas nicht will, sucht Gründe .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir erweitern mit
diesem Gesetz den Spielraum der Bausparkassen, damit
sie auch in Zukunft am Markt bestehen können . Dies
Manfred Zöllmer
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 14043
(C)
(D)
geschieht maßvoll und verantwortlich, ohne dass über-
mäßige Risiken entstehen und ohne die Kundinnen und
Kunden zu belasten . Dies ist ein guter Weg .
Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Dr . Gerhard
Schick von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der vorgelegte Gesetzentwurf scheitert schon bei der
Analyse dessen, was eigentlich das Problem ist . Herr
Zöllmer hat gerade noch einmal gesagt, die aktuelle Zins-
situation, die aktuelle Niedrigzinsphase sei das Problem .
Mitnichten! Das Problem der Bausparkassen hat schon
in den 90er-Jahren angefangen, als die Zinsen begonnen
haben, zu sinken . Das ist ja nicht erst seit 2008 der Fall .
Deswegen greift man zu kurz, wenn man meint, man hat
es mit einem aktuellen Problem zu tun .
Man muss vielmehr genau sehen: Als die Zinsen anfin-
gen, zu sinken, sind die Bausparkassen dazu übergegan-
gen, von ihrem traditionellen Geschäftsmodell Abstand
zu nehmen . Sie haben sich in Konkurrenz zu Banken und
Versicherungen begeben und attraktive Festgeldangebote
gemacht . Das sind genau die Verträge, die ihnen heute
Schwierigkeiten machen . Man muss auch sehen, dass
hier schon ein längerer Weg zurückgelegt worden ist,
dass der Versuch, auf eine schwierige Phase zu reagieren,
in immer neue Probleme geführt hat .
Ich finde es schon interessant: An anderer Stelle sind
Sie mit „Pacta sunt servanda“ immer dabei . Sie hätten
erwähnen können, dass dieses Prinzip auch bei den Bau-
sparkassen gelten sollte .
– Sie haben es aber nicht erwähnt .
Vonseiten der Bausparkassen wurde auf die Problema-
tik, dass das eigentliche Geschäftsmodell bei sinkenden
Zinsen nicht mehr attraktiv ist, damit reagiert, es komplett
umzuwandeln – „Vor- und Zwischenfinanzierungen“ ist
das Stichwort –, sodass die Menschen nicht mehr anspa-
ren und Mittel dann zugeteilt bekommen, sondern direkt
Kredit erhalten und gleichzeitig über einen Bausparver-
trag ansparen . Es unterliegt massiven Zweifeln, ob diese
Modelle für den Kunden günstig sind . Wir haben in der
Anhörung gehört, dass viele Experten das bezweifeln .
Wenn man vor dieser Situation steht, kann man nicht
sagen: Das bewährte Geschäftsmodell soll beibehalten
werden . – Herr Zöllmer, dieses bewährte Geschäftsmo-
dell gibt es gar nicht mehr . Während noch 1990 drei Vier-
tel der Bilanz der Bausparkassen echte Bauspardarlehen
waren, sind heute drei Viertel der Bilanz Vor- und Zwi-
schenfinanzierungen, betreffen also gerade nicht mehr
das traditionelle Modell . Sie versuchen etwas zu bewah-
ren, was Sie nicht bewahren können .
Jetzt gehen Sie den Weg weiter und weichen das auf,
statt sich bei der Fragestellung, was man jetzt tun kann,
für eine Alternative zu entscheiden . Sie konzentrieren
Ihre Arbeit darauf, den Weg, zwar ein bisschen auswei-
chend, fortzusetzen, und verschieben die Lösung der Pro-
bleme damit in die Zukunft .
Warum soll eine Bausparkasse, wenn man – so Ihre
Ansage – das traditionelle Geschäftsmodell fortsetzen
will, Pfandbriefe begeben können? Wenn das traditionel-
le Geschäftsmodell bewahrt werden soll, warum dann die
Ausweitung des Aktiengeschäfts?
Was de facto passiert ist, ist, dass die Fassade „Bau-
sparkasse“ beibehalten wird, der die Kundinnen und
Kunden nach wie vor vertrauen, hinter dieser Fassade
aber etwas ganz anderes stattfindet. Deswegen ist unsere
Position, dass man in einer Situation, wo das traditionel-
le Geschäftsmodell aufgrund der niedrigen Zinsen seit
Jahrzehnten nicht mehr vollständig funktionieren kann,
die Probleme nicht weiter vor sich herschieben darf, son-
dern dafür sorgen muss, dass sich die Branche an das ge-
ringere Volumen anpasst . Denn was ist passiert? In der
Zeit, als das Bausparen insgesamt unter Druck geriet und
eigentlich hätte geringer werden müssen, hat man das
Volumen noch massiv aufgebläht, sodass man heute viel
mehr Probleme hat, als man haben müsste .
Deswegen sind wir sowohl mit Blick auf die Analyse als
auch bezüglich dessen, was Sie vorschlagen, der Mei-
nung, dass das unzureichend ist .
Wir haben im Ausschuss vorgeschlagen, dass sich die
Finanzaufsicht einmal anschaut, ob das, was hinter dem
Schild „Bausparkassen“ stattfindet, für die Kundinnen
und Kunden eigentlich sinnvolle Geschäfte sind oder ob
hier nicht in großem Umfang schlechte Finanzierungen
für eine Immobilie angeboten werden . Da sehen wir mas-
siven Korrekturbedarf . Das hätten Sie angehen müssen .
Sie tun es leider nicht .
Danke .
Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungs-
punkt ist der Kollege Alexander Radwan von der CDU/
CSU-Fraktion .
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten
heute in zweiter und dritter Lesung das Bausparkassen-
gesetz . Kollegin Karliczek und Kollege Zöllmer haben
Manfred Zöllmer
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514044
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die notwendigen und richtigen Entscheidungen darge-
legt . Wir haben bei den Oppositionsfraktionen zwar nicht
in der Argumentation, aber im Ergebnis das Gleiche ge-
sehen: Letztendlich soll das Bausparen in dieser Form in
Deutschland keine Zukunft haben .
Sie, die Grünen, sagen es dogmatisch – nach dem
Motto: Es ist ein überkommenes Modell, das in dieser
Form nicht weiterleben soll .
Was die Linke angeht: Ihrer Argumentation kann man
zwar ein Stück weit folgen, aber das führt im Ergebnis
auf jeden Fall zum Kollaps der Bausparkassen . Sie kom-
men nicht weit damit, zu sagen: Damit retten wir sie . –
Das bewirkt genau das Gegenteil Ihrer Aussage, dass die
Bausparkassen überleben werden . Ob Sie das wollen,
müssen Sie selber sagen . Ihre Argumentation geht jeden-
falls komplett in die falsche Richtung .
Zum Thema „Kündigung von Bausparverträgen“ . Oft
wurden, wie erwähnt, Bausparverträge, in deren Rahmen
die komplette Bausparsumme bis zur Aussparung ange-
spart wurde, gekündigt . Wir können hierüber sicherlich
kräftig diskutieren . Aber ich bin der Meinung, dass die
Gerichte entscheiden sollen, ob die Verträge eingehalten
wurden oder nicht . Ich halte es für richtig, dass wir nicht
nachträglich in Verträge eingreifen . Oder wollen Sie im-
mer dann, wenn eine Gerichtsentscheidung droht, auto-
matisch das entsprechende Gesetz nachträglich ändern?
Die Gerichte haben nun das Wort und sollen entscheiden .
Ich bin auf die weiteren Diskussionen gespannt . Der
Kollege Zöllmer hat bereits auf den heutigen Tag hinge-
wiesen; das hätte nicht besser sein können . Die Schluss-
beratung über den Entwurf eines Gesetzes betreffend die
Bausparkassen fällt genau auf den Tag, an dem die EZB
wieder eine wichtige Entscheidung getroffen hat . Sie
wird die Niedrigzinsphase mindestens bis 2017 fortset-
zen . Schauen wir einmal, was die Fed, die schon vor über
einem Jahr angekündigt hat, aus der Niedrigzinsphase
auszusteigen, in der nächsten Woche machen wird . Wir
werden hier Diskussionen darüber führen müssen, wie es
mit Lebensversicherungen, der betrieblichen Altersvor-
sorge, dem traditionellen Sparen und den Regionalban-
ken weitergeht . Alles, was ich bisher von der Opposition
dazu gehört habe, ist, das gehe so nicht . Wenn ich alle
Argumente zu Ende denke, dann komme ich zu dem
Schluss, dass die Linke und die Grünen die Hofbericht-
erstatter und die Königsmacher der Kapitalmärkte sind .
Denn diese Märkte werden am Schluss obsiegen, wenn
wir nicht entsprechend einschreiten . Das ist genau die
Krux: Die Linke, die ständig erklärt, den Märkten in
Amerika sei nicht zu trauen, betreibt eine Politik, die ein
langfristig orientiertes Finanzwesen schleift und schließ-
lich kaputtmacht . So werden am Schluss die Kapital-
märkte siegen . Das wollen wir nicht .
– Das ist nicht zu dünn . Damit können Sie sich argumen-
tativ auseinandersetzen . Aber das, was Sie vorgetragen
haben, Frau Kollegin, war noch nicht einmal dünn .
– Nein, noch weniger . Aber lassen Sie es einmal dahin-
gestellt .
– Herr Dr . Schick, darüber werden wir uns einmal ausei-
nandersetzen . Da kann man sogar durchschauen .
Ich möchte die Ausführungen meiner Kollegin
Karliczek nur noch in einem Punkt ergänzen . Wir reden
hier über ein Spezialgesetz und ein Spezialbankensystem .
Es ist dringend notwendig, dass dies auf europäischer
Ebene berücksichtigt wird . Deshalb haben wir darauf ge-
drungen, dass die BaFin EBA-Vorgaben entsprechend zu
handhaben hat . Wir erwarten, dass die BaFin zukünftig in
den ESAs-Gremien verstärkt ihre Positionen im Bereich
der EBA so vertritt und dort, wo es möglich ist, den nati-
onalen Spielraum so nutzt, dass es unserer stabilen, lang-
fristig orientierten Finanzstruktur zugutekommt . Wie wir
wissen, wird alles auf europäischer Ebene – Stichwort
„Einlagensicherung“ – über einen Kamm geschert . Letzt-
endlich schadet das der nach dem Subsidiaritätsprinzip
aufgebauten Vielfalt in Europa . Wir sind für Vielfalt, und
die Bausparkassen sind ein Teil dieser Vielfalt . Wir ha-
ben das Gesetz gemacht, damit die Bausparkassen eine
Zukunft haben .
Besten Dank .
Damit schließe ich die Aussprache .
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Bausparkas-
sen. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 18/6903, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf den Drucksachen 18/6418 und
18/6680 in der Ausschussfassung anzunehmen . Ich bit-
te diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss-
fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen . – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzent-
wurf ist damit in zweiter Beratung angenommen mit den
Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen
der Fraktion Die Linke und von Bündnis 90/Die Grünen .
Alexander Radwan
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 14045
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Dritte Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist damit angenommen mit den Stimmen von
CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke und von Bündnis 90/Die Grünen .
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b
auf:
a) Beratung der Antwort der Bundesregierung
auf die Große Anfrage der Abgeordneten
Katrin Werner, Jan Korte, Sabine Zimmermann
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE
Entwicklungsstand und Umsetzung des Inklu-
sionsgebotes in der Bundesrepublik Deutsch-
land
Drucksachen 18/3460 , 18/6533
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Abgeordneten
Corinna Rüffer, Maria Klein-Schmeink, Markus
Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Empfehlungen der Vereinten Nationen zur
Behindertenrechtskonvention zügig umsetzen
Drucksachen 18/4813, 18/5163
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Widerspruch
kann ich nirgendwo erkennen . Dann ist das so beschlos-
sen .
Ich eröffne die Aussprache . Als erste Rednerin hat die
Kollegin Katrin Werner für die Fraktion Die Linke das
Wort .
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Heute ist der Internationale Tag der Men-
schen mit Behinderung . Es ist schon bezeichnend, dass
wir keine ausführliche Debatte darüber führen . 25 Minu-
ten werden dem Thema „Menschen mit Behinderung“
eingeräumt, und das auch nur, weil die Linken den TOP
aufgesetzt und die Grünen ihren Antrag hinzugefügt ha-
ben .
Seien Sie doch einmal ehrlich: Das lässt nur den Schluss
zu, dass die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen
mit Behinderung für die Regierung keinen allzu großen
Stellenwert hat . Da hilft es auch nicht, wenn in der Ele-
fantenrunde zum Haushalt die Fraktionsvorsitzenden der
Regierungsparteien zwei Sätze zum Bundesteilhabege-
setz verlieren .
Ein weiteres Beispiel sind die zweitägigen Inklusions-
tage des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales in
der vergangenen Woche . Bei der Tagung wurde zwar viel
über den Arbeitsentwurf des neuen Aktionsplans 2 .0 dis-
kutiert . Aber auch hier zeigt sich: Eine tatsächliche Teil-
habe von Menschen mit Behinderung liegt der Regierung
nicht wirklich am Herzen . – So gut wie nichts ist von
den Arbeitsergebnissen des vergangenen Jahres im Ar-
beitsentwurf des Nationalen Aktionsplans 2.0 zu finden.
Eltern mit Behinderung oder der Wahlrechtsausschluss
von Gruppen behinderter Menschen werden wie vieles
andere im neuen Aktionsplan erst gar nicht erwähnt . Das
ist Pseudobeteiligung, meine Damen und Herren .
Sie stellen die Maßnahmen unter einen Kostenvorbe-
halt, was bei der Verwirklichung von Menschenrechten
absolut nicht zulässig ist .
In den Aktionsplan schreiben Sie ein Kapitel zur Prä-
vention von Behinderung . Darum geht es aber bei Men-
schenrechten nicht . Es geht um die Rechte von Menschen
mit Behinderung und nicht darum, Behinderung zu ver-
meiden . Die Bundesregierung versteht die UN-Behin-
dertenrechtskonvention nicht . Ihr fehlt noch immer die
Menschenrechtsperspektive .
Meine Damen und Herren der Regierung, wenn Sie
beim Bundesteilhabegesetz die Messlatte so niedrig an-
setzen wie bei der Beantwortung unserer Großen Anfra-
ge, was soll dann aus dem Bundesteilhabegesetz werden?
Sie schreiben in Ihrer Antwort, dass es zwischen Armut
und Behinderung keinen direkten Zusammenhang gibt .
Ist denn das zu fassen? Das ist blanker Hohn und ein
Schlag ins Gesicht aller Menschen, die in Deutschland
auf Teilhabeleistungen angewiesen sind . Für sie gelten
Einkommens- und Vermögensgrenzen . Diese Menschen
werden ein Leben lang in Armut gehalten . Das Bun-
desteilhabegesetz muss einkommens- und vermögensun-
abhängig sein .
Selbst Herr Schummer, behindertenpolitischer Sprecher
der Union, hat im Mai 2014 in diesem Zusammenhang
vor dem Deutschen Bundestag vor einer Armutsfalle ge-
warnt .
Ein weiterer Skandal ist die unzureichende Versor-
gung von Menschen mit Behinderung im Krankenhaus .
Nur in Ausnahmefällen werden die Kosten für notwen-
dige Assistenz übernommen . Aus Angst vor Unterver-
Vizepräsident Johannes Singhammer
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514046
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sorgung schieben manche Betroffene lebenserhaltende
Operationen immer weiter heraus, manchmal bis es zu
spät ist . Das Bundesteilhabegesetz muss für Menschen
mit Behinderung endlich echte Fortschritte bringen . Es
muss mehr sein als nur ein abgestimmter Kompromiss
zwischen den Regierungsparteien, der mehrheitsfähig ist .
Es ist eine Schande, dass in einem reichen Land wie
Deutschland Menschen mit Behinderung gegen ihren
Willen im Heim leben müssen, nur weil es billiger ist .
Diese Regelung muss endlich fallen .
Wenn Sie sagen: „Das können wir uns nicht leisten“,
dann legen Sie doch endlich die Zahlen auf den Tisch,
und lassen Sie uns ehrlich miteinander darüber diskutie-
ren . Aber eines sage ich Ihnen: Menschenrechte haben
keinen Preis .
Sehr geehrte Damen und Herren der Regierung, sor-
gen Sie endlich dafür, dass Menschen mit Behinderung
gleichberechtigt mit anderen in der Mitte unserer Gesell-
schaft leben können . Das Bundesteilhabegesetz bietet
eine Chance dazu . Sie haben es in der Hand .
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Uwe
Schummer .
Verehrtes Präsidium! Meine Kolleginnen und Kolle-
gen! In der Tat wird den Menschen durch Debatten und
Reden nicht geholfen . Entscheidend ist, dass ein Werk-
stück nach dem anderen parlamentarisch bearbeitet wird
und Verbesserungen zustande kommen .
Vor einem Jahr hatten wir hier eine Debatte anlässlich
des Internationalen Tages der Menschen mit Behinde-
rung . Dabei ging es darum, dass eine klaffende Gerech-
tigkeitslücke bestand in der Form, dass diejenigen, die
in psychiatrischen Einrichtungen, in Behindertenheimen
misshandelt worden waren, zur Zwangsarbeit herangezo-
gen worden waren, missbraucht worden waren, durch die
Opferfonds bis dahin nicht entschädigt worden waren .
Es gab ein finanziell unterlegtes Angebot des Bundes an
die Länder, gemeinsam mit Bayern, und an die Kirchen,
einen neuen Opferfonds zu schaffen, um diese klaffende
Gerechtigkeitslücke zu schließen . Die betroffenen Men-
schen sind heute teilweise um die 80 Jahre alt . Das heißt,
wir brauchen eine zeitnahe Lösung .
Wir haben uns über alle Fraktionsgrenzen hinweg ver-
sprochen, dafür einzutreten, dass das Angebot des Bun-
des, bei dem die Kirchen und Bayern mitziehen, auch von
den anderen Bundesländern getragen wird . Die Blockade
der Länder, die bis dahin nicht mitgezogen hatten, sollte
gebrochen werden . Es ist daher eine gute Information,
dass das Angebot des Bundes, gemeinsam mit den Län-
dern und Kirchen die Stiftung „Anerkennung und Hilfe“
einzurichten, und zwar durch eine Drittelfinanzierung der
Beteiligten, nach einem Jahr im vergangenen November
auf der Arbeits- und Sozialministerkonferenz beschlos-
sen worden ist . Dadurch wird diese Gerechtigkeitslücke
endlich geschlossen . Wer die Zukunft gestalten will, der
muss auch die Fehler der Vergangenheit aufarbeiten .
Wir haben das gegenüber den Bundesländern mit viel
Überredungs- und Überzeugungsarbeit durchsetzen kön-
nen .
– Rheinland-Pfalz war leider nicht an der Spitze der
Bewegung; aber Gott sei Dank hat sich auch Rhein-
land-Pfalz mittlerweile bewegt .
Diese Aufgabe haben wir gemeinsam bewältigt . Es
geht um die ideelle und finanzielle Anerkennung, aber
auch um die Aufarbeitung dieser Verbrechen . Ich denke,
es ist gut, dass dieses Thema nach der Arbeits- und So-
zialministerkonferenz endlich angegangen werden kann
und die notwendigen Maßnahmen zeitnah auf die Schie-
ne gesetzt werden .
Mit dem Förderprogramm für Integrationsfirmen ha-
ben wir zusätzlich 150 Millionen Euro mobilisiert, um
auf dem ersten Arbeitsmarkt Inklusion zu leben; es geht
um Unternehmen auf dem ersten Arbeitsmarkt . Es gibt
derzeit 850 Integrationsfirmen. Wir können mit diesem
Förderprogramm einen Anreiz schaffen, dass in den
nächsten vier bis fünf Jahren weitere 800 bis 900 Inte-
grationsfirmen bereitstehen. So sorgen wir dafür, dass
der Run in die Werkstätten beendet wird . Bisher sind die
meisten Neuzugänge in Werkstätten psychisch erkrank-
te Arbeitnehmer, die vom ersten Arbeitsmarkt kommen .
Wir haben mit den vorhandenen Integrationsfirmen ein
Instrument, mit dem wir sehr konkret für Tausende von
behinderten Menschen Perspektiven auf dem ersten Ar-
beitsmarkt schaffen werden .
Wahlfreiheit, das wollen wir; das ist auch ein Thema
des Bundesteilhabegesetzes . Wahlfreiheit braucht Opti-
onen . Wir spielen nicht Werkstätten gegen Integrations-
firmen, „Budget für Arbeit“ oder „ausgelagerte Arbeits-
plätze“ aus . Wir wollen Optionen, und die Werkstätten
gehören dazu . Wir haben gesehen, was passiert, wenn
die Werkstätten als ein Institut, das Rhythmus schafft,
das soziale und kulturelle Teilhabe ermöglicht – das ist
etwas, woran sich die Menschen ausrichten –, das per-
sönliche Bedarfe entwickelt und Förderung bereitstellt,
einfach aufgelöst werden . Das ist 2013 in England so
geschehen mit der Konsequenz, dass von 1 890 Mitar-
beitern in den dortigen Werkstätten heute noch 1 116 ar-
Katrin Werner
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 14047
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beitslos oder frühverrentet sind . Das heißt, sie sind aus
der Werkstatt raus und vereinsamt zu Hause geblieben,
auf Dauer arbeitslos geblieben . Das ist nicht Inklusion;
das ist Ideologie, und zwar zulasten der Menschen .
Wir wollen optional Werkstätten, Integrationsfirmen
und „Budget für Arbeit“, damit wir möglichst Durchläs-
sigkeit und auch Wahlfreiheit erreichen . Wir wollen kei-
ne Ideologie, die das eine gegen das andere ausspielt, so
wie es bedauerlicherweise bei den Grünen immer noch
der Fall ist .
Wir werden systematisch weiter an den Themen ar-
beiten . Es kommt das Behindertengleichstellungsgesetz .
Da geht es um die Förderung der leichten Sprache, um
ein Kompetenzzentrum für Barrierefreiheit . Wir werden
im nächsten Jahr das Thema Schwerbehindertenvertre-
tungen und das Teilhabegesetz angehen – ein Werkstück
nach dem anderen; denn die Menschen erwarten Lösun-
gen und Gesetze und nicht große Reden .
Nächste Rednerin ist die Kollegin Corinna Rüffer für
Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Herr Schummer, ich bin jetzt fast ge-
neigt, von meinem Redemanuskript abzuweichen . Das
werde ich aber nicht tun .
Heute ist der Internationale Tag der Menschen mit Be-
hinderung, und wir schaffen es, um 19 Uhr diese Debatte
zu führen, ganze 25 Minuten lang . Das ist eine Katastro-
phe . Diese Debatte gehört eigentlich in die Kernzeit .
Ich möchte Ihnen auch erklären, warum . Zu diesem
Zweck lese ich einmal vor, was mir eine Mutter eines
Sohns mit besonders hohem Unterstützungsbedarf ge-
schrieben hat . Ich zitiere:
Eltern behinderter Kinder fühlen sich alleingelas-
sen, ständig in der Rechtfertigungsposition, ständig
im Kampf mit den Behörden . Wir brauchen stattdes-
sen Verständnis und Unterstützung und nicht immer
das Gefühl, als Schmarotzer der Gesellschaft gese-
hen zu werden . Wir lieben unsere Kinder nicht we-
niger als Eltern ihre gesunden Kinder . Auch unsere
Kinder sollen glücklich sein .
Ich sage: Sie haben ein Recht dazu .
Ich habe am Montag ganz intensiv mit dieser Frau ge-
redet . Sie hat mir noch einmal erklärt, was für ein harter
Kampf es gewesen ist, bis sie jetzt eine Lösung für sich,
ihren Sohn und den Rest der Familie gefunden hat . Der
Sohn wohnt in einer eigenen Wohnung, hat Persönliche
Assistenz . Er lebt so, wie sie sich das wünschen . Das hat
Jahre gedauert, und das darf nicht so bleiben . In einem
hochentwickelten Staat wie Deutschland darf es nicht
Jahre dauern, bis man sich so ein Setting erarbeitet hat .
Der Sohn hat, wie gesagt, hohen Unterstützungsbe-
darf . Er kann nicht sprechen und sitzt im Rollstuhl . Er
hat das passive Sprachverständnis eines vielleicht neun
Monate alten Kindes . Trotzdem lebt er heute in seinem
Viertel, voll integriert, als wirklich glücklicher Mensch .
Ich habe ihn besucht und mir ein Bild gemacht . Ich kann
sagen: Das ist möglich, aber nur dann, wenn der Staat das
tut, was er tun muss, nämlich die Menschen unterstützen .
Ich kann die Mutter voll unterstützen, wenn sie sagt: Für
diesen Sohn wäre das Heim nicht der richtige Platz ge-
wesen . Dort wäre dieser Sohn nicht so glücklich, nicht so
zufrieden, wie er es heute ist .
Es ist zum Verzweifeln . Zu dem Schluss kommt man,
wenn man dieser Frau zuhört, wenn sie über das Hilfe-
system redet, wenn sie darüber redet, was sie durch das
zuständige Sozialamt erlitten hat . – Herr Kaster, da gu-
cken Sie . Ich erkläre Ihnen das einmal .
Es wurde nicht darauf geachtet, was diese Frau will,
nämlich dass das Instrument des Persönlichen Budgets
auf eine Person angewendet wird, die eine sogenannte
geistige Beeinträchtigung hat . In dem Zusammenhang
redet man eigentlich eher über Akademiker, die im Roll-
stuhl sitzen . Das Persönliche Budget ist aber nicht nur für
diese Personengruppe geeignet, sondern auch für diejeni-
gen, die kognitive Beeinträchtigungen haben . Das betref-
fende Sozialamt hat jahrelang dagegen gekämpft, dass
diese Frau dieses Instrument für ihren Sohn in Anspruch
nehmen konnte . Man hat hinter ihrem Rücken und ohne
ihr Wissen einen Heimplatz organisiert in der Hoffnung,
dass sie irgendwann einknickt und aufgibt . Sie hat aber
nicht aufgegeben, und nun lebt ihr Sohn in der vorhin
beschriebenen Situation .
Diese Frau hat nicht aufgegeben, weil sie sich mit an-
deren in einem Verein für Menschen mit Behinderung
zusammengetan hat, die sich selbst organisiert haben .
Sie ist politisch aktiv geworden und hat Leute kennenge-
lernt, die etwas zu sagen haben . Es kann aber doch nicht
sein, dass in Deutschland nur dann Dinge umgesetzt wer-
den können, wenn man über Vitamin B verfügt und die
Kraft hat, sich das aufzubauen . Das darf nicht sein . Wir
leben nicht in einer Bananenrepublik, sondern in einem
Rechtsstaat, in dem die Menschen ihre Rechte auch in
Anspruch nehmen dürfen .
Es darf keinen Automatismus geben, irgendwann
im Wohnheim zu enden . Vielmehr müssen individuel-
Uwe Schummer
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514048
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(D)
le Lösungen möglich sein . Wir wissen aus zahlreichen
Untersuchungen: Unabhängig davon, ob der Hilfebedarf
groß oder gering ist, wollen die Menschen individuelle
Lösungen . Die sollen sie auch bekommen . Insofern ist es
sehr wichtig, dass wir jetzt endlich in die Debatte um das
Bundesteilhabegesetz einsteigen . Ursprünglich war zu-
gesagt, dass der Referentenentwurf Ende November vor-
liegt . Irgendwann sickerte durch, dass wir mit der Vorla-
ge im Frühling rechnen dürfen . Wir haben aber keine Zeit
zu verlieren . Wir erwarten, dass Sie etwas Substanzielles
vorlegen, über das wir diskutieren können .
Mit unserem Antrag, den wir vorgelegt haben, machen
wir konkrete Vorschläge, die sich ableiten aus der Ex-
pertenanhörung des UN-Fachausschusses für Rechte von
Menschen mit Behinderungen vom März dieses Jahres
in Genf . Wir wollen Sondereinrichtungen abbauen und
gemeindenahe Dienste aufbauen . Wir wollen ein Hilfe-
system schaffen, das dazu dient, dass die Menschen das
bekommen, was sie sich wünschen und was sie glücklich
macht . Darüber können wir einmal reden . Der Staat ist
auch dazu da, die Bevölkerung im Einzelfall glücklich zu
machen . Ich glaube, das tun wir viel zu selten .
Frau Kollegin Rüffer, das Thema verdient es mit Si-
cherheit, dass es sehr ernsthaft und ausführlich behandelt
wird . Trotzdem haben wir vereinbarte Redezeiten .
Ich komme zum Ende . Aber das zeigt ja, dass dies ein
ergiebiges Thema ist . Deshalb sollten wir beim nächs-
ten Mal nicht nur 25 Minuten, sondern vielleicht andert-
halb Stunden lang darüber reden . Das Thema ist wirklich
wichtig .
Zum Schluss möchte ich sagen: Wir haben im
Jahr 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention ratifi-
ziert . Insofern handelt es sich um geltendes Recht in die-
sem Land . Wir sollten das endlich umsetzen . Darum bitte
ich . Bitte leisten Sie mit Ihrer übergroßen Mehrheit Ihren
Beitrag dazu .
Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Tack für die
SPD .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte da-
mit beginnen, den Angehörigen derer mein Beileid und
meine Anteilnahme auszusprechen, die gestern in einer
Einrichtung der Behindertenhilfe in Kalifornien Opfer
eines Schusswaffenangriffs geworden sind, 17 an der
Zahl, vielleicht noch mehr; das wissen wir noch nicht .
Auch wenn wir noch keine näheren Einzelheiten kennen,
ist festzuhalten, dass solche Dinge auch vor Einrichtun-
gen der Behindertenhilfe nicht haltmachen . Ich glaube,
an dieser Stelle und an diesem Tag muss Raum sein, zu
sagen, dass unsere Gedanken bei den Angehörigen der
Opfer sind und wir diesen Angriff verurteilen .
Mit der Staatenberichtsprüfung, die wir im Mai erst-
mals für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskon-
vention in Deutschland hatten, haben wir eine ganze
Reihe von Empfehlungen und Anregungen bekommen
für die künftige Entwicklung in Deutschland zur Umset-
zung der UN-Behindertenrechtskonvention auf dem Weg
zu einer inklusiven Gesellschaft . Wir haben aber auch
mitbekommen – es ist immer so einfach, zu sagen, wo
es nicht gut läuft –, an welchen Stellen wir uns in den
vergangenen Jahren schon in Richtung einer inklusiven
Gesellschaft entwickelt haben . Ich freue mich, dass wir
uns insbesondere mit der Frage der Bewusstseinsbildung
befassen – das ist die größte Herausforderung bei der
Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention –, dass
wir uns mit der Frage befassen, wie wir einen Bewusst-
seinswandel schaffen und die allergrößten Barrieren ab-
bauen können, nämlich die Barrieren in den Köpfen der
Menschen .
Der Abbau dieser Barrieren ist der größte Hemmschuh
für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonventi-
on . Der Gesetzgeber ist da ein Player durch die Rahmen-
bedingungen, die er setzen muss . Aber auch alle anderen,
die Zivilgesellschaft, die Wirtschaft, die Kirchen, sind ge-
fragt, zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonven-
tion beizutragen und sich nicht auf den Bundesgesetzge-
ber zu verlassen; denn er kann mit Rahmenbedingungen
keine Köpfe verändern, sondern nur Rahmenbedingun-
gen in Form von Gesetzen setzen .
Ich möchte mich auf den Arbeitsmarkt konzentrieren,
weil ich glaube, dass der inklusive Arbeitsmarkt eine
Schlüsselfunktion für eine inklusive Gesellschaft und
für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonventi-
on hat . Vor wenigen Tagen ist das Inklusionsbarometer
Arbeit erschienen . Es belegt, dass wir mit einer Zahl von
1,15 Millionen Menschen, die im allgemeinen Arbeits-
markt untergekommen sind, ein Rekordniveau erreicht
haben, auf dem wir uns zwar nicht ausruhen, das wir aber
durchaus zur Kenntnis nehmen . Gleichzeitig – da wird
es dann schon kritisch – stieg die Zahl der arbeitslosen
Menschen an . Die Arbeitslosenquote ist unter schwerbe-
hinderten Menschen doppelt so hoch wie bei Menschen
ohne eine Beeinträchtigung . Insbesondere psychisch er-
krankte und geistig behinderte Menschen haben einen
erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt . Das zeigt: Hier
ist ein Bewusstseinswandel, auch in der Wirtschaft, von
ganz großem Nutzen . Deshalb freue ich mich, dass wir
hier in den letzten zwei Jahren eine ganze Menge dazu
auf den Weg gebracht haben . Ich möchte das gerne er-
läutern .
Wir haben mit der Initiative Inklusion und ihren vier
Zielen genau an der Stelle angesetzt . Wir geben 80 Mil-
lionen Euro dafür aus, dass 20 000 schwerbehinderte
Corinna Rüffer
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Schülerinnen und Schüler mittels Praktika beim Über-
gang von der Schule ins Berufsleben unterstützt werden .
Wir haben mit der Wirtschaft 1 300 neue Ausbildungs-
plätze für schwerbehinderte junge Menschen vereinbart .
Dafür geben wir 15 Millionen Euro aus . Wir haben 4 000
neue Arbeitsplätze für über 50-Jährige mit Schwerbehin-
derung vereinbart . 40 Millionen Euro stehen dafür zur
Verfügung . Und wir haben zusammen mit den Hand-
werkskammern besprochen, dass deren Kompetenz zur
Inklusion am Arbeitsmarkt dadurch gesteigert werden
soll, dass sie für noch einmal 5 Millionen Euro eigene
personelle Ressourcen einkaufen bzw . Menschen dafür
anstellen können. Ich finde, das ist gut und zeigt, dass es
angekommen ist und es unabhängig von der Frage, was
wir mit Gesetzen regeln, ein immer stärker werdendes
Bewusstsein der Unternehmen gibt, sich hier zu engagie-
ren .
Wir haben mit der Inklusionsinitiative für Ausbil-
dung und Beschäftigung auch die Sensibilisierung der
Sozialpartner erreicht, die sich verpflichtet haben, in
diesem Bereich tätig zu werden . Mit der Initiative „In-
klusion gelingt!“ haben die Arbeitgeber, der Deutsche
Industrie- und Handelskammertag, der Zentralverband
des Deutschen Handwerks und andere sich verpflichtet,
zu informieren, praxisnahe Beispiele zu kommunizieren
und entsprechend zu werben . Wir haben mit der Allianz
für Aus- und Weiterbildung erreicht, dass insbesondere
kleine und mittelständische Unternehmen mit der As-
sistierten Ausbildung, mit der begleiteten betrieblichen
Ausbildung und schlussendlich auch mit der Unterstütz-
ten Beschäftigung hier mehrere Instrumente zur Verfü-
gung haben, um auch Menschen mit schwerer Behin-
derung das Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
zu erleichtern und ihnen Arbeitsplätze zur Verfügung zu
stellen. Ich finde, das ist Bewusstseinsbildung, die eben
beides umfasst: auf der einen Seite die Umsetzung von
inklusiven Gedanken, auf der anderen Seite aber auch
klare Zielzahlen, die messbar sind und mit denen wir
auch messen wollen .
Schlussendlich ist es aber auch so, dass wir bei der
Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention sicher-
lich nicht von einem einzigen Gesetz reden können, auch
wenn heute versucht wird, die komplette Umsetzung der
UN-Behindertenrechtskonvention am Bundesteilhabe-
gesetz festzumachen . Das ist doch ein bisschen mau .
Denn: Die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskon-
vention ist eine Daueraufgabe aller Ebenen, aller Struk-
turen und vor allen Dingen auch eine Aufgabe, die sich
nicht allein beim Bundesgesetzgeber abzeichnet .
Deshalb würde ich mich freuen, wenn wir es schaff-
ten, neben der reinen Debatte um ein einziges Gesetz, zu-
mal wir mehr vorhaben, das Thema Bewusstseinsbildung
stärker in das Bewusstsein zu rufen; denn wir haben eine
Gemeinschaftsaufgabe: vom Bund, von den Ländern,
von den Kommunen, von der Wirtschaft, von den Sozi-
alverbänden, von den Kirchen und von der kompletten
Zivilgesellschaft . Ich glaube, wir tun gut daran, wenn wir
an dieser Stelle gemeinschaftlich dafür werben, dass un-
sere Gesellschaft eine inklusive Gesellschaft wird, und
wir uns nicht an einem einzelnen Gesetz gegenseitig et-
was vormachen . Das hielte ich für zu wenig, gerade an
einem Tag wie heute .
Abschließende Rednerin zu diesem Tagesordnungs-
punkt ist die Kollegin Dr . Astrid Freudenstein für die
CDU/CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Werner, wenn
diese Debatte so wichtig ist, dann erlauben Sie mir die
Frage, warum nahezu alle, ich meine sogar, alle ordent-
lichen Mitglieder Ihrer Fraktion, die dem Ausschuss für
Arbeit und Soziales angehören, heute mit Abwesenheit
glänzen. Ich finde das eigenartig.
Wenn die Platzierung und die Länge dieser Debatte
kritisiert werden, dann müssen wir ein wenig selbstkri-
tisch feststellen, dass sie leider nach einem recht vorher-
sehbaren Muster abläuft . Die Opposition stilisiert sich zu
einem einzig wahren Fürsprecher der Betroffenen, zeich-
net das immer gleiche Bild von einer Koalition, die zu
wenig tut, und von einem Deutschland, das in Fragen der
Inklusion eher ein Entwicklungsland ist .
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen der Links-
fraktion und der Grünen, auch wenn Sie es nicht wahr-
nehmen wollen: Sie sind nicht auf der Höhe der Zeit . Wir
sind ganz gut unterwegs . Die Karawane zieht einfach
weiter .
Wir alle, die wir uns mit der Inklusion beschäftigen, sind
in ständigem Austausch mit den Betroffenen . Wir wissen
sehr gut, wo es hakt, und wir wissen sehr gut, wo wir
noch besser werden müssen .
Vor allem weiß ich eines: Mit Ihrer Schwarzmalerei ist
niemandem geholfen in diesem Land .
Das Inklusionsbarometer Arbeit, das in dieser Woche
vorgestellt worden ist, hat unsere Fortschritte mit Zah-
len untermauert . Wir haben momentan – die Kollegin
Tack hat es erwähnt – eine Erwerbstätigkeit von mehr als
1,15 Millionen Menschen mit Behinderung . Das ist so
viel wie nie zuvor . Das ist ein Rekord . Es ist auch richtig,
dass das nicht spitze ist . Auch das zeigt das Inklusions-
barometer . Wir dürfen uns natürlich nicht ausruhen, aber
das will ja auch keiner von uns .
Kerstin Tack
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514050
(C)
(D)
Der Beteiligungsprozess zum Bundesteilhabegesetz
war einmalig und richtungsweisend . So etwas hat es noch
nie gegeben; übrigens auch nicht, als Sie, liebe Kollegin-
nen und Kollegen von den Grünen, an der Regierung wa-
ren . Und während sich die grüne Fraktion immer wieder
in ideologischen Diskussionen um Sonderwelten verliert,
saßen im Ministerium längst behinderte und nicht behin-
derte Menschen auf Augenhöhe zusammen und haben
sich Gedanken darüber gemacht, wie ein modernes In-
klusionsrecht auszusehen hat .
Auch die Weiterentwicklung des Nationalen Akti-
onsplans ist für eine weitere erfolgreiche Umsetzung
der UN-Behindertenrechtskonvention wichtig . Auf den
Inklusionstagen in der vergangenen Woche wurde der
Arbeitsentwurf vorgestellt und breit diskutiert . Wenn Sie
sich diesen Entwurf anschauen – knallige fast 140 Sei-
ten –, dann werden Sie sehen: Untätigkeit kann man uns
wirklich nicht vorwerfen . Es passiert so viel in unserem
Land, Sie müssen es nur sehen wollen .
Für eine Antwort auf Ihre Anfrage, meine Kolleginnen
und Kollegen von der Linksfraktion, bin ich der Bundes-
regierung im Übrigen wirklich dankbar .
Frau Kollegin Freudenstein, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage oder Zwischenbemerkung der Kollegin
Rüffer?
Ja, bitte .
Sie stellen die Chancen behinderter Menschen, auf
dem allgemeinen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, und Ihre
entsprechenden Ambitionen recht rosig dar . Ich habe
in meinem Büro aktuell jemanden mit einer schweren
Behinderung eingestellt, der in verschiedener Hinsicht
Sonderbedarfe hat . Meine Büroleiterin ist seit drei Wo-
chen damit beschäftigt, die Rahmenbedingungen dafür
zu schaffen, dass das Arbeiten gelingen kann; das betrifft
den Arbeitsvertrag usw ., aber insbesondere auch die Aus-
stattung des Arbeitsplatzes . Das ist kein Einzelfall; darü-
ber sind ganze Bücher geschrieben worden . Ich möchte
jetzt gerne von Ihnen wissen: Was haben Sie ganz kon-
kret vor, um diesem bürokratischen Wahnsinn – ich nen-
ne das einmal so – ein Ende zu bereiten?
Ich weiß gar nicht, wo Sie gehört haben, dass ich die
Chancen behinderter Menschen, auf dem ersten Arbeits-
markt Fuß zu fassen, als rosig bezeichnet hätte . Das ist
überhaupt nicht der Fall . Sie haben mir offensichtlich
überhaupt nicht zugehört .
Ich habe gesagt, dass die Erwerbsquote sehr hoch ist,
dass das ein Rekordwert ist, aber dieser Wert selbstver-
ständlich nicht spitze ist . Sie haben mich also ganz falsch
zitiert, Frau Kollegin Rüffer . Selbstverständlich ist der
bürokratische Aufwand hoch . Das ist völlig unbestritten .
Sie haben mir nicht zugehört . Jetzt hören Sie einmal bes-
ser zu!
Dann können Sie vielleicht bessere Fragen stellen .
Ich bin der Bundesregierung für eine Antwort auf die
Anfrage der Linksfraktion wirklich dankbar . Sie bekennt
sich nämlich klipp und klar zu den Werkstätten . Sie wer-
den in der Antwort der Bundesregierung als wichtig für
die Eingliederung von Menschen mit Behinderung in das
Arbeitsleben bezeichnet, also derjenigen, die wegen der
Art oder Schwere ihrer Behinderung nicht am allgemei-
nen Arbeitsmarkt teilhaben können . Diese Klarstellung
ist gut und richtig . Denn auch wenn Sie das nicht ger-
ne hören: Die allermeisten Menschen sind gern in ihrer
Werkstätte, sie fühlen sich dort wohl, und sie wehren sich
heftig gegen all Ihre Wunschvorstellungen, die Werkstät-
ten zuzusperren und alle 300 000 Beschäftigten dort auf
den allgemeinen Arbeitsmarkt zu schicken .
Vor ein paar Wochen hat mich der Werkstattrat der
Lebenshilfe Regensburg im Bundestag besucht . Ich habe
die Leute gefragt, was sie eigentlich von uns wollen .
Da wurde einiges genannt, was wir in der Politik nicht
unmittelbar regeln können . Eine Frau hat mir zum Bei-
spiel erzählt, dass sie schon merken, wenn andere Leute
das Café verlassen, sobald sie hineingehen . Ein anderer
Mann meinte, sie wollten nicht mehr von Grundschulkin-
dern im Bus blöd angeredet werden, weil sie irgendwie
anders aussehen oder sich anders bewegen . Sie wollen
einfach als ganz normale Menschen wahrgenommen
werden .
Dr. Astrid Freudenstein
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 14051
(C)
(D)
Für viele – dafür muss man gar nicht Kind sein – ist
es immer noch schwer, mit Behinderungen und behinder-
ten Menschen umzugehen . Sie wollen es richtig machen,
aber sie haben Angst, es falsch zu machen . Deshalb ist es
gut und richtig, dass eine zentrale Aussage der Antwort
der Bundesregierung ist, dass man das Thema Bewusst-
seinsbildung nun in den Mittelpunkt stellen will .
Denn dieser Punkt, die Bewusstseinsbildung – Kollegin
Tack hat es eben ausgeführt –, ist gerade für die Einglie-
derung in den allgemeinen Arbeitsmarkt ganz wichtig .
Wir haben den Ausbau von Integrationsfirmen auf den
Weg gebracht, und wir wollen das Budget für Arbeit über
das Bundesteilhabegesetz bundesweit einführen . Aber
das reicht natürlich nicht: Wir sind in letzter Konsequenz
natürlich auf die Bereitschaft der Unternehmer angewie-
sen, Menschen mit Handicap einzustellen .
Ich will hier die Chance nutzen, mit einem Vorurteil auf-
zuräumen: Natürlich kann man auch einem Menschen
mit Schwerbehindertenausweis kündigen .
Es ist nicht so, dass man ihn nicht mehr losbringt, wie es
landläufig immer heißt. In den allermeisten Fällen geben
die Integrationsämter durchaus das Okay .
Das von BMAS und Arbeitgebern getragene Projekt
„Wirtschaft inklusiv“ – in dieser Woche wurde in Wei-
den, in meiner Heimat, der Oberpfalz, eine Halbzeit bilanz
gezogen – setzt genau an diesem Punkt an: Arbeitgeber
informieren, Hemmschwellen abbauen, Chancen für Be-
schäftigung eröffnen . Ich halte wenig davon, Unterneh-
men zur Inklusion zu zwingen . Wir müssen sie davon
überzeugen, und wir werden sie auch davon überzeugen .
Vielen Dank .
Damit schließe ich die Aussprache .
Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Emp-
fehlungen der Vereinten Nationen zur Behindertenrechts-
konvention zügig umsetzen“. Der Ausschuss empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/5163,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/4813 abzulehnen . Wer der Beschluss-
empfehlung des Ausschusses zustimmen möchte, den
bitte ich um ein Handzeichen . – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist damit
mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die
Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Fraktion Die
Linke angenommen .
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 3 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Änderung von Bestimmungen des
Rechts des Energieleitungsbaus
Drucksachen 18/4655, 18/5581
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Energie
Drucksache 18/6909
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen vor .
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Widerspruch
erhebt sich keiner . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Johann Saathoff für die SPD .
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Stromleitungsbau ist ein Eckpfeiler der Energiewen-
de . Leider ist der Ausbau in den letzten Jahren nicht so
erfolgt, wie wir uns das vorgestellt hatten,
und auch nicht so, wie wir es nötig gehabt hätten ange-
sichts der erfreulichen Fortschritte im Bereich Ausbau
der erneuerbaren Energien .
Spätestens seit den Beschlüssen der Parteivorsitzen-
den vom 1 . Juli mit dem Vorrang für Erdverkabelung im
Gleichstromsektor kann der notwendige Leitungsausbau
wieder Fahrt aufnehmen .
Die Idee des Primats der Erdverkabelung wurde aller-
dings nicht erst am 1 . Juli 2015 geboren . Bereits bei der
ersten Lesung des Gesetzes am 24 . April haben wir darü-
ber gesprochen . Während die Linken den SuedLink da-
mals gar nicht erdverkabeln wollten, habe ich für meine
Fraktion für den Erdkabelvorrang im Gleichstromsektor
plädiert .
Der zentrale Begriff im Zusammenhang mit dem Aus-
bau der Energieleitungen lautet: Bürgerakzeptanz . Nur
wenn die Bürgerinnen und Bürger den Leitungsausbau
genauso unterstützen wie die Energiewende an sich,
kann die Energiewende auch gelingen .
Dr. Astrid Freudenstein
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514052
(C)
(D)
Ich habe, wie viele Kollegen auch, überall in Deutsch-
land viele Gespräche mit Bürgerinitiativen vor Ort ge-
führt, auch hier in Berlin . Ich traf auf Menschen, die
durchweg für die Gestaltung der Energiewende waren .
Man hatte auch Verständnis für die Notwendigkeiten des
Leitungsbaus . Diese Menschen baten aber auch um Ver-
ständnis für ihre Situation und um die Beachtung ihrer
Interessen . Die Gründe, die sie genannt haben, haben wir
in der erfolgten Anhörung noch einmal aufnehmen kön-
nen .
Die Menschen haben in Bezug auf den oberirdischen
Leitungsausbau Sorge: Sorge um das Landschaftsbild,
Sorge um den Werterhalt ihrer Immobilien, Sorge um
den Erhalt der Wertschöpfung in den ländlichen Regio-
nen, in denen sich der Tourismus gerade erst etablieren
konnte – er ist manchmal die einzige Möglichkeit, sich
wirtschaftlich zu entwickeln –, und es gab auch die Sorge
um gesundheitliche Auswirkungen hinsichtlich des Baus
von Stromleitungen . Diese Sorgen muss man ernst neh-
men, und wir haben sie ernst genommen .
Die Lösung des Zielkonfliktes zwischen notwendigem
Leitungsbau und Sorge der betroffenen Bürgerinnen und
Bürger lautet: Erdkabel . Jetzt haben wir den Vorrang und
werden den SuedLink und die Süd-Ost-Passage zu 80 bis
90 Prozent unterirdisch verlegen .
Als Argument gegen die Erdverkabelung habe ich oft
gehört, die Erdkabel seien acht- bis zehnmal teurer . Dazu
kann ich nur auf Ostfriesisch sagen: Wenn Geld anfangt
tau prooten, kann man de Minsken neet mehr raken . Geld
ist wichtig, aber nicht alleine entscheidend; die Belan-
ge der Menschen sind mindestens genauso wichtig . Man
darf nicht zulassen, dass alleine das Geld entscheidet .
Auch im Drehstrombereich wollen wir mehr Erdka-
bel, allerdings nur bei insgesamt elf Pilotstrecken, und
dort auch nur, wenn die Abstände zu Wohnbebauungen
unterschritten oder Naturschutz- oder Artenschutzbelan-
ge betroffen sind . Wir haben darüber diskutiert, ob wir
die Liste der Pilotvorhaben nicht nur um die Empfeh-
lungen des Bundesrates erweitern wollen, sondern noch
weitere Strecken hinzufügen sollten . Dabei ging es nicht
um den Regionalproporz – ich gebe zu: Niedersachsen
kommt in der Liste der Pilotprojekte eigentlich ganz gut
weg –, sondern darum, dass wir bestimmte dringend not-
wendige Leitungen eventuell gar nicht bekommen, wenn
wir sie nicht an den jeweils neuralgischen Punkten unter-
irdisch verlegen .
Ich wurde in diesem Zusammenhang in den vergan-
genen Wochen und Monaten von vielen Kolleginnen und
Kollegen angesprochen und darum gebeten, dass wir
den Fokus im Gesetzgebungsverfahren auf bestimmte
Leitungen richten . Ich bedauere, dass uns das aus Sicht
dieser Kolleginnen und Kollegen nur unzureichend ge-
lungen ist . Ich kann mir deshalb vorstellen, dass wir uns
in Zukunft mit der einen oder anderen Leitung zusätzlich
werden beschäftigen müssen; denn was wir nicht wollen,
ist das, was gerade in der Uckermark-Leitung passie-
ren könnte . Diese Leitung ist nicht als Erdkabelleitung
vorgesehen . Das Bundesverwaltungsgericht hat gerade
gestern in mündlicher Verhandlung die Klage gegen den
Planfeststellungsbeschluss verhandelt . Solche Verfahren
können wir uns ersparen, wenn die Leitungen an neural-
gischen Punkten per Erdverkabelung realisiert werden
können .
Wir sind uns, denke ich, darin einig, dass die Re-
dispatchkosten bei Netzengpässen deutlich steigen wer-
den und wir diese nur durch konsequenten Netzausbau
begrenzen und beseitigen können . Kurzum: Wenn kei-
ne Leitungen gebaut werden, kommt uns das insgesamt
wesentlich teurer, als wenn man eine Leitung an den
schwierigen Punkten unterirdisch verlegt .
Wenn wir wissen, dass bestimmte Leitungen komplett als
Freileitungen wahrscheinlich gar nicht realisiert werden
können, wäre es also nur folgerichtig, diese Leitungen
mit einem „F“ für Erdkabelpilotprojekt zu kennzeichnen .
Im Gegensatz zur technisch einfacheren Erdverka-
belung wie bei SuedLink im Gleichstrombereich haben
wir im Drehstrombereich einen Pilotcharakter für eini-
ge Leitungen normiert . Der Pilotcharakter kann meiner
Meinung nach im Drehstrombereich heute noch nicht
aufgegeben werden, da hier noch besondere technische
Herausforderungen bestehen . Auch das wurde uns in
der Anhörung ausführlich berichtet . Wir werden mit den
Pilotstrecken Erfahrungen mit dieser Technik sammeln
können . Wenn alles gut funktioniert, kann anschließend
der Pilotcharakter aus meiner Sicht locker gestrichen
werden . Dann kann auch im Drehstrombereich die Erd-
verkabelung generell an den schwierigen Stellen zum
Wohle der Menschen in unserem Lande umgesetzt wer-
den .
Ich bedanke mich abschließend herzlich beim Koali-
tionspartner . Ich kann sagen, dass wir hart, aber immer
fair miteinander um den besten Weg gerungen haben . Mit
dem Ergebnis können wir alle sehr zufrieden sein, stellt
es doch einen weiteren wichtigen Meilenstein auf dem
Weg zur Realisierung der Energiewende dar und damit
natürlich auch zum Erhalt der Bürgerakzeptanz . Weite-
re Meilensteine folgen kurzfristig, als da wären: Strom-
marktdesign, Digitalisierung, EEG 3 .0 . Es wird uns also
nicht langweilig werden in den nächsten Monaten, wenn
es um die Energiepolitik geht . Auch bei der Bewältigung
dieser Herausforderungen freue ich mich auf eine gute
weitere Zusammenarbeit .
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt der Kollege
Ralph Lenkert .
Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Kolleginnen
und Kollegen! Eine überflüssige Stromtrasse ist überflüs-
sig . Wenn man sie als Erdverkabelung ausführt, stört sie
wenigstens nicht das Auge . Die Ablehnung der Strom-
Johann Saathoff
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 14053
(C)
(D)
trassen durch die Bürgerinitiativen ist deutlich . Viele
haben aber gesagt: Wenn wir es schon ertragen müssen,
dann macht es wenigstens so umweltverträglich wie
möglich . – Es war das Ministerium, das sich stark da-
gegen sperrte, und es war ein von der Linken benannter
Sachverständiger, der in der Anhörung klarmachte, dass
die prognostizierten Mehrkosten bei Gleichstromerd-
kabeln doch nicht so hoch sind . Es war dieser Sach-
verständige, der dem Ministerium klarmachte, dass das
Stand der Technik ist und Deutschland gerade dabei ist,
bei HGÜs, bei Hochspannungs-Gleichstrom-Übertra-
gungs-Trassen, den Anschluss zu verlieren . Es war Ihr
Änderungsantrag – danke dafür, liebe Kolleginnen und
Kollegen von Union und SPD –, der es ermöglicht, im
Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragungs-Bereich zu-
künftig Erdkabel zu realisieren, und zwar als Standard
und nicht als Ausnahme . Das unterstützen wir .
Leider haben Sie in dem 53-seitigen Antrag, der uns
am Dienstagabend vor der Abstimmung am Mittwoch
erreichte, noch einige andere Schmankerl eingebaut . Sie
haben gleichzeitig einige zusätzliche Stromtrassen in den
Bundesbedarfsplan aufgenommen, und zwar – das muss
man klar sagen – gegen die Regeln, die Sie sich selbst im
Energiewirtschaftsgesetz, im Energieleitungsausbauge-
setz und im Netzausbaubeschleunigungsgesetz gegeben
haben .
Ohne Anhörung haben Sie neue Trassen integriert .
Warum? Da lohnt sich ein Blick in den Netzentwick-
lungsplan 2025 . Da steht nämlich drin, dass der Strom-
transit, der Transport von Strom, zum Beispiel von
Schweden nach Österreich, in der Spitze von 6,5 Giga-
watt im Jahr 2014 auf etwa 14,5 Gigawatt im Jahr 2025
steigen soll . Rechnen Sie einmal nach! Das sind genau
die 8 Gigawatt HGÜ-Leitung, Hochspannungs-Gleich-
strom-Übertragungs-Trassen, die Sie installieren wollen .
Es geht nicht um die Versorgung Bayerns, es geht nicht
um die Versorgungssicherheit unseres Landes oder den
Abtransport des Windstroms aus dem Norden, es geht
einzig und allein darum, dass Stromhändler den Strom
quer durch Europa zu jeder Zeit in jeder Situation schie-
ben können. Das, finden wir, ist der falsche Weg.
Wer zahlt dafür? Es zahlen nicht etwa die Händler,
liebe Bürgerinnen und Bürger und Mitglieder der Ini-
tiativen, zahlen tun Sie . Der Verkäufer des Stromes
in Schweden zahlt nicht für den Stromtransport durch
Deutschland, er zahlt nicht für den Bau der Trassen und
die Refinanzierung, genauso wenig wie der Kunde im
Süden . Zahlen tun Sie, die Menschen, die dort wohnen,
wo die Stromleitungen durchführen .
Gerade bei 50Hertz – das Unternehmen ist für Ham-
burg und Ostdeutschland zuständig – spüren wir es
schon . Die Bundesnetzagentur genehmigte 50Hertz eine
Preissteigerung von 30 Prozent für die Netzentgelte zwi-
schen 2015 und 2016 . Das sind bereits 0,5 Cent zusätz-
lich . Dabei ist nur ein Zehntel der Trassen gebaut, die in
diesem Gebiet gebaut werden sollen . Schon ist der Preis
so hoch . Diese Kosten zahlen Bürgerinnen und Bürger
und kleine Handwerksbetriebe . Wer zahlt nicht? Strom-
händler und Großindustrie – und Netzbetreiber .
Bei jedem Netzentwicklungsplan, Jahr für Jahr, steigt
die Summe der Kosten für den Netzausbau um 5 bis
8 Prozent . Das können Sie nachverfolgen: 2012 20 Mil-
liarden Euro, 2013 21 Milliarden Euro, 2014 22 Milli-
arden Euro, 2015 23 Milliarden Euro . Jedes Jahr ist die
Umsatzsteigerung eingepreist . Zu zahlen ist sie von den
Bürgerinnen und Bürgern . Garantiert ist für die Netzver-
sorger 9 Prozent Rendite für die investierten Gelder . Das
ist eine Umverlagerung des Geldes von unten nach oben .
So etwas machen wir nicht mit .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben, wie ge-
sagt, ganz nebenbei Ihre Gesetze außer Kraft gesetzt .
Sie haben eine Leitung aufgeführt . In der Begründung
steht, sie wäre im Netzentwicklungsplan 2024 . Es geht
um das Projekt 47 . Es ist ein bayerisches Wunschprojekt .
Zu diesem Projekt gab es – bis zum Entwurf des Netz-
entwicklungsplanes 2025 – nie irgendwelche Unterlagen .
Die Anhörung dazu findet gerade statt. In Ihrer Begrün-
dung steht, es wäre schon 2014 beschlossen worden . Das
stimmt nicht ganz . Wir haben Sie bei der Abstimmung im
Ausschuss auf diesen Fehler aufmerksam gemacht . Sie
haben es ignoriert .
Das heißt – jetzt ist es schriftlich bestätigt –, Sie ver-
suchen auf jede Art und Weise, den Netzbetreibern zu-
lasten der Bürgerinnen und Bürger zusätzliche Trassen
zuzuschanzen . Das lehnt die Linke ab . Mit solch einer
Politik untergraben Sie jede Glaubwürdigkeit beim Net-
zausbau . Sie haben dem eventuell notwendigen Netzaus-
bau mit dieser Gesetzesnovelle einen schweren Schaden
zugefügt . Das haben Sie zu verantworten . Wir werden so
etwas nicht mitmachen .
Vielen Dank .
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Thomas
Bareiß .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine
Herren! Lieber verehrter Herr Lenkert, ich muss schon
sagen: Wenn Sie solche Reden vor Ort halten und die
Menschen auf diese Art und Weise verwirren, wundert
es mich nicht, wenn wir mit dem Leitungsausbau nicht
vorankommen . Wir können nur hoffen, dass hier andere
anders reden .
In diesem Sinne haben wir heute große Gesetzge-
bungspakete zu verabschieden und wollen die Energie-
wende wirklich ein Stück weit voranbringen . Wir haben
heute zwei große Themen vor uns . In der nachfolgenden
Ralph Lenkert
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514054
(C)
(D)
Debatte geht es um das Thema Kraft-Wärme-Kopplung .
Wir wollen den Ausbau von KWK schrittweise weiter
möglich machen und den Bestand sichern . Wir wollen
damit auch eine verlässliche Säule neben den erneuerba-
ren Energien erhalten . Mit dem jetzigen Gesetzgebungs-
paket wollen wir mit dem Stromleitungsausbau weiter
vorankommen . Das heißt, wir haben zwei große Pakete,
die in Zukunft für sicheren und bezahlbaren Strom sor-
gen . Ich glaube, das ist ein großer Schritt, den wir im
Rahmen der Energiewende machen .
Meine Damen, meine Herren, ohne Stromnetze wird
es keine Energiewende geben . Ich will nochmals beto-
nen, welch großen Umbau wir in den nächsten Jahren
vorhaben, und möchte das anhand von ein paar wenigen
Zahlen beschreiben .
Vor 20 Jahren gab es in Deutschland circa 1 000 Er-
zeuger von Strom; heute haben wir über 1,8 Millionen
Erzeuger. Früher floss der Strom nur in eine Richtung:
von den Übertragungsnetzen über die Verteilernetze bis
hin zum Verbraucher. Heute fließt der Strom in beide
Richtungen . Wir verlieren in den nächsten sieben Jahren
acht Kernkraftwerke; das heißt, wir verlieren 15 Prozent
unserer gesamten Erzeugung, größtenteils im Süden un-
seres Landes . Demgegenüber werden wir in den nächsten
sieben bis zehn Jahren über 35 Gigawatt an neuer Wind-
leistung aufbauen, größtenteils im Norden . Das heißt, wir
werden ein Drittel unserer gesamten Stromversorgung
vom Süden auf den Norden umwälzen . Das wird eine
enorme Herausforderung für unsere Stromnetze bedeu-
ten . Deshalb müssen wir hier viel investieren .
All das macht deutlich: Wir kommen an einem weite-
ren Ausbau der Stromnetze nicht vorbei; ich wäre dank-
bar, wenn sich alle hier im Haus endlich einmal ohne
Wenn und Aber dazu bekennen würden . Wenn wir das
nicht tun, hat das enorme Folgen für die Netzstabilität .
Wir bekommen Versorgungsengpässe, und die Kosten
werden zusätzlich steigen .
Meine Damen, meine Herren, für uns gehören der
Netzausbau und die Energiewende zwingend zusammen .
Es sind zwei Seiten einer Medaille . Deshalb haben wir
bereits 2011 den beschleunigten Ausstieg aus der Kern-
energie beschlossen und gleichzeitig gesagt: Wir wol-
len mehr für den Netzausbau tun . – Wir haben damals
das NABEG, das Netzausbaubeschleunigungsgesetz,
und den Bundesbedarfsplan beschlossen und damit ein
Bekenntnis zum Netzausbau in den nächsten Jahren ab-
gegeben . Außerdem haben wir uns auf neue Leitungen
festgelegt . Neue Stromtrassen mit einer Länge von über
2 800 Kilometern sollen gebaut und Leitungen mit ei-
ner Länge von 2 900 Kilometern ertüchtigt werden . Wir
haben die Öffentlichkeitsbeteiligung ausgedehnt . Wir
haben Verfahren beschleunigt und vereinfacht . Auch das
waren wichtige Meilensteine beim Ausbau unserer Net-
ze .
Ich habe die damalige Anhörung noch ganz gut im
Kopf . Als wir damals die Experten gefragt haben, hieß
es: Wir kommen beim Netzausbau schneller voran . – Da-
mals hieß es sogar, wir könnten die Realisierungsphase
von zehn Jahren auf fünf Jahre verkürzen . Leider hat sich
das nicht ganz bewerkstelligen lassen .
Wir haben jetzt vor Ort gespürt, dass es enorme Pro-
bleme und Akzeptanzschwierigkeiten gibt . Lieber Herr
Krischer, auch das ist ein Thema, das uns alle bewegt .
Ich habe mit vielen Bürgerinitiativen gesprochen, manch
eine schwierige Diskussion geführt, immer für den Lei-
tungsausbau vor Ort geworben und versucht, die Men-
schen dafür zu gewinnen . Was mich dort aber immer
wieder geärgert hat, ist, dass manche politisch Verant-
wortlichen – ich möchte keine Partei nennen –
den Menschen vor Ort immer wieder gesagt haben: Wir
brauchen die Leitungen gar nicht . – Das haben wir auch
eben wieder gehört . Es hießt manchmal auch: Durch die
Leitungen fließt Braunkohlestrom, den wir nicht haben
wollen . – Es hieß oftmals auch: Wir bauen autarke Sys-
teme auf und brauchen deshalb keine neuen Leitungen . –
Wenn man vor Ort solche Argumente anführt, meine sehr
verehrten Damen und Herren, dann werden wir beim Lei-
tungsausbau nicht vorankommen .
Herr Kollege Bareiß, gestatten Sie eine Zwischenfra-
ge des Kollegen Lenkert?
Aber sehr gerne doch .
Herr Kollege Bareiß, ich habe der Studie des Bun-
desverbandes mittelständische Wirtschaft, in der mit den
Daten der Bundesnetzagentur gerechnet wurde, folgen-
de Zahlen entnommen: Die Stromübertragungskapazität
zwischen nord- und süddeutschen Regelzonen – sprich:
dort, wo der Stromengpass besteht – beträgt 21 Gigawatt;
das heißt, im Extremfall können 21 Gigawatt übertragen
werden . Die Differenz zwischen der momentanen Erzeu-
gungskapazität in Süddeutschland und dem Spitzenver-
brauch – das ist der, der in dieser Jahreszeit und etwa um
diese Uhrzeit anfällt; es sind wenige Stunden im Jahr –
beträgt im Moment 4 Gigawatt; das heißt, bereits heute
ist eine Überkapazität von 17 Gigawatt bei der Transport-
kapazität vorhanden .
In wenigen Monaten geht die Thüringer Strombrü-
cke – leider – in Betrieb . Dadurch kommen weitere 4 Gi-
gawatt hinzu . Dann haben wir eine Übertragungskapazi-
Thomas Bareiß
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 14055
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(D)
tät von 25 Gigawatt . Die Atomkraftwerke, die vom Netz
gehen, entsprechen 8 Gigawatt .
Das heißt, in Süddeutschland haben wir dann, weil nur
ein Teil von ihnen in Süddeutschland steht, einen Maxi-
malbedarf von 10 Gigawatt Transportkapazität, und das
bei einer vorhandenen Kapazität von 25 Gigawatt .
Erklären Sie mir, wieso Sie bei einer Überkapazität
im Jahr 2025 von 15 Gigawatt noch 8 Gigawatt Übertra-
gungskapazität dazubauen wollen . Das müssen Sie mir
einmal erklären .
Lieber Herr Lenkert, ich weiß nicht, welche Luftzah-
len Sie hier nennen,
und ich muss auch sagen, ich komme bei dem, was Sie
hier beschreiben, nicht ganz mit .
– Ich sitze auch im Beirat der Bundesnetzagentur, nehme
also auch regelmäßig an den Sitzungen teil .
Herr Lenkert, ich weiß nur eines: Wir haben in diesem
Jahr Redispatch-Kosten von über 500 Millionen Euro .
Diese Kosten entstehen dadurch, dass wir im Süden
Deutschlands Strom brauchen, den es dort nicht gibt –
er wird dort nicht gehandelt –, während im Norden der
Strom produziert wird, der eigentlich in den Süden trans-
portiert werden sollte . Er kann aber nicht dorthin gelan-
gen, weil wir zu wenige Leitungen vom Norden in den
Süden haben . Das heißt, weil wir derzeit nicht die not-
wendigen Kapazitäten haben, um den Strom, der im Nor-
den produziert wird, in den Süden zu transportieren, wo
er gebraucht wird, müssen wir jetzt im Norden zwangs-
weise Windkraftwerke – es geht also um erneuerbare
Energien, die Sie ja haben wollen – abschalten, während
wir im Süden Kohle- und Kernkraftwerke hochfahren
müssen, damit der Süden auch weiterhin Strom hat .
Der einzige Grund dafür ist, dass wir nicht genügend
Leitungskapazitäten haben, um den notwendigen Strom
vom Norden in den Süden zu transportieren . Das ist ein
ganz großes Thema und kostet in diesem Jahr 500 Milli-
onen Euro . Im nächsten Jahr werden es wahrscheinlich
über 1,5 Milliarden Euro sein, und die Ursache dafür
liegt allein im fehlenden Ausbau der Leitungen vom
Norden in den Süden . Das müssen wir jetzt entsprechend
anpacken .
Wir merken heute wieder, dass wir beim Thema Lei-
tungsausbau auch Gegner haben . Die Opposition macht
wieder einmal nicht mit . Die Linken und die Grünen ge-
hen hier in Deckung .
– Die Grünen enthalten sich, die Linken stimmen mit
Nein . – Dieses Verhalten ist wieder Wasser auf die Müh-
len der Netzgegner . Bei der Energiewende sitzen die
Grünen gemeinsam mit den Linken leider im Bremser-
häuschen .
Wichtig ist jetzt, dass wir schnell mit dem Ausbau der
drei Stromautobahnen vorankommen . Dafür brauchen
wir die Menschen und die Akzeptanz vor Ort . Deshalb
wollen wir bei Gleichstromleitungen auf Erdkabel set-
zen . Damit wird es möglich sein, dass die großen Strom-
autobahnen durch Deutschland zu einem Großteil unter
der Erde verlaufen . Das betrifft insbesondere die großen
Nord-Süd-Trassen, wie SuedLink, und die Gleichstrom-
passage Süd-Ost .
In der Nähe von Wohnbebauungen führen wir ein
generelles Verbot von Freileitungen ein . Ausnahmen
für Gleichstromfreileitungen kann es nur dann geben,
wenn Naturschutzgründe dafür sprechen, wenn bereits
bestehende Stromtrassen genutzt werden oder wenn die
betroffenen Gebietskörperschaften eine Freileitung wirk-
lich ausdrücklich verlangen .
Meine Damen und Herren, ich gehe davon aus, dass
wir in Deutschland in den nächsten Jahren über 1 700 Ki-
lometer Gleichstromkabel in der Erde verlegen werden .
Diese Dimension ist einzigartig in der Welt . Wir gehen
damit einen riesigen Schritt voran . Das wird, offenge-
standen, anspruchsvoll und auch teuer . Wir stellen damit
aber wieder unter Beweis, dass die Energiewende eines
der größten Technologieprojekte der Welt ist . Wir sind
damit wieder einmal Pionier und Schrittmacher in der
Energielandschaft .
Trotzdem dürfen wir uns aber auch nicht überfordern .
Auch bei den Erdkabeln müssen wir Maß und Mitte
behalten . Deshalb sind wir bei der Erdverkabelung bei
Wechselstromleitungen auch etwas zurückhaltender als
die Opposition und manchmal vielleicht auch als die
SPD . Bei Wechselstromleitungen sind die Kosten näm-
lich wesentlich höher, und auch technisch ist dies um ein
Vielfaches anspruchsvoller .
Schon allein der Landschaftseingriff – das sollte für
die Grünenfraktion ein besonders Thema sein – ist dop-
pelt so groß wie der bei HGÜ-Leitungen . Die Breite be-
trägt nämlich 40 bis 50 Meter . Diese Einschnitte werden
auch von Naturschutzfreunden sehr kritisch gesehen .
Ralph Lenkert
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514056
(C)
(D)
Bei dem einzigen derzeit laufenden Vorhaben bei
Raesfeld kostet die Verlegung von 3,4 Kilometer Erd-
kabel 30 Millionen Euro . Jeder Meter kostet hier also
9 000 Euro .
Deshalb haben wir im vorliegenden Gesetzentwurf
klar zum Ausdruck gebracht, dass Wechselstromerdkabel
zunächst im Rahmen von Pilotvorhaben getestet werden .
Wir haben jetzt Kriterien und die Anzahl der Pilotvorha-
ben für eine Erdverkabelung maßvoll auf elf erweitert .
Allein diese Erweiterung wird uns 400 Millionen Euro
kosten . Das Erdkabel ist für Wechselstrom zukünftig sehr
eingeschränkt einzusetzen . Wir wollen den Pilotcharak-
ter weiterhin beibehalten . Versorgungssicherheit und
die Bezahlbarkeit sind uns oberste Priorität . Hier darf
es keine Kompromisse geben . Wir dürfen auch hier den
Menschen keine Versprechungen machen, die wir nicht
einhalten können .
Meine Damen und Herren, vielleicht noch einmal ein
Bericht aus der Praxis . In der zweiten Januarhälfte die-
ses Jahres gab es an einem Wochenende ein Rekordhoch
im Bereich der Windenergie . 30 000 Megawatt Wind-
energie wurden allein an einem Wochenende ins Netz
eingespeist . Die Nord-Süd-Verbindungen, wie vorhin
beschrieben, haben nicht ausgereicht, um diese Menge
wirklich nach Süden zu transportieren .
Wir mussten im Norden die Windräder zwangsweise
abschalten, im Süden mussten wir die Kernkraftwerke
zwangsweise hochfahren .
Allein an diesem einen Wochenende, lieber Herr
Lenkert, haben wir 7 Millionen Euro an Redispatchkos-
ten gehabt . Diese Kosten werden in den nächsten Jahren
eher mehr als weniger werden . Deshalb brauchen wir
Leitungen . Wir brauchen Ihre Mithilfe . Deshalb kann ich
alle nur darum bitten, dass wir jetzt geschlossen für mehr
Leitungen kämpfen, damit die Energiewende Schritt für
Schritt vorangeht .
Herzlichen Dank .
Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der
Kollege Oliver Krischer von Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der Tat: Flexibilität ist die neue Währung in einem
Stromsystem, das immer mehr auf der schwankenden
Erzeugung von Wind- und Sonnenenergie basiert . Das
Stromnetz ist neben anderen Lastmanagementspeichern
eine sehr wichtige und eine entscheidende Flexibilitäts-
option . Es trägt, Herr Lenkert, dazu bei – das ist Physik –,
Erzeugung und Verbrauch zusammenzubringen . Des-
halb, meine Damen und Herren, brauchen wir den Aus-
bau und die Optimierung des Stromnetzes, übrigens
nicht nur im Bereich des Übertragungsnetzes, sondern
auch im Verteilnetz; aber darüber reden wir in der Regel
gar nicht . Wir reden über das Übertragungsnetz . Das ist
eine richtige Sache . Man kann sich im Detail über viele
Fragen streiten . Aber sich hierhinzustellen und zu sagen:
„Das alles brauchen wir gar nicht“, das halte ich für eine
absolute Fehlentscheidung . Wer das tut, stellt die Ener-
giewende infrage .
Ich will Ihnen eines sagen: Es war richtig, 2011 einen
Bedarfsplan zu verabschieden, ein Gesetz, mit dem deut-
lich wurde: Auf der Basis von Energieszenarien entwi-
ckeln wir den Leitungsausbau . – Das war gut . Das haben
wir unterstützt . Das haben wir immer gefordert . Das ist
richtig . Was wir 2011 aber nicht gemacht haben, jeden-
falls die Mehrheit nicht, war, weitestgehend die Erdver-
kabelung zu ermöglichen . Die Erdverkabelung sollte ver-
hindert werden . Das war damals der Grund, weshalb wir
Grüne uns enthalten haben .
Jetzt machen Sie genau das Gegenteil . Aber jetzt, vier
Jahre später, ist dieses Gesetz von 2011 de facto geschei-
tert, und zwar deshalb, weil Sie Erdverkabelung nicht
zulassen wollten .
Jetzt fangen wir wieder bei null an . Hätten Sie damals auf
die Grünen und viele Sachverständige gehört, hätten wir
heute möglicherweise dieses Problem nicht . Wir hätten
beim Netzausbau nicht vier Jahre verloren . Auch das ge-
hört zur Wahrheit dazu .
Herr Bareiß, bei allem, worin wir übereinstimmen
mögen: Ihr Problem in dieser Frage sind doch nicht Sozi-
aldemokraten und Grüne .
Ihr Problem sind vielleicht die Linken, aber auch die
CSU . Das, was ich von Herrn Lenkert eben gehört habe,
habe ich in ähnlicher Form auch von Herrn Seehofer ge-
hört . Genau das ist das Problem .
Ich hätte es mir 2011 nicht vorstellen können, dass aus-
gerechnet die Union, die uns Grüne dafür beschimpft hat,
dass wir für Erdverkabelung sind, heute dafür sorgt, dass
dieses Gesetz scheitert . Das zeigt, dass Sie an dieser Stel-
le das Ganze nicht verstanden haben und dass es damals
ein Fehler war, dass Sie auf unsere Vorschläge nicht ge-
hört haben .
Thomas Bareiß
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 14057
(C)
(D)
Meine Damen und Herren, was Sie jetzt machen, ist,
der Erdverkabelung Vorrang einzuräumen . Sie sagen:
Erdverkabelung muss überall Vorrang haben . Damit
schaffen Sie neue Probleme; das hat die Anhörung sehr
deutlich gezeigt. Es wird Konflikte mit der Landwirt-
schaft und dem Naturschutz geben . Ich habe die ganz
große Sorge, dass wir in drei Jahren wieder hier stehen
und uns vielleicht von Herrn Seehofer oder jemand an-
derem anhören müssen: Nein, Erdverkabelung geht gar
nicht, weil das meine Bauern in Bayern schädigt – oder
was auch immer . Und das ist das Problem, nämlich dass
Sie an dieser Stelle das gesunde Maß und die Mitte nicht
finden, um zu angepassten Lösungen zu kommen. Der
Kollege Saathoff hat es angesprochen: Dazu gehört auch
der Bereich des Wechselstroms . Man kann den Men-
schen nicht erklären, warum bei HGÜ jetzt alles unter
die Erde gelegt wird, aber im Bereich des EnLAG, beim
Wechselstrom, nur nach unklaren Kriterien Pilotstrecken
ausgewählt werden,
und das wird die neuen Konflikte auslösen.
Gehen Sie doch einmal nach Hürth bei Köln – um nur
ein Beispiel zu nennen. Dort wird dieser Konflikt genau
dazu führen . Man kann es den Menschen gar nicht vor-
werfen, dass sie vor Gericht gehen . Deshalb habe ich
die ganz große Sorge, dass wir in drei Jahren tatsächlich
wieder hier stehen und das Ganze wieder neu machen
müssen, weil Sie einfach das gesunde Maß nicht finden.
Herr Bareiß, Sie sagen an einer Stelle, wir seien Pace-
setter, das gehe ganz schnell . Es ist jetzt fast zehn Jahre
her, dass das EnLAG verabschiedet wurde, und in dieser
Zeit regiert die CDU . Sie haben es in diesen zehn Jahren
geschafft, gerade einmal 20 Prozent des Leitungsausbaus
von 2 000 Kilometern zu bewerkstelligen .
Beim Bedarfsplangesetz sind Sie ganz gescheitert . Das
ist keine Erfolgsstory, was Sie hier in zehn Jahren Re-
gierungszeit hingelegt haben . An dieser Stelle wäre ein
bisschen Demut darüber angebracht, dass Sie das offen-
sichtlich nicht geschafft haben .
Meine Damen und Herren, ich hoffe nur, dass wir den
Leitungsausbau hinkriegen, dass ich mich am Ende hier
irre und dass er aufgrund Ihres Gesetzes doch gelingen
wird .
Ich fürchte, das wird nicht der Fall sein, aber ich hoffe,
dass der Leitungsausbau gelingen wird . Sonst werden
wir 2022 hier eine Debatte mit Horst Seehofer oder wem
auch immer führen, und der wird dann sagen: Na ja, jetzt
haben wir den Leitungsausbau nicht geschafft, jetzt müs-
sen wir darüber reden, dass Atomkraftwerke weiterlau-
fen . – Und das möchte ich nicht .
Das wäre das Allerschlimmste, was man Deutschland,
der Energiewende und der Welt antun könnte .
Herzlichen Dank .
Damit schließe ich diese Aussprache .
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung von Bestimmungen des Rechts des Energielei-
tungsbaus . Dazu liegen mir eine Reihe von Erklärungen
nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor .1)
Der Ausschuss für Wirtschaft und Energie empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/6909,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Druck-
sachen 18/4655 und 18/5581 in der Ausschussfassung
anzunehmen . Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen . – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
angenommen mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthal-
tung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und einer Ent-
haltung aus der Fraktion der CDU/CSU .
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte jetzt diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe-
ben . – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Gesetzentwurf ist damit angenommen, und zwar mit den
Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen
der Fraktion Die Linke bei Enthaltung von Bündnis 90/
Die Grünen und einer Enthaltung bei der Fraktion der
CDU/CSU .
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf der Drucksache 18/6920 . – Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Dieser Entschließungsantrag ist abgelehnt
mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die
Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke .
Ich rufe Zusatzpunkt 4 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Neuregelung des Kraft-Wärme-Kopp-
lungsgesetzes
Drucksachen 18/6419, 18/6746
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Energie
Drucksache 18/6910
1) Anlage 2
Oliver Krischer
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514058
(C)
(D)
Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor .
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache ebenfalls 25 Minuten vorgesehen . –
Widerspruch erhebt sich nicht . Dann ist das somit be-
schlossen .
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Florian Post für die SPD das Wort .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Heute ist ein guter Tag für die Kraft-Wär-
me-Kopplung; denn wenn wir heute das Gesetz beschlos-
sen haben werden, wird es logischerweise zum 1 . Janu-
ar 2016 in Kraft treten und die Kraft-Wärme-Kopplung
als hocheffiziente ressourcenschonende Art der Energie-
erzeugung und als Klimaschutzinstrument eine Perspek-
tive haben . Das war – sage ich ganz offen – in den Ver-
handlungen nicht immer ganz klar . Wir haben hier mit
unserem Koalitionspartner bis zur letzten Minute etwas
Gutes ausgehandelt, deswegen auch die sehr späte Vorla-
ge . Das haben wir nicht gemacht, um Sie zu ärgern, Frau
Verlinden,
sondern uns ging es um ein gutes Ergebnis . Ich glaube, es
kann sich sehen lassen .
Wir haben beschlossen, die Perspektive, die wir der
Kraft-Wärme-Kopplung geben wollen, auch beim Aus-
bau deutlich zu machen . Wir sind hier auf absolute Su-
perzahlen gegangen: Wir wollen bis zum Jahr 2020
110 Terawattstunden und bis zum Jahr 2025 120 Tera-
wattstunden zugebaut haben . Ausgehend von den derzeit
97 Terawattstunden macht das deutlich, dass wir uns hier
ein ambitioniertes, aber auch realistisches Ziel gesteckt
haben .
Gleichzeitig werden wir, um Investitionssicherheit
herzustellen, die ursprünglich bis 2020 vorgesehene Gel-
tungsdauer des Gesetzes bis zum Jahr 2022 verlängern .
Das macht energiewirtschaftlich Sinn, weil im Jahr 2022
einiges in der energiewirtschaftlichen Landschaft pas-
siert sein wird . Es sollen dann nämlich auch die Atom-
kraftwerke vom Netz gegangen sein .
Es ist auch hinsichtlich der Bestandssicherung ein
großer Erfolg, gerade bei der – notleidenden – öffentli-
chen Versorgung durch gasbasierte Anlagen . Hier war
Handeln wirklich geboten, da wir über einen Zubau gar
nicht sprechen müssen . Wenn wir hier Anlagen aufgrund
zunehmender Unwirtschaftlichkeit vom Netz nähmen,
wäre die Perspektive für die Kraft-Wärme-Kopplung in
der Tat nicht mehr gegeben gewesen .
Den Vorwurf in Ihrem Entschließungsantrag, liebe
Fraktion der Grünen, dass wir die Förderung für Speicher
und Netze nicht verbessern würden, muss ich zurückwei-
sen . Wir haben 150 Millionen Euro hierfür vorgesehen,
und das ist kein absoluter und maximaler Deckel, wie Sie
es beschreiben, sondern die Mindestfördersumme . Die
1,5 Milliarden sind im Übrigen das Gesamtfördervolu-
men, das wir von 750 Millionen Euro ausgehend verdop-
peln; das kann man auch einmal betonen .
Erst wenn diese 1,5 Milliarden Euro ausgeschöpft sind,
bleibt es bei maximal 150 Millionen Euro Fördervolu-
men für Speicher und Netze . Sollten die 1,5 Milliarden
nicht ausgeschöpft werden, kann man über die 150 Mil-
lionen Euro hinausgehen . Es handelt sich also um eine
Mindestfördersumme .
Wir machen mit dem Kontraktorenmodell auch
Mieterstrom möglich . Dieses Anliegen war uns Sozi-
aldemokraten besonders wichtig, da nun auch Mieter
von Förderungen und Befreiungen von Umlagen in der
Kraft-Wärme-Kopplung profitieren können, auch wenn
diese Modelle gerade nicht in die öffentliche Versorgung
einspeisen .
Wir sind auch in der Frage „Was wird gefördert?“ bei
unserem klaren Standpunkt geblieben: Wir schmeißen
niemandem Geld hinterher, der es nicht braucht, bei-
spielsweise industrieller Kraft-Wärme-Kopplung, die
eine wichtige Aufgabe übernimmt – das stelle ich nicht
in Abrede; es geht ja hier auch um eine Technologie, die
wir fördern wollen. Aber diese Anlagen befinden sich im
Geld, und wir fördern nichts, was die Förderung nicht
braucht – ganz unabhängig von der Betrachtungsweise,
was uns die EU da wegen der Beihilfeleitlinien gesagt
hätte . Das wäre jedenfalls EU-rechtlich nicht zulässig
gewesen . Aber es geht hier um etwas ganz anderes – das
möchte ich betonen –, nämlich darum, dass in den betref-
fenden Unternehmen Unsicherheit über die Eigenstrom-
privilegierung herrscht . Wir werden in der Bundesregie-
rung und in der Koalition dafür Sorge tragen, dass diese
Privilegierung weiterhin erhalten wird .
Ich möchte ganz kurz auf den Vorwurf eingehen, dass
wir angeblich Kohlekraftwerke fördern .
Das machen wir nicht . Es gibt zwar steinkohlebasierte
Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen im Netzbereich . Aber
diese arbeiten effizient.
2017 evaluieren wir – hör zu, Oliver – alle Anlagen .
Wenn bei hocheffizienten Kraft-Wärme-Kopplungs-
anlagen nachgewiesen wird, dass sie unwirtschaftlich
sind – bei der Unwirtschaftlichkeitsbetrachtung darf
keine Rolle spielen, wie sich der europäische Emissions-
handel entwickelt –, besteht die Möglichkeit, durch eine
Verordnungsermächtigung, die im Übrigen unter dem
Vorbehalt der Zustimmung durch den Bundestag steht,
etwas zu tun . Aber erst dann! Hier von einem Automatis-
mus zu sprechen, ist unredlich . Das wisst ihr auch ganz
genau, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen .
Vizepräsident Johannes Singhammer
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 14059
(C)
(D)
Schließlich habt ihr den Gesetzentwurf genau gelesen,
und du, lieber Oliver Krischer, verstehst etwas von der
Sache . Ihr macht uns also einen unredlichen Vorwurf .
Wenn man euren Entschließungsantrag liest, dann
stellt man fest, dass ihr bedauert, dass im Zeitraum vom
1 . Januar 2014 bis zum 30 . Juni 2015 elf Kraft-Wär-
me-Kopplungsanlagen vom Netz gegangen sind . Das
bedauern wir auch . Nun habe ich in der Antwort der
Bundesregierung vom 28 . August 2015 auf eure Anfra-
ge nachgelesen, um welche Anlagen es sich hier handelt .
Unter den elf Anlagen, die vom Netz gegangen sind, sind
sechs Steinkohlekraftanlagen . Wenn ihr das bedauert,
dann müsst ihr doch eigentlich froh sein, dass wir mit
der Verordnungsermächtigung die Möglichkeit eröffnen,
effektive Anlagen am Netz zu halten .
Wir stimmen heute über einen sachgerechten und ziel-
führenden Gesetzesvorschlag ab, der als Klimaschutzins-
trument der effizienten Kraft-Wärme-Kopplungstechno-
logie eine Zukunft aufzeigt . Ich fordere die Opposition,
wenn es ihr um etwas anderes geht als um billigen Kla-
mauk,
auf, unseren Gesetzesvorschlag zu unterstützen .
Herzlichen Dank .
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt die Kollegin
Eva Bulling-Schröter .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
wir vor kurzem in der ersten Lesung über das Kraft-Wär-
me-Kopplungsgesetz diskutiert haben, gab es eine selte-
ne Einmütigkeit zwischen den Fraktionen . Alle wehrten
sich dagegen, das 25-Prozent-Ziel beim Anteil der KWK
an der Nettostromerzeugung aufzugeben . Herr Post, Frau
Verlinden und selbst Herr Koeppen waren dabei . Gegen
diese Einmütigkeit des Parlaments bei der Rettung der
KWK ist das Ministerium – so schien es – machtlos . Ich
habe wirklich gedacht: Jetzt passiert es . Doch die Einig-
keit war trügerisch, wie wir jetzt wissen .
Was ist daraus geworden? Nach Verhandlungen der
Fraktionen von SPD und CDU/CSU ist ein knappes
20-Prozent-Ziel daraus geworden . Das ist zu wenig . Ich
persönlich bin enttäuscht .
Ich muss schon sagen: Auch wenn wir vermutlich aus
unterschiedlichen Gründen für die Beibehaltung der
25-Prozent-Marke waren, enttäuscht mich, dass SPD
und CDU/CSU nun so eingeknickt sind . Im Entwurf
gab es rechnerisch eine Absenkung des Anteils an der
Nettostrom erzeugung auf 19,2 Prozent . Nun kommen
wir mit dem Änderungsantrag auf 19,6 Prozent,
wenn wir die neue 110-Terawattstunden-Zielvorgabe bis
2020 umrechnen . Das ist vom Niveau her quasi das Glei-
che . Sie haben nun auch ein Ziel für 2025 eingeführt . Das
finden wir erst einmal gut. Allerdings kommen wir hier
nur auf 21,4 Prozent . Das ist natürlich zu wenig .
Eine Verbesserung gegenüber dem Entwurf ist, dass
Sie die Förderobergrenze für KWK-Zuschläge bei der
Objekt- bzw . Quartiersversorgung und die Förderzeiten
angehoben haben . Das ist erfreulich .
Schließlich kann auch die kleine KWK einen spürbaren
und bürgernahen Beitrag zur Energiewende leisten . Ich
hätte mir zudem gewünscht, dass ein Wärmeziel formu-
liert worden wäre . Also, bessert da einmal nach!
Es gibt offensichtlich keine Strategie dafür, wie man
Kommunen dazu bringt, kommunale Wärmepläne zu er-
stellen, etwa durch eine finanzielle Unterstützung. Dass
es der CDU/CSU besonders um die industrielle KWK
geht und sie daher noch die Möglichkeit einer Sonderför-
derung ab 2017 in das Gesetz geschrieben hat, finden wir
problematisch . Reden wir über die Energiepolitik der
CDU: Die ist in Wirklichkeit und im Wesentlichen Kon-
zernrettungspolitik, und zwar in allen Fällen .
Die CDU ermöglicht gerade den Atomkonzernen, sich
aus der Verantwortung für Atommüllentsorgung und den
AKW-Rückbau zu stehlen . Die Bundesregierung zieht
den Verbraucherinnen und Verbrauchern das Geld aus
der Tasche und vergoldet damit den Konzernen uralte
Kohlekraftwerke . Auch wenn Sie das nicht gerne hören
wollen, Sie müssen es sich einfach anhören .
Weil die Kohlestromindustrie statt 22 Millionen Ton-
nen Einsparung jetzt nur 12,5 Millionen Tonnen Einspa-
rung leisten muss, sollte ursprünglich die KWK für einen
Teil der fehlenden CO2-Einsparungen aufkommen . Das
ist jetzt leider hinfällig . Wenn man so nachbessert, dann
ist das schädlich; denn offenbar hat die Union jetzt dafür
gesorgt, in das KWK-Gesetz eine weitere Kohleförde-
rung zu schreiben . Sie können immer noch Nein sagen,
und wir können über etwas anderes abstimmen, aber mo-
mentan schaut es so aus .
Im gleichen Atemzug spricht die Umweltministerin
von einem Kohleausstieg . Ich stelle fest: Die Bundesre-
gierung spricht hier nicht mit einer Stimme . Es wird Zeit,
Florian Post
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514060
(C)
(D)
dass Sie endlich ein geordnetes Verfahren zum Abschied
aus der Kohleverstromung einleiten, meine Damen und
Herren . Dann weiß jeder, woran er ist, wie beim Atom-
ausstieg . Diese Sicherheit braucht es .
Danke .
Das Wort hat jetzt die Kollegin Barbara Lanzinger für
die CDU/CSU .
Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kol-
legen! Sehr geehrte anwesende Besucherinnen und Be-
sucher! Die Umstellung unseres Energiesystems und die
Integration der volatilen erneuerbaren Energien wird uns
noch lange Zeit vor große Herausforderungen stellen . Ich
denke, das muss man zu Beginn schon so festhalten . Da-
her werden wir auch weiterhin konventionelle Energie-
träger benötigen, die einerseits die Versorgungssicherheit
gewährleisten können, aber andererseits auch zur Inte-
gration der Erneuerbaren beitragen .
Diese wichtige Funktion können neben den heute
schon diskutierten Leitungen, Kraftwerken, Lastmanage-
ment und Speichern vor allem die Kraft-Wärme-Kopp-
lungsanlagen übernehmen. KWK-Anlagen sind flexibel,
steuerbar, können Schwankungen bei den Erneuerbaren
ausgleichen und führen durch die Kopplung von Wärme
und Strom zu mehr Effizienz.
Dies hilft vor allem auch dabei, den Energieverbrauch
im Gebäudebestand zu senken und die Industrieprozesse
effizienter zu gestalten. Zudem leisten sie mit der Be-
reitstellung von Strom und Wärme bereits heute einen
zentralen und sehr kosteneffizienten Beitrag zum Klima-
schutz . Bereits heute sparen wir durch diese Technologie
jährlich 56 Millionen Tonnen CO2 ein, auch durch die
Kohle-KWK . Es ist nicht so, dass Kohle-KWK-Anlagen
kein CO2 einsparen .
Daher eignet sich KWK auch gut als Klimaschutzin-
strument, wie es am 1 . Juli von der Bundesregierung be-
schlossen wurde .
KWK kann aber ihr volles Potenzial nur entfalten,
wenn die politischen und rechtlichen Rahmenbedingun-
gen stimmen und dadurch ihre Wirtschaftlichkeit ge-
geben wird . Deshalb müssen wir alles dafür tun, damit
diese Technologie auch weiterhin auf dem Markt bleibt .
Deshalb haben wir als Regierungsparteien, basierend auf
den Eckpunkten vom 1 . Juli und dem Koalitionsvertrag,
in den letzten Wochen gemeinsam ein Stück weit um die
Umsetzungen gerungen – das muss ich so formulieren –,
denn ganz so begeistert nahmen wir den Entwurf des
Wirtschaftsministeriums nicht auf . Da hatten wir eher
das Gefühl, man wolle die KWK nicht unbedingt weiter
fördern, sondern eher ein Stück weit verhindern .
Der heute zu beschließende Gesetzentwurf der Bun-
desregierung sieht unter anderem eine erhöhte Förderung
neuer KWK-Gasanlagen, eine Förderung der Umstellung
von Kohle-KWK auf Gas-KWK sowie eine verstärkte
Förderung von Fernwärmenetzen und -speichern vor . Die
jährliche Förderung ist erhöht worden . Das wurde schon
erwähnt; ich brauche es nicht zu wiederholen . Gerade
dieser Punkt ist in meinen Augen ein erster guter Schritt:
So wird die Möglichkeit geschaffen, diese Technologie
noch weiter auszubauen .
Im Speziellen konnte die Union in den Beratungen mit
der SPD einige wesentliche Punkte durchsetzen . Das ur-
sprüngliche Ziel war, den Anteil der Kraft-Wärme-Kopp-
lung an der regelbaren Nettostromerzeugung auf 25 Pro-
zent auszubauen . Wir konnten immerhin durchsetzen, das
Volumen von den vorgeschlagenen 108 Terawattstunden
auf 110 Terawattstunden bis zum Jahr 2020 und auf
120 Terawattstunden bis zum Jahr 2025 anzuheben . Wei-
terhin wird die Geltungsdauer des Gesetzes – es ist ganz
wichtig, dieses Signal an die Betreiber zu geben – um
zwei Jahre, also bis Ende 2022, verlängert, und vor allem
wird der Stichtag der Inbetriebnahme um ein halbes Jahr,
von 30 . Juni 2016 auf 31 . Dezember 2016, verschoben .
Mit diesen Änderungen wird für Investitionen in
KWK-Anlagen eine substanziell bessere Zukunftsper-
spektive eröffnet . Investitionen in KWK erhalten ein-
fach mehr Planungs- und Bestandssicherheit . Das ist ein
wichtiges Signal, das wir aussenden müssen .
Da wir derzeit bereits 96 Terawattstunden Strom
durch KWK produzieren und laut Evaluierungsbericht
ein KWK-Potenzial von bis zu 244 Terawattstunden
haben, wäre der ursprünglich angepeilte und im Koali-
tionsvertrag festgelegte Ausbau auf 25 Prozent an der
Nettostromerzeugung, was 140 Terawattstunden bedeu-
ten würde, gestreckt bis 2025, erfreulicher gewesen – das
gebe ich ganz ehrlich zu –; denn aus meiner und auch aus
unserer Sicht ist es erst dann sinnvoll, das KWK-Aus-
bauziel zu drosseln bzw . anzupassen, wenn wir das Ziel
des Anstiegs der Erneuerbaren auf 80 Prozent bis 2050
erreicht haben .
Ich möchte kurz auf die Industrie-KWK eingehen . Die
Industrie ist ein wesentlicher Bereich unserer Wirtschaft,
und sie spielt natürlich eine entscheidende Rolle bei der
Umsetzung der Energiewende . Wir können viel probie-
ren; aber wir sollten die Industrie schon mitnehmen und
nicht einfach zurücklassen, auch wenn sie im Geld ist .
Das hört sich immer fürchterlich an; aber im Geld ist vie-
les . Würden wir nach dem Kriterium gehen, dass was im
Geld ist, dürften wir vieles nicht mehr fördern . Ich habe
ein großes Problem damit . Dann müssten wir auch bei
den Erneuerbaren manchmal nachdenken .
Eva Bulling-Schröter
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 14061
(C)
(D)
Wir müssen schauen, dass unsere Industrie international
wettbewerbsfähig bleibt .
Deshalb haben wir im Hinblick auf die industrielle KWK
durchgesetzt, dass auch eine Förderung der Industrie-
parks erfolgt .
Sollte zudem eine Evaluierung ergeben, dass indus-
trielle KWK zukünftig förderbedürftig wird, kann durch
eine Verordnung mit Zustimmung des Bundestages – das
hat der Kollege Post eben schon erwähnt – eine entspre-
chende Förderung festgelegt werden . Die Bundesregie-
rung ist hier dringend gefordert, eine Belastung zu ver-
meiden; das sage ich ganz deutlich .
Ich möchte an dieser Stelle an die hierzu im Koali-
tionsvertrag getroffene Vereinbarung erinnern, die vor-
sieht – ich zitiere –:
So sollen alle neuen Eigenstromerzeuger mit einer
Mindestumlage zur Grundfinanzierung des EEG
beitragen, wobei wir die Wirtschaftlichkeit insbe-
sondere von KWK-Anlagen und Kuppelgasnutzung
wahren werden .
Darauf werden wir, denke ich, schon achten .
Trotz aller Diskussionen um die Kohle haben wir mit
der SPD zur hocheffizienten – ich sage bewusst „hochef-
fizienten“ – Kohle-KWK,
die wir im Übrigen auch unter Klimaschutzgesichtspunk-
ten für eine sinnvolle Technologie halten, vereinbart,
2017 eine vorgezogene Evaluierung durchzuführen . Soll-
te diese ergeben, dass Kohle-KWK-Anlagen förderbe-
dürftig sind, kann durch eine Verordnungsermächtigung
eine Förderung festgelegt werden . Man muss einfach
noch einmal sagen: Es geht hier um keine Brennstoffför-
derung, sondern um eine Technologieförderung .
Für die von vielen Kollegen angesprochene Förderung
von Anlagen zur Abwärmenutzung – auch das sollten wir
noch einmal erwähnen – wird es nach Zusage des Bun-
deswirtschaftsministeriums Anfang 2016 ein neues För-
derprogramm geben . Die Anlagen werden noch bis 2016
weiter gefördert, bis dieses Programm vorliegt .
Vielleicht auch noch ganz wichtig – ein kleiner
Punkt –: Für kleine KWK-Anlagen – weniger als
50 kW – und Brennstoffzellen haben wir zudem die För-
derdauer von 45 000 auf 60 000 Vollbenutzungsstunden
verlängert . Ich denke, das ist auch ein wichtiger Punkt .
Ich nenne noch die Übergangsregelung für bereits be-
gonnene Projekte . Da kann die Modernisierung schritt-
weise in den nächsten zehn Jahren erfolgen . Auch das,
denke ich, ist ein wichtiges Signal an die Industrie .
Zum Abschluss möchte ich betonen: Auch wenn das
Gesetz bei einigen Punkten, vor allem bei der industri-
ellen KWK und bei der Brennstoffneutralität, nicht ganz
dem entspricht, was wir uns unionsseitig gewünscht
hätten, so konnten wir doch insgesamt eine Reihe von
Verbesserungen erreichen . Dennoch müssen wir uns vor
Augen halten, dass das nun kommende KWKG ein Kom-
promiss ist . Ich sage ganz deutlich: Wir müssen dafür
sorgen, dass diese wertvolle Technologie auch weiterhin
Bestandteil unserer Energiewende bleibt .
Zum Abschluss dieser Aussprache hat die Kollegin
Dr . Julia Verlinden, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort .
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Es gab einen wirklich wichtigen und
richtigen Punkt im Gesetzentwurf der Bundesregierung
zur KWK: Das war der Ausschluss der Kohlekraft von
der weiteren KWK-Förderung .
Aber was machen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Regierungsfraktionen?
Auf den letzten Metern machen Sie ausgerechnet diesen
kleinen Fortschritt
im Sinne des Klimaschutzes, im Sinne des Umweltschut-
zes und der Luftreinhaltung wieder zunichte .
– Ich komme dazu noch, lieber Florian Post .
Als wären die Geschenke, die Sie kürzlich an die
Betreiber von uralten Kohlekraftwerken für die Stillle-
gung ihrer Dreckschleudern verteilt haben, nicht schon
schlimm genug:
Jetzt wollen Sie der schmutzigen Kohle auch noch Hoff-
nung auf mehr Subventionen machen . Meine Damen und
Herren, das ist ein Schlag ins Gesicht derer, die sich in
Paris gerade ernsthaft für mehr Klimaschutz einsetzen .
Und anstatt einfach offen zu sagen, wer wann wie viel
Geld für die Verbrennung von Kohle in KWK-Anlagen
hinterhergeschmissen bekommen soll, verstecken Sie das
Ganze in einer Verordnungsermächtigung . Sie wollen
Barbara Lanzinger
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514062
(C)
(D)
Ihre Kohlesubventionspolitik weiterhin im Hinterzim-
mer betreiben .
Ich frage ernsthaft: Was ist das für ein Signal, wenn
Sie hier immer neue Geschenke für die Kohle ersinnen,
anstatt endlich dafür zu sorgen, dass die fossilen Ener-
gien ihre wahren Kosten für Umwelt und Gesellschaft
tragen? Sorgen Sie endlich dafür, dass die Klimakiller im
Boden bleiben!
Sie hatten alle Möglichkeiten, den Regierungsentwurf in
Richtung Klimaschutz zu verbessern . Wir Grüne haben
dazu unsere Zusammenarbeit angeboten .
Ich komme jetzt zum Thema „Fuel switch“ . Darum
geht es eigentlich .
– Ja, es ist ein äußerst gutes Ansinnen des Gesetzentwur-
fes, den Umstieg von Kohle auf Erdgas oder Bioenergie
zu unterstützen .
– Genau darum geht es, lieber Florian Post .
– Ja . Ich komme dazu .
Wir Grüne haben gesagt: Wir wollen die Braunkoh-
lekraftwerke abschalten und die Steinkohle-KWK auf
Erdgas und Bioenergie umrüsten . – Es ist vielleicht
manchmal ein bisschen kompliziert, aber so sind unsere
Forderungen .
Die Anreize für die Umrüstung der Anlagen von Stein-
kohle auf Bioenergie oder Erdgas müssten Sie eigentlich
erhöhen . Die Experten im Ausschuss haben uns gesagt,
dass es dazu mehr Anreize geben müsste . Hier hätten Sie
nachlegen müssen, wenn Sie es ernst meinen .
Aber das Gegenteil ist passiert . Sie versprechen denen,
die weiter auf Kohle setzen, lieber vielleicht doch ein
paar Zuschüsse irgendwann, falls es denn eng wird mit
der Finanzierung .
Deswegen frage ich mich: Welches Unternehmen sollte
denn jetzt ausreichend Geld in die Hand nehmen, um die
Umstellung seiner Kraftwerke zu finanzieren?
Als wir hier vor vier Wochen bei der Einbringung des
Gesetzes gesprochen haben, da herrschte noch große Ei-
nigkeit zwischen allen Fraktionen, was das Ausbauziel
der KWK angeht .
Auch Sie, liebe Kollegen von den Regierungsfraktionen,
Herr Post, Herr Koeppen, haben hier gesagt, dass wir am
bisherigen KWK-Ziel – 25 Prozent an der Nettostromer-
zeugung bis 2020 – festhalten müssen . Aber offenbar
konnten Sie sich in Ihren eigenen Fraktionen nicht da-
mit durchsetzen; denn die Zahlen, die Sie jetzt hineinge-
schrieben haben – in Terawattstunden –,
bedeuten einen KWK-Anteil von 20 Prozent bis 2025 .
Dann müssen wir jetzt darüber diskutieren, wie viele
Terawattstunden wir dann in der Regel verbrauchen wer-
den . Ich gehe von den 600 Terawattstunden aus, die wir
im Moment verbrauchen .
Damit geben Sie das große Potenzial, das die KWK für
eine effiziente Energieversorgung bieten könnte, verlo-
ren .
Auch in einem anderen wichtigen Punkt sind Sie mit
Ihren Änderungsvorschlägen zu kurz gesprungen . Ich
kann verstehen, dass das nicht immer einfach ist . Man
hat vielleicht viele gute Vorschläge, kann diese aber mit
dem Koalitionspartner nicht alle durchsetzen . Wir sind
aber auch dafür da, Ihnen zu sagen, was Sie noch mehr
hätten tun sollen, und zwar bei der Bürgerenergie .
Hier haben Sie offenbar immerhin auf die Meinung der
Experten in der Anhörung gehört und die Kürzung der
Förderdauer für Mini-KWK zurückgenommen . Gute Sa-
che .
Dennoch haben Sie den Fördersatz kräftig gekürzt .
Es ist die Frage, ob engagierte Bürgerinnen und Bürger
unter diesen Bedingungen überhaupt noch in die sinnvol-
len Mini-KWK investieren werden .
Ich glaube, das Denken in kleineren, dezentralen Ein-
heiten fällt Ihnen noch schwer . Beim Denken stehen die
großen Kohlekraftwerke offenbar noch im Weg .
Sie hätten mit einem gut gemachten KWK-Gesetz der
Energiewende im Wärmebereich einen richtigen Schub
Dr. Julia Verlinden
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 14063
(C)
(D)
geben können . Diese Chance haben Sie nicht genutzt .
Mit Ihrer doppelzüngigen Energie- und Klimapolitik
werden Sie Ihre eigenen Klimaschutzziele niemals errei-
chen .
Damit schließe ich die Aussprache .
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Neu-
regelung des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes . Dazu
liegt mir eine Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsord-
nung vor .1)
Der Ausschuss für Wirtschaft und Energie empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/6910,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Druck-
sachen 18/6419 und 18/6746 in der Ausschussfassung
anzunehmen . Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen . – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke und von Bündnis 90/
Die Grünen angenommen .
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist damit angenommen mit den Stimmen von
CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke und von Bündnis 90/Die Grünen .
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die vor-
liegenden Entschließungsanträge, zunächst zum
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/6919 . Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Kollege Wunderlich, ich fürchte, dass dieser Entschlie-
ßungsantrag abgelehnt worden ist,
und zwar nach eindeutiger Wahrnehmung mit den Stim-
men von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke bei Enthaltung von Bündnis 90/Die
Grünen .
1) Anlage 3
Wir kommen jetzt zum Entschließungsantrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/6922 .
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschlie-
ßungsantrag ist damit abgelehnt mit den Stimmen von
CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/
Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke .
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:
– Zweite und dritte Beratung des von den Frak-
tionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der
Richtlinie über alternative Streitbeilegung
in Verbraucherangelegenheiten und zur
Durchführung der Verordnung über On-
line-Streitbeilegung in Verbraucherangele-
genheiten
Drucksache 18/5089
– Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie über
alternative Streitbeilegung in Verbraucher-
angelegenheiten und zur Durchführung der
Verordnung über Online-Streitbeilegung in
Verbraucherangelegenheiten
Drucksachen 18/5295, 18/5760
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Recht und Verbraucherschutz
Drucksache 18/6904
Drucksache 18/6914
Zu diesem Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/
CSU und SPD liegt ein Entschließungsantrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen vor . Die Reden sollen zu
Protokoll gegeben werden . – Ich sehe keinen Wider-
spruch . Dann sind Sie damit einverstanden .2)
Deshalb können wir auch gleich zur Abstimmung kom-
men . Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 18/6904, den Gesetzentwurf der Fraktio-
nen der CDU/CSU und SPD auf der Drucksache 18/5089
in der Ausschussfassung anzunehmen . Ich bitte jetzt die-
jenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
zustimmen wollen, um das Handzeichen . – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist da-
mit in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen
von CDU/CSU und SPD bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Wir kommen deshalb auch gleich zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte jetzt diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe-
2) Anlage 4
Dr. Julia Verlinden
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514064
(C)
(D)
ben . – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Gesetzentwurf ist damit angenommen mit den Stimmen
von CDU/CSU und SPD bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf der Drucksache 18/6921 in der neuen Fassung . Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt
dagegen? –
Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt mit den
Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen
von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke .
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Recht und
Verbraucherschutz zu dem von der Bundesregierung
eingebrachten Gesetzentwurf . Der Ausschuss für Recht
und Verbraucherschutz empfiehlt unter Buchstabe b sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/6904, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksa-
chen 18/5295 und 18/5760 für erledigt zu erklären . Wer
für diese Beschlussempfehlung stimmt, den bitte ich um
ein Handzeichen . – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Kei-
ne . Die Beschlussempfehlung ist damit einstimmig an-
genommen .
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Stärkung der Opferrechte im Strafver-
fahren
Drucksache 18/4621
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
Drucksache 18/6906
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden . – Ich
sehe, dass Sie alle damit einverstanden sind; denn es er-
hebt sich kein Widerspruch . Dann verfahren wir so .1)
Wir kommen deshalb unmittelbar zur Abstimmung .
Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksa-
che 18/6906, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 18/4621 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen . Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen . – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Niemand . Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung einstimmig angenommen .
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –
1) Anlage 5
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Niemand .
Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen .
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b
auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes für sichere digitale Kommunikation und
Anwendungen im Gesundheitswesen
Drucksachen 18/5293, 18/6012, 18/6138 Nr. 9
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Gesundheit
Drucksache 18/6905
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Kathrin
Vogler, Sabine Zimmermann , Jan
Korte, weiterer Abgeordneter und der Frakti-
on DIE LINKE
Elektronische Gesundheitskarte stoppen –
Patientenorientierte Alternative entwi-
ckeln
– zu dem Antrag der Abgeordneten Maria
Klein-Schmeink, Dr . Konstantin von Notz,
Elisabeth Scharfenberg, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Sicher vernetzt, gut versorgt – Digitalisie-
rung im Gesundheitswesen im Dienste der
Patienten gestalten
Drucksachen 18/3574, 18/6068, 18/6905
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Widerspruch
erhebt sich keiner . Dann ist das so beschlossen .
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die von die-
sem Tagesordnungspunkt betroffen sind, Platz zu neh-
men und den Platzwechsel zügig vorzunehmen .
Ich eröffne die Aussprache . Ich darf als erster Redne-
rin der Kollegin Dr . Katja Leikert für die CDU/CSU das
Wort erteilen .
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt liegt er
vor: der Entwurf eines Gesetzes für eine sichere digitale
Kommunikation und Anwendung im Gesundheitswesen,
im Volksmund E-Health-Gesetz genannt . Nach mehr als
einem Jahr intensiver Beratung und konstruktiver Debat-
ten ist es ein sehr schönes Gesetz geworden .
Es ist deshalb ein sehr schönes Gesetz geworden:
erstens, weil wir damit die Weichen für eine schnellere
Vizepräsident Johannes Singhammer
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 14065
(C)
(D)
und sicherere Kommunikation stellen, indem im Ge-
sundheitswesen die Zeiten von Fax und Karteikärtchen
überwunden werden; zweitens, weil wir damit für mehr
Patientennutzen und Selbstbestimmung sorgen, indem
der Patient Herr über seine eigenen Daten wird; drittens,
weil wir die Weichen für mehr Wirtschaftlichkeit und Ef-
fizienz stellen, indem die Zeiten des dritten überflüssigen
Röntgenbilds beendet werden .
Es war der Bundesminister Hermann Gröhe, der nach
zehn Jahren des Stillstands diesem wohl größten Digi-
talisierungsprojekt in unserem Land wieder den nötigen
Schwung verliehen hat .
Viele hatten schon den Glauben aufgegeben, dass sich
ausgerechnet in diesem sensiblen Bereich des Gesund-
heitswesens noch etwas tut . Für diesen mutigen Anstoß
danke ich sehr unserem Gesundheitsminister sowie der
Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz, die hier mit
viel Tatkraft vorangegangen sind .
Dieses Projekt der Digitalisierung ist mit Blick auf
den Patientennutzen einer der größten Fortschritte im
Gesundheitswesen der letzten Jahre . Ich möchte nur ei-
nige Anwendungen nennen: Zukünftig werden die Not-
falldaten auf der elektronischen Gesundheitskarte ge-
speichert, sodass der Notarzt schnell erkennen kann, ob
Vorerkrankungen oder beispielsweise eine Allergie vor-
liegen . Dann werden wir den Medikationsplan für Men-
schen einführen, die mehr als drei Medikamente nehmen;
denn wir alle wissen, dass mehr Menschen durch Arznei-
mittelwechselwirkungen sterben als im Straßenverkehr .
Das wollen wir nicht länger hinnehmen .
Mit dem E-Health-Gesetz wird auch der Weg der Tele-
medizin in die Regelversorgung geebnet . Röntgenkonsi-
le und Videosprechstunden sind bereits jetzt im Gesetz
verankert .
Dieses Digitalisierungsprojekt ist darüber hinaus ein
Fortschritt, weil wir die Selbstbestimmung des Patienten
stärken . Sie alle wissen, dass das so eine Sache ist . Es
hängt von der Arztpraxis ab, wie schnell Sie an Ihre Da-
ten kommen . Deswegen haben wir auch von parlamen-
tarischer Seite sehr darauf gedrungen, die elektronische
Patientenakte im Gesetz zu verankern . Der Patient muss
endlich schnell eine strukturierte Übersicht über seine
gesamten Daten bekommen: von der Diagnose bis zu den
Befunden, beispielsweise auch über seinen Impfstatus .
Grundsätzlich gilt dabei – das übersehen die Linken
sehr oft –: Der Patient entscheidet, welche Daten gespei-
chert werden und wer Zugriff auf welche Daten hat .
An dieser Stelle möchte ich gerne unserem Koaliti-
onspartner für die sehr gute Zusammenarbeit danken, au-
ßerdem den Kollegen vom Ausschuss Digitale Agenda,
aber auch der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die sich
sehr konstruktiv und kritisch, gerade in dem Punkt der
Patientenselbstbestimmung, eingebracht haben .
So schön, wie das mit der neuen digitalen Welt ist:
Die gesetzliche Krankenversicherung wird nicht dafür
da sein, jede digitale Spielerei in ihren Leistungskatalog
aufzunehmen . Fest steht aber – da gibt es kein Vertun –:
Wir wollen nur Anwendungen mit Mitteln der gesetzli-
chen Krankenversicherung finanzieren, wenn diese die
Festlegungen der Gematik zu den Standards berücksich-
tigen . Deshalb ist es richtig, dass das Bundesministerium
einen großen Schwerpunkt auf das Thema Interoperabi-
lität gelegt hat . So einen Kauderwelsch, wie er zwischen
Microsoft und Apple lange Zeit üblich war, wollen und
können wir uns im Gesundheitswesen nicht leisten .
Hier geht der Dank an die Experten aus der Anhörung,
die auf die wichtige Rolle internationaler Standards hin-
gewiesen haben .
Jetzt, wo wir dieses wunderbare Paket zur Schaffung
einer Telematikinfrastruktur und verschiedener Anwen-
dungen haben – vom Notfalldatensatz bis zur elektroni-
schen Patientenakte – und die Fortschritte im Hinblick
auf Patientennutzen und Patientenselbstbestimmung auf
dem Papier klar und deutlich zu erkennen sind, wollen
wir es natürlich ganz schnell in die Realität umgesetzt
sehen . Bis Mitte 2018 sollen über 200 000 Arztpraxen
und 2 000 Krankenhäuser flächendeckend an die Telema-
tikinfrastruktur angeschlossen werden . Damit das auch
passiert, sind in diesem Gesetzentwurf ganz harte Fristen
und Sanktionen vorgesehen . Hier stehen die Kassen, die
Ärzte und die Industrie gleichermaßen in der Verantwor-
tung . Wer die Fristen und Sanktionen nicht einhält, muss
Haushaltskürzungen hinnehmen . Man könnte ein biss-
chen bedauern, dass es so weit gekommen ist . Es ist ein
bisschen wie in einer längeren Beziehung, in der sich die
Partner gegenseitig blockieren .
– Ich wollte nur gucken, ob Sie aufpassen . – Heute soll
aber kein Tag der Drohungen oder des Bedauerns sein .
Heute überwiegt die Freude, dass wir mit einer großen
parlamentarischen Mehrheit – die Grünen rechne ich da
vom Herzen einfach einmal mit ein – dieses schöne Ge-
setz auf den Weg bringen .
Dr. Katja Leikert
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514066
(C)
(D)
Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin spricht Kathrin
Vogler von der Fraktion Die Linke .
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-
legen! Liebe Frau Leikert, es kommt nicht nur auf die
Schönheit an . Wahre Schönheit kommt von innen . Des-
wegen wollen wir uns die inneren Werte dieses Gesetz-
entwurfes – vielleicht gibt es sie auch nicht – vornehmen .
Sie wissen, dass die Linke sich für sichere digitale
Kommunikation einsetzt, gerade auch im Gesundheits-
wesen . Denn niemand möchte seine Gesundheitsdaten in
falschen Händen sehen .
Da gibt es viel zu tun . Aber das E-Health-Gesetz, das Sie
uns hier vorlegen, geht in die falsche Richtung . Deswe-
gen lehnen wir es ab .
Die Bundesregierung verfolgt weiter das Prinzip, in
einer Telematikinfrastruktur große Datenmengen mit-
einander zu vernetzen, die dann mit der elektronischen
Gesundheitskarte und einer PIN abgerufen werden kön-
nen . Weil in einem solchen komplexen System die Da-
tensicherheit nur sehr schwer sichergestellt werden kann,
wird es immer teurer und teurer, ohne absehbaren Nutzen
für die Patientinnen und Patienten .
Sie legen jetzt klare Fristen dafür fest, bis wann wel-
che Anwendungen am Start sein sollen . Mit diesen Fris-
ten wird dasselbe passieren wie mit der Frist zum Ende
nächsten Jahres . Bis zum 31 . Dezember 2016 sollten
nämlich alle Arztpraxen am Stammdatenmanagement
teilnehmen; nur: Die Industrie kann die Geräte nicht lie-
fern . Das stand heute in der Presse . Gestern haben wir
den Gesetzentwurf im Ausschuss behandelt . Herr Gröhe,
ich bin Ihnen persönlich – –
Ich bin persönlich von Ihnen enttäuscht, dass Sie uns
diese wichtige Information, die Sie schon seit 14 Tagen
haben, vorenthalten haben .
Ich finde, das ist eine Unverschämtheit.
Bis heute hat das Projekt die gesetzlich Versicher-
ten schon nahezu 1,4 Milliarden Euro gekostet . Allein
100 Millionen Euro werden jetzt für den Austausch der
Lesegeräte fällig, weil die alten Lesegeräte die Gefahr
bergen, dass Daten mitgelesen werden können . Weitere
300 bis 400 Millionen Euro wird der regelmäßige Aus-
tausch der elektronischen Gesundheitskarten kosten;
denn die Zertifikate darauf veralten und halten dann neu-
en Gefahren für die Datensicherheit nicht mehr stand .
Überhaupt ist es zweifelhaft, ob eine solche Megada-
tensammlung in der heutigen Zeit mit vertretbarem Auf-
wand gesichert werden kann . Ein Sachverständiger hat
in unserer Anhörung im Gesundheitsausschuss sehr klar
gesagt – ich zitiere –, „dass eine solche Struktur im Jahr
drei nach Snowden … schlicht und ergreifend nicht mehr
zeitgemäß ist .“
Die elektronische Gesundheitskarte ist auch kein si-
cherer Identitätsnachweis . Kolleginnen und Kollegen,
beim Kauf einer Prepaid-Karte für Ihr Handy gibt es
strengere Regeln, wie Sie sich zu identifizieren haben, als
bei der Ausstellung dieser Karte . Da von Datensicherheit
zu sprechen, ist einfach nur absurd .
Viele Versicherte teilen übrigens unsere Skepsis und
weigern sich deshalb, ein Bild für die elektronische Ge-
sundheitskarte einzureichen . Diesen Menschen drohen
Sie jetzt mit dem Entzug sämtlicher Leistungen ihrer
Krankenkasse; Menschen wohlgemerkt, die ihren Bei-
trag bezahlt haben . Sie sollen jetzt nur noch ein einziges
Mal eine Ersatzbescheinigung ausgestellt bekommen,
danach sind sie wie Nichtversicherte zu behandeln . Ich
finde, das ist ein Skandal.
Der Antrag der Linken „Elektronische Gesundheits-
karte stoppen – Patientenorientierte Alternative entwi-
ckeln“ ist ein Gegenentwurf, der Datenschutz und Pati-
enteninteresse ernst nimmt .
Wir fordern Sie auf, umzudenken . Sensible Patientenda-
ten dürfen unserer Ansicht nach nur auf den Rechnern
der Leistungsempfänger gespeichert werden . Mobile
Speichermedien wie USB-Sticks oder Karten sollten zu-
mindest ergebnisoffen erprobt werden . Damit hätten es
die Patienten wirklich selbst in der Hand, wem sie ihre
Daten offenbaren wollen . Das wäre ein moderner, ein de-
zentraler Ansatz .
Wir schreiben die Freiwilligkeit und die Selbstbestim-
mung der Patientinnen und Patienten groß . Zwangsmaß-
nahmen wie die Verweigerung von Leistungen lehnen
wir ab . Wir wollen auch nicht, dass kommerzielle Anbie-
ter mit ihren Angeboten in den Austausch der Gesund-
heitsdaten einbezogen werden .
Gesundheit ist keine Ware . Meine Daten gehören mir .
Vielen Dank . – Der Abgeordnete Gröhe wünscht eine
Kurzintervention .
Dr. Katja Leikert
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 14067
(C)
(D)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Frau Kollegin Vogler, da Sie enttäuscht waren über die
mangelnde Information, verstehen Sie vielleicht, dass
ich von einer Berichterstatterin enttäuscht bin, die nicht
zur Kenntnis genommen hat, dass in öffentlicher Anhö-
rung zu diesem Gesetzentwurf am 4 . November der Ge-
schäftsführer der Gematik die Veränderungen am Zeit-
plan erläutert hat . Sie hätten also längst vorher informiert
sein können .
Frau Vogler, Sie haben die Möglichkeit zur Reaktion .
Sehr geehrter Herr Minister – –
– Entschuldigung, Herr Abgeordneter Gröhe; Ihre Kurz-
intervention machen Sie ja als Abgeordneter .
Sehr geehrter Herr Gröhe, ich finde, dass das absolut
nicht ausreichend ist,
vor allem angesichts der Tatsache, dass Sie in dem Ge-
setz neue Fristen festgelegt haben und wir in der Bera-
tung Zweifel daran geäußert haben, ob und wie Sie bzw .
die Gematik in der Lage sein werden, diese neuen Fristen
einzuhalten .
Ich denke, Sie werden mit diesem Projekt – eine Sach-
verständige in der Anhörung hat es wie folgt beschrie-
ben: ein Flugzeug, das startet, ohne dass die Landebahn
fertig ist – noch eine fürchterliche Bruchlandung erleben,
leider auf Kosten der Patientinnen und Patienten, der
Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung .
Das finde ich einfach bedauerlich.
Als nächster Redner spricht Dirk Heidenblut von der
SPD-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Jetzt bin ich schon wieder versucht, auf ganz
viele Punkte einzugehen, aber das muss ich mir jetzt
klemmen; denn sonst komme ich mit meiner Rede wie-
der nicht durch .
Eines will ich aber noch einmal sagen: Wir stellen
hier keine neue riesige Datensammlung auf irgendwel-
chen Servern oder Ähnlichem zusammen . Wir machen
mit den Daten eigentlich genau das, was Sie verlangen .
Die Daten bleiben da, wo sie sind . Wir sorgen nur dafür,
dass der Patient drankommt, und wir sorgen dafür, dass
der Patient die Hoheit über seine Daten hat, wenn sie zu
Zwecken der Behandlung zusammengeführt, kurzzeitig
aggregiert werden müssen, damit sie auf vernünftige Art
und Weise verfügbar sind . Das ist genau das, was Sie
wollen . Sie wollen aber nur ignorieren, dass wir genau
das machen,
genauso wie Sie ignorieren, dass die Frage der Fristen
längst besprochen ist . Sie ignorieren auch, dass es genau
deswegen richtig ist, dass wir sanktionsbewehrte Fristen
setzen, damit wir an solchen Stellen endlich eingreifen
können .
Ich komme jetzt zu meiner Rede . Eigentlich möchte
ich eine freudige Rede halten . Denn ich muss sagen: Ich
bin richtig glücklich – das merkt man vielleicht auch –,
dass wir im Bereich der E-Gesundheit – ich verwende
mal nicht wie der Volksmund den Begriff E-Health – end-
lich so richtig vorankommen und Schub hineinbringen .
Auch ich möchte meine Rede mit einem herzlichen Dank
an das Ministerium, an den Minister, an die Staatssekretä-
rin, aber auch an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter be-
ginnen, die uns fachkundig begleitet haben . Diesen Dank
verbinde ich mit einem herzlichen Dank an den Koaliti-
onspartner, namentlich an die Kollegin Dr . Leikert . Ich
freue mich sehr, dass wir in großem Gleichklang – ich
glaube, dieser Gleichklang war dem einen oder anderen
manchmal sogar unheimlich – eine Menge Verbesserun-
gen bewirken konnten . Ich möchte auch den Grünen für
die konstruktive Mitarbeit ausdrücklich danken, auch für
den Antrag, der vorgelegt wurde . Wir haben nicht alles
übernommen, aber ein paar Sachen haben wir am Ende
doch berücksichtigt .
Wir schaffen Sanktionen und ein Anreizsystem, um
Blockaden aufzubrechen . Wir sagen: Wenn ihr mitgeht,
bekommt ihr für neue Leistungen eine entsprechende
Vergütung . – Das ist richtig . Genauso ist es richtig, zu
sagen: Wenn ihr nicht mitgeht, müsst ihr mit Einbußen
rechnen . – Genau so ist das . Zwar zeigen die aktuellen
Meldungen – das stimmt –, dass wir vielleicht sehr ambi-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514068
(C)
(D)
tionierte Fristen setzen; aber ich bin mir ganz sicher, dass
das Ministerium die Möglichkeit hat, darauf zu reagie-
ren . Es wird von den Verordnungsmöglichkeiten ganz
sicher in entsprechendem Maße Gebrauch machen .
Wir sagen es deutlich: Wir meinen es ernst mit diesem
E-Health-Gesetz . Wir meinen es ernst, wenn wir sagen,
dass wir bezüglich E-Health weiterkommen wollen . Des-
wegen gehören Anreize und Sanktionen in das Gesetz,
damit wir endlich den Fortschritt bekommen, den wir
schon lange brauchen .
Dieser Fortschritt ist ein echter Mehrwert für die Pa-
tienten . Wir schaffen einen Medikationsplan . Ich gebe
zu, dass ich am Anfang überlegt habe: Warum schaffen
wir einen Medikationsplan auf Papier? Aber wir brau-
chen erst einmal eine Grundlage, die wir dann elektro-
nisch umsetzen können . Durch unsere Änderungsanträ-
ge haben wir das Ganze dahin gehend verändert, dass
es mit den Projekten zur Arzneimitteltherapiesicherheit
übereinanderpasst . So erreichen wir jetzt endlich für den
Patienten den wundervollen Aspekt der Arzneimittelsi-
cherheit: Das Ganze liegt in seiner Hoheit und erfolgt
auf freiwilliger Basis . Der Patient hat einen Anspruch . Er
kann verlangen, dass der Medikationsplan, wenn er elek-
tronisch zur Verfügung steht, auf seiner elektronischen
Gesundheitskarte gespeichert wird, aber er muss es nicht .
Das Gleiche gilt für die Notfalldaten . Wir schaffen
einen Anspruch des Patienten bzw . der Patientin auf Be-
reitstellung der Notfalldaten . Wir sorgen dafür, dass diese
Daten im Notfall zur Verfügung stehen .
Wir stärken die Selbstbestimmung – auch das haben
wir gerade mit dem, was wir nachgelegt haben, sehr deut-
lich gemacht –, indem wir den Weg zur elektronischen
Patientenakte endlich deutlich klarer aufzeigen . Dieser
Weg führt durch ein starkes Sicherheitssystem . Ich glau-
be, es wird das stärkste in Europa sein, wenn wir mit dem
Gesetz fertig sind . Allein das Zwei-Schlüssel-System
sorgt für Sicherheit: Der Patient hat den einen Schlüssel
in der Hand, und der Heilberufsausweis des Arztes, des
Apothekers – oder wer sonst zugreifen darf – stellt den
anderen Schlüssel dar . Nur mit beiden Schlüsseln kommt
man an die elektronische Patientenakte . Nur mit beiden
Schlüsseln werden die Daten verfügbar . Das ist richtig,
und das ist gut so .
Das führt aber auch zu einem Problem – ich gebe zu,
dass ich lange überlegt habe, wie man da die Kurve krie-
gen kann -; denn wir wollen ja, dass der Patient und die
Patientin Hoheit über die Daten haben . Aber wie kom-
men sie an die Daten? Sie haben ja keinen Heilberufs-
ausweis als zweiten Schlüssel . Deswegen schaffen wir
das Patientenfach und den Anspruch, dass die Daten aus
der elektronischen Patientenakte in dieses Patientenfach
übertragen werden . Man muss natürlich wissen, dass das
Zwei-Schlüssel-System für dieses Patientenfach nicht
gilt; denn sonst käme ich als Patient ja nicht an die Daten .
Aber das ist meine Entscheidung . Ich kann dieses Pati-
entenfach dann zusätzlich mit Blutdruckdaten und an-
deren Daten füllen . Ich habe die Hoheit über die Daten,
die wir immer wollten und die wir uns immer vorgestellt
haben . Das heißt, wir haben über das Patientenfach und
die elektronische Patientenakte endlich den Einstieg in
die Selbstbestimmung geschaffen und für die Hoheit des
Patienten über seine Daten gesorgt .
Wir sorgen dafür, dass Interoperabilität, dass interna-
tionale Standards, dass Standards überhaupt Grundlage
unseres Systems werden . So kann Zusammenarbeit funk-
tionieren .
Wir haben über die Videosprechstunde eine weitere,
wie ich finde, sehr interessante Maßnahme in den Gesetz-
entwurf geschrieben . Ich sage direkt dazu, dass da noch
sehr viel mehr kommen kann: Telekardiologie, Telemo-
nitoring und Ähnliches . Da gibt es vieles, was noch kom-
men kann . Aber wir haben schon jetzt zwei wesentliche
Dinge eingebaut . Damit erreichen wir auch Fortschritte
im Bereich Versorgung . Die Videosprechstunde ist eine
gute Möglichkeit, Entfernungen zu überwinden . Damit
schaffen wir Versorgungssicherheit; damit sichern wir
gerade in ländlichen Regionen die Versorgungssicher-
heit .
Das kann und muss die Telemedizin leisten . Sie wird
nicht den Arzt ersetzen, sie wird nicht den Arzt-Patien-
ten-Kontakt ersetzen, und sie wird nicht die Therapien
ersetzen; aber sie wird Entfernungen überbrücken, sie
wird die Kommunikation verbessern, sie wird Doppel-
belastungen durch Doppelerhebungen und Doppelmaß-
nahmen vermeiden helfen, und sie wird die Sicherheit
verbessern . Das ist genau das, was wir wollen .
Mit dem Gesetz setzen wir einen Meilenstein, aber
das ist nicht das Ende . Wir müssen das Gesetz auch als
Ausgangspunkt dafür nehmen, wieder richtig Drive in
eine nationale E-Health-Strategie zu geben . Da baue ich
auf den Ausschuss Digitale Agenda, um an der Stelle
gemeinsam richtig weiterzukommen . Denn wir müssen
natürlich weiterkommen . Es muss noch deutlich mehr
passieren . Das ist jetzt nur ein weiterer Meilenstein, ein
Punkt, von dem aus wir sehr gut starten können .
Eines lassen Sie mich zuletzt sagen: Wir erwarten
jetzt, dass die Selbstverwaltung, die Gematik, die In-
dustrie und alle anderen Beteiligten mitziehen und dazu
beitragen, dass E-Health made in Germany eine Vorrei-
terrolle einnimmt und nicht hinterherhinkt . Aus diesem
Grund plädiere ich dafür: Stimmen Sie alle unserem
wirklich guten Gesetzentwurf zu .
Vielen Dank .
Dirk Heidenblut
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 14069
(C)
(D)
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin spricht Maria
Klein-Schmeink von der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-
ginnen und Kollegen! Dirk Heidenblut, ich glaube, das
mit dem Glück ist relativ . Schauen wir es uns einmal an:
2003 wurde die eGK ins Gesetz geschrieben, beschlos-
sen von Rot-Grün . 2006 sollte sie vorliegen . 2018 – das
ist hier eben gerade ausgeführt worden – werden wir
dann endlich alle Praxen und Krankenhäuser am Netz
haben . Es ist noch lange nicht sicher, ob auch die anderen
Leistungserbringer, die Pflege- und die Gesundheitsbe-
rufe, dabei sind . Ich melde Zweifel an, ob das jetzt ein
klassischer Fall von Glück ist .
Ich würde andersherum sagen: Dieses Gesetz drückt
endlich mit Geschlossenheit und Entschlossenheit das
aus, was wir schon lange brauchen und was schon lange
klar war . Wir haben schon 2003 gewusst, dass wir mehr
Vernetzung im Gesundheitswesen brauchen . Natürlich
hat das auch etwas damit zu tun, dass wir einen IT-ge-
stützten Datenaustausch haben und dass wir natürlich im-
mer mehr Anwendungen in der Telemedizin haben .
Das war das Erste .
Das Zweite, was für uns Grüne immer ganz wichtig
ist, waren natürlich der Datenschutz und zusätzlich auch
die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, welche Daten ich
zur Verfügung stelle, welche Daten eingesehen werden
können oder nicht . Genau das ist schon damals beschlos-
sen worden . Aber man muss sagen: Es hat verdammt
lange gedauert und viel Geld gekostet, bis wir endlich
überhaupt bis zu dem Stand von heute gekommen sind .
Das ist bedauerlich .
Diesen Vorwurf muss man natürlich an die Kollegin-
nen und Kollegen sowohl von der CDU/CSU als auch
von der SPD richten, aber ich würde sagen, die CDU/
CSU hat dem Blockadeprozess der Selbstverwaltung län-
ger quasi nur zugesehen und ist nicht aktiv geworden .
Wir können froh sein, dass wir jetzt tatsächlich das Sig-
nal senden: Jetzt muss es passieren!
Wir können uns nicht länger erlauben, Milliarden zu ver-
senken, ohne dass etwas vorangeht . Das Resultat dieser
Entwicklung ist ja, dass wir in diesem Bereich eigent-
lich Entwicklungsland sind . Von wegen vorneweg gehen,
Dirk Heidenblut, das ist wirklich Zweckoptimismus;
denn davon sind wir derzeit noch weit entfernt .
Schauen wir uns das Gesetz an . Als Sie gestartet sind,
waren wir sehr enttäuscht; das muss man schon sagen .
Denn mehr als die Umsetzung des Auftrags, eine sichere
IT zu schaffen – dieser stand schon längst im Gesetz –,
war dabei nicht herausgekommen . Da muss ich sagen: Es
ist nachgebessert worden . Darüber sind wir froh . Es ist
klarer und deutlicher sichtbar, dass es tatsächlich einen
Nutzen für die Patienten gibt . Es steht klarer drin, dass
auch die Versicherten selber einen Zugriff auf ihre Da-
ten haben und dass wir da vorankommen müssen . Das
ist also gut .
Aber warum sind Sie eigentlich auf halber Strecke
stehen geblieben? Das verstehe ich wiederum nicht . Es
fehlen bestimmte Regelungen zum Datenschutz gerade
bei der Einbeziehung von externen Dienstleistern . Das
hat Ihnen die Datenschutzbeauftragte ins Gebetbuch ge-
schrieben . Warum haben Sie das nicht umgesetzt? Wa-
rum haben Sie nur die Hausärzte in den Beirat der Ge-
matik aufgenommen, aber nicht die Vertreter der Pflege?
Das verstehe ich nicht .
Das ist ein ganz wichtiges Anwendungsgebiet für die Zu-
kunft. Warum wurde die Pflege nicht aufgenommen?
Ich könnte Ihnen noch ein paar andere Punkte nennen .
Ich hätte mir mehr Mut gewünscht, auch diese Dinge
aufzunehmen . Aber ich habe im Arbeitsplan der Bundes-
regierung gesehen, dass es im nächsten Jahr eine IT-Stra-
tegie im Gesundheitswesen geben soll . Das ist ein Punkt
aus unserem Antrag, der noch nicht abgewickelt ist . Es
gibt bestimmt noch einige andere Punkte, bei denen Sie
gut nachbessern könnten . Wir würden uns freuen, wenn
Sie auch das noch aufnehmen .
Eine Sache noch zur Linken . Wenn wir Ihren Vor-
schlägen folgen würden, dann gäbe es weniger Sicher-
heit und weniger Selbstbestimmung für die Versicherten
und nicht mehr . Deshalb meinen wir: Ihren Antrag muss
man ablehnen . Er würde dazu führen, dass wir die vielen,
vielen grauen Lösungen, die es im Gesundheitswesen,
was den Austausch im IT-Bereich betrifft, schon längst
gibt, weiter befördern würden . Wir müssen genau das
Gegenteil machen . Wir brauchen eine öffentliche Da-
seinsvorsorge im Bereich der IT im Gesundheitswesen .
Das ist der richtige Weg . Deshalb muss man Ihren Antrag
ablehnen .
Danke schön .
Vielen Dank . – Als letzter Redner in dieser Runde hat
Reiner Meier von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514070
(C)
(D)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Heidenblut, Sie sehen auch mich heute sehr
glücklich .
Sie haben mich auf Ihrer Seite . Mit dem E-Health-Ge-
setz machen wir nämlich einen großen Schritt hin zu
einer modernen Kommunikationstechnik in unserem
Gesundheitswesen . Die Grundvoraussetzung hierfür ist,
dass viele unterschiedliche Systeme im Gesundheitswe-
sen miteinander Daten austauschen können . Das ist mir
sehr wichtig . Deshalb bin ich ein großer Befürworter des
E-Health-Gesetzes .
Wir haben die Selbstverwaltung und die Gematik er-
mächtigt, im Dialog mit der Industrie offene und standar-
disierte Schnittstellen für den Datenaustausch festzule-
gen . Gemeinsam mit dem öffentlichen IOP-Verzeichnis
ermöglichen wir mehr Transparenz und klare technische
Standards für die digitale Zusammenarbeit . Dabei fangen
wir nicht bei null an, sondern können auf Erfahrungen,
auch im internationalen Bereich, zurückgreifen . Auf der
Grundlage einer sicheren Telematikinfrastruktur können
dann auch weitergehende Anwendungen umgesetzt wer-
den .
Voraussichtlich im Jahre 2018 wird die Gematik mit
der elektronischen Patientenakte eine der wichtigen An-
wendungen im Hinblick auf die elektronische Gesund-
heitskarte einführen . Für den Patienten können in einem
Patientenfach seine Befunde, Diagnosen und Behand-
lungsdaten transparent und jederzeit nachvollziehbar
dokumentiert werden . Durch die schnelle Verfügbarkeit
dieser Daten können wir dem Patienten nicht nur belas-
tende Doppeluntersuchungen ersparen, sondern wir ver-
meiden mitunter auch Behandlungsfehler .
Beim Medikationsplan war die Verbesserung der Pa-
tientensicherheit unser zentrales Leitmotiv . Hier können
die Apotheker auf Wunsch des Patienten gemeinsam mit
den behandelnden Ärzten einen entscheidenden Beitrag
zur Arzneimittelsicherheit leisten .
Die Beteiligung der Apotheker ist auch deshalb wichtig,
weil vor allem sie über die Einnahme der OTC-Medika-
mente informiert sind .
Meine Damen und Herren, bei aller Innovationsfreude
haben wir aber auch den Schutz der Patientenrechte be-
sonders berücksichtigt und ernst genommen . Nach dem
E-Health-Gesetz ist es deshalb der Patient, der festlegt,
wer Zugriff auf seine Gesundheitsdaten hat und wer
nicht . Ebenso bestimmt allein der Patient, ob ein Medika-
tionsplan erstellt wird, ob ein Notfalldatensatz angelegt
wird und ob er weitere Anwendungen nutzen möchte .
Hier setzen wir auf das Prinzip der Freiwilligkeit und da-
rauf, dass die Patienten bestmögliche Kontrolle über ihre
medizinischen Daten haben .
Meine Damen und Herren, die vielseitigen Entwick-
lungen im Bereich der Digitalisierung bieten uns viel-
fältige Chancen, die Gesundheitsversorgung spürbar zu
verbessern . Denn eines ist klar: Die Digitalisierung im
Gesundheitswesen ist schon in vollem Gange . Es ist Sa-
che des Gesetzgebers, ihr einen guten und sicheren Rah-
men zu geben .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zuletzt
möchte ich noch auf einen Punkt eingehen, der uns ge-
rade als CSU seit Jahren sehr am Herzen gelegen hat,
nämlich die gerechte Behandlung von Waisen und Halb-
waisen in der gesetzlichen Krankenversicherung .
Bislang wurde eine Waisenrente nach dem SGB VI
bei der Berechnung der Krankenversicherungsbeiträge
wie ein eigenes Einkommen angesetzt . Das führte zu der
zusätzlich belastenden Situation, dass ein Kind, das gera-
de einen schmerzlichen Verlust erlitten hatte, auch noch
einen Großteil der Waisenrente als Beitrag an die Kran-
kenversicherung abführen musste . Um diese doppelte
Belastung zu beseitigen, werden wir Waisen mit gesetzli-
chen Hinterbliebenenrenten künftig bis zur Altersgrenze
für Familienversicherte von den Beiträgen befreien .
Damit schließen wir eine große Gerechtigkeitslücke, und
das ist auch richtig so .
Ich bedanke mich .
Vielen Dank . – Ich schließe die Aussprache .
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf für sichere
digitale Kommunikation und Anwendungen im Gesund-
heitswesen. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt un-
ter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 18/6905, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksachen 18/5293 und 18/6012 in der Ausschuss-
fassung anzunehmen . Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen,
um das Handzeichen . – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Bera-
tung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen
der Fraktion Die Linke bei Enthaltung von Bündnis 90/
Die Grünen angenommen worden .
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der
Gesetzentwurf in dritter Lesung mit den Stimmen der
Koalition gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung
von Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden .
Tagesordnungspunkt 19 b . Unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/6905 empfiehlt
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 14071
(C)
(D)
der Ausschuss für Gesundheit die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/3574 mit dem
Titel „Elektronische Gesundheitskarte stoppen – Patien-
tenorientierte Alternative entwickeln“ . Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthält sich jemand? – Die Beschlussempfehlung ist mit
den Stimmen der Koalition und der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke
angenommen worden .
Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/6905 empfiehlt der Ausschuss für Ge-
sundheit die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/6068 mit dem Titel
„Sicher vernetzt, gut versorgt – Digitalisierung im Ge-
sundheitswesen im Dienste der Patienten gestalten“ . Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist auch diese Be-
schlussempfehlung angenommen worden, und zwar mit
den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Grü-
nen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
– Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der aufsichts- und berufsrecht-
lichen Regelungen der Richtlinie 2014/56/EU
sowie zur Ausführung der entsprechenden Vor-
gaben der Verordnung Nr. 537/2014 im
Hinblick auf die Abschlussprüfung bei Unter-
Drucksache 18/6282
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Energie
Drucksache 18/6907
– Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/6908
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Dazu gibt es
keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Als erste Rednerin hat die
Parlamentarische Staatssekretärin Brigitte Zypries für
die Bundesregierung das Wort .
B
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Bei der Abschlussprü-
feraufsichtsreform geht es darum, die Qualität der Ab-
schlussprüfungen und die Aufsicht über die Abschluss-
prüfer zu verbessern, weil sie für das Vertrauen in die
deutsche Wirtschaft von großer Bedeutung sind . Deswe-
gen gilt es, bei der Umsetzung der EU-Vorschriften die
Qualität in den Vordergrund zu stellen .
Weil die Qualität in diesem Zusammenhang so wichtig
ist, ist es sehr gut, dass es diesem Gesetzentwurf so erging
wie vielen anderen auch, die aus dem Deutschen Bundes-
tag nicht so herausgekommen sind, wie sie hineinkamen .
Ich bedanke mich ausdrücklich für Änderungsanregun-
gen aus dem Hohen Hause und auch aus dem Bundesrat .
Namentlich sind hier die Kollegen Heider und Ilgen zu
nennen, die sich sehr engagiert haben . Vielen Dank .
– Ehre, wem Ehre gebührt; das muss man einmal sagen .
Die Umsetzung der EU-Vorgaben verlangt erhebliche
strukturelle Änderungen der berufsunabhängigen Ab-
schlussprüferaufsicht . Die derzeit bestehende Abschluss-
prüferaufsichtskommission muss aufgelöst werden .
Auch ihr gebührt für ihre zehnjährige engagierte Arbeit
ein großer Dank .
Die Aufgaben der berufsstandsunabhängigen Auf-
sichtsbehörde kann sie nicht mehr wahrnehmen . Das liegt
schlicht und ergreifend an ihrer Rechtsform und an ihrer
Struktur . Deswegen werden die Aufgaben auf eine Stel-
le beim Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle
übertragen . Das gilt auch für einen Teil der Aufgaben der
Wirtschaftsprüferkammer sowie für weitere Aufgaben,
die von Richtlinie und Verordnung vorgegeben werden .
Wir werden aber die Kontinuität und die Funktions-
fähigkeit der Aufsicht gewährleisten, indem wir die Mit-
arbeiter der Kommission und der Wirtschaftsprüferkam-
mer überleiten . Die fachliche Unabhängigkeit der neuen
Aufsichtsstelle wird durch die Entscheidungsfindung in
Beschlusskammern gesichert .
Darüber hinaus kommt es zu Änderungen des Be-
rufsrechts in der Wirtschaftsprüferordnung . Die Berufs-
pflichten werden teils detaillierter, teils strenger geregelt.
Künftig müssen festgestellte Verstöße sanktioniert und
veröffentlicht werden . Das sorgt für das, was man im
Strafrecht „Generalprävention“ nennt .
Ich danke .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Klaus Ernst
von der Linken das Wort .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es gibt ja nichts Schöneres, als um diese Zeit
dieses Thema zu diskutieren . Es geht darum, dass euro-
parechtliche Vorgaben im Zusammenhang mit Regelun-
gen für Wirtschaftsprüfer umgesetzt werden . Im Zen-
trum steht dabei, dass die Prüfung bei Unternehmen von
öffentlichem Interesse kontinuierlich verbessert werden
soll . Das ist der eigentliche Kern der Richtlinie der EU .
Ziel war, die Qualität der Abschlussprüfungen und die
Aussagekraft der Prüfungsergebnisse zu steigern . Es soll
mit der APAS eine Abschlussprüferaufsichtsstelle beim
Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle geschaf-
fen werden . Die bisherige Abschlussprüferaufsichtskom-
mission APAK wird aufgelöst .
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514072
(C)
(D)
Meine Damen und Herren, es wäre natürlich schön
gewesen, wenn die Umsetzung dieser Verordnung dazu
geführt hätte, dass man die Probleme, die im Zusam-
menhang mit Wirtschaftsprüfern nicht nur bei uns in
der Bundesrepublik Deutschland, sondern eigentlich
weltweit bestehen, mit angegangen wäre . Es gibt vier
große Wirtschaftsprüfungsunternehmen: KPMG, PwC,
Ernst & Young und Deloitte . Sie prüfen rund 90 Prozent
der DAX-, MDAX- und SDAX-Konzerne – 90 Prozent!
Nebenbei bemerkt: Wenn man sich an die Finanzkrise
erinnert und wenn man weiß, dass die großen Finanzin-
stitute im Prinzip von diesen vier Unternehmen geprüft
wurden, dann weiß man auch, dass es mit der Qualität
dieser Prüfungen nicht so weit her gewesen sein kann .
Ansonsten hätten sie erkennen müssen, welche Risiken
sich in den Bilanzen verstecken, nicht nur bei den Ban-
ken, sondern auch bei den großen Versicherungskonzer-
nen . Da kann ich nur feststellen: Da kam nichts . So groß
kann es mit der Qualität der vier Großen nicht her sein .
Übrigens: Der frühere Kommissar Barnier wollte das
ändern . Es heißt in einer Vorlage der Europäischen Uni-
on:
Die derzeitige Konzentration auf den Markt . . . stellt
damit eine Bedrohung für die Stabilität des Finanz-
systems dar .
Da ist nichts passiert . Es bleibt alles so, wie es ist . Sie
hätten diese Reform tatsächlich nutzen können, um da
einzugreifen .
Sie machen allerdings etwas anderes . Wir wissen, dass
die großen Vier, die Big Four, nicht nur in der Prüfung,
sondern massiv auch in der Unternehmensberatung tätig
sind . Das heißt faktisch, dass sie die prüfen, die sie vor-
her beraten haben . Das ist eine tolle Geschichte .
So kann man sich natürlich Beratung und Prüfung vor-
stellen . Das ist vielleicht auch der Grund dafür, warum
durch diese Großen, die bei der Finanzkrise geprüft ha-
ben, nichts herausgekommen ist .
Jetzt machen wir etwas anderes . Wir sagen jetzt
praktisch, dass die kleineren Wirtschaftsprüfungsgesell-
schaften mehr oder weniger genau den gleichen Bestim-
mungen unterliegen, die für die großen gelten . Mit dem
APAReG werden jedoch Prüfung und Kontrolle von Un-
ternehmen des Kapitalmarktes einfach auf Unternehmen
außerhalb des Kapitalmarktes übertragen .
– Genau das machen Sie . Wir haben mit den Betroffenen
gesprochen . Da sage ich Ihnen: Wenn Sie das tun, dann
führt das dazu, dass Sie die Kleineren eigentlich noch
mehr schwächen, dass Sie damit den Konzentrationspro-
zess auf dem Markt für Wirtschaftsprüfer eher fördern
und dass Sie das eigentliche Ziel, das Sie erreichen woll-
ten bzw . das die EU vorgegeben hat, mit Ihrer Reform,
die Sie machen, nicht erreichen .
Das wird vielmehr eher dazu führen, dass die großen
Vier gestärkt werden . An den eigentlichen Problemen
ändert sich nichts, und die kleineren Wirtschaftsprüfer-
gesellschaften haben den Nachteil . Mich wundert es in
diesem Zusammenhang, dass Sie sich immer noch selbst
auf die Fahnen schreiben, mittelstandsfreundlich zu sein .
Bei den Wirtschaftsprüfern sind Sie das definitiv nicht.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Dr . Matthias
Heider von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Vielen Dank . – Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Es gibt
so viele wichtige Entscheidungen, die wir in diesen
Tagen treffen, die auch von großer Tragweite sind . Da
fällt ein Gesetz zur Regelung eines freien Berufes nicht
sofort ins Auge . Dennoch kommt der Berufsaufsicht für
Wirtschaftsprüfer eine besondere Bedeutung zu . Wir be-
schließen deshalb heute das Abschlussprüferaufsichtsre-
formgesetz, kurz APAReG . Frau Präsidentin, das spricht
sich auch viel kürzer .
Der Jahresabschluss ist die wichtigste Informations-
quelle über ein Unternehmen für Aktionäre, für Ge-
schäftspartner, für den Kapitalmarkt, für Mitarbeiter und
auch für die Öffentlichkeit . Der Jahresabschluss gibt
nicht nur Auskunft über die wirtschaftliche Situation ei-
nes Unternehmens und ist Grundlage für die Berechnung
von Steuern und Gewinnverteilung, auch Informationen
zu rechtlichen Verhältnissen und dem Risikomanage-
ment sind enthalten . Das sind Angaben, die in einer sich
immer schneller drehenden Wirtschaftswelt von enormer
Bedeutung sind .
Der Jahresabschluss hat nach § 264 Absatz 2 HGB un-
ter Beachtung der Grundsätze ordnungsgemäßer Buch-
führung ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechen-
des Bild über die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage
eines Unternehmens zu vermitteln . Für bestimmte Unter-
nehmen besteht eine Pflicht zur Prüfung ihres Abschlus-
ses durch den Wirtschaftsprüfer .
Vor dem Hintergrund der Finanzkrise hat die EU für
eine besondere Gruppe von Unternehmen von öffentli-
chem Interesse – das sind alle börsennotierten Unterneh-
men, Banken und Versicherungen – strenge Regelungen
an die Vergabe des Auftrags zur Prüfung des Jahresab-
schlusses einerseits und an das Berufsrecht des testieren-
den Wirtschaftsprüfers andererseits gestellt . Herr Ernst,
das sind zwei völlig verschiedene Dinge, die haben Sie
gerade mal eben in einen Topf geworfen .
Wir beschäftigen uns hier heute nur mit dem Berufs-
recht und der Berufsaufsicht, und diese Teile haben wir
Klaus Ernst
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 14073
(C)
(D)
bis Mitte 2016 umzusetzen . Die Sorge der EU-Kommis-
sion dreht sich unter anderem um die Wettbewerbssitua-
tion in einer Branche, die von wenigen Wirtschaftsprü-
fungsgesellschaften dominiert wird . In der Tat hat das
Handelsblatt im Juni 2015 noch einmal festgestellt, dass
90 Prozent aller 160 DAX-Unternehmen von den großen
vier WP-Gesellschaften geprüft werden, und diese Wirt-
schaftsprüfungsgesellschaften prüfen auch 85 Prozent
aller Unternehmen von öffentlichem Interesse in Europa .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, daraus müssen nicht,
es könnten aber Risiken entstehen, und darauf muss die
Berufsaufsicht vorbereitet werden .
Deshalb gilt es auch, die Lage von kleinen, mittleren
und großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften und auch
von Einzelwirtschaftsprüfern genau zu betrachten . Auf-
sichts- und Qualitätsregelungen sind wichtig . Solche Re-
gelungen verursachen für die Berufsangehörigen großen
Aufwand. Dieser Aufwand muss finanziell und organi-
satorisch eine tragbare Belastung und auch im Sinne der
EU-Richtlinie erforderlich und gerechtfertigt sein .
Wir glauben, dass alle am Wirtschaftsleben Beteilig-
ten ein großes Interesse an diesen Regelungen haben und
das Vertrauen in den Berufsstand, seine Arbeit und seine
Berufsaufsicht durch das APAReG gestärkt werden kann .
Zu dem Gesetzgebungsverfahren hat es intensive
Diskussionen innerhalb der Branche und auch mit uns
Abgeordneten gegeben . Die Unionsfraktion hat zu ei-
nem frühen Termin eine Informationsveranstaltung
durchgeführt . Es haben zahlreiche Fachgespräche mit
den Berichterstattern der Koalition stattgefunden . Der
Wirtschaftsausschuss hat eine intensive Anhörung zum
APAReG mit Vertretern aus Wissenschaft und Praxis
durchgeführt .
Zunächst möchte ich mich an dieser Stelle aber ganz
herzlich für die gute Zusammenarbeit mit den Kollegin-
nen und Kollegen aus der SPD-Fraktion bedanken, ins-
besondere bei Matthias Ilgen . Wir hatten eine komplexe
Materie zu beraten, und unter Einbeziehung der Fach-
leute aus dem BMWi haben wir dort eine ganze Menge
Änderungsanträge auf den Weg gebracht . Frau Staatsse-
kretärin, auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im
Ministerium auf diesem Wege unser herzlicher Dank!
Das Abschlussprüferrecht ist kein Thema für parteipo-
litisches Gezerre . Ich sehe auch bei den Kolleginnen und
Kollegen der Grünen gleiche Ansätze und Erwartungen
an die neuen Regeln .
Wir, meine Damen und Herren, sind uns unserer Ver-
antwortung als Parlament für die Berufsaufsicht bewusst .
Die CDU/CSU tritt seit jeher für die freien Berufe ein,
zu denen auch die Wirtschaftsprüfer gehören . Wir wollen
dem Berufsstand mit der Neuordnung der Wirtschafts-
prüferordnung eine gute Grundlage geben .
Wir haben die Umsetzung deshalb von Anfang an unter
die Leitlinien erstens einer Eins-zu-eins-Umsetzung der
europäischen Regelungen, zweitens einer mittelstands-
freundlichen Ausgestaltung und drittens der Gewährleis-
tung einer funktionierenden Selbstverwaltung gestellt .
Die Vorschriften sehen vor, dass die Abschlussprüfer-
aufsicht durch eine berufsstandsunabhängige Behörde
durchgeführt werden muss . Wunsch des Ministeriums
war es, diese dem Bundesamt für Wirtschaft und Aus-
fuhrkontrolle anzugliedern . Andere Regelungen wären
auch denkbar gewesen; insbesondere hätte ich mir eine
beliehene private Gesellschaft vorstellen können . Jedoch
erfüllt die gewählte Umsetzungsform in vollem Umfang
auch die Anforderungen der europäischen Vorschriften .
Die Besetzung der Leitungspositionen der APAS – so
heißt die neue Behörde – erfolgt dem Gesetz nach in ei-
nem transparenten und unabhängigen Auswahlverfahren .
Für das BMWi bzw . das BAFA gilt es jetzt, die Stellen
für qualifiziertes und unabhängiges Leitungspersonal
auszuschreiben und entsprechend auszuwählen, damit
die Vorgaben der Richtlinie und der Verordnung umge-
setzt werden können .
Die Union hat sich für ein Entscheidungsgremium in
der APAS nach dem Vorbild der Beschlusskammern des
Bundeskartellamtes und der Bundesnetzagentur stark ge-
macht . Die Einrichtung von Beschlusskammern führt zu
mehr Transparenz im Verfahren der Berufsaufsicht und
zur Unabhängigkeit der Entscheider . Die Beschlusskam-
mern bestehen aus fünf Mitgliedern . Sie entscheiden mit
einfacher Mehrheit über Aufsichtsmaßnahmen .
Ich möchte noch auf einige punktuelle Änderungen
der berufsrechtlichen und berufsaufsichtlichen Rege-
lungen zu sprechen kommen: In der Qualitätskontrolle
werden die Abschlussprüfer durch den Wegfall der Teil-
nahmebescheinigung entlastet . Eine darüber hinausge-
hende Streichung der Registrierungspflicht, wie sie der
Berufsstand gern gehabt hätte, war aus europarechtlichen
Gründen nicht möglich . Dafür haben wir den Zeitpunkt
der Anzeige und der Registrierung der Durchführung von
gesetzlichen Abschlussprüfungen auf zwei Wochen nach
Annahme des Auftrages verschoben . So müssen Ab-
schlussprüfer sich nicht schon registrieren lassen, wenn
sie die bloße Absicht haben, also nur darüber nachden-
ken, eine Abschlussprüfung durchführen zu wollen .
Außerdem wird die Qualitätskontrolle durch das
APAReG verschlankt . Gegenstand der Qualitätskontrolle
sind nur noch gesetzliche Abschlussprüfungen und die
von der BaFin in Auftrag gegebenen Prüfungen .
Der schon im Regierungsentwurf explizit enthaltene
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz für die Durchführung der
Qualitätskontrolle wurde durch unsere Änderungsan-
träge noch konkretisiert . So soll sich die Intensität der
Qualitätskontrollprüfungen an der Anzahl der Mandate
sowie der Art und Größe der Praxis orientieren . Auch das
erschien uns nur mittelstandsfreundlich und angemessen .
Im berufsaufsichtlichen Verfahren verbleibt die Zu-
stän digkeit für den Erlass eines vorläufigen Tätig-
keits- und Berufsverbotes als schärfstes Schwert der
Berufsaufsicht – anders als im Regierungsentwurf vor-
gesehen – beim Gericht . Außerdem haben wir die Vor-
aussetzungen für den Erlass einer Rüge durch die Wirt-
Dr. Matthias Heider
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514074
(C)
(D)
schaftsprüferkammer und die APAS als Regelbeispiel im
Gesetz festgehalten . Damit wird eine Entscheidungshil-
fe vorgegeben, um festzulegen, in welchen Fällen eine
Rüge verhängt werden kann und wann eine Belehrung
ausreichend ist . Die im Regierungsentwurf vorgesehene
Aufsicht der APAS über die Qualitätskontrollprüfer ha-
ben wir gestrichen . Jedoch bedarf es zur Sicherung ei-
ner hohen Qualität der Qualitätskontrollprüfungen einer
Aufsicht . Diese wird zukünftig durch die Kommission
für Qualitätskontrolle durchgeführt . Damit verbleibt die
Aufsicht über die Qualitätskontrollprüfer bei der Selbst-
verwaltung .
Wir erwarten, dass der Berufsstand die neue Arbeits-
grundlage annimmt und von seinen Mitwirkungsrechten
und -pflichten regen Gebrauch macht. Der Berufsstand
der Wirtschaftsprüfer genießt hohes Ansehen . Allen Be-
rufsträgern, den Verbänden und Institutionen muss be-
wusst sein, dass sie Verantwortung für ihren Berufsstand
tragen . Deshalb sollten sie an diesen Regelungen in bes-
ter Weise mitwirken .
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Als nächster Redner spricht Dr . Thomas
Gambke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe verbliebene Zuschauer auf der Tribüne!
Das Thema ist in der Tat sperrig, wie schon die Kurzform
APAReG verrät . Herr Ernst, wenn Sie sich ein bisschen
mehr mit dem Thema befasst und nicht nur diese Rede
gehalten hätten, wüssten Sie, dass noch ein Abschluss-
prüfungsreformgesetz, AReG, folgen wird .
Wenn Sie das gewusst hätten, wäre Ihnen bei richtiger
Analyse die Dominanz der Big Four bei internationalen
Prüfungen – das hat Herr Heider in den Zahlen bestä-
tigt – aufgefallen, und Sie hätten nicht nur ideologische
Schlagworte gebraucht . Das Thema wird uns sicherlich
noch befassen . Aber es ist nicht so einfach zu lösen, nach
dem Motto: Macht die Großen kaputt, und verschafft den
Kleinen mehr Raum!
Es gibt heute keine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft in
Deutschland – das ist die Aussage der Wirtschaftsprüfer
selbst –, die in der Lage wäre, die großen Konzerne, die
international aufgestellt sind, zu prüfen . Die deutschen
Wirtschaftsprüfungsgesellschaften können es nicht . Die
entscheidende Frage lautet daher: Welche Strukturen
müssen wir schaffen, um dort – im Ziel stimmen wir ab-
solut überein – eine unabhängige und qualitativ hochwer-
tige Prüfung hinzubekommen?
Ich stelle erfreut fest, dass das Petitum der Experten
und meiner Fraktion um eine stärkere Berücksichtigung
mittelständischer Wirtschaftsprüfer in den Änderungsan-
trägen Niederschlag gefunden hat . Ich freue mich, dass
eine Reihe von Änderungen berücksichtigt wurde; Herr
Heider hat sie im Wesentlichen genannt .
An einem Punkt allerdings, Herr Heider – deswegen
enthält sich meine Fraktion –, ist das anders . Wir haben
auch strukturelle Veränderungen vorgeschlagen . Es ist
sehr gut, dass in der Wirtschaftsprüferkammer zwischen
dem Präsidenten als jemandem, der aus der Industrie
kommt und die operative Seite vertritt, und der Aufsicht
getrennt wird . Das heißt, wenn jemand in den Vorstand
wechselt, ist der Beirat gemäß der Nachrückerregelung
nach wie vor unabhängig . Aber wir haben nicht verstan-
den, warum Sie dem Präsidenten einen eigenständigen
Organstatus, der hinsichtlich der Verantwortung nicht
klar definiert ist, gegeben haben; denn diese Unklarheit
führt nach unserer Auffassung zu dem, was wir in den
letzten Jahren leider zu beklagen hatten, nämlich zu ei-
nem erheblichen Streit innerhalb der Wirtschaftsprüfer-
kammer und der Wirtschaftsprüfergemeinschaft – und
zwar ganz ohne staatlichen Einfluss. Dieser wurde zum
Teil durch eine gewisse Intransparenz in der Vergütung
bzw . der Aufwandsentschädigung befördert .
Wir hoffen, dass die neue Struktur in der Lage ist, die
Schwierigkeiten zu überwinden, die wir in der Vergan-
genheit hatten . Aber wir glauben, dass die Organstellung
des Präsidenten dort nicht der richtige Schritt ist . Insofern
enthalten wir uns der Stimme, auch wenn wir, wie gesagt,
den Änderungen im Ausschuss zugestimmt haben .
Ich möchte noch eine Bemerkung zu der Anbindung
an die BAFA machen . Sie haben darauf hingewiesen,
dass das strittig war . Es hätte auch andere Lösungen ge-
geben . Ich denke, das, was wir aus der Anhörung, die wir
hatten, und den Expertengesprächen lernen müssen, ist,
dass wir mehr Transparenz brauchen . Wir werden nach
wie vor die Situation haben, dass Gehaltsstrukturen an-
dere als die in der BAFA sind . Insofern wäre Transparenz
wichtig . Ich erinnere mich, dass ich einmal in die Ge-
heimschutzstelle musste, um eine simple Zahl zu erfah-
ren, nämlich wie hoch die Aufwandsentschädigung ist .
Wir können nur mit Transparenz Vertrauen schaffen .
Ich werbe sehr dafür, dass wir den Mut aufbringen,
auch Aufwandsentschädigungen und Gehälter nach au-
ßen hin zu verteidigen . Ich glaube, es ist besser, dass man
sich nicht versteckt, sondern offen ist .
Wir werden uns mit dem Abschlussprüfungsreform-
gesetz noch auseinanderzusetzen haben . Wir vonseiten
der Opposition werden das sehr aufmerksam verfolgen
müssen; denn nicht immer war die Mittelstandsfreund-
lichkeit, die Sie eben so betont haben und die auch uns
ein Anliegen ist, gegeben . Damit entsteht übrigens ein
guter Wettbewerb . Diesem Ziel werden wir unser Augen-
merk widmen . Ich hoffe, dass wir dann gute Beratungen
haben und ein gutes Ergebnis bei dem noch kommenden
Abschlussprüfungsreformgesetz erzielen werden .
Dr. Matthias Heider
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 2015 14075
(C)
(D)
Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als letzter Redner in dieser Runde hat
Matthias Ilgen von der SPD das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verbliebene Zuschauer, wo auch immer Sie sind!
Diese Woche titelte eine große deutsche Tageszeitung:
„Was macht Matthias Machnig?“ Ich möchte denjeni-
gen, die wie ich manchmal nur die Überschriften sol-
cher Zeitungen überfliegen, auf die Sprünge helfen. Er
ist Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, und
er kümmerte sich zumindest die letzten Wochen sehr in-
tensiv um das Abschlussprüferaufsichtsreformgesetz, ein
wirklicher Zungenbrecher .
Das BMWi hat, wie ich finde, einen sehr ordentlichen
Entwurf vorgelegt . Wir haben diesen im parlamentari-
schen Verfahren sehr genau unter die Lupe genommen
und versucht, noch einige Punkte zu verbessern . Wie
mein Kollege Heider von der Union es in seiner ersten
Rede dazu, die zu Protokoll ging, im Oktober richtig be-
merkt hat – der Dank für die gute Zusammenarbeit geht
meinerseits gern zurück –: Kein Gesetz verlässt den Bun-
destag am Ende so, wie es hineingekommen ist . – Das ist
auch hier so .
Ein Thema der letzten Wochen war vor allem die
Auflösung der APAK durch das APAReG und die damit
verbundene Übertragung ihrer Aufgaben an die neu zu
schaffende Abschlussprüferaufsichtsstelle, kurz APAS .
Es geht dabei um die Eingliederung bzw . die Frage, wie
man das macht und ob man diese vielleicht nicht in eine
Behörde eingliedert . Diese Problematik hat für reichlich
Diskussionen gesorgt .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie der Philosoph
Hegel schon vor vielen Jahren festgestellt hat: Es gibt
viele Wege, die zu einem Ziel führen, wichtig ist dabei
allerdings, die goldene Mitte zu finden. – Durch die
Eingliederung der APAS als eigenständige Stelle in das
BAFA können bestehende Verwaltungsstrukturen im
Sinne der Wirtschaftlichkeit genutzt werden . Gleich-
zeitig werden durch die Eigenständigkeit der Stelle die
EU-Anforderungen an die Qualifikation und Letztverant-
wortung der Leitung erfüllt sowie die Sichtbarkeit, auch
der Erhalt der Marke APAK oder neu APAS als national
und international hochanerkannte, berufsstandsunabhän-
gige Aufsicht gesichert . Ich denke, hiermit haben wir die
goldene Mitte gefunden . Wir sollten das Thema in Zu-
kunft auf sich beruhen lassen und hoffen, dass das vom
Berufsstand in der Breite getragen und akzeptiert wird .
Eine Problematik bei solchen Operationen ist immer
die Überleitung des vorhandenen Personals . Mir und
meiner Fraktion war es ein Anliegen, die Kontinuität der
bisherigen Aufsicht zu ermöglichen . Diese Beständigkeit
wird insbesondere durch eine weitestmögliche gesetz-
liche Übernahme des vorhandenen hochqualifizierten
Personals gewährleistet . Für die Wirtschaftsprüfer ist uns
das im Gesetzentwurf gut gelungen . Es geht uns noch um
den Artikel 2 § 6 . Er regelt den Übergang der Beschäf-
tigten, die bisher nicht als Wirtschaftsprüfer in der Wirt-
schaftsprüferkammer arbeiteten und zum Bundesamt für
Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle übergeleitet werden sol-
len . Nach meinen Informationen handelt es sich um einen
Kreis von zwölf Personen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, wir sind
uns alle einig, dass es nicht sein kann, dass das, was für
die sehr gut bezahlten Wirtschaftsprüfer gilt – dass sie
sozusagen möglichst ohne Verluste in ihre neuen Jobs
übergeleitet werden –, nicht auch als Verfahren und
Maßstab für Sekretärinnen, Sachbearbeiter und Referen-
ten gelten kann . Auch bei diesen Berufsgruppen müssen
wir für eine vernünftige Eingliederung sorgen . Der Ge-
setzentwurf bietet dem Ministerium dafür einen Verord-
nungsspielraum . Deswegen möchten wir herzlich darum
bitten – ich erinnere an die Einführung des TVöD; es gab
damals große Debatten um die Vergleichbarkeit von Ge-
haltsstrukturen in Ländern und Kommunen –, dass eine
Überleitung weitestgehend so durchgeführt wird, dass
die Betroffenen keine Verluste erleiden . Das lässt Arti-
kel 2 § 6 Absatz 4 des APAReG eindeutig zu . Wir würden
uns freuen, wenn das Ministerium von diesem Spielraum
Gebrauch machte .
In diesem Sinne: Vielen Dank .
Vielen Dank . – Damit schließe ich die Debatte .
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Abschlussprü-
feraufsichtsreformgesetzes . Der Ausschuss für Wirtschaft
und Energie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 18/6907, den Gesetzentwurf der Bundes-
regierung auf Drucksache 18/6282 in der Ausschussfas-
sung anzunehmen . Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen . – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der
Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalition gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung
von Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden .
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der
Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der Linken bei Enthaltung von Bündnis 90/Die
Grünen angenommen worden .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe jetzt den Ta-
gesordnungspunkt 21 auf:
Dr. Thomas Gambke
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 143 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 3 . Dezember 201514076
(C)
(D)
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes
zur Änderung des Telemediengesetzes
Drucksache 18/6745
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss Digitale Agenda
Die Reden sind zu Protokoll gegeben . – Ich sehe, Sie
sind damit einverstanden .1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/6745 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall . Dann
ist die Überweisung so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
zung der Richtlinie 2014/91/EU des Europäi-
schen Parlaments und des Rates vom 23. Juli
2014 zur Änderung der Richtlinie 2009/65/EG
zur Koordinierung der Rechts- und Verwal-
tungsvorschriften betreffend bestimmte Or-
ganismen für gemeinsame Anlagen in Wertpa-
pieren im Hinblick auf die Aufgaben
der Verwahrstelle, die Vergütungspolitik und
Sanktionen
Drucksache 18/6744
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
1) Anlage 6
Die Reden sollen hier ebenfalls zu Protokoll gegeben
werden . – Ich sehe, auch damit sind Sie einverstanden .2)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/6744 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall .
Dann ist die Überweisung so beschlossen .
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Einkommensteuergesetzes zur Erhöhung des
Lohnsteuereinbehalts in der Seeschifffahrt
Drucksache 18/6679
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Auch hier sollen die Reden zu Protokoll gegeben
werden . – Ich sehe, Sie sind auch damit einverstanden .3)
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/6679 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall . Dann
ist die Überweisung so beschlossen .
Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind wir am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Freitag, den 4 . Dezember 2015, 9 Uhr,
ein .
Die Sitzung ist geschlossen . Ich wünsche Ihnen einen
schönen Abend .