Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz . Die Sitzung ist eröffnet .Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbegrüße Sie herzlich zu unserer 124 . Plenarsitzung .Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ichdem Kollegen Wilfried Lorenz nachträglich zu sei-nem 73 . Geburtstag gratulieren und den KolleginnenGabriele Groneberg und Heike Baehrens, die jeweilsihren 60 . Geburtstag gefeiert haben . Allen herzlicheGlückwünsche des Hauses und alles Gute für das neueLebensjahr!
Wir müssen noch zwei Wahlen durchführen . DieFraktion der CDU/CSU schlägt vor, als Vertreter derBundesrepublik Deutschland zur ParlamentarischenVersammlung des Europarates die Kollegin KerstinRadomski für den verstorbenen Kollegen PhilippMißfelder als ordentliches Mitglied zu berufen . Ich darfSie fragen, ob Sie dem zustimmen . – Das ist offensicht-lich der Fall . Des Weiteren schlägt die CDU/CSU-Frak-tion vor, den Kollegen Ansgar Heveling aus gleichemGrund als stellvertretendes Mitglied des Verwaltungs-rates der Filmförderungsanstalt zu wählen . – Ich darfauch hier Ihr Einverständnis feststellen . Dann sind dieKollegin Radomski und der Kollege Heveling für die ge-rade genannten Gremien gewählt .Interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesord-nung um die in der Zusatzpunkteliste aufgeführten Punk-te zu erweitern:ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIELINKE gemäß Anlage 5 Nummer 1 Buchstabe bGO-BTzu den Antworten der Bundesregierung aufdie Frage 15 auf Drucksache 18/6019
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionender CDU/CSU und SPD:Neue Dynamik zur politischen Lösung der Sy-rien-Krise nutzenZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten BrittaHaßelmann, Christian Kühn , LuiseAmtsberg, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDauerhafte und strukturelle Entlastungen fürKommunen in NotDrucksache 18/6069Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss
Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzungZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahren
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten MariaKlein-Schmeink, Dr . Konstantin von Notz,Elisabeth Scharfenberg, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENSicher vernetzt, gut versorgt – Digitalisierungim Gesundheitswesen im Dienste der Patien-ten gestaltenDrucksache 18/6068Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit
Innenausschuss Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ausschuss Digitale Agendab) Beratung des Antrags der Abgeordneten StephanKühn , Oliver Krischer, MatthiasGastel, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENZum Schutz der Verbraucher – Unzutreffen-de Angaben beim Spritverbrauch und Schad-stoffausstoß von PKW beendenDrucksache 18/6070Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
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Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und ReaktorsicherheitZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Haltung der Bundesregierung zu unzutref-fenden Angaben beim Spritverbrauch undSchadstoffausstoß von PKWDabei soll wie üblich von der Frist für den Beginn derBeratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden .Der Tagesordnungspunkt 23 a wird abgesetzt . Hiergeht es um den Gesetzentwurf zur Versorgung vonFlüchtlingen mit Leistungen der gesetzlichen Kranken-versicherung .Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –Das ist der Fall . Dann können wir so verfahren .Ich rufe unsere Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 s auf:a) Abgabe einer Regierungserklärung durch dieBundeskanzlerinzu den Ergebnissen des Informellen Treffensder Staats- und Regierungschefs der Europä-ischen Union am 23. September 2015 in Brüs-sel und zum VN-Gipfel für Nachhaltige Ent-wicklung vom 25. bis 27. September 2015 inNew Yorkb) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr . Wolfgang Strengmann-Kuhn, Dr . ValerieWilms, Claudia Roth , weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENUN-Nachhaltigkeitsziel 1 in Deutschlandschon jetzt umsetzen – Armut in jeder Formund überall beendenDrucksache 18/6045Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionc) Beratung des Antrags der Abgeordneten FriedrichOstendorff, Dr . Valerie Wilms, Nicole Maisch,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENUN-Nachhaltigkeitsziel 2 in Deutschlandschon jetzt umsetzen – Den Hunger beenden,Ernährungssouveränität und eine bessereErnährung erreichen und eine nachhaltigeLandwirtschaft fördernDrucksache 18/6046Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und ReaktorsicherheitAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lungd) Beratung des Antrags der Abgeordneten MariaKlein-Schmeink, Kordula Schulz-Asche,Elisabeth Scharfenberg, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENUN-Nachhaltigkeitsziel 3 in Deutschlandschon jetzt umsetzen – Gesundes Leben füralle ermöglichen und fördernDrucksache 18/6047Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lunge) Beratung des Antrags der Abgeordneten ÖzcanMutlu, Beate Walter-Rosenheimer, Kai Gehring,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENUN-Nachhaltigkeitsziel 4 in Deutschlandschon jetzt umsetzen – Inklusive, gerechteund hochwertige Bildung gewährleisten undMöglichkeiten des lebenslangen Lernens füralle fördernDrucksache 18/6048Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lungf) Beratung des Antrags der Abgeordneten UlleSchauws, Katja Dörner, Dr . Franziska Brantner,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENUN-Nachhaltigkeitsziel 5 in Deutschlandschon jetzt umsetzen – Geschlechtergerech-tigkeit und Selbstbestimmung für alle Frauenund Mädchen erreichenDrucksache 18/6049Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lungg) Beratung des Antrags der Abgeordneten PeterMeiwald, Dr . Valerie Wilms, Britta Haßelmann,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENUN-Nachhaltigkeitsziel 6 in Deutschlandschon jetzt umsetzen – Verfügbarkeit undnachhaltige Bewirtschaftung von Wasser undSanitärversorgung für alle gewährleistenDrucksache 18/6050Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-heit
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lungh) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr . JuliaVerlinden, Dr . Valerie Wilms, Oliver Krischer,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENUN-Nachhaltigkeitsziel 7 in Deutschlandschon jetzt umsetzen – Zugang zu bezahlba-rer, verlässlicher, nachhaltiger und zeitgemä-ßer Energie für alle sichernDrucksache 18/6051Präsident Dr. Norbert Lammert
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Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und ReaktorsicherheitAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lungi) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENUN-Nachhaltigkeitsziel 8 in Deutschlandschon jetzt umsetzen – Dauerhaftes, inklusi-ves und nachhaltiges Wirtschaftswachstum,produktive Vollbeschäftigung und menschen-würdige Arbeit für alle fördernDrucksache 18/6052Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie
FinanzausschussAusschuss für Arbeit und Sozialesj) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr . Valerie Wilms, Kerstin Andreae, ClaudiaRoth , weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENUN-Nachhaltigkeitsziel 9 in Deutschlandschon jetzt umsetzen – Eine belastbare Infra-struktur aufbauen, inklusive und nachhaltigeIndustrialisierung fördern und InnovationenunterstützenDrucksache 18/6053Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-heitk) Beratung des Antrags der Abgeordneten KerstinAndreae, Dr . Frithjof Schmidt, Dr . Valerie Wilms,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENUN-Nachhaltigkeitsziel 10 in Deutschlandschon jetzt umsetzen – Ungleichheit innerhalbund zwischen Staaten verringernDrucksache 18/6054Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie
FinanzausschussAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionl) Beratung des Antrags der AbgeordnetenChristian Kühn , Dr . Valerie Wilms,Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENUN-Nachhaltigkeitsziel 11 in Deutschlandschon jetzt umsetzen – Städte und Siedlungs-flächen inklusiv, sicher, stabil und nachhaltigzu machenDrucksache 18/6055Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-heit
Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energiem) Beratung des Antrags der Abgeordneten NicoleMaisch, Dr . Valerie Wilms, Luise Amtsberg,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENUN-Nachhaltigkeitsziel 12 in Deutschlandschon jetzt umsetzen – Für nachhaltige Kon-sum- und Produktionsmuster sorgenDrucksache 18/6056Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-heit
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lungn) Beratung des Antrags der AbgeordnetenAnnalena Baerbock, Dr . Valerie Wilms, BärbelHöhn, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENUN-Nachhaltigkeitsziel 13 in Deutschlandschon jetzt umsetzen – Umgehend Maßnah-men zur Bekämpfung des Klimawandels undseiner Auswirkungen ergreifenDrucksache 18/6057Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-heit
Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lungHaushaltsausschusso) Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffi Lemke, Dr . Valerie Wilms, Peter Meiwald, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENUN-Nachhaltigkeitsziel 14 in Deutschlandschon jetzt umsetzen – Ozeane, Meere undMeeresressourcen im Sinne einer nachhaltigenEntwicklung erhalten und nachhaltig nutzenDrucksache 18/6058Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-heit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lungp) Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffi Lemke, Dr . Valerie Wilms, Harald Ebner, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENUN-Nachhaltigkeitsziel 15 in Deutschlandschon jetzt umsetzen – Nachhaltige Nutzungterrestrischer Ökosysteme schützen, wieder-herstellen und fördern, Wälder nachhaltig be-wirtschaften, die Wüstenbildung bekämpfen,die Bodendegradation aufhalten und umkeh-ren sowie den Verlust der biologischen VielfaltstoppenDrucksache 18/6059Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-heit
Ausschuss für Ernährung und LandwirtschaftPräsident Dr. Norbert Lammert
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q) Beratung des Antrags der Abgeordneten KatjaKeul, Volker Beck , Dr . Valerie Wilms,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENUN-Nachhaltigkeitsziel 16 in Deutschlandschon jetzt umsetzen – Friedliche und inklusi-ve Gesellschaften im Sinne einer nachhaltigenEntwicklung fördern, allen Menschen Zugangzur Justiz ermöglichen und effektive, rechen-schaftspflichtige und inklusive Institutionenauf allen Ebenen aufbauenDrucksache 18/6060Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Auswärtiger Ausschuss InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und Energie VerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussr) Beratung des Antrags der Abgeordneten UweKekeritz, Anja Hajduk, Dr . Valerie Wilms, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENUN-Nachhaltigkeitsziel 17 in Deutschlandschon jetzt umsetzen – Globale Partnerschaftfür nachhaltige Entwicklung jetzt wiederbele-benDrucksache 18/6061Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lung
Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-heitAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzungHaushaltsausschusss) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Menschenrechte undhumanitäre Hilfe zu dem Antragder Abgeordneten Tom Koenigs, Claudia Roth
, Uwe Kekeritz, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENMenschenrechte in der neuen Nachhaltig-keits- und Entwicklungsagenda der VereintenNationen stärkenDrucksachen 18/5208, 18/5451Zu der Regierungserklärung liegt ein Entschließungs-antrag der Fraktion Die Linke vor .Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-rung 96 Minuten vorgesehen . – Auch das ist offensicht-lich einvernehmlich .Dann erteile ich das Wort zur Abgabe einer Re-gierungserklärung der Frau Bundeskanzlerin AngelaMerkel .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Noch nie seit demZweiten Weltkrieg waren so viele Menschen auf derFlucht wie heute . Das Flüchtlingshilfswerk der VereintenNationen nennt eine Zahl von knapp 60 Millionen welt-weit . Es braucht nur diese eine Zahl, um zu verstehen,dass wir es nicht allein mit einer deutschen Herausfor-derung, auch nicht allein mit einer europäischen Heraus-forderung, sondern mit einer globalen Herausforderungzu tun haben, zu deren Bewältigung jede Region, jedesLand, jede politische Ebene, jede Institution ihren Teilbeizutragen hat . Dies umfasst alles . Und alles hat Handin Hand zu gehen: die Bekämpfung der Fluchtursachen,der Schutz der Außengrenzen, menschenwürdige Le-bensbedingungen in Flüchtlingslagern und sogenanntenHotspots, deutlich schnellere Asylverfahren, die Rück-führung derjenigen, die keine Bleibeperspektive haben,die Integration der tatsächlich Schutzbedürftigen . Je kla-rer diese Herausforderung national, europäisch und glo-bal gemeinsam angenommen wird, umso schneller wirdsie erfolgreich gemeistert werden .
Genau in diesem Sinne versteht die Bundesregierunggemeinsam mit Bund, Ländern und Kommunen und derganzen Gesellschaft diese Aufgabe als nationale, als eu-ropäische und als globale Kraftanstrengung .Am Dienstag letzter Woche haben wir mit den Minis-terpräsidenten der Länder in vielen nationalen Einzel-fragen Verbesserungen vereinbart . Heute werden wir, sohoffe ich jedenfalls, weitere notwendige Beschlüsse fas-sen, insbesondere auch zur Frage der finanziellen Unter-stützung von Ländern und Kommunen durch den Bund .Ich will die Gelegenheit nutzen, neben den unverän-dert vielen ehrenamtlichen Helfern ganz ausdrücklichauch den vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern deröffentlichen Verwaltung, der Polizeikräfte, der Bundes-wehr, des Technischen Hilfswerks und im Übrigen auchder Deutschen Bahn AG zu danken, die immer wiederalles geben, um auch in schwieriger Lage möglichst rei-bungslose Abläufe sicherzustellen .
Dies gilt auch für die alles andere als einfache Durchfüh-rung der temporären Grenzkontrollen, die wir im Augen-blick durchführen .Es geht also um die Bewältigung der akuten, ganzpraktischen Aufgaben, aber mindestens so sehr geht esum die Bewältigung der längerfristigen Aufgaben, alsovorneweg um die Integration der Menschen, die dauer-haft bei uns bleiben werden . Dazu gehört, dass wir vonPräsident Dr. Norbert Lammert
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ihnen erwarten, die Regeln und Werte zu respektieren,die unsere Verfassung vorgibt, und sich auf dieser Grund-lage in unsere Gesellschaft zu integrieren, vorneweg mitder Bereitschaft, die deutsche Sprache zu erlernen und zubeherrschen .
Um denjenigen, die vor Krieg und Verfolgung nachEuropa geflohen sind, tatsächlich angemessen helfen zu können, ist es außerdem unerlässlich, die Asylverfahrendeutlich zu beschleunigen . So nachvollziehbar die jewei-ligen Motive für ein Verlassen der Heimat auch sein mö-gen, wir müssen gerade in den Fällen, in denen die Men-schen nicht aufgrund von Krieg oder Verfolgung zu unskommen, deutlich schneller entscheiden und die notwen-digen Rückführungen auch konsequenter durchsetzen .
Meine Damen und Herren, neben der nationalen Ebe-ne muss die europäische Ebene ihren Teil leisten . Men-schenwürde, Rechtsstaatlichkeit, Toleranz und Solidari-tät verbinden uns in Europa nicht nur kulturell . Sie sindGründungsidee, sie sind fester Bestandteil der Verträgeund Grundlage des gemeinsamen Handelns der Europäi-schen Union . Unser Umgang mit der aktuellen Krise wirdunseren Kontinent auf lange Sicht prägen . Ich möchte,dass Europa diese gesellschaftliche, ökonomische, kultu-relle und moralische Bewährungsprobe besteht .
Die Europäische Union ist eine Wertegemeinschaftund als solche eine Rechts- und Verantwortungsge-meinschaft . Sie muss in der Praxis zeigen, dass dieserAnspruch auch trägt . Dazu gehört, dass die Mindest-standards eingehalten werden müssen, die wir in Europafür die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingenund für die Durchführung von Asylverfahren festgelegthaben . Wir erleben gegenwärtig eine Situation, in derdiese Mindeststandards nicht überall gegeben sind . ZurRechts- und Verantwortungsgemeinschaft gehört auch,die Lage an den EU-Außengrenzen besser zu kontrol-lieren und zu organisieren . Ebenso gehört dazu eine ef-fektive Rückführung derjenigen, die keinen Anspruchauf Schutz in der Europäischen Union haben . Und dazugehört die Einbindung und Unterstützung wichtiger Her-kunfts- und Transitstaaten bei der Unterbringung undVersorgung von Flüchtlingen, bei der Eindämmung derSchleuserkriminalität sowie – das wird uns noch sehrfordern – bei der Bekämpfung der Fluchtursachen . Daskann nur gemeinsam mit unseren transatlantischen Part-nern wie den Vereinigten Staaten von Amerika sowie mitRussland und mit den Staaten der Region des Nahen undMittleren Ostens gelingen . Denken wir nur an die deso-late Lage in Syrien .Die Europäische Kommission hat vor zwei Wochenein umfassendes Maßnahmenpaket vorgeschlagen, dasaus unserer Sicht die richtigen Ansätze enthält . Auf die-ser Grundlage müssen wir jetzt schnell zu konkreten Er-gebnissen kommen .In einigen Bereichen hat Europa bereits konkreteFortschritte erzielen können . Wir haben uns im Grund-satz auf eine gemeinsame europäische Liste sichererHerkunftsstaaten verständigt . Zudem haben die Innen-und Justizminister vorgestern eine Umverteilung von120 000 Flüchtlingen aus besonders betroffenen Mit-gliedstaaten beschlossen . Das Europäische Parlamenthatte zu diesem Vorhaben bereits im Vorfeld des Minis-terrats in einer Dringlichkeitssitzung seine notwendigeStellungnahme abgegeben . Das Europäische Parlamenthat damit ebenfalls ein hohes Maß an Verantwortungsbe-wusstsein bewiesen, und ich möchte dafür danken .Eine solche Umverteilung kann jedoch nur funktionie-ren, wenn wir an den EU-Außengrenzen zu einer kon-sequenten Registrierung und Überprüfung der Schutz-bedürftigkeit der einreisenden Flüchtlinge kommen . Dassollen die sogenannten Hotspots sicherstellen, die Grie-chenland und Italien jetzt rasch einrichten müssen, gege-benenfalls auch Bulgarien .Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Europa nichtnur punktuelle Umverteilungen, sondern vielmehr eindauerhaftes Verfahren für eine faire Verteilung vonFlüchtlingen auf die Mitgliedstaaten braucht . Die Bun-desregierung unterstützt die Vorschläge, die die Europä-ische Kommission hierzu vorgelegt hat . Das heißt, wirhaben jetzt einen ersten Schritt gesehen, aber wir sindnoch lange nicht am Ende, also dort, wo wir hinkommenmüssen .
Aber auch dieser erste Schritt hat viel Arbeit erfordert .Deshalb möchte ich unserem Innenminister Thomas deMaizière ganz herzlich danken für die Arbeit, die da ge-leistet wurde .
Nach dem Treffen der Innenminister vorgestern fandgestern Abend ein informelles Treffen der Staats- undRegierungschefs der Europäischen Union statt . Bei die-sem Treffen haben alle Teilnehmer in Brüssel – ich beto-ne: alle Teilnehmer –
die gesamteuropäische Dimension der Flüchtlingskriseanerkannt . Alle haben den Willen bekräftigt, gemeinsamund engagiert an tragfähigen Lösungen zu arbeiten . Die-ses Signal der Einigkeit müssen wir jetzt nutzen, um inden vielen Einzelfragen weiter voranzukommen .Außerordentlich große Folgen hat die Lage in Syrienja auch für die Nachbarstaaten: Jordanien, Libanon oderdie Türkei, wo sich Millionen syrische Flüchtlinge auf-halten, haben mit noch weit größeren Herausforderungenzu kämpfen, als wir uns das in Europa vorstellen kön-nen – mit Herausforderungen, die ihre eigenen Kräfte beiweitem oder zumindest fast übersteigen . Der EU-Rat-spräsident Donald Tusk hat deshalb gestern von seinenBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
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Reisen berichtet, die er in den vergangenen Tagen in dieRegion unternommen hat . Wir waren uns alle einig, dassdiese Staaten unsere Unterstützung brauchen – nicht nuraus Gründen der Humanität, sondern auch, weil dies di-rekt mit der Frage zusammenhängt, wie viele Menschensich von dort aus auf den Weg nach Europa machen . In-sofern war es richtig und wichtig, dass wir gestern be-schlossen haben, 1 Milliarde Euro für UN-Institutionen,insbesondere für das Welternährungsprogramm, zur Ver-fügung zu stellen, teils aus Mitteln der Kommission, teilsaus Mitteln der Mitgliedstaaten . Deutschland wird sichdaran natürlich beteiligen .Besonders ausführlich haben wir beim EuropäischenRat darüber gesprochen, wie wir unsere Unterstützungfür die Türkei stärken können, mit der die EuropäischeUnion eine gemeinsame Außengrenze teilt . Jean-ClaudeJuncker und Donald Tusk werden sich am 5 . Oktober mitdem türkischen Präsidenten Erdogan treffen . Wir habendie beiden und alle europäischen Institutionen dazu er-muntert, intensive Gespräche mit der Türkei zu führen .Wir werden nur gemeinsam mit der Türkei unsere Au-ßengrenzen sichern können, meine Damen und Herren .Wir haben beim Europäischen Rat natürlich auch darü-ber gesprochen, dass zu der Sicherung der Außengrenzender Aufbau von sogenannten Hotspots gehört . Sie sollenhelfen, die Lage dort besser zu organisieren und zu kont-rollieren . Ich freue mich, dass wir uns darauf geeinigt ha-ben und dass sowohl Italien als auch Griechenland bereitsind, bis Ende November solche Hotspots aufzubauen,mit dem Ziel, dort Registrierungen vorzunehmen, Fin-gerabdrücke abzunehmen, Identifikationen vorzunehmen und die Fähigkeit zu entwickeln, sowohl Verteilungen alsauch Rückführungen von dort aus durchzuführen . Werdie entsprechenden Prozesse bei uns im Inland kennt,hat eine Ahnung davon, dass das eine sehr ambitioniertePlanung ist . Trotzdem habe ich mich gefreut, dass es vonbeiden Ländern, Italien und Griechenland, die Bereit-schaft gab, diese Arbeiten jetzt zu beschleunigen .
Wir sind an den Außengrenzen – ich hatte es am Bei-spiel der Türkei schon gesagt – auch ganz entscheidendauf die Zusammenarbeit mit unseren unmittelbarenNachbarstaaten angewiesen . Lassen Sie mich in diesemZusammenhang deshalb ausdrücklich auf die konstrukti-ve Rolle Serbiens hinweisen und auf die enormen Belas-tungen, die die bisherige Situation für Mazedonien mitsich gebracht hat . Auch das sollten wir vor Augen haben .Meine Damen und Herren, wir waren uns beim gest-rigen Europäischen Rat alle einig, dass die Bekämp-fung von Fluchtursachen eine ebenso europäische wieglobale Aufgabe ist . Die globalen Ursachen von Fluchtund Vertreibung sind sehr unterschiedlich; sie umfassenGründe wie Kriege, Konflikte und politische Verfolgung, wie wir es etwa in Syrien und in Eritrea erleben . Hinzukommen Flüchtlinge aufgrund von Naturkatastrophenwie Überschwemmungen oder Dürre . Es gibt auch vie-le Menschen, die wegen Armut und Perspektivlosigkeitflüchten; denn noch immer leben 1,3 Milliarden Men-schen weltweit in extremer Armut, noch immer leiden800 Millionen Menschen weltweit Hunger, noch immersind Frauen besonders von Armut betroffen,
noch immer haben Frauen einen viel schlechteren Zu-gang zu Bildung, Ausbildung und zum Arbeitsmarkt alsMänner, noch immer sterben zu viele Frauen bei der Ge-burt eines Kindes, obwohl sie gerettet werden könnten,und noch immer haben zu viele Menschen keinen Zu-gang zu menschenwürdigen Sanitäreinrichtungen . Umzentrale, globale Zukunftsaufgaben wie diese geht es inder Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, die wir andiesem Wochenende in New York verabschieden werden .Im Oktober jährt sich der 70 . Jahrestag der Gründungder Vereinten Nationen . Noch nie in ihrer Geschichtestand die Menschheit vor so großen gemeinsamen Auf-gaben . Armut in ihrer schlimmsten Form kann und mussendlich weltweit überwunden werden, um allen Men-schen ein Leben in Würde zu ermöglichen .
Gleichzeitig sind die Belastungsgrenzen unseres Pla-neten zum Teil bereits weit überschritten . Das erforderteinen dringenden Wandel hin zu einer nachhaltigen Ge-staltung unserer Welt . Die 2030-Agenda setzt bei diesenMissständen an und entwirft umfassende, nachhaltigeLösungen; denn langfristige Erfolge werden wir nur ha-ben, wenn wir globale Herausforderungen wie Ernäh-rungssicherung, Gesundheit, Bildung, Menschenrechteoder die Gleichberechtigung der Geschlechter als Ganzesannehmen und angehen,
wenn wir die wirtschaftlichen, sozialen und ökologi-schen Aspekte gleichermaßen ins Auge fassen .Meine Damen und Herren, die sich seit Jahren zuneh-mend zuspitzende Flüchtlingskrise zeigt wie kein anderesThema, wie notwendig der in der 2030-Agenda für nach-haltige Entwicklung gewählte Ansatz ist . Diese Agendakann somit auch als ein globaler Plan zur Verringerungvon Fluchtursachen begriffen werden . Und alle sind Teildieser Agenda, nicht mehr nur die Entwicklungsländer;alle müssen ihren Beitrag zur nachhaltigen Entwicklungleisten .
Das wird auch bei vielen Treffen und Gesprächen amRande des Gipfels eine wichtige Rolle einnehmen .Ich will meine Begegnungen mit Kollegen aus denafrikanischen Staaten für die Vorbereitung der EU-Afri-ka-Konferenz in Valletta im November nutzen . Ich be-grüße es, dass auch der Generalsekretär der VereintenNationen zu einem hochrangigen Treffen einlädt, um eineverbesserte Zusammenarbeit in Flüchtlings- und Migrati-onsfragen zu erreichen . Die Bundesregierung wird durchden Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier ver-Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
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treten sein . Ihm möchte ich dafür danken, dass er sichmit den Außenministern der G 7 sowie weiterer Staaten,aber beispielsweise auch im Rahmen seiner Reise in dieTürkei in der letzten Woche für eine verbesserte Unter-stützung der Länder einsetzt, die unmittelbar an Krisen-und Konfliktherde angrenzen und einen großen Teil der Flüchtlinge aufnehmen . Herzlichen Dank!
Meine Damen und Herren, einige der neuen Zielewerden nicht kurzfristig und nicht einfach zu erreichensein . Wenn wir jedoch auf die im Jahr 2000 verabschie-deten Millenniumsentwicklungsziele zurückschauen,dann stellen wir fest, dass diese Millenniumsziele dererfolgreichste globale Plan gegen Armut waren . Beein-druckende Fortschritte wurden dabei erzielt, die Zahl derin extremer Armut lebenden Menschen zu halbieren undden Anteil der Bevölkerung mit Zugang zu Trinkwasserzu erhöhen . Schon 2000 hatten viele nicht gedacht, dassman ein solches Ziel erreichen kann . Trotzdem ist es ge-lungen . Es gab Fortschritte im Gesundheitsbereich, etwaim Kampf gegen Malaria und Tuberkulose . Ebenso zeig-ten sich sichtbare Verbesserungen bei der Grundschulbil-dung, wenngleich längst nicht alle Ziele erreicht wurden .Was wir in den kommenden Jahren erreichen wollen,wird im Herzstück der 2030-Agenda festgelegt: 17 kon-krete Ziele mit 169 Unterzielen, also die sogenanntenSustainable Development Goals, die die Weltgemein-schaft bis zum Jahr 2030 umsetzen will . Zentraler Be-standteil der neuen Agenda sind dabei unter anderemder Schutz des Klimas und die nachhaltige Nutzung dernatürlichen Lebensgrundlagen . Diese spielen für die heu-tigen, vor allem aber für die kommenden Generationenin Entwicklungs- wie in Industrieländern eine übergeord-nete Rolle .Auf internationaler Ebene wollen wir im Dezemberin Paris ein umfassendes und verbindliches Klimaab-kommen erreichen . Die Europäische Union hat dazuihre Position festgelegt . Das ist sehr erfreulich . Vom Pa-ris-Gipfel muss, anknüpfend an die G-7-Beschlüsse vonElmau, das klare Signal einer zukünftigen Dekarbonisie-rung unserer Wirtschaft zur Einhaltung des 2-Grad-Zielsausgehen. Dafür müssen sich alle Staaten verpflichten, entsprechende nationale und internationale Maßnahmenumzusetzen .Für uns Industrieländer bedeutet dies darüber hinaus,dass wir unsere bereits 2009 in Kopenhagen gegebeneZusage, nämlich jährlich 100 Milliarden US-Dollar anöffentlichen und privaten Mitteln ab 2020 für die Klima-schutzfinanzierung in Entwicklungsländern zu mobili-sieren, glaubwürdig erfüllen müssen . Deutschland wirdseine Mittel für die Klimaschutzfinanzierung bis 2020 gegenüber 2014 verdoppeln und geht damit mit gutemBeispiel voran .Auf nationaler Ebene wird Deutschland die Umset-zung der Ziele vorantreiben . Darüber hinaus setzen wiruns weiter für einen Wandel unserer Wirtschaft hin zueiner nachhaltigeren Wirtschaftsweise mit vermindertenklimaschädlichen Emissionen ein . Dazu haben wir unsdas Ziel gesetzt, die Emission von Treibhausgasen ge-genüber 1990 bis zum Jahr 2020 um 40 Prozent und biszum Jahr 2050 um mindestens 80 bis 95 Prozent zu sen-ken .Die Weltgemeinschaft hat sich mit der 2030-Agendafür die kommenden 15 Jahre also viel vorgenommen . DieBundesregierung verpflichtet sich zu einer ehrgeizigen Umsetzung dieser Agenda . Denn auch in Deutschlandsind wir an einigen Stellen noch zu weit von einem nach-haltigen Leben, Wirtschaften und Umgang mit unserennatürlichen Ressourcen entfernt .Gleichwohl ermöglicht unsere nationale Nachhaltig-keitsstrategie mit ihren konkreten Zielen und Indikatorenbereits seit 2002 ein politikübergreifendes Monitoringunserer Nachhaltigkeitsanstrengungen . Sie wird auch einwesentlicher Rahmen für die Umsetzung der 2030-Agen-da durch Deutschland sein . Bis Herbst 2016 werden wirsie unter Berücksichtigung der 2030-Agenda in allenwesentlichen Aspekten überprüfen und, wo nötig, auchweiterentwickeln . Über die Strategie wird dann festge-legt werden, mit welchen nationalen Zielen, Indikatorenund Maßnahmen wir zu welchem Ziel der SustainableDevelopment Goals beitragen wollen .Im Lichte einer globalen Partnerschaft baut die Bun-desregierung dabei auf weitere Partner, auf die organi-sierte Zivilgesellschaft mit ihren vielfältigen Aktivitäten,auf Wirtschaft und Wissenschaft, auf Länder und Kom-munen . Alle sind gefragt, eigene ehrgeizige Beiträge zudefinieren, die sie jeweils zur Verwirklichung der Agenda leisten können .Auf der Ebene der Europäischen Union wirbt dieBundesregierung in Brüssel mit Nachdruck für eine neueEU-Nachhaltigkeitsstrategie . Auf der Ebene der Verein-ten Nationen wird das sogenannte Hochrangige Poli-tische Forum zentraler Akteur bei der Überprüfung derUmsetzung der Agenda sein . Deutschland wird mit gu-tem Beispiel vorangehen und im Rahmen dieses Gremi-ums bereits im nächsten Jahr als einer der ersten Staatenweltweit seine Umsetzungsanstrengungen internationalvorstellen .Um alle Ziele zu erreichen, brauchen wir erstens effi-ziente Strukturen . Auch im 70 . Jahr ihres Bestehens sinddie Vereinten Nationen durch ihre einzigartige Legitimi-tät unersetzlich; aber auch sie müssen sich an die neuenHerausforderungen anpassen . Deutschland wird sich inden notwendigen Reformprozess aktiv einbringen .Um alle Ziele zu erreichen, brauchen wir zweitens dienotwendigen finanziellen Ressourcen. Deutschland steht zu seinen Verpflichtungen. Der Etat des Bundesentwick-lungsministers wächst in den nächsten Jahren verlässlich .Wir werden Milliarden mehr für Entwicklungshilfe aus-geben .
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
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Um aber sinnvoll Investitionen zu ermöglichen, müssenwir auch privates Engagement fördern . Nur mit öffentli-chen Mitteln werden wir das nicht schaffen .
In den nächsten Tagen werden wir all diese Fragenin den Vereinten Nationen diskutieren . Gemeinsam mitden ebenfalls nach New York reisenden Bundesministernwerde ich mich für die Lösung aktueller Fragen sowiefür die Bewältigung der langfristigen Herausforderungeneinsetzen . Dafür bietet uns die neue Agenda für nachhal-tige Entwicklung eine gute Grundlage .Meine Damen und Herren, um die großen Herausfor-derungen unserer Zeit erfolgreich bewältigen zu können,wird es entscheidend sein, dass alle Maßnahmen, alleEbenen und alle Institutionen sinnvoll ineinandergreifen .Was wir auf kommunaler, regionaler und nationaler Ebe-ne tun können, besprechen wir heute und natürlich immerwieder fortlaufend mit den Ministerpräsidenten der Län-der . Was wir auf europäischer Ebene tun können, war amDienstag Thema bei den Innen- und Justizministern undgestern bei den Staats- und Regierungschefs . Was wir aufglobaler Ebene tun können, besprechen wir in den kom-menden Tagen in New York .Die Bundesregierung wird auch in den kommendenWochen, Monaten und Jahren mit aller Kraft und aufallen Ebenen darauf hinwirken, dass die erforderlichenEntscheidungen getroffen und dann auch umgesetzt wer-den . So wird es uns gelingen, auch die großen Aufgaben,vor denen wir stehen, erfolgreich zu meistern .Ich bin fest überzeugt: Die Chancen sind so viel grö-ßer als die Risiken . Wir müssen sie nur erkennen und nut-zen . Und wer, wenn nicht wir, hätte die Kraft dazu? Ichbin überzeugt, dass wir das schaffen .Herzlichen Dank .
Ich eröffne die Aussprache . Für die Fraktion Die Lin-
ke erteile ich das Wort der Kollegin Sahra Wagenknecht .
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Frau Bundeskanzlerin, Sie selbst haben die Zahl genannt:60 Millionen Menschen sind weltweit gegenwärtig aufder Flucht . Viele von ihnen hatten ihre Heimat früherin Ländern wie dem Irak, wie Afghanistan, Libyen oderauch Syrien. Sie fliehen nicht vor Naturkatastrophen; sie fliehen vor Terrorbanden wie den Taliban oder dem IS, sie fliehen auch vor Assad, aber sie fliehen vor allem vor den Folgen westlicher Politik; denn es waren die alshumanitäre Intervention maskierten Ölkriege der Verei-nigten Staaten und ihrer europäischen Verbündeten, diein Afghanistan und im Irak verbrannte Erde hinterlassenhaben und die Mördermilizen des IS und jetzt auch dieTaliban in Afghanistan erst wieder so stark gemacht ha-ben, wie sie gegenwärtig sind . Und es waren westlicheInterventionen, die die staatlichen Strukturen in Libyenzerstört und die auch in Syrien den Bürgerkrieg immerweiter angeheizt haben . Und es sind nicht zuletzt deut-sche Waffen, die in all diesen Ländern Tod und Schre-cken verbreiten .
Deshalb: Wer von Flüchtlingen redet, der darf über Krie-ge, Drohnenterror und Waffengeschäfte nicht schweigen .
Werte Kolleginnen und Kollegen, wir werden dasFlüchtlingsproblem nicht durch weitere Einschränkun-gen beim Asylrecht lösen und auch nicht durch Gefeil-sche um europäische Quoten und schon gar nicht durchneue Mauern und noch höhere Zäune . Wir werden esnur lösen, wenn Europa endlich aufhört, die VereinigtenStaaten dabei zu unterstützen, immer größere Teile desNahen und Mittleren Ostens in einen Brandherd zu ver-wandeln . Das muss endlich aufhören .
Stattdessen müssen wir sie unter Druck setzen, endlichden ihrer Verantwortung angemessenen Beitrag an denKosten zu leisten .
Frau Bundeskanzlerin, stoppen Sie sofort alle Waffen-lieferungen in Spannungsgebiete,
und erteilen Sie all denen eine Absage, die schon wiederdafür trommeln, dass wir nun auch in Syrien mitbombensollen! Unter Bombenteppichen wächst kein Frieden,
sondern sie bewirken nur, dass noch mehr verzweifelteMenschen zur Flucht gezwungen werden .
Nur eine kleine Minderheit der Flüchtlinge schafft esbis Europa . Millionen leben unter unwürdigen Bedingun-gen in den Lagern der Nachbarstaaten . Vor kurzem muss-te die Welternährungsorganisation dort die Nahrungsmit-telrationen halbieren, weil selbst der erbärmliche Betragvon 27 Dollar pro Person und Monat nicht mehr finan-zierbar war .Ich muss sagen: Auch das, was jetzt als großes Ergeb-nis des gestrigen Gipfels verkündet wird, nämlich dassman 1 Milliarde Euro mehr an Mitteln zur Verfügungstellt, ist weniger als ein Tropfen auf den heißen Stein .Das ist einfach lächerlich und unangemessen . Flüchtlingehungern, und ihre Kinder bekommen keine angemesseneBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
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Bildung, weil die reichen Länder Milliarden für Kriegeausgeben, aber nur lächerliche Beträge für humanitäreHilfe. Ich finde, das ist eine Schande. Es zeigt auch sehr deutlich die wirklichen Werte der gelobten westlichenWertegemeinschaft .
Ja, viele von denjenigen, die auf der Flucht sind, flie-hen auch vor wirtschaftlichem Elend und blanker Not .Aber auch dafür sind die Industriestaaten mitverantwort-lich . Frau Merkel, Sie haben hier sehr vieles gesagt, wasich unterschreiben kann . Aber dann nehmen Sie dochendlich die UN-Ziele zur Bekämpfung von Armut undUngleichheit ernst, und beteiligen Sie sich nicht längerdaran, armen Ländern Freihandelsabkommen zu diktie-ren, die ihre Landwirtschaft und ihre Industrie zerstören,die ihre Menschen arm und ihre Märkte zur Beute inter-nationaler Konzerne machen! Das sind doch die Folgen .Wenn Sie da nicht die entsprechenden Konsequenzenziehen, dann nützen all die schönen Worte hier nichts .
Niemand sollte sich wundern, dass immer mehr Men-schen ihre letzte Hoffnung darin sehen, sich auf den ge-fährlichen Weg nach Europa zu machen . Dafür, dass die,die bis nach Deutschland kommen, hier eine freundlicheAufnahme finden, haben in den letzten Wochen vor allem das großartige Engagement der vielen ehrenamtlichenHelfer und die Spendenbereitschaft der Bevölkerung ge-sorgt .
„Wir schaffen das“, haben Sie, Frau Bundeskanz-lerin, gesagt . Das klang gut . Dafür wurden Sie gelobt,aber auch aus den eigenen Reihen kritisiert . Ich habe denEindruck, inzwischen hat Sie die Angst vor der eigenenCourage befallen .
Zumindest muss man sehen, dass die Politik der Bundes-regierung mehr und mehr in Kontrast zu Ihren warmenWorten steht. Wir finden es unverantwortlich, Länder und Kommunen mit dem übergroßen Teil der Integrati-onskosten alleinzulassen . So organisiert man nicht Will-kommenskultur, sondern Überforderung und Spannun-gen .
Sie wissen doch, wie die Situation in vielen Städtenund Gemeinden ist, wie viele Krankenhäuser privatisiertund wie viele marode Straßen nicht repariert wurden,weil die Kassen gähnend leer sind . Sie wissen, dass diemeisten Bundesländer im Korsett der SchuldenbremseProbleme haben, ihre ganz normalen Aufgaben zu erfül-len . Jetzt kommen Hunderttausende in unser Land, dieDeutschkurse und Hilfe brauchen, Wohnungen, Bildungfür ihre Kinder und letztlich auch Arbeitsplätze . WollenSie wirklich, dass Stadtkämmerer ihren Bürgern dem-nächst erklären müssen, dass das öffentliche Schwimm-bad leider nicht mehr zu halten ist, weil sonst die Miet-zuschüsse für Flüchtlinge nicht gezahlt werden können?Wollen Sie, dass die Finanzierung von Deutschkursengegen die Finanzierung von Bibliotheken aufgerechnetwird? Wer so etwas zulässt, der vergiftet das Klima inunserem Land .
Auch die zusätzlichen Ausgaben des Bundes will HerrSchäuble über Kürzungen in anderen Haushaltspostenfinanzieren. Ist der Bundesregierung nicht klar, dass sie so die hiesige Bevölkerung, und zwar gerade diejenigen,denen es nicht gut geht – die niedrige Renten, schlech-te Löhne haben oder von Hartz IV leben –, in unverant-wortlicher Weise gegen die Flüchtlinge ausspielt? Dennnicht die Wohlhabenden, sondern vor allem die Ärmerenwerden betroffen sein, wenn zur Finanzierung von Integ-ration andere Budgets gekürzt werden .
Nicht die Wohlhabenden, sondern die Ärmeren woh-nen in den Wohngebieten, in denen in Zukunft auch dieFlüchtlinge nach Wohnungen suchen werden . Es ist kei-ne irrrationale, sondern eine absolut plausible Angst, dassdort dann die Mieten weiter steigen werden . Seit Jahrenwerden in diesem Land kaum noch Sozialwohnungengebaut . Viele Gemeinden haben ihren Wohnungsbestandprivaten Renditejägern überlassen . Öffentliche Investiti-onen in guten und erschwinglichen Wohnraum sind seitJahren überfällig, und sie werden mit jedem ankommen-den Flüchtling dringender .Natürlich sind es auch nicht die Spitzenverdiener, son-dern diejenigen im ohnehin viel zu großen Niedriglohn-sektor, die es zu spüren bekommen werden, wenn Un-ternehmen Flüchtlinge für Lohndumping missbrauchen .Auch das könnten Sie verhindern: durch Erhöhung desMindestlohns und Abschaffung der Ausnahmen, durchVerbot von sachgrundloser Befristung, Leiharbeit undMissbrauch von Werkverträgen . Es ist die verdammteVerantwortung der Politik, dafür Sorge zu tragen, dassdie Integration nicht zu einer neuen Welle von Lohndum-ping und Sozialabbau führt .
Denn wer das zulässt, der nährt genau die Ängste undRessentiments, die rechten Hasspredigern den Bodenbereiten . Ist Ihnen, Frau Bundeskanzlerin Merkel, dieschwarze Null wirklich so heilig, dass Sie dafür in Kaufnehmen, braune Nullen beim Stimmenfang zu unterstüt-zen? Ich finde das unverantwortlich.
Zumal Sie ja noch nicht einmal große neue Schuldenmachen müssen . Ohne all die Steuergeschenke an dieoberen Zehntausend und ohne Ihre Untätigkeit bei derVerhinderung von Steuerflucht hätten Bund, Länder und Kommunen heute ganz andere Spielräume . Denn diewirklich teuren Flüchtlinge sind nicht die, die vor Kriegund Terror fliehen. Die wirklich teuren sind die Steuer-flüchtlinge, die Konzerne und reichsten Familien, die mit Dr. Sahra Wagenknecht
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tausend Tricks die öffentliche Hand in Deutschland jedesJahr um bis zu 100 Milliarden Euro prellen .
Deswegen: Sorgen Sie endlich für eine ordentlicheBesteuerung der großen Vermögen, und machen Sie dieGrenzen dicht für Steuerflüchtlinge,
statt die Kosten für die Integration ausgerechnet auf denTeil der Bevölkerung abzuwälzen, der schon in den letz-ten Jahren durch Ihre Politik ständig an Wohlstand verlo-ren hat! Ich bin überzeugt: Nur dann, wenn sich das Ge-fühl „Es geht bei uns gerecht zu“ wieder einstellt, werdenwir es tatsächlich schaffen, die Integration zu leisten unddie Willkommenskultur zu erhalten .
besser!)
Für die SPD-Fraktion erhält nun Thomas Oppermann
das Wort .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch nachMonaten ist die große Bereitschaft der Deutschen, Flücht-linge bei uns aufzunehmen und freundlich zu behandeln,ungebrochen . Der ehemalige polnische Botschafter Ja-nusz Reiter spricht in einem Zeitungsbeitrag von einem„Triumph der Menschlichkeit“ . Ich glaube, wir könnenuns damit viel Respekt und eine große Wertschätzung inder Welt erarbeiten .Aber viele Bürgerinnen und Bürger sind auch verunsi-chert . Sie sind verunsichert, weil so viele Flüchtlinge inso kurzer Zeit kommen . Ich denke, die Menschen glau-ben, dass wir es schaffen können, 800 000 oder 1 Mil-lion Flüchtlinge aufzunehmen und zu integrieren . Abersie fragen natürlich auch: Wie geht es weiter? Könnenwir die Zahl der Flüchtlinge verringern? Kommen imnächsten Jahr wieder 1 Million Menschen, oder werdenes sogar noch mehr? Wie verändert das unser Land, undwie verändert das das Leben der Menschen in diesemLand? – Die Ungewissheit erzeugt Angst, und ich finde, diese Angst müssen wir ernst nehmen .
Deshalb gilt es jetzt, mit aller politischen und finanzi-ellen Kraft, zu der wir in der Lage sind, dafür zu sorgenund dazu beizutragen, dass weniger Menschen die Fluchtergreifen, sodass wir die Geschwindigkeit des Flücht-lingszuzugs in Deutschland deutlich verringern .Zuallererst müssen wir die Lage der Flüchtlinge inden Nachbarländern Syriens verbessern . Viel zu langehaben wir über die dramatische Verschlechterung derLage der Flüchtlinge dort hinweggesehen . Was SigmarGabriel von seiner Reise nach Jordanien berichtet hat, istniederschmetternd . Die Menschen leben unter erbärmli-chen Verhältnissen: Es gibt keine Zukunftsperspektive,wegen Geldmangels muss das Welternährungsprogrammdie Rationen kürzen, es gibt keine Arbeit, die Hälfte derKinder geht nicht zur Schule, und in den Lagern ist voneiner verlorenen Generation die Rede .Immer mehr Menschen sitzen jetzt auf gepacktenKoffern . Wenn wir die humanitäre Situation und die Bil-dungsmöglichkeiten für Kinder in diesen Ländern nichtschnell verbessern, dann werden sich viele auf die Reisemachen .
Ich finde die Entscheidung der Staats- und Regie-rungschefs von gestern Abend, mindestens 1 MilliardeEuro bereitzustellen, gut . Das wird aber nicht reichen .Deshalb ist es notwendig, dass die USA und die Golf-staaten diese Summe verdoppeln .
Wenn wir erreichen wollen, dass die Menschen ihreFluchtentscheidung noch einmal überdenken oder auf-schieben, dann brauchen wir auch ein weiteres Signal derHoffnung . Ein starkes Signal für die Menschen wäre es,wenn Russland und die USA gemeinsam mit den Europä-ern und den Regionalmächten Gespräche aufnähmen, umfür Syrien eine Lösung zu finden.Dass man mit Russland in der Syrien-Frage konstruk-tiv zusammenarbeiten kann, haben wir im Sommer 2013gesehen . Damals haben Russland, die USA und weitereStaaten vereinbart, das syrische Chemiewaffenarsenalunter internationale Kontrolle zu stellen . Auch die Bun-deswehr hat einen wichtigen Beitrag zur Vernichtung derChemiewaffen geleistet . Das könnte eine Blaupause fürneue Syrien-Gespräche sein .Ich bin Frank-Walter Steinmeier für seine Syrien-Ini-tiative dankbar . Es ist gut, dass jetzt möglicherweise allean einen Tisch kommen . Vielen Dank dafür .
Ebenfalls finde ich gut, dass die Bundeskanzlerin ges-tern klar gesagt hat: Wir müssen auch mit Assad reden,auch wenn das schwerfällt . Wir müssen mit allen reden,die dazu beitragen können, dass dieser Konflikt gelöst wird .Natürlich kann sich niemand vorstellen, dass Assadeine dauerhafte Rolle bei der Herstellung von Frieden inSyrien spielen kann . Die meisten der 250 000 Toten die-ses Bürgerkriegs gehen auf seine Verantwortung, und wirwissen, dass ein Kriegsverbrecher nicht der Garant fürFrieden sein kann . Wir müssen jetzt aber mit allen reden,um zu einer Befriedung dieses Konfliktes zu kommen.
Dr. Sahra Wagenknecht
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Eines steht für mich auch eindeutig fest, FrauWagenknecht – da bin ich ausnahmsweise Ihrer Mei-nung; allerdings haben Sie kein Wort darüber gesagt, dassRussland gerade Kampfflugzeuge nach Syrien gebracht hat –: Eine Eskalation der militärischen Auseinanderset-zung kann diesen Konflikt ganz sicher nicht befrieden.
Nicht nur bei der Bekämpfung der Fluchtursachen,sondern auch bei der Gestaltung einer neuen europäi-schen Flüchtlingsordnung müssen wir die Unterstützungaller Länder in Europa haben . Wenn wir Freizügigkeitund offene Grenzen erhalten wollen, dann brauchen wirsichere EU-Außengrenzen, und wir brauchen Aufnahme-zentren in den Hauptankunftsländern Italien und Grie-chenland .Ich bin froh, dass der Europäische Rat bzw . die Staats-und Regierungschefs gestern informell eine klare Ent-scheidung für die Sicherung der Außengrenzen und dieEinrichtung von Hotspots getroffen haben . Die Siche-rung der Außengrenzen wird aber nur dann funktionie-ren, wenn wir auch legale Möglichkeiten des Zuzugs vonFlüchtlingen schaffen .
Anders werden wir nicht in der Lage sein, den Zuzug derFlüchtlinge besser zu steuern und vor allen Dingen denSchleusern ihr menschenverachtendes Handwerk zu le-gen .Ich finde, Kontingente von Flüchtlingen zu überneh-men, wie es Herr de Maizière formuliert hat, ist keinschlechter Gedanke .
Die Resettlement-Programme der Vereinten Nationensind insbesondere für Frauen und Kinder oft die einzigeMöglichkeit, wirklichen Schutz zu finden. Deshalb soll-ten wir darüber nachdenken . Dass Artikel 16 a Grundge-setz davon nicht beeinträchtigt werden darf, halte ich fürselbstverständlich .
Europa muss seine humanitären Verpflichtungen aus der Genfer Konvention erfüllen . Das geht aber nur,wenn wir die Flüchtlinge in Europa fair verteilen . Dasssich die Innenminister am Dienstag – wenn auch nurmit Mehrheitsentscheidung – auf die Verteilung von120 000 Flüchtlingen verständigt haben, ist ein ersterSchritt . Ich bin froh, dass auch Polen dem Kompromisszugestimmt hat . Bundesinnenminister de Maizière hatdaran entscheidenden Anteil gehabt .Wir können aber natürlich bei diesem Kompromissnicht stehen bleiben . Bei der Flüchtlingsfrage brauchenwir – genauso wie in der Griechenland-Krise – ein Min-destmaß an europäischer Solidarität . Es steht nicht inEinklang mit europäischem Recht, wie in den letztenWochen in Ungarn, Serbien und Kroatien die Flüchtlingehin- und hergeschoben worden sind .
– Auch in der Slowakei, auch in Slowenien . – Noch im-mer gibt es EU-Mitglieder, die eine solidarische Vertei-lung der Flüchtlinge kategorisch ablehnen – ausgerechnetdie Länder, die so sehr von der Solidarität der Europäi-schen Union profitieren. Tschechien bekam 2013 knapp 3,4 Milliarden Euro mehr, als es eingezahlt hat . Ungarnverbuchte ein Plus von 5 Milliarden Euro . Wer so vieleVorteile von der EU hat, der muss auch Verantwortungübernehmen und helfen, um humanitäre Katastrophenabzuwenden .
Wenn in Europa im Augenblick nur kleine Fortschrittemöglich sind, dann brauchen wir in der deutschen Innen-politik einen großen Fortschritt . Heute Abend beim Tref-fen der Bundesregierung mit den Ministerpräsidentenwerden die Grundlagen dafür geschaffen, dass wir in die-sem Jahr 800 000 Flüchtlinge aufnehmen und versorgen,aber auch integrieren können – jedenfalls die meistenderjenigen, die bei uns bleiben werden . Diese Menschenmüssen in Kitas und Schulen . Wir brauchen Sprachkurse,Lehrstellen, Arbeitsplätze und menschenwürdige Woh-nungen . All das ist ein Kraftakt .Was die Menschen deshalb zuallererst von uns erwar-ten, sind ein tatkräftiges Krisenmanagement und eine zü-gige Bearbeitung der Asylverfahren .
Die Menschen, die bei uns Asyl suchen, brauchen schnellGewissheit, ob sie bleiben können oder nicht . AbgelehnteBewerber, die keine Perspektive haben, müssen schnellin ihre Heimatländer zurückgeführt werden .
Wir haben bereits vor dem heutigen Treffen verabre-det, dass der Bund die Kapazitäten in der Erstaufnahmedeutlich erhöht . Wir müssen aber auch die ungeregelteEinreise der Flüchtlinge an den Grenzen wieder unterKontrolle bringen . Ich war in der letzten Woche in Passauund habe mir das angesehen . Ich habe gesehen, wie dieBundespolizei dort die Flüchtlinge an unterschiedlichenStellen aufgreift, sie einsammelt und auch registriert .Das ist hervorragend organisiert . Vor allen Dingen gehtdie Bundespolizei mit den Flüchtlingen respektvoll undsensibel um . Ich muss sagen: Bei dem ganzen Durchein-ander in dieser Krise, in der vieles nicht, jedenfalls nochnicht, rundläuft, ist die Bundespolizei ein stabiler Faktor,auf den man sich absolut verlassen kann . Deshalb bin ichfroh, dass wir hier 3 000 neue Stellen bewilligt haben .
Thomas Oppermann
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Aber die Registrierung, die zunächst durch die Bun-despolizei erfolgt, wird anschließend noch einmal undin manchen Fällen ein drittes Mal gemacht: Die Regis-trierung der Polizei landet am Ende im Papierkorb, weildie Erstaufnahmeeinrichtung sie noch einmal durchführt;dann macht das BAMF diese Arbeit unter Umständennoch einmal. Ich finde, wir können uns in diesen schwie-rigen Zeiten doppelte und dreifache Arbeit nicht leisten .
Heute Abend geht es vor allem um die finanzielle Ent-lastung der Kommunen und der Länder . Wir wollen, dasssich die Finanzhilfe an der tatsächlichen Entwicklungorientiert . Dabei geht es nicht um eine einmalige groß-zügige Unterstützung, sondern es geht um eine auf Dauerangelegte und dynamisch an der Zahl der Flüchtlinge ori-entierte Mitfinanzierung des Bundes bei der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen .Dabei handelt es sich um eine doppelte Integration:eine Integration in unsere Gesellschaft und eine Integrati-on in unseren Arbeitsmarkt . Bei der Integration in unsereGesellschaft ist klar, dass die Flüchtlinge das Wertesys-tem, das unserer Verfassung zugrunde liegt, akzeptierenmüssen . Bei der Integration in den Arbeitsmarkt geht esdarum, dass die Flüchtlinge möglichst bald ihren Lebens-unterhalt mit Arbeitseinkünften bestreiten können . Ange-sichts dieser doppelten Integrationsanforderung ist es einGlücksfall, dass wir mit Frank-Jürgen Weise künftig je-manden haben werden, der sowohl die Bundesagentur alsauch das BAMF leitet . Ich glaube, das wird gut .
Auch wenn wir gewaltig investieren müssen, dürfenwir nicht nur die Belastungen sehen, sondern wir müssenauch die Chancen für eine alternde Gesellschaft erken-nen . Deutschland hat nach Japan die älteste Bevölkerungaller Industrieländer . Ein Land, in dem schon heute über1 Million Stellen vakant sind und über 40 000 Ausbil-dungsplätze nicht besetzt werden können, ist auf Ein-wanderung dringend angewiesen . Wir wollen die Flücht-linge schnell in Arbeit bringen . Dabei müssen wir aufeine Sache ganz besonders aufpassen, nämlich dass dieFlüchtlinge nicht eine billige Reservearmee für den Ar-beitsmarkt werden .
Der Vorschlag, dass der Mindestlohn für Flüchtlinge aus-gesetzt werden soll, ist unverantwortlich . Genau das dür-fen wir nicht tun .
Wenn jemand, der lange darauf warten musste, dass erendlich 8,50 Euro in der Stunde verdient, sieht, dassFlüchtlinge für 6,50 Euro die gleiche Arbeit anbieten,dann muss er logischerweise Angst um seinen Arbeits-platz haben . Genau das ist der Weg, diese Gesellschaft zuspalten . Den sollten wir nicht gehen .
Wir brauchen ein kräftiges Wohnungsbauprogramm,und zwar nicht nur für Flüchtlinge . Es gibt in Ballungs-zentren und Universitätsstädten in diesem Land auchunter Nichtflüchtlingen genügend Menschen, die auf der Suche nach einer bezahlbaren Wohnung sind . Deshalbist ein Wohnungsbauprogramm die entscheidende Vor-aussetzung für die Integration der Flüchtlinge, aber auchfür alle anderen auf der Suche nach menschenwürdigenWohnungen .
Ich möchte kurz etwas zum Sicherheitsproblem sagen .Der Kollege Hans-Peter Friedrich hat gesagt: Wir habendie Kontrolle verloren .
Zigtausende strömen unkontrolliert ins Land . Wirkönnen nicht abschätzen, wer ein islamistischer Schläferist .
Richtig ist, dass wir an den Grenzen die Kontrolle überdie einreisenden Menschen zurückgewinnen müssen .Wir dürfen es nicht zulassen, dass die staatliche Ordnungaus den Fugen gerät . Dass unter den Flüchtlingen auchIslamisten sein können, kann niemand ausschließen .
Deshalb müssen wir auch wachsam sein . Aber für vielgefährlicher halte ich es, wenn die 800 deutschen Got-teskrieger, die auf der Seite des „Islamischen Staates“kämpfen, wieder nach Deutschland zurückkehren .
Ich sage Ihnen: Die allermeisten Menschen, die aus Sy-rien kommen, haben die Nase gestrichen voll von Got-teskriegern und gewalttätigen religiösen Eiferern . Damitdas so bleibt, sollten wir sicherstellen, dass die radikalenSalafisten in Deutschland jetzt nicht die Betreuung der Flüchtlinge übernehmen, meine Damen und Herren .
So gesehen ist unsere Gastfreundschaft eine gute In-tegrationspolitik und eine Investition in die innere Si-cherheit . Muslime sagen vor laufenden Kameras: DieDschihadisten sagen uns, ihr seid Ungläubige; aber inWirklichkeit seid ihr es, die den Muslimen in Not hel-fen . – So ganz nebenbei führen wir wahrscheinlich ge-rade den effektivsten Kampf gegen den Islamismus, derThomas Oppermann
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möglich ist . Auch das sollten wir sehen, meine Damenund Herren .
Es ist gut, dass inmitten der größten Flüchtlingskri-se seit dem Zweiten Weltkrieg am Wochenende dieUN-Vollversammlung in New York stattfindet. Auf der Tagesordnung steht die Verabschiedung einer nachhal-tigen, weltweit gültigen Entwicklungsagenda, und dieKanzlerin hat zu Recht darauf hingewiesen: Die Agenda2030 richtet sich nicht nur an Entwicklungsländer, son-dern sie verpflichtet alle Länder auf diesem Globus, ihre Aufgaben zu erfüllen .Wie viele Flüchtlinge in den nächsten 10 oder 20 Jah-ren nach Deutschland und Europa kommen, hängt ganzwesentlich auch davon ab, ob die Verhandlungen in NewYork gut laufen . Deshalb, Frau Bundeskanzlerin, wün-sche ich Ihnen gutes Gelingen bei der UN-Vollversamm-lung .Vielen Dank .
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile,
möchte ich darauf hinweisen, dass die heutige Regie-
rungserklärung und die Debatte zum ersten Mal live in
Gebärdensprache und mit Untertitelung im Internetange-
bot des Deutschen Bundestages übertragen werden
und dass wir das in Zukunft für alle Kernzeitdebatten
und besondere Veranstaltungen im Bundestag als zusätz-
liches Angebot ermöglichen . Ich begrüße deswegen alle,
die davon heute zum ersten Mal Gebrauch machen, und
hoffe, dass Sie lange dabeibleiben .
Nun hat der Kollege Anton Hofreiter für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, Sie habenfrüher öfters gesagt: Scheitert der Euro, dann scheitertEuropa . – Aus heutiger Sicht müssten wir eigentlich sa-gen: Scheitern wir an einer humanen Flüchtlingspolitik,dann scheitert Europa .
Sie haben selbst davon gesprochen, Frau Merkel, dassweltweit 60 Millionen Menschen auf der Flucht sind . Beidem Gipfeltreffen gestern haben sich die europäischenLänder immerhin darauf geeinigt, 120 000 Menschen inEuropa zu verteilen . Jetzt kann man sagen: Ja, das ist einerster richtiger Schritt in die richtige Richtung . Aber an-gesichts von 60 Millionen Menschen, die weltweit aufder Flucht sind, sind 120 000 maximal ein Tropfen aufden heißen Stein . Da muss doch noch viel mehr erfolgen .
Angesichts dessen, was gerade in Ungarn passiert, wowir einen Regierungschef haben, der Flüchtlinge nieder-knüppeln lässt – es gibt Bilder, auf denen sich Mädchenweinend um ihre Mütter kümmern, weil sie von ungari-schen Grenzpolizisten niedergeknüppelt und mit Tränen-gas beschossen worden sind –, und angesichts dessen,dass es eine Regierungspartei gibt, die, statt heftig dage-gen zu protestieren, den dafür Verantwortlichen hofiert, hätte ich mir von Ihnen, Frau Merkel, sehr, sehr deutlicheWorte gewünscht .
Es ist nicht so, wie viele behauptet haben – ich gebeoffen zu, dass ich selbst das ebenfalls vermutet habe –,nämlich dass Sie, Frau Merkel, gar nicht zu klaren Wor-ten in der Lage sind . Das dachte man lange Zeit . Aber Siehaben in letzter Zeit den einen oder anderen klaren Satzgesagt: „Das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolg-te kennt keine Obergrenze .“ Sie können also klare Sätzesagen . Dann sagen Sie doch auch einen klaren Satz inRichtung CSU und Herrn Seehofer,
einen Satz, der deutlich zum Ausdruck bringt, dass es sonicht geht, dass man mit unseren Werten so nicht umge-hen kann und dass das ein Herumtrampeln auf der euro-päischen Wertegemeinschaft ist .
Wenn man jetzt wieder auf Abschottungspolitik setzt,dann schädigt man die europäische Wertegemeinschaft .Dann haben wir vielleicht noch eine EU, aber eine EU,die im Kern nichts mehr wert ist, weil wir unsere Wertenicht verteidigen . Ich erwarte von Ihnen, dass Sie dafürsorgen, dass die europäischen Werte verteidigt werdenund dass man nicht erneut auf Abschottungspolitik setzt .
Wir alle haben – ich muss traurigerweise sagen: in denletzten Jahren – die schrecklichen Bilder davon gesehen,was im Mittelmeer passiert, dass dort Menschen regel-mäßig ertrinken . Deshalb hätte ich erwartet, dass beimGipfel etwas zu sicheren Wegen gesagt und Beschlüssegefasst worden wären, die es den Menschen ermöglichen,den schrecklichen Bürgerkriegen in Richtung Europa zuentkommen, damit sie nicht auf Schlepper angewiesensind und darauf, auf vollkommen unsichere Boote zu ge-hen und sich in Lastwagen zu quetschen, in denen sie un-ter Umständen ersticken . Wenn Europa wirklich zeigenwill, was es wert ist, dann sorgen Sie, dann sorgen wirgemeinsam dafür, dass es sichere Wege nach Europa gibtThomas Oppermann
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und dass die Menschen nicht auf Schlepper angewiesensind .
Sie haben einen weiteren richtigen Punkt gesagt . Siehaben gesagt: Wir müssen unbedingt das World FoodProgramme ausreichend ausstatten . – Dieses Programmsoll nun 1 Milliarde Euro erhalten . Aber können wir unsnicht darauf einigen, dass das in Zukunft vorausschau-end passiert? Es ist dieses Jahr nicht das erste Mal, dassdem World Food Programme das Geld ausgeht, dass dieFlüchtlinge hungern müssen und dass die Portionen auf50 Cent pro Tag heruntergesetzt werden . Das ist bereitsletztes und vorletztes Jahr vorgekommen . Können wiruns nicht wenigstens darauf einigen, wenn wir schonnicht die ganz großen Krisen von heute auf morgen lösenkönnen, dass wir, das reiche Deutschland – es geht umeinige Millionen Euro; das ist für eine Privatperson vielGeld; aber für uns als Bundesrepublik Deutschland istdas leistbar –, rechtzeitig dafür sorgen, dass dieses Pro-gramm ausreichend finanziert wird, bevor ihm das Geld ausgeht . Das sollte der Mindestkompromiss sein .
Ich möchte ganz herzlich den Ehrenamtlichen danken,die innerhalb Deutschlands Unglaubliches leisten undsehr viel auf die Beine stellen .
Man muss auch den Menschen in der öffentlichen Ver-waltung danken, die zum Teil bis zum Anschlag arbeiten .Aber deshalb ist es umso wichtiger, dass am heutigenNachmittag beim Gipfel mit den Ministerpräsidentenwirklich realistische Lösungen herauskommen, Lösun-gen, die wirklich tragen . Es dürfen nicht weitere Schi-kanen beschlossen werden, und es darf keine seltsameSymbolpolitik betrieben werden . Man sollte nicht glau-ben, dass die Menschen nicht mehr aus Syrien flüchten, weil nur noch ein Taschengeld gezahlt wird . Vielmehrmüssen echte Entlastungen für die Kommunen und ech-te Hilfen für die Flüchtlinge beschlossen werden . Manmuss bestimmten bürokratischen Unsinn abschaffen,zum Beispiel die Regelung, dass nach drei Jahren alleanerkannten Flüchtlinge noch einmal überprüft werden .Ich erwarte vom Gipfel am heutigen Nachmittag, dassman die Probleme tatsächlich angeht, den Kommunenund den Flüchtlingen hilft und dafür sorgt, dass die Ar-beit der Ehrenamtlichen nicht entwertet wird .
Frau Merkel, Sie haben auch vom Gipfel in New Yorkgesprochen, bei dem es darum geht, die Nachhaltigkeits-ziele zu beschließen, die es dann zu erreichen gilt . DerGipfel in New York ist etwas Besonderes; denn wir be-schließen diesmal Nachhaltigkeitsziele, die nicht nur fürdie Länder des globalen Südens gelten . Bei den letztenMillenniumszielen haben wir noch so getan, als ob sieuns kaum etwas angingen, als ob sie nur für die armenLänder des globalen Südens gelten würden und als ob beiuns alles toll wäre . Das Besondere ist diesmal, dass dieUN und die reichen Länder anerkennen, dass die Nach-haltigkeitsziele uns alle betreffen .Frau Merkel, Sie haben davon gesprochen, dass wir mehrGeld für Entwicklungszusammenarbeit ausgeben wollen .Es gibt das 0,7-Prozent-Ziel, das das erste Mal 1970 aufUN-Ebene beschlossen wurde . Das ist das Jahr, in demich geboren worden bin . Es ist also schon ziemlich langversprochen, dieses Ziel zu erreichen . Jetzt haben Siegesagt, zur Erreichung dieses Ziels sollen weitere Mil-liarden Euro zur Verfügung gestellt werden . Aber wennich mir die mittelfristige Finanzplanung des Bundes an-schaue, dann stelle ich fest, dass der Anteil am Bundes-haushalt, der zur Erreichung dieses Ziels zur Verfügunggestellt wird, weiter bei 0,4 Prozent stehen bleibt . Des-halb: Es hilft nicht, hier nur zu sagen, dass MilliardenEuro mehr zur Verfügung gestellt werden sollen, sonderndas Ganze muss sich auch im Haushalt niederschlagenund umgesetzt werden . Das ist es, was wir jetzt erwarten .
Was glauben Sie, warum die Leute von dort fliehen? Dennoch wird hier so getan, als wären es Wirtschafts-flüchtlinge. Erst helfen wir mit, ihnen ihre Lebensgrund-lage zu entziehen, und dann diffamieren wir sie hier alsWirtschaftsflüchtlinge. So kann es doch nicht gehen; so etwas muss man doch abstellen .
Wenn wir in den letzten Wochen und Monaten wirk-lich etwas gelernt haben, dann ist es, dass wir keineWohlstandsinsel sind und dass unser Wohlstand von denProblemen der restlichen Welt nicht abgekoppelt ist .Deshalb sollten wir gemeinsam dafür sorgen, dass esnicht nur uns gut geht, sondern auch der restlichen Weltund den zukünftigen Generationen gut geht; dann habenwir eine richtige Politik gemacht, und dann haben wirwirklich etwas geschafft .Dr. Anton Hofreiter
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Vielen Dank .
Das Wort erhält nun der Kollege Volker Kauder für die
CDU/CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Das, was uns zurzeit als Aufgabe gestellt ist, ist wahr-
scheinlich die größte Herausforderung im Nachkriegs-
deutschland . Wir hatten schon viele schwierige Aufgaben
zu lösen . Aber dies ist deswegen eine große Herausfor-
derung, weil wir es mit Menschen zu tun haben, die un-
tergebracht werden müssen, für die wir eine Perspektive
schaffen müssen; das ist die eine Gruppe . Außerdem ha-
ben wir es mit Menschen zu tun, die wir ebenfalls anstän-
dig und menschenwürdig behandeln müssen, aber denen
wir auch sagen müssen, dass sie in unserem Land keine
Zukunft haben können . Dies ist nicht immer einfach, und
trotzdem muss es geleistet werden . Beides muss von uns
allen geleistet werden . Es geht nicht, dass die einen glau-
ben, wir kümmerten uns nur um diejenigen, die bleiben
könnten, und ließen die anderen die andere, nicht minder
schwere Aufgabe allein machen . So geht es nicht in un-
serem Land . Beides ist gesamtgesellschaftliche Aufgabe .
Für beides müssen auch die Voraussetzungen ge-
schaffen werden . Der entscheidende Punkt ist, dass die
Menschen in unserem Land wissen: Es wird alles getan,
was möglich ist, um diese Aufgabe erfüllen zu können .
Auch ich weiß, dass es da Fragen gibt, dass es da Zweifel
gibt . Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie ich als
junger Beamter in einem Landratsamt mit einem großen
Andrang von Menschen zu tun hatte . Auch ich musste
damals Hallen belegen und mit Sportvereinen sprechen .
Ich erinnere mich, wie auch ich damals Fragen gehört
habe wie: Kann man das nicht einfach abstellen?
Da ist natürlich dann auch mal die Versuchung groß,
in diese Fragen und in das, was kritisch angemerkt wird,
einzustimmen . Aber ich kann Ihnen nur sagen: Das hilft
nichts . Die Menschen erwarten von uns in einer Situati-
on, wo sie Fragen haben und sich auch unsicher fühlen,
nicht, dass wir sie in ihrem Unsichersein bestätigen, son-
dern sie erwarten, dass wir ihnen sagen: Wir – Kommu-
nen, Länder und die Bundesregierung – haben die Kraft
in diesem Land, um dieses Problem zu lösen . – Das ist
die Ansage, die wir machen müssen .
Dafür gibt es natürlich mehrere Ebenen . Die Bundes-
kanzlerin hat von gestern Abend, Thomas de Maizière
hat von Anfang dieser Woche berichtet darüber, was man
auf der europäischen Ebene gemacht hat . Ich muss sagen:
Es sind richtige Schritte, aber für die Größe der Aufgabe
ist das, was erreicht worden ist, noch nicht groß genug,
liebe Kolleginnen und Kollegen .
Ich möchte schon, dass die Menschen in unserem Land
von Europa nicht den Eindruck haben: In kleinen Dingen
ist Europa groß, aber in den großen Dingen ist Europa
klein . – Das kann nicht die Botschaft für Europa sein,
liebe Kolleginnen und Kollegen .
Natürlich höre und sehe ich das eine oder andere, was
in dem einen oder anderen Land stattfindet. Aber wenn
wir Lösungen wirklich weiter fortentwickeln wollen,
dann müssen wir immer alles betrachten . Ich höre, dass
an Ungarn Kritik geübt wird .
Da gefällt mir das eine oder andere auch nicht . Aber ich
muss Ihnen sagen: Ich habe kein Wort dazu gehört – auch
nicht aus der Fraktion unseres Koalitionspartners –, dass
es einen sozialdemokratischen Ministerpräsidenten der
Slowakei gibt, der Sachen sagt, die genauso unerträglich
und nicht akzeptabel sind .
- Ja, ja, es ist immer so: Die Wahrheit ist konkret, und dasmuss im ganzen Umfang betrachtet werden . Ich habe esmir gerade noch einmal angeschaut . Da ist gesagt wor-den: Wir nehmen keine muslimischen Flüchtlinge, weilwir keine Moscheen haben . Wir wollen nur Christen . –Jetzt, wo man eine gemeinsame Lösung mit Mehrheit ge-funden hat, wie es in der Demokratie üblich ist, sagt derslowakische Ministerpräsident, er akzeptiere das nichtund werde dagegen klagen . So wird es mit einem starkenEuropa nichts . In beiden Fällen muss dies klar und deut-lich gesagt werden .
Ich wünsche der Bundeskanzlerin weiterhin vielKraft . Es ist nicht einfach für uns, diese Herausforderungzu bewältigen .Aber ich finde auch, dass dieses Land in einer Sache, die doch ziemlich schnell und überraschend auf uns zu-gekommen ist – natürlich gibt es ein paar, die das schonletztes Jahr gewusst haben –, Enormes leistet . Aus eige-ner Erfahrung – ich musste selber so etwas einmal ma-chen – kann ich nur sagen: Ich habe großen Respekt vordem, was Thomas de Maizière leistet . Die Bundespolizeigehört genauso in seinen Bereich wie das BAMF . Des-wegen haben wir allen Grund, Thomas de Maizière dank-Dr. Anton Hofreiter
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bar zu sein für das Engagement, das er aufbringt, liebeKolleginnen und Kollegen .
Ich bin dem SPD-Parteivorsitzenden Sigmar Gabrielsehr dankbar dafür, dass er in der ihm eigenen klarenSprache die Kritik an Thomas de Maizière als Quatschbezeichnet hat . Ich wünsche ihm jetzt nur noch viel Er-folg dabei, diese Erkenntnis bei seinen eigenen Truppenwirklich durchzusetzen, liebe Kolleginnen und Kollegen .
[SPD])
Und wenn Sie – mit Recht – sagen, dass wir den Kom-munen helfen müssen, die vor Ort die Verantwortunghaben – auch den Ländern, aber vor allem den Kommu-nen –, dann würde ich Ihnen doch raten, den Experten,die Sie in Ihren eigenen Reihen haben, nämlich IhrenOberbürgermeistern aus Baden-Württemberg, mal einbisschen besser zuzuhören . Die sagen Ihnen nämlich,was gemacht werden muss . Boris Palmer hat es for-muliert und zugleich gesagt, dass das für Sie noch einschmerzlicher Erkenntnisprozess werden würde . Okay .Wenn man also schon eigene Oberbürgermeister hat, dieetwas Richtiges sagen, dann sollte man auch in Berlindarauf hören, liebe Kolleginnen und Kollegen .
Ja, Thomas Oppermann, auch ich finde, dass das Ergebnis, das wir heute zu erwarten haben, natürlichauch die finanzielle Seite mit einbeziehen sollte. Dabei ist wichtig, zu berücksichtigen, dass derjenige, der dieAufgabe erfüllt, auch die Mittel bekommt . Und in demUmfang, in dem der Bund bei den Erstaufnahmeplätzeneigene Aktivitäten entwickelt, muss der Bund dafür auchdie Mittel erhalten . Und an den Stellen, an denen dieKommunen die Aufgabe erfüllen, müssen die Kommu-nen die Mittel erhalten . Da kann ich die Verhandler unddie Bundesregierung nur bitten, bei den Verhandlungenheute Nachmittag darauf zu achten, dass dies auch ein-tritt .Meine bisherigen Erfahrungen sind folgende: Wennwir Geld für die Kommunen zur Verfügung stellen, dannkommt es meistens nicht zu 100 Prozent bei den Kom-munen an . Und wenn ich mir die Ausstattung der Kom-munen anschaue, dann stelle ich fest, dass Bayern dieKommunen jetzt schon zu 100 Prozent ausstattet .
Ich weiß ja, dass ihr bei Kritik an NRW besonders sen-sibel seid .
Aber die Wahrheit ist ja nie Kritik . Und es stimmt halt,dass NRW seine Kommunen besser ausstatten muss, alses das bisher gemacht hat .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich geht esauch darum, dass wir angemessen reagieren . An die-ser Stelle möchte ich schon darauf hinweisen, dass esgar nicht in erster Linie um das Asylrecht geht – darü-ber werden ja Diskussionen geführt ; denn nicht einmal2 Prozent derjenigen, die zu uns kommen, erhalten nachArtikel 16 a des Grundgesetzes Asylrecht . 98 Prozent deranerkannten Flüchtlinge erhalten vielmehr nach der Gen-fer Flüchtlingskonvention diesen Schutz .Deswegen, glaube ich, muss man auch klar sagen:Diejenigen, die vom Westbalkan stammen, haben we-der nach der Genfer Flüchtlingskonvention noch nachunserem Grundgesetz Anspruch auf Schutz . Sie habeneinen Anspruch darauf, dass ihr Asylantrag konkret ge-prüft wird . Aber es muss auch klar sein, dass diejenigen,die eine gute Perspektive haben, hierzubleiben, andersbehandelt werden müssen, was Leistungen, die wir fürIntegration usw . gewähren, angeht, als diejenigen, dieübermorgen wieder in ihr Land zurückkehren müssen .
Dafür dürfen auch keine zusätzlichen Anreize gesetztwerden . Dazu haben wir im Koalitionsausschuss gemein-sam Ergebnisse erzielt .Ich habe gehört, was gestern und heute Morgen dazugesagt wurde, und ich werde mir anhören, was heute denganzen Tag noch dazu gesagt wird . Ich kann nur sagen:Wenn wir als Fraktionsvorsitzende im Koalitionsaus-schuss stundenlang mit verhandeln und Ergebnisse erzie-len, dann dürfen wir auch erwarten, dass diese Ergebnis-se eins zu eins umgesetzt werden . Ich erwarte auch, dassdieses heute Nachmittag geschieht .
Danach werden wir auch die Ergebnisse beurteilen .Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundeskanzle-rin hat auch von der Nachhaltigkeitsstrategie gesprochen,die jetzt bei der UNO beraten wird . Diese passt natürlichsehr gut in die konkrete Situation . Denn viele Probleme,Volker Kauder
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die im Zusammenhang mit dieser Nachhaltigkeitsstrate-gie diskutiert werden, sind, wenn das entsprechende Zielbisher noch nicht erfüllt wurde, durchaus eine Fluchtur-sache .Ein Thema – vielleicht das schwerste; obwohl die an-deren auch nicht einfach sind – wurde im Rahmen derDiskussion über diese Nachhaltigkeitsstrategie nochnicht erwähnt . Es gibt eine Reihe von Kolleginnen undKollegen, die am letzten Wochenende in New York da-bei waren, als 150 Abgeordnete aus fast der ganzen Weltauch über dieses Thema gesprochen haben . Es treibenMenschen nämlich nicht nur Armut, Wassernot und vieleandere Dinge aus ihrem Land . Viele Menschen – auchdie aus Syrien, die im Augenblick die Hauptgruppe derFlüchtlinge bilden – sind nicht in erster Linie wegenArmut aus ihrem Land fortgegangen, sondern weil eineverantwortungslose Terrorgruppe ihnen nach dem Lebentrachtet . Wenn Menschen in Syrien sehen, dass der ISselbst Kindern die Köpfe abschneidet, dann werden sichdie Eltern überlegen, ob sie dort eine Perspektive habenoder nicht .Besonders dort, wo es keine staatliche Autorität mehrgibt, sehe ich seit einiger Zeit eine ganz schlimme Ent-wicklung . Dort sind die Menschen am meisten betroffen,sowohl was die Religionsfreiheit als auch was andereMenschenrechte angeht . Wenn es keine ordnende Kraftmehr gibt, dann können Verbrecher und Terroristen mitanderen Menschen machen, was sie wollen . Deswegengehören die Frage nach guter Regierungsführung und dieFrage „Was können wir tun, um so etwas zu verhindern?“ebenfalls zur Nachhaltigkeitsstrategie .
Daher ist es auch richtig, dass man mit Assad spricht .Vielleicht hätte man schon viel früher ernsthafter darüberreden müssen .
Zu Ihnen komme ich gleich . Bleiben Sie mal ganz ruhig .Vielleicht muss man noch öfter und noch eingehen-der darüber reden – damit komme ich zu Ihnen, FrauWagenknecht; das gehört auch dazu –, dass nicht nurMenschenrechte unteilbar sein müssen, sondern auchdie Wahrheit unteilbar sein muss . So zu tun, als ob dieRussen überhaupt keinen Beitrag zu den Irritationen inAfghanistan geleistet hätten, ist schon eine Frechheit, umes einmal so zu formulieren .
Sie stellen sich hierhin und fordern: „keine Gewaltund keine Waffen“, sagen aber kein Wort zu dem, wasRussland unabgesprochen tut .
Hat Russland nun Kampfhubschrauber und 1 700 Solda-ten dort hingeschickt oder nicht? Ich habe ja gar nichtsdagegen, dass man gemeinsam überlegt, was man tunkann . Aber sich dann als Russlandfreundin an diesemRednerpult im Deutschen Bundestag hinzustellen, ohnezu sagen, was nicht in Ordnung ist, finde ich einfach nicht wahrheitsgemäß .
Jetzt muss ich Ihnen einmal eines sagen: Wenn ich überdieses Thema spreche, ist mir nicht zum Lachen zumute .
Das zeigt einiges, wenn Sie hier lachen können; das mussich auch einmal sagen . Mir ist da nicht zum Lachen zu-mute .
Die Aufgabe ist schwer genug .Wenn ich zum Beispiel Afrika betrachte und sehe, dassaus Eritrea Flüchtlinge kommen und aus dem Nachbar-land Äthiopien nicht, dann hat das natürlich auch etwasdamit zu tun, wer in diesem Land Macht ausübt . Ich mei-ne, über diese Dinge müssten wir schon auch klar reden .
Frau Kollegin Beck, normalerweise lasse ich keine Fra-gen zu . Bei Ihnen mache ich eine Ausnahme .
Das nehmen wir so zu Protokoll . – Bitte schön, FrauKollegin Beck .Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):Sie haben recht, wenn Sie auf die schützende Handvon Staatlichkeit verweisen . Aber sind Sie auch bereit,mit einzubeziehen, dass gerade in Syrien derzeit undauch in der Vergangenheit der überwiegende Teil derMenschen vor Verbrechen gegen die Menschlichkeit ge-flüchtet ist, die von der Staatlichkeit, die dort herrscht, ausgegangen sind?Kenneth Roth von Human Rights Watch hat uns fürdiese Debatte noch einmal in Erinnerung gerufen, dassdas Assad-Regime vor allen Dingen durch den bewuss-ten Einsatz von Fassbomben in zivile Bereiche hinein –eindeutiger Bruch des Völkerrechts – einen wesentli-chen Teil der Flucht ausgelöst hat . Insofern meine ich:Wenn wir nach den Ursachen fragen und alle sagen, dassFluchtursachen bekämpft werden müssen, dann gehörtdazu der Dialog mit allen Seiten, aber auch eine klareSprache, wer wofür verantwortlich ist .Volker Kauder
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Frau Kollegin Beck, ich teile diese Auffassung hun-dertprozentig . Deswegen habe ich auf das Beispiel Erit-rea hingewiesen . Sie können dort noch so viele Food-Pro-gramme machen, und doch wird sich nichts daran ändern,dass die jungen Leute von dort verschwinden .Ich habe gesagt, dass wir staatliche Gewalt brauchen,die Ordnung schafft . Das muss ich noch einmal klar be-tonen . Aber dies hat Assad nicht gemacht, sondern er hatsein eigenes Volk bekämpft . Hier kommt die entschei-dende Frage, von der ich sage, dass sie so verdammtschwer zu beantworten ist: Hätten wir dort früher mehrtun müssen? Müssten wir nicht häufiger in der UNO mit heißem Herzen öffentlich darauf hinweisen, dass natür-lich auch in Syrien Stellvertreterkriege stattgefundenhaben und dass es wahrscheinlich ein Vorteil gewesenwäre, mit dem Iran schon viel früher zu Ergebnissen zukommen . Völlig richtig, völlig klar . Hier sieht man, dasses manchmal schwer ist, in außenpolitischen Fragen vor-anzukommen . Sie haben völlig recht .Ich meine auch: Wenn alle miteinander – Putin unddie Amerikaner – zusammen zu einer Lösung kommenkönnen und mit Assad gesprochen wird, dann ist das dereinzige Weg . Wir sind uns sicher auch darin einig, dass essehr schnell eine ordnende Gewalt geben muss, sonst gibtes in Syrien ein Verbluten von noch mehr Menschen, alses ohnehin der Fall ist . Es reicht eben nicht – das habenwir im Irak, in Libyen und anderswo gesehen –, dass eineschlechte, schlimme Regierung geht . Man muss auch da-für sorgen, dass dann in diesem Land Stabilität herrscht .Jetzt kommt noch ein weiteres schwieriges Thema . Eswird im Zweifel nicht allein aus der Luft möglich sein,sondern es muss am Boden einiges getan werden . Jetztfragt mich Frau Göring-Eckardt sicher: Wollen Sie aufeinmal Bodentruppen entsenden, obwohl Sie doch etwasganz anderes gesagt haben? Ich sage: Nein, das will ichnicht . Das machen wir auch nicht . – Bei der Klausurta-gung des Fraktionsvorstandes hatten wir den jordani-schen Außenminister zu Gast . Bei der Tagung in NewYork, bei der es um Religionsfreiheit weltweit ging, ha-ben sich dazu christliche und auch muslimische Theolo-gen aus dieser Region geäußert . Sie sagen: Das ist nichteure Aufgabe, sondern es ist unsere Aufgabe . Die müs-sen wir machen, nicht ihr im Westen müsst den IS in dieSchranken weisen . Das ist unsere Aufgabe . Die müssenwir als Muslime annehmen .Wenn Länder wie Jordanien sagen, dass sie das tunmüssen, dann müssen wir sie bei dieser Aufgabe unter-stützen und ihnen helfen, dass sie diese Aufgabe bewälti-gen können . Hier müssen wir auch sagen – ich will jetztniemanden von meinen Kollegen aus anderen Fraktionendes Deutschen Bundestages zitieren –: Es gibt Situati-onen, wo ISIS allein mit Worten nicht daran gehindertwerden kann, den Menschen die Köpfe abzuschneiden .Das gehört auch zur ganzen Wahrheit, meine sehr verehr-ten Damen und Herren .
Herr Hofreiter, als Sie die Fluchtursachen genannthaben, habe ich Ihnen ausdrücklich Beifall gespendet .Ich habe die Flüchtlingslager in Zaatari, aber auch inKurdistan gesehen . Ich habe im Übrigen sehr frühzeitighier im Deutschen Bundestag darauf hingewiesen: Wennes uns nicht gelingt, dafür zu sorgen, dass die Flücht-lingseinrichtungen in Erbil und Dohuk besser ausgestat-tet werden, dann kommen die Menschen ins Laufen . - Essteht wieder ein Winter vor uns, und noch immer sindHunderttausende in dieser Region in Lagern . Wenn es indiesem Winter nicht besser wird als im letzten, werdensie sich natürlich überlegen, ob sie den nächsten Sommerdazu nutzen sollten, sich auch auf den Weg zu machen .Deswegen ist es richtig, dass wir Geld geben, damit dasWorld Food Programme weiterlaufen kann . Dazu mussich jetzt allerdings sagen: Wegen jedes kleinen Themaskommen UNHCR und andere UN-Organisationen aufmich zu; aber dass das Geld für das World Food Pro-gramme ausgeht, haben sie mir nicht gesagt . Sonst hättenwir uns früher darum kümmern können .
Jetzt stimme ich Ihnen zu, dass wir dies selber aktivbegleiten und beobachten müssen sowie dafür sorgenmüssen, dass Ernährung und Versorgung in den Lagernsichergestellt werden, damit die Menschen nicht aus die-sem Grund woandershin unterwegs sein müssen .Dieses Unterwegs-sein-Müssen, liebe Kolleginnenund Kollegen, bedeutet für viele Menschen, vor allemfür Kinder, den sicheren Tod, bevor sie sich richtig aufden Weg gemacht haben . Es wird sehr viel darüber ge-sprochen, dass die Situation auf dem Mittelmeer unhalt-bar ist und man die Flüchtlinge retten muss . Aber wennich mir vor Augen führe, wie viele Menschen auf demWeg von Zentralafrika durch die Wüste bis nach Nordaf-rika sterben, wie viele Menschen auf dem Weg von Erbiloder Dohuk durch Krisengebiete sterben, dann muss ichsagen: Wir müssen alles dafür tun das hat auch etwasmit Menschlichkeit zu tun , dass die Menschen nicht aufdiesen gefährlichen Weg geschickt werden, liebe Kolle-ginnen und Kollegen .
Wir haben eine Reihe von Aufgaben . Ich kann nurhoffen, dass sich Ministerpräsident Ramelow besser ein-bringt - ich habe den Eindruck - als Sie von der Linkenhier im Deutschen Bundestag .
So ist es meistens: Wenn man konkret vor Ort Verantwor-tung trägt, sieht es anders aus, als wenn man hier in derOpposition in der ersten Reihe sitzt und ein bisschen vorsich hin redet; das ist eine ganz andere Sache . Nein, wirsagen den Menschen: Wir wissen, dass die Lage schwie-rig ist, wir wissen, dass ihr es vor Ort auch nicht leichthabt, aber wir wissen auch, dass wir in diesem Land die
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Kraft und die Stärke haben, um diese Aufgabe zu meis-tern .Herzlichen Dank .
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Gehrcke
das Wort .
Schönen Dank, Herr Präsident . – Nicht aufregen! Das
müssen Sie jetzt ertragen .
Herr Kauder, ich bin wirklich dafür, dass jede Frak-
tion, jeder Abgeordnete über seine Fehler auch hier im
Bundestag offen redet .
Nur mit dem Finger auf andere zu zeigen, bringt über-
haupt nichts . Ich gestehe Ihnen – ich habe das schon
mehrfach hier im Plenum gesagt –: Es war ein Fehler
meiner Politik, den russischen Einmarsch in Afghanistan
zu rechtfertigen .
Wir haben mehrfach darüber gesprochen; ich habe es nie
verhehlt: Es war ein Fehler .
Gerade weil wir in unserer Fraktion über diese Fehler
gesprochen haben, waren wir uns einig: Wir wollen diese
Fehler nicht mit anderen Argumenten wiederholen . Ge-
nau deshalb konnten wir ehrlich und überzeugt die NA-
TO-Intervention und das Vorgehen der USA in Afghanis-
tan kritisieren . Das halte ich für eine vernünftige Politik .
Jeder soll über seine Fehler reden; Sie haben viel über
unsere geredet .
Über die Fehler Ihrer Fraktion habe ich kein einziges
Wort gehört . Das ist eine gewisse Art der Selbstgerech-
tigkeit .
Was Syrien angeht, sage ich Ihnen: Viele meiner
Freunde in Syrien – ich habe sehr viele dort – haben über
Jahre, Jahrzehnte in den Gefängnissen von Assad geses-
sen . Wer die Haftbedingungen in Syrien kennt, kann .plä-
dieren – andere haben das gemacht –, Leute nach Syrien
auszuliefern; denn sie werden in den Gefängnissen dort
verhört und gefoltert . Auch darüber ist mal zu reden . Ge-
rade meine Freunde, die in Syrien in den Gefängnissen
waren, haben mir immer wieder gesagt: Man muss mit
Assad verhandeln, man muss eine politische Lösung her-
beiführen; eine militärische Lösung wird es nicht geben .
Ich finde, in dieser Art und Weise sollten die Frakti-
onen miteinander umgehen . Ich würde Sie sehr bitten:
Zeigen Sie nicht nur auf uns, sondern reden Sie auch über
Ihre eigenen Fehler . Wenn jeder über seine Fehler redet,
kommen wir ein Stückchen weiter .
Schönen Dank .
Das Wort erhält nun der Kollege Lars Castellucci für
die SPD-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir verbindenheute zwei Themen miteinander, nämlich den Nachhal-tigkeitsgipfel der Vereinten Nationen, auf dem globaleEntwicklungsziele für mehr Nachhaltigkeit verabschie-det werden sollen, mit der Flüchtlingspolitik . Es ist sehrgut, dass wir diese Themen miteinander verbinden; denndie Ziele, die in New York verabschiedet werden sollen –Armut endlich entschlossen bekämpfen, den Klimawan-del erfolgreich bekämpfen, den Menschen Zugang zusauberem Wasser geben, Gleichberechtigung durchset-zen –, sind nichts anderes als ein globales Programm zurBekämpfung von Fluchtursachen, und das ist genau das,was wir heute brauchen .
Die angekündigten Beschlüsse halte ich für unglaub-lich . Obwohl wir derzeit in der Welt ein großes Durchei-nander erleben, obwohl so viel auseinanderläuft, schaf-fen es alle Staaten der Welt, sich auf ein gemeinsamesProgramm zu verständigen . Das ist eine gute Nachricht,die wir nach draußen tragen müssen . Ich danke allen, dievonseiten unserer Ministerien daran mitgewirkt haben,die Verhandlungsergebnisse schon so weit vorzubereiten,wie sie heute vorliegen .Gestern hatte ich eine Schülerklasse zu Besuch, unddie hat die entscheidende Frage gestellt, nämlich: „Jetzthabt ihr das alles aufgeschrieben . Aber passiert denn jetztauch etwas?“ Frau Bundeskanzlerin, ich nehme Sie beimWort . Sie haben eben gesagt: Das wollen wir jetzt ent-schlossen umsetzen . Lassen Sie mich in diesem Zusam-menhang drei Punkte nennen:Erstens . Die nationale Nachhaltigkeitsstrategie sollim nächsten Jahr fortgeschrieben werden . Sie muss dieseglobalen Entwicklungsziele aufgreifen, und sie muss zurleitenden Strategie unserer Regierungspolitik werden .Zweiter Punkt . Wir sehen bei der Flüchtlingspolitik,dass wir alleine – als Politik, als Verwaltungen und alsHauptamtliche – überfordert sind, die notwendigen Maß-nahmen umzusetzen . Wir brauchen ein breites Bündnis,um die großen Fragen unserer Zeit zu bearbeiten . „Allesollen einen Beitrag leisten können .“ – Ich möchte nocheinmal die Bundeskanzlerin zitieren . Wir brauchen, wieVolker Kauder
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wir das auch 1992 nach dem UN-Gipfel hatten, einenAufbruch für mehr Nachhaltigkeit, der die Zivilgesell-schaft, die Wissenschaft, die Politik und die Wirtschafteinschließt .Dritter Punkt . Was würden Sie machen – da sprecheich alle Kolleginnen und Kollegen, aber insbesondereunsere Haushälter an –, wenn wir sagen würden: Um dasThema Bundeshaushalt kümmert sich die Regierung al-leine, wir nehmen ihn nur zur Kenntnis? Ich sage an die-ser Stelle: Die nationale Nachhaltigkeitsstrategie musseine Strategie für das ganze Land werden . Wir müssensie im Parlament beraten und beschließen .
Zur Flüchtlingspolitik . Wir werden unserer Verant-wortung gerecht, wenn wir auf unsere Sprache achten,und wir werden unserer Verantwortung gerecht, wennwir beherzt handeln . Ich möchte noch einmal die Bun-deskanzlerin ansprechen . Ich danke ihr ausdrücklich fürihre Entscheidung, die Menschen, die in Ungarn festge-sessen haben, ins Land zu lassen .
Lassen Sie mich folgenden Satz zitieren: „Wenn wir unsjetzt noch entschuldigen müssen dafür, dass wir in Not-situationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist dasnicht mein Land .“ Ich halte diesen Satz schon heute füreinen der wichtigsten Sätze ihrer Kanzlerschaft .
– Vielleicht könnte man an dieser Stelle den Beifall ge-trennt ausweisen . Denn wenn ich nach Bayern schaue,Frau Hasselfeldt und alle, die hier sitzen, muss ich schonsagen: Dem Geist eines Klosters hätte eine prominentePfarrerstochter als Gast besser entsprochen als der Gast,den Sie eingeladen haben .
Noch ein paar Worte zu Herrn Orban, der uns mora-lischen Imperialismus vorgeworfen hat . Wenn er damitmeint, dass wir glauben, dass Europa eine Wertegemein-schaft ist, dann hat er sogar etwas verstanden .Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist gesagtworden, mit welcher Haltung wir nach draußen gehenmüssen . Herausforderungen sind dazu da, dass wir sieannehmen . Krisen können auch Chancen bergen .Wenn wir das so betrachten, dann können wir dasnicht nur schaffen, sondern dann können wir an dieserAufgabe auch wachsen . Mit dieser Haltung werden wirweiterarbeiten .Vielen Dank .
Heike Hänsel ist die nächste Rednerin für die Fraktion
Die Linke .
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Die Weltgemeinschaft will am kommenden Wo-chenende in New York neue Entwicklungsziele verab-schieden. Alle Staaten wollen sich verpflichten, Armut zu bekämpfen und eine nachhaltige Entwicklung und denSchutz des Klimas zu befördern .Nach wie vor 1 Milliarde Menschen, die hungern, undzahllose Flüchtlinge, die nach Europa kommen, zeigenuns, dass die herrschende Wirtschaftsordnung und diepolitische Ordnung nicht dazu geeignet sind, für alle einmenschenwürdiges Leben zu organisieren . Deswegenbrauchen wir eine neue Politik, um weltweit ein gutesLeben für alle zu erreichen .
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben heute viel über Ar-mut gesprochen, aber Sie haben kein Wort zu dem im-mensen Reichtum in der Welt, zu dieser Konzentrationvon Reichtum gesagt . 86 Menschen auf der Welt besitzenso viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung . Ge-nau deswegen fordern die Staaten des Südens, dass wirendlich zu einer Politik der weltweiten sozialen Umver-teilung kommen . Diese ist überfällig . Am besten fangenwir mit den Milliardären hier in Deutschland an .
Angesichts von 2,5 Billionen Euro Privatvermögen inDeutschland muss ich sagen,
dass die 1 Milliarde Euro der gesamten EU für die Flücht-lingslager mehr als bescheiden ist . Da muss deutlich mehrkommen . Deshalb müssen wir auch die Reichen für diesePolitik der Umverteilung zur Verantwortung ziehen .
Frau Merkel, Sie haben auch nichts zur Handelspolitikder Europäischen Union gesagt . Obwohl Entwicklungs-hilfeminister Müller, der gerade auch nicht anwesend ist,immer von fairem Handel spricht, habe ich nichts von Ih-nen dazu gehört, ob vielleicht ein Überprüfen der europä-ischen Handelspolitik notwendig ist, welche Auswirkun-gen diese hat und wie sie sich konkret in Afrika auswirkt,wenn Märkte geöffnet werden, wenn die afrikanischenLänder gezwungen werden, ihre Zölle zu senken, wennim Grunde genommen mit den Wirtschaftspartnerschafts-abkommen ein TTIP für Afrika verabschiedet wird .So können wir nicht weitermachen . Wir müssen eineandere Handels- und Wirtschaftspolitik entwickeln,wenn wir einen Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit in derWelt leisten wollen .Dr. Lars Castellucci
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Sie haben auch nur wenig zu den aktuellen Entwick-lungen in der Außenpolitik gesagt . Die Friedensnobel-preisträger haben zu viel mehr Abrüstung und dazu auf-gerufen, die Ressourcen zu mobilisieren, um eine neuesoziale und gerechte Weltordnung zu finanzieren. Was erleben wir aber im Moment? Wir erleben dieGefahr einer neuen atomaren Aufrüstungsspirale mittenin Europa . Modernisierte neue US-Atomwaffen werdenderzeit in Deutschland stationiert, konkret in Büchel inRheinland-Pfalz . Das ist eine brandgefährliche Politik .Der Bundestag hat aber bereits 2010 beschlossen, dasswir diese Atomwaffen abziehen wollen . Jetzt wird imOktober im Rahmen eines NATO-Manövers der Einsatzdieser Atomwaffen trainiert . Diese Politik einer neuenAufrüstungsspirale, die so viele Ressourcen für mehrRüstung bindet, muss beendet werden .
Denn – und das fordern die Friedensnobelpreisträ-ger – Friedenspolitik bekämpft Fluchtursachen und istder beste Beitrag für eine nachhaltige Entwicklung .
Das Wort erhält die Kollegin Gerda Hasselfeldt für die
CDU/CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirerleben in diesen Tagen immer wieder aufs Neue eineüberwältigende Hilfsbereitschaft, eine überwältigendeSolidarität von vielen Menschen im Land: in den Hilfs-organisationen, von Mitarbeitern von Behörden, in denKirchen, von Privatmenschen, von den Sicherheitskräf-ten, bei der Polizei, bei der Bundeswehr und vielen an-deren Einrichtungen . Vor dem Hintergrund der Erfahrun-gen, die ich in meiner Heimat unmittelbar gemacht habe,darf ich sagen: Diese Hilfsbereitschaft und der Einsatzder Beamten sowie der Mitarbeiter der Organisationenist in Bayern ganz besonders gefragt und ganz besondersausgeprägt gewesen; Sie haben das alles mitbekommen .Bayern war in den letzten Wochen verstärkt gefordert .Die bayerische Bevölkerung hat hervorragend gearbeitetund hervorragend reagiert . Ich danke dafür sehr herzlich .
– Lieber Herr Hofreiter, die Staatsregierung hat einenmaßgeblichen Anteil daran, dass das alles hervorragendorganisiert, durchgeführt und rechtsstaatlich ausgerichtetwurde . Auch das gehört in diesem Kreis einmal gesagt .
Zur Wahrheit über die Situation im Land gehört aberauch, dass sich die Menschen – zu Recht – fragen: Wieviel können wir noch schultern? Ist unsere Integrations-kraft an der Grenze? Zur Wahrheit gehört, dass wir or-ganisatorisch, personell und in manchen Bereichen auchfinanziell an der Grenze angelangt sind.
Deshalb muss klar sein: Diese große Aufgabe der Bewäl-tigung der Flüchtlingsströme kann nicht nur mit natio-nalen Anstrengungen bewältigt werden, sondern das isteine globale Aufgabe, der sich alle Europäer in globalerVerantwortung widmen müssen und für die globale Ant-worten gefunden werden müssen .
Es ist gut – das ist der richtige Zeitpunkt –, dass andiesem Wochenende der Gipfel der Vereinten Natio-nen stattfindet, auch wenn dort nicht nur diese Frage im Mittelpunkt stehen wird . Wenn wir Fluchtursachen be-kämpfen wollen und eben nicht nur Symptome kurierenwollen, dann müssen wir uns alle miteinander weltweitum eine nachhaltige Entwicklung in allen Teilen der Weltkümmern . Deshalb ist dieser Gipfel von ganz besondererBedeutung .
Dass sich gestern die Staats- und Regierungschefs undam Tag zuvor die Innenminister auf europäischer Ebe-ne intensiv mit dieser Problematik auseinandergesetztund intensiv um Lösungen gerungen haben, wenigstensum Teillösungen, und dabei auch einiges erreicht ha-ben, macht deutlich: Das geht nicht nur mit nationalenAnstrengungen . Europa ist hier in besonderer Weise ge-fordert . Ich unterstreiche ausdrücklich das, was VolkerKauder vorhin gesagt hat: Europa darf sich nicht nur mitallem möglichen Kleinkram beschäftigen . Wenn wir unsso manche EU-Richtlinie und so manches Vertragsver-letzungsverfahren anschauen, müssen wir sagen, dassvieles davon angesichts der Probleme, die wir heute zubewältigen haben, Kleinkram ist .
Europa muss sich um die Sicherheit Europas, um die Be-wältigung der Flüchtlingsströme, um die Sicherheit derMenschen in den Krisengebieten und außenpolitisch umdie Bekämpfung der Fluchtursachen und nach Möglich-keit auch um die Beseitigung der Krisen kümmern .Dazu ist es notwendig, mit allen zu reden, offiziell, in den Gremien, aber auch unter uns, auf Parteiveranstal-tungen und in Fraktionsgremien . Deshalb war und ist esauch richtig, dass die bayerische Landtagsfraktion derCSU mit Viktor Orban gesprochen hat .
Heike Hänsel
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Er ist ein Hauptbetroffener an der Außengrenze zu Euro-pa . Wenn wir mit den Leuten nicht reden, wie sollen wirdann die Probleme gemeinsam lösen?
Das Gleiche gilt natürlich für andere Situationen . Wirhaben vorhin viel über die Situation in Syrien gehört .Insgesamt sind 60 Millionen Menschen weltweit aufder Flucht, 12 Millionen allein in und um Syrien . FünfJahre nach Beginn des Bürgerkrieges dort ist es an derZeit, den außenpolitischen Stillstand zu überwinden . Allemüssen an einen Tisch . Ich bin sehr dankbar dafür, dassdies auch von einer ganzen Reihe von Europäern erkanntwird, dass Initiativen ergriffen werden, dass miteinandergesprochen wird, dass miteinander gerungen wird, umnicht nur in dem Land, sondern in der gesamten RegionFrieden zu erreichen . Ich weiß auch, und wir alle wissen,dass das nicht von heute auf morgen geht, dass das nichtschnell geht, dass wir einen langen Atem dazu brauchen,aber ein Stillstand der Gespräche wird mit Sicherheitnicht zur Lösung der Probleme führen .
95 Prozent der syrischen Flüchtlinge leben noch ir-gendwo dort in der Region; sie sind in Flüchtlingslagernim Libanon, in Jordanien untergebracht, und zwar zumTeil unter katastrophalen Zuständen . Es ist vorhin ange-sprochen worden: Die Mittel beim Welternährungspro-gramm sind reduziert worden . Es ist dringend notwendig,es ist ein Gebot der Moral, hier aufzustocken und mitzusätzlichen Mitteln im Welternährungsprogramm, aberauch mit einer Winterhilfe angesichts des jetzt nahendenHerbstes und Winters zu helfen . Auch hier hat die Eu-ropäische Union gestern meines Erachtens die richtigenZeichen gesetzt .Es geht aber auch darum, dass wir nicht nur in denFlüchtlingslagern, sondern auch in den Krisengebie-ten insgesamt Zeichen dafür setzen, dass die Menschendort bleiben können . Es ist ein Gebot der Moral, diesenMenschen dort in den Flüchtlingslagern zu helfen, undes ist meines Erachtens ein Gebot der Klugheit, alles zutun, dass die Menschen in ihrer Heimat oder zumindestin der Nähe ihrer Heimat, in ihrem Kulturkreis bleibenkönnen und nicht den weiten Weg woandershin gehen,wo sie dann in fremden Kulturen und fremden Gebie-ten völlig neu beginnen müssen, wenn sie überhaupt dortankommen und beginnen können . Das ist ein Gebot derKlugheit .
Deshalb möchte ich dem Bundesentwicklungsminis-ter herzlich dafür danken, dass er mit einem neuen In-frastrukturprogramm in den Flüchtlingsgebieten dafürein Zeichen gesetzt hat und setzt . Dadurch gibt es dortneue Programme, die es ermöglichen, dass Zigtausen-de Kinder in die Schulen kommen, die es ermöglichen,dass die Stromversorgung und die Wasserversorgung fürHunderttausende von Menschen in diesen Gebieten wie-der gesichert sind, die es ermöglichen, dass Arbeits- undAusbildungsplätze geschaffen werden .
Das alles trägt dazu bei, dass die Menschen in ihrer Hei-mat oder in der Umgebung ihrer Heimat bleiben könnenund dort auch mithelfen können, ihre Heimat wiederaufzubauen . Auch das ist weltpolitische Verantwortung,ist humanitäre Verantwortung, ist Verantwortung für dieMenschen dort .
Wir haben in den letzten zwei Wochen intensiv dar-an gearbeitet, auch bei uns unsere Hausaufgaben im Zu-sammenhang mit diesem Problem zu machen. Ich finde, dass Gutes auf den Weg gebracht wurde, immer mit demGrundgedanken bzw . mit der doppelten Aufgabe, zumeinen im Zeichen von Humanität und Solidarität für einemenschenwürdige Versorgung der Menschen, die zu unskommen, zu sorgen, und zum anderen aber auch deut-lich zu machen, dass wir nicht alle Probleme dieser Weltauf deutschem Boden lösen können und dass diejenigen,die aus rein wirtschaftlichen Gründen zu uns kommen,nach einem rechtsstaatlich sauberen Verfahren wieder inihre Heimat zurückkehren sollten und dies auch von denLändern so praktiziert werden muss . Der Bund hat jetztdie Weichen für schnellere Verfahren und alles, was dafürnotwendig ist, gestellt . Er wird auch die Weichen dafürstellen, dass die Kommunen und die Länder bei der Be-wältigung dieser Aufgabe nicht alleine gelassen werden,meine Damen und Herren . Das haben wir in der Vergan-genheit unter Beweis gestellt, und das werden wir auchkünftig tun .
Das, was wir heute leisten, was unsere Gesellschaftleistet, können wir deshalb leisten, weil wir stark sind:stark durch eine solide Haushaltspolitik, stark durch einesolide Investitionspolitik, stark durch Mitmenschlich-keit, stark durch eine hohe Stabilität unserer Gesellschaftund unseres Landes insgesamt . Damit wir in der Zukunftstark bleiben, ist es aber notwendig, auch die Grenzender Integrationskraft zu sehen und klar zu erkennen, dasswir nicht die Probleme der ganzen Welt bei uns lösenkönnen, sondern auch alles tun müssen, um Gerechtig-keit, sowohl bei uns als auch in Europa, walten zu lassen .Herzlichen Dank .
Das Wort erhält die Kollegin Claudia Roth für dieFraktion BÜNDNIS 90/Die Grünen .Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Lieber Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kolle-gen! António Guterres hat es sehr deutlich gesagt: Dasakute und beispiellose Flüchtlingselend ist ein SymptomGerda Hasselfeldt
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für den aktuellen Zustand der Welt, einer Welt, die in Un-ordnung ist, einer Welt, in der wir die Auflösung der post-kolonialen Staatenordnung erleben, einer Welt, in der dieKlimakatastrophe droht, die viele weitere 100 MillionenMenschen zur Flucht zwingen wird, in der wir ein gi-gantisches Artensterben und eine Vermüllung der Meereerleben, in der die reichsten 80 Menschen genauso vielhaben wie 3,5 Milliarden Menschen . Es ist eine Welt, inder noch nie so viele Menschen auf der Flucht waren; dieschlimmste Zahl ist vielleicht, dass darunter 31 Millio-nen Kinder sind .Wir erleben das Entstehen einer Weltgesellschaft,wie Dirk Messner es ausgedrückt hat, wenn Klimakol-laps, Ebola, Griechenland-Krise, Charlie Hebdo unddie derzeitige Fluchttragödie in unseren Hauptstädten,in unseren Dörfern ankommen und uns so gezeigt wird,dass die Probleme dieser Welt nicht mehr weit weg blei-ben . Das wird auch jedem klar, der die Bilder von derdramatischen Einreise nach Europa sieht, der sieht, wieMenschen versuchen, über Stacheldrahtzäune von Ser-bien nach Ungarn zu klettern, der sieht, wie sie in völligüberfüllten Booten von Libyen oder von der Türkei ausüber das Mittelmeer kommen wollen, der die Bilder vonZügen und Lastwagen sieht, mit denen Menschen inner-halb Europas von Land zu Land geschickt werden .Ich sage: Mein Europa ist nicht das Europa eines Vik-tor Orban, der zum Dank für Mauern, Zäune, Tränengasund für den Einsatz von Militär gegen Flüchtlinge vonder CSU ins Kloster Banz eingeladen wurde .
Er ist als Ehrengast eingeladen worden, als Ehrengast,der rechtspopulistisch gegen Muslime hetzt, Stimmunggegen Humanität und Menschenwürde macht und – mitVerlaub – unflätig gegen Angela Merkel hetzt.
Diese EU muss endlich gemeinsam Verantwortungin der Welt und für die Welt übernehmen . Denn Europaträgt mit seiner Menschenrechtspolitik, die gescheitertist, mit seiner Rüstungspolitik, seiner Handelspolitik,seiner Fischereipolitik, seiner Ressourcenpolitik, seinerAgrarpolitik und mit gebrochenen Versprechen, wenn esum globale Gerechtigkeit und Klimaschutz geht, dochdazu bei und hat eine große Mitverantwortung dafür,dass überhaupt so viele Menschen gezwungen sind, ihreHeimat zu verlassen .Deutschland als reiches Industrieland in der EU trägteine ganz besondere Verantwortung . Genau darum gehtes bei der neuen globalen Nachhaltigkeitsagenda . Dennanders als noch bei den Millenniumszielen steckt in denSDGs das Wissen, dass die Welt nur dann gerechter wird,wenn sich alle bewegen, also auch und zuerst die reichenIndustrieländer, also auch und mit zuerst wir .
Eine wirkliche Nachhaltigkeitsagenda kann die Welt ge-rechter machen . Sie ist damit auch eine aktive Fluchtur-sachenbekämpfung und Konfliktprävention.Ich warne aber davor, so zu tun, als sei Deutschlandschon jetzt Nachhaltigkeitsweltmeister . Wir sind näm-lich weltspitze im Fleischverbrauch, in der Kohlever-stromung und im Kleidungsverbrauch, und wir sind inder Euro-Zone Meister in der sozialen Ungleichheit . Dasheißt, wir sind überhaupt nicht gut auf die Anforderun-gen der globalen Nachhaltigkeitsagenda vorbereitet .Weil es nicht schon wieder passieren darf, dass manvon der UNO am Wochenende nur feierliche Erklärun-gen hört und dass Minister Müller, dem ich es wirklichabnehme, dass diese 17 Ziele Herzensanliegen für unssind, nur gut gemeinte Worte spricht, haben wir Grünen-fraktion 17 Anträge zu den 17 Zielen erarbeitet und ge-zeigt, was zur Erreichung dieser Ziele für Deutschlandund für unsere Politik konkret notwendig ist . Wir habendiese 17 SDGs aus dem Elfenbeinturm herausgeholt, her-unterdekliniert und konkrete politische Handlungsanfor-derungen daraus gemacht:
für artgerechte Tierhaltung statt Massentierqual, fürWohlstand statt blindem Wachstum, für eine faire Han-delspolitik statt TTIP, für einen Stopp des Artensterbensstatt einer Überfischung der Weltmeere, für eine voraus-schauende Friedenspolitik statt Rüstungsexporten, füreine humanitäre Schutzverantwortung statt neuen Mau-ern, für eine globale Partnerschaft und für das 0,7-Pro-zent-Ziel, das endlich erreicht werden muss .
Frau Kollegin .
Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Ich komme zum Schluss, lieber Herr Präsident . – Wir er-
warten jetzt, dass wirklich jede und jeder von Ihnen ge-
nau das Gleiche tut, nämlich herunterdekliniert und sagt,
welche Verantwortung die 17 Ziele für jedes Ministerium
mit sich bringen . Dann muss es an die Umsetzung gehen .
Nur dann ist diese Politik kohärent, und nur dann ist es
glaubwürdig, dass auch diese Regierung die Fluchtursa-
chen bekämpfen will .
Vielen Dank .
Bärbel Kofler ist die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion .
Vizepräsidentin Claudia Roth
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Viele Vorredner sind auf das Thema
Flucht eingegangen, das uns alle berührt . Die Bilder, die
wir sehen, und die Situation, in der die Menschen dort
leben und die sie erleiden müssen, berühren uns, glaube
ich, alle – sowohl hier im Land als auch in Europa . Viele
Menschen müssen in den Flüchtlingslagern seit Jahren
unter wirklich schrecklichen Umständen existieren .
Das Entscheidende für dieses Wochenende und, ich
glaube, auch in dieser Debatte ist, dass wir uns dauer-
haft dafür einsetzen müssen, die Flucht von morgen zu
vermeiden .
Genau dazu dient der Nachhaltigkeitsgipfel, genau dazu
dienen die 17 Ziele . Es ist unsere Aufgabe, diese Ziele in
ganz konkrete Handlungsschritte und eine ganz konkrete
Politik zu übersetzen .
Ich versuche, das einmal an ein paar Beispielen deut-
lich zu machen:
Wir haben 17 Nachhaltigkeitsziele aufgeschrieben .
Dabei geht es ganz global um die Themen „Extreme
Armut abschaffen“, „Bildung und Gesundheit für Men-
schen“, „Menschenwürdige Arbeit“, „Die Grenzen des
Planeten respektieren und einhalten“ und – das ist neu –
„Die Bekämpfung von Ungleichheit auf diesem Plane-
ten“ . Das halte ich für eine ganz zentrale Aufgabe dieses
Prozesses, die mit den SDGs verbunden ist . Daran kön-
nen wir uns nämlich messen lassen, ob es uns gelingt, die
Armut wirklich nachhaltig zu bekämpfen .
Es geht also um das Ziel einer friedlichen, inklusiven
Gesellschaft, die Institutionen aufbaut – genau das ist in
den SDGs gefordert –, damit die Staaten ihren Menschen
all das bieten können . Was braucht man dazu als Staat?
Man braucht – das haben wir in den Haushaltsberatun-
gen erlebt – vernünftige Mittel und Einnahmen . Es geht
also auch um die Steuereinnahmen der Staaten und um
die Frage, wie wir Steuerflucht bzw. Steuerhinterziehung
verhindern können und welche Beiträge wir hier leisten,
damit Steuerhinterziehung den ärmsten Ländern der Erde
nicht die wirtschaftliche Grundlage für ihr Handeln ent-
zieht .
Weiter geht es darum, menschenwürdige Arbeitsbe-
dingungen – Ziel Nummer 8 der SDG-Agenda – umzu-
setzen . Es geht darum, dass Menschen, die hart arbeiten,
von dieser Arbeit leben können . Die ILO hat Anfang die-
ses Jahres Zahlen herausgebracht, die uns alle erschüt-
tern müssen . Fast 900 Millionen Menschen auf diesem
Planeten arbeiten Vollzeit und verdienen unter 2 Dollar
am Tag. Das entspricht der Definition für Armut bzw.
extreme Armut . Das kann nicht das sein, was wir auf
diesem Planeten befördern, um Menschen aus Armut zu
erlösen . Wir brauchen vernünftige Arbeitsbedingungen
und Mindeststandards . Ich betone es noch einmal: Wir
müssen sie in Handelsverträgen verankern, sonst sind sie
nur auf dem Papier beschlossen .
Wir müssen uns in den nächsten Wochen und Monaten
darum kümmern, dass gute Messzahlen, gute Indikato-
ren und gute Implementierungsmechanismen entwickelt
werden, damit wir all das, was an diesem Wochenende
richtigerweise in New York von der Staatengemeinschaft
beschlossen wird, auch wirklich in Handeln umgesetzt
wird .
Die Nachhaltigkeitsziele sind ambitioniert und auch
komplex . Nun ist es sicher schwierig, sie immer wieder
in der öffentlichen Debatte am Leben zu erhalten; aber
sie sind unverzichtbar . Sie sind die einzige Chance, wenn
wir Elend, wie wir es heute in vielen Bildern aus Flücht-
lingslagern sehen, in Zukunft vermeiden wollen .
Vielen Dank, Frau Kollegin . – Schönen Vormittag von
hier aus. Es gab gerade einen fliegenden Wechsel. Ich
grüße Sie recht herzlich, grüße auch die Gäste auf unse-
rer Tribüne und rufe die nächste Rednerin in der Debatte
auf: Kollegin Sabine Weiss für die CDU/CSU-Fraktion .
Verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnenund Kollegen! Meine Damen und Herren oben auf derTribüne! Wir haben es heute mehrfach gehört: „Fluchtur-sachen bekämpfen“ . Der Begriff ist in aller Munde . Fürdie Entwicklungspolitik allerdings sind weder dieser zu-gegebenermaßen etwas sperrige Begriff noch die Zielset-zung neu . Schon Bundesentwicklungsminister Sprangersah in den 90er-Jahren angesichts des damaligen Flücht-lingszustroms in der Entwicklungspolitik zu Recht ein
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zentrales Mittel, um Fluchtursachen entgegenzuwirken .Heute ist diese Zielsetzung der Entwicklungspolitikdrängender denn je .Wir konnten gerade noch aus dem Munde der Kanz-lerin hören, dass wir in den nächsten Jahren weiterhinmit einer deutlichen Erhöhung der Haushaltsansätze imEntwicklungsetat rechnen können . Dafür an dieser Stel-le – sicherlich im Namen aller Entwicklungspolitiker –herzlichen Dank .
Ich habe die Debatte heute verfolgt . Ein kurzes Wortzu den Kolleginnen und Kollegen insbesondere von denLinken, aber auch von den Grünen: Natürlich ist die Op-position zur Kritik verpflichtet. Das ist die natürliche Aufgabe der Opposition . Angesichts der vergangenenTage, Wochen und Monate sehe ich hier aber nieman-den – und erst recht nicht bei Ihnen –, der auch nur imAnsatz diese Leistung erbringen würde, die unsere Kanz-lerin und andere Mitglieder der Bundesregierung in derletzten Zeit erbracht haben und noch erbringen werden .
Klar ist: Fluchtursachenbekämpfung – das haben wirauch gehört – ist eine Gemeinschaftsaufgabe . Deshalb istes umso wichtiger geworden, dass die Vereinten Natio-nen am Ende der Woche durch ihre Staats- und Regie-rungschefs in New York die Nachhaltigkeitsagenda 2030beschließen werden. Ich finde, es ist ein hoffnungsvolles, ja vielleicht sogar in diesen Zeiten imposantes Zeichen,dass sich die Vereinten Nationen – das sind immerhin193 Länder – in einem drei Jahre andauernden Prozessauf 17 Ziele mit 169 Unterzielen geeinigt haben . Zusam-mengefasst ist dies ein grundlegendes Versprechen aufein menschenwürdiges Leben .Wichtig ist auch, dass alle Länder – dieses Mal ebenEntwicklungs-, Schwellen- und Industrieländer – in diePflicht genommen werden. Wichtig ist auch, dass alle Akteure, auch die Zivilgesellschaft, die Privatwirtschaftund die Wissenschaft, ins Boot genommen werden undden Kurs mitbestimmen können .Interessanterweise kommt im Katalog der 17 Ober-ziele und der 169 Unterziele das Wort „Flüchtling“ keineinziges Mal vor . Dabei hätte dieses Wort sicherlich beijedem einzelnen Unterziel auftauchen können . Alle Zieleund Maßnahmen, die die Lebensbedingungen der Men-schen nachhaltig verbessern, sind eben ein Beitrag zurFluchtursachenbekämpfung . Genau dies leistet unserEntwicklungsministerium seit seiner Gründung von 1961bis zum heutigen Tag . Ich möchte nicht wissen – DagmarWöhrl hat es letztens schon angesprochen –, wie unsereWelt aussähe, wenn diese Arbeit nicht seit 54 Jahren ge-macht worden wäre .Auch unser Bundesminister Dr . Müller hat diese Ziel-setzung der Entwicklungspolitik gerade durch seine Son-derinitiative zur Fluchtursachenbekämpfung frühzeitigins Zentrum der Aufmerksamkeit gestellt . Dafür gebührtunserem Minister ein herzlicher Dank .
Auf den Punkt gebracht: Die Umsetzung der Nachhaltig-keitsziele ist ein Schlüssel zur langfristigen Vorbeugungvon Flüchtlingskrisen .Erlauben Sie mir, kurz auf ein Ziel einzugehen, dasmir besonders am Herzen liegt, nämlich die Stärkungder Rechte von Frauen und Mädchen, damit Frauenund Mädchen in Zukunft selbstbestimmt leben können .Hierzu ein paar Aussagen zum aktuellen Zustand . In Ent-wicklungsländern zum Beispiel sind es überwiegend dieFrauen, 80 Prozent, die für die Produktion der Nahrungzuständig sind . Der Boden aber, auf dem die Nahrungproduziert wird, gehört überwiegend den Männern . Invielen Entwicklungsländern verdienen arbeitende Frau-en nur 60 bis 75 Prozent dessen, was arbeitende Männerbekommen .Entwicklungspolitik kann und muss künftig einenstärkeren Beitrag dazu leisten, diese Ungleichheiten ab-zubauen . Man könnte diese Liste unendlich lange fort-führen, aber die Zeit dafür ist heute leider nicht da . Ichwünsche mir, dass aus dem anlaufenden starken Mittel-zuwachs ein substanzieller Teil in unseren Bereich flie-ßen wird .Ein starkes Signal für die Verbesserung der Situationvon Frauen hat auch das Gipfeltreffen führender Frau-en aus 30 Ländern im Bundeskanzleramt letzte Wocheausgesandt . Das ist angesichts der derzeitigen Situationetwas untergegangen . Aber auch wegen solcher Initiati-ven mitten in arbeitsreichen Zeiten gilt mein besondererDank unserer Bundeskanzlerin für ihr Engagement in derEntwicklungspolitik .
Ab morgen – da bin ich sicher – wird sie beim New Yor-ker Gipfel wieder eine führende Stimme sein .Ich fasse zusammen: Die Agenda ist ambitioniert unddetailliert . Manche meinen, zu detailliert; andere ver-missen Punkte . Diese Kritik ist bekannt und dennochkurzsichtig . 193 Länder auf dieser Welt haben sich aufdiese Agenda geeinigt . Das ist beachtlich und ein Erfolg .Wir sollten diesen jetzt nicht zerreden . Es ist nun an uns,diese Agenda mit Leben zu erfüllen . Wie wichtig unddringend dies ist, erleben wir tagtäglich und immer mehr .Gehen wir es also an!Herzlichen Dank .
Vielen Dank, Kollegin Weiss . – Nächster Redner in
der Debatte: Carsten Träger für die SPD .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Wir haben heute und die letzten Tage undSabine Weiss
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Wochen viel über Krisen und Kriege, Flüchtlinge undFluchtursachen debattiert und auch darüber, wie wir die-se Herausforderungen stemmen können . All das ist rich-tig und wichtig .Trotzdem darf neben all dem eine wirklich gute Nach-richt nicht untergehen . Am Wochenende werden dieStaats- und Regierungschefs auf dem UN-Gipfel in NewYork 17 neue Ziele für eine nachhaltige Entwicklungverabschieden . Sie werden gewissermaßen den Weltzu-kunftsvertrag unterschreiben . Angesichts der schwereninternationalen Krisen ist es mehr als ein Lichtblick – esist fast ein kleines Wunder –, dass sich über 190 Staatender Welt auf diesen Zukunftsvertrag verständigen konn-ten .
Dafür herzlichen Dank an BundesumweltministerinBarbara Hendricks und an den Minister Gerd Müller, diedas auf deutscher Seite verantwortlich begleitet haben!In dem Vertrag verpflichten sich alle Staaten – das ist das Neue: alle Staaten, und damit auch der sogenanntereiche Norden – auf gemeinsame Entwicklungsziele .Alle Staaten heißt: auch unser Land. Damit ist es offizi-ell: Deutschland ist ein Entwicklungsland .Wir erkennen an, dass auch wir als hochindustrialisier-tes Land noch einen weiten Weg zu gehen haben . Längstnicht bei allen 17 Zielen sind wir vorbildlich . Eine Stu-die der Bertelsmann-Stiftung vergleicht den Stand derEntwicklung der 34 OECDStaaten . Insgesamt schneidetDeutschland mit Platz 6 sehr ordentlich ab, aber es lohntsich ein zweiter Blick, der ein differenzierteres Bild er-gibt .Während wir bei der Wirtschafts- und Beschäftigungs-förderung mit führend sind und auch unsere Umwelt-schutzanstrengungen ausdrücklich gelobt werden, ist derEinsatz von Stickstoff und Phosphor eine ernsthafte Be-drohung für die Nachhaltigkeit unserer Landwirtschaft .Auch bei der Bekämpfung der Luftverschmutzung durchFeinstaub kommen wir nicht entscheidend voran . Dassind nur zwei Punkte, die angepackt werden müssen, undzwar ressortübergreifend .Gegen Umweltschäden, die etwa eine überzogen in-tensive Landwirtschaft anrichtet, kann keine noch so en-gagierte Umweltministerin alleine erfolgreich angehen,und der angesprochene Feinstaub entsteht in erster Liniedurch die Abgase von Autos und Lkws . Das müssen wirangehen, und zwar alle gemeinsam .
Wir sind dafür gut aufgestellt: mit unserer nationalenNachhaltigkeitsstrategie und einer ganzen Reihe von In-stitutionen, die ihre Umsetzung begleiten, zum Beispielmit dem Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Ent-wicklung, um den uns viele Nationen beneiden .Wir sind in einer sehr guten Ausgangsposition . Nungilt es, die Nachhaltigkeitsstrategie im Lichte der Be-schlüsse von New York weiterzuentwickeln und vor al-lem anzupacken . Wir dürfen uns nicht zurücklehnen . Ichnenne nur die Stichworte Klimaschutz und Biodiversität .Mit einem Nachlassen drohen wir die Belastungsgrenzenunseres Planeten zu überschreiten .Sehr geehrte Damen und Herren, die heutige Debattehat gezeigt, wie umfassend die Herausforderungen sind –international und national –, und sie zeigt mit dem Nach-haltigkeitsgipfel nun einen Pfad auf . Ich bin überzeugt,dass wir mit der gemeinsamen internationalen Arbeit ander Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele zwei Ziele errei-chen können: Durch Verhandlungen finden Völker und Nationen friedlich zueinander, und ein ganzes Bündelvon Fluchtursachen wird langfristig minimiert .Es ist noch ein langer Weg, der vor uns liegt . Aber mitdem Weltzukunftsvertrag von New York erreichen wireinen historischen Meilenstein . Das ist die wirklich guteNachricht der heutigen Debatte .
Vielen Dank, Herr Kollege Träger . – Der letzte Red-
ner in dieser Debatte ist Jürgen Klimke für die CDU/
CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte der Bun-deskanzlerin noch einmal ein ausdrückliches Danke-schön dafür sagen, dass sie in dieser Debatte über dieNachhaltigkeitsziele gesprochen hat, einerseits deshalb,weil das ein gutes Signal für das Wochenende ist, undandererseits dafür, dass sie auch persönlich in New Yorkdabei sein wird . Wir waren mit dem Unterausschuss Ver-einte Nationen kürzlich in New York, und auch dort wares schon ein Thema, dass dies ein hervorragendes Signalist .Wir hatten in den vergangenen Monaten eine heterogeneDebatte zu der Tragfähigkeit der neuen Ziele . Für 2015gab es acht Ziele, von denen nur zwei oder drei, wennüberhaupt, richtig erreicht worden sind . Jetzt gibt es17 Ziele mit 169 Unterzielen . Das ist eine Herausforde-rung . Es geht auch nicht um einen Eckpunkt oder darum,das Ganze jetzt zu beenden, sondern um eine Roadmapbzw . eine Agenda für die nächsten Jahre . Es ist im Übri-gen unsere Agenda . Es ist nicht nur eine To-do-Liste fürdie Entwicklungszusammenarbeit, sondern wir müssenalle dahinterstehen . Wir alle müssen als Entwicklungs-politiker für eine kohärente Politikgestaltung sorgen,zum Beispiel auch in unseren Ministerien . Wir müssendie Verbände und die Wissenschaft, aber vor allem auchdie Privatwirtschaft und die Zivilgesellschaft einbezie-hen; das ist ganz wichtig . Denn wir wollen mit den neuenEntwicklungszielen nicht nur Armut und Krankheit be-kämpfen – „nur“ ist relativ zu verstehen –, sondern auchdie Globalisierung sozial und ökologisch nachhaltig ge-stalten und damit auch auf die akute Flüchtlingssituationreagieren .Carsten Träger
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Wir wollen auch den Bereich der Geber- und der Neh-merländer neu aufstellen . Wir wollen nicht mehr vonGebern und Empfängern, sondern von Partnerländernsprechen und damit der Eigenverantwortung aller Staa-ten für die eigene Entwicklung einen höheren Stellenwertgeben; das begrüßen wir ganz ausdrücklich . Gleichzeitigschreiben die neuen Ziele erstmals nachhaltige und glo-bale Entwicklungsvorhaben für alle Unterzeichner vor .Somit werden mit den neuen Zielen klare Erwartungenan die bisherigen Geberländer insbesondere in den Be-reichen Klimaschutz, Produktion und Konsumgewohn-heiten formuliert .Für die Erreichbarkeit und die Akzeptanz der Ent-wicklungsziele kommt es darauf an – ich möchte das be-tonen –, dass wir alle an einem Strang ziehen . Ob dies inder Breite möglich sein wird, wird man in den nächstenJahren sehen . Für den schnellen Erfolg im Verhandlungs-prozess war die Inflation von Zielen und Unterzielen zwar ein gutes Rezept . Aber in der Umsetzung muss sichdas erst beweisen .Deutschland ist eigentlich gut aufgestellt . Wir leistenmit unseren Entwicklungsprojekten bereits sehr inten-siv Hilfe vor Ort . Die Schaffung einer wirtschaftlichenGrundlage in den Entwicklungsländern ist ein wichtigesInstrument . Wer eine gute Arbeit in seiner Heimat hatund für seine Familie sorgen kann, wird sich nicht aufeine gefährliche und teure Flucht begeben . Wir müssenzusätzlich nachhaltige und langfristige Investitionen täti-gen, insbesondere im Bildungsbereich . Das duale Systemist ein Erfolgsschlager . Mit einer entsprechenden Koope-ration in den Entwicklungsländern sorgen wir dafür, dassMenschen eine berufsnahe Ausbildung bekommen unddamit für sich selbst Licht am Ende des Tunnels und eineZukunft sehen .Lassen Sie mich noch ein Beispiel zur Einbindung derPrivatwirtschaft nennen, die Corporate Social Respon-sibility, also die Unternehmensverantwortung . UnserePrivatwirtschaft soll künftig unter fairen Bedingungenin den Entwicklungsländern produzieren . Das von Mi-nister Müller initiierte Bündnis im Textilbereich ist eingutes Beispiel dafür; denn hier handelt es sich um eineKooperation von Partnerländern, nämlich des Entwick-lungslandes mit dem Land, aus dem das privatwirtschaft-liche Unternehmen stammt . Das Entwicklungsland hatdie Verantwortung, soziale Standards, beispielsweisevernünftige Arbeitsbedingungen für Frauen, zu schaffen .Zudem binden wir die Verbraucher in Deutschland ein .Erstens . Die Verbraucher sehen auf diese Weise, dass ihrGeld, das Entwicklungsgeld, gut angelegt ist und „un-ten“ ankommt . Zweitens können die Verbraucher, wennsie „social made“, also unter guten sozialen Bedingungenproduzierte Textilien kaufen, einen eigenen Beitrag dazuleisten – genauso wie bei Bio- und Fairtradeprodukten –,dass das soziale Engagement in den Entwicklungslän-dern honoriert wird . Dies ist also ein hervorragendesBeispiel für die Zusammenarbeit in den nächsten Jahren .
Lassen Sie mich einen anderen Punkt ansprechen .Wir haben an der Finanzierungskonferenz im Entwick-lungsbereich in Addis Abeba teilgenommen . Dort habenwir insbesondere von deutscher Seite besonders intensivneue Punkte angesprochen . Wir müssen funktionierendeSteuer- und Zollsysteme in den Entwicklungsländern vo-ranbringen . Es kann nicht sein, dass bei uns die öffentli-chen Einnahmen 30 Prozent des Bruttoinlandsproduktsausmachen, während es in den Entwicklungsländern inder Regel noch nicht einmal 10 Prozent sind . Nein, auchda müssen Steuern gezahlt werden . Dafür müssen ent-sprechende Systeme eingeführt werden . Zudem muss dieKorruption bekämpft werden; das ist in diesem Zusam-menhang ebenfalls ein wichtiger Punkt .
Meine Damen und Herren, wir sind gut aufgestellt .Deutschland hat in diesem Zusammenhang klare Be-kenntnisse und klare Maßnahmen formuliert . Außer-dem darf ich in Bezug auf Entwicklungsziele bis zumJahr 2030 sagen: Wir schaffen auch das .Danke sehr .
Vielen Dank, Kollege Klimke . – Damit schließe ichdie Aussprache .Der Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke aufDrucksache 18/6083 soll zur federführenden Beratungan den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeitund Entwicklung und zur Mitberatung an den Ausschussfür die Angelegenheiten der Europäischen Union, an denAusschuss für Ernährung und Landwirtschaft, an denAusschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe,an den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheit, an den Ausschuss für Wirtschaft undEnergie sowie an den Auswärtigen Ausschuss überwie-sen werden . Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall . Dann ist die Überweisung so beschlossen .Tagesordnungspunkte 3 b bis 3 r . Interfraktionellwird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksa-chen 18/6045 bis 18/6061 an die in der Tagesordnungaufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damiteinverstanden? – Das ist der Fall . Dann sind die Über-weisungen der 17 Anträge so beschlossen .Tagesordnungspunkt 3 s . Wir kommen zur Abstim-mung über die Beschlussempfehlung des Ausschussesfür Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem An-trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Ti-tel „Menschenrechte in der neuen Nachhaltigkeits- undEntwicklungsagenda der Vereinten Nationen stärken“ .Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/5451, den Antrag der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/5208 abzuleh-nen . Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlus-sempfehlung ist angenommen . Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD . Dagegen gestimmt haben Die Linke undBündnis 90/Die Grünen .Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b auf:Jürgen Klimke
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4 . a) Beratung des Antrags der Abgeordne-ten Jutta Krellmann, Klaus Ernst, SabineZimmermann , weiterer Abgeord-neter und der Fraktion Die LinkeKettenbefristungen abschaffenDrucksache 18/4098Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendb) Beratung der Beschlussempfehlung und desBerichts des Ausschusses für Arbeit und So-ziales zu dem Antrag derAbgeordneten Jutta Krellmann, Klaus Ernst,Matthias W . Birkwald, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion DIE LINKEDas unbefristete Arbeitsverhältnis zurRegel machenDrucksachen 18/1874, 18/2783Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 77 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-nen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .Der erste Redner in der Debatte ist für die Linke KlausErnst .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Dieses Thema steht durchaus im Zusammen-hang mit dem, was wir hier eben diskutiert haben, näm-lich „Zuwanderung in unser Land“ . Ich möchte all denenzustimmen, die in der vorherigen Debatte überfraktionelldarauf hingewiesen haben, dass die Menschen, die zu unskommen – als Flüchtlinge oder sonst wie –, keinesfallsals billige Reservearmee auf dem Arbeitsmarkt benutztwerden dürfen .
Das steht deshalb im Zusammenhang mit diesemTagesordnungspunkt, weil unser Arbeitsmarkt, wie Siealle wissen, in Unordnung gekommen ist . 2,7 MillionenMenschen in Deutschland haben nur noch einen befriste-ten Job . Ich kann mich erinnern: Es war einmal ganz nor-mal – auch ich habe einmal etwas Anständiges gelernt;viele andere hier ebenfalls –, dass man nach der Aus-bildung – Kollege Rützel weiß es – einen unbefristetenArbeitsplatz erhalten hat . Heute sind fast 50 Prozent derNeueinstellungen nur noch befristet . Davon sind über-wiegend Junge und Frauen betroffen . Der Arbeitsmarktist in Unordnung . Wir haben den Fakt hinzunehmen, dasswir heute dreimal so viel befristet Beschäftigte haben wievor 20 Jahren . Meine Damen und Herren, das alles istnicht hinzunehmen, und es ist dringend notwendig, dasswir das ändern .
Warum stellen die Unternehmen zunehmend nur nochbefristet ein? Die Antwort ist sehr einfach: Sie wollen denKündigungsschutz umgehen, und die befristete Beschäf-tigung ist eine Möglichkeit dazu, dass man letztendlichden Betriebsrat bei Kündigungen außen vor lässt, dassman das Kündigungsschutzgesetz bei Kündigungen au-ßen vor lässt und dass man den Betroffenen den Rechts-weg, gegen den Verlust des Arbeitsplatzes zu klagen,nimmt . Auch das ist ein entscheidender Grund dafür, dasswir sagen: Bei den Befristungen muss sich etwas ändern .
Für die Betroffenen bedeutet ein befristeter Job, nichtein normales Leben führen zu können . Wer die Verhält-nisse auf dem Wohnungsmarkt kennt, der weiß, dass oftder Vermieter einen Arbeitsvertrag vorgelegt haben will,dass ein Vermieter guckt: Der hat nur einen befristetenJob . – Wenn man von der Bank einen Kredit will, ist esoft viel schwieriger, einen solchen zu bekommen, wennman nur einen befristeten Job hat . Und: Wer gründet dennschon eine Familie, meine Damen und Herren, wenn ernicht weiß,
ob er in ein oder zwei Jahren, wenn sein Arbeitsvertragausläuft, einen neuen Arbeitsvertrag bekommt und ob erdie Kinder, die er in die Welt gesetzt hat, dann überhauptnoch ernähren kann? Deshalb sage ich Ihnen: Auch ausfamilienpolitischen Erwägungen ist die Abschaffungdessen, was wir zurzeit mit Befristungen erleben, ein Ge-bot der Stunde .
Die Regierungsparteien halten immer gern die Fahneder Tarifautonomie hoch . Richtig! Aber für die Tarifauto-nomie brauchen wir selbstbewusste, im Zweifelsfall auchstreikende Arbeitnehmer; sonst funktioniert Tarifautono-mie nicht . Das bedeutet, wir müssen uns überlegen: Wiewirkt denn eigentlich ein befristeter Job auf die, die imBetrieb die Tarifautonomie durchsetzen sollen, nämlichauf die Beschäftigten? Da sage ich Ihnen – das wissenSie im Grunde auch selber –, dass sich einer, der einenbefristeten Job hat, natürlich kaum traut, sich zu wehren,dass er kaum aufmuckt, wenn die Überstunden nicht be-zahlt werden, dass er sich kaum bereit erklärt, bei einemStreik mitzumachen, weil er damit rechnen muss, dass erdann seinen Vertrag nicht verlängert bekommt, dass erseinen Job verliert .Meine Damen und Herren, wenn wir wieder Ordnungauf den Arbeitsmarkt bringen wollen, muss die befriste-te Beschäftigung eine absolute Ausnahme bleiben . Ja,es gibt Gründe für Befristungen, die wir auch akzeptie-ren . Als Krankheitsvertretung möglicherweise kann manjemanden befristet einstellen, weil das nicht auf Dauerist . Das gilt auch bei Mutterschaftsvertretungen oder beiÄhnlichem, auch bei Auftragsspitzen, wenn sie tatsäch-lich begrenzt sind .Wir erleben zurzeit aber etwas ganz anderes . Wir wis-sen, dass es inzwischen eine ganze Reihe von Menschenin den Betrieben gibt, die immer nur am selben Arbeits-platz mit immer weiteren Befristungen beschäftigt wer-Vizepräsidentin Claudia Roth
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den . Das sind die Kettenarbeitsverträge . Es gibt nur ganzwenige Fälle, wo das sinnvoll sein kann . In der Regelist es nicht sinnvoll . Deshalb fordern wir auch: Kettenar-beitsverträge dürfen nicht zulässig sein .
Meine Damen und Herren, dass befristete Verträge ingroßer Zahl zur Übernahme in einen festen Job führen, istein Märchen . Vielmehr lässt sich feststellen: Je mehr Be-fristungen in einer Branche, desto weniger Übernahmengibt es . Ich will ein Beispiel bringen . 2012 wurden imBereich Erziehung und Unterricht 76 Prozent der Neu-eingestellten nur befristet eingestellt . Von denen wurdennur 18 Prozent auf einen festen Arbeitsplatz übernom-men, was bedeutet, dass die Arbeitgeber letztendlich dieSituation ausnutzen, die Möglichkeit der Befristung nut-zen, um Dauerarbeitsplätze, unbefristete Arbeitsplätzeabzubauen . Das müssen wir per Gesetz verhindern .
Wie kriegen wir wieder Ordnung auf dem Arbeits-markt hin?Erstens . Wir brauchen eine gesetzliche Regelung,dass befristete Beschäftigung nur dann zulässig ist, wennes dafür einen ganz besonderen sachlichen Grund gibt .Wenn es den Grund nicht gibt, darf auch nicht befristetbeschäftigt werden . – Erster Punkt .Zweiter Punkt . Wir müssen bei den Sachgründen gu-cken, ob wir tatsächlich akzeptieren, dass Erprobung einBefristungsgrund ist . Dafür gibt es andere Regelungenin Tarifverträgen und im Gesetz . Wir müssen auch denGrund „Befristung der Haushaltsmittel“ infrage stellen .Meine Damen und Herren, ich weiß, dass auch vieleSozialdemokraten und viele aus dem Arbeitnehmerflügel der CDU das so sehen . Insofern hätten wir hier die Mög-lichkeit, tatsächlich etwas Vernünftiges zu schaffen .Ein letzter Punkt – das brennt uns auf den Nägeln –ist die Kettenbefristung . Es kann nicht sein, dass immerwieder derselbe Arbeitsplatz in einem Betrieb mit einembefristet Beschäftigten besetzt wird . Das ist dann kein be-fristeter Job, sondern das ist dann ein Dauerarbeitsplatz .Deshalb müssen wir Kettenbefristungen verhindern .Machen Sie mit uns mit! Schaffen Sie Ordnung aufdem Arbeitsmarkt! Das nützt den Beschäftigten, dasnützt übrigens auch Ihren Wählern, und das nützt denMenschen, die hier zuwandern .Ich danke für die Aufmerksamkeit .
Vielen Dank, Klaus Ernst . – Nächster Redner in der
Debatte: Wilfried Oellers für die CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolle-ginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Wir beraten heute die Anträge der Fraktion DieLinke zum Befristungsrecht bei Arbeitsverträgen, in de-nen zum einen die Abschaffung der Kettenbefristungenund zum anderen das unbefristete Arbeitsverhältnis alsRegelfall gefordert wird .Die Überschriften dieser Anträge und die dazu ver-fassten Begründungen erwecken den Eindruck, dass dieGesamtsituation in Deutschland in dem Bereich der be-fristeten Arbeitsverträge in Schieflage geraten ist und ein gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht .
Schaut man sich die vom Statistischen Bundesamtermittelten aktuellen Zahlen an und vergleicht diese mitden Zahlen der Vorjahre, so stellt man fest, dass dieseSchieflage gar nicht besteht und ein gesetzgeberischer Handlungsbedarf mitnichten vorliegt .
Dabei sei zunächst erwähnt, dass bei der Bewertungder Gesamtsituation auf die Kernerwerbstätigen abzu-stellen ist, da hierbei die Erwerbstätigen erfasst werden,die sich nicht in Bildung, Ausbildung oder Freiwilligen-diensten befinden. Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Beschäftigungsverhältnisse nur auf Zeit angelegtsind . Bei deren Einbeziehung kann die Gesamtsituationnicht korrekt dargestellt werden .Schaut man sich also die Erhebungen des StatistischenBundesamtes für das Jahr 2014 an, so stellt man fest, dassvon den Kernerwerbstätigen im Alter von 15 bis 64 Jah-ren lediglich 6,9 Prozent befristet beschäftigt sind . Dasist der niedrigste Stand seit 2005 – dem Jahr, in dem diederzeitige, genauere Erhebungsmethode eingeführt wur-de .Zur Erläuterung . Bis einschließlich 2004 wurde vomStatistischen Bundesamt die Anzahl der befristeten Ar-beitsverträge lediglich in einer einzigen Woche, der so-genannten Berichtswoche, erfasst; seit 2005 erfolgt dieAuswertung über das ganze Jahr verteilt . Da durch diealte Methode die Zeiten im Jahr, in denen es aus saisona-len Gründen jeweils eine erhöhte Anzahl von befristetenArbeitsverträgen gibt, nicht korrekt erfasst wurden, mussman davon ausgehen, dass die Anzahl der befristetenArbeitsverträge vor 2005 zu niedrig ermittelt war . Dieszeigt auch beim Wechsel von 2004 auf 2005 der Sprungvon 7,1 auf auf einmal 8,6 Prozent .Geht man also davon aus, dass die Werte vor 2005 injedem Jahr um circa 1,5 Prozent zu niedrig ermittelt wur-den und die Quote in der Zeit von 1991 bis einschließlich2004 daher fälschlicherweise zwischen 6 und 8 Prozentlag, während sie eigentlich zwischen 7,5 und 9,5 Prozenthätte liegen müssen, kommt man zu dem Schluss: WirKlaus Ernst
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haben derzeit den geringsten Stand an befristeten Ar-beitsverhältnissen seit 1991 .
Ich spanne diesen Bogen deshalb bis 1991 zurück,weil die Fraktion Die Linke beide Anträge mit den Wor-ten einleitet, die Zahl der befristeten Arbeitsverträgebzw . der befristet Beschäftigten sei in den vergangenen20 Jahren deutlich gestiegen bzw . habe sich verdreifacht .Die dargestellten Zahlenbeispiele belegen aber eindeutig,dass diese Aussage einfach nur falsch ist .
Aufgrund der gewählten Formulierung werde ich persön-lich den Eindruck nicht los, dass Sie lediglich Panikma-che betreiben und die Realität einfach nicht wahrhabenwollen .Lassen Sie es mich auch in absoluten Zahlen ausdrü-cken: Nach den Zahlen des Statistischen Bundesamteshatten wir in 2014 insgesamt 34 000 befristete Arbeits-verhältnisse weniger als in 2005 – und das bei einemzwischenzeitlichen Anstieg auf 9,2 Prozent, auf den ichgleich noch eingehen werde .Diese Entwicklung kann man im Ergebnis nur alspositiv bezeichnen . Diese Zahlen verdeutlichen aucheindrucksvoll, dass die gewählte Überschrift des einenAntrags der Fraktion Die Linke unzutreffend ist . Denn eswird etwas gefordert, was schon existiert: Das unbefris-tete Arbeitsverhältnis ist bereits jetzt die Regel, und zwarnach der derzeitigen Rechtslage .
Damit fällt auch die gesamte Begründung Ihrer Anträ-ge in sich zusammen . Da das befristete Arbeitsverhältnis,wie oben geschildert, nur den Ausnahmefall darstellt,kann es seiner Bedeutung als Flexibilisierungsinstrumentin der Arbeitswelt eindrucksvoll nachkommen .Das wird auch durch folgenden Vergleich deutlich: In2005 lag die Quote noch bei 8,6 Prozent, und sie stiegin den Folgejahren mit einer leichten Wellenbewegungbis auf 9,2 Prozent im Jahr 2010 . In dieser wirtschaftlichschwierigen Zeit haben die Unternehmen im Rahmen vonNeueinstellungen vorsichtig agiert, was durchaus nach-vollziehbar ist . Seit 2010 zieht nicht nur die Wirtschaftwieder an und erreicht neue Rekordwerte, sondern sankauch die Befristungsquote stetig bis auf 6,9 Prozent in2014 . Das zeigt doch eindeutig, dass das Instrument derbefristeten Arbeitsverhältnisse in der derzeitigen Formunverzichtbar ist, um flexibel auf eine geänderte wirt-schaftliche Lage reagieren zu können . Man kann dochwirklich nichts dagegen haben, wenn in Krisenzeiten vondem Flexibilisierungsinstrument Befristung mehr Ge-brauch gemacht wird – das kann ja in besseren Zeitenwieder rückgängig gemacht werden –, um so Menschenin Arbeit zu halten . Gerade dafür ist es ja auch gedachtund da .Berücksichtigt man die geschilderte Entwicklung derbefristeten Arbeitsverhältnisse unter Berücksichtigungder jeweiligen wirtschaftlichen Gesamtsituation, sokommt man zu dem Ergebnis, dass die Unternehmen mitdem Flexibilisierungsinstrument in der derzeitigen Formbisher verantwortungsvoll umgegangen sind . Mit dieserFeststellung kann ich natürlich nicht ausschließen, dassin Einzelfällen Missbrauch getrieben worden ist bzw . ge-trieben wird . Diese Fälle sind aber mit der derzeitigenRechtslage lösbar . Hierzu gilt es jedoch, die Gerichteanzurufen . Einzelne Missbrauchsfälle dürfen in meinenAugen nicht dazu führen, dass gesetzliche Regelungenverschärft werden; denn damit verhindert man nicht dieMissbrauchsfälle . Man verhindert sie nur dadurch, dasssie gerichtlich geklärt und sanktioniert werden .Mit einer Verschärfung trifft man zuallererst diejeni-gen, die sich redlich verhalten, und schränkt diese weiterein, da sie die neue Gesetzeslage umsetzen werden . Eskann aber nicht das Ziel sein, den Großteil der Unter-nehmen, die redlich handeln, durch schärfere Regelun-gen zu bestrafen . Das ist auch nicht nötig . Zum Beispielgibt es zu der Thematik Kettenbefristungen – Herr Ernst,Sie sprachen es an – eine umfangreiche Rechtsprechung,die sehr einzelfallbezogen ist . Bisher hat die Rechtspre-chung stets gerechte und vertretbare Entscheidungen ge-troffen, auch wenn hierzu das eine oder andere Mal derInstanzenzug voll ausgeschöpft werden musste . Damit isteventuell vorliegender Missbrauch sanktioniert worden,sodass sich die gegenwärtigen gesetzlichen Regelungenbestätigt haben . Auch angesichts der pauschalen und we-nig substanziierten Antragsbegründung meine ich: Esgibt keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf .Neben der bereits geschilderten Flexibilisierungs-funktion erfüllt die Befristung noch eine weitere Funkti-on sehr deutlich: Die Befristung dient als Brücke in denArbeitsmarkt .
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
-bemerkung des Kollegen Ernst?
Ja .
Gut .
Herr Oellers, ich habe Ihnen lange zugehört, auch Ih-ren statistischen Ausführungen . Ich möchte Ihnen einigeganz konkrete Fragen stellen: Ist es aus Ihrer Sicht in Ord-nung, dass es nach der gegenwärtigen Rechtslage mög-lich ist, am selben Arbeitsplatz – am selben Arbeitsplatz;möglicherweise bis zu zwei Jahre lang – einen Menschenbefristet zu beschäftigen? Halten Sie es für akzeptabel,dass dieser Mensch nicht nur im selben Unternehmen,sondern auch von einem Unternehmen zum anderen im-Wilfried Oellers
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mer nur einen befristeten Job hat, wie es in meiner Re-gion übrigens üblich ist, und sich damit nie selber einevernünftige Existenz aufbauen kann, weil er nie wirklichweiß, ob er eigentlich in zwei Jahren noch einen Job hat?Halten Sie es für richtig, dass inzwischen die Betriebs-räte, wie wir wissen, in den Betrieben darum kämpfenmüssen, über Tarifverträge bzw . tarifvertragliche oderbetriebliche Vereinbarungen sicherzustellen, dass ihreAuszubildenden dort beschäftigt und übernommen wer-den? Das ist alles nach der gegenwärtigen Rechtslagemöglich . Jetzt möchte ich von Ihnen eigentlich nur eineganz einfache Antwort – ohne Statistik –: Halten Sie dasfür okay, oder sind Sie bereit, mit uns daran mitzuwirken,dass wir diesen Unfug beenden?
Herr Kollege Ernst, an der Stelle muss ich doch ein-mal sagen: Wenn Ihre Einbringungen und Darstellungenimmer so substanziiert wären,
wie sie emotional begleitet werden, dann wäre, glaubeich, schon vielen geholfen . Sie selber haben die Anfragegestellt; ich berufe mich auf die Zahlen, die Sie in derAntwort auf Ihre eigene Anfrage erhalten haben . Merk-würdigerweise haben Sie diese Zahlen in Ihrer Rede garnicht erwähnt .Ich habe gerade auch deutlich gemacht, dass es sicher-lich Fälle gibt, die man sich genau anschauen muss .
– Herr Ernst, das sind aber auch Einzelfälle . Die mussman sich anschauen . Ich bin bei der derzeitigen recht-lichen Lage davon überzeugt – das Beispiel Kettenar-beitsverträge zeigt das auch; schauen Sie sich einmal dieRechtsprechung an; es ging bis zum Europäischen Ge-richtshof –: Die Rechtsprechung ist in der Lage, Miss-brauch zu vermeiden . Nur, dann muss man es auch klä-ren . Man kann nicht immer sagen: Wir wollen schärferegesetzliche Regelungen haben – ich habe alles das, wasich jetzt wiederhole, gerade erwähnt –, um den Miss-brauch in Einzelfällen einzudämmen . – Damit werdenSie der Gesamtsituation nicht gerecht . Missbrauch möch-te ich auch nicht; das möchte keiner . Aber Sie werden esin allen gesetzlichen Lagen nicht erreichen, dass Sie kei-nen Missbrauch haben . Den werden Sie immer irgend-wo haben . Nur, diesen Leuten müssen Sie auf die Spurkommen und sie entsprechend gerichtlich sanktionieren .Dafür sind die Gerichte auch da .
Das müssen Sie einmal zur Kenntnis nehmen . Wie ge-sagt, ich sehe keinen gesetzgeberischen Handlungsbe-darf . Die Zahlen, die ich gerade dargelegt habe, zeigendas eindrucksvoll .
Ich darf dann fortfahren . Ich war bei der Brückenfunk-tion am Arbeitsmarkt . Herr Ernst hat dazu auch schonZahlen genannt; ich kann diese Zahlen nicht bestätigen .
– Das sind die Zahlen aus der Anfrage, die Sie gestellthaben .Bei weniger als 43 Prozent befristete Neueinstellun-gen im Jahr 2014 lag die Übernahmequote bei 58 Pro-zent . Diese Zahl haben Sie nicht erwähnt, Sie nannteneine andere . Sie ist eindeutig nachgewiesen . Wenn manberücksichtigt, dass der Anteil der befristeten Neuein-stellungen 2005 etwa bei 40 Prozent lag und damit nurmarginal geringer war, aber eine Übernahmequote vonlediglich 39 Prozent vorhanden war, wird man eindeutigsehen, dass wir auf einem positiven Weg sind .Betrachtet man darüber hinaus die Entwicklung derbefristeten Arbeitsverträge in den jeweiligen Altersgrup-pen, so stellt man fest, dass mit steigendem Alter der An-teil der befristeten Arbeitsverhältnisse stetig sinkt . – IhreAnfrage, Ihre Zahlen .
Liegt der Anteil in der Altersgruppe von 15 bis 24 Jah-ren noch bei 21 Prozent, so sinkt er über die folgendenAltersgruppen bis hin zur Altersgruppe von 55 bis 64 auf3,7 Prozent . Beide Zahlenbeispiele zeigen deutlich, dassdie Befristung eine Hilfe für die Menschen ist, in Arbeitzu kommen .
Sie werden zunächst befristet eingestellt und zum größ-ten Teil anschließend unbefristet weiterbeschäftigt . Da-mit erfüllt die Befristung in der derzeitigen Form ihreBrückenfunktion zum Wohle der Menschen in bemer-kenswerter Weise und ist mit ursächlich für die niedrigeArbeitslosigkeit . Genau das ist das Ziel, und das wirdauch erreicht .
Ergänzend sei noch auf Folgendes hingewiesen: Mitden oben genannten Werten liegt Deutschland im europä-ischen Vergleich unter dem Durchschnitt; das sollte manauch einmal heranziehen . Dies zeigt wiederum, wie sorg-sam die deutschen Unternehmer mit diesem Instrumentumgehen . Darüber hinaus liegt die Befristungsquote inder öffentlichen Verwaltung höher als im verarbeitendenGewerbe . Weiter ist auch zu berücksichtigen, dass ein be-trächtlicher Teil der befristeten Arbeitsverträge im hoch-qualifizierten Bereich zu finden ist, zum Beispiel auch im Rahmen von Projektarbeiten .Wie bereits erwähnt: Mit all dem Gesagten möchte ichnicht ausschließen, dass es einzelne Fälle gibt, wo Miss-brauch getrieben wird . Aber hiervor kann man in keinemrechtlichen Gebiet sicher sein . Sollte ein Missbrauchfestgestellt werden, so muss er gerichtlich sanktioniertwerden; das steht außer Frage . Aber aufgrund solcherKlaus Ernst
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Einzelfälle darf man nicht die gesamte derzeitige erfolg-reiche Rechtslage infrage stellen .
Befristete Arbeitsverhältnisse sind ein zentrales undwichtiges Arbeitsmarktinstrument . Sie leisten einenwichtigen Beitrag zur Flexibilität der Gesamtwirtschaft,bauen Einstellungshürden ab und erhöhen die Jobchan-cen . All dies kommt der Allgemeinheit, aber vor allemdem einzelnen Menschen zugute . Ziel muss es sein,Menschen in Arbeit zu bringen, natürlich am liebsten so-fort unbefristet . Die Befristung trägt jedoch in ihrer der-zeitigen Form einen erheblichen Teil dazu bei, dass dasZiel eines unbefristeten Arbeitsvertrages erreicht wird .Eine Gesetzesänderung ist daher nicht erforderlich . Dasändert sich auch nicht durch das Haareraufen von FrauKrellmann .Vielen Dank .
Vielen Dank, Herr Kollege Oellers . – Nächste Redne-rin: Beate Müller-Gemmeke von den Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Die Betriebe brauchen natürlich eingewisses Maß an Flexibilität – das steht außer Frage –,aber das Bedürfnis der Beschäftigten nach Sicherheit undPerspektiven muss ebenso berücksichtigt werden . Genaudiese Balance stimmt für viele Beschäftigte nicht mehr,wenn es um Befristungen oder Leiharbeit geht . Darüberhaben wir schon häufig debattiert, aber passiert ist nichts: Wir warten noch immer auf den Gesetzentwurf zur Leih-arbeit, und bei den Befristungen stellen Sie von der Uni-on auf Durchzug . Die fehlende Balance können Sie nichtweiter ignorieren; Sie müssen sie endlich ernst nehmen .Herr Oellers, es geht nicht nur um Zahlen . Hinter jederZahl stehen Menschen .
Heute geht es wieder einmal konkret um die Befris-tungen, und die sind und bleiben ein Problem . Auch dieFakten sind längst bekannt: Befristet Beschäftigte sindstärker von Arbeitslosigkeit bedroht . Sie machen sichmehr Sorgen über Krankheit und über Armut im Alter .Lebens- und Familienplanung ist nur begrenzt möglich .Wer eine befristete Stelle hat, verdient häufig weniger und hat auch kaum Chancen auf Weiterbildung oder Kar-riere und Aufstiegsmöglichkeiten . Wie oft müssen wirdas eigentlich noch – wie auf einer steckengebliebenenSchallplatte – wiederholen? Wann nehmen Sie das end-lich zur Kenntnis?Wir Grünen wollen die fehlende Balance wiederher-stellen . Deshalb wollen auch wir die sachgrundlose Be-fristung abschaffen . Im Detail sind wir an manchen Stel-len anderer Meinung als die Linke – das ist bekannt –,aber die Richtung stimmt . Deshalb werden wir heute demAntrag zustimmen .
Damit sind aber nicht alle Verwerfungen aufgehoben;denn manche Arbeitgeber missbrauchen auch die Mög-lichkeiten der Befristung mit sachlichem Grund . Siesetzen auf Kettenverträge, und darunter leiden die Men-schen ganz besonders . Die Beschäftigten wissen manch-mal erst zwei bis drei Wochen vor Vertragsende, wie esweitergeht . Sie leben in einer permanenten Unsicherheit .Sie haben aber die Gewissheit, dass sie jederzeit plötzlichauf der Straße stehen können . Das bedeutet Stillstand imLeben der Betroffenen . Sie haben keinerlei Zukunftsper-spektiven, und das geht gar nicht .
Und doch gibt es genügend Beispiele dafür, dass Be-schäftigte über Jahre die gleiche Tätigkeit, zum Teil so-gar am gleichen Arbeitsplatz, ausüben, und zwar immerbefristet . Bei der Deutschen Post AG gab es mal wiederden krassesten Missbrauch: 17 Jahre und 88 Arbeitsver-träge für eine Postbotin – und nach einer Krankheit wardann Schluss . Das ist nicht akzeptabel .
Das ist rechtsmissbräuchlich, und das sieht die Recht-sprechung mittlerweile auch so . Die Beschäftigten kön-nen also klagen und feststellen lassen, ob es überhaupteinen Befristungsgrund gibt, und, wenn nein, entsteht einunbefristetes Arbeitsverhältnis .Herr Oellers, Sie sagen: Es gibt diese Gerichtsurtei-le, und das reicht aus . – Nein, sage ich, natürlich nicht!Denn das ist ein steiniger Weg, und viele Beschäftigteschrecken davor zurück . Vor allem darf sich Politik nichtso aus der Verantwortung stehlen . Das wäre ein Armuts-zeugnis . Der Schutz vor Kettenverträgen ist nicht Aufga-be der Richter, sondern Aufgabe der Politik .
Die Linke schlägt nun vor, dass eine Befristung mitsachlichem Grund nur zweimal zulässig sein soll . Ich binmir nicht sicher, ob es nicht doch immer wieder beson-dere Konstellationen geben kann, in denen diese zweiBefristungen zu wenig sind . Das wäre dann eventuellzum Nachteil der betroffenen Beschäftigten . Vor allemliegt bei mir aktuell eine Petition auf dem Tisch: In einemKonzern mit zwölf eigenständigen Gesellschaften gibt esKettenverträge, das heißt, da werden die Beschäftigtenimmer weitergereicht . Mit der vorgeschlagenen Rege-lung könnte dort eine Person 24 befristete Arbeitsver-träge erhalten . Der Vorschlag verhindert also den Miss-brauch in Konzernen eher nicht .Sie merken: Ich bin noch unsicher . Deshalb werdenwir den Antrag der Linken bei uns in der Fraktion nocheinmal intensiv beraten . Wir werden auch im Ausschuss,Wilfried Oellers
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hoffentlich in einer Anhörung mit Expertinnen und Ex-perten, darüber diskutieren .Mein Fazit heute ist: Ja, wir brauchen Regelungen,aber sie müssen gut überlegt sein .
– „Wir brauchen Regelungen“, habe ich gesagt .
Eines ist mir noch wichtig . Es gibt viele Betriebe, diemit der Möglichkeit der Befristung verantwortungsvollumgehen . Neue Regelungen sind nur notwendig, weilmanche Unternehmen jeglichen Anstand verloren habenund alle Gesetze dehnen und ausnutzen, immer zum eige-nen Vorteil und ohne jegliche Empathie für die Beschäf-tigten . Auch eine neue gesetzliche Regelung wird dieseUnternehmen wenig beeindrucken . Sie werden weiterhinZeitverträge abschließen, dann halt mit immer neuenPersonen. Sie werden wieder neue Schlupflöcher suchen und nutzen . Gesellschaftliche Verantwortung ist für sieein Fremdwort . Ich meine, das darf niemand in diesemHaus akzeptieren . Deshalb erwarte ich, dass auch Sie, dieRegierungsfraktionen, etwas gegen diese Kettenverträgeunternehmen; denn die Menschen leben nicht, um zu ar-beiten, sondern sie arbeiten, um gut zu leben .Vielen Dank .
Vielen Dank, Kollegin Müller-Gemmeke . – Nächste
Rednerin für die SPD: Gabriele Hiller-Ohm .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren, auch aufden Zuschauertribünen! Liebe Kolleginnen und Kollegender Linken! Bei Ihren vorliegenden Anträgen fühle ichmich an einen Song von Cindy & Bert erinnert,
den Sie sicherlich alle noch kennen werden:
Immer wieder sonntags kommt die Erinnerung .
Nun ist heute nicht Sonntag, aber Ihr Ziel, liebe Kolle-ginnen und Kollegen von der Linken, scheint es zu sein,mit ständig ähnlichen Anträgen zum selben Thema einenOhrwurm zu kreieren .
Wir schließen heute einen Antrag zu befristeten Ar-beitsverhältnissen ab, und, schwupp, Herr Ernst, liegt unsschon der nächste in erster Lesung vor .
So machen Sie es seit mehr als einem Jahr . Wir disku-tieren immer wieder über dasselbe Thema – im Plenum,in den Ausschüssen . Alle Argumente sind bereits ausge-tauscht
und die Positionen der einzelnen Fraktionen klar .Ihr neuer Antrag trägt nun den Titel „Kettenbefristun-gen abschaffen“ .
Das werden wir heute leider nicht hinbekommen, abermöglicherweise würde es eine Zustimmung geben zu derForderung „Kettenanträge abschaffen“ .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle kennen dieFakten . Sie haben sich seit der letzten Debatte wenigverändert: Knapp die Hälfte der Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer wird heute nur noch befristet eingestellt .Jüngere Menschen und Frauen sind davon besondersbetroffen. Sehr häufig geschieht diese Befristung sogar ohne jegliche sachliche Begründung . Die Beschäftigtenwissen oft bis zum letzten Arbeitstag nicht, ob es für sieim Betrieb weitergeht oder ob sie auf der Straße landenwerden. Das ist unwürdig. Das finden wir falsch.
Deshalb stimmen wir Sozialdemokratinnen und Sozial-demokraten dem grundsätzlichen Ziel der vorliegendenAnträge der Linken, die Befristungsregelungen zu verän-dern, inhaltlich durchaus zu .
Weil das so ist, haben wir in der letzten Legislaturperio-de, bereits im Mai 2010,
Beate Müller-Gemmeke
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genau zu diesem Thema einen Antrag vorgelegt mit demTitel „Langfristige Perspektive statt sachgrundlose Be-fristung“ .
Das war übrigens deutlich vor den Initiativen der Lin-ken und der Grünen . Sie sehen daran: Das Thema ist unswichtig .
Deshalb haben wir es auch in unserem Wahlprogrammverankert . Ich zitiere:Die Möglichkeit der sachgrundlosen Befristung vonArbeitsverträgen wollen wir abschaffen,
den Katalog möglicher Befristungsgründe überprü-fen .Liebe Kolleginnen und Kollegen, das gilt nach wievor . Das ist die SPD-Position .
– Das möchte ich Ihnen gerne beantworten .In einer Koalition ist es leider nicht möglich, alleWünsche und Forderungen eins zu eins umzusetzen .Man ist zu Kompromissen verdonnert . An dieser Stellemussten wir in den sauren Apfel beißen . Wir haben dasgetan, weil es zum Glück Licht am Ende des Befristungs-tunnels gibt . Befristete Verträge sind wegen der gutenKonjunktur rückläufig.
Trotzdem sind Befristungen für viele Beschäftigte nachwie vor meist Mist .Zu welchen Extremen Befristungen führen können,haben wir hier schon mehrfach debattiert . Da haben wirdie Postbotin mit sage und schreibe 88 befristeten Ver-trägen in 17 Jahren . Solche Kettenbefristungen sind mitSachgründen – beispielsweise Elternzeit oder Krank-heitsvertretung – also durchaus möglich . Richtig und nö-tig ist so etwas aber auf gar keinen Fall, schon gar nichtin großen Unternehmen wie bei der Post .
Deshalb sollten Befristungsgründe enger gefasst werden,um gegen Missbrauch besser vorgehen zu können .Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken und auchder Grünen, es lohnt ein differenzierter Blick auf dieZahlen . Es ist schließlich nicht so, dass wir in Deutsch-land nur noch befristete Arbeitsverhältnisse hätten .
Je nach Quelle und Berechnungsmethode sind dies 8 bis10 Prozent . Das heißt im Umkehrschluss: Über 90 Pro-zent der Beschäftigten haben ein unbefristetes Arbeits-verhältnis .Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, der TitelIhres Antrags – „Das unbefristete Arbeitsverhältnis zurRegel machen“ – ist also Gott sei Dank zu über 90 Pro-zent Realität in Deutschland .
Zum Glück nähern wir uns immer weiter den 100 Pro-zent an . Sie können das nachlesen in einer Pressemittei-lung vom 21 . August, die das Statistische Bundesamt he-rausgegeben hat . Sie lautet: „Normalarbeitsverhältnissenehmen an Bedeutung zu .“ Dies belegt auch die Antwortder Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Linkenvom 20 . August dieses Jahres . Daraus geht hervor, dassdie Zahl der Übernahmen aus befristeter Beschäftigungin unbefristete Arbeitsverhältnisse steigt . Gott sei Dank .Trotzdem würden wir Sozialdemokraten und Sozial-demokratinnen die sachgrundlose Befristung gerne ab-schaffen und die Auswüchse bei befristeten Verträgenmit Sachgrund angehen . Leider sind uns hierbei jedochzurzeit die Hände gebunden .
Deshalb, meine Kolleginnen und Kollegen von der Lin-ken, werden wir Ihren Initiativen auch nicht zustimmen .Nun bedeutet eine Koalition zum Glück nicht Still-stand auf Teufel komm raus . Deshalb gibt es im Hinblickauf die Befristungen zumindest im Wissenschaftsbereichdurchaus Bewegung in unserer derzeitigen politischenLebensabschnittspartnerschaft mit der CDU/CSU . Wirkonnten das Vorgehen gegen den Befristungsmissbrauchin der Wissenschaft im Koalitionsvertrag verankern .Diese Vereinbarung lösen wir jetzt ein . Kürzlich hat dasBundeskabinett den Gesetzentwurf für die geplante Re-form des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes auf den Weggebracht . Was für ein Wort! Damit werden wir für besse-re Arbeitsbedingungen im Wissenschaftsbereich sorgen .Hier arbeiten weit über eine halbe Million Menschen,und leider sind befristete Verträge in diesem Bereichgang und gäbe .Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von derLinken, Sie sehen, wir reden nicht nur, nein, wir setzenSchritt für Schritt Verbesserungen für die Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer in unserem Land um . Wasfür ein Kraftakt war die Einführung des gesetzlichenMindestlohns!
Gabriele Hiller-Ohm
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Ja, wir haben es geschafft . Es gibt ihn wirklich, und dasschon seit neun Monaten . 4 Millionen Menschen habendadurch mehr Geld in der Tasche .
Wir wollen endlich Frauen in den Führungsetagen undin den Aufsichtsräten sehen . Dafür haben wir die Quotedurchgesetzt .So wird es weitergehen . Dafür nur zwei Beispiele: Wirwerden den Weg frei machen und gerechte Löhne für dievielen fleißigen und gut qualifizierten Frauen in unserem Land durchboxen .
Wir machen Schluss mit Ausbeutung durch Werkverträ-ge und Leiharbeit .
Frau Kollegin, „Schluss machen“ war ein gutes Stich-
wort, weil Ihre Redezeit abgelaufen ist .
Wir freuen uns auf Ihre Unterstützung .
Danke schön .
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Uwe Lagosky, CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Esstimmt: In den vergangenen 20 Jahren nahm die Zahlbefristeter Arbeitsverträge, absolut betrachtet, zu . Lautaktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes – wirhaben es schon gehört – ist diese Zahl in den letzten vierJahren allerdings gesunken . Von den Arbeitnehmern ab25 Jahren – das ist die Datenbasis – waren 2011 8,9 Pro-zent befristet beschäftigt . Diese Zahl sank auf 8,1 Pro-zent im Jahr 2014 .Bereits in der Anhörung zur sachgrundlosen Befris-tung am 17 . März 2014 stellte der Sachverständige desInstituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bun-desagentur für Arbeit fest:Insgesamt kann man feststellen, dass befristete Ar-beitsverträge durchaus in ihrer Bedeutung zuge-nommen haben . Wenn man den Zeitraum zwischen2001 und 2011 betrachtet – von 1,7 auf 2,7 Millio-nen . Befristungen sind also eine relevante Größe aufdem deutschen Arbeitsmarkt .Wenn man sich die Neueinstellungen ansieht, dannsieht man, dass mittlerweile etwa 42 Prozent allerNeueinstellungen auf Basis eines befristeten Ar-beitsvertrages erfolgen . Befristungen sind somit einwichtiges Instrument, wenn es um die Beschäfti-gungsanpassung der Betriebe geht .In der Folge sagte er:Die Entwicklung der befristeten Arbeitsverträgeist sozusagen kein naturwüchsiger Prozess – wirwerden immer flexibler –, sondern es kann durchaus sein, dass auch ohne weitere Eingriffe in die Gesetz-gebung die Anzahl der befristeten Arbeitsverträgeeher zurückgeht .Das war 2014, und recht hatte er, wie die Zahlen des Sta-tistischen Bundesamtes zeigen .Die Linke möchte nun, dass der Deutsche Bundestagfeststellt, dass dies ein „hochproblematischer Zustand“sei, der „dringend gesetzgeberisches Handeln erfordert“ .Das steht in Ihrem Antrag . Hochproblematisch ist, wieich finde, nur eines: der stete Reflex der Linken, in glei-cher Sache immer wieder gesetzgeberisch tätig werdenzu wollen . – Nutzen Sie daher gerne die heutige Debatteganz im Sinne von Konrad Adenauer, der sagte:Man braucht nicht immer denselben Standpunkt zuvertreten, denn niemand kann einen daran hindern,klüger zu werden .
Mit dem Teilzeit- und Befristungsgesetz sind gute Lö-sungen sowohl für Arbeitnehmer als auch für Arbeitge-ber vorhanden .Die Befristung eines Arbeitsvertrages ist zulässig,wenn sie durch einen sachlichen Grund gerechtfer-tigt ist . Ein sachlicher Grund liegt insbesondere vor,wenn1 . der betriebliche Bedarf an der Arbeitsleistungnur vorübergehend besteht,2 . die Befristung im Anschluss an eine Ausbil-dung oder ein Studium erfolgt, um den Über-gang des Arbeitnehmers in eine Anschlussbe-schäftigung zu erleichtern,3 . der Arbeitnehmer zur Vertretung eines anderenArbeitnehmers beschäftigt wird . . .Es gibt noch andere Gründe; das sind auszugsweisenur drei .Ebenfalls im Teilzeit- und Befristungsgesetz ist diesachgrundlose Befristung geregelt . Danach dürfen Ar-beitsverträge, die bis zu einer Dauer von zwei Jahrenabgeschlossen werden, in dieser Zeit dreimal verlängertwerden . Sachgrundlose Befristung ist nicht zulässig,wenn mit demselben Arbeitgeber zuvor ein befristetesoder unbefristetes Arbeitsverhältnis bestanden hat . DieRegelungen für die sachgrundlose Befristung sind imJahr 2000 angepasst worden, um zu verhindern, dass eszu weiteren Kettenbefristungen kommt .Für die 2,7 Millionen Arbeitslosen – im Übrigen122 000 weniger als im Vorjahr – sowie für Berufsein-steiger sehe ich in befristeten Arbeitsverhältnissen daherGabriele Hiller-Ohm
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auch die Chance, in unbefristete Beschäftigungsverhält-nisse zu kommen . Stichwort „Beschäftigungsverhält-nisse“: Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass unbefristeteArbeitsverhältnisse wieder die Regel werden müssen; dieKollegin hat das gerade auch gesagt . Das hat mich stutziggemacht . Denn mit einem Anteil von 92,6 Prozent sindunbefristete Arbeitsverträge die Regel .Nehmen Sie in diesem Zusammenhang bitte noch fol-gende gute Nachricht auf: Wir haben auf dem deutschenArbeitsmarkt 42,8 Millionen Beschäftigte . Das ist diehöchste Zahl in der Nachkriegsgeschichte . Auch die Zahlvon aktuell 30,5 Millionen sozialversicherungspflichti-gen Beschäftigten ist die höchste Zahl in der Nachkriegs-geschichte .
Während meiner Zeit als Betriebsrat habe ich unter-schiedliche Gründe für Befristungen erlebt . Zwischen2001 und 2007 in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit und ei-ner unklaren Wirtschaftslage hatten wir im Betrieb be-fristete Arbeitsverhältnisse . Dies wurde damit begründet,dass vor dem Hintergrund noch anstehender notwendigerProzessvereinfachungen und Automatisierungen – diesestanden tatsächlich an – keine Festeinstellungen im Be-trieb erfolgen sollten . Das war keineswegs schön . Dochwenn bei allen Beteiligten Klarheit darüber herrscht, istdies schon ein probates Mittel für ein Unternehmen, umnicht in wirtschaftliche Schieflage zu geraten oder auch die Stammbelegschaft zu entlasten . Klarheit in diesemZusammenhang bedeutet, dass wir den befristeten Be-schäftigten zu dieser Zeit gemeinsam mit dem Arbeit-geber gesagt haben: Eine Anschlussbeschäftigung kannes für euch nicht geben, insofern bewerbt euch in diesenzwei Jahren auch auf eine Dauerbeschäftigung bei ande-ren Arbeitgebern . – Es ist allerdings am Ende so gewe-sen, dass diese befristet Beschäftigten bei uns gebliebensind . Das zeigt mir auch, dass die Alternative die Arbeits-losigkeit gewesen wäre .
Angesichts der demografischen Entwicklung in Deutschland hätte man ja davon ausgehen können, dassbefristete Beschäftigungsverhältnisse in ihrer Zahl zu-rückgehen . Allerdings haben wir mit dem aktuellen Zu-strom an Flüchtlingen nach Deutschland – die Regierungrechnet im Jahr 2015 mit 800 000 – eine neue Variableauf dem Arbeitsmarkt, von der wir wissen, dass sie unsvor erhebliche Herausforderungen stellt . Daher ist esumso wichtiger, dass wir uns flexible Arbeitsmarktinst-rumente erhalten . Ich denke, in diesem Zusammenhangsollten die Möglichkeiten, die sich aus dem Teilzeit- undBefristungsgesetz ergeben, von Arbeitgebern zukünftigmehr genutzt werden .Aber noch einmal: Befristungen stellen für mich eineBrückenfunktion dar . Es stimmt, dass der Befristungs-anteil in den sozialen und öffentlichen Dienstleistungen35 Prozent beträgt . Es gibt auch Extremfälle wie denvorhin genannten von 2012; dabei ging es um 13 auf-einanderfolgende Befristungen in elf Jahren bei einerArbeitnehmerin . Damals antwortete der EuropäischeGerichtshof auf eine entsprechende Anfrage des Bundes-arbeitsgerichtes, dass Arbeitgeber bei ständigem Vertre-tungsbedarf selbst bestimmen dürfen, ob sie ihn durchbefristete oder unbefristete Stellen abdecken . Weil dieKlägerin in einer großen Behörde tätig war, machte dasBAG in seinem Urteil deutlich, dass bei jahrelangemkontinuierlichem Vertretungsbedarf durchaus Bedarffür eine unbefristete Vertretungskraft besteht . Deshalbmüssen staatliche Stellen alle Umstände, die mit einerVerlängerung von befristeten Verträgen zu tun haben, in-tensiv prüfen . So kann dafür gesorgt werden, dass sichBefristungen im Einzelfall als missbräuchlich herausstel-len . Insofern sind die einzelnen Bereiche gefordert . Ext-remfälle zur Regel zu adeln, ist vielleicht die öffentlich-keitswirksamere Lösung, jedoch der falsche Weg .
Gewohnt abenteuerlich finde ich das von den Linken in ihrem Antrag gezeigte Finanzverständnis . Sie führenals Grund für Befristungen im öffentlichen Dienst einestrukturelle Unterfinanzierung der öffentlichen Hand an und begründen dies mit einer sozial ungerechtfertigtenSteuerpolitik, Spardiktaten und der Schuldenbremse .Sie haben es einfach nicht verstanden, dass wir mit einerweitsichtigen Haushaltspolitik dazu beitragen, dass diedeutsche Wirtschaft floriert
und wir mit den zusätzlichen Steuereinnahmen auch zu-sätzliche Leistungen an die Kommunen geben können .Das Hohe Haus wird heute, gleich im Anschluss, einenAntrag zu den Kommunen verabschieden und in denMittelpunkt der Diskussion stellen .Nie zuvor wurden Kommunen durch den Bund sostark unterstützt wie in den vergangenen Jahren . Unterden unionsgeführten Koalitionen von 2010 bis 2018 wer-den die Länder und Kommunen um insgesamt 125 Mil-liarden Euro entlastet . Das setzt freilich voraus, dass dieLänder ihrer Verantwortung nachkommen, dieses Geldauch an die Kommunen weiterzureichen und es nicht imeigenen Haushalt zu behalten .Papiersparend, auf nur zwei Seiten, unternehmen Sieeinen kühnen Streifzug durch die Arbeitsmarkt- und Fi-nanzpolitik . Am Ende Ihres Antrags verweisen Sie auchnoch auf Zeitarbeit und missbräuchliche Werkverträge .
Dieses Themas nehmen wir uns an; es steht im Koaliti-onsvertrag und wird von uns bearbeitet . Allerdings wol-len wir das für die Wirtschaft und die Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer in gleichem Maße machen . Wir habenein Interesse an Wachstum und Beschäftigung . Dies wol-len wir in unserem Land fördern . Das unterscheidet unsvon Ihnen .
Zusammengefasst entspricht Ihr Antrag nicht den Kri-terien eines ausgewogenen Verhältnisses zur Realität .Uwe Lagosky
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Schließlich verfügen wir mit dem Teilzeit- und Befris-tungsgesetz über einen vernünftigen Rechtsrahmen, derArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie Arbeit-gebern gleichermaßen gerecht wird . MissbräuchlichesVerhalten wird durch die Rechtsprechung bekämpft . Denvereinzelten Unternehmen, die überproportional vielebefristete Arbeitsverträge schließen, sei aber auch ge-sagt, dass sie damit Forderungen nach einer Änderungdes Teilzeit- und Befristungsgesetzes Vorschub leisten,möglicherweise zulasten der vielen Betriebe, die im Sin-ne des Gesetzes handeln .Ausschlaggebend und von überwiegender Bedeutungist für mich jedoch, dass Befristungen eine wichtige Brü-ckenfunktion für die Übernahme in unbefristete Beschäf-tigung haben . Dass Sie diese Brücken einreißen, werdenwir nicht mitmachen .Herzlichen Dank .
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Jutta Krellmann, Fraktion Die Linke .
Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Frau Hiller-Ohm, ich finde es klasse, dass wir heute wieder über unseren Antrag zur Abschaffung vonBefristungen ohne Sachgrund und von Kettenbefristun-gen reden .
Ich weiß gar nicht, welche Probleme Sie damit haben .Ich finde das toll!
Im Grunde ist es so: Arbeitgeber missbrauchen mitt-lerweile genau diese Befristungen als arbeitsmarktpoli-tisches Instrument gnadenlos für Lohndumping und Be-hinderung von Mitbestimmung und Betriebsratsarbeit;das wissen Sie eigentlich ganz genau . SachgrundloseBefristungen sind dabei nur die Spitze des Eisberges . DieAuswahl für Arbeitgeber ist nahezu unendlich: Leihar-beit, Werkverträge, Ausgliederungen usw . Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer haben keine Wahl: Entwe-der sie akzeptieren die Befristung im Arbeitsvertrag, odersie kriegen das Arbeitsverhältnis nicht . Andere Chancenhaben sie an dieser Stelle doch nicht .Zum Thema Befristungen schweigt die Bundesregie-rung leider seit Jahren . Weil von der Regierungsbankrein gar nichts in Richtung einer Verbesserung für dieBeschäftigten kommt,
werden wir als Opposition nicht aufhören, diesen Antragimmer wieder zu stellen – und wenn er Ihnen aus denOhren rauskommt!
Im letzten Jahr wurde jeder vierte Beschäftigte unter25 Jahren mit einem befristeten Arbeitsvertrag abge-speist . Da lockt die Bundesregierung junge Beschäftigteerst verbal mit der Möhre „Fachkräftemangel“, und dannlässt sie sie über die Klinge der Befristung springen . Dasgeht doch alles gar nicht, was da gemacht wird!
Stellen Sie sich einmal vor, es geht um Ihre Kinder .Was wird aus deren Lebensplanung? Was wird aus einereigenen Wohnung? Was wird möglicherweise aus En-keln, die auch in die Welt gesetzt werden müssen?
Der jungen Generation wird die Möglichkeit der Beteili-gung an betrieblicher Mitbestimmung und an der Gestal-tung menschenwürdiger Arbeit regelrecht vorenthalten,und das alles mit Zustimmung dieser Regierung . Wennich das mitbekomme, kommt mir persönlich immer wie-der die Galle hoch .Kettenbefristungen setzen diesem Befristungswahnnoch die Krone auf . Dutzende Arbeitsverträge, immer fürden gleichen Arbeitsplatz, immer befristet, und das übereinen Zeitraum von Jahren oder teilweise sogar von Jahr-zehnten: Das ist nicht unsere Vorstellung von guter Ar-beit und gutem Leben . Damit muss endlich Schluss sein .
Ich persönlich werde mich so lange wiederholen, FrauHiller-Ohm, bis es allen hier aus den Ohren rauskommtund bis es endlich gerade auch für die junge Generationdie Möglichkeit gibt, aus dieser schrecklichen Situationherauszukommen .Für die Qualität von Arbeit ist entscheidend, ob einArbeitsvertrag befristet ist oder nicht . Befristet Be-schäftigte haben Angst vor dem Verlust ihrer Arbeit . Sieschleppen sich krank zur Arbeit und halten bei Missstän-den im eigenen Betrieb die Klappe . Sie wehren sich nichtgegen Ungerechtigkeiten und beteiligen sich nicht anWarnstreiks . Befristet Beschäftigte werden ihre Arbeit-nehmerrechte niemals ganz nutzen .Ich finde, es ist ein Armutszeugnis für ein Land wie die Bundesrepublik, dass sich an dieser Stelle ganz ein-fach nichts tut, und das seit 1985, weil es davor keineBefristung ohne Sachgrund gab, Herr Oellers . Das wareinfach so, und die Wirtschaft hat trotzdem funktioniert .
Das zeigt für mich einmal mehr, auf wessen Kosten inunserem Land Reichtum entsteht .Mit dieser Meinung stehen wir nicht alleine, sondernganz viele Beschäftigte sehen das ganz genauso, undauch viele Gewerkschaften haben damit ein Riesenprob-lem, wenn sie sehen, was hier passiert . Sie können auchein Lied davon singen, was befristete Arbeitsplätze fürUwe Lagosky
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die Mitbestimmung, die Gewerkschaftsfreiheit und diedemokratische Beteiligung bedeuten .Bei Amazon in Brieselang in Brandenburg beispiels-weise arbeiten über 1000 Beschäftigte . Der Befristungs-grad beträgt 80 Prozent . 80 Prozent der Beschäftigtenhaben einen befristeten Arbeitsvertrag .
Das ist nur ein Betrieb. Hier findet doch Missbrauch statt. Das ist überhaupt nicht in Ordnung . Es geht hier dochnicht um Auftragsspitzen, von denen da geredet wird .
Im Grunde genommen ist es Wahnsinn, dass so vieleMenschen nur ein befristetes Arbeitsverhältnis erhalten .Die sachgrundlose Befristung wird bei Amazon alssystematisches Mittel gegen Gewerkschaften, gegen Be-triebsräte und gegen die Belegschaft genutzt .
Die Zeit .
Danke für den Hinweis .
Das war eigentlich kein Hinweis . – Frau Kollegin, im
Europäischen Parlament wird das Mikrofon nach Ende
der Redezeit automatisch abgestellt . Damit hätten die
letzten 35 Sekunden von Ihnen gar nicht mehr gehört
werden können . Es wäre also nett, wenn Sie jetzt zum
Schluss kommen würden .
Danke für den Hinweis; ich komme zum Schluss . –
Die SPD hat die Chance, unserem Antrag jetzt zuzustim-
men . Vielleicht können wir über diesen Weg eine Mehr-
heit über die Koalition hinweg herstellen . In Richtung
CDU mag ich gar nicht schauen .
Sie haben jetzt die Chance . Nutzen Sie sie, stimmen Sie
unserem Antrag zu, damit wir an dieser Stelle endlich
einmal vorankommen!
Vielen Dank .
Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten
Markus Paschke, SPD-Fraktion, das Wort .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Hierim Parlament gilt es, Rahmenbedingungen zu setzten,Rahmenbedingungen für einen Ausgleich zwischen dernotwendigen Flexibilität für Unternehmen und der eben-so notwendigen Sicherheit für die Menschen . Dazu ge-hört immer auch eine Überprüfung, ob die bisherigenGesetze dem politischen Willen entsprechend angewandtwerden . Wir sollten uns dabei die Frage stellen: Erzieltdas Gesetz die gewollte Wirkung, oder werden Lückengenutzt, die negative Folgen für unsere Gesellschaft ha-ben? Als ich den Antrag „Kettenbefristungen abschaf-fen“ gelesen habe, habe ich gedacht: Na, den kennst dudoch . Und richtig: Der Antrag ist inhaltlich zu 95 Pro-zent deckungsgleich mit dem Antrag „Das unbefristeteArbeitsverhältnis zur Regel machen“, den wir im letztenJahr hier diskutiert haben .
In Ihrem Antrag bezeichnen Sie die Befristung alszentrales Merkmal für Qualität oder Nichtqualität vonArbeit . Zu guter Arbeit gehört aber viel mehr . Die Frageder Beschäftigungsform ist wichtig, ja, aber sie ist nichtdas zentrale Qualitätskriterium .
Es würde aber auch heute den Rahmen meiner Redezeitsprengen, wenn ich jetzt hier erschöpfend alle Merkmaleguter Arbeit erklären wollte .Zusammenfassend möchte ich zu dem Antrag einesfeststellen: Es ist nicht alles falsch, was da drinsteht . Ichhabe im letzten Jahr, als wir hier über dieses Thema ge-sprochen haben, von Keno berichtet, der Mitte 30 war,bevor er das erste Mal einen unbefristeten Arbeitsvertraghatte . Ich will heute einmal einen anderen Aspekt in dieDiskussion einbringen, denn ich denke, man muss auchein bisschen Abwechslung bringen .
Ich spreche regelmäßig mit Arbeitnehmern und Unter-nehmern und stelle fest, dass es zurzeit sehr viel Bewe-gung auf beiden Seiten gibt . Letztens habe ich zum erstenMal einen richtig sprachlosen Arbeitgeber erlebt . Er hatteeine Bewerberin im Vorstellungsgespräch, die richtig gutqualifiziert war und ideal auf die Stelle gepasst hätte. Sie hat aber zu ihm gesagt: Ich bin nur bereit, hier erst einmaleinen befristeten Arbeitsvertrag abzuschließen .
Sie hat das auch begründet . Sie begründete ihre Entschei-dung nämlich damit, dass sie erst einmal sehen wollte,wie im Unternehmen die Vereinbarkeit von Familie ge-lebt wird . Sie wollte wissen, wie das Betriebsklima istJutta Krellmann
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und welche Entwicklungsperspektiven sie hat . Diesejunge Frau ist eine Arbeitnehmerin, die überhaupt nichtin die Zielgruppe passt, für die dieser Antrag geschriebenwurde, die aber trotzdem betroffen gewesen wäre .
Sie entwerfen in Ihrem Antrag nämlich das Bild, dassalle Arbeitnehmer ohne Hilfe in absoluter Wehrlosigkeitverharren . Das ist eine Verallgemeinerung, die der Sacheund vor allem den Menschen nicht gerecht wird .
Klaus Ernst hat die Lage eines Teils der Betroffenenzutreffend beschrieben . Aber das gerade von mir genann-te Beispiel zeigt, dass die Lebenswirklichkeit nicht ein-dimensional betrachtet werden kann, dass es sehr vieleunterschiedliche Entwürfe für das Leben gibt .
Herr Kollege, es gibt den Wunsch nach einer Zwi-
schenfrage von Frau Vogler . Wollen Sie die zulassen?
Nein, heute nicht .
Sie wollen weitersprechen .
Ich bin davon überzeugt, dass wir der Vielfalt der
Bedürfnisse der Menschen in unserem Land entspre-
chen müssen . Das können wir aber nicht, indem wir ein
Korsett schaffen, das allen die Luft zum Atmen nimmt,
sondern wir müssen Rahmenbedingungen schaffen, die
Missbrauch und das Ausnutzen von Menschen verhin-
dern . Es ist kein Geheimnis, dass meine Fraktion und ich
die berechtigte Kritik an der exzessiven Nutzung sach-
grundloser Befristung teilen .
Planungssicherheit – egal ob privat oder beruflich – ist
mit befristeten Arbeitsverhältnissen nicht zu haben . Es
gibt Menschen, die wollen und brauchen Sicherheit, zum
Beispiel um eine Familie zu gründen . Andere wollen sich
derzeit nicht langfristig binden . Aber auch denen würden
wir die Chancen nehmen, wenn wir Ihren Antrag so um-
setzen, wie er geschrieben ist .
Viele wichtige und lange geforderte Verbesserungen
für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben wir be-
reits in den ersten zwei Jahren unserer Regierungszeit
erreicht: die Einführung eines flächendeckenden Min-
destlohns, die Rente ab 63, die Beendigung der Genera-
tion Praktikum, Verbesserung bei der Gleichstellung von
Mann und Frau, um nur einige Beispiele zu nennen . Wir
ruhen uns auf dem bisher Erreichten nicht aus . Noch in
diesem Jahr werden wir den Gesetzentwurf zur Bekämp-
fung von Missbrauch bei Werkverträgen und Leiharbeit
vorlegen .
Das alles und noch viel mehr haben wir mit unserem
Koalitionspartner vereinbart . Große Ziele erfordern aber
auch Kompromisse . Fakt ist: Mit unserer Forderung nach
Abschaffung der sachgrundlosen Befristung haben wir
uns bei unserem Koalitionspartner bedauerlicherweise
nicht durchgesetzt . Aber da wir uns darauf verständigt
haben, diesen Koalitionsvertrag vier Jahre lang zu leben
und die darin vereinbarten Dinge umzusetzen, werden
wir heute leider auch gegen die richtigen Teile dieses An-
trags stimmen müssen .
Danke schön .
Danke schön . – Als nächstem Redner erteile ich demAbgeordneten Dr . Thomas Gambke, Bündnis 90/DieGrünen, das Wort .
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin bei der Debatteein bisschen versucht, an den chinesischen Dreisatz, denich aus der Wirtschaft kenne, zu denken: Die einen for-dern 10, die anderen sagen 0, und man trifft sich irgend-wo bei 1 oder 2 .
Lassen Sie mich einmal über die 1 oder 2 reden .Erstens . Herr Oellers, Sie haben beim Thema „sach-grundlose Befristung“ einfach gesagt, es gebe gar keinenMissbrauch, wir brauchten nichts zu tun, die Gerichte re-gelten schon alles .
Sachgrundlose Befristungen gehören abgeschafft –Punkt!
Zweitens . Wir müssen uns den Katalog der Sachgrün-de sehr genau anschauen und da etwas tun . Dass bei dersachgrundlosen Befristung Missbrauch passiert, den mangesetzlich in den Blick nehmen muss, lasse ich mir nichtausreden, auch nicht angesichts Ihrer Ausführungen zumMarkus Paschke
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Lobe der Gerichte . Aber wir müssen auch die Wirklich-keit sehen . Die Wirklichkeit ist zweigeteilt .Ich bin Mittelstandsbeauftragter meiner Fraktion
und bin viel unterwegs . Da sehe ich Betriebe mit Mitar-beitern mit durchschnittlichen Betriebszugehörigkeitenvon 10 oder 13 Jahren . Genau das sind die erfolgreichenBetriebe . Es stimmt ja: Eine gute Personalpolitik mitunbefristet beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmern ist erfolgreich .
Aber wir können die Augen nicht davor verschließen,dass es verschiedene Gründe für Befristungen gibt . HerrErnst, wie lange sind Sie im Bundestag? Seit 2005, wieich gerade nachgesehen habe . Ich gehe einmal davon aus,dass alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Ihrem Büroeinen unbefristeten Arbeitsvertrag haben .
– Genau das ist der Punkt . Was ist, wenn man nach zweiWahlperioden eine dritte Periode mit seinen Mitarbeite-rinnen und Mitarbeitern antreten will? Na also .Wir müssen uns die Gründe für die Befristungenschon angucken,
die übrigens oft auch sozialpolitischer Art sind . Ich meineInstrumente wie Mutterschutz und Elternzeit, die Befris-tungen notwendig machen . Da ist es schon richtig, sichdarüber Gedanken zu machen, wie man mit den damitbewirkten Unsicherheiten am Arbeitsplatz umgeht .
– Unbefristete Mitarbeiterverträge habe auch ich nicht .Deshalb sage ich: Wir müssen uns darum kümmern, wiewir diese Unsicherheiten auffangen . Im gesamten kreati-ven Bereich und bei vielen Projekten im karitativen Be-reich gibt es immer wieder Befristungen, die eben durchdie Sache begründet sind und bei denen man sich in derTat fragen muss: Wie geht man damit um?Herr Oellers, die Lebenswirklichkeit ist nun einmalso, dass viele Menschen vor einer Familienplanung, demKauf einer Wohnung oder eines Hauses immer wiederzurückschrecken, weil eben durch die Befristungen Un-sicherheiten am Arbeitsplatz gegeben sind . Es ist sicherrichtig, sich damit zu befassen .
Ich glaube, dass es deshalb notwendig ist, sich überdie Instrumente, wie man mit diesen Unsicherheiten um-geht, Gedanken zu machen . Das kann nicht allein in derFrage liegen: Will man Kettenarbeitsverträge zulassen?Vielmehr geht es auch um die Art, wie man sie ausge-staltet .
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Oellers?
Bitte sehr .
Das habe ich gehört . Zu gegebener Zeit werden wirauch darüber sprechen .Vielen Dank, Herr Präsident . – Ich musste mich jetztdoch noch einmal zu Wort melden . Vielleicht können Siemir eine Frage beantworten, nämlich an welcher Stelleich in meiner Rede heute von sachgrundloser Befristunggesprochen habe . Ich nehme die Antwort vorweg: Dashabe ich nicht . Sie können das im Protokoll nachlesen .Aber sagen Sie mir bitte, wo ich das Ihrer Ansicht nachgemacht habe .Erlauben Sie mir des Weiteren eine kurze Anmer-kung, was die sachgrundlose Befristung als solche be-trifft . Wenn Sie mich schon darauf ansprechen, darf ichauf die Ausführungen von Uwe Lagosky verweisen . Diesachgrundlose Befristung ist nun einmal gesetzlich ein-geschränkt . Ich denke, dass man bei einer Höchstdauervon zwei Jahren auch ausnahmsweise einen befristetenArbeitsvertrag ohne Sachgrund abschließen kann .Darüber hinaus haben Sie gerade die Planungssicher-heit für junge Menschen angesprochen . Vielleicht kön-nen Sie dazu noch etwas sagen . Ich bin da grundsätzlichvoll bei Ihnen . Ich habe auch in meinen Ausführungenabschließend gesagt: Wünschenswert wäre immer dasunbefristete Arbeitsverhältnis . Ich will auch Missbrauchgar nicht in Abrede stellen . Den gibt es sicherlich auch;dafür sind die Gerichte zuständig . Aber man muss auchzur Kenntnis nehmen – ich weiß nicht, ob Sie das getanhaben; vielleicht können Sie das bestätigen –, dass, wieich eben geschildert habe, der Anteil der befristeten Ar-beitsverhältnisse mit zunehmendem Alter abnimmt . Daswiderspricht meiner Ansicht nach Ihrer Aussage . Viel-leicht könnten Sie dazu noch etwas sagen .Danke schön .
Vielen Dank für diese Fragen, die mir Anlass gebenwürden, meine Redezeit noch vier Minuten zu verlän-gern, was ich nicht tue, Herr Präsident . Ich will aber zweiDinge sagen, die ich als Zusammenfassung Ihrer Redesehr gut verstanden habe . Erstens haben Sie gesagt: EsDr. Thomas Gambke
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gibt keinen Regelungsbedarf, sondern wir haben Gerich-te, die Missbrauch verhindern .
Das stelle ich in Abrede, und genau das habe ich gemeint,als ich Sie vorhin zitiert habe .Zweitens haben Sie in der Art und Weise, wie Sie dieSituation darstellen – nämlich dass es zwar im Einzel-fall, aber eben nur im Einzelfall, Probleme gebe –, dieLebenswirklichkeit der Menschen nicht getroffen . Diesesieht in der Tat so aus, dass die Unsicherheiten zuneh-men . Das mag meine subjektive, im Verlauf der letzten20 Jahre erworbene Erfahrung sein, aber diese Erfahrungwird auch durch die Zunahme der befristeten Arbeits-verhältnisse vor allem im Dienstleistungsbereich und imkreativen Bereich belegt . Insofern glaube ich, dass wirmehr tun müssen, als auf die Kraft der Gerichte zu ver-trauen, und gesetzliche Regelungen brauchen . Genau daswar meine Aussage .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wiederhole:Sachgrundlose Befristungen müssen abgeschafft wer-den, wir müssen uns mit dem Katalog befassen, und wirmüssen uns darüber Gedanken machen – das lassen IhreAnträge im Grunde genommen völlig offen; darin halteich sie für substanzlos –, welches die richtigen Instru-mente sind . Es ist kein richtiges Instrument, einfach nurzu sagen: Wir wollen nur noch Befristungen zulassen,die höchstens zweimal aufeinanderfolgen . Dann müssenwir uns vielmehr fragen, wie wir eine Abfederung dernotwendigen Befristungen im sozialen Bereich gestalten .Das kann zum Beispiel dadurch erfolgen, dass man sichGedanken darüber macht, welche nachträglichen Ver-pflichtungen ein Arbeitgeber bei einer Befristung hätte, wenn er mehr als zwei Befristungen aussprechen muss .
Apropos Befristung .
Ich danke für die Aufmerksamkeit und Ihnen, Herr
Präsident, für Ihre Geduld .
Danke schön .
Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten
Matthäus Strebl, CDU/CSU-Fraktion, das Wort .
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Die Schlagzeilen über die Postbotin ausWittenburg, die über 17 Jahre befristete Arbeitsverträgehatte, haben wir alle noch in guter Erinnerung .
Sie hat innerhalb von 17 Jahren 88 befristete Arbeitsver-träge erhalten . Dieser Fall sorgte bei allen Parteien fürUnverständnis und Ärger . Dieses missbräuchliche Ver-halten entspricht nicht unseren Positionen und Grundsät-zen . Die Rechtsprechung hat aber diesen Kettenbefris-tungen inzwischen Grenzen gesetzt .Heute befassen wir uns erneut mit Anträgen der Frak-tion Die Linke zu befristeten Arbeitsverträgen, darunterder Antrag „Das unbefristete Arbeitsverhältnis zur Re-gel machen“ . Wenn man sich die aktuellen und auch dievergangenen Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- undBerufsforschung anschaut, dann kann man zweifelsfreifeststellen, dass befristete bzw . atypische Arbeitsverhält-nisse die Ausnahme darstellen . Nach einer Studie desIAB lag 2014 der Anteil der befristeten Arbeitsverträgein Deutschland bei 6,9 Prozent . Das bedeutet umgekehrt,dass weit über 90 Prozent aller Arbeitsverträge unbefris-tet sind . Aufgrund dieser Zahlen werden Sie mir doch zu-stimmen, dass befristete Arbeitsverträge tatsächlich ehereine Ausnahme sind .Befristete Beschäftigungen sind für viele Unterneh-men – so möchte ich behaupten – unverzichtbar . Siedienen insbesondere dazu, familienbedingte oder tem-poräre Arbeitszeitreduzierungen auszugleichen . Sachli-che Gründe für eine Befristung können entstehen, wennEltern- oder Pflegezeiten, Zeiten des Mutterschutzes oder Erkrankungen kompensiert werden müssen .
Der Arbeitnehmer kann wie in jedem anderen Arbeits-verhältnis seine Fähigkeiten erweitern, sich im Betriebeinsetzen und dadurch mit seinen Kenntnissen überzeu-gen .Eine Übernahme in ein unbefristetes Verhältnis istnicht garantiert . Aber selbstverständlich kann sich derArbeitnehmer im Unternehmen bewähren . 2014 lagdie Übernahmequote bei befristet Beschäftigten bei37,5 Prozent . Natürlich wünsche ich mir, dass sich die-se Quote steigern lässt . Selbstverständlich halte auchich unbefristete Arbeitsverhältnisse für Arbeitnehmerals sicherer . Dennoch dürfen wir nicht vergessen, dassbefristete Arbeitsverträge auch dazu dienen können, Ar-beitslosigkeit zu beenden . In Deutschland gibt es trotzdes Erfolgsmodells der dualen Ausbildung Menschenohne Ausbildung . Zudem können Hochschulabsolventenohne Berufserfahrung erste Erkenntnisse erwerben undUnternehmensstrukturen kennenlernen . Befristete Ar-beitsverträge erhöhen die Einstellungsmöglichkeiten fürdiese Beschäftigten . Deshalb halte ich befristete Arbeits-verhältnisse für ein wichtiges arbeitsmarktpolitischesInstrument, das nicht nur Unternehmen und dem öffent-lichen Dienst dient .Ich sehe die Gefahr, dass die von Ihnen geforderte Ab-schaffung der sachgrundlosen Befristung viele Arbeitge-ber zögern lassen wird, Beschäftigte mit unterbrochenenDr. Thomas Gambke
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Erwerbsbiografien einzustellen. Zudem fordern Sie, den Gesetzestext so zu ändern, dass § 14 des Teilzeit- undBefristungsgesetzes ausschließlich abschließend Grün-de auflistet. Ich möchte hervorheben, dass der nicht ab-schließende Katalog in § 14 keine unbegrenzte Öffnungfür weitere Befristungen darstellt . Jeder Grund für eineBefristung muss sachlich gerechtfertigt sein . In IhremAntrag kritisieren Sie, dass besonders junge Menschenvon befristeten Arbeitsverträgen betroffen sind . Hierbeiübersehen Sie jedoch, dass insbesondere in der Alters-gruppe der 15- bis unter 25-jährigen Beschäftigten auchAusbildungsverhältnisse mitgezählt wurden . Zudem ar-gumentieren Sie – ich zitiere aus Ihrem Antrag –:Für die Qualität von Arbeit ist es entscheidend, obein Arbeitsvertrag befristet ist oder nicht .Damit unterstellen Sie allen befristet eingestellten Be-schäftigten, dass sie nicht so gut arbeiten wie unbefristeteingestellte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer .
Herr Kollege, Frau Kollegin Krellmann möchte eine
Zwischenfrage stellen . Wenn Sie den nächsten Satz Ihrer
Rede noch zu Ende sprechen, können Sie überlegen, ob
Sie diese Zwischenfrage zulassen wollen .
Herr Präsident, ich will gerne zusammenhängend vor-
tragen .
Okay .
Diese Unterstellung möchte ich als Mitglied der CDU/
CSU-Arbeitnehmergruppe entschieden zurückweisen .
Die Qualität einer Arbeitsleistung hängt keineswegs da-
von ab, ob das Arbeitsverhältnis befristet oder unbefristet
ist .
Ich möchte noch einmal betonen, dass ich Arbeitsver-
träge mit unterschiedlichen Befristungsmöglichkeiten
für ein notwendiges arbeitsmarktrechtliches Instrument
halte . Als Mitglieder des Bundestages, unabhängig wel-
cher Partei wir angehören, haben wir die Verpflichtung,
zwischen den Interessen der Arbeitnehmer und der Un-
ternehmen genau abzuwägen .
Arbeitnehmer haben ein Interesse daran, dass ihre
Arbeitsplätze sicher sind und ihre Leistung dauerhaft
gewünscht ist. Unternehmer hingegen müssen flexibel
auf wirtschaftliche und marktbedingte Veränderungen
reagieren können . Somit können auch Wettbewerbsnach-
teile für deutsche Unternehmen verhindert werden . Ein
gesetzliches Verbot von befristeten Verträgen könnte
ohne Frage erhebliche Auswirkungen auf den Arbeits-
markt haben . Beiden Parteien werden damit im Sinne der
Privatautonomie Rahmenbedingungen für ihre Verträge
gesetzt .
Arbeitnehmer und Unternehmer können sich auf die
gesetzlichen Vorschriften berufen und diese auf dem
Rechtsweg geltend machen . Die bestehenden gesetzli-
chen Vorschriften haben sich in der Praxis bewährt . In
der heutigen Debatte ist es schon gesagt worden: Gera-
de wegen der guten konjunkturellen Entwicklung ist der
Anteil der befristeten Arbeitsverträge zurückgedrängt
worden . Deshalb lehnen wir den Antrag der Fraktion Die
Linke ab .
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
Herzlichen Dank . – Als nächstem Redner erteile ich
das Wort dem Abgeordneten Bernd Rützel, SPD-Frakti-
on .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! DieLinke fordert, dass das unbefristete Arbeitsverhältnis zurRegel wird . Gabi Hiller-Ohm hat es schon festgestellt:Gott sei Dank ist das unbefristete Arbeitsverhältnis dieRegel – 90 Prozent aller Arbeitsverhältnisse sind unbe-fristet . Aber ich will schon sagen, dass 90 Prozent nichtautomatisch eine hohe Qualität bedeutet . Wenn 90 Pro-zent aller Flugzeuge sicher landen oder 90 Prozent allerOperationen gelingen, dann möchte ich nicht mehr flie-gen und auch nicht mehr krank werden .
Ich erinnere mich an einen Spruch auf einem Schildim Klassenzimmer der dritten Klasse in meiner Grund-schule in Rieneck . Darauf stand: „Feuer, Gas und Wassersind drei gute Diener, aber drei schlimme Herren .“ Heu-te, 40 Jahre später, müsste man sagen: Befristete Arbeits-verhältnisse, Leiharbeit und Werkverträge sind drei guteDiener, aber drei schlimme Herren .
Die Befristung in der Beschäftigung nimmt zu, geradebei jungen Menschen, und das schadet ihnen und unserergesamten Gesellschaft .
Eine sachgrundlose Befristung verbaut Lebenschancen .Beschäftigten wird eine langjährige Perspektive verwei-gert . Heute früh, vor zwei Stunden, hat die Kanzlerin auchzur Nachhaltigkeit, zur internationalen Zusammenarbeitgesprochen . In Artikel 23 der Charta der Menschenrechtesteht – ich habe es noch einmal nachgelesen –, dass jederdas Recht auf „befriedigende Arbeitsbedingungen“ und„Schutz vor Arbeitslosigkeit“ hat .
Matthäus Strebl
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Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer brauchen einMindestmaß an Sicherheit, um eine Familie zu gründen,um sich gesellschaftlich zu engagieren . Durch die befris-teten Jobs wird eine fundierte Lebensplanung eben behin-dert . Wenn junge Menschen ein Haus bauen wollen odereine Wohnung kaufen wollen und zur Bank gehen, umeinen Kredit aufzunehmen, dann werden sie gefragt: Washaben Sie denn für Sicherheiten? Wer dann antwortet:„Ich habe noch sechs Monate einen befristeten Arbeits-platz“, dem helfen auch die momentan günstigen Zinsennichts . Ständig stecken junge Leute in einer erneuten Be-werbungsphase, statt sich auf ihre Arbeit konzentrierenzu können . Nur wer ein sicheres Arbeitsverhältnis hat,kann gute Arbeitsergebnisse abliefern .Wie singt Herbert Grönemeyer – ich bin ein Her-bert-Grönemeyer-Fan-:
– da ist noch ein Grönemeyer-Fan –: „Angst stellt ru-hig, Angst kriegt klein“ . Das, glaube ich, brauchen wirnicht . Wir brauchen, um die Zukunftsherausforderungenzu bewältigen, selbstbewusste und gute Mitarbeiter, dieanpacken, die sich in ihrem Job bestätigt fühlen . Wer alsUnternehmer ein gutes Geschäftsmodell hat, der stelltdiese Leute auch unbefristet und auf Dauer ein .
Die Probezeit wird oft als Argument verwendet, umbefristete Arbeitsverträge zu machen . Das ist eine Hin-tertür . Wir haben das heute schon oft gehört . Der Kün-digungsschutz wird geschleift . Ich bin mit meiner Parteiund meiner Fraktion einig darin, dass die sachgrundloseBefristung abgeschafft werden muss .
Bevor die Frage „Warum tut ihr das nicht?“ kommt,sage ich: Im geltenden Koalitionsvertrag – auch das istheute schon besprochen worden – konnten wir eine Ab-schaffung der sachgrundlosen Befristung leider nichtvereinbaren . Das war nicht zu machen . Ich sehe über-all Zustimmung, auch in Teilen der Union . Die CDA hateinen Antrag auf Ihrem Bundesparteitag gestellt . Es istschade, dass es nicht geklappt hat . Wir haben noch zweiJahre Zeit . Vielleicht können wir noch einmal darüberreden .
– Reden können wir über alles; ich komme auf Sie zu-rück .
Ich will zur Ehrenrettung aber schon sagen – jetzt hörtHerr Kauder nicht mehr zu –, dass wir gemeinsam eineMenge erreicht haben . Wir – die SPD, die CDU, die CSUund die Grünen – haben den Mindestlohn eingeführt .
Das war notwendig .
Ich glaube, Sie von der Linken ärgern sich ewig, dass Siedem Mindestlohn nicht zugestimmt haben .
Es ist gut, dass der Mindestlohn gerade jetzt gilt, wo auchdie Flüchtlinge zu uns kommen .Andere Themen sind angesprochen worden . LiebeKolleginnen, liebe Kollegen, auch im Bereich des Wis-senschaftsbetriebs führen wir Verbesserungen herbei .Die Qualifizierungsbefristung muss für die Dauer der Qualifizierung gelten. Wenn eine Qualifizierung drei Jah-re dauert, dann muss auch der Arbeitsvertrag drei Jahregelten . Das ist eine Menge . Ich glaube, das war in diesemMonat im Kabinett .Es sind verschiedene Bausteine, die zur Bekämpfungprekärer Beschäftigung notwendig sind . Man kann nichtdas eine tun und das andere lassen . So warnt zum Bei-spiel das heute schon zitierte IAB, das Institut für Ar-beitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur fürArbeit, dass eine Abschaffung der sachgrundlosen Be-fristung dazu führen kann, dass auf andere Formen wieLeiharbeit oder freie Mitarbeit ausgewichen wird .
– Genau, das muss man regeln, Klaus; ich bin da bei dir .Von daher haben wir das auch vor . Das ist bekannt .
Wir sind mitten in den Gesprächen zu Leiharbeit undWerkverträgen .
Sie werden es bald erleben, dass wir die Leiharbeit aufihre Funktion zurückführen,
nämlich nicht Herr zu sein, sondern Diener, wie es inmeiner dritten Klasse auf dem Schild stand . Auch dieWerkverträge werden wir wieder auf ein vernünftigesMaß zurückführen . Dazu werden wir das Arbeitnehme-rüberlassungsgesetz an die aktuellen Entwicklungen an-passen .Bernd Rützel
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Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, sehr geehrte Da-men und Herren, es gibt in dieser Koalition noch genugzu tun .
Wir haben bisher schon viel erreicht . Wir packen dasauch weiterhin intensiv an . Auf diese Arbeit freue ichmich, und dazu lade ich alle ganz herzlich ein .Vielen Dank .
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Abgeordneten
Krellmann noch einmal das Wort .
Vielen Dank, dass Sie mir noch einmal das Wort geben . –
Ich muss sagen: Der Kollege Bernd Rützel
hat mein Verständnis von der SPD wieder geradegerückt .
Nach den anderen SPD-Rednern war ich ein bisschen am
Zweifeln .
Im Grunde wollte ich gerne etwas zu Herrn Strebl
sagen . Es ist ausdrücklich so, dass Ausbildungsverhält-
nisse nicht in den Statistiken enthalten sind, davon aus-
genommen sind . Um Ausbildungsverhältnisse geht es
auch nicht, wenn wir über sachgrundlose Befristungen
reden . Das muss man einfach klarstellen, und das wollte
ich klarstellen .
Ansonsten, Herr Strebl: Arbeitgeber haben die Möglich-
keit, bei Arbeitsverhältnissen eine Probezeit von einem
halben Jahr zu vereinbaren . In dieser Probezeit kann ein
Arbeitsverhältnis ohne Angabe von Gründen gekündigt
werden; nur die Kündigungsfrist muss eingehalten wer-
den . Das heißt mit anderen Worten: Jeder Arbeitgeber hat
die Chance, bis zu einem halben Jahr zu überprüfen, ob
ein Arbeitnehmer in Ordnung ist oder nicht . Ich persön-
lich kenne wenige Arbeitsplätze, bei denen es notwendig
wäre, einen Arbeitnehmer über einen noch längeren Zeit-
raum zu beurteilen, um sagen zu können, ob er gut oder
schlecht ist .
Deswegen braucht man die sachgrundlose Befristung
einfach nicht . Und ein Arbeitsverhältnis an dieser Stelle
auf zwei Jahre zu befristen, geht einfach nicht; das ist völ-
lig überflüssig. Wenn so etwas doch passiert, und jemand
sagt, dass er das braucht, dann würde ich sagen: Mensch,
das ist aber eine faule Personalabteilung; das hätte die
alles schon viel früher sehen und beurteilen können .
Beschäftigte sind keine Beamten . Und auch wenn
sie ein unbefristetes Arbeitsverhältnis haben, heißt das
nicht, dass sie bis zu ihrem Lebensende in einem Betrieb
beschäftigt sind, sondern auch dann gibt es immer die
Möglichkeit, Kündigungen auszusprechen . Das alles ist
eigentlich sauber geregelt . Das hat bis 1985 immer gut
funktioniert . Seitdem ist das anders . Ich meine, solche
Befristungen sind heute nicht nötig; das ist Missbrauch,
insbesondere gegenüber der jungen Generation, die da-
von besonders betroffen ist .
Wenn man sagt, dass so viele ein unbefristetes Ar-
beitsverhältnis haben, dann ist das ja okay . Aber schauen
Sie sich einmal die Situation der unter 25-Jährigen an!
Da liegt doch das Problem . Die jungen Leute bekommen
keine Chance . Deswegen ist unser Antrag notwendig .
Gibt es Reaktionsbedarf? – Nicht . – Danke schön .Tagesordnungspunkt 4 a . Interfraktionell wird Über-weisung der Vorlage auf Drucksache 18/4098 an die inder Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-gen . Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall .Dann ist die Überweisung beschlossen .Tagesordnungspunkt 4 b . Wir kommen zur Beschlus-sempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialeszum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Dasunbefristete Arbeitsverhältnis zur Regel machen“ . DerAusschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/2783, den Antrag der Fraktion die Linkeauf Drucksache 18/1874 abzulehnen . Wer stimmt für dieBeschlussempfehlung des Ausschusses? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist die Beschlus-sempfehlung mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktionund der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der FraktionDie Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen an-genommen worden .Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c so-wie den Zusatzpunkt 3 auf:5 a) Beratung des Antrags der Abgeordne-ten Ingbert Liebing, Artur Auernhammer,Norbert Barthle, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der CDU/CSU sowie derAbgeordneten Bernhard Daldrup, JohannesKahrs, Doris Barnett, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion der SPDFür gleichwertige Lebensverhältnisse– Kommunalfreundliche Politik des Bun-des konsequent fortsetzenDrucksache 18/6062Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss
Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der EuropäischenUnionAusschuss Digitale AgendaBernd Rützel
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b) Beratung des Antrags der AbgeordnetenKerstin Kassner, Susanna Karawanskij,Caren Lay, weiterer Abgeordneter und derFraktion DIE LINKEKommunen von den Kosten für baulicheMaßnahmen an Kreuzungen von Eisen-bahnen und Straßen befreienDrucksache 18/3051Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Innenausschuss Haushaltsausschussc) Beratung der Beschlussempfehlung und
Kerstin Kassner, Susanna Karawanskij,Caren Lay, weiterer Abgeordneter und derFraktion Die LinkeVerbindliches Mitwirkungsrecht fürKommunen bei der Erarbeitung von Ge-setzentwürfen und Verordnungen sowieim GesetzgebungsverfahrenDrucksachen 18/3413, 18/6085ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten
ter und der Fraktion Bündnis 90/DIE GRÜ-NENDauerhafte und strukturelle Entlastun-gen für Kommunen in NotDrucksache 18/6069Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss
Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reak-torsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungEs lohnt sich für alle, hierzubleiben; aber diejenigen,die nicht hierbleiben wollen, sollten allfällige Gesprächebitte vor dem Saal führen, damit wir ordnungsgemäßweitermachen können .Auf der Tribüne zu meiner Linken begrüße ich62 Oberbürgermeister, Landräte und Bürgermeister desAktionsbündnisses „Für die Würde unserer Städte“
mit ihren Sprechern Frau Oberbürgermeisterin DagmarMühlenfeld aus Mülheim und Herrn OberbürgermeisterPeter Jung aus Wuppertal .
– Um einen Zwischenruf des verehrten Fraktionsvorsit-zenden Kauder aufzugreifen: Es sind in der Tat viele Kol-leginnen und Kollegen aus NRW, aber auch Kolleginnenund Kollegen aus anderen Ländern dabei .
Darüber können wir uns ja hinterher in der Debatte mit-einander austauschen .
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen . – Ich höre keinenWiderspruch . Dann ist es so beschlossen .Als erstem Redner erteile ich dem AbgeordnetenIngbert Liebing, CDU/CSU-Fraktion, das Wort .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Wir führen heute eine Debatte über die Lage derKommunen in Deutschland, die unter anderem auf dieInitiative des Aktionsbündnisses zurückgeht . Es ist gut,dass wir diese Debatte heute führen .Diese Debatte findet vor einem besonderen Hinter-grund statt . Denn in diesen Tagen erleben wir wie seltenzuvor, wie wichtig leistungsstarke Kommunen sind .
Unsere Städte und Gemeinden stehen mit der Bewälti-gung der Flüchtlingskrise vor einer besonderen Heraus-forderung . Und alle leisten einen gewaltigen Kraftakt:die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Verwaltun-gen der Städte und Gemeinden, die Oberbürgermeisterin-nen und Oberbürgermeister, die Bürgermeisterinnen undBürgermeister und die Landrätinnen und Landräte an derSpitze . Viele ehrenamtliche Helferinnen und Helfer or-ganisieren die Aufnahme von Flüchtlingen aus anderenLändern, die aus Not zu uns kommen, und Hilfe für dieseFlüchtlinge . Diese großartige Leistung, dieser Kraftakt,verdient unser aller Dank und Anerkennung .
In dieser Zeit kommt es ganz besonders auf die Kom-munen an . Nicht in Berlin, nicht hier im Deutschen Bun-destag, nicht in den Landeshauptstädten, nicht in denStaatskanzleien oder in den Landtagen, sondern vor Ort,in den Städten und Gemeinden, entscheidet es sich, obwir in der Lage sind, diese Herausforderung tatsächlichin der Praxis zu meistern . Das entscheidet sich in Städtenwie Essen, Gelsenkirchen oder Wuppertal oder in kleinenDörfern wie Seeth oder Boostedt, wo in den Erstaufnah-meeinrichtungen der Länder inzwischen mehr Flüchtlin-ge leben als Einheimische im Dorf .
Vizepräsident Peter Hintze
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Umso wichtiger ist es, dass wir heute zu klaren Verstän-digungen zwischen Bund und Ländern kommen; und dageht es um drei Bereiche .Es geht jetzt erstens darum, alle Kräfte zu mobilisie-ren, um Hilfe zu leisten, und diesen Kraftakt vor Ort zuorganisieren, Menschen, die aus Not zu uns kommen, zuhelfen .Zweitens gehört aber auch dazu, den Zuzug zu be-grenzen; denn – das wissen wir auch – die grenzenloseFortsetzung dessen, was in den letzten Tagen und Wo-chen geschehen ist, würde die Städte und Gemeindenrestlos überfordern .Drittens geht es auch um finanzielle Hilfe des Bundes. Es ist zugesagt, dass diese Hilfe strukturell und dauerhafterfolgt . Dies wird sicherlich heute vereinbart werden; dabin ich zuversichtlich .Dies alles, was heute Nachmittag zwischen der Bun-desregierung und den Ministerpräsidenten verhandeltund vereinbart wird, liegt im Interesse der Kommunen .Dazu leisten wir unseren Beitrag . Uns liegt die Leis-tungsfähigkeit der Kommunen sehr am Herzen, bei die-sem Thema, aber – das ist in diesen Zeiten auch wichtig –auch bei allen anderen Aufgaben, die die Kommunen jaauch weiterhin leisten müssen, etwa wenn es um ein aus-reichendes Kitaangebot geht, wenn es um Schulen geht,wenn es um Straßen geht, wenn es um Wohnungsbaugeht oder um Sport- und Freizeitangebote . Das ist das,was die Menschen auch von ihrer Gemeinde, von ihrerStadt erwarten .Wir helfen, wo wir helfen können . Aber wir müs-sen auch feststellen, dass die Lage der Kommunen inDeutschland sehr unterschiedlich ist . Es gibt einzelneKommunen in einzelnen Ländern, die keine Kassenkre-dite kennen, aber es gibt andere Länder, wo die Kassen-kredite explodieren . Über die Hälfte der Kassenkreditein der Größenordnung von 48 Milliarden Euro deutsch-landweit haben die Kommunen in einem einzigen Bun-desland aufgenommen, nämlich in Nordrhein-Westfalen .Das gehört auch zur Wahrheit .
Es gibt einzelne Länder, die ihren Kommunen helfen undsie zu 100 Prozent von den Kosten nach dem Asylbewer-berleistungsgesetz freihalten, wie zum Beispiel Meck-lenburg-Vorpommern und Bayern .
Und es gibt andere Länder, die ihre Kommunen hierherzlich im Stich lassen .Dies können wir auf der Bundesebene nicht ausglei-chen . Ich möchte das auch nicht als ein Schwarzer-Pe-ter-Spiel verstanden wissen,
gespielt! So einfach ist das!)sondern es geht um die Verfassungsordnung in unseremLand . Es ist schlichtweg eine Tatsache, dass laut unsererVerfassungsordnung die jeweiligen Bundesländer für dieaufgabengerechte Finanzausstattung ihrer Kommunendie Verantwortung tragen .
Deswegen ist es für uns doch auch so bitter, zu erleben,dass Gelder, die wir auf der Bundesebene mobilisierenund die den Kommunen helfen sollen, teilweise vor Ortgar nicht erst ankommen, sondern in den Landeskassenlanden . Das ist ein gefährliches Spiel, das einzelne Län-der hier treiben .
Es gilt die Zusage, dass wir auch im Bereich der Ein-gliederungshilfe etwas tun . Wir erneuern mit dem An-trag, den wir heute vorlegen, unsere Zusage aus demKoalitionsvertrag, dass die Kommunen in diesem Feldab 2018 in einer Größenordnung von 5 Milliarden Euroentlastet werden sollen .
Ich kenne die Sorgen, dass diese Reform mit zusätzlichenneuen Ausgaben verbunden sein könnte . Deswegen gebeich hier ausdrücklich die Zusage der CDU/CSU-Frakti-on, dass wir dafür sorgen, dass das weder zu einer neuenKostendynamik noch zu einer neuen Kostenbelastungder Kommunen führt . Wir wollen an dieser Stelle dieKommunen strukturell und dauerhaft entlasten .
Bis 2018 leisten wir auch etwas . In diesem und im nächs-ten Jahr helfen wir mit je 1 Milliarde Euro . Im Jahr 2017wächst das auf 2,5 Milliarden Euro auf .Ich nenne auch das Investitionsprogramm, das wirauf den Weg gebracht haben. 3,5 Milliarden Euro für fi-nanzschwache Kommunen, um die Investitionskraft zustärken . Das tun wir ganz bewusst zugunsten Ihrer Städteund Gemeinden, von denen Sie hier als Oberbürgermeis-ter, Bürgermeister und Landräte zu uns gekommen sind,weil wir die Gießkanne einmal im Schrank lassen wollenIngbert Liebing
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und denjenigen zielgerichtet helfen wollen, die unter be-sonderer Finanznot leiden . Ich glaube, dass das geradeIhren Städten und Gemeinden besonders hilft .Wir tun dies alles, um die Leistungsfähigkeit derKommunen zu stärken . Wir erleben in diesen Tagen im-mer wieder, wie wichtig die Leistungsfähigkeit der Kom-munen vor Ort ist . Aber es wird uns nicht gelingen, diesdauerhaft zu tun, wenn es nicht gleichzeitig auch gelingt,die mit der Flüchtlingskrise zusammenhängenden Her-ausforderungen zu lösen . Deswegen hoffe ich auf guteErgebnisse heute Nachmittag, die dann in den Ländernim Interesse der Leistungsfähigkeit unserer Kommunenumzusetzen sind .Herzlichen Dank .
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Kerstin Kassner, Fraktion Die Linke .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Nach fast zwei Jahren hier im Deutschen Bundestaggibt es viele Dinge, an die ich mich gewöhnt habe, viel-leicht auch daran, dass ich hier über einen Antrag spre-chen muss, den ich erst vorgestern Abend erhalten habe .Aber daran, dass wir erst heute, sechs Monate nachdemsich das Aktionsbündnis „Für die Würde unserer Städte“an uns gewandt hat, darüber debattieren und noch nichteinmal wissen, wie die Lösung des Problems tatsächlichaussehen kann, werde und will ich mich nie gewöhnen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich zu demAntrag der Regierungsfraktionen komme, möchte ichnoch einmal kurz auf die zwei Anträge, die meine Frakti-on gestellt hat, eingehen .Zum einen haben wir auf der Drucksache 18/3413ein kommunales Mitwirkungsrecht eingefordert . Dabeigeht es darum, dass das Mitspracherecht der Kommunendeutlich erweitert wird . Nicht nur ein Anhörungsrechtsoll ihnen gewährt werden, sondern ein wirkliches Mit-wirkungsrecht . Das geht von eigenen Vorschlägen bis hinzur tatsächlichen Mitarbeit an den Gesetzesentwürfen .Wie man so etwas beispielsweise regeln könnte, habenwir in unserer Fraktion eingeführt: Bei uns gibt es einenKommunal-TÜV . Bei jedem Vorhaben, das aus den ein-zelnen Arbeitskreisen – also gewissermaßen vergleichbarmit den Ministerien – kommt, muss die Auswirkung aufdie Kommunen zwingend geprüft werden .
Damit kommen am Ende Bewertungen zustande, die unserlauben, zu entscheiden, was den Kommunen hilft oderwas sie belastet . Ich denke, dies wäre ein gutes Modell,das man auch in der Bundespolitik umsetzen könnte .
Der zweite Vorschlag betrifft das Eisenbahnkreu-zungsgesetz . Auf Drucksache 18/3051 haben wir denVorschlag wiederholt, die Kommunen von den sich dar-aus ergebenden Kosten zu befreien . Allein das, was jetztim Bundeshaushalt steht, belastet die Kommunen im Jahr2016 mit über 50 Millionen Euro . Das ist Geld, das denKommunen für andere Aufgaben fehlt . Deshalb fordernwir, dass die Kommunen von den sich aus dem Eisen-bahnkreuzungsgesetz ergebenden Kosten befreit werden .
Jetzt, liebe Kolleginnen und Kollegen, komme ich zudem Antrag der Koalition . Hier lautet das Motto: „Fürgleichwertige Lebensverhältnisse – Kommunalfreundli-che Politik des Bundes konsequent fortsetzen“ .
Ja, da frage ich mich: Ist das, was von Ihnen getan wird,denn wirklich konsequent kommunalfreundlich? Eswerden viele Gelder in Aussicht gestellt, zum Beispielwerden ab 2018 Kosten, die sich aus dem Teilhaberechtergeben, übernommen . Aber jetzt und hier fehlt es Kom-munen am Nötigsten . Nicht zuletzt deswegen haben sich63 Kommunen aus sieben Ländern, Herr Kauder, die 10Millionen Menschen unseres Landes vertreten, zusam-mengeschlossen – völlig parteiübergreifend –, um aufihre Situation aufmerksam zu machen . Der Weg hierherfiel ihnen sicherlich nicht leicht, aber die Situation macht unkonventionelle Maßnahmen einfach notwendig .
Ich sage Ihnen hier ja nichts, was meiner Fraktionoder den Kollegen dort oben auf der Besuchertribüneeingefallen ist . Wenn Sie das KfW-Kommunalpanel oderdie regelmäßig von der Bertelsmann-Stiftung veröffent-lichten Kommunalen Finanzreports aufmerksam studie-ren, dann stellen Sie fest, dass die Disparität wirklich sogroß ist, dass man grundsätzlich etwas an der Situationder Kommunen ändern muss; denn sonst geht die Schereweiter und weiter auseinander: Diejenigen, die Schuldenhaben, werden immer ärmer, und diejenigen, die ausrei-chend Geld haben – das sind inzwischen immerhin 20Prozent, es waren mal 13 Prozent –, werden immer rei-cher . Das ist schön für die Kommunen, die Geld haben,aber schlecht für unsere Gesellschaft . Der erste Teil desTitels Ihres Antrages – wir wollen uns noch mal daranerinnern – lautete ja: „Für gleichwertige Lebensverhält-nisse“ . Um sie zu erreichen, müssen wir etwas gegen dievorhandene Disparität tun .Im Moment ist es so: Es gibt Gemeinden mit großerSteuerkraft, und es gibt Gemeinden mit geringer Steuer-kraft . Kurz ein Beispiel: Der Kreis München – es wirdSie nicht überraschen – verfügt über eine Steuereinnah-mekraft von 3 440 Euro pro Einwohner . Der Kreis Vor-pommern-Greifswald aus meinem Heimatland verfügtIngbert Liebing
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über 518 Euro Steuereinnahmen pro Einwohner . Das istknapp ein Siebtel davon .
Umgekehrt sind die Ausgaben pro Kopf in diesemKreis sehr hoch . Wir haben dort nämlich nach wie voretwa 18 Prozent Arbeitslosigkeit . Das zieht hohe Kos-ten nach sich, zum Beispiel im Bereich Kosten der Un-terkunft . Auch dazu habe ich ein paar Beispiele mitge-bracht: Die Pro-Kopf-Ausgaben im Bereich Kosten derUnterkunft liegen in Mecklenburg-Vorpommern bei 244Euro, in Bayern bei 78 Euro . Und wie sind die Kreisebelastet? Zum Beispiel der Kreis Rostock mit 324 Euround der Kreis Unterallgäu mit 19 Euro pro Einwohner .Das heißt, nicht nur die Einnahmeseite ist unterschied-lich strukturiert – von den Schlüsselzuweisungen derLänder an die Kreise habe ich da noch gar nicht gespro-chen –, sondern auch die Ausgaben sind ungleichmäßigverteilt . Dort, wo schon wenig ist, ist viel zu leisten .Wir wollen auch an die Kosten der Grundsicherung imAlter erinnern . Auch daran haben viele der jetzt schwachaufgestellten Kreise tatsächlich noch lange zu knabbern,weil sie nämlich über viele Jahre hinweg die Kosten die-ser Leistungen alleine tragen mussten . Noch etwas – nurmal so für den Hinterkopf –: Die Kreise, in denen vieleMenschen Grundsicherung im Alter bekommen, müssenauch zukünftig die Kosten für das Personal tragen, dasfür die Bewilligung dieser Leistung zuständig ist; denndiese werden nicht vom Bund übernommen . Die Kreise,in denen es viele Menschen gibt, die eine Grundsiche-rung im Alter bekommen, brauchen also auch viele Men-schen, die die entsprechenden Anträge bearbeiten undhoffentlich bewilligen . Diese Kosten bleiben wieder beiden Kommunen hängen . Das ist auch bei anderen Aufga-ben so . – Das nur für den Hinterkopf .Ich glaube, dass es ganz wichtig ist, dass wir hierunsere Aufgabe gemeinsam wahrnehmen, dass wir füreinen Ausgleich sorgen, dass wir diese Disparität nichtfortschreiben, sondern gemeinsam Wege finden, um sie aufzulösen . Das ist eine Aufgabe, die der Bund natürlichgemeinsam mit den Kreisen angehen sollte; auch dieLänder sollten eingebunden werden . Es ist eine wirklicheGemeinschaftsaufgabe, die wir gemeinsam zu lösen ha-ben . Denn wir sind es den Bürgerinnen und Bürgern, diein diesen Kreisen wohnen, wirklich schuldig .Damit bin ich bei der Asyl- und Flüchtlingspolitik . Inallen Kreisen wird wirklich eine hervorragende Arbeitgeleistet . Man hilft sich gegenseitig, man geht unkonven-tionelle Wege . Ich denke, wir dürfen es nicht zulassen,dass die schwierigen Herausforderungen zulasten derBürgerinnen und Bürger gehen . Das würde ein ungutesKlima schaffen .Lasst uns deshalb gemeinsam diese Aufgabe in An-griff nehmen – im Interesse der Bürgerinnen und Bürgerin den Kommunen . Sie haben es verdient .Vielen Dank .
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Bernhard Daldrup, SPD-Fraktion .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Liebing, wirarbeiten, wie Sie wissen, gut zusammen . Ich bedankemich auch für die Erarbeitung des vorliegenden Antrags,den wir gemeinsam formuliert haben . Ich hätte aber nichtvermutet, dass Sie reflexartig in NRW-Bashing verfallen. Aus der Perspektive eines ehemaligen Bürgermeistersvon Sylt-Ost ist Nordrhein-Westfalen nicht so leicht zuverstehen; das kann ich wohl nachvollziehen .
Ich jedenfalls bin da ganz aufgeschlossen . So sollten Siesich, wie ich denke, einmal anschauen, was zum gegen-wärtigen Zeitpunkt in Hessen läuft: nämlich so ziemlichdasselbe, was früher Herr Rüttgers in Nordrhein-Westfa-len gemacht hat . Wissen Sie, was das Ergebnis war? HerrRüttgers ist abgewählt worden .
Und wir machen das dann anders .Jetzt zur Sache . 60 Bürgermeister – Frau Kassner,Sie haben darauf hingewiesen – waren vor einiger Zeit,im Februar, bei uns . Sie sind heute wieder hier . Sie allekommen aus Kommunen mit einer ausgesprochen ange-spannten Haushaltslage und haben sich in einem Bünd-nis zusammengeschlossen, das die Überschrift „Für dieWürde unserer Städte“ trägt .
Der Kernbestand kommunaler Selbstverwaltung istin einigen Kommunen in der Tat gefährdet . Diejenigen,die heute hier sind, repräsentieren – Frau Kassner hat eseben gesagt – immerhin 10 Millionen Menschen; das istnicht wenig . Wir, die Koalitionsfraktionen, zeigen heuteaber auch, dass uns die Kommunalpolitik, dass uns dasLeben in den Städten und Gemeinden wichtig ist unddass wir die Notlagen sehr ernst nehmen . Das zeigt auchunser Antrag heute, Frau Kassner . Ich bin all denjenigenaus den beiden großen Fraktionen, die daran mitgewirkthaben, sehr dankbar .Kerstin Kassner
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Ich will die vier Kernprobleme, die die Kommunenhaben, stichwortartig benennen: erstens die anhaltendhohe Verschuldung inklusive der wachsenden Kassen-kredite, zweitens die dauerhafte Investitionsschwächebei einem gleichzeitigen Rückstand von Investitionen,der bei 120 Milliarden Euro, vielleicht auch bei 150 Mil-liarden Euro liegt, dem allerdings nur eine Investitions-quote von 20 Milliarden Euro gegenübersteht, drittensdie dramatisch steigenden Soziallasten – 2005 betrugendie Sozialausgaben noch 35 Milliarden Euro, heute lie-gen sie bei über 50 Milliarden Euro; all das sind Kosten,die bei den Kommunen auflaufen – und viertens – das ist sozusagen die Quintessenz – die auseinanderdriftendenLebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland .Diese langfristigen Kernprobleme werden seit min-destens einem Jahr durch die große Zahl von Flücht-lingen in den Städten und Gemeinden überlagert – ichsage ausdrücklich „überlagert“ und nicht „verursacht“ ;sie stellen nämlich zum gegenwärtigen Zeitpunkt eineneue, eine zusätzliche Herausforderung für die Städteund Gemeinden dar . Deshalb erwarten wir seitens derSPD, dass die beim heutigen Flüchtlingsgipfel getroffe-nen Entscheidungen auch zeitnah und konkret umgesetztwerden, weil nur dann aus dem Appell der Kanzlerin„Wir können das schaffen!“ die Zuversicht entsteht: Ja,wir schaffen das auch .
Im Kern stehen die Kommunen vor vier großen Her-ausforderungen .Die erste große Herausforderung sind die internatio-nalen und europäischen Aufgaben zur Bekämpfung vonFluchtursachen . Darüber ist heute Morgen gesprochenworden; das ist nicht Thema dieser Debatte .Hier in Deutschland geht es insbesondere um die fi-nanzielle Handlungsfähigkeit der Städte und Gemeinden .Deswegen halten auch wir eine prozentuale Beteiligungdes Bundes an den Kosten jedes einzelnen Flüchtlingsfür richtig . Die 3 Milliarden Euro, die bisher bundesseitigangeboten worden sind, sind ein richtiger Schritt in dierichtige Richtung, aber vor dem Hintergrund der Zahlen,auf denen sie basieren, die aber nicht mehr aktuell sind,ist das einfach zu wenig . Ich habe auch Zweifel daran,dass die heute Morgen in den Nachrichten und im Fern-sehen vom hessischen Ministerpräsidenten geforderten4 Milliarden Euro hinreichend sind .
– Er hat es gesagt . – Zur Debatte gehört jedenfalls, zubetonen, dass eine strukturelle und dauerhafte Bundesbe-teiligung wichtig ist . Dazu gehört nicht nur, die Gesund-heitskarte verfahrensmäßig einzuführen, sondern auchdie Übernahme der Kosten .Überdies geht es um Verfahren zur Verteilung vonFlüchtlingen und damit verbundene organisatorische undtechnische Regelungen, die vorhin schon angesprochenworden sind und die ich hier nicht wiederholen will .Ich will mich gerne für die SPD dem Dank an dieMitarbeiterinnen und Mitarbeiter der öffentlichen Ver-waltung und an die Zivilgesellschaft anschließen . IhrEngagement kann man aber nur dann aufrechterhalten,wenn der Planungshorizont vor Ort über den nächstenTag hinausreicht .
Ich komme zurück zu den langfristigen Problemen .Wenn die Schere zwischen den Kommunen weiter aus-einandergeht, ist die Gleichwertigkeit der Lebensver-hältnisse in Deutschland gefährdet . Das ruft den Bundauf den Plan . Der Bund hat den verfassungsrechtlichenAuftrag, für die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnissezu sorgen . Das ist quasi die räumliche Seite des Sozial-staatsgebots, und das ist eine Aufgabe des Bundes .
Ebenso wie die dramatische Verschuldung klafft inder Tat – es ist schon richtig, was vorhin gesagt wordenist – auch die Investitionskraft auseinander . Es ist richtig,dass selbst innerhalb Bayerns Disparitäten festzustellensind . Das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner liegt inMünchen bei fast 90 000 Euro, während es im LandkreisBayreuth gerade einmal 19 000 Euro sind . Mit anderenWorten: Auch hier gibt es eine Unterschiedlichkeit derLebensverhältnisse und der Lebensbedingungen .Es erscheint – ich zitiere aus dem Kommunalen Fi-nanzreport der Bertelsmann-Stiftung –ausgesprochen unwahrscheinlich, dass die doku-mentierten Disparitäten das Ergebnis von politi-schen Fehlentscheidungen, Unterschieden in derEffizienz der Aufgabenerfüllung oder anderen selbstverschuldeten Aktivitäten sind .Das ist das Fazit der Bertelsmann-Stiftung . Deswegenmuss es, so sage ich es einmal, andere, zusätzliche Ver-ursachungen geben .Wir als Koalition haben meines Erachtens schon eineganze Menge erreicht . Das Thema Übernahme von So-ziallasten durch den Bund ist bereits angesprochen wor-den; da ist nicht nur an die Grundsicherung im Alter, son-dern auch an die jeweils 1 Milliarde Euro in den Jahren2015 und 2016 für die Eingliederungshilfe zu denken .Auch ist die Stärkung der Investitionskraft angesprochenworden . 3,5 Milliarden Euro sind keine Kleinigkeit . Wirhaben etwas für gleiche Lebenschancen getan, indem wirdie Mittel für das Sondervermögen für Kitaplätze aufge-stockt haben und eine ganze Reihe weiterer Punkte mehrangegangen sind .Wir erwarten allerdings auch, dass auf dem Flücht-lingsgipfel konkrete zusätzliche Vereinbarungen getrof-fen werden . Wir werden beispielsweise die Mittel für densozialen Wohnungsbau deutlich erhöhen, damit nicht nurjeder Flüchtling, sondern jeder, der über geringe MittelBernhard Daldrup
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verfügt und eine Wohnung benötigt, auch tatsächlicheeine Wohnung bekommt .
Herr Kollege, die Zeit .
Der letzte Punkt, den ich noch erwähnen möchte,
betrifft die Frage, wie es mit den Bund-Länder-Finanz-
beziehungen weitergeht . Das ist in der Tat eine Angele-
genheit, die zunächst einmal Bund und Länder zu regeln
haben . Man kann sich die Frage stellen, ob es nicht ein
interessanter Vorschlag ist, beispielsweise die Verteilung
des Umsatzsteueraufkommens nicht nur an die Wirt-
schaftskraft zu koppeln, sondern möglicherweise mit an-
deren sozialen Indikatoren zu verknüpfen . Ich persönlich
habe große Sympathien für Altschuldentilgungsfonds
und Ähnliches mehr. Nur: Es muss tatsächlich auch fi-
nanzierbar sein .
Ob es gelingt, die kommunalen Finanzbeziehungen
gänzlich auf neue Beine zu stellen, weiß ich zum gegen-
wärtigen Zeitpunkt nicht . Als Sozialdemokrat und als
Mitglied dieser Großen Koalition stelle ich jedoch gerne
fest: Die Kommunen und ihre Interessen haben großes
Gewicht in der Politik der SPD, in der Politik dieser Ko-
alition und auch, wie ich glaube, dieser Bundesregierung .
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Britta Haßelmann, Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Gäste! Liebe Mitwirkende im Aktions-bündnis „Für die Würde unserer Städte“! Ich finde es gut, dass wir heute diese Debatte führen . Diese Debattehaben wir mit Ihnen innerhalb der Fraktionen im Feb-ruar geführt . Viele von uns haben diese Debatte schonüber Jahre hinweg geführt; denn das Aktionsbündnis gibtes nicht erst seit diesem Jahr . Wir haben uns mit Ihnendarauf verständigt, heute über die Lage der Kommunenzu diskutieren. Ich finde es richtig, dass alle Fraktionen übereingekommen sind, dies auch zu tun .
Herr Liebing, beginnen wir gleich einmal damit: DieWelt ist nicht so einfach, dass man in ein kleines Nord-rhein-Westfalen-Bashing eintreten kann, wenn man überDisparitäten bei der Lage der Kommunen redet .
Das haben wir Ihnen in den vergangenen Jahren immerwieder versucht beizubringen . Leider haben Sie das bisheute immer noch nicht verstanden . Das wird heute viel-leicht mit nicht so viel Verve vorgetragen, weil Gäste dasind . Ich will Ihnen aber sagen: Weder Cuxhaven nochLudwigshafen, noch Mainz, noch Salzgitter, noch Saar-brücken, noch Neuwied liegen in Nordrhein-Westfalen .Das sind jedoch Mitglieder dieses Aktionsbündnisses .
Und die Mitglieder dieses Aktionsbündnisses beschrei-ben eine Situation, die seit Jahren vorherrscht, sehr prä-zise . Sie beschreiben die Disparität, die unterschiedlicheEntwicklung der Kommunen in Richtung einer Zweiklas-sengesellschaft . Es gibt prosperierende Kommunen undstrukturschwache Kommunen,
in denen sich die Probleme kumulieren, die aufgrund ei-ner hohen Arbeitslosenquote oder aufgrund von Struktur-reformen – ich denke zum Beispiel an das Ruhrgebiet –mit hohen Kosten konfrontiert sind . Deshalb können wirlängst nicht mehr von den Kommunen reden . Wir habenlängst eine Zweiklassengesellschaft . Gut 60 Kommunenhaben sich zusammengefunden in einem Aktionsbündnisder armen Städte, um ihre Bedürfnisse zu formulierenund zu artikulieren . Das ist ihr gutes Recht; denn sie ver-treten 10 Millionen Bürgerinnen und Bürger .
Schauen wir uns die Entwicklung an: Wir wissen, dasswir eine kommunale Verschuldung in Höhe von 135 Mil-liarden Euro haben; und bitte hören Sie auf, das im Sinneeiner Farbenlehre einzelnen Bundesländern zuzuschrei-ben .
135 Milliarden Euro kommunale Verschuldung – daszeigt mir, dass es ein Fehler ist, dass bei den Bund-Län-der-Finanzbeziehungen die Kommunen bisher keineRolle spielen .
Bernd, du hast das gerade auch angesprochen . Warumfinden wir nicht die Kraft, im Rahmen der Neuverhand-lungen der Bund-Länder-Finanzbeziehungen endlichauch über einen Altschuldenfonds zu diskutieren?
Bernhard Daldrup
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 124 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 24 . September 2015 11993
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Das wäre eine gute Gelegenheit, quasi ein Korridor, umdarüber zu sprechen .
Jede und jeder, die bzw . der sich damit auskennt, weiß,dass die Länderentschuldungsfonds und -stärkungspaktenicht ausreichen, um diesen großen Berg an kommunalerVerschuldung – 135 Milliarden Euro plus x – abzutragen .Wenn die betroffenen Kommunen wieder Land gewin-nen sollen, müssen wir das Thema Altschulden angehen .
Ein Weiteres: Meine Damen und Herren, innerhalbder letzten zwölf Jahre gab es eine enorme Entwicklungbei den sozialen Pflichtaufgaben. Das sind keine Aufga-ben, die sich eine Stadt oder Gemeinde selbst aussucht,sondern das sind bundesgesetzlich vorgeschriebene Auf-gaben, für die wir eine Gesamtverantwortung haben, fürdie auch der Bund Verantwortung trägt . Ein verfassungs-rechtlicher Diskurs und der Hinweis auf die Zuständig-keit der Länder helfen da nicht weiter . Die Ausgaben derKommunen für soziale Pflichtaufgaben lagen 2005 bei 30 Milliarden Euro . 2017 werden es 54 Milliarden Eurosein .
Als Bund haben wir die Verantwortung, sicherzustellen,dass die sozialen Pflichtaufgaben erfüllt werden können. Nicht die Länder, sondern wir als Bund tragen dafür dieVerantwortung . An der Entwicklung sieht man doch,dass die Kommunen diese Aufgaben nicht allein bewäl-tigen können .
Deshalb ärgert es mich so, dass Sie nicht zu IhremWort gegenüber den Ministerpräsidentinnen und Mi-nisterpräsidenten stehen . In der Vereinbarung über denFiskalpakt stand nicht – das wissen alle, die sich damitbeschäftigen –, dass es 2018 5 Milliarden Euro für dieEingliederungshilfe geben wird, sondern da stand drin,dass in dieser Legislaturperiode ein neues Bundesleis-tungsgesetz zur Eingliederungshilfe erarbeitet wird, dasdie Kommunen um 5 Milliarden Euro entlastet .
Man muss immer wieder deutlich sagen, dass diese5 Milliarden Euro im Moment erst für den Haushalt 2018etatisiert sind . Da beißt die Maus keinen Faden ab – gu-cken Sie einfach einmal in den Haushalt –: Für 2018 ste-hen 5 Milliarden Euro drin . Sie haben den Kommunendiese 5 Milliarden Euro aber für jetzt zugesagt .
Jetzt finanzieren Sie aber nur eine Übergangsmilli-arde . Diese Übergangsmilliarde – das gehört auch zurWahrheit; ich sage das in Richtung Städtetag – wird zurHälfte über die Kosten der Unterkunft an die Kommunengegeben – das hilft den armen Städten, den Städten mitStrukturschwäche – und zur Hälfte über die Umsatzsteu-er . Innerhalb der Städtegemeinschaft wird nun natürlichdarum gerungen, wo es eine wirkliche Entlastung gibt .Aus Sicht der Grünen wäre es bedeutsam, zu sagen: Wirhaben kein Geld für das Gießkannenprinzip . Wir wollenuns besonders dem Thema Strukturschwäche widmenund damit den Städten und Gemeinden, die struktur-schwach sind .
Deshalb ist unser Anknüpfungspunkt ganz klar beiden sozialen Pflichtausgaben; denn Arbeitslosigkeit, Strukturschwäche und hohe Sozialausgaben sind immermiteinander kombiniert . Da hilft es, deutlich zu sagen:Das priorisieren wir . Hier ist Unterstützung notwendig .Deshalb sind Fragen wie die Eingliederungshilfe, die zu-gesagt war, die Kosten der Unterkunft und die Grundsi-cherung im Alter, die wir als Bund zu 100 Prozent über-nehmen – das ist richtig und gut –, Anknüpfungspunkte,um hier einen Beitrag zu leisten und wirklich Unterstüt-zung zu geben .
Ein weiterer Punkt ist aus meiner Sicht das Thema In-vestitionsstau . Wir reden über einen Investitionsstau inHöhe von 132 Milliarden Euro auf der kommunalen Ebe-ne . Deshalb ist es notwendig, von Bundesseite stärker indas Thema einzusteigen . Wir wissen: Die Investitions-quote im Haushalt ist viel zu niedrig, um dieses Themaanzugehen . Wir müssen auch hier Angebote und Anreizefür die Kommunen schaffen, damit sie endlich wieder in-vestieren können, in Instandhaltung, in energetische Sa-nierung und in weitere Bereiche . Ein Stichwort ist schongefallen: sozialer Wohnungsbau . Diesen brauchen wirzwingend und ganz notwendig in den Städten und in dengroßen Ballungsräumen . Deshalb wäre hier eine Förde-rung nicht in Höhe von 500 Millionen, sondern in Höhevon 2 Milliarden Euro richtig .
Ihre Bauministerin hat doch auch schon einmal einenVorschlag dazu gemacht . Das ist richtig und notwendig .Zuletzt will ich noch kurz etwas zu Flüchtlingen sa-gen . Wir haben großen Respekt vor dem, was vor Ort inden Städten und Gemeinden geleistet wird:
von der öffentlichen Verwaltung, von ehrenamtlich-bür-gerschaftlich engagierten Menschen und von THW, ASB,DRK und vielen Hauptamtlichen . Die Arbeit ist ohne siewirklich nicht zu schaffen . Umso irritierender ist es, dassvonseiten des Bundes heute in den Verhandlungen 3 Mil-liarden Euro als Unterstützung für die Länder und Kom-munen angeboten werden . Angesichts dessen, dass dieKommunen im Bereich der Flüchtlingsbegleitung und-betreuung 1,2 Milliarden Euro ausgeben – das ist die ak-tuelle Zahl von heute, und das ist doch ein Statement fürsich –, sind 3 Milliarden Euro auf jeden Fall zu wenig .Britta Haßelmann
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Deshalb muss es heute aufseiten des Bundes Bewegunggeben. Wir müssen Geflüchteten und Kommunen unsere Unterstützung anbieten .Vielen Dank .
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Alois Karl, CDU/CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen des DeutschenBundestages! Liebe Kollegen aus Nordrhein-Westfalenund aus den anderen Bundesländern, ich darf mich Ihnenvorstellen: Ich war früher selber Oberbürgermeister einernicht so großen Stadt wie Wuppertal, Köln oder Berlin,aber immerhin . Einmal Kommunalpolitiker, bleibt manirgendwie immer Kommunalpolitiker . Das ist gut so . Ichmeine, dass die Kollegen hier alle eine gute Verwurze-lung in der Kommunalpolitik haben sollten und dass sieihren Fundus, ihre Kraft, ihre Herkunft aus der Kommu-nalpolitik nie verschweigen dürfen . Meine lieben Kolle-gen auf der Tribüne, wir aus der CDU/CSU-Fraktion sindzu ganz großen Teilen kommunalpolitisch verankert . Da-her weiß ich, dass die kommunalpolitischen Themen beiuns in der CDU/CSU-Fraktion sehr gut aufgehoben sind .
Ich weiß, dass wir diesen Antrag miteinander geschrie-ben haben, lieber Herr Daldrup . Trotzdem meine ich, dieHandschrift der CDU/CSU gut erkennen zu können .
Vor zehn Jahren war Bundestagswahl . Vor zehn Jahren istVolker Kauder zum Fraktionsvorsitzenden gewählt wor-den, und seit dieser Zeit gibt es eine kommunalfreundli-che Politik in der Bundesregierung .
Dies wird auch durch den Antrag dokumentiert .
– Lieber Volker, ich habe dich gerade gelobt; bitte höremir schön zu .
Wir haben seit zehn Jahren – ich gehe auch kurz aufden Beitrag des Kollegen Liebing ein – eine mit mehr als180 Mitgliedern aus unserer Fraktion hervorragend aus-gestattete Arbeitsgemeinschaft Kommunalpolitik . DieQuantität ist hervorragend und die Qualität – das mussich sagen – fast noch besser .
In diesem Gremium werden die Themen, die Sie, die unsalle bewegen, in der Tat profund bewältigt .Meine Damen und Herren, in dem Antrag, den wirheute einbringen, sind 14 Forderungen enthalten . In derkatholischen Kirche gibt es die 14 Nothelfer . Man meintfast, der Bund müsse sich jetzt in die Gruppe der 14 ein-reihen und den 15 . spielen . Wir tun das allerdings, in un-terschiedlicher und seit zehn Jahren ganz hervorragenderArt und Weise . Ich meine, dass wir unseren Auftrag er-füllen, die Städte und Gemeinden in unserem Lande fi-nanziell hervorragend auszustatten .Die Städte und Gemeinden sind mehr als Kostgängerbeim Bund .
Wir müssen der Würde der Städte, der Würde der Bür-germeister und Oberbürgermeister auch dadurch Rech-nung tragen, dass wir dafür sorgen, dass sie nicht in je-der schwierigen Situation zum Bund oder Land kommenmüssen, um zu betteln . Vielmehr müssen wir sicherstel-len, dass sie ihre Stärken entfalten und selber Einnahmengenerieren können . Allein aus diesem Grunde war es einegroße Leistung, auch dieser Fraktion, dass wir die Ge-werbesteuer erhalten haben .
Auch dieses Vorhaben wurde angefeindet . Aber heutefließen 33 Milliarden Euro auf diesem Weg an die Städte und Gemeinden .
– Ja, ja . Ihr Gedächtnis trügt vielleicht ein bisschen . – Wirhaben das mit sehr großer Standfestigkeit durchgezogen .Meine sehr geehrten Damen und Herren, den Städtenund Gemeinden geht es unterschiedlich: den einen sehrgut und den anderen weniger gut . Ich kann mich aller-dings erinnern, dass Dr . Articus, der Hauptgeschäftsfüh-rer des Deutschen Städtetages, und Professor Henneke,der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Landkreistages,auf der gleichen Veranstaltung gesagt haben, dass dieKommunen vom Bund finanziell noch nie so gut ausge-stattet worden sind, wie es heute der Fall ist .
Auch das ist ein Punkt, den man hier erwähnen muss .
Britta Haßelmann
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Natürlich – Herr Daldrup, Sie haben das gesagt –:In Hessen könnte die Regierung abgewählt werden . Damuss ich sagen: Dann hätten wir ja noch ein Geberlandweniger .
Wir haben sowieso bloß noch drei Geberländer inDeutschland, die in den Länderfinanzausgleich einzah-len . Dazu gehören Hessen – wenn auch nicht in überwäl-tigendem Maße –, Baden-Württemberg und Bayern . Ichglaube, es wäre eine Katastrophe, wenn nur noch zweiLänder einzahlen würden .Meine Damen und Herren, ich sage ganz bewusst,dass wir unsere Städte und Gemeinden auch deshalb fi-nanziell starkmachen müssen, weil es so ist, wie es inder Bayerischen Verfassung heißt – in anderen Länder-verfassungen ist das ähnlich –: Die Gemeinden sind dieursprünglichen Körperschaften des Staates,
nicht der Bund und nicht die Bundesländer, die oft weni-ger als 70 Jahre alt sind . Seit Jahrhunderten, seit tausendJahren sind es die Gemeinden, die den Staat prägen unddie Aufgaben in unserem Lande lösen .Vorhin ist von Ingbert Liebing und Nachrednernschon gesagt worden, dass es in der Tat die Gemeindensind, die auch bei der neuen Aufgabenstellung der Asyl-und Flüchtlingsfrage die Kastanien aus dem Feuer holenmüssen . Natürlich: Die Bürgermeister sind immer da; siemüssen die Probleme vor Ort lösen . Minister und Vize-kanzler kommen und gehen, schauen sich alles an, unddann sind sie wieder weg .
Aber der Bürgermeister ist immer da . Er muss für all dieLeistungen oder Nichtleistungen, die vor Ort erbrachtwerden, geradestehen .
Meine Damen und Herren, wir haben in den letztenzehn Jahren direkte oder indirekte Leistungen in ei-nem Volumen von mehr als 170 Milliarden Euro an dieKommunen gezahlt . Wir hätten das nicht machen kön-nen, wenn wir noch die gleiche Situation wie im Jah-re 2005 hätten . Erinnern Sie sich doch bitte, dass wirim Jahre 2005 ein strukturelles Haushaltsdefizit von fast 60 Milliarden Euro hatten, dass Hans Eichel den Haus-halt nur dadurch ausgleichen konnte, dass er neue Schul-den in Höhe von 30 Milliarden Euro aufgenommen hat .Die Gemeinden hatten ein Gesamtdefizit von 8,5 Milliar-den Euro aufzuweisen . In diesen Tagen verzeichnen wirhingegen einen Finanzierungsüberschuss – wohlbedacht:die einen mehr und die anderen weniger .Die Arbeitslosigkeit haben wir gewaltig gesenkt;auch das kommt unseren Gemeinden zugute . Ein Segenist, dass wir die Ausgaben für Bildung und Forschungdeutlich erhöhen konnten und die Konjunkturprogrammeauch in unseren Städten und Gemeinden hervorragendangekommen sind .Meine Damen und Herren, das Potpourri der Leistungenkönnte man fortführen . Wie weit müssten wir unsereLeistungen einschränken oder sogar einstellen, wenn wirnoch die Politik von vor zehn Jahren hätten und wennsich in den letzten zehn Jahren nichts grundlegend ge-bessert hätte?Meine Damen und Herren, ich bin zuversichtlich, dasswir unsere Aufgaben erfüllen werden . Wir werden auchin unserem Eifer, die Gemeinden systematisch zu unter-stützen, nicht nachlassen . Beispiele dafür sind schon ge-nannt worden .Ich nenne hier nur noch einmal die Leistungen für dieKdU, die Kosten der Unterkunft, für die in diesem Jahrungefähr 5 Milliarden Euro zur Verfügung stehen . Notabene: 2005 sollte das noch abgeschafft werden . Das mussman sich einmal in Erinnerung rufen . Ab 2018 werdenjährlich 5 Milliarden Euro für die Eingliederungshilfe –das wurde ja beschlossen – bereitgestellt . Daneben über-nehmen wir jetzt zu 100 Prozent die Kosten der Grundsi-cherung . Das sind großartige Leistungen .Ich könnte das weiter fortführen, Herr Präsident .
Nein, das können Sie nicht mehr .
Wenn Sie meine Redezeit verdoppeln würden, dann
könnte ich das tun . Ich befürchte aber, dass Sie mir diese
Bitte abschlagen .
Daher sage ich Ihnen, liebe Kollegen aus der Kom-
munalpolitik: Wir haben großen Respekt vor Ihrer Arbeit
und Ihrer Leistung . Ich habe auch großen Respekt vor der
Arbeit unserer Koalition
und in Sonderheit vor der Arbeit meiner Fraktion, der
CDU/CSU .
Herzlichen Dank .
Nächste Rednerin ist die Abgeordnete Petra Hinz,
SPD-Fraktion .
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kolleginnenund Kollegen aus den Kommunen! Sehr geehrte Ober-bürgermeisterinnen und Oberbürgermeister sowie Stadt-kämmerer, die Sie heute zum zweiten Mal in diesem Jahrhierher nach Berlin gekommen sind! Für das eine oderandere muss ich persönlich mich nicht entschuldigen,Alois Karl
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weil ich jetzt für meine Fraktion und nicht für die Koali-tion reden werde .
Lieber Alois Karl, ich bin jetzt fast auf den Tag ge-nau seit zehn Jahren im Deutschen Bundestag . Eines hatmich dabei ständig begleitet, nämlich das Thema Gewer-besteuer . Es war bei der CDU/CSU bereits in der Gro-ßen Koalition ein Thema, die Gewerbesteuer zu opfern .Das kann man alles nachlesen . In der zurückliegendenschwarz-gelben Koalition war das wieder ein großes The-ma . Minister Schäuble hat damals nämlich eine Kommis-sion eingesetzt, um die Gewerbesteuer abzuschaffen .
Da Sie aber keine Alternative finden konnten, um Ein-nahmen für die Kommunen zu rekurrieren, haben Siedieses Projekt gezwungenermaßen beiseitegelegt . Wennalso jemand für sichere Einnahmequellen für Kommunensteht, dann ist es weiß Gott nicht die CDU/CSU diesesHauses .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sprechen ja im-mer sehr viel über strukturschwache Regionen . Ich heißePetra Hinz, und als Namenszusatz habe ich Essen . Essenliegt bekanntlich in Nordrhein-Westfalen . Ich möchtedeutlich machen, dass wir in NRW aufgrund des Struk-turwandels in den zurückliegenden Jahrzehnten vor gro-ßen Herausforderungen standen . Aufgrund der Zechen-schließungen und der Krise im Bereich Kohle und Stahlhaben wir über eine halbe Million Arbeitsplätze verloren .Das muss man einfach so zur Kenntnis nehmen . Davon,dass die Kommunen in meinem Bundesland diese He-rausforderungen gestemmt haben, hat das Land Bayernin den zurückliegenden Jahrzehnten definitiv profitiert.
Was bedeutet das eigentlich für die alltägliche Arbeitder Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeister, derStadtkämmerer und der ehrenamtlichen Ratsmitglieder?Das muss man hier heute doch auch einmal in dieserForm sagen:
Auf der einen Seite entscheiden der Bund und die Län-der über Programme für den Kitaausbau, die Pflege, die Gesundheitsvorsorge, die Prävention usw ., auf der ande-ren Seite müssen die Kommunen diese ganzen Maßnah-men umsetzen . Auf der einen Seite geben wir mehr Geldfür Infrastrukturmaßnahmen, auf der anderen Seite sindeinige Kommunen und Gemeinden völlig davon ausge-schlossen, die notwendigen Fördergelder abzurufen . Wa-rum?
Frau Kollegin .
Ja?
Der Kollege Karl möchte Ihnen eine Zwischenfrage
stellen . Darf er das?
Ja, dadurch bekomme ich mehr Redezeit . Sehr gerne .
Ja, ich halte die Zeit an .
Bitte .
Kollege Karl .
Liebe Frau Kollegin, Sie haben jetzt davon gespro-
chen, dass Bayern jahrzehntelang von Nordrhein-West-
falen profitiert hat.
Ja .
Das stimmt zwar, aber wir haben, wie Sie wissen, einen
Länderfinanzausgleich. Über 20 Jahre haben wir dadurch
etwas bekommen, etwa 2 Milliarden Euro, umgerechnet
auf die heutigen Verhältnisse . Heute, Frau Hinz, zahlen
wir in einem Jahr mehr als 4 Milliarden Euro an Ihr Land
und an andere Länder . Ich meine, Sie hätten genug Chan-
cen gehabt, das Thema nicht anzusprechen . Sie tun das
aber, und darum muss ich Ihnen sagen, dass wir unser
Obligo durchaus erfüllt haben .
Vielleicht ist Ihnen auch bekannt, dass wir das einzige
Bundesland sind, das von einem Nehmerland zu einem
Geberland geworden ist, das mit seiner Leistungskraft
dazu beiträgt, dass die Verschuldung bei Ihnen und an-
deren Bundesländern nicht so dramatisch ausfällt, wie es
ansonsten der Fall wäre . Dafür brauchen Sie sich nicht zu
bedanken; Sie sollten es aber auch nicht verschweigen .
Es ist schon einmal der erste Schritt, dass jetzt geradeein Kollege der CSU – also aus Bayern – eingestandenhat, dass einige Bundesländer dazu beigetragen haben,Petra Hinz
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dass Sie in den zurückliegenden Jahrzehnten das aufbau-en konnten, was Sie aufgebaut haben . Das ist ja schonmal ein erster Fortschritt .
Zweitens gibt es einen 24 . Subventionsbericht . Dortist nachzulesen, welche Subventionen das Land Bayernbezieht, womit genau das, was Sie an Agrarwirtschaft ha-ben, mitfinanziert wird. Darüber können wir uns gerne unterhalten . Wenn dies bei allen anderen Bundesländerngenauso gemacht werden würde, würde es in Bezug aufunsere Kommunen möglicherweise ein bisschen gerech-ter zugehen .
Deswegen sind die Kolleginnen und Kollegen aus denunterschiedlichsten Bundesländern – aus sieben Bun-desländern – hierhergekommen . Insofern gebe ich Ihnenrecht, wenn Sie hier heute bestätigen, dass das Land Bay-ern immer von anderen Ländern – unter anderem auchvon Nordrhein-Westfalen – profitiert hat.
– Herr Kauder, man versteht Sie am Bildschirm sowiesonicht . Sie können gerne eine Zwischenfrage stellen, aberbitte nicht dazwischenreden, wenn ich rede . Ich möchte,dass Sie das bitte respektieren .
Warum sind Infrastrukturmaßnahmen in einigen Bun-desländern bzw . Kommunen nicht abrufbar?
Ganz einfach: Weil Ihnen die Möglichkeit der Finanzie-rung der Komplementärmittel fehlt; das heißt, der Ei-genanteil ist von diesen Kommunen nicht finanzierbar. Aus diesem Grunde sind sie abgehängt, während anderedie gesamten Fördermittel, die der Bund bereitstellt, ent-sprechend abrufen können . Sie sind auch deshalb abge-hängt, weil im Rahmen der Haushaltssicherungskonzep-te, die die Kommunen stemmen und die weiß Gott in densieben Bundesländern eine große Herausforderung dar-stellen, so viele Personalstellen abgebaut worden sind,dass sie gar nicht mehr in der Lage sind, die entsprechen-den Programme und Maßnahmen abzurufen .Ich sehe, Herr Präsident, meine Zeit läuft gleich ab .
Dann komme ich jetzt zum Schluss . – Wir haben in denzurückliegenden Jahren häufig darüber diskutiert – zum Ende der ersten Großen Koalition haben wir dazu einensehr guten Antrag verfasst –, was den Kommunen helfenkönnte . Wir, die Ruhrgebiets-MdBs der SPD-Bundes-tagsfraktion, sind seit zwei Jahren mit den kommunalenVertretern im Gespräch; es gibt gemeinsame Anträge undMaßnahmen . Die Kommunen sind weiß Gott keine Bitt-steller, sondern sie sind das Fundament unserer Demo-kratie .Die Kommunen brauchen verlässliche Einnahmen . Dagebe ich meiner Kollegin von der Bundestagsfraktion derGrünen eindeutig recht: Wir auf Bundesebene müssenverlässliche Partner sein. Da reicht eine Anschubfinan-zierung nicht aus, sondern für die Programme im Sozial-bereich müssen die entsprechenden Gesetze auf den Weggebracht werden, und vor allem müssen wir dafür sorgen,dass die Mittel bereitgestellt werden, die die Kommunenim Bereich der Infrastruktur, der Bildung und des Sozial-wesens benötigen .Ich hoffe, dass sich das, was die Kommunen jetzt ge-rade im Bereich der Flüchtlingshilfe leisten, heute Abendbeim Gipfel, der gemeinsam mit den Ministerpräsiden-tinnen und Ministerpräsidenten stattfindet, widerspiegelt. In diesem Sinne wünsche ich uns allen eine gute Bera-tung .Vielen Dank, dass Sie hierhergekommen sind .
Sie können davon ausgehen, dass es in diesem Bundestagverlässliche Partner an Ihrer Seite gibt .
Frau Kollegin Hinz, Sie waren in etwa in der Zeit .
Sonst hätte ich etwas gesagt . Die Redezeit wird bei einer
Zwischenfrage angehalten . Insofern haben Sie sich kor-
rekt im Zeitkorsett befunden .
Jetzt kommt der Kollege Jürgen Hardt für die CDU/
CSU .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichmöchte mich zunächst herzlich dafür bedanken, dassich als Fachfremder hier reden darf . Aber mein Wahl-kreis ist im Zusammenhang mit Kommunalpolitik einganz besonderer . Er umfasst drei Großstädte: Solingenmit 160 000 Einwohnern, Remscheid mit 110 000 Ein-wohnern und den Süden Wuppertals mit 40 000 Einwoh-nern . Ansonsten sind die Kollegen Hintze und Zöllmerdie Wuppertaler Abgeordneten . Von daher ist für uns dasThema alltäglich .Liebe Frau Kassner, einen Kommunal-TÜV brauchtdie CDU/CSU-Fraktion nicht .
Bei uns ist jeder sein eigener Kommunal-TÜV, wir sindder Kommunal-TÜV . Wir haben in unseren Reihen er-fahrene Kommunalpolitiker, zum Beispiel den früherenOberbürgermeister von Gelsenkirchen, der heute Ge-burtstag hat, Oliver Wittke .
Petra Hinz
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Ein Wort zu Herrn Daldrup . Dass unser kommunal-politischer Sprecher über viele Jahre Erfahrung in einerKommune gesammelt hat, die im Norden Deutschlandsliegt und vielleicht von der einen oder anderen Wit-terungslage begünstigt ist, bedeutet nicht, dass wir dieDinge in der Kommunalpolitik anders sehen . Ich glaube,dass Ingbert Liebing nicht nur das Zeug zu einem gutenBürgermeister hat, sondern dass er auch das Zeug zu ei-nem guten Ministerpräsidenten von Schleswig-Holsteinhat .
Ich möchte dennoch den Blick auf das Grundproblemrichten und auf den Beitrag, den wir dazu leisten, dasProblem zu lösen . Wir haben in den drei Großstädten,die ich vorhin genannt habe, und in vielen anderen Kom-munen, die in dem angeführten Bündnis vertreten sind,über viele Jahre die Situation gehabt, dass man sich alsStadtverordneter, als Bürgermeister oder als Kämmererin einer Art Vergeblichkeitsfalle fühlte . Man konnte trotzaller Zumutungen für die Bürger, etwa Schließungen vonKultureinrichtungen, die Nichtsanierung notwendiger In-frastruktur oder die Erhöhung von Grund- und Gewerbe-steuer, das Problem nicht an der Wurzel packen . Man hatim Stadtrat häufig gesagt: Warum sollen wir denn jetzt das Schwimmbad schließen? Das nützt uns nichts . Obwir 50 Millionen Euro oder 49,5 Millionen Euro kommu-nales Defizit im Jahr haben, ist doch egal. Wir kommen aus den Schulden nicht raus .Es ist den Kommunen zum Glück gelungen – daranhat der Bund einen ganz maßgeblichen Anteil –, einenAusweg aus dieser Misere, aus dieser Krise zu finden – das gilt konkret für viele nordrhein-westfälische Kom-munen, auch für Solingen, Remscheid und Wuppertal –,indem wir in den Kommunen Konzepte entwickelt ha-ben . Nach diesen Konzepten müssen die Kommunenselbst enorme Anstrengungen unternehmen, um Kosteneinzusparen oder die Einnahmesituation durch höhereSteuern zu verbessern . Außerdem wird das Land in diePflicht genommen, und wir vertrauen darauf, dass uns der Bund mit finanziellen Entlastungen massiv hilft, und zwar da, wo die Lage am schlimmsten ist, nämlich beiden steigenden Sozialausgaben .Im Zeitraum 2010 bis 2018 werden die Länder undKommunen vom Bund um insgesamt 125 Milliar-den Euro entlastet . Das ist eine Hausnummer . Damitwird im Übrigen deutlich die Summe überstiegen, dievon dem einen oder anderen Bundesland – ich möchteden Streit an dieser Stelle nicht fortführen – als Entlas-tung der Kommunen mit Blick auf deren Finanzsituationgewährt wird . Der Bund trägt einen ganz entscheidendenAnteil .Die Kämmerer und die Oberbürgermeister dieserStädte haben im Grunde drei Sorgen, die sie umtreiben .Die erste Sorge ist: Was würde in Bezug auf die Altschul-den passieren, wenn die Zinsen explodierten und all un-sere Bemühungen, aus den Schulden herauszukommen,vergebens wären? Ich sehe das tatsächlich als drängen-des Problem an . Es ist Gott sei Dank nicht akut, weil dieZinssätze derzeit auch bei Kassenkrediten niedrig sind .Aber ich möchte an dieser Stelle schon sagen: Gemäßunserer Verfassung sind die Länder für die Finanzausstat-tung der Kommunen zuständig . Deswegen müsste vondort aus die Initiative kommen, dahin gehend etwas zumachen .Die zweite Sorge der Kommunen ist, dass von demGeld, das der Bund, verfassungsrechtlich bedingt, denKommunen häufig auf dem Umweg über die Länder zu-kommen lässt, etwas an den Fingern des einen oder an-deren Finanzministers hängen bleibt . Auch das ist sicher-lich ein Problem, das in allen Bundesländern nicht ganzvon der Hand zu weisen ist . Ich könnte an dieser Stellewieder konkrete Beispiele aus meinem Bundesland nen-nen, was ich aber nicht mache .Wir müssen sicherstellen – das ist eine ganz wichti-ge Aufgabe in der Abstimmung zwischen dem Bund undden Ministerpräsidenten –, dass die Entlastungen durchden Bund, zum Beispiel die geplante Entlastung bei derEingliederungshilfe, bei den Kommunen tatsächlich an-kommen . Wenn man die Diskussion über die Eingliede-rungshilfe verfolgt, merkt man sofort, dass die Länderihren Anteil haben wollen und dass Leistungsverbesse-rungen in großem Umfang zu den Ideen gehören, die aufden Tisch kommen . Das alles könnte möglicherweise einStück weit das Geld aufzehren, das wir zur Verfügungstellen . Nein, wir müssen darauf bestehen, dass diesesGeld auch tatsächlich bei den Kommunen ankommt .Die dritte große Sorge, die bei Kämmerern zuschlaflosen Nächten führt, ist, dass durch die gegenwärti-ge Flüchtlingspolitik und die massive Zuwanderung vonMenschen nach Deutschland die Kommunen finanziell überfordert werden und sie deswegen ihre Einsparzieleund damit einen ausgeglichenen Haushalt in den vorge-gebenen Rahmenbedingungen nicht erreichen können .Das ist, glaube ich, die zentrale Forderung auch andie Runde, die heute noch tagt, nämlich dass wir einenWeg finden – ich glaube, der Vorschlag, den die Regie-rungskoalition dazu unterbreitet, ist gut –, dass die Kom-munen trotz der vielen Arbeit, die sie damit haben, unddem enormen Einsatz, den sie zeigen, sicher sein können,dass die Kosten nicht an ihnen hängen bleiben . In mei-nem Bundesland zum Beispiel leisten die Kommunenganz viel in Amtshilfe für die Landesregierung . Es wirdzwar gesagt: Irgendwann machen wir einen dicken Strichdarunter und rechnen ab . Ich sage aber ganz konkret: Wirwerden in den Wahlkreisen die Landesregierung daranmessen, ob es tatsächlich so ist, dass die Kommunen fürdas, was sie im Rahmen der Amtshilfe für das Land ontop zu dem leisten, was sie sowieso tun müssen, glatt-gestellt werden und dass sie insgesamt bei der enormenAufgabe, die Flüchtlinge willkommen zu heißen und gutaufzunehmen, nicht auch noch finanziell darunter leiden müssen .Ich möchte zum Schluss noch etwas mit Blick aufDeutschland und die Nachbarstaaten sagen . Es glaubedoch keiner, dass wir ohne kommunale Selbstverwal-tung – ohne das, was die eigenverantwortlichen Bürger-meister und Stadträte in diesen Wochen zusammen mitden Sozialverbänden und den Ehrenamtlichen leisten –,sondern allein mit irgendeiner Zentralverwaltung aufBundes- oder Landesebene bei der enormen Zahl vonJürgen Hardt
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Flüchtlingen, die nach Deutschland kommen, auch nurannähernd so relativ gut mit dem Thema klarkämen .Nein, auch da beweist sich: Es ist ein enormer Trumpf,ein enormer Vorteil und eine enorme Stärke unserer De-mokratie, dass wir diese starken selbstverwalteten Kom-munen haben, und dabei muss es bleiben . Dafür setzenwir uns ein . In diesem Sinne ist der gemeinsame Antragzu verstehen .Danke schön .
Wie wir gerade erfahren haben, feiert der Kollege
Oliver Wittke seinen Geburtstag durch Teilnahme an der
Plenarsitzung des Deutschen Bundestages . Dazu herzli-
chen Glückwunsch! Ich wünsche Ihnen für das kommen-
de Lebensjahr Glück, Gesundheit und Gottes Segen .
Jetzt spricht unsere Kollegin Bärbel Bas für die SPD .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeGäste! Ich will die Debatte noch etwas anreichern undein bisschen konkretisieren, was das aus Sicht einer ein-zelnen Stadt, nämlich der Stadt Duisburg, bedeutet . Sieist bei vielen Themen als schlechtes Beispiel genanntworden . Ich will jetzt auch einmal eine positive Nach-richt verkünden: Es ist uns seit 1992 erstmalig gelun-gen, einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen . Das istsicherlich auch unserer Politik zu verdanken, weil wirden Kommunen Mittel für ihre Aufgaben im sozialenBereich zur Verfügung gestellt haben . Dass das LandNordrhein-Westfalen einen Stärkungspakt Stadtfinanzen aufgelegt hat, hat dabei sicherlich geholfen . Deshalb willich auch dem Kämmerer, der die Debatte auf der Besu-chertribüne verfolgt, noch einmal herzlich danken . Eswar, glaube ich, sein letzter Haushalt, weil er bald in denRuhestand gehen wird . Vielen Dank für diesen Kraftakt!
Man darf dabei aber eines nicht verschweigen – dar-um ging es auch bei meinen Vorrednern –: Die Stadt Du-isburg hat einen Mühlstein mitzuschleppen . Ich glaube,das ist beispielhaft für viele andere Kommunen . Duis-burg hat 1,75 Milliarden Euro Altschulden . Die Kredit-kosten für diese Altschulden betragen 30 Millionen Euroim Jahr . Wir reden hier oft über Milliardenbeträge . Aberfür eine einzelne Stadt sind 30 Millionen Euro, die siebei Niedrigzinsen für die Altschulden aufbringen muss,verdammt viel . Der Kollege Hardt hat es gerade erwähnt:Wenn die Zinslage anders wäre, wären die Kreditkostennoch viel höher . Dieses Geld fehlt für Investitionen .Ich will noch einmal deutlich machen, zu was für Um-trieben das manchmal führt die Düsseldorfer Kollegenin beiden Fraktionen mögen es mir nachsehen, wenn ichdas sage:Wir Duisburger haben mit den Düsseldorfern eine ge-meinsame Stadtbahnlinie . Weil die Stadt Duisburg dieInvestitionskosten für diese Stadtbahn nicht mehr tragenkonnte, bestand in der Tat die Gefahr, dass diese Linie ander Stadtgrenze aufhört und dass die Menschen ausstei-gen müssen, um mit Bus und Bahn nach Düsseldorf zufahren . Das hätte auch in umgekehrter Richtung gegol-ten . Das sind ganz praktische Probleme . So etwas müs-sen wir verhindern; das ist entscheidend .Ich komme auf die sozialen Ausgaben zu sprechen .Die Quote der Langzeitarbeitslosen in Duisburg liegt bei43 Prozent . Daran wird deutlich, dass die Stadt massivesoziale Ausgaben hat, die sie nicht alleine tragen kann,wenn sie keine Unterstützung durch Arbeitsmarktmaß-nahmen bekommt . Andrea Nahles hat mit ihrem Minis-terium erste entsprechende Programme aufgelegt . Aber100 Plätze für eine Stadt, in der 30 000 Menschen in derLangzeitarbeitslosigkeit leben, sind deutlich zu wenig .Ich wünsche mir, dass wir hier in Berlin an solche Punktedenken, wenn wir in den Haushaltsdebatten über die Res-sorts Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik sprechen .
Ein Thema wurde heute noch gar nicht angesprochen .Ich glaube, das ist ein Grund, warum sich damals ein ent-sprechendes Bündnis gebildet hat . Duisburg hat seit 2007eine enorme Zuwanderung von EU-Bürgern aus Südeu-ropa, hauptsächlich aus Bulgarien und Rumänien, zuverkraften . Inzwischen leben fast 13 000 zugewanderteMenschen in der Stadt . Das erfordert eine enorme Integ-rationsleistung . – Der Kollege Rebmann aus Mannheimnickt gerade zustimmend, wie ich sehe . – Andere Städteim Ruhrgebiet sehen sich mit einer ähnlichen Situationkonfrontiert . Ich habe die Sorge, dass dieses Thema auf-grund der aktuellen Flüchtlingsdebatte völlig untergeht .Hier ist aber eine enorme Integrationsleistung zu erbrin-gen . Die zugewanderten Menschen nutzen die EU-weiteFreizügigkeit und leben dann in unseren Städten . Hierlässt sich nichts begrenzen . Das wollen wir auch nicht,weil uns die Freizügigkeit in Europa wichtig ist . Aber diezugewanderten Menschen sind nicht immer gut ausge-bildet. Sie bringen sicherlich Qualifikationen mit. Aber wir brauchen Umschulungen und eine arbeitsmarktge-rechte Sprachförderung . Die dafür benötigten Mittelkönnen arme und strukturschwache Städte nicht alleineaufbringen . Deshalb appelliere ich: Es geht nicht nur umdie Lasten, die wir aufgrund der Flüchtlinge, die zu unskommen, nun zusätzlich stemmen müssen . Vielmehr sindes 12, 15 oder vielleicht sogar 20 Kommunen, die einemassive Zuwanderung zu verzeichnen haben und die-se auch bewältigen wollen . Sie wollen diese Menschenintegrieren . Dafür brauchen sie einen gut funktionieren-den Wohnungsmarkt und Arbeitsmarktmaßnahmen . Ichhoffe, dass die Debatten, die wir in diesem Haus überFlüchtlinge führen, nicht dazu führen, dass wir dieseStädte und Kommunen vergessen .
Jürgen Hardt
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Der SPD-Fraktion ist es zu verdanken, dass – im Ko-alitionsvertrag verankert – 25 Millionen Euro für Sofort-hilfen im Jahr 2014 zur Verfügung gestanden haben . Ichbin dem Koalitionspartner dankbar, dass er das mitge-macht hat . Aber diese Summe reicht nicht aus; denn täg-lich wandern mehr Menschen zu . Wenn von einem Tagauf den anderen hundert Kinder mehr in einem Stadtteilleben, dann weiß die betreffende Kommune nicht, wiesie der Schulpflicht nachkommen und die Gesundheits-versorgung gewährleisten soll, wenn sie keine finanzielle Hilfe von Bund und Land – das sage ich ganz deutlich –bekommt . Ich hoffe, dass die Debatte dazu führt, dasswir noch einmal über einen Altschuldenfonds und Hilfebei besonderen Nöten, bei Besonderheiten in bestimmtenRegionen nachdenken .
Das würde den betreffenden Kommunen und ihren Ver-tretern, die gerade auf der Zuschauertribüne sitzen undzuhören, sicherlich sehr helfen .Vielen Dank .
Abschließende Rednerin in dieser Debatte ist die Kol-
legin Barbara Woltmann für die CDU/CSU .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wer wie ich aus der Kommunalpolitik kommt,weiß, wie wichtig starke Kommunen sind . Ohne starkeKommunen kein starkes Deutschland! Auch in dieserLegislaturperiode stehen wir alle als verlässliche Partneran der Seite der Städte und Gemeinden . Wir haben dieKommunen an vielen Stellen bereits nachhaltig entlastetund werden dies weiterhin tun . Aber eines möchte ich andieser Stelle ausdrücklich sagen – meine Vorredner ha-ben das teilweise schon getan –: Es ist und bleibt verfas-sungsrechtliche Aufgabe der Länder, eine ausreichendeFinanzausstattung der Kommunen sicherzustellen .
Es ärgert mich zunehmend, dass immer nur Forde-rungen an den Bund gestellt werden, ohne diese Verfas-sungsmäßigkeit im Auge zu behalten; denn wir müsstenals Bund die Verfassung ändern, um zu einer direkten Fi-nanzbeziehung zu den Gemeinden zu kommen .Ich will nicht verschweigen, dass nach Artikel 106 desGrundgesetzes der Bund für einheitliche Lebensverhält-nisse zu sorgen hat . Aber der Bund tut bereits eine ganzeMenge; ich werde das gleich noch an einigen Beispielenerläutern .
Ich möchte auch an den gestern von Iris Gleicke vor-gestellten Jahresbericht der Bundesregierung zum Standder Deutschen Einheit 2015 erinnern, in dem steht, dassdas Ziel der deutschen Einheit weitestgehend erreicht sei,auch wenn noch einiges zu tun ist . Wir sind da auch nochnicht am Ende . Wie gesagt: Wir müssen die Verantwort-lichkeiten einmal ganz klar darstellen . Ich glaube, daskommt zu kurz .
Ich möchte an einigen Beispielen verdeutlichen, wasder Bund schon alles tut . Da kann ich Ihnen jetzt einigeZahlen nicht ersparen; denn sie sollten einmal genanntwerden: Der Bund hat mit der Übernahme der Kostenfür die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminde-rung die Kommunen bereits ganz deutlich entlastet . Auchbeim Ausbau der Kinderbetreuung für unter Dreijährigehaben wir zu unserem Wort gestanden . Über das Son-dervermögen „Kinderbetreuungsfinanzierung“ erfolgte allein bis 2014 eine Unterstützung von 5,4 MilliardenEuro . In dieser Wahlperiode haben wir das bestehendeSondervermögen nochmals um 550 Millionen Euro aufjetzt 1 Milliarde Euro aufgestockt . Auch für den Betriebvon Kinderkrippen und Tagespflegestellen tragen wir Sorge und fördern bis Ende des Jahres die Sprachförde-rung mit 400 Millionen Euro . Wir reden immer von derVereinbarkeit von Beruf und Familie; auch da unterstütztder Bund . Allerdings müssen die Länder das Geld, dasfür die Kommunen vorgesehen ist, auch weiterleiten . Wirhaben ja von den „klebrigen Fingern der Länder“ gehört .Die Länder sollen, bitte schön, nicht immer jammern,ihre Kommunen bekämen nicht genug Geld, sondern dasGeld, das für die Kommunen vorgesehen war, auch inGänze weiterleiten .
Wir tun auch sonst sehr viel . Wir erarbeiten etwaeine Reform des Teilhaberechts für Menschen mit Be-hinderungen . Die Ausgaben für die Eingliederungshilfefür Menschen mit Behinderungen sind die am stärkstenwachsende Sozialausgabe der Kommunen . Auch da stel-len wir 1 Milliarde Euro zur Verfügung . Diese Summewird 2017 auf 2,5 Milliarden Euro angehoben . Ab 2018steigt sie auf 5 Milliarden Euro an .Mit der Verabschiedung des Nachtragshaushaltes2015 und des Gesetzes zur Förderung von Investitionenfinanzschwacher Kommunen haben wir einen weiteren Schritt zur Stärkung der Kommunen vollzogen .Es gibt viele weitere Maßnahmen, die von meinenVorrednern auch schon genannt worden sind . Eine dieserMaßnahmen will ich noch erwähnen: Die 3,5 MilliardenEuro, die wir als Sondervermögen veranschlagt haben,stehen für Investitionen finanzschwacher Kommunen zur Verfügung, die damit einen wichtigen Schritt zum Abbauihres Investitionsstaus vornehmen können .In unserem Antrag wird auch der Breitbandausbau an-gesprochen . Er ist gerade für den ländlichen Raum wich-tig . Wir fördern die interkommunale Zusammenarbeitund vieles andere mehr .Ich möchte an dieser Stelle aber auch die viele Kom-munen stark belastende Flüchtlingskrise ansprechen .Das, was die Bürgermeister uns bei unseren Wahlkreis-besuchen immer wieder sagen, ist: Wir sind eigentlichBärbel Bas
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am Limit angekommen . – Es gibt Städte, wo viele Sport-hallen und andere Hallen schon in Anspruch genommenwerden mussten . Diese Hallen stehen für die Sportver-eine, für die Schulen, für die Kinder generell nicht mehrzur Verfügung . Das ist schon ein schwerer Einschnitt,eine Beeinträchtigung; das muss man so sagen . Die Bür-germeister in meinem Wahlkreis sagen mir: Na ja, dieZuweisungen bis Ende des Jahres können wir mit Achund Krach noch schaffen . Aber dann ist Schluss; dannwissen wir einfach nicht mehr, wohin . Ihr müsst etwastun, damit dieser Flüchtlingsstrom zumindest gebremstwird . – Ein Problem, das hier schon oft geschildert wor-den ist, ist, dass auf einmal ganz viele Menschen in eineKommune kommen, obwohl sie dort in der notwendigenSchnelligkeit gar nicht untergebracht werden können .Ich möchte mich an dieser Stelle ausdrücklich bei al-len bedanken, bei den Kommunen, bei den ehrenamtli-chen Helfern . Man kann das überhaupt nicht hoch genuganerkennen: Ohne dieses ehrenamtliche Engagement wä-ren wir an dieser Aufgabe, glaube ich, schon gescheitert .
Die Bürger, die mit ihrer Hilfe auch dazu beitragen,möchte ich ebenfalls in den Dank einschließen .Zurzeit ist ein Gesetz in der Diskussion, mit dem wiretliche Veränderungen im Asylverfahren vornehmenwollen . Im Koalitionsausschuss liegt ein ganzes Paketauf dem Tisch, das wir in der nächsten Woche aller Vor-aussicht nach in erster Lesung beraten werden .Auf den Flüchtlingsgipfel, der heute noch stattfinden wird, wurde schon hingewiesen . Ich hoffe und gehe ersteinmal davon aus, dass wir dort zu guten Beschlüssenkommen werden; denn es ist eine gesamtstaatliche Auf-gabe, eine Aufgabe aller Ebenen: des Bundes, der Länderund der Kommunen . Nur gemeinsam können wir dieseHerausforderung schaffen . Ich habe die Hoffnung, dassalle sich dieser Verantwortung bewusst sind . Insofernhoffe ich beim Flüchtlingsgipfel heute auf gute Beschlüs-se .
Frau Kollegin Woltmann, Sie denken an die verein-
barte Redezeit?
Ich tue das und will schließen, nur noch ein letzter
Satz . – Da ich die letzte Rednerin bin, möchte ich noch
einmal betonen: Wir haben einen guten Antrag vorgelegt,
und das ist gut für die Kommunen in diesem Land . Ich
hoffe nach Ihrem Auftritt hier, Frau Hinz, dass die SPD
nach wie vor zu diesem Antrag steht . Sie sagten, Sie hät-
ten allein für die SPD gesprochen . Es ist unser gemein-
samer Antrag . Wir wollen das gemeinsam voranbringen .
Dazu stehen wir auch .
Vielen Dank .
Ich schließe damit die Aussprache .Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 18/6062, 18/3051 und 18/6069 an diein der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen . Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe je-denfalls keinerlei Widerspruch . Die Überweisungen sindsomit beschlossen .Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des In-nenausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Lin-ke mit dem Titel „Verbindliches Mitwirkungsrecht fürKommunen bei der Erarbeitung von Gesetzentwürfenund Verordnungen sowie im Gesetzgebungsverfahren“ .Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/6085, den Antrag der Fraktion DieLinke auf Drucksache 18/3413 abzulehnen . Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlus-sempfehlung ist damit mit den Stimmen von CDU/CSUund SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke beiEnthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange-nommen .Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 hsowie die Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf:27 . a) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zu dem Protokoll vom 17. März2014 zur Änderung des Abkommens vom30. März 2010 zwischen der Bundesrepu-blik Deutschland und dem VereinigtenKönigreich Großbritannien und Nordir-land zur Vermeidung der Doppelbesteu-erung und zur Verhinderung der Steuer-verkürzung auf dem Gebiet der Steuernvom Einkommen und vom VermögenDrucksache 18/5575Überweisungsvorschlag:Finanzausschussb) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zudem Abkommen vom 19. Oktober 2010zwischen der Bundesrepublik Deutsch-land und der Föderation St. Kitts undNevis über die Unterstützung in Steuer-und Steuerstrafsachen durch Informati-onsaustauschDrucksache 18/5576Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutzc) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zudem Partnerschafts- und Kooperations-abkommen vom 11. Mai 2012 zwischender Europäischen Union und ihren Mit-gliedstaaten einerseits und der RepublikIrak andererseitsDrucksache 18/5577Barbara Woltmann
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Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz VerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungd) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zu dem Abkommen vom 21. Au-gust 2014 zwischen der BundesrepublikDeutschland und dem Staat Israel zurVermeidung der Doppelbesteuerung undder Steuerverkürzung auf dem Gebietder Steuern vom Einkommen und vomVermögenDrucksache 18/5578Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutze) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zu dem Protokoll vom 3. Dezember2014 zur Änderung des Abkommens vom30. März 2011 zwischen der Bundesre-publik Deutschland und Irland zur Ver-meidung der Doppelbesteuerung und zurVerhinderung der Steuerverkürzung aufdem Gebiet der Steuern vom Einkommenund vom VermögenDrucksache 18/5579Überweisungsvorschlag:Finanzausschussf) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines ErstenGesetzes zur Änderung des Batteriegeset-zesDrucksache 18/5759Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reak-torsicherheitg) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines ErstenGesetzes zur Änderung des Energiever-brauchskennzeichnungsgesetzesDrucksache 18/5925Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reak-torsicherheitHaushaltsausschuss gemäß § 96 der GOh) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurÄnderung des Umwelt-Rechtsbehelfsge-setzes zur Umsetzung des Urteils des Eu-ropäischen Gerichtshofs vom 7. Novem-ber 2013 in der Rechtssache C-72/12Drucksache 18/5927Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reak-torsicherheit
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Wirtschaft und EnergieZP 4 a) Beratung des Antrags der AbgeordnetenMaria Klein-Schmeink, Dr . Konstantin vonNotz, Elisabeth Scharfenberg, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENSicher vernetzt, gut versorgt – Digitali-sierung im Gesundheitswesen im Diensteder Patienten gestaltenDrucksache 18/6068Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
InnenausschussAusschuss für Verkehr und digitale InfrastrukturAusschuss Digitale Agendab) Beratung des Antrags der AbgeordnetenStephan Kühn , Oliver Krischer,Matthias Gastel, weiterer Abgeordneter undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENZum Schutz der Verbraucher – Unzu-treffende Angaben beim Spritverbrauchund Schadstoffausstoß von PKW been-denDrucksache 18/6070Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-sicherheitEs handelt sich um Überweisungen im vereinfachtenVerfahren ohne Debatte .Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen . Sind Sie damit einverstanden? – Das ist of-fensichtlich der Fall . Dann sind diese Überweisungen sobeschlossen .Bevor wir zu den abschließenden Beratungen ohneAussprache kommen, möchte ich Ihnen mitteilen, dassinterfraktionell vereinbart ist, den Tagesordnungs-punkt 28 i – es handelt sich dabei um die Sammelüber-sicht 224 zu Petitionen – von der Tagesordnung abzuset-zen, das heißt, heute nicht zu beraten . – Ich sehe, dassSie alle damit einverstanden sind . Dann verfahren wir so .Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 hund 28 j auf . Es handelt sich um die Beschlussfassungzu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist .Wir beginnen mit Tagesordnungspunkt 28 a:Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Abwick-lung der staatlichen Notariate in Baden-Würt-tembergDrucksache 18/5218Vizepräsident Johannes Singhammer
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Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschussesfür Recht und Verbraucherschutz
Drucksache 18/6087Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutzempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 18/6087, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf derDrucksache 18/5218 anzunehmen . Ich bitte diejenigen,die diesem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um dasHandzeichen . – Wer ist dagegen? – Wer enthält sich? –Niemand . Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera-tung angenommen .Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Niemand .Der Gesetzentwurf ist damit angenommen .Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 28 b:Zweite Beratung und Schlussabstimmung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zu dem Protokoll vom 14. Oktober 2005zum Übereinkommen vom 10. März 1988 zurBekämpfung widerrechtlicher Handlungen ge-gen die Sicherheit der Seeschifffahrt und zu demProtokoll vom 14. Oktober 2005 zum Protokollvom 10. März 1988 zur Bekämpfung widerrecht-licher Handlungen gegen die Sicherheit festerPlattformen, die sich auf dem Festlandsockel be-findenDrucksache 18/5268Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
Drucksache 18/6084Der zuständige Ausschuss für Verkehr und digitale In-frastruktur empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/6084, den Gesetzentwurf der Bundesre-gierung auf Drucksache 18/5268 anzunehmen .Wir kommen zurzweiten Beratungund Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Niemand .Dann ist dieser Gesetzentwurf ebenfalls angenommen .Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 28 c:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzesüber die internationale Zusammenarbeit zurDurchführung von Sanktionsrecht der VereintenNationen und über die internationale Rechtshilfeauf Hoher See sowie zur Änderung seerechtli-cher VorschriftenDrucksache 18/5269Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschussesfür Verkehr und digitale Infrastruktur
Drucksache 18/6089Der zuständige Ausschuss für Verkehr und digitale In-frastruktur empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/6089, den Gesetzentwurf der Bundesre-gierung auf Drucksache 18/5269 anzunehmen . Ich bittediejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,um das Handzeichen . Wer stimmt dafür? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist da-mit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Fraktionender CDU/CSU, der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünenbei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen .Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf ist damit mit den Stimmen der Fraktionen derCDU/CSU, der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen beiEnthaltung der Fraktion Die Linke angenommen .Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 28 d:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Ge-setzes zur Änderung des BinnenschifffahrtsaufgabengesetzesDrucksache 18/5273Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschussesfür Verkehr und digitale Infrastruktur
Drucksache 18/6071Der zuständige Ausschuss für Verkehr und digitale In-frastruktur empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/6071, den Gesetzentwurf der Bundesre-gierung auf Drucksache 18/5273 anzunehmen .Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, um das Handzeichen . – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Niemand . Der Gesetzentwurf ist da-mit in zweiter Beratung angenommen .Wir kommen jetzt zurdritten Beratungund Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Auch hierniemand . Der Gesetzentwurf ist damit mit den Stimmendes gesamten Hohen Hauses angenommen .Wir kommen jetzt zu den Beschlussempfehlungen desPetitionsausschusses, Tagesordnungspunkte 28 e bis 28 hund 28 j .Tagesordnungspunkt 28 e:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 220 zu PetitionenDrucksache 18/5957Vizepräsident Johannes Singhammer
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Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Niemand .Die Sammelübersicht 220 ist damit mit den Stimmen desgesamten Hohen Hauses angenommen .Tagesordnungspunkt 28 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 221 zu PetitionenDrucksache 18/5958Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Niemand .Die Sammelübersicht 221 ist ebenfalls mit den Stimmendes gesamten Hauses angenommen .Tagesordnungspunkt 28 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 222 zu PetitionenDrucksache 18/5959Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammel-übersicht 222 ist damit mit den Stimmen von CDU/CSUund SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke beiEnthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange-nommen .Tagesordnungspunkt 28 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 223 zu PetitionenDrucksache 18/5960Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Niemand .Die Sammelübersicht 223 ist damit mit allen Stimmendes Hohen Hauses angenommen .Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 28 j:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 225 zu PetitionenDrucksache 18/5962Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist dieSammelübersicht 225 mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen derFraktion Die Linke angenommen .Damit haben wir diesen Teil der Abstimmungen ab-geschlossen .Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 1 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und SPDNeue Dynamik zur politischen Lösung der Syri-en-Krise nutzen Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Kollegen Dr . Rolf Mützenich für die SPDFrak-tion das Wort .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Syrien zerfällt, Tod und Verzweiflung sind ge-genwärtig – wir erleben tagtäglich schreckliche Bilder ausdiesem Land, aus der Region . Aber das ist kein Schicksaldes Landes . Es ist von Menschenhand gemacht,und deswegen kann es der Mensch, wenn er es will, auchverändern. Ich finde, wir sollten alles tun, um den Weg zu bereiten, das Schicksal dieser Menschen zu verbessern .Wir haben heute Morgen bereits über das Thema Flücht-linge gesprochen . Ich will noch einmal daran erinnern,dass die Bundesregierung, aber auch andere Regierungenin Europa und darüber hinaus im vergangenen Herbst inDeutschland zusammengekommen sind, um die Situati-on der Nachbarländer in den Fokus zu nehmen, Geld indie Hand zu nehmen und letztlich Hilfe gegenüber demLibanon, Jordanien und dem Irak anzubieten .Zum Zweiten . Auch wenn mir vieles bei der Politikder gegenwärtigen türkischen Regierung und des türki-schen Präsidenten nicht gefällt, ist zu sagen: Dieses Landbeheimatet 2 Millionen Flüchtlinge und hat bisher 8 Mil-liarden Euro für deren Unterbringung, für deren Gesund-heit und andere Dinge aufgewandt .Zum Dritten . Es ist gut, dass wir im Deutschen Bun-destag die Mittel für die humanitäre Hilfe erhöht haben,dass die Europäische Union für das World Food Pro-gramme, das Welternährungsprogramm, mehr Mittel be-reitgestellt hat, genauso der UNHCR . Dank an die Bun-desregierung und an den Deutschen Bundestag, der in derVergangenheit den Institutionen immer wieder Mittel zurVerfügung gestellt hat .
Deswegen gibt es jetzt die Möglichkeit, politisch initiativzu werden .Ich möchte von den Überschriften der letzten Tageauf ein anderes Thema kommen . Ich will gar nicht sosehr über Russland sprechen, sondern über das, was dieBundesregierung gemeinsam mit anderen Regierungengeschafft hat, nämlich die Vereinbarung des Atomab-kommens mit dem Iran . Es ging nicht allein darum, einemögliche Atomkrise zu beherrschen, sondern darum,dieses Land wieder in die internationale Gemeinschaftzurückzuholen . Der Historiker Jürgen Osterhammel, dendie Bundeskanzlerin zu ihrem Geburtstag eingeladen hat,sagte zu Recht: Vielleicht war 1979, als sich der Iran aufden Weg gemacht hat, wieder eine besondere Bedeutungin der Region zu bekommen, ein epochales Datum . –Deswegen ist es jetzt den Versuch wert, den Iran daran zumessen und zu fragen, ob er weiterhin Verantwortung tra-gen und auf diejenigen Einfluss nehmen will, die für das Blutvergießen in Syrien verantwortlich sind . Wir müssenVizepräsident Johannes Singhammer
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den Iran fragen, ob er bereit ist, in der internationalenGemeinschaft mitzuwirken .
Es gibt weitere hoffnungsvolle Anzeichen . So war esein gutes Zeichen, dass es zur Vernichtung der Chemie-waffen in Syrien eine Resolution des Sicherheitsrates ge-geben hat . Ich glaube im Nachhinein – vielleicht sehendie Vertreter und Vertreterinnen der Linkspartei das auchso –, der gesamte Deutsche Bundestag hätte gut darangetan, der Vernichtung der Chemiewaffen zuzustimmen .
Die neue Resolution des Sicherheitsrates über weitereErkundungen in Syrien bietet Gelegenheit, hier anzu-knüpfen . Wir ermutigen die Bundesregierung, insbe-sondere den Bundesaußenminister, in New York alles zuunternehmen, um mit den Vereinten Nationen weiter andieser Frage zu arbeiten; denn die Situation ist gefähr-lich . Sie ist gefährlich, weil noch immer die militärischeLogik im Vordergrund steht – in Russland, aber auch beiden anderen Beteiligten . Ich erinnere gerne daran, dasses ein Irrtum ist, zu sagen: Nur wenn wir den IS bekämp-fen, werden wir die Flüchtlingsströme stoppen . – Wahr-scheinlich geht es insbesondere darum, Assad daran zuhindern, weiter Fassbomben zu werfen .
Gerade deswegen sollten wir an den Iran und andereLänder appellieren .Selbst wenn es aber zu einer Verabredung auf inter-nationaler Bühne in den nächsten Monaten, vielleichtauch erst in den nächsten Jahren kommen wird, heißtdas nicht, dass sich die Verantwortlichen vor der inter-nationalen Strafjustiz verstecken dürfen . Das darf nichtdie Verabredung sein . Dies sage ich zumindest für meineFraktion sehr deutlich . Es gilt das Statut von Rom; letzt-lich gilt auch das deutsche Völkerstrafgesetzbuch . Daranist zu erinnern .Wir stehen in der Tat vor einem Dilemma . Das sehenwir jeden Tag; die Bundeskanzlerin hat es heute Morgennoch einmal gesagt . Aber wir müssen aus diesem Dilem-ma die richtigen Konsequenzen ziehen, nämlich der Di-plomatie noch stärker zum Durchbruch verhelfen, damites Waffenruhen, Waffenstillstand und vielleicht irgend-wann auch wieder Frieden in Syrien geben kann .Vielen Dank für die Aufmerksamkeit .
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Gehrcke
für die Fraktion Die Linke .
Danke sehr, Herr Präsident . – Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich muss der Versuchung widerstehen, Ihnenvorzurechnen, wie oft wir Ihnen das, was jetzt vorge-schlagen wird – Verhandlungen unter Einbeziehung desStaates Syrien –, schon vorgeschlagen haben und wie oftSie es zurückgewiesen haben . Ich streiche das; es ist fürmich im Moment nicht so interessant .Ich möchte gern, dass wir uns erstens auf ein Ziel derganzen Debatte verständigen, das wir als Deutscher Bun-destag – möglichst auch die Bundesregierung – ansteu-ern sollten . Ich biete Ihnen ein Ziel an: Für uns ist dasZiel, den Krieg, das Morden und Töten in Syrien sofortzu stoppen . Wir sind bereit, alles andere diesem Ziel un-terzuordnen; denn das ist die entscheidende Sache .
Ich biete Ihnen an, zweitens gemeinsam das Ziel zuformulieren, Syrien als nationalen Staat zu erhalten, sei-ne säkulare Staatsverfassung zu retten und diesen Staat inGänze zu demokratisieren und sozial wiederaufzubauen .Ich finde, wenn wir ein solches gemeinsames Ziel for-muliert haben – ich biete Ihnen das zumindest an –, dannkönnen wir über Einzelheiten streiten und da auch unter-schiedlicher Auffassung sein .Wenn man in diese Richtung gehen will, muss manmit aller Kraft die UNO-Vermittlungsmission von Staf-fan de Mistura unterstützen . Seine Vorgänger hatten kei-ne weltweite Unterstützung . Es muss nun besser gelin-gen, sich international gemeinsam hinter diese Missionzu stellen. Kofi Annan hatte gute Vorschläge, Lakhdar Brahimi ebenfalls, aber sie hatten nicht diese breite Un-terstützung .Ich möchte nicht noch einmal lesen müssen, was ichIhnen jetzt vorlese . Friedensnobelpreisträger Martti Ah-tisaari, den ich in der Kosovo-Frage – da war er ja Ver-mittler – immer kritisiert habe, schrieb über seine Wahr-nehmung der Verhandlungsprozesse: Bereits 2012 habeder russische Unterhändler Witalij Tschurkin einen Drei-Punkte-Plan zur Lösung des Konfliktes unterbreitet, der auch einen Rücktritt von Syriens Präsidenten Bascharal-Assad vorsah . Darauf seien aber Frankreich, Großbri-tannien und die USA nicht eingegangen, weil sie davonüberzeugt waren, dass der Sturz Assads ohnehin bevor-stünde . Zu diesem Zeitpunkt, so Ahtisaari, belief sich dieZahl der Opfer auf 7 500 . Seine Schlussfolgerung ist: Wirhätten das ganze Chaos vermeiden können . – Ich möchtenicht, dass wir uns noch einmal zu Recht solche Vorhal-tungen machen lassen müssen . Also muss man in der Po-litik eine andere Richtung einschlagen .
Was ich von der Bundesregierung wünsche, ist einediplomatische Offensive – nicht Waffenlieferungen undeinseitige Parteinahmen, sondern eine Vermittlung vonVerhandlungen . Eine solche diplomatische Offensive istdas Gebot der Stunde .Bei der Planung muss man über folgende Punkte nach-denken und reden: Es muss über lokale WaffenstillständeDr. Rolf Mützenich
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verhandelt werden . Ein Waffenstillstand für das gesamteSyrien ist eher unwahrscheinlich . Also muss es ein Netzvon Gebieten geben, in denen lokale Waffenstillständeausgehandelt und dann durchgesetzt werden . Ich möch-te gern, dass diese Verhandlungen unter dem Dach derVereinten Nationen zusammen mit den Konfliktparteien stattfinden. Nachdem sich Herr Kauder heute dazu geäu-ßert hat, sage ich: Ich bin unbedingt dafür, dass die USAund Russland – was auch immer man von ihrer Politikhält – in diesen Prozess einbezogen werden . Ohne dieUSA und ohne Russland wird man nicht zu einem sol-chen Prozess der Waffenstillstände und der Beendigungdes Krieges kommen .
Ich glaube, dass man über die Einbeziehung verschiede-ner Verhandlungsparteien nachdenken muss; es wird sichentscheiden . Nicht alle werden sofort an einem Tischsitzen können; aber in diese Richtung muss es gehen:Iran, Irak, Saudi-Arabien, Katar und die Türkei solltenam Tisch sitzen – obwohl eine ganze Reihe der Regimemir überhaupt nicht passen, aber das ist jetzt nicht dieFrage –, und auch die Regierung des Präsidenten Assadsowie die verschiedenen Oppositionsgruppen, die in Sy-rien auf Gewalt verzichten, die Kurden, müssen zu denVerhandlungsparteien gehören . Ich habe nie verstanden,warum die Bundesregierung im Vorfeld der Verhandlun-gen nicht ein einziges Mal mit den Oppositionsgruppengesprochen hat, die erklärt haben, sie wollen keine Ge-walt . Auch hier muss sich die Politik der Bundesregie-rung ändern .
Wenn die Oppositionsgruppen ihrerseits bereit wären –was ein großes Zugeständnis wäre –, in die Verhandlun-gen auch die sogenannte syrische Exilregierung einzube-ziehen, dann wäre das für beide Seiten ein Schritt nachvorne . Wir sollten das befördern .Ich bitte Sie sehr, ebenfalls zu überlegen, wie mandiese humanitäre Situation wenigstens ein bisschen ver-bessern kann . Dazu gehört auch, mit doppelten StandardsSchluss zu machen . Durch unsere doppelten Standardsblamieren wir uns in der ganzen Welt . Wir fordern vonRussland, keine Soldaten nach Syrien zu schicken –
das ist durchaus in meinem Sinne, um das deutlich zumachen –, ich möchte aber, dass es glaubwürdig wird, in-dem die Bundesregierung erklärt: Wir liefern keine Waf-fen, wir werden die Waffenexporte in den Nahen Ostenverbieten . Wenn man nicht nur darüber nachdenkt, wenman anklagen bzw . schwächen könnte, dann kann mansolche Forderungen auch besser aufstellen .
Zum Schluss sage ich Ihnen: Wir brauchen eine Über-gangsregierung . Ich bin sehr dafür, dass in Syrien darü-ber nachgedacht wird, die Oppositionsgruppen, die aufGewalt verzichten, die Kurden und andere, in eine Über-gangsregierung aufzunehmen . Eine Übergangsregierungwird unter der Präsidentschaft Assads stehen . Was amEnde steht, das sollen die Syrierinnen und Syrier durchfreie Wahlen in ihrem Land in einem gewaltfreien Um-feld selber entscheiden . Das haben nicht wir hier zu ent-scheiden . Das wird nicht über die Köpfe der Syrier hin-weg entschieden; vielmehr sollten die Syrier in Wahlenselbst entscheiden, welchen Präsidenten sie wollen . Daswird man als Demokrat doch mit befördern dürfen . Daswäre eine politische Konzeption, über die der Bundestagnachdenken sollte . – Ich höre Gequake von der Regie-rungsbank, aber das nimmt sowieso keiner ernst .Danke sehr .
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Dr . Johann Wadephul .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Der syrische Bürgerkrieg geht in sein fünftes Jahr .Bisher wurden 240 000 Todesopfer gezählt, 4 MillionenMenschen sind auf der Flucht und halten sich in denNachbarländern Syriens auf, sind Binnenflüchtlinge oder begeben sich nach Europa bzw . nach Deutschland . Dasist Anlass genug, dass wir die Außenpolitik in den Mittel-punkt der Flüchtlingsdiskussion in Deutschland rücken;denn die Flüchtlinge, die hierherkommen, haben Gründe,zu fliehen. Wir sollten uns diesen Gründen ehrlich stel-len . Wir sollten auch darüber nachdenken, was wir in derVergangenheit vielleicht verkehrt gemacht haben, waswir versäumt haben .Es ist notwendig, dass wir hier in der Diskussion überUrsachen der Flucht aus dem Mittleren Osten sprechen .Aber natürlich zwingt uns auch unsere humanitäre Ver-antwortung, darauf zu schauen, was dort geschieht . Denndie Städte und Dörfer in Syrien sind zerstört . Schon jetztist dieses Land durch die Konfliktparteien um Jahrzehnte zurückgebombt worden . Es wird Jahrzehnte dauern, dasLand wieder aufzubauen . Ich denke insbesondere an dievielen jungen Menschen, deren Zukunft brachliegt unddenen wir kaum helfen können . Wir tragen hier eine gro-ße Verantwortung .In dieser Situation, lieber Herr Gehrcke, muss man in-ternationale Organisationen stärken . Was aus dem Prin-zip der Schutzverantwortung konkret folgt, darüber kannman im Einzelfall streiten . In der vergangenen Legisla-turperiode hat sich Deutschland bei einem Votum übereinen Militäreinsatz in Libyen enthalten . Das hat unssogar die Kollegin Wieczorek-Zeul damals vorgehalten;ich sage das ohne Vorwurf . Auch Herr Gehrcke hat unsdamals in der Diskussion unterstützt; das war richtig .
Aber man muss genauso sagen, dass ein Prinzip derSchutzverantwortung seine Glaubwürdigkeit verliert,wenn am Ende die internationale Gemeinschaft einemfünfjährigen Morden, Krieg, Fassbomben- und Chemie-Wolfgang Gehrcke
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waffeneinsatz schlicht und ergreifend tatenlos zusieht .Das kann nicht die Lehre aus Srebrenica oder Ruandasein . Wir als internationale Gemeinschaft müssen in derLage sein, zu handeln .
Man muss die internationale Gemeinschaft unterstützen,Herr Gehrcke. Ich finde es ein bisschen bedauerlich, dass Sie dazu nichts gesagt haben .
Hinsichtlich der Zerstörung von Chemiewaffen gab eswenig Konsens . Sie müssen mir wirklich erklären, HerrGehrcke, wie man unter Zurückhaltung aller ideologi-schen Argumente irgendeinen humanitären Grund finden kann, sich gegen die Vernichtung von Chemiewaffenauszusprechen . Das ist schlicht und ergreifend unver-ständlich gewesen .
Wir haben hier ein Minimum erreicht, und da muss mandoch Unterstützung leisten .Die Situation in den Nachbarländern ist angesprochenworden . Ich halte es für einen internationalen Skandal,dass der UNHCR das Fehlen von 2,8 Milliarden Dollarbeklagt hat. So wenig wir bei diesem Konflikt auch tun können, kann es aber nicht angehen, dass es am Endeam Geld fehlt . Hier sind wir alle gefordert, meine sehrverehrten Damen und Herren . Insofern kann ich uns nurauffordern, dafür zu sorgen .
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Deswegen ermutige ich uns alle, an dieser Stelle mehrGeld in die Hand zu nehmen und dem Auswärtigen Amtund all denjenigen, die humanitäre Hilfe für Flüchtlingevor Ort leisten, mehr Mittel zuzuweisen, damit sie mehrMöglichkeiten haben, meine sehr verehrten Damen undHerren . Dieses Signal des Hauses ist meines Erachtensinsgesamt erforderlich .
Noch ein Wort zu Herrn Assad . Politik beginnt mit derWahrnehmung der Realität . Deswegen ist es vollkom-men richtig, was die Bundeskanzlerin gesagt hat . Da hates auch nie eine andere Position gegeben, Herr Gehrcke .Die Verhandlungen in Genf haben durchaus auch unterBeteiligung des Regimes stattgefunden . Es ist aber amEnde so, dass dieser Mensch nicht nur den Einsatz vonFassbomben, sondern auch und insbesondere – das finde ich nach den Erfahrungen des Ersten und Zweiten Welt-kriegs besonders erschreckend – den Einsatz von Che-miewaffen zu verantworten hat .Meine sehr verehrten Damen und Herren, so sehr wirRealitäten anerkennen und auch mit Machthabern ver-handeln müssen – das ist selbstverständlich –, darf esnicht hingenommen werden, dass dieser Mensch, der denEinsatz von Chemiewaffen zu verantworten hat, am Endestraflos davonkommt. So darf kein Abkommen aussehen. Die internationale Strafgerichtsbarkeit muss an dieserStelle handlungsfähig sein .Ich glaube, wenn wir diese Möglichkeiten miteinan-der nutzen, dann besteht die Chance, endlich etwas zuerreichen . Ich glaube, es ist den Einsatz jeder Diplomatiewert, dass wir für die Menschen in Syrien etwas tun .Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Nächster Redner ist der Kollege Omid Nouripour für
Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich zitiere:Seien wir ehrlich: Bislang sind alle Anläufe der in-ternationalen Gemeinschaft für eine politische Lö-sung gescheitert .Dieser Satz ist ein Zitat des Herrn Außenministers ausdem Tagesspiegel . Dies ist Ausdruck der notwendigenDemut, die wir hinsichtlich des Syrien-Konflikts sicher alle empfinden. Für die Politik der Bundesregierung gilt dieses Eingeständnis des Scheiterns aber nicht; denn da-für hat sie in den vergangenen viereinhalb Jahren viel zuwenig gemacht .Herr Wadephul, Sie haben internationale Schutzver-antwortung als Prinzip angeführt . Ich frage mich, obirgendetwas in der Politik der Bundesregierung diesesPrinzip abbildet . Ich sehe das leider nicht .Es gibt natürlich in allen Fraktionen Kolleginnen undKollegen, die sich in den vergangen vier bis fünf Jahrenintensiv mit diesem Thema beschäftigt haben . Wir müs-sen uns alle die Augen reiben, weil die Flüchtlinge, dieDr. Johann Wadephul
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jetzt kommen, dazu führen, dass die Bundesregierungmehr tun will, aber nicht die 250 000 Toten und Millio-nen von Opfern des Krieges .
Besser spät als nie . Es gilt aber natürlich das Wort desAußenministers: Seien wir ehrlich .Seien wir ehrlich: Wir versagen kläglich bei der Ver-sorgung der Flüchtlinge . Es ist gut, dass dem Welternäh-rungsprogramm jetzt mehr Mittel zur Verfügung gestelltwerden . Es ist jetzt aber schon im dritten Jahr ein gewis-ses Ritual, dass das Welternährungsprogramm im Früh-jahr darauf hinweist, dass das Geld spätestens im Herbstausgehen werde – ich weiß, da gibt es keinen Dissens –,und im Oktober werden dann die Rationen für Kindergekürzt . Das muss uns alle mit Scham erfüllen .Seien wir ehrlich: Die Bundesregierung hat nach vierJahren Krieg immer noch keine Vorstellung davon, wiesie die Nachbarstaaten unterstützen will . Der Libanonist andauernd kurz vor dem Kollaps . Kein Mensch kannerklären, wie es dieses Land schafft, zu überleben . Siebrauchen keine humanitäre Hilfe mehr für Projekte vonsechs Monaten Dauer . Sie brauchen Entwicklungszu-sammenarbeit . Sie brauchen Infrastruktur . Sie brauchenStrukturen, die langfristig halten, aber nicht die Frage-stellung im BMZ: Ist der Libanon ein Schwerpunktlandunserer Politik? Wo müssen wir jetzt mehr Geld gebenund wo nicht? Investitionen in die Infrastruktur im Liba-non sind jetzt schlicht Friedenspolitik .
Das gilt im Übrigen auch für den Irak . Irak war daserste Land und ist hoffentlich auch das letzte Land, dasvom Konflikt in Syrien so heftig betroffen ist, und es ist das zweite große Land, in dem ISIS sein barbarischesUnwesen treibt . Ich bin gestern aus dem Irak zurückge-kommen . Die zentrale Frage, die mir dort gestellt wurde,ist dieselbe wie im letzten Jahr: Wo sind eigentlich dieDeutschen? Wo ist das deutsche Kapital? Welches poli-tische Kapital bringt Deutschland in der zentralen Frageder Reintegration der Sunniten, in der Frage der nationa-len Aussöhnung ein? – Diesbezüglich gibt es eine sehrgroße Leerstelle .Ja, in Syrien wird ein sehr brutaler, harter und viel-schichtiger Stellvertreterkrieg geführt, und ja, es gibtStaaten, die das Land mit in den Abgrund gerissen haben .Mit den Vertretern dieser Staaten muss man trotzdemsprechen, und man muss zu diesen Staaten auch Bezie-hungen unterhalten; es hilft nichts, den Kopf in den Sandzu stecken wie der Vogel Strauß und so zu tun, als hättesich an der Situation nichts geändert .Die Türkei ist gerade genannt worden . Die Türkei hat2 Millionen Menschen aufgenommen . Der Außenminis-ter war vor kurzem in Deutschland und hat dankenswer-terweise eine Migrationspartnerschaft angeboten . Das istgut, und das ist richtig . Man muss aber auch einmal lautund hörbar – so, dass Herr Erdogan sich nicht versteckenkann – das Grenzmanagement der Türkei ansprechen;denn dadurch wurden die Barbaren von ISIS zumindestin den letzten zwei Jahren unterstützt . Man muss sagen,dass ISIS zumindest indirekt immer wieder sehr stark ausder Türkei heraus unterstützt worden ist . Trotz meinerpersönlichen Antipathie gegenüber der PKK muss ichsagen: Es kann nicht sein, dass man versucht, einen Bür-gerkrieg anzuzetteln, weil ein Wahlkampf bevorsteht . –Das alles ist indiskutabel, aber das muss angesprochenwerden .
Es muss auch gesagt werden, dass Saudi-Arabien viel-leicht nicht von ISIS, aber von vielen anderen dschiha-distischen Gruppen ein Hauptfinanzier ist. Es kann doch nicht sein, dass daraus keinerlei Lehren gezogen wordensind, zum Beispiel für Rüstungsexporte .
Das Beispiel Iran ist gerade genannt worden . Ja, esgibt natürlich die Hoffnung, dass infolge des Nuklearab-kommens eine Dynamik entsteht und die Iraner eine an-dere, in Zukunft hoffentlich konstruktive Rolle bezogenauf Syrien spielen werden . Das Gegenteil ist aber auchmöglich – auch das muss man benennen –: Es besteht dasRisiko, dass die Kriegskassen der Revolutionswächterdurch das Atomabkommen, für das ich sehr bin, gefülltwerden und am Ende des Tages das erste Opfer diesesAbkommens – noch einmal: für das ich sehr bin – dassyrische Volk ist . Auch das gehört zur Ehrlichkeit dazu .Auch das muss man ansprechen .Bezogen auf Russland ist die Situation ganz schwie-rig, sogar dramatisch . Der Kollege Kiesewetter hat neu-lich gesagt, dass Deutschland sich an Luftschlägen betei-ligen möge . Man muss sagen – das gehört zur Ehrlichkeitdazu –, dass das zurzeit nicht in erster Linie aus legalisti-schen Gründen nicht geht, sondern weil Russland zurzeitjede Ankündigung sehr schnell und sehr deutlich mit mi-litärischer Eskalation beantwortet . So werden in Latakiajetzt ein zweites und ein drittes Militärlager aufgebaut .Es wird alles andere als einfach, Russland ins Boot zubekommen .Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, ist derUmgang mit Assad . Das ist nicht die einzige zentra-le Frage, da es zurzeit drei zentrale Gruppen in Syriengibt: die Assad-Schergen, die ISIS-Leute und nun auchnoch die al-Nusra, die ab und an einmal die Zivilistenbeschützt . Al-Nusra ist im Übrigen eine al-Qaida-Fili-ale; das ist hochdramatisch . Die Bundeskanzlerin hatja recht, wenn sie sagt: „Vielleicht wird es irgendwanneinmal notwendig sein, mit Assad zu reden“, was abernicht geht, ist – da bin ich bei Ihnen –, ihn zum Partnerzu machen . Zum Partner können wir ihn nicht machen .Wir können ihn nicht reinwaschen . Wir können nichtsagen: „Im Irak ist die Reintegration der Sunniten, diedort in der Minderheit sind, eine zentrale Aufgabe“, undder Mehrheit in Syrien – das sind die Sunniten – sagen,dass Assad unser Partner wird, obwohl eindeutig ist, dasser verantwortlich ist für die Ruinen in ihren Städten, fürdie Fassbomben, für das Töten ganzer Familien, für denTod von 250 000 Menschen . Wir können nicht sagen:Wir haben viereinhalb Jahre nichts gemacht, und jetzt,Omid Nouripour
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da die Flüchtlinge zu uns kommen, paktieren wir mitdem größten Mörder der gesamten Region, damit wir dieFlüchtlinge von uns fernhalten . – Das wäre das falschesteSignal, das wir zurzeit aussenden könnten . Ich glaube,das wäre kein Beitrag zur Befriedung Syriens .Herzlichen Dank .
Jetzt spricht die Kollegin Elisabeth Motschmann für
die CDU/CSU .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es istgut, dass wir heute eine außenpolitische Debatte führen,nachdem wir mit Blick auf die Flüchtlinge viele innenpo-litische Debatten geführt haben .Fluchtursachen bekämpfen – diese Formulierung ist inaller Munde . Das ist leicht gesagt, aber schwer getan . DieFluchtursachen liegen natürlich nicht nur in Syrien – wirkonzentrieren uns heute aber auf Syrien –, sondern sieliegen in der gesamten Region und weit darüber hinaus .Die Fluchtursachen beschäftigen nicht nur uns, sondernviele Menschen im Land . Sie sind beunruhigt und ängst-lich, was da noch auf uns zukommt . Die Herausforderun-gen sind in der Tat extrem für Deutschland, für Europaund die internationale Gemeinschaft . Die Fluchtursa-chen – das wissen wir – sind vielfältig: Krieg, Hunger,politische und religiöse Verfolgung, Enthauptungen, Ver-gewaltigungen und vieles mehr . Viele meinen, die Situ-ation sei aussichtslos, aber wer so denkt, der kann nichtspositiv verändern und verbessern . „Das größte Laster istdie Verzagtheit“, sagte Franz von Assisi . Das sollten wiruns zu Herzen nehmen .Die Mitgliedstaaten der EU haben gestern und vorges-tern sehr gute Beschlüsse im Hinblick auf die Flüchtlin-ge, die Registrierungszentren in Italien und Griechenlandsowie zusätzliche Milliarden für die Welthungerhilfe ge-fasst . Das alles sind erste richtige und wichtige Schritte,aber sie lindern die Not nur bedingt .Zurück zu Syrien . Von dort kommen zurzeit die meis-ten Flüchtlinge. Sie fliehen vor dem Terror des IS, sie fliehen aber insbesondere auch vor den Fassbomben und dem Chlorgas von Assad . Er ist verantwortlich – das sageich hier noch einmal ausdrücklich – für viele Tote, Ver-letzte und übrigens auch verstümmelte Menschen in sei-nem eigenen Land .Es gibt keine isolierte Lösung für Syrien . Der IS machtvor keiner Grenze halt und hält zum Beispiel auch vieleTeile des Irak besetzt . Eines aber steht fest: Es ist unserepolitische und moralische Pflicht, dem Töten in Syrien endlich ein Ende zu setzen . Seit fünf Jahren schaut dieWeltgemeinschaft zu – Herr Wadephul hat es gesagt –,wie dort gemordet wird . 250 000 Tote und 4 MillionenFlüchtlinge sind die bisherige Bilanz . Das darf so ganzbestimmt nicht weitergehen .
Deshalb muss die Entschärfung dieser Krise absoluteaußenpolitische Priorität haben . Wir müssen ja abschich-ten bei den vielen Krisenherden in der Welt . Da steht na-türlich die Frage im Raum, Kollegin Beck: Kann oderdarf man mit Assad reden und verhandeln? Ich glaube,dass unser Außenminister recht hat, wenn er sagt, dasses mit Assad keine Zukunftsperspektive für das Land Sy-rien geben kann . Ich glaube aber auch, dass es ohne ihnauch keinen Waffenstillstand geben kann . Das ist genaudas Problem . Deshalb muss man mit ihm reden . Als Ver-handlungspartner müssen aber auch der Iran, die Türkei,Saudi-Arabien, Katar und alle anderen umliegenden Län-der beteiligt werden .Wie ist es mit Russland? Herr Gehrcke, ausnahmswei-se bin ich bei Ihnen .
Wir müssen mit Russland natürlich verhandeln, ohne –auch das sage ich ganz klar – dass wir die Ukraine-Krisedadurch aus den Augen verlieren .
Das kann nicht sein . Der US-Außenminister hat erklärt –ich zitiere –: „Wir haben die gleichen Ziele . Der IS musszerstört, komplett gestoppt werden .“Gespräche mit Russland seien deshalb notwendig, umdie militärischen Operationen – da geht es jetzt in eineandere Richtung – gegen den IS zu koordinieren . – Mankann ja vielleicht zunächst einmal Flugverbotszonen ein-richten und dadurch Schutzzonen organisieren .Ich stimme übrigens mit Volker Kauder überein, wenner sagt: Eine militärische Operation muss vorrangig ausder Region selbst kommen, wenn sie denn kommenmuss . Wenn das Land ohne militärischen Einsatz nichtbefriedet werden kann, dann ist das Aufgabe der Nach-barstaaten, zum Beispiel Saudi-Arabiens oder anderer .
Dieser religiös motivierte Krieg findet zwischen mus-limischen Völkern und Gruppen statt . Deshalb sind siezuallererst aufgerufen, dem Schrecken ein Ende zu be-reiten .Wir müssen die politischen Prozesse steuern . Wirmüssen diplomatische Lösungen suchen . Wir müssen diehumanitäre Hilfe leisten und in die Offensive gehen . Fürdiese schwierigen Verhandlungen kann man denjenigen,die für uns verhandeln, nämlich der Bundeskanzlerin undunserem Außenminister, nur viel Geschick, viel Kraftund viel Geduld wünschen .Vielen Dank, meine Damen und Herren .
Omid Nouripour
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Buchholz für
die Fraktion Die Linke .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Leidder Bevölkerung in Syrien, die unter den Fassbombenvon Assad, dem Terror des IS und einer immer unerträg-licheren wirtschaftlichen und sozialen Lage lebt, mussein Ende haben .
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang sagen: DenEindruck zu erwecken, Herr Wadephul, die Linke sei ge-gen die Vernichtung des syrischen Giftgases, ist blindeDemagogie .
Wir haben immer unterstützt, dass das Giftgas auch inDeutschland vernichtet wird . Wir waren allerdings dage-gen, dass die Bundeswehr diese Vernichtung im Mittel-meer begleitet .
Wir haben darauf hingewiesen, dass es die Bundesre-gierungen bis 2011 waren, die zugelassen haben, dassGiftgasbestandteile nach Syrien, an das Regime Assad,geliefert wurden . Ihre Argumente sind pure Heuchelei .
Die Vorredner haben über diplomatische Lösungender Syrien-Krise gesprochen . Keiner redet über die ei-gentlichen Ursachen dieses Krieges: die jahrzehntelangeIntervention der USA, aber auch anderer Großmächte, inder Region . Es fällt auch auf, dass die Groß- und Regio-nalmächte, die jetzt über diplomatische Lösungen reden,eigene Interessen in der Region haben und bereits direk-ter oder indirekter Teil des Krieges sind .Seit nunmehr einem Jahr bombardiert eine US-geführ-te Kriegsallianz Ziele im Irak und in Syrien . Wir hörenfast nichts über diese Angriffe – auch kaum etwas überden Drohnenkrieg, der geführt wird . Doch das Bombar-dement ist massiv . In einem Jahr haben die US-Streit-kräfte und ihre Verbündeten mehr Bomben abgeworfenals in den letzten fünf Jahren des Krieges in Afghanistanzusammen . Diese Bomben treffen natürlich nicht nurTerroristen . Gleich in der ersten Woche der US-Angrif-fe auf syrisches Gebiet wurde ein Getreidespeicher inManbidsch getroffen . Nach einem Angriff am 30 . Ap-ril 2015 auf das Dorf Bir Mahli räumte das Pentagonoffiziell ein, zwei Zivilisten getötet zu haben. Eine Men-schenrechtsgruppe zählte 64 Opfer, darunter 31 Kinder .Darüber spricht keiner . Warum? Ich glaube, weil man zu-geben müsste, dass der sogenannte Antiterrorkrieg selbstTerror ist . Bomben bringen keinen Frieden .
Die Bundesregierung unterstützt diesen Antiterror-krieg politisch, aber auch durch die Entsendung vonWaffen und militärischen Ausbildern in den Irak . Nunwerden auch noch Stimmen in der Großen Koalitionlaut – wie die von Herrn Kiesewetter –, die die Entsen-dung von Bundeswehrtornados zur Unterstützung desUS-Luftkrieges fordern . Das, meine Damen und Herren,ist der absolut falsche Weg .
Ein Blick nach Afghanistan zeigt, wohin ein solcherKrieg führt . Nach zehn Jahren NATO-Krieg ist die Si-cherheitslage dort angespannter, und die Taliban sindstärker als je zuvor . Die soziale Misere ist dieselbe ge-blieben oder hat sich verschlimmert . Glauben Sie dennwirklich, dass sich durch das ständige Wiederholen der-selben Fehler nun in Syrien und im Irak irgendetwas ver-bessern würde?Nein, zur Wahrheit gehört: Der sogenannte „Islami-sche Staat“ wäre ohne die US-Intervention im Irak ab2003 gar nicht entstanden .
Die USA und ihre Verbündeten haben im Irak Menschenverschleppt und gefoltert . Sie haben ein politisches Sys-tem etabliert, das Schiiten gegen Sunniten ausspielt – bisheute . In diesem Klima konnte der IS, der einen barbari-schen Krieg gegen Andersdenkende und Andersgläubigeführt, entstehen . Wer diesen Terror stoppen will, mussdas Klima des Hasses zwischen Bevölkerungsgruppenund Religionsgemeinschaften beseitigen . Aber der soge-nannte Antiterrorkrieg selbst schürt dieses Klima . Des-halb scheitert er auch .
Alle Erfahrungen zeigen: Die militärische Einmi-schung äußerer Mächte in die Bürgerkriege in Syrien undim Irak hat den Krieg nur noch schlimmer gemacht . ObIran, Türkei, Saudi-Arabien, die USA oder Russland –sie alle heizen diesen Krieg mit immer mehr Waffen, mitAusbildern, mit eigenen Soldaten oder Söldnern an . Dasmuss ein Ende haben .
Und die Bundesregierung mischt auch mit . Ich sageIhnen: Sie will im Kielwasser der USA Schritt für Schrittzu einer Macht werden, die auch im Kriegsgebiet „Mitt-lerer Osten“ an Gewicht gewinnt und militärisch mithal-ten kann . Die Linke sagt: Ziehen Sie die Bundeswehr ausder Krisenregion ab, und hören Sie endlich mit den Waf-fenlieferungen an die Türkei, an Saudi-Arabien und anden Irak auf; denn diese Staaten heizen den Krieg mit an .
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Meine Damen und Herren, es ist schlimm genug, dasserst die Fluchtbewegung nach Europa den Blick auf dieLebensbedingungen von Millionen Menschen im Nahenund Mittleren Osten geöffnet hat . Beenden Sie endlichdie Ignoranz gegenüber der Situation der Menschen inFlüchtlingslagern im Irak, in der Türkei, in Jordanien undim Libanon .Wenn Sie nicht endlich verstehen, dass diese Men-schen eine zivile Perspektive brauchen, dann überlassenSie sie den Rekrutierern der Armeen und Milizen vor Ort,und das kann doch wirklich nicht Ihr Ziel sein .
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr . Ute Finckh-Krämer
für die SPD .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Ich möchte an das erinnern, wo-rum es heute in der Aktuellen Stunde eigentlich gehensollte, was aber bei den letzten Beiträgen etwas aus demBlick geraten ist, nämlich um die Frage, wie es jetzt po-sitive Impulse für einen Friedensprozess in Syrien gebenkann .Die wichtigste Person ist hier der UN-Sonderbeauf-tragte Staffan de Mistura, der aus keinem der Länderstammt, die dort im Augenblick in irgendeiner Weise mi-litärisch beteiligt sind . Er ist ein erfahrener Diplomat mititalienischer und schwedischer Staatsangehörigkeit undhat lange Erfahrungen im Bereich der humanitären Hilfeund in Konfliktregionen. Er ist einer der Menschen, die das vermeintlich Unmögliche schaffen können .Sein Verhandlungsansatz, der vorgestern vorgestelltwurde, basiert darauf, dass in vier Arbeitsgruppen unterLeitung von Fachleuten aus vier europäischen Ländernüber eine mögliche Entwicklung Syriens im Rahmeneines Friedensprozesses gesprochen werden soll . Dievier Fachleute kommen aus vier Ländern, nämlich ausder Schweiz, aus Deutschland, aus Norwegen und ausSchweden .Weil mein Thema heute die humanitäre Hilfe ist,möchte ich etwas mehr auf den norwegischen Arbeits-gruppenleiter eingehen, Jan Egeland, der ebenfalls einlangjährig erfahrener Diplomat ist und aus dem Bereichder humanitären Hilfe kommt . Im Augenblick ist er Ge-schäftsführer der größten norwegischen Hilfsorganisati-on, die sowohl im Bereich der Flüchtlingshilfe als auchim Bereich der humanitären Hilfe in den NachbarländernSyriens und in Syrien selber mit zweistelligen Millionen-beträgen aktiv ist .Ganz so allein, wie das eben teilweise dargestellt wur-de, sind wir Deutschen bei der Unterstützung eines Ver-handlungsprozesses im Augenblick also auch nicht, undwir sind in Bezug auf Syrien ganz sicher nicht Teil desProblems, sondern Teil der Lösung .
Vielleicht kennen Sie die Plakatkampagne von Mise-reor . Auf einem Plakat heißt es: „Mut ist, dahin zu ge-hen, wo andere fliehen“. Das gilt natürlich in besonderem Maße für Kriegsgebiete wie Syrien .Hilfsorganisationen schaffen oft das vermeintlich Un-mögliche, zum Beispiel, Zugänge auch dort zu erhalten,wo es nach landläufiger Meinung zu gefährlich ist. Sie tun das durch geduldige Verhandlungen mit den Bürger-kriegsparteien vor Ort, durch Zusammenarbeit mit loka-len Organisationen, durch immer wieder neue Analysender aktuellen Lage und auf Basis der vier humanitärenPrinzipien: Neutralität, Unabhängigkeit, Unparteilichkeitund Menschlichkeit .Sie sind als Grundlage für internationale humanitäreHilfe unverzichtbar und die Grundlage dafür, dass Hilfenach Bedürftigkeit und nicht nach Zugehörigkeit zu po-litischen, ethnischen, religiösen oder sonstigen Gruppengewährt wird . So kann im Augenblick auch ein großerTeil der 2,7 Millionen Menschen, die in Syrien in vonISIS kontrollierten Gebieten leben, mit humanitärer Hil-fe versorgt werden . Unmöglich wird humanitäre Hilfeallerdings meist dort, wo Kampfhandlungen stattfinden. Deswegen ist es so wichtig, lokale Waffenstillstände zuerreichen .
Deutsche Hilfsorganisationen können Unparteilich-keit und Neutralität in Bezug auf Syrien auch deswegenso glaubhaft machen, weil Deutschland im Syrien-Kon-flikt eben voll auf Diplomatie und nicht auf Waffenlie-ferungen an direkt oder indirekt Konfliktbeteiligte setzt.
Konfliktbeteiligte sind diejenigen, die im Augenblick in Syrien bomben . Wir liefern aber keine Waffen an eine derGruppen, die in Syrien kämpfen .
Wir setzen auch nicht auf den Einsatz von deutschem Mi-litär oder die Unterstützung von denen, die dort im Au-genblick mit militärischen Mitteln kämpfen . Das kann,muss und soll auch so bleiben, weil die Unabhängig-keit der humanitären Hilfe bzw . die deutsche Leistungin diesem Bereich sonst gefährdet wäre . Insofern, HerrWadephul, wäre ich froh, wenn wir auch innerhalb derKoalition eine Initiative für eine weitere Erhöhung derMittel sowohl für die humanitäre Hilfe als auch für dieHilfe in den Nachbarländern, die im Zusammenhang mitEntwicklungszusammenarbeit steht, erreichen könnten .Ich bin gerne bereit, daran mitzuarbeiten .Danke schön .
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Als Nächste hat Dr . Franziska Brantner, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort .
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Damen und Herren!Wir haben es hier heute schon mehrfach gehört: Die Lagein Syrien ist dramatisch . Sie ist es nicht erst seit gestern .Auch ich möchte noch einmal daran erinnern, dass über80 Prozent der zivilen Opfer Opfer Assads sind . Wirhaben heute viel über die Fassbomben gesprochen . Ichmöchte aber gerne auch noch einmal erwähnen, dass As-sad die Menschen systematisch aushungert . Es ist eineseiner Strategien, ganze Gebiete auszuhungern, währender die anderen weiter bombardiert .Frankreich und Großbritannien und auch Russlandbeteiligen sich jetzt am Kampf gegen ISIS . Russland be-teiligt sich natürlich vor allem für Assad . Mich wundertes ein wenig, wie wir hier heute Russland fast schon alsFeuerlöscher feiern, der jetzt kommt, da wir doch eigent-lich alle wissen, dass Russland jahrelang der Brandbe-schleuniger war und diesen Krieg mit angefeuert hat,indem es Assad unterstützt hat .
Russland interveniert gerade militärisch . Alle sagen:Jetzt aber unbedingt! Russland hat es sehr klug hinbe-kommen, sich dadurch mit an den Tisch zu bomben . Ichglaube, wir müssen es einfach auch im Kopf haben, dassdas keine einfache Rolle sein wird .Alle sagen: Es geht jetzt gegen ISIS . Und wieder ein-mal fallen der Bürgerkrieg an sich und die Rolle von As-sad hinten herunter . Aber das ist doch schon seit einemJahr die Strategie . Seit einem Jahr wird gegen ISIS bom-bardiert . Und wozu hat das geführt? Zu einem stärkerenISIS, zu einer Ausbreitung von ISIS in Syrien . Es hateben nicht dazu geführt, dass ISIS wirklich geschwächtwurde . Von daher ist es dringend notwendig, jetzt einenProzess einzuleiten bzw . eine Kontaktgruppe im Rahmender Vereinten Nationen einzusetzen . Wir müssen de Mis-tura mit allem unterstützen, was wir leisten können . Na-türlich ist klar, dass der Iran, dass Russland, die Türkei,Katar und Saudi-Arabien dabei sein müssen .Ich möchte gerne noch etwas zu Saudi-Arabien sagen .In Bezug auf die Verhandlungen höre ich, dass Saudi-Ara-bien nicht gerade freiwillig und gerne an diesen Verhand-lungstisch kommt, vielmehr ist es einer der Akteure vorOrt, bei dem es am schwersten ist, ihn überhaupt an denTisch zu bekommen . Da hätten wir Deutsche vielleichtnoch einmal eine Aufgabe, unser Gewicht dafür einzu-setzen, dass sich Saudi-Arabien daran beteiligt und bereitist, mit dem Iran an einem Tisch zu sitzen, auch wenndas natürlich eine Herausforderung ist . Ich nenne nur dasStichwort „Waffenexporte“ .Wir haben uns jetzt hier heute geeinigt, dass man na-türlich irgendwie mit Assad verhandeln muss, auch wenner danach nicht Teil der Lösung sein kann . Trotzdemmöchte ich hier gerne noch einmal die Opposition erwäh-nen, die zwar vielfältig ist, aber trotzdem noch existiert .Wer kann denn jetzt von den Oppositionellen verlangen,dass sie bei einer Bombardierung mit Fassbomben wei-terverhandeln? Wer gibt ihnen Zusicherungen, dass siedanach nicht massakriert werden? Wir reden alle überAssad . Er darf mit Geleit nach Moskau kommen – viel-leicht muss er danach irgendwann nach Den Haag . Aberwer redet über die Oppositionellen und darüber, welcheGarantien wir ihnen dafür geben können, damit sie bereitsind, sich auf diesen Prozess einzulassen?
Herr Gehrcke, Sie sprachen davon, dass eine Waffen-ruhe durchgesetzt werden müsse . Wer setzt denn dieseWaffenruhe durch?
Es gab unbewaffnete Beobachter, deren Einsatz aber zunichts geführt hat . Wenn wir hier ehrlich diskutieren undsagen: „Wir wollen im Rahmen der Vereinten Nationeneinen Prozess anstoßen und eine Lösung finden“, dann müssen wir auch sagen: Dieses Ergebnis werden wirim Rahmen der Vereinten Nationen absichern . – HerrGehrcke, ich zähle dann auf Ihre Unterstützung, dieseWaffenruhe auch umzusetzen .
Erste Prämisse für diese Verhandlungen ist, dass Mit-tel zur Befriedigung der humanitären Bedürfnisse vor Ortendlich bereitgestellt werden . Herr Wadephul, Sie habenes angesprochen: Das World Food Programme brauchtbis Ende des Jahres 278 Millionen Euro . Das ist eigent-lich eine Summe, die Herrn Schäuble keine schlaflosen Nächte beschert . Da könnte doch Deutschland vorange-hen und sagen: Das zahlen wir jetzt . – Anschließend gibtes einen Nachtragshaushalt für 2015 .
278 Millionen Euro könnte Deutschland auf den Tischlegen . Da könnten wir vorangehen . Frau Merkel hat esgesagt: Wir schaffen das . Wir gehen voran . Wir wartennicht, bis alle hinterherkommen .Bei dieser Sache, nämlich das Geld für das Programmbis zum Winter aufzubringen, kann ich nur an uns alle ap-pellieren, das möglich zu machen, und zwar nicht nur fürdas nächste Jahr . Diese Mittel müssen verstetigt werden,damit das World Food Programme nicht jedes Mal bet-teln und im April wieder sagen muss: Das Geld geht unsaus . – Das würde dazu führen, dass es im Herbst wiedernur verringerte Essensrationen gibt . Das ist doch schonseit vier Jahren ein Problem . Lassen Sie uns die Mitteldafür verstetigen . Wir werden dazu Anträge stellen . IchDr. Ute Finckh-Krämer
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freue mich sehr darauf, für diese Anträge die Stimmender Koalition zu erhalten .Ich danke Ihnen .
Vielen Dank . – Jetzt hat der Kollege Roderich
Kiesewetter für die CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Aktu-elle Stunde sollte uns Anlass geben, den Blick nach in-nen, in unser Land zu richten; denn die neue Dynamikberührt auch unsere Gesellschaft in erheblichem Maße .Ich möchte an dieser Stelle den vielen tausend freiwilli-gen Helferinnen und Helfern, die sich um die Aufnahmeund Eingliederung von Flüchtlingen in unserem Landkümmern, ganz herzlich danken .
Wir haben am Montag dieser Woche in beeindru-ckender Weise beim Parlamentarischen Abend des Ar-beiter-Samariter-Bundes gehört, welche Leistungen imEhrenamt erbracht werden . Wir haben diese Woche ei-nen Aufruf an die Reservisten der Bundeswehr gestartet,sich ehrenamtlich zu kümmern, und zwar mit einer sehrerfreulichen Resonanz .Zugleich erleben wir – deswegen bin ich froh, dasswir diese Aktuelle Stunde haben – eine Flut von Hass-botschafen und Hass-E-Mails aus der nationalistischen,rechtsextremen Ecke . Es ist gut, dass von diesem Parla-ment ein Zeichen der Hilfsbereitschaft ausgeht und dasswir unserer Bevölkerung deutlich sagen: Lasst euch vondiesen Menschen nicht verunsichern! Steht für den Zu-sammenhalt unserer Gesellschaft ein!
Meine sehr geehrten Damen und Herren, da ich heuteaus der Opposition zweimal gezielt angesprochen wurde,
möchte ich gerne von meinem nicht vorhandenen Manu-skript abweichen und zwei Punkte ansprechen . Ein Wortzu Syrien: Wir haben allein im August 46 000 syrischeFlüchtlinge aufgenommen, insgesamt bisher 140 000 .15 Millionen Menschen sind innerhalb und außerhalbSyriens auf der Flucht . In der Landeserstaufnahmestellein Ellwangen, die einmal für 500 Menschen vorgesehenwar, befinden sich jetzt 4 500 Menschen, darunter knapp 2 000 Menschen aus Syrien, die alle nicht unmittelbaraus Syrien geflohen sind, sondern aus den Flüchtlings-lagern im Libanon, in Jordanien und in der Südosttür-kei . Ich war mit etlichen Kollegen in diesen Lagern . Wirwissen, wovon wir sprechen . Der erste Vorschlag mussdahin gehen, Staaten wie Libanon und Jordanien stärkerzu helfen, als wir das bisher getan haben, und zwar imRahmen der Bildung, der Nothilfe, im Rahmen der Lehr-lingsausbildung, beispielsweise mit sauberem Wasser,medizinischer Versorgung und anderem .
Wir müssen alles tun, dass diese Staaten nicht zerfal-len, dass diese Staaten ihre Grenzen wirksam sichern unddass die Flüchtlinge so etwas wie Geborgenheit in der in-ternationalen Hilfe finden. Ich kann meinen Vorrednerin-nen, abgesehen von der Rednerin der Linken, und HerrnWadephul nur zustimmen: Genau das sind die richtigenWege .
Aber wir müssen uns darauf einstellen, dass wir mehrleisten müssen . Vielleicht kann die Operation im Rah-men von UNIFIL vor der Küste Libanons, an der wir unsbeteiligen, einer der möglichen Hebel sein, mehr zu tun .Möglicherweise müssen wir auch mithilfe von Polizei,Technischem Hilfswerk und anderen an den Grenzenzum Libanon und zu Jordanien mehr Hilfe für die Flücht-linge leisten .Der zweite Gedanke ist weniger angenehm . NächsteWoche, am 28 . September, wird Wladimir Putin vor derGeneralversammlung der Vereinten Nationen sprechen .Putin wird sicherlich gutklingende Vorschläge unterbrei-ten . Wir haben heute früh in der Regierungserklärungschon einiges darüber gehört, was möglicherweise aufuns zukommen wird . Wir müssen uns darüber im Klarensein, dass Assad nicht Teil der Lösung, sondern Teil desProblems ist . Es ist aber sehr gut, wenn Russland mithilft,
dass wir endlich die Blockade im Weltsicherheitsrat be-seitigen, und wenn wir zu einem VN-Mandat kommen .Ich glaube, wir müssen für ein Mandat der VereintenNationen mit dem Minimalziel der Schaffung von siche-ren Schutzzonen und Flüchtlingskorridoren werben . Wersoll – das klang gerade bei meiner Vorrednerin an – dieseSicherheitszonen durchsetzen? Saudi-Arabien zeigt zur-zeit, was die arabische bzw . die sunnitische Gemeinschaftzu tun in der Lage ist . Sie organisieren eine Streitmachtmit 150 000 Soldaten – von Senegal über Marokko bisPakistan – mit 100 Kampfflugzeugen, die möglicherwei-se dort zum Einsatz kommen .
Warum um alles in der Welt sind diese Staaten nicht inder Lage, sich aufgrund von Druck aus den Vereinten Na-tionen und diplomatischen Verhandlungen, die wir auchauf der Ebene E3+3 führen müssen, für die Schaffung ei-ner sicheren Flüchtlingszone in Syrien und im Irak einzu-setzen? Ich halte es für ganz entscheidend, dass die Hilfeaus der Region kommt . Die Unterstützung kann von unskommen .Dr. Franziska Brantner
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Auf ein Thema wurde ich gezielt angesprochen – ichhabe nichts dagegen, dass wir ganz offen darüber disku-tieren –: Warum sollen wir nicht mit deutschen Aufklä-rungstornados
die Stellungen von ISIS aufklären und einer wie auchimmer gearteten arabischen Kraft aus der Region dieZieldaten übermitteln? Wir brauchen sichere Häfen fürdie Flüchtlinge und dazu ein regionales Forum unter Ein-bindung der Türkei, Russlands, des Iran und Saudi-Ara-biens mit starker europäischer Unterstützung . Wenn wirdas schaffen, dann können wir die Flüchtlingsflut in der Region zu einem Segen für die Menschen machen unduns Europäer stärker mit unserem Fachwissen einbrin-gen . Das ist bitter nötig . Eine isolierte militärische Lö-sung ist keine Lösung .Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Nächster Redner ist Stefan Rebmann,
SPD-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Als Entwicklungspolitiker beschäftigen unsdas Thema Syrien und die Fluchtbewegungen schon eineganze Zeit lang. Ich finde, wir dürfen auch bei der heu-tigen Debatte die zunehmenden Fluchtbewegungen ausAfghanistan nicht vergessen . Auch sie dürfen wir in derGesamtdebatte nicht außer Acht lassen .Ich kann mich noch an eine Unterrichtung im Aus-schuss erinnern, bei der wir auf einer Karte von Syriensehen konnten, wer wo stationiert ist: wo die Freie Syri-sche Armee und wo die syrische Armee stationiert ist undwo damals noch ISIS stationiert war . Das waren einigekleine Punkte . Wir wurden auch darüber unterrichtet, werjeweils dahintersteckt, was deren Ziele sind und wie siesich über Spenden aus Saudi-Arabien und aus Kuwait fi-nanzieren .Wir müssen auch sehen, dass außenpolitisch schonviel unternommen worden ist, um nach Lösungen zusuchen . Man kann zwar kritisieren, dass wenig erreichtworden ist . Aber ich glaube, der Bundesregierung undinsbesondere Frank-Walter Steinmeier vorzuwerfen, erhätte zu wenig getan, geht an der Realität vorbei .
Immerhin war er als einziger Außenminister mehrfach inden Flüchtlingslagern, und er war auch derjenige, der zueiner Konferenz nach Berlin eingeladen hat .Ich habe in der letzten Haushaltswoche von einer Reiseder Kollegin Dagmar Wöhrl und mir nach Jordanien undin den Libanon berichtet . Ich habe davon berichtet, dasswir in der Beeka-Ebene eine junge Dame gesehen haben,die in einem Plastikzelt eine mobile Klinik aufgebauthatte . Wir hatten dabei den Geruch der nur wenige Me-ter entfernt vorbeischwimmenden Fäkalien von hunder-tausend Menschen in der Nase . In Jordanien haben wirin einer Klinik einen jungen Mann getroffen, der sich –wegen schrecklicher Erlebnisse selbst schwer traumati-siert – um traumatisierte Kinder kümmerte . Wir haben inSaatari gesehen, dass die Menschen auf Containern stan-den und Richtung Syrien telefoniert haben, während imHintergrund explodierende Fassbomben zu hören waren .Aber egal mit wem wir damals gesprochen haben, dieBotschaft lautete immer: Ich will nach Syrien zurückkeh-ren . Ich will mein Land wieder aufbauen . – Dieser Willewar allgegenwärtig zu spüren .Am vergangenen Montag und Dienstag haben wirzusammen mit Sigmar Gabriel, Kollegin Beck, Kolle-ge Hahn und einem Kollegen von der CDU/CSU Saa-tari erneut besucht . Ich weiß nicht, welchen Eindruckdie Kollegin und Kollegen dort gewonnen haben . MeinEindruck ist jedenfalls, dass es einen kompletten Stim-mungswechsel gegeben hat und dass Perspektivlosigkeitherrscht . Keiner hat mehr gesagt, dass er in sein Heimat-land zurückkehren will, um es aufzubauen .Was bedeutet es für die gesamte Region, wenn die-jenigen weggehen, die gut ausgebildet und noch fit sind und auch finanziell in der Lage sind, zu flüchten? Wer bleibt dann zurück? Wer kann dann Syrien wieder auf-bauen? Es kann doch nicht in unserem langfristigen Inte-resse liegen, dass dort eine komplette Region entvölkertwird . Deshalb ist es so wichtig, dass wir dort nicht nurhumanitäre Hilfe leisten . Vielmehr müssen wir die ge-samte Region stabilisieren . Das bedeutet, dass wir denJordanierinnen und Jordaniern Angebote in Form vonHandelserleichterungen und Infrastrukturprojekten zumBeispiel im Wasserbereich machen müssen . Wir müssenuns vergegenwärtigen: Das Flüchtlingslager Saatari mit80 000 Einwohnern steht auf dem größten fossilen Was-servorkommen in ganz Jordanien, das sonst nur über sehrwenig Wasser verfügt. Damit sind Konflikte vorprogram-miert . Deshalb ist es so wichtig, dass die Bundesregie-rung mit Frank-Walter Steinmeier vorangeht und Lösun-gen findet. Ich bin dankbar, dass wir hier im Parlament eine einhellige Meinung zu der Aufstockung der Mittelfür die humanitäre Hilfe und die Entwicklungszusam-menarbeit haben .
Ich schließe mich dem Dank vieler meiner Vorredner,insbesondere meines Kollegen Kiesewetter, an die Kom-munen und die ehrenamtlichen Helfer an . Aber Städtewie meine Heimatstadt Mannheim, die überproportio-nal viele Armutsflüchtlinge aufnehmen und bereit sind, noch mehr Flüchtlinge aufzunehmen, dürfen am Endenicht die Leidtragenden eines Pingpongspiels zwischender Staatskanzlei in Stuttgart und dem Bundesinnenmi-nisterium sein . Das würde im Endeffekt dazu führen,dass milliardenschwere kommunale Investitionen auf derStrecke blieben . Das darf nicht sein; denn so versetzenwir Kommunen nicht in die Lage, das Flüchtlingspro-Roderich Kiesewetter
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blem konstruktiv zu lösen . Kämpfen und streiten wir alledafür, dass die Ansätze für humanitäre Hilfe und Ent-wicklungspolitik deutliche Aufwüchse erfahren .Danke .
Vielen Dank . – Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion
hat jetzt die Kollegin Dagmar Wöhrl .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Viereinhalb Jahre ist es inzwischen her, dass dieSyrien-Krise begann . Viereinhalb Jahre mit mehr als280 000 Toten und 13 Millionen Flüchtlingen . Davonwerden bis zum Ende des Jahres laut der Vereinten Na-tionen 4,7 Millionen Flüchtlinge in den NachbarländernJordanien, Libanon und der Türkei unterkommen .Ein Problem ist, dass nicht mehr genug Nahrungsmit-tel zur Verfügung gestellt werden können, dass nur noch40 Prozent des für die Familien und Kinder Notwendigenda ist . Kinder werden von der Schule genommen, damitsie arbeiten gehen und Geld wenigstens für die notwen-digsten Nahrungsmittel verdienen können .Ich glaube, wir versuchen von Deutschland aus, dasBeste zu tun . Wir sind einer der größten Finanziers indiesem Bereich . Allein das BMZ hat seit 2012 über1 Milliarde Euro in diese Region investiert . Das geht vonAbwasserentsorgungen über humanitäre Hilfe und vie-les, vieles andere mehr . Aber wir wissen natürlich auch,dass die Fluchtbewegungen nicht abreißen werden, so-lange dort die Sklavenhalter und die Kopfabschneiderdes ISIS ihr Unwesen treiben werden und solange AssadFassbomben auf die eigene Bevölkerung wirft .
Deswegen sind wir froh, dass ein bisschen Bewe-gung in die diplomatischen Verhandlungen zu kommenscheint . Wir sind froh, dass nach Washingtons jahrzehn-telanger Strategie der Isolation Teherans das Nuklea-rabkommen mit dem Iran auch unter Mitwirkung vonRussland zustande gekommen ist . Das schafft die Chan-ce zur Flexibilität . Es schafft die Chance, dass man sichinternational annähert . Wir wissen: Iran und Russlandsind die Patronatswächter von Assad . Wir wissen auch,dass Russland jahrelang alle Sanktionen, die der UN-Si-cherheitsrat gegen Assad hätte beschließen können, mitseinem Veto boykottiert hat .Jetzt verstärkt Russland in der Tat seine Militärprä-senz . Wir erleben die größte Militäraktion Russlandsaußerhalb des exsowjetischen Raums seit einem Vier-teljahrhundert . Warum macht Putin das? Bestimmt nichtwegen der Flüchtlinge; von denen hat er nämlich in denletzten vier Jahren nur 2 000 aufgenommen .
Putin hat als jahrelanger Verbündeter von Assad –Russland war auch schon mit Assads Vater verbündet –Eigeninteressen . Er hat das Eigeninteresse, eine Strategiefür eine mögliche Neuordnung am Ende des Krieges zuentwickeln . Er hofft natürlich auch, mit dieser Strategieauf die Weltbühne zurückzukommen, um so von Sank-tionen befreit zu werden, die gegen sein Land als Folgeseiner Repressionen gegenüber der Ukraine und der An-nexion der Krim verhängt worden sind . Natürlich spieltauch der IS eine Rolle; aber das ist für ihn nicht primär .Wir sind froh, dass inzwischen auch Saudi-Arabienund die Türkei bereit sind, sich dem Kampf gegen den ISanzuschließen . Wir müssen hier allerdings auf die Türkeiaufpassen und auf die Türkei einwirken – Erdogan wirdam 5 . Oktober dieses Jahres nach Brüssel kommen –,dass sie sich die Bekämpfung des IS nicht gleichzeitigfür den Krieg gegen die Kurden zunutze macht .Der IS kontrolliert inzwischen 50 Prozent des gesam-ten Territoriums Syriens, das Assad-Regime nur nochetwa ein Drittel. Ich glaube, der Syrien-Konflikt wird nicht ohne Hilfe zu lösen sein, weder durch Bombardie-rungen von außen noch durch die Unterstützung beson-derer Gruppen im Inneren . Das wird vor allem durch dievollständige Fragmentierung der Opposition deutlich .Es gab nach zwei Jahren ein erstes Treffen zwischenden Außenministern der Vereinigten Staaten von Ameri-ka und Russland in Sotschi, bei dem man eine Strategiezur Bekämpfung des IS diskutiert hat . Auch wenn Kerryanschließend gesagt hat, es gehe nicht um eine Zusam-menarbeit, sondern nur um eine Konfliktlösung, ist das, glaube ich, egal . Denn man hat hier ein gemeinsamesZiel erkannt, den IS zu bekämpfen . Wir brauchen hier dieVereinigung der Kräfte . Zu sagen: „Okay, USA, kümme-re dich um den Nahen Osten, und Europa kümmert sichum die Ukraine“, ist, glaube ich, in diesem Zusammen-hang das falsche Denken .Ich hoffe, dass die Chance besteht, unter dem Dachder Vereinten Nationen wenigstens einige, wenn auchnicht alle – dass das nicht möglich ist, wissen wir – an ei-nen Tisch zu bekommen . Sicherlich wird die zukünftigeRolle Assads dabei eine wichtige Frage sein; man kommtdaran nicht vorbei . Aber wir wissen auch: Um Frieden zuerreichen, nützt es nichts, wenn man allein mit Freundenredet, sondern man muss auch mit den Feinden reden .Das heißt nicht, dass man Assad von seinen sämtlichenUntaten und Gräueltaten, die er begangen hat – er ist jader Verursacher dieses Krieges in Syrien –, zukünftigfreisprechen kann und wird .Wir sind froh, dass sich Erdogan mittlerweile daserste Mal bereit erklärt hat, nicht mehr die Konditionzu stellen, dass Friedensverhandlungen nur stattfinden, wenn Assad sofort abgelöst wird . Er hat sich heute bereiterklärt, diese Kondition nicht mehr zugrunde zu legen .Ich bin froh darüber; denn das heißt auch, dass die sy-rische Opposition von ihrem Nein, sich an den Tisch zusetzen, vielleicht ein Stückchen abrückt . Wir braucheneinen Waffenstillstand – auch wenn es nur eine Serie vonkleinen Waffenstillständen ist –, sodass wir endlich dieMöglichkeit haben, zu erreichen, dass das Töten beendetwird, dass humanitäre Hilfe erlaubt wird . 12 MillionenStefan Rebmann
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Menschen sind in Syrien auf humanitäre Hilfe angewie-sen . Wir kommen an 9 Prozent der Bevölkerung gar nichtheran, weil große Teile des Gebiets, wo humanitäre Hilfenotwendig ist, vom IS besetzt sind . 5,6 Millionen Kinder,die Schwächsten der Schwachen, sind betroffen . Es gibtda keine Möglichkeit, auch nicht mit unseren Hilfsorga-nisationen, vor Ort an die Menschen, die Hilfe brauchen,heranzukommen .
Frau Kollegin Wöhrl, denken Sie an die Zeit .
Vielen Dank; ich komme auch zum letzten Satz . –
Wenn wir es schaffen, in den Verhandlungen zu errei-
chen, dass die Fassbombenangriffe von Assad auf seine
eigenen Leute aufhören, ich glaube, dann schaffen wir
es auch, die Fluchtursachen erheblich zu reduzieren . Die
Flüchtlinge haben nicht nur Anspruch darauf, dass man
sich ihrer als Flüchtlinge annimmt, sondern sie haben
auch Anspruch darauf, dass man den Krieg in ihrem Land
als Ursache der Fluchtbewegung sieht und ihn zu stoppen
versucht . Ich glaube, Weltpolitik erlaubt keine Verweige-
rung, und danach sollten wir auch handeln .
Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als letzter Redner in dieser Aktuel-
len Stunde erhält jetzt der Kollege Thorsten Frei, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir haben in dieser Stunde über das bittere Fazit dervergangenen viereinhalb Jahre gesprochen, darüber, wieviele Menschen gestorben sind, und darüber, dass zweiDrittel der 23 Millionen Syrerinnen und Syrer innerhalboder außerhalb des Landes auf der Flucht sind . Ja, es istrichtig: Die Tatsache, dass große Flüchtlingsströme nachDeutschland kommen, verändert den Fokus und zwingtuns ein gutes Stück weit, auch unser außenpolitischesDenken und Handeln konstruktiv zu hinterfragen und zuüberlegen, welche Schlüsse wir daraus ziehen .Wenn man sich anschaut, dass etwa die Hälfte derMenschen, die nach Europa kommen, ihren Asylantragin Deutschland stellen, wenn man sieht, dass davon wie-derum 48 Prozent Syrer sind oder sich jedenfalls als sol-che ausgeben, dann wird vor allen Dingen klar, dass dasAuswirkungen der Globalisierung sind, dass die starrenGrenzen zwischen Außen- und Innenpolitik verschwim-men und dass uns außenpolitische Handlungsnotwendig-keiten auch als ganz konkrete innenpolitische Herausfor-derungen vor die Füße fallen: in unserer Gesellschaft, inunserem Land, vor Ort, in der Nachbarschaft von jedemEinzelnen von uns . Deshalb, glaube ich, müssen wir esals Gesamtheit angehen, wenn es darum gehen soll, eineLösung zu finden.Ich will an dieser Stelle einen Aspekt erwähnen, näm-lich dass wir in den vergangenen Monaten – vielleichtals eine gewisse Art Selbstschutzmechanismus, so mussman fast sagen – uns bei den außenpolitischen Proble-men immer nur auf das Thema, das gerade das aktuellstewar, fokussiert haben – das ist aber nicht richtig, weildie Wirklichkeit komplexer und vielschichtiger ist –:Wir haben vorgestern über die Ukraine und gestern überGriechenland gesprochen, sprechen heute über Syrienund morgen vielleicht über den afrikanischen Kontinent .Die Zusammenhänge liegen aber auf der Hand . Deshalbmüssen wir das Gesamtbild stärker im Blick behalten .
Es wäre falsch, glaube ich, heute hier an dem zu nör-geln, was in der Vergangenheit war, oder zu behaup-ten, man hätte irgendetwas besser gewusst . Ich glaube,dass das falsch wäre, weil sich die Bundesregierung inder Vergangenheit da sehr stark bemüht hat, nicht nurder Bundesaußenminister, auch der Bundesminister fürwirtschaftliche Zusammenarbeit beispielsweise, weilviel passiert ist – wir haben es in dieser Debatte schongehört – und weil es auch zutreffend ist, dass unsereMittel und Möglichkeiten begrenzt sind . Wenn man aufder Grundlage einer wertebasierten, aber eben auch in-teressengeleiteten Außenpolitik Schlussfolgerungen zie-hen möchte, dann sind es drei Aspekte, die man dabei imBlick behalten sollte:Erstens . Es geht zunächst einmal darum, unmittelba-re humanitäre Hilfe zu leisten . Es geht aus meiner Sichtauch darum, auf die Herausforderung der Flüchtlings-ströme, mit denen wir konfrontiert sind, nicht nur eineinnenpolitische, sondern auch eine außenpolitische Ant-wort zu finden. Und da ist es natürlich ein Erfolg, dass man vereinbart hat, 400 Millionen Euro zusätzlich fürdie Bekämpfung der Fluchtursachen zur Verfügung zustellen . Da ist es ein Erfolg, dass 1 Milliarde Euro ausEU-Mitteln zur Verfügung gestellt werden soll, wie ges-tern Abend beschlossen wurde . Aber ich will auch sagen:Das ist zu wenig . Das ist keine glaubwürdige außenpo-litische Antwort mit Blick auf das, was notwendig ist .Deshalb sollten wir uns meines Erachtens auch in denHaushaltsberatungen noch einmal mit diesem Aspekt be-schäftigen .
Zweitens will ich die Tatsache ansprechen, dass es –das merkt man, wenn man sich die Reden auf der Mün-chener Sicherheitskonferenz des vergangenen Jahres inErinnerung ruft – eine gewisse Diskrepanz zwischenAnspruch und Wirklichkeit gibt. Ich finde, der Anspruch, uns früher, entschiedener und substanzieller gemäß un-serer Stärke und Kraft international einzubringen, istrichtig . Aber dann muss man das auch glaubwürdig un-terlegen . Und das bedeutet eben auch, dass wir uns andie Finanzierungszusagen halten, die wir gegeben haben .Das gilt beispielsweise in der Entwicklungspolitik fürdas 0,7-Prozent-Ziel – auch angesichts dessen, was wirin der Vergangenheit schon getan haben . Das gilt aberDagmar G. Wöhrl
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auch für das in der NATO vereinbarte 2-Prozent-Ziel imBereich Sicherheit und Verteidigung .
An dieser Stelle müssen wir uns stärker engagieren undauf die künftigen Herausforderungen vorbereiten . Und esgilt letztlich auch im Bereich des Auswärtigen Amtes fürdie Mittel der zivilen Krisenprävention – Stichwort „Sta-te Building“ . Wir müssen die Voraussetzungen schaffen,um mit diesen Dingen fertigzuwerden .Der dritte und letzte Aspekt, Frau Präsidentin, den ichansprechen wollte: Ich glaube in der Tat – die Vorred-ner haben es gesagt –, dass es ein Zeitfenster gibt, diezentralen Akteure an den Tisch zu bekommen . Das sindneben den USA und Russland vor allen Dingen die Re-gionalmächte Iran und Saudi-Arabien sowie das Schlüs-selland Türkei . Wir sollten dieses Zeitfenster nutzen, undich glaube, dass Deutschland eine konstruktive Rolleübernehmen kann, um in dieser schwierigen Situation zuvermitteln .Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank .
Wir sind damit am Ende der Aktuellen Stunde ange-
kommen .
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozi-
ales zu dem Antrag der Abge-
ordneten Uwe Schummer, Karl Schiewerling,
Jutta Eckenbach, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Kerstin Tack, Katja Mast, Dr . Matthias Bartke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Integrationsbetriebe fördern – Neue Chancen
für schwerbehinderte Menschen auf dem ers-
ten Arbeitsmarkt eröffnen
Drucksachen 18/5377, 18/6086
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich sehe kei-
nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Das Wort hat jetzt die Kollegin Kerstin Tack,
SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt kommenwir zu einem wirklich guten Thema, nämlich zum Aus-bau der Integrationsbetriebe in Deutschland . Die rund850 Integrationsbetriebe, die wir derzeit in Deutschlandhaben, sind eine wahre Erfolgsgeschichte .
Sie sind 2001 von der damaligen schwarz-, nein, rot-grü-nen Regierung – herrje! –
im damals neuen SGB IX verankert worden, um Men-schen mit einer wesentlichen Behinderung eine Arbeits-möglichkeit im allgemeinen, ersten Arbeitsmarkt zu bie-ten .Heute sind die, – wie gesagt, – rund 850 Integrations-betriebe in Deutschland, die zwischen 25 und 50 ProzentMenschen mit wesentlicher Behinderung beschäftigen,Wirtschaftsunternehmen mit einer ganz besonderen so-zialen Aufgabe .Von den rund 22 000 Beschäftigten insgesamt sindetwa 10 000 Beschäftigte mit wesentlicher Behinderung .Es ist uns ein großes Anliegen, in dieser Legislatur deninklusiven Arbeitsmarkt für Menschen mit wesentlicherBehinderung auszubauen und ihnen die Möglichkeit zugeben, aus unterschiedlichen Angeboten am Arbeits-markt auszuwählen . Da haben wir auf der einen Seite diesehr beschützten Werkstätten für behinderte Menschen .Wir haben auf der anderen Seite den allgemeinen Arbeits-markt, auf dem wir mit Lohnkostenzuschüssen und mitMitteln zum Umbau des Arbeitsplatzes massiv Unterstüt-zung leisten, und wir haben die Integrationsbetriebe alsTeil des allgemeinen Arbeitsmarktes . Wir erleben, dasses heute zum Glück mehr Anträge auf Unterstützung,Ausbau und Weiterentwicklung der Integrationsbetriebegibt, als wir in den letzten Jahren Mittel zur Verfügunggestellt haben . Wir wollen diesen Ausbau vorantreiben .Deshalb ist es gut, dass wir heute den Beschluss fassenwollen, den Integrationsämtern, die für die Förderung inden Ländern zuständig sind, innerhalb der nächsten dreiJahre 150 Millionen Euro zum Ausbau genau dieser sowesentlichen und wichtigen Betriebe an die Hand zu ge-ben .
Sie sind ein Baustein des inklusiven Arbeitsmarktes .Wir haben in dieser Legislatur noch mehr vor . Aberein wesentlicher Meilenstein wird heute mit diesem An-trag erreicht . Wir möchten, dass auch die Menschen, dieaufgrund einer psychischen Erkrankung nicht mehr imallgemeinen, ersten Arbeitsmarkt, aus dem sie in der Re-gel kommen, eine Weiterbeschäftigung finden können, künftig in einer Werkstatt für behinderte Menschen oderin einem Integrationsbetrieb eine Beschäftigung erhalten,entweder ganztags, halbtags oder – auch das verändernwir – als Zuverdienstbeschäftigung mit zwölf Stundenpro Woche . Denn für viele ist eine Arbeit in Halb- oderVollzeit aufgrund ihrer psychischen Erkrankung nichtleistbar . Momentan liegt die Grenze für den Zuverdienstin den Integrationsbetrieben bei 15 Wochenstunden . Aberdas ist für viele zu viel auf dem Weg der Integration inden allgemeinen Arbeitsmarkt . Deshalb werden wir mitThorsten Frei
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diesem Antrag diese Grenze auf zwölf Stunden reduzie-ren, damit noch mehr Menschen die Möglichkeit haben,im Rahmen des ersten Arbeitsmarktes einen Einstieg zuerhalten . Ich glaube, das ist richtig .
Im Rahmen der neuen Vergaberichtlinie werden wirvorsehen, dass wir die Integrationsbetriebe, die wir fürbesonders wichtig und unterstützungswürdig halten, beider Vergabe öffentlicher Aufträge bevorzugen können .Wenn eine Kommune, ein Landkreis, ein Land oder derBund öffentliche Aufträge zu vergeben hat, dann könnenIntegrationsbetriebe vorrangig von diesen Aufträgen pro-fitieren; denn sie sind ja ganz besonders schützenswert und unterstützungswürdig . Das ist auch richtig und gutso . Damit stärken wir die Wirtschaftskraft genau dieserUnternehmen .
Viele fragen: Was passiert, wenn die drei Jahre umsind, die Anschubfinanzierung von 150 Millionen Euro verbraucht ist und wir dann weiteres Geld benötigen?Wenn das der Fall ist, wovon wir ausgehen, werden wirab 2018 auch hierfür eine Lösung benötigen . Dieser Pro-blematik sind wir uns bewusst . Ich glaube, angesichtsder neuen Beschäftigungsmöglichkeiten, die wir damitschaffen, werden wir auch die dafür notwendigen Mittelzur Verfügung stellen .In unserem Antrag fordern wir auch, zu prüfen, obweitere Zielgruppen in den Integrationsbetrieben künf-tig Arbeitsmöglichkeiten am allgemeinen Arbeitsmarkterhalten können . Insbesondere die Langzeitarbeitslosenkönnten eine solche Zielgruppe sein .Aber wir sind vorsichtig und sagen: Sie dürfen auf keinenFall auf die Quote der behinderten Menschen angerech-net werden . Wenn im Einzelfall auch Langzeitarbeitslosein diese Betriebe hineinkönnen, dann dürfen für sie nichtdie Fördergelder, die für Menschen mit Behinderungvorgesehen sind, ausgegeben werden; vielmehr muss dasaus Mitteln der BA erfolgen .
Wir haben in dieser Legislatur noch mehr für den all-gemeinen und inklusiven Arbeitsmarkt vor . Wir merken,dass gerade kleine und mittelständische Unternehmenhäufig nicht wissen, welche Unterstützungsmöglichkei-ten sie bekommen können, wenn sie jemanden mit we-sentlicher Behinderung einstellen, welche Möglichkeitensie beim Lohnkostenzuschuss haben, was ihnen die öf-fentliche Hand zur Umgestaltung des Arbeitsplatzes gibt,und vieles mehr . Deshalb haben wir zum Beispiel mit derKampagne „Wirtschaft inklusiv“ Extragelder zur Verfü-gung gestellt, damit genau diese Klarstellung erfolgenkann . Wer nicht weiß, dass und wie er unterstützt wird,hat auch größere Schwierigkeiten damit, sich für die Ein-stellung schwerbehinderter Menschen zu entscheiden .Ich will auch sagen, dass es gut ist, dass die Bundesre-gierung bereits vor einigen Monaten entschieden hat, dieMittel für 10 000 Plätze für unterstützte Ausbildung zurVerfügung zu stellen, damit assistierte Ausbildung – vonder Schule in die Ausbildung – auch für die Personen-gruppe der wesentlich behinderten Menschen erfolgenkann . Das ist ein richtiges, ein gutes Zeichen . Wir ver-stehen Inklusion so, dass wir Menschen mit Behinderungmit allen Möglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen, inden ersten, allgemeinen Arbeitsmarkt integrieren wollen,und zwar so viele wie möglich .Heute machen wir einen ganz wesentlichen Schritt indiese Richtung . Ich freue mich, dass wir uns fast alle ei-nig sind. Ich finde es richtig schade, dass sich die Linke nicht entscheiden kann, den Ausbau der Integrationsbe-triebe zu unterstützen .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Ich darf alle Kolleginnen und Kolle-
gen noch einmal daran erinnern, dass wir bestimmte Re-
dezeiten vereinbart haben, und möchte darum bitten, dass
wir sie einhalten .
Nächste Rednerin ist die Kollegin Katrin Werner .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Es wurde Zeit, dass Sie sich endlich desThemas annehmen und Integrationsbetriebe ausbau-en und unterstützen wollen . Und dennoch, sehr geehrteRegierungsmitglieder: Ihr Antrag greift viel zu kurz undkommt auch reichlich spät .
Ehrlich gesagt, an manchen Stellen habe ich leider denEindruck, dass auch ein bisschen Show dabei ist .
Sie benennen Integrationsunternehmen in „Inklusions-unternehmen“ um . Aber wenn es darum geht, „Integra-tion“ durch „Inklusion“ im deutschen Gesetzestext fürdie Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention zuersetzen, bleiben Sie stur .Menschen mit Behinderung sind nach wie vor über-durchschnittlich oft arbeitslos, und das meist auch sehrlange . Ihre Arbeitslosenquote ist doppelt so hoch wie dienichtbehinderter Menschen, und die Anzahl der Men-schen in Werkstätten nimmt ständig zu . Menschen mitBehinderung werden bei der Teilhabe am Arbeitslebenganz klar diskriminiert . Viele junge Menschen mit Be-hinderung sind ausgezeichnet ausgebildet . Vor Arbeitslo-sigkeit schützt sie aber auch eine gute Ausbildung nicht .Deshalb sind Integrationsbetriebe bei der Integration vonKerstin Tack
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Menschen mit Behinderung auf dem ersten Arbeitsmarktunverzichtbar .
Sie eröffnen berufliche Perspektiven. Sie tragen wegwei-send zur Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben vonMenschen mit Behinderung bei .800 Integrationsunternehmen sind einfach nicht ge-nug . Da gebe ich Ihnen völlig Recht .
Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren der Ko-alition, Integrationsbetriebe dürfen nicht zum Verschie-bebahnhof für Menschen werden, die von der Teilhabeam Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind . Die Teilhabe vonlangzeitarbeitslosen Menschen ohne Schwerbehinderungam ersten Arbeitsmarkt darf auf keinen Fall auf Kostender Inklusion von Menschen mit Behinderung gehen . Esdarf nicht zur Verdrängung kommen .
Die Förderung von Langzeitarbeitslosen ohne Schwer-behinderung in Integrationsbetrieben aus Mitteln derAusgleichsabgabe lehnen wir strikt ab . Und damit sindwir nicht alleine . Wieso befristen Sie die jährliche Förde-rung von 50 Millionen Euro bis zum Jahr 2017, wenn –Frau Tack, Sie sagten es – Sie heute schon wissen, dasses nicht ausreicht? Wie soll denn in so einem kurzen Zeit-raum eine nachhaltige Entwicklung möglich sein? War-um planen Sie nicht von vornherein mehr Geld ein? Sienehmen das Geld aus dem Topf der Ausgleichsabgabe,aus dem in absehbarer Zeit nichts mehr zu greifen ist .Sie wollen den für eine Förderung durch das Integ-rationsamt erforderlichen Mindestbeschäftigungsumfangvon 15 Stunden ausnahmslos auf 12 Stunden kürzen .Aber wissen Sie, was Sie damit auch tun? Sie fördernweiter prekäre Arbeitsverhältnisse und treiben damitMenschen in Altersarmut . Das kann nicht wirklich IhrErnst sein .
Eine eingleisige finanzielle Förderung der Integrati-onsbetriebe reicht absolut nicht aus . Wir brauchen paral-lel dazu eine strukturelle, schrittweise Umgestaltung desgesamten Werkstattsystems, so wie wir es in unseremAntrag „Gute Arbeit für Menschen mit Behinderung“fordern .Noch immer liegt der durchschnittliche Lohn deretwa 300 000 Menschen, die in einer Werkstatt tätigsind, bei circa 180 Euro monatlich, und das oft bei ei-nem Achtstundentag . Sie kennen das: Wir alle erhaltenBürgerschreiben . Neulich bekam ich einen Brief, in demmir ein Mann berichtete, dass ihm jeden Tag pauschal2,50 Euro für sein Essen abgezogen werden . Damit sindcirca 75 Euro von den 180 Euro weg . Das heißt, ihm blei-ben im Monat 105 Euro zusätzlich . Das ist keine gerechteEntlohnung, und dagegen verwahren wir uns .
Meine Damen und Herren, 180 Euro monatlich für dietägliche Arbeit sind diskriminierend und viel zu wenig,um davon zu leben .
– Dann hören Sie doch bis zum Ende zu! – Alle Men-schen haben das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben .Sie haben das Recht, eine tarifliche Entlohnung zu erhal-ten und damit ihren Lebensunterhalt selbst finanzieren zu können . Deshalb will die Linke bei der Umstrukturierungdes Arbeitsmarktes für Menschen mit Behinderung ne-ben einer unbefristeten Förderung von Integrationsbe-trieben vor allem dreierlei erreichen:Wir wollen – erstens – Integrationsbetriebe nicht nurdurch eine bevorzugte Vergabe öffentlicher Aufträge för-dern, sondern sie zusätzlich und langfristig durch Inves-titionsförderungen und Steuerentlastungen in der Grün-dungsphase unterstützen .Wir wollen – zweitens – ein Budget für Arbeit, das esjedem Arbeitnehmer und jeder Arbeitnehmerin erlaubt,den Arbeitsplatz frei zu wählen .Und wir wollen – drittens – eine unabhängige Bera-tung durch Menschen mit Behinderung, die alle Betrof-fenen beim Zugang zu Integrationsbetrieben unterstützt .Damit meinen wir vor allen Dingen eine Beratung fürMenschen mit Behinderung, die in Werkstätten tätig sind .
Sehr geehrte Mitglieder der Regierungskoalition, un-sere Vorschläge liegen auf dem Tisch . Wenn Sie sie auf-greifen wollen, sind wir Ihnen gerne behilflich. Wir wer-den uns bei der Abstimmung über den Antrag enthalten .
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Nächster Redner für die CDU/
CSU-Fraktion ist der Kollege Uwe Schummer .
Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren!Kollegin Werner, die einzige Show, die es heute bei die-sem Thema gab, kam von Ihnen .
Katrin Werner
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Sie haben nicht zum Thema, nämlich Integrationsfirmen, geredet . Stattdessen haben Sie einen Standardvortraggehalten, den Sie wahrscheinlich seit zwei, drei Jahrenin der Schublade haben . Es wäre schön gewesen, wennSie zumindest jetzt, wo wir gemeinsam 150 MillionenEuro für die Förderung von Integrationsunternehmen indie Hand nehmen wollen, ein Stück weit pragmatisch ge-wesen wären und im Sinne der Betroffenen zum Themageredet hätten .Wir fördern die Integrationsunternehmen – es sind850, wie Kerstin Tack eben gesagt hat – bisher mit68 Millionen Euro pro Jahr . Diese 68 Millionen Eurowerden in den nächsten drei Jahren mit Bundesmittelnaus der Ausgleichsabgabe um jeweils 50 Millionen Euroaufgestockt . Natürlich wird es so sein, dass wir in die-sem Jahr nicht die gesamten 50 Millionen Euro verge-ben können; aber dieses Geld wird dann auf die nächstenbeiden Jahre übertragen, sodass insgesamt auf jeden Fall150 Millionen Euro für die Förderung der Integrations-unternehmen zusammenkommen und ihre segensreicheWirkung entfalten werden .
Das ist dann keine Show, sondern Praxis, praktische Ar-beit für die Menschen .Wir hatten gestern eine Präsentation dieses Antrages,gemeinsam mit Herrn Dr . Baur von der Bundesarbeitsge-meinschaft Integrationsfirmen. Mit der Bundesarbeitsge-meinschaft Integrationsfirmen ist dieses Thema aufgear-beitet worden . Sie hat uns klar und eindeutig unterstütztund Dankeschön dafür gesagt, dass die Große Koalitionjetzt dieses Zeichen aus dem Parlament heraus setzt . Wirwerden in den weiteren Beratungen bis Anfang nächstenJahres den Entwurf eines Bundesteilhabegesetzes entwi-ckeln, das vorsieht, über das Budget für Arbeit und ande-re Instrumente die Förderung der Inklusion auf dem ers-ten Arbeitsmarkt weiter zu verstetigen und auszubauen .Insgesamt 1,3 Millionen anerkannt schwerbehinderteMenschen arbeiten auf dem ersten Arbeitsmarkt . 300 000wesentlich behinderte Menschen sind in Werkstättentätig. Es gibt 850 Integrationsfirmen. Ich glaube nicht, dass Bußgelder oder Strafandrohungen der richtige Wegsind, um mehr Unternehmer zu motivieren, anerkanntschwerbehinderte Menschen einzustellen oder weiter zubeschäftigen . Ich glaube, dass diese Menschen Potenzi-ale haben, und diese Potenziale müssen wir benennen .Wir müssen uns überlegen, wie wir unterstützen können,wie wir Hilfe zur Selbsthilfe leisten können, auch fürUnternehmen, wenn technische Umbauarbeiten notwen-dig sind . Wir werden die „Unterstützte Beschäftigung“weiter ausbauen, sodass möglichst viele behinderteMenschen inklusiv auf dem ersten Arbeitsmarkt unterge-bracht werden können .Es ist zu wenig bekannt, dass in diesem Bereich Po-tenziale zu heben sind . Zu viele haben noch Vorbehalteund Bedenken . Sie haben Angst, dass sie mit technischenProblemen, mit Umbaumaßnahmen und mit der erfor-derlichen Assistenz alleine gelassen werden . Deshalb istdie Assistierte Ausbildung so wichtig . Wir brauchen eineInformationskampagne, und zwar eine positive und kei-ne, die nach dem Motto verfährt: Sei nett, beschäftigeeinen behinderten Menschen . – Vielmehr muss deutlichgemacht werden: Das sind Menschen mit Potenzial . Diemüssen auch in Ihrem Unternehmen eine Chance haben .Jeder Unternehmer, der das nicht erkennt, ist ein schlech-ter Unternehmer .
Wir müssen mit den positiven Eigenschaften und Fähig-keiten werben, um die Entwicklung auf dem inklusivenArbeitsmarkt voranzutreiben .Lotsenboote auf diesem ersten Arbeitsmarkt sind dieIntegrationsfirmen, die zeigen, dass sie auch bei einer Behindertenquote von 25, 30 oder 40 Prozent in ihrenBelegschaften effizient arbeiten können. Die Bundesar-beitsgemeinschaft Integrationsfirmen hat nachgewiesen, dass die Insolvenzrate bei den Integrationsfirmen gerin-ger ist als in der übrigen Wirtschaft, weil die Beschäf-tigten motiviert sind und sich sehr stark mit dem Unter-nehmen identifizieren. Das zeigt, dass der soziale Frieden durchaus eine produktive Kraft hat . Damit haben sie Vor-bildcharakter für alle anderen Unternehmen auf dem ers-ten Arbeitsmarkt . Diese Lotsenboote, die auch für größe-re Unternehmen Vorbildcharakter haben, wollen wir mitdem Förderprogramm des Bundes in besonderer Weisefördern und dafür sorgen, dass sie in der Wirtschaft undin den Unternehmen Schule machen .
Die Integrationsfirmen sind in allen Bereichen ange-siedelt: von der Produktion über Dienstleistungen bis hinzu Gartenbau . Auch bei der Zeitarbeit gibt es Dienstleis-tungs- und Service-GmbHs, die sehr vorbildlich arbeiten .Ich bin überzeugt: Durch unsere Mobilisierung wirdsich die Zahl der 850 Integrationsfirmen in den nächsten vier Jahren auf 1 600 oder 1 700 verdoppeln . Der „Da-vid“, den wir heute vor uns haben, wird heranwachsenund vor allen Dingen auf dem ersten Arbeitsmarkt viel inBewegung setzen .Wir müssen das Thema Minderleistungsausgleich inBeschäftigungsverhältnissen dauerhaft klären; wir sindbereits auf dem Weg . Die Förderung durch die Vergabeöffentlicher Aufträge ist ein weiterer Baustein, um dieseUnternehmen zu unterstützen . Durch ihren sozialen Cha-rakter kommen sie für kommunale, Landes- und Bundes-aufträge hervorragend in Betracht . Auch das europäischeVergaberecht ist hier kein Hindernis . Vielmehr könnenwir mit öffentlichen Aufträgen die Integrationsfirmen oder auch Integrationsabteilungen in den Unternehmengezielt unterstützen .Wir wollen auch den Ausbildungsort Integrationsfir-ma stärken . Ohne die verschiedenen Systeme vermischenzu wollen – SGB II für Langzeitarbeitslose auf der einenSeite, Eingliederungshilfe und Ausgleichsabgabe auf deranderen Seite –: Warum sollen nicht auch ältere Lang-zeitarbeitslose, die viel Erfahrung haben, einen Ausbil-derschein erwerben können, um in den Integrationsfir-men Ausbildungsgänge durchzuführen?Uwe Schummer
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Es gibt oftmals eine Kette: von der Förderschule reinin die Werkstatt, und dort kommt man dann nicht mehrraus . Das ist oftmals bei lernbehinderten jungen Men-schen der Fall . Es gibt Bausteine, zweijährige Ausbil-dungsberufe und andere Möglichkeiten, für eine Qualifi-kation in Unternehmen auf dem ersten Arbeitsmarkt . Wirwollen Langzeitarbeitslose, aber auch behinderte jungeMenschen zusammenführen und dafür sorgen, dass derAusbildungsort Integrationsunternehmen gestärkt wird .Ich habe in Plauen in Sachsen ein Integrationshotelbesucht, in dem gemeinsam mit einer Rehaeinrichtungsolche Ausbildungsgänge angeboten werden . Die arbei-ten effizient, sind auf dem ersten Arbeitsmarkt vertreten und schaffen neue Potenziale und Perspektiven für jungeMenschen .In meinem Bundestagsbüro arbeite ich mit einer Re-haeinrichtung aus Berlin zusammen . Ich habe regelmäßigPraktikanten, die psychisch, die seelisch erkrankt sind .Dieses Thema wird im Übrigen durch die Fluchtbewe-gungen an Bedeutung zunehmen . Oftmals ist es so, dassdiese Praktikanten an zwei Tagen exzellent arbeiten undsich hervorragend einsetzen, aber am dritten Tag sagen:Tut mir leid . Heute geht es nicht .Für ein klassisches Unternehmen ist es natürlichschwierig, das einzuschätzen . Trotzdem müssen wirüber Integrationsfirmen Arbeitszeitmodelle und Gesund-heitsmodelle entwickeln, mit denen wir das Potenzial anden zwei Tagen nutzen und dann weiter aufbauen unddie Menschen nicht in die Werkstatt verschieben . Das isteine gemeinsame Anstrengung. Integrationsfirmen kön-nen modellhaft für die übrige Wirtschaft solche Arbeits-zeitsysteme entwickeln .Daher ist der heutige Tag ein guter Tag für die Inklusi-on und für die Integrationsfirmen. Es wäre gut gewesen, wenn wir dazu einstimmig ein klares positives Votum ge-setzt hätten . Das kann man eigentlich nur unterstützen .Ich bin sicher, dass wir diese produktive Kraft der so-zialen Teilhabe, die von den Integrationsfirmen ausgeht, weiter stärken werden und dass wir damit auch einenPunkt setzen, sodass man sagen kann: Gut, dass es diesenAntrag gibt . Gut, dass wir ihn umgesetzt haben .
Vielen Dank . – Als Nächstes hat die Kollegin Corinna
Rüffer, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kol-legen! Liebe Gäste! Herr Schummer, so einfach werdeich es Ihnen jetzt nicht machen .In den vergangenen mehr als anderthalb Jahren habeich von dieser Stelle aus oft geschimpft, weil hier behin-dertenpolitisch viel diskutiert worden ist, im Endeffektaber nichts dabei herumgekommen ist . Insofern muss ichIhnen anrechnen, dass wir heute endlich einmal zu einemBeschluss kommen zu einer in der Tat wichtigen Angele-genheit: Integrationsfirmen zu fördern und eine Perspek-tive für die nächsten drei Jahre abzusichern .Frau Tack, wenn Sie hier von „Meilenstein“ reden,dann finde ich das ein Stück weit überhöht – ich kom-me gleich dazu –, weil dieser Antrag selbstverständlichauch noch Probleme in sich birgt und noch nicht dieLösung ist für die Finanzierung der Integrationsbetriebeund weil die Frage eines inklusiven Arbeitsmarktes – mitVerlaub – eine bedeutendere Frage ist als die Diskussionüber 4 500 zusätzliche Plätze in ganz Deutschland .In absoluten Zahlen gesehen ist es in der Tat so, dassIntegrationsfirmen in ihrer Bedeutung überschaubar sind. Es sind bundesweit 800 Integrationsfirmen. Es sind 11 000 Plätze für Menschen mit teilweise schweren Be-hinderungen, die dort einen sozialversicherungspflichti-gen – das ist wichtig – Arbeitsplatz gefunden haben . DieBedeutung dieser Integrationsfirmen geht aber über den Anschein dieser lediglich 800 Firmen deutlich hinaus .Sie zeigen nämlich, wie es geht . Sie haben über drei Jahr-zehnte Erfahrungen mit der Beschäftigung schwerbehin-derter Menschen . Sie machen das nicht erst seit gestern,sondern schon seit mehr als 30 Jahren . Sie stehen imWettbewerb mit anderen Unternehmen . Sie zeigen, dassMenschen mit Behinderung zum wirtschaftlichen Erfolgbeitragen können .
Die Finanzierung über die Ausgleichsabgabe bleibt inder Tat ein Problem, weil dadurch eine immanente De-ckelung geschaffen wird . Jetzt muss ich einige Anmer-kungen an Sie richten. Unser Bundesfinanzminister hat zu Beginn der Sommerpause gefordert, die Ausgleich-sabgabe zu verdoppeln . Ich habe noch nicht gehört, dassdas hier aufgenommen worden ist . Im Gegenteil: Im Pe-titionsausschuss haben Sie als Regierungskoalition einePetition abgelehnt, mit der genau das gefordert wordenist . Konkret ging es noch nicht einmal um eine Verdoppe-lung, sondern um eine Erhöhung . Dazu muss ich sagen,dass das einfach bigott ist . Ich möchte, dass Sie hier undauch im Petitionsausschuss dazu stehen und diese Forde-rung mittragen; denn das wäre tatsächlich wichtig für dieStabilisierung des Systems der Integrationsfirmen.
Wir stellen fest, dass diese Firmen schon längst an dieGrenze gekommen sind, was den Ausbau an Plätzen an-geht .Das gilt zum Beispiel für Nordrhein-Westfalen . HerrSchummer, Sie wissen das . Ich glaube, das ist eine Trieb-feder für Sie . Ich glaube, dass Sie das mobilisiert hat, wasich Ihnen sehr hoch anrechne . Wir brauchen aber sehrviel mehr inklusive Angebote . Wir brauchen Alternati-ven . Wir müssen nicht nur Alternativen zum Werkstatt-platz schaffen, sondern wir müssen die Werkstätten ins-gesamt transformieren und zu einem Teil des inklusivenArbeitsmarktes umgestalten . Das ist doch die Aufgabe .Dazu können Integrationsfirmen einen ganz wichtigen Uwe Schummer
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Beitrag leisten. Insofern finde ich das Bild vom Lotsen-boot ziemlich gelungen, weil es Orientierung bietet, weiles eine Richtung aufzeigt . Weil dieser Antrag – das kannman nicht vom Tisch wischen – in die richtige Richtunggeht, werden wir diesem Antrag zustimmen .
150 Millionen Euro sind, gemessen an der Zahl, dieSie gerade genannt haben – zurzeit 68 Millionen jähr-lich –, kein Pappenstiel; das geht in Richtung Verdoppe-lung . Das ist zwar immer noch zu wenig, aber eine Haus-nummer, mit der man arbeiten kann .Jetzt will ich aber doch etwas Wasser in den Wein gie-ßen, was mir als Mosel-Bewohnerin besonders schwer-fällt . Ich verstehe nicht, warum Sie die Hinweise undVorschläge in den wohlwollenden Stellungnahmen vielerVerbände nicht aufgegriffen haben, so vom Sozialver-band Deutschland, vom Paritätischen Wohlfahrtsver-band, von der Bundesarbeitsgemeinschaft Integrations-firmen, in deren Beirat wir gemeinsam sitzen und über diese Themen intensiv diskutieren . Ich verstehe nicht,warum wir über diese Vorschläge und Hinweise nichtnoch einmal diskutiert haben, warum wir nicht nach einerAnhörung versucht haben, diesen Antrag gemeinsam zuverbessern . An verschiedenen Stellen hätten wir Ände-rungen vornehmen sollen .Es geht hier – das muss man sich klarmachen – umeine Anschubfinanzierung, mit der bestimmte Probleme verbunden sind: Die Anschlussfinanzierung ist nicht ge-sichert, die Öffnung für Langzeitarbeitslose birgt Fragen,auch die Vergabe öffentlicher Aufträge . Aus Zeitman-gel – ich habe nicht so viel Redezeit wie Sie – kann ichdas leider nicht näher ausführen . Die Bundesregierung –das ist der springende Punkt – spricht ständig von Be-teiligung . Immer, wenn es um das Bundesteilhabegesetzgeht, immer wenn es um behindertenpolitische Initiativengeht, geht es um Beteiligung . Sie sagen immer: Nichtsohne uns . – Ich frage mich: Warum gilt das nicht auch indiesem Fall? Warum waren wir nicht gemeinsam in derLage, diesen Antrag an bestimmten Stellen wesentlich zuverbessern?Vielen Dank .
Vielen Dank . – Jetzt hat der Kollege Dr . Matthias
Bartke, SPD-Fraktion, das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! MeinWahlkreis ist Hamburg-Altona, und da sind Leuchttürmenie ganz weit weg. Vielleicht finde ich Integrationsbetrie-be deshalb so gut; denn Integrationsbetriebe sind auchLeuchttürme, Leuchttürme der Inklusion auf dem allge-meinen Arbeitsmarkt .
Genau das ist der Grund, warum wir nicht nur in Nord-deutschland Integrationsbetriebe ausbauen wollen . WirKoalitionsfraktionen wollen Integrationsbetriebe künftigmit 150 Millionen Euro fördern . Das ist viel Geld, FrauWerner . Das ist keine Show .
Warum wollen wir das? Integrationsbetriebe agierenwirtschaftlich . Sie tun das erfolgreich, und sie haben ei-nen klaren sozialen Auftrag . Sie bieten Menschen mitBehinderung einen Arbeitsplatz, aber nicht irgendeinen,sie bieten ihnen einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt; FrauRüffer hat das eben ausgeführt .Integrationsbetriebe sind eine wichtige Ergänzung zuden Werkstätten für Menschen mit Behinderung, eine Er-gänzung, die für viele genau richtig ist; denn Menschenmit Behinderung sind zuverlässige und motivierte Mit-arbeiter und Mitarbeiterinnen . Arbeitslose Menschen mitBehinderung sind häufig gut ausgebildet, haben es aber trotzdem deutlich schwerer, in Arbeit zu kommen, alsNichtbehinderte . Wer gestern beim ParlamentarischenAbend des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenver-bandes war, weiß, wovon ich spreche . Das war eine sehreindrucksvolle Veranstaltung .Menschen mit Behinderung machen einen guten Job .Alles, was sie brauchen, ist häufig nur ein geeigneter Ar-beitsplatz . In meiner Heimatstadt Hamburg lief dafür von2012 bis 2014 das Modellprojekt „Raus aus der Werk-statt, rein in den Betrieb!“ .
– Ja, ist ja richtig . – Dabei wurden dauerhafte Lohn-subventionierung, Prämien für Arbeitgeber und berufli-che Assistenzleistungen gestellt . Das Projekt hat großeWirkung gezeigt: Über 100 Menschen mit Behinderunghaben auf diesem Weg einen Arbeitsplatz in einem Inte-grationsbetrieb bekommen . In diesem Jahr hat der Ham-burger Senat das Modellprojekt in eine Regelförderungüberführt . Das Projekt zeigt uns erneut, welche Möglich-keiten wir durch gezielte Förderung auftun können .Seit Jahren wird in Integrationsbetrieben Teilhabe amArbeitsmarkt und Inklusion schon gelebt – ein echtesVorbild . Die UNBehindertenrechtskonvention gibt unsden Anreiz, dieses Vorbild voranzutreiben . Mit der UN-Konvention geben wir uns aber auch den Anspruch, denIntegrationsbetrieben einen neuen Namen zu geben . Wassie leisten, ist Inklusion, und deswegen sollen sie auch soheißen: Inklusionsbetriebe .
Mit den veranschlagten 150 Millionen Euro könnenwir bis zu 4 500 neue Arbeitsplätze in Integrationsbetrie-ben schaffen, 4 500 neue Arbeitsplätze für echte Inklusi-Corinna Rüffer
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on . Integrationsbetriebe schaffen nicht nur einen Mehr-wert für die gesamte Gesellschaft . Sie tragen dafür auchbesondere Kosten . Hierfür erhalten sie Gelder von Integ-rationsämtern . Die Gelder reichen bisher aber nicht aus .Daher konnten in der Vergangenheit nicht alle Anträgeauf Neugründung oder Erweiterung genehmigt werden;Frau Tack hat das ausgeführt . Das ist verschenktes Poten-zial . Dem stellen wir diesen Antrag entgegen .Wir wollen nicht nur, dass Integrationsbetriebe ange-schoben werden, sondern wir wollen auch, dass sie imWettbewerb bestehen können . Deshalb: Bei der Vergabevon öffentlichen Aufträgen sollen Integrationsbetriebeneben WfbMs künftig bevorzugt berücksichtigt werden .Das europäische Vergaberecht ermöglicht eine solcheBevorzugung . Voraussetzung dafür ist die soziale undberufliche Integration von Menschen mit Behinderung als Hauptzweck des Betriebes, also genau das, was In-tegrationsbetriebe machen . Es ist also höchste Zeit, daszu nutzen .Meine Damen und Herren, gestärkte Integrationsbe-triebe haben die Chance, Menschen mit ihren individu-ellen Stärken und Bedürfnissen in den Mittelpunkt zustellen. Davon profitieren die Betriebe, aber natürlich vor allem die Beschäftigten selbst .Ich danke Ihnen .
Vielen Dank . – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt Dr . Astrid Freudenstein .
Vielen Dank . – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Meine Damen und Herren! Unsere heutigeDebatte und Beschlussfassung wird ja von einer kleinenPR-Kampagne der Bundesarbeitsgemeinschaft Integrati-onsfirmen flankiert. Sie hat die Politik angeschrieben und eingeladen, in diesen Wochen Integrationsbetriebe zu be-suchen . Immerhin mehr als 100 Abgeordnete sind dieserEinladung gefolgt und haben sich in der vergangenenWoche und in dieser Woche einen Integrationsbetrieb an-geschaut. Dies ist, wie ich finde, eine schöne Aktion, die gut zu unserem Antrag passt, der auch gut und richtig ist .
Die gut 800 Integrationsbetriebe in Deutschland gel-ten völlig zu Recht als Vorzeigeprojekte der Inklusion,weil sie sozialversicherungspflichtige Stellen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bieten, und zwar inzwischenfür mehr als 10 000 behinderte und etwa ebenso vielenichtbehinderte Menschen . Sie zahlen den Mindestlohnund holen sich Aufträge auf dem freien Markt . Sie be-weisen auch, dass sich wirtschaftliches Handeln und dieBeschäftigung behinderter Menschen nicht ausschließen .Integrationsbetriebe zeigen so auch, dass die Befürchtun-gen und Ängste, die es in vielen Unternehmen gibt, wennes darum geht, Menschen mit Behinderung zu beschäfti-gen, nicht nötig und auch nicht begründet sind .Wenn in diesen Tagen die großen Arbeitgeberverbän-de mit großer Leidenschaft und öffentlichkeitswirksamsagen, dass sie sich freuen über die vielen Flüchtlinge,die in unser Land kommen, weil sie helfen können, un-seren Fachkräftemangel zu beheben, dann würde ichmir wünschen, dass die großen Arbeitgeberverbände mitgleicher Leidenschaft und ebenso öffentlichkeitswirksamsagen, dass sie sich freuen über die vielen Menschen mitHandicap in unserem Land, die hochqualifiziert sind und ein Potenzial darstellen, das bisher nicht gehoben wurde .
Ich selbst war jetzt nicht unter den 100 Abgeordneten,die in diesen Tagen in die Integrationsfirmen gegangen sind . Ich kenne aber die Unternehmen in meiner Hei-matstadt sehr gut . Weit weg von Hamburg, Herr KollegeBartke, im Binnenland von Regensburg, gibt es zum Bei-spiel vier solcher Leuchttürme .
– Am Fluss, ja, das ist richtig, aber da stehen keineLeuchttürme . – Ich schätze diese Unternehmen auchdeswegen, weil ich ihre Dienstleistungen und Angeboteschon lange und immer wieder gerne in Anspruch neh-me, sei es, um vom Werkhof der Diakonie einen Baumpflanzen, Pflaster verlegen oder einen Gartenzaun hoch-ziehen zu lassen oder bei labora, der Integrationsfirma in der Kantine des Rathauses in Regensburg, zu essen .Ich kann Ihnen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen,versichern: Das, was die Integrationsbetriebe leisten, istallerbeste Arbeit .
Aber allein das Loblied zu singen, wäre zu wenig .Viele Integrationsfirmen haben eine lange und auch recht wechselhafte Geschichte hinter sich . Viele haben auchnicht erst als Integrationsbetriebe begonnen, sondernwaren vorher schon als Sozialunternehmen aktiv . Vielewurden von den Betreibern von Behindertenwerkstättenausgegründet . Zwei der Integrationsunternehmen in mei-nem Wahlkreis, retex und der Werkhof, haben schon ihr30-jähriges Bestehen als sozial agierendes Unternehmengefeiert . Da lief natürlich nicht immer alles ganz glatt .Der Werkhof hat zuerst ältere arbeitslose Handwerkerbeschäftigt, später waren es junge Arbeitslose, und dannkamen die behinderten Menschen dazu . Jetzt wissen wir,wie gut diese Integrationsfirmen arbeiten, und wünschen uns, dass sie mehr Menschen Arbeit geben . Ich bin ganzsicher, dass diese Firmen das schaffen werden, weil sieauch bisher eine ganze Reihe von Problemen gut gemeis-tert haben . Viele haben ihr Angebot verändern müssenund es dem Markt angepasst . Es ist für die Integrations-betriebe eben nicht immer ganz einfach, kostendeckendzu arbeiten und am Ende eine schwarze Null zu schrei-ben .Der Mindestlohn – auch dies gehört zur Wahrheit –war zunächst eine große Herausforderung für die Integ-rationsunternehmen . Umso respektabler ist die Leistungderer, die diese Unternehmen teilweise seit vielen Jahrenleiten .Dr. Matthias Bartke
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Die Betriebe leisten einen ganz wertvollen Beitrag zudem, was wir uns alle wünschen, nämlich zum inklusivenArbeitsmarkt . Sie helfen, dass Menschen mit Handicapeinen versicherungspflichtigen Arbeitsplatz bekommen. Wir wissen ja inzwischen aus der Erfahrung, dass vielebzw . die allermeisten der behinderten Beschäftigten vie-le Jahre, manche auch fast ihr ganzes Berufsleben dortverbringen .Unser Antrag ist deshalb ein guter und richtiger . Wirwerden in diesem und in den kommenden beiden Jah-ren jeweils 50 Millionen Euro aus dem Ausgleichsfondszur Verfügung stellen . Das ist umso wichtiger, als sichin den vergangenen Jahren die Beschäftigungschancenfür Menschen mit Handicap nicht so verbessert haben,wie wir es uns wünschen würden . Deswegen müssen wirnoch ein paar Schritte mehr unternehmen . Dazu gehörtzum Beispiel das Budget für Arbeit, das wir mit demBundesteilhabegesetz flächendeckend und bundesweit einführen wollen .
Wir müssen – das ist mir ein großes Anliegen – auchdie Arbeitgeber besser informieren und unterstützen .Ein Schwerpunkt muss auf dem Bürokratieabbau liegen .Momentan muss ein Handwerksmeister eine 320-stündi-ge Zusatzausbildung absolvieren, wenn er einen behin-derten Jugendlichen zum Fachpraktiker ausbilden will .Acht volle 40-Stunden-Wochen! In diesen acht Wochenlernt der Schreiner- oder Bäckermeister auch Grundlagender Medizin und der Rechtswissenschaft . Er beschäftigtsich mit der Geschichte der Rehabilitation und mit demganzen Spektrum der ICD-10-Klassifikation. Diese reha-bilitationspädagogische Zusatzqualifikation für Ausbil-der – kurz: ReZA – geht zurück auf eine Empfehlung desHauptausschusses des Bundesinstituts für Berufsbildung .Seit alle Kammern diese Zusatzqualifikation fordern, geht die Zahl neuer Ausbildungsverträge mit behindertenJugendlichen rapide zurück . Meine Damen und Herren,so ein Wahnsinn behindert unsere behinderten Jugendli-chen . Wir müssen ihn wieder abschaffen .
Wir werden also zunächst die Integrationsfirmen stär-ken und dann weitere Schritte unternehmen, damit jederMensch, auch wenn er ein Handicap hat, seinen Platz aufdem Arbeitsmarkt findet.Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Damit sind wir am Ende der Ausspra-che angekommen .Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-ses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktionender CDU/CSU und SPD mit dem Titel „Integrations-betriebe fördern – Neue Chancen für schwerbehinderteMenschen auf dem ersten Arbeitsmarkt eröffnen“ . DerAusschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/6086, den Antrag der Fraktionen derCDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/5377 anzuneh-men . Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlus-sempfehlung ist bei Enthaltung der Fraktion Die Linkeangenommen .Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:a) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr . Franziska Brantner, Katja Dörner, BeateWalter-Rosenheimer, weiterer Abgeordneter undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENBetreuungsgeld in Kitas investierenDrucksache 18/6063b) Beratung des Antrags der Abgeordneten NorbertMüller , Sigrid Hupach, NicoleGohlke, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKEBetreuungsgeld für den Kitaausbau nutzenDrucksache 18/6041Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen undJugend
FinanzausschussHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-nen Widerspruch . Dann ist so entschieden .Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat Dr . FranziskaBrantner, Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen undHerren! Am 21 . Juli 2015 erklärte das Bundesverfas-sungsgericht das Betreuungsgeld für verfassungswid-rig . Seither gibt es den Streit darüber, was mit dem Geldpassiert . Für 2016 sind es 500 Millionen Euro und für2017 1 Milliarde Euro . Für uns müssen dabei drei Dingeim Vordergrund stehen: Erstens . Das Geld muss im Fa-milienhaushalt bleiben . Zweitens . Es darf nicht für denMehrbedarf beim Elterngeld genutzt werden . Drittens .Es muss dorthin gehen, wo es gebraucht wird, nämlichin die Kitas .
Herr Schäuble möchte den Zuwachs beim Elterngeldgerne mit den Mitteln für das Betreuungsgeld decken . Derzusätzliche Bedarf ist aber nicht über Nacht gekommen,sondern deshalb, weil wir hier gemeinsam neue gesetz-liche Ansprüche geschaffen haben . Die Partnerschafts-monate gibt es eben nicht für umsonst, und wenn mehrVäter das Elterngeld nutzen, was wir uns alle wünschen,dann wird es teurer . Das hängt mit dem Lohnunterschiedzwischen Männern und Frauen zusammen . Das Geld hät-te also ohnehin im Haushalt gefunden werden müssen,Dr. Astrid Freudenstein
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egal ob das Betreuungsgeld abgeschafft wird oder nicht .Wenn wir jetzt das wegfallende Betreuungsgeld dafürnehmen würden, dann würden wir den Familienhaushaltdafür bestrafen, dass das Elterngeld erfolgreich ist . Daskann ja wohl nicht die Logik sein, die wir hier vertreten .
Eigentlich sind wir uns doch sicher, dass das Geld in denKitas gut angelegt ist und dass das auch das ist, was dieEltern brauchen und sich wünschen .Ihr Haus, Frau Marks, hat nicht nur festgestellt, dasswir in Deutschland ohnehin noch 185 000 Kitaplätzebrauchen, sondern auch, dass wir für die Kinder, diejetzt zu uns kommen, 68 000 Plätze zusätzlich brauchenwerden . Diese Lücke besteht, und sie ist groß . Ich wür-de sagen: Ihre Zahlen sind ziemlich gut geschätzt, abersie könnten auch gut noch ein bisschen höher liegen . Esist doch in unserem Interesse, dass diese Kinder früh indie Kitas gehen und dort Deutsch lernen, ankommen undteilhaben können . Es ist doch wirklich unser originäresInteresse, dass das möglich ist .
Lassen Sie uns deswegen jetzt doch vorausschauen –dieser Bedarf wird entstehen – und nicht erst wieder dannhandeln, wenn die Schlangen vor den Kitas in sechs Mo-naten existieren und sich die Frage stellt, wer den Kita-platz bekommt, nämlich das Flüchtlingskind oder dasKind, das schon hier geboren wurde . Ich möchte nicht,dass sich diese Frage stellen wird . Deswegen möchte ich,dass wir jetzt vorausschauen und die Gelder jetzt, da wirsie haben, in die Kitas investieren .
Wir alle wissen, dass das nicht einfach wird .Wir brauchen auch mehr Sprachförderung . Wir habenin Ihrem Haus angefragt, ob Sie vorhaben, im nächstenJahr mehr Geld für die Sprachförderung auszugeben . Ichfinde, auch hier kann man schon ziemlich sicher davon ausgehen, dass das notwendig sein wird . Die Antwort vonIhnen war bis jetzt, dass es bei den 100 Millionen Eurobleiben wird . Auch hier ist klar: Wir brauchen mehr Geldfür weitere Sprachförderung im Jahr 2016 und in denJahren danach .Wir können die Kommunen und die Länder damitnicht alleinlassen . Manche werden es vielleicht schaffen,andere haben aber einfach nicht die Kapazitäten und Gel-der dafür .Vor allem dürfen wir auch die Erzieherinnen und Er-zieher damit nicht alleinlassen .Die leisten ja heute schon Enormes, machen auch heu-te schon unglaublich viel . Sie machen viel mehr als das,was ursprünglich ihr Auftrag war, und sie werden immernoch viel zu gering bezahlt .Eine Erzieherin für sieben Kinder unter drei Jahren istdoch schon heute kaum vorstellbar . Schon heute brau-chen wir kleinere Gruppen . Die brauchen wir in Zukunft,wenn es um diese Integrationsaufgabe geht, doch erstrecht .
Wenn wir wollen, dass das klappt, müssen wir jetzt hierrechtzeitig ansetzen . Unsere Aufgabe ist es, dass Kin-der – egal ob sie neu zu uns kommen oder hier geborensind – gute Förderung, Bildung und Betreuung bekom-men . Es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen . Denn füralle Kinder gilt: Was sie in jenen jungen Jahren lernen,das entscheidet über ihre Chancen später . Diese Chancenmüssen wir allen – denen, die hier geboren sind, und de-nen, die jetzt zu uns kommen – geben .
Deswegen lassen Sie uns heute für morgen investie-ren . Liebe SPD, kämpfen Sie! Damit Sie heute zustim-men können, haben wir für Sie den Antrag auch wirklichganz einfach gemacht .
– Nein . – Damit Sie – man kennt das ja – nicht sagenkönnen, dass Ihnen ein Halbsatz nicht gefallen hat, habenwir es so formuliert:Der Deutsche Bundestag fordert die Bundes-regierung auf, die frei werdenden Mittel ausdem Betreuungsgeld in Kindertageseinrich-tungen zu investieren .Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie uns unterstüt-zen und mit uns kämpfen, liebe SPD, und wir hier ge-meinsam investieren .
Ich freue mich darauf, das hinzubekommen .Danke schön .
Vielen Dank . – Als Nächstes hat der Kollege Josef Rief,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Besu-cher auf der Plenartribüne und vor dem Parlamentsfern-sehen! Das Bundesverfassungsgericht hat keine inhaltli-che Bewertung zum Betreuungsgeld abgegeben, sondernlediglich die Zuständigkeit für die Gesetzgebung beimBund verneint .Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass das Be-treuungsgeld richtig war . Die Zahlen sprechen übrigensfür sich . Das Betreuungsgeld wurde von den Famili-en – in meiner Region sind es über 70 Prozent der El-tern – sehr gut angenommen, und es ist nach wie vorhoch attraktiv . Nach der aktuellen Statistik für das zwei-te Quartal 2015 gab es noch einmal eine Steigerung derBezugszahlen . In Baden-Württemberg zum Beispiel gabDr. Franziska Brantner
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es aktuell eine Steigerung um über 15 Prozent auf über100 000 Kinder, und das, obwohl mittlerweile schonviele Kinder aus der Bezugsdauer herausgefallen sind .Betreuungsgeld wird jetzt für über eine halbe MillionKinder bezogen –eine sehr beachtliche Zahl . 150 Euromonatlich sind nicht viel Geld, aber sie waren eine Hilfe .Die Hamburger Klage war daher ein Pyrrhussieg fürdie Familie . Die Koalition hat es wenigstens geschafft,dass das Betreuungsgeld – zum Teil auch gegen Ihre Wi-derstände – für die bereits bewilligten Anträge noch ge-zahlt wird . Vertrauensschutz ist für diese Regierung einhohes Gut .
Sollen kleine Kinder in der Kita oder zu Hause betreutwerden? Diese Frage, meine Damen und Herren, musssich jede Familie mit Kindern früher oder später stellen .Wir haben immer gesagt: sowohl als auch, beides, Kitaund häusliche Betreuung . Deshalb werden wir jetzt nichtsagen: nur das eine, nur die staatliche Kinderbetreuung .Die vorliegenden Anträge von Grünen und Linken gehenaber in diese Richtung .Wie Sie alle wissen, geben wir viel Geld für staatli-che Kinderbetreuung aus . Das soll in Zukunft noch mehrwerden . Das tun wir gern, und das ist auch sinnvoll . Esgibt aber auch noch etwas anderes in unserem Land,nämlich die häusliche Betreuung bzw . die häusliche För-derung von kleinen Kindern . Denn Kinder in den erstenLebensjahren brauchen eine verlässliche Bindung . Bin-dung, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist in denersten Lebensjahren wichtiger, als Bildung sein kann .
Deshalb ist die häusliche Betreuung gut und sinnvoll .Das Betreuungsgeld ist immer noch eine Anerkennungfür Eltern, die die Kindererziehung zu Hause überneh-men . Es hat für viele den Übergang nach dem Ende desElterngeldbezuges wesentlich erleichtert .Kinder sollen sich wohlfühlen, und die Gesellschaftsoll sich mit Kindern wohlfühlen . Wenn aber das Auf-wachsen der Kinder zuerst in Krippen und dann in Ganz-tagsschulen erfolgt, finden Familien in der Gesellschaft im Alltag nicht mehr statt . Kinder sehen sich heute oftmit abgehetzten Eltern konfrontiert, die in der knappengemeinsamen Zeit noch den Haushalt schmeißen müs-sen. Großeltern stehen häufig nicht zur Verfügung, da sie entweder selbst noch berufstätig sind oder nicht in derNähe wohnen .Kinder in unserer Gesellschaft finden jedenfalls nach dem Willen von Linken und Grünen nicht mehr zwischen8 .30 und 17 Uhr statt . Da haben Kinder in den Kitas zusein .
Anschließend geht es auf den Heimweg und zu Hauseins Bett .
Für junge Menschen, die darüber nachdenken, Kinderzu bekommen, sollte offensichtlich sein: In Deutschlandsind Kinder erwünscht . In Deutschland sind Kinder imAlltag überall anzutreffen . Sie sind mit ihrer Neugier, ih-rem Bewegungsdrang und ihrer Lautstärke akzeptiert, jagewünscht . Kindergeschrei ist Zukunftsmusik .
Junge Menschen müssen sehen, dass unser Staat siebei ihrer Lebensplanung unterstützt . Diese Planung mussnicht zwangsläufig eine schnelle Rückkehr ins Berufsle-ben vorsehen, sondern kann durchaus ein Familienlebenzu Hause bedeuten . Jeder, der Kinder hat, weiß: Kinderbleiben nicht lange klein . Rasend schnell werden sie er-wachsen . Ein Arbeitsleben hingegen dauert in der Regelmehrere Jahrzehnte . Warum gönnen wir den Eltern nichtmehr Zeit mit ihren kleinen Kindern?Ich sage es noch einmal: Kitas sind gut und wichtigund werden von unseren Fraktionen gerne gefördert .Wir haben den Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz ein-geführt . Mütter und Väter, die ihren Beruf wieder auf-nehmen möchten, sollen ausreichend Kitaplätze zurVerfügung haben . Der Kitaausbau wurde und wird starkgefördert . Das wird auch in Zukunft, gerade im Hinblickauf die Flüchtlingsproblematik, weitergehen .
Aber es gibt noch etwas anderes, und auch diesenanderen Bedürfnissen müssen wir gerecht werden . Wirfinden, finanzielle Ressourcen sollen dazu dienen, ein kinderfreundliches Umfeld zu entwickeln und es geradeauch Paaren mit Kinderwunsch zu ermöglichen, nichtnur über ein Kind oder zwei Kinder nachzudenken, son-dern sich vielleicht auch ein Leben mit drei oder mehrKindern vorzustellen .Es gibt viele Ansatzpunkte, die Familienfreundlich-keit zu verbessern: angefangen beim bezahlbaren undausreichend großen Wohnraum über weitere Unterstüt-zung für Alleinerziehende bis hin zu steuerlichen Entlas-tungen oder Kindergeld . Im Koalitionsvertrag haben wirdaher einen Dreiklang vereinbart: Zeit für Familien, guteInfrastruktur und materielle Sicherheit .
Nicht die Ideologie steht im Fokus unserer Politik,sondern das, was sich die Familien wünschen . Die Fami-lien wünschen sich mehr Zeit für Kinder und mehr Zeitmit Kindern .
Diese Wünsche sollten wir finanziell unterstützen. Geben wir den Müttern und Vätern mehr Zeit für ihre kleinenKinder . Das Betreuungsgeld hat diesen Wünschen ent-sprochen . Wir werden jetzt nicht alles, wofür wir uns ein-Josef Rief
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gesetzt haben, ins Gegenteil verkehren . Wir werden unsfür die Familien weiterhin starkmachen und weiter fürfinanzielle Mittel kämpfen, um Eltern und Kinder sinn-voll zu unterstützen .
Ich fordere die Damen und Herren von den Linkenund Grünen auf, mit uns daran zu arbeiten, dass Elternmehr Zeit für ihre Kinder haben und dass Familien ihrLeben nach ihren Wünschen gestalten können .
Wir Familienpolitiker müssen dafür eintreten, dasssich der Arbeitsmarkt und die finanzielle Situation an den Bedürfnissen der Familien orientieren
und nicht die Familien nach der Arbeitswelt organisiertwerden .
Tagtäglich – das wurde heute angesprochen – lauern hiergroße Gefahren . Lassen Sie uns dafür sorgen,
dass sich Familien möglichst für mehrere Kinder ent-scheiden können .
statt dass wegen Überlastung eine einseitige Fokussie-rung auf Arbeitsmarkt und Karriere die Kinderzahl mi-nimiert .
Ich trete dafür ein, dass wir das Geld den Ländernzweckgebunden geben und die familiäre Betreuung derKinder damit unterstützen .
Die vorliegenden Anträge gehen in die falsche Richtung,und wir werden sie ablehnen .Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Das Wort hat jetzt Norbert Müller,
Fraktion Die Linke .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Wie Ihnensicherlich nicht entgangen ist, bin weder ich noch ist,glaube ich, die Mehrheit dieses Hauses ein Fan der Herd-prämie, der Fernhalteprämie oder des Betreuungsgeldes .Nennen Sie es, wie Sie wollen .Ihr Betreuungsgeld war und ist – das hat sich gera-de wieder gezeigt – Ausdruck einer zutiefst reaktionärenund konsequent verfehlten Familien-, Arbeitsmarkt- undSozialpolitik .
Es war von Anfang an skandalös, dass sich die Sozial-demokratie wider besseres Wissen auf ein solches Un-terfangen eingelassen hat . Ich weiß, dass man in Koali-tionen Kompromisse eingeht, und diese sind manchmalnicht besonders schön . Aber ein Kompromiss muss im-mer in die richtige Richtung gehen . Das Betreuungsgeldwar ein Schritt in die falsche Richtung . Gott sei Dank istes korrigiert worden .
Lieber Kollege Rief, Sie kennen die Zahlen zur Aus-bausituation von Kinderbetreuungsplätzen . Ja, es sind inden letzten Jahren Fortschritte erzielt worden, und dashat auch etwas mit der Politik der Bundesregierung zutun . Auch das stimmt . Aber wenn man – und das ist nachwie vor der Status quo – zu wenige und zu unattrakti-ve Betreuungsplätze in den Ländern organisiert, wie eszum Beispiel in Baden-Württemberg und insbesonderein Bayern noch der Fall ist,
dann darf man sich auch nicht wundern, wenn jene, diekeinen Betreuungsplatz finden, dann das Betreuungsgeld in Anspruch nehmen . Woher kommen denn die 70 Pro-zent? Sie kommen zustande, weil eben keine ausreichen-de Zahl adäquater Betreuungsplätze vor Ort geschaffenwurde .Aus politischer Sicht kann man also dankbar sein,dass unser Verfassungsgericht diesem CSU-Irrsinn Ein-halt geboten hat, weil es im Deutschen Bundestag kei-ne Mehrheit dagegen gab . Die Leittragenden sind jetztdie Familien – darin gebe ich Ihnen recht –, die sich imVertrauen auf das verfassungswidrige Versprechen derBundesregierung auf die zusätzliche Unterstützung ein-gestellt haben . Zumindest die Garantie des Vertrauens-schutzes – darin möchte ich Ihnen widersprechen – fürdie bewilligte Hilfe begrüße ich . Es hat auch niemandin diesem Hause gesagt, dass wir den Vertrauensschutznicht wollen . Denn es ist selbstverständlich, dass dasGeld, wenn es einmal bewilligt wurde, auch bis zumletzten Tag ausgezahlt werden muss . Damit haben dieGrünen und wir überhaupt kein Problem .
Josef Rief
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Mit dem von uns vorgelegten Antrag zeigen wir auf,wo das freigewordene Geld benötigt wird und wie esnachhaltig und sinnvoll verwendet werden kann . DieseMittel wären eine gute Startfinanzierung für das dringend benötigte Engagement des Bundes in mehr frühkindlicheBildung . Ich sage auch – das werden Sie von uns so langehören, bis es das gibt –: Das wäre eine gute Startfinanzie-rung für ein Kitaqualitätsgesetz, das auch die Verbändeder freien Wohlfahrtspflege immer wieder fordern.
Im kommenden Jahr stehen bis zu 550 MillionenEuro zur Verfügung – 2017 sind es sogar 900 MillionenEuro –, und die Geier kreisen schon, wie es so schönheißt. Bundesfinanzminister Schäuble fordert die Mittel für den allgemeinen Haushalt oder will Leistungen, diesowieso gesetzliche Leistungen sind, daraus finanzieren.
Oder er wird wie gerade eben von seinen bayerischenKollegen flankiert, frei nach dem Motto: Wenn Bayern die Fernhalteprämie nicht bekommt, soll im Familienbe-reich auch niemand anders einen Anspruch darauf haben .
Um es mit den Worten von Hans Monath, Redakteurdes Tagesspiegels, zu sagen, den auch Ihre Fraktion ger-ne als Referenten einlädt:Nun schmerzt die Wunde, CDU und SPD sollen derbayerischen Andersartigkeit gefälligst Respekt zol-len .Schöne Worte .Ich könnte mich sogar damit anfreunden, dass dieMittel an die Länder weitergereicht werden, wie Siees vorgeschlagen haben, allerdings mit einer anderenZweckbindung, als Sie sich das vorstellen . ZumindestBrandenburg und Thüringen, wenn nicht sogar 15 Bun-desländer würden die Mittel sinnvoll für den Ausbau derKitaqualität, eine bessere Bezahlung des Betreuungsper-sonals, der Erzieherinnen und Erzieher, und die Vermin-derung der Gebühren für die Eltern verwenden .
Das fänden wir gut . 15 Länder würden das garantiert tun,
wäre da nicht Bayern . Das haben Sie gerade gezeigt .Allein das Wissen, dass im Süden der Republik an-geblich christliche und soziale Politiker eine moderneFamilienpolitik scheuen wie der Teufel das Weihwas-ser – davon haben wir gerade wieder eine Kostprobe be-kommen –, lässt mich vor einer Verteilung der Mittel andie Länder zurückschrecken . Es ist auch nicht Aufgabedes Bundes, der CSU jetzt die nächsten Wahlversprechenzu finanzieren. Nun zur SPD . Ich unterstelle Ihnen ein ehrliches Inte-resse daran, die Betreuungsgeldmittel für den Ausbau derKitaqualität und die Aufstockung der Kapazitäten ver-wenden zu wollen . Nun wissen Sie ganz genau, dass eslängst eine Mehrheit im Bundestag gibt, die das auch sosieht, zumindest seit 2013, wenn nicht sogar zuvor . Aberweil Sie wieder Angst vor der eigenen Courage haben,werden Sie das am Ende nicht durchsetzen . Weil Sie dasfrustriert – das kann man gut nachvollziehen –, werdenSie unsere Anträge nachher in den Familienausschussüberweisen und dann dort so lange auf Eis legen, bis sichdie Koalition – das kann lange dauern, wie wir wissen –geeinigt hat . Sie haben aber auch nicht den Mumm, eseinfach abzulehnen . Liebe SPD, Sie sind mit harten An-sagen gestartet – ich zitiere noch einmal Frau Bundesmi-nisterin Schwesig vom 24 . Juli –: „Das Geld darf nichtim Haushalt des Bundesfinanzministeriums versickern.“ Aber ich befürchte, dass Sie als Bettvorleger der Unionlanden werden . Das ist sehr schade . Aber vielleicht täu-sche ich mich, und es wird anders .
Zumindest lässt die gestrige Ankündigung von FrauSchwesig in der Zeitung Die Welt Hoffnung aufkommen .In der letzten Sitzungswoche habe ich vorgeschlagen,die freiwerdenden Mittel, wenn schon nicht für die Fi-nanzierung eines Kitaqualitätsgesetzes – das finden Sie fürchterlich –, dann zumindest zur Verfügung zu stellen,um jedem Flüchtlingskind einen Kita- oder Schulplatz zugewährleisten und so die Länder und Kommunen nichtzusätzlich zu belasten .
Ich bin froh, dass Frau Schwesig – genauso wie die Grü-nen – diese Initiative aufgegriffen hat, und hoffe, dassSie hierfür die notwendige Mehrheit findet. Wir stehen jedenfalls bereit .Kollege Weinberg, Sie waren das letzte Mal noch we-nig begeistert von diesem Vorschlag – das habe ich imProtokoll nachgelesen –, wohl auch deshalb, weil er vonuns kommt . Aber jetzt kommt er ja von Ihrem geschätz-ten Koalitionspartner . Vielleicht überzeugt Ihr Koaliti-onspartner bzw . Frau Schwesig Sie ja, dass es sich umeine sinnvolle Maßnahme handelt . Frau Brantner hat be-reits alle Argumente dafür ausgeführt; mir fehlt für einenähere Ausführung die Zeit . Oder Herr Rix, Ihr Koaliti-onspartner, die Sozialdemokraten trauen sich einmal et-was im Deutschen Bundestag . Ein sinnvoller Einsatz derBetreuungsgeldmilliarde wäre jedenfalls auch ohne dieUnion schon heute möglich . Er wäre nötig, wünschens-wert und durchsetzbar .Vielen Dank .
Norbert Müller
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Vielen Dank . – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt
Carola Reimann .
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Haltungder SPD zum Betreuungsgeldurteil des Bundesverfas-sungsgerichtes und zur weiteren Verwendung der frei-werdenden Mittel lässt sich kurz und knapp in drei Punk-ten zusammenfassen:Erstens . Es ist gut, dass das Betreuungsgeld der Ver-gangenheit angehört .
Zweitens . Die durch das Urteil freiwerdenden Mittelmüssen den Familien und Kindern zugutekommen .
Einsparungen zulasten der Familien kommen für unsnicht infrage .Drittens . Wir wollen eine bessere Kinderbetreuung,und deshalb wollen wir die freiwerdenden Mittel in dieKitaqualität investieren .
Wie gut dieses Geld investiert ist, davon konnte ichmich in der vergangenen Woche im Rahmen der Kitaak-tionswoche der SPD-Bundestagsfraktion selbst überzeu-gen . In meinem Wahlkreis Braunschweig habe ich zweiKindertagesstätten der Arbeiterwohlfahrt besucht . Es istbewundernswert, mit welchem Engagement Erzieherin-nen und Erzieher diese ebenso anspruchsvolle wie for-dernde Aufgabe tagein, tagaus erfüllen .
Kinder fordern zu jeder Zeit 100 Prozent und zu jederZeit volle Aufmerksamkeit . Dabei bleibt keine Zeit, zuverschnaufen oder auf das Handy zu schauen, wie dashier einige tun . Nicht nur unsere Kinder, sondern auchunserer Erzieherinnen und Erzieher haben es verdient,dass wir ihr Engagement unterstützen und verstärkt indie Kitaqualität investieren .Alle Fachleute sind sich einig: Der Kitaausbau istdie wirkungsvollste familienpolitische Maßnahme über-haupt .
Das hat auch die Gesamtevaluation ehe- und familien-bezogener Leistungen bestätigt, die von der Vorgängerinvon Frau Schwesig, Frau Schröder, in Auftrag gegebenwurde . Investitionen in die Kitabetreuung schaffen dieBasis für eine gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf .Sie ermöglichen die gute und frühe Förderung von Kin-dern, allerdings nur bei guter Qualität .
Genau deshalb ist es so wichtig, dass wir die freiwer-denden Mittel aus dem Betreuungsgeld an dieser Stelleinvestieren .
Das gilt erst recht vor dem Hintergrund der neuen He-rausforderungen, die durch die Flüchtlinge auf uns zu-kommen .
Darin bestärkt hat uns auch der aktuelle „Ländermo-nitor Frühkindliche Bildungssysteme“ . Ich sage das, weilman sich hier häufig die Namen von Ländern gegenseitig zuspielt .
– Sie sollten diesen Text einmal lesen: Es ist leider nichtso .
Bayern hat sogar das schlechteste Betreuungsverhältnis .
Dieser Ländermonitor hat uns in Sachen Kitaquali-tät einen positiven Trend bescheinigt . Dennoch, so derBericht, bedarf es weiterer Investitionen, um für Kindereine gute Tagesbetreuung zu ermöglichen und für Fach-kräfte gute Rahmenbedingungen zu schaffen .Ich freue mich, dass wir bei der Frage Kitaausbauauf breite Unterstützung bauen können, nicht nur ausder Wissenschaft . Erst am Montag hat die Familienmi-nisterin Manuela Schwesig das „Memorandum Familieund Arbeitswelt“ gemeinsam mit Gewerkschaften undArbeitgebern vorgestellt. In zehn Leitsätzen verpflichten sich Politik, Gewerkschaften und Wirtschaft, die Verein-barkeit von Familie und Beruf zu verbessern, unter an-derem durch flexible Arbeitszeitmodelle und qualitativ hochwertige Betreuungsangebote . Dazu passt auch dieForderung von DIHK-Präsident Eric Schweitzer, der diedurch den Wegfall des Betreuungsgeldes freiwerdendenSummen für weitere Impulse im Bereich der Kinder- undSchülerbetreuung nutzen will .
Sie sehen also: Qualität in den Kitas ist nicht nur derWunsch von Eltern, Erzieherinnen, Wissenschaft und der
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Politik, sondern auch ein Anliegen der Sozialpartner . Ichbin überzeugt, dass wir die wenigen, die das anders se-hen – auch wenn sie hier unter uns sitzen –, auch nochüberzeugen werden .
Im Übrigen sind Mehrausgaben beim Elterngeld je-denfalls kein Grund für Mittelkürzungen .
Mehrausgaben sind auch keine bösen Überraschungen .Sie sind ein Erfolg . Wir in der SPD freuen uns jedenfalls,dass es bei Müttern – und zunehmend auch bei Vätern –so gut ankommt .
Es ist schon reichlich absurd, dass die beiden wirk-samsten familienbezogenen Leistungen auf Kosten derFamilien miteinander verrechnet werden sollen . Daswäre nichts anderes als Sparen zulasten der kommendenGeneration, und das ist nicht nur familienpolitisch falsch,sondern auch kontraproduktiv für einen nachhaltigenHaushalt . Da ist die SPD klar positioniert .Was wir bei diesem Thema allerdings nicht brauchen,ist parlamentarische Effekthascherei . Diese Effektha-scherei drückt sich aus in dem Wunsch, statt einer – wiein diesem Haus eigentlich üblich – sachlichen Beratungim Fachausschuss jetzt eine Abstimmung durchzuführen .Das lehnen wir ab . Die Entscheidung fällt im Rahmender Haushaltsberatungen und nicht jetzt durch eine Ab-stimmung .
Sie können sich sicher sein: Die SPD setzt sich für dieKitas ein; denn das ist eine Investition in die Zukunft .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Das Wort hat jetzt der Kollege Paul
Lehrieder, CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Frau Brantner, Sie haben in Ihrer Ein-gangsrede ausgeführt: Gute Förderung, Bildung und Be-treuung sind für die Kinder wichtig . Ich will ausdrücklichbetonen, dass eine gute Förderung und auch Bildung undBetreuung von ein- bis dreijährigen Kindern zu Hausevon den Eltern, also von der Mutter, aber auch von derSchwiegermutter, von der Oma vorgenommen werdenkönnen . Ich bitte darum, dass man diese dogmatischenGrabenkämpfe allmählich einmal überwindet .
– Der Opa kommt natürlich auch infrage, Frau Brantner .Danke für diesen Hinweis . Den Opa habe ich übersehen .Er kann das Kind genauso betreuen . Er kann genauso auseinem Buch vorlesen . Er kann dem Kind genauso gutdie Welt erklären . Er kann genauso eine Eins-zu-eins-Betreuung des Kindes ermöglichen . In manchen Fällenist das vielleicht sogar noch besser als ein Schlüssel von1 : 6 oder 1 : 8, wie er in der Kita praktiziert wird .
Bitte, lassen Sie uns da alle abrüsten .Das gilt insbesondere für den jungen Kollegen vonder Linken . Herr Kollege Müller, Sie müssten es docheigentlich besser wissen . Sie haben eben die sogenannteHerd- oder Fernhalteprämie thematisiert . Wir haben voreinem halben Jahr die Bertelsmann-Studie bekommen . Inihrem Rahmen wurden junge Eltern, junge Väter, jungeMütter, gefragt: Was macht Ihnen am meisten Sorge?Geäußert wurde nicht die Sorge, dass man für sein Kindkeinen Kitaplatz oder nicht genug Elterngeld bekommt .Häufig wurde einfach die Sorge geäußert, etwas falsch zu machen . Wir dürfen uns nicht wundern, dass viele nichtmehr wissen, ob ihr Erziehungsmodell richtig ist, wennwir über Jahre die jungen Eltern mit Kampfbegriffen ver-unsichern .
Lassen wir den jungen Leuten wieder ein bisschen mehrVertrauen zukommen! Lassen wir insbesondere den jun-gen Eltern die Wahlmöglichkeit! Nicht mehr und nichtweniger haben wir mit dem Betreuungsgeld geschaffen .Ja, es wird ein Landesbetreuungsgeld auf jeden Fallin Bayern geben . Ich bin gespannt . Ich habe mir einmaldie Zahlen herausgesucht . 105 000 berechtigte Familiensind es in Bayern, 104 000 in Nordrhein-Westfalen . Ichwünsche mir, dass die Kollegin Kraft in Nordrhein-West-falen die Courage hat, diese 104 000 Eltern, die zu Hauseerziehen wollen, weiterhin zu beglücken .
Es ist also kein bayerisches Thema, Frau KolleginReimann . Es wurde immer gern so getan, als ob das Be-treuungsgeld nur bayerischen Eltern zugutekommt . Nein,es kommt im selben Umfang nordrhein-westfälischenVätern und Müttern zugute . Denen müssen Sie dann er-klären: Für die Kitas hätten wir das Geld, aber für eurehäusliche Betreuung, für diese 104 000 Familien, habenDr. Carola Reimann
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wir es nicht . – Ich freue mich darauf . Die Diskussionwird spannend werden .
Meine Damen und Herren, Investitionen in die Kin-der sind Investitionen in eine gute Zukunft; darauf wurdevon den Vorrednern schon hingewiesen . Den Grundsteinfür diese gute Zukunft legen wir unter anderem mit demweiteren Ausbau der Betreuung für die Kleinsten . Wich-tig ist in diesem Zusammenhang jedoch auch – ich habebereits darauf hingewiesen –, den Familien eine echteWahlfreiheit zwischen verschiedenen Betreuungsmodel-len zu geben
– stellen Sie eine Frage; dann habe ich mehr Zeit, HerrMüller –, da wir nur so den verschiedenen Interessen derFamilien gerecht werden .„Für die Kinder ist das Beste gerade gut genug .“Johann Wolfgang von Goethe hat das einst gesagt . Ichdenke, die meisten hier werden dem zustimmen . Wasaber ist das Beste? Das sollten Eltern individuell für ihrKind entscheiden können .Wir alle sind uns einig, dass uns die Thematik derWahlfreiheit und der Unterstützung für Familien wei-ter intensiv beschäftigen wird und eine zentrale Rollein der Familienpolitik in unserem Land einnimmt . Diefreigewordenen Mittel aus dem Bundesbetreuungsgeldsollten jedoch nicht zweckentfremdet für anderweitigefamilienpolitische Maßnahmen verwendet werden . Fast500 000 Familien in Deutschland – ich wiederhole es:eine halbe Million – beziehen bereits Leistungen ausdem Erfolgsmodell Betreuungsgeld . Ich habe darauf hin-gewiesen: In Nordrhein-Westfalen sind es 104 000 . Dasfreut mich persönlich mit am meisten – neben der baye-rischen Zahl natürlich .
Es wäre ein verheerendes familienpolitisches Signal,Familien den Zugang zum Betreuungsgeld künftig zuverweigern . Ich plädiere daher dafür, die für das Be-treuungsgeld vorgesehenen Mittel ungeschmälert denLändern für eine Verbesserung der Kinderbetreuung zurVerfügung zu stellen, wobei den Ländern hinsichtlich derVerwendung eine eigene Schwerpunktsetzung obliegt –obliegen muss .Die Länder – darauf hat das Bundesverfassungsgerichthingewiesen – sind dafür zuständig . Die Länder müssenletztendlich selbst entscheiden, ob sie die Erfolgsge-schichte des Betreuungsgeldes fortsetzen, indem sie denvielen Familien, insbesondere in Nordrhein-Westfalen,die dringend benötigte finanzielle Unterstützung bei der Betreuung ihrer Kleinkinder gewähren oder nicht .
Ich appelliere aber an die jeweiligen Landesregierun-gen, die Mittel dann dergestalt zu verwenden, dass einLandesbetreuungsgeld, wie Bayern es schaffen wird, dieWahlfreiheit und Unterstützung der Familien weiterhinsicherstellt .Das Bundesverfassungsgericht – darauf hat der Kolle-ge Rief in seiner Weisheit völlig zu Recht hingewiesen –hat nicht über die Rechtmäßigkeit des Betreuungsgeldesan sich entschieden,
sondern sich lediglich hinsichtlich der Zuständigkeit desBundes geäußert und seine Entscheidung mit der fehlen-den Gesetzgebungskompetenz des Bundes begründet .Das heißt, der Bund ist nicht für die Einführung eines Be-treuungsgeldes zuständig . Mit anderen Worten: Für dieEinführung eines Betreuungsgeldes sind die Länder zu-ständig . Diese Verantwortung werden wir uns anschau-en . – Ihr könnt ruhig klatschen . Ich denke, es wäre jetztan der Zeit, Sylvia .
Ob es richtig ist, Eltern, die ihre Kinder ausschließlich zuHause betreuen, eine staatliche Anerkennung zukommenzu lassen, war ausdrücklich nicht Gegenstand der Prü-fung durch das Bundesverfassungsgericht; ich war beider Verhandlung in Karlsruhe .Insofern halte ich die Einführung eines Landesbetreu-ungsgeldes für den richtigen Weg, Eltern auch weiterhinselbst entscheiden zu lassen, was das Beste für ihr Kindist . Dieses Vertrauen in die jungen Eltern sollten wir ha-ben .
Neben der Möglichkeit, von den öffentlichen Betreu-ungseinrichtungen Gebrauch zu machen, können sich dieFamilien somit auch entscheiden, ihr Kind selbst zu be-treuen, ohne dabei – dank der finanziellen Unterstützung durch das Landesbetreuungsgeld – eine Benachteiligungerfahren zu müssen .Im Übrigen möchte ich noch einmal darauf hinweisen,dass sich der Bund bereits in erheblichem Maße an derFinanzierung des Ausbaus der Kinderbetreuung beteiligthat und in den nächsten Jahren auch weiter in erhebli-chem Maße beteiligen wird .Es ist jetzt September 2015 . Am 1 . August 2013 tratder Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz für unter Drei-jährige in Kraft . Ich kann mich noch gut erinnern an dieletzte Große Koalition, 2005 bis 2009, in der unsere da-malige Familienministerin, Frau Ursula von der Leyen,genau diese Diskussion mit uns geführt hat . Wir habengesagt: Jawohl, wir machen das Elterngeld . Wir machenden Kitaausbau . Wir machen auch den Rechtsanspruchab 2013 . Ich war positiv überrascht, wie die Länder undKommunen mitgezogen haben, sodass dieser Rechtsan-spruch auf einen Kitaplatz am 1 . Januar 2013 in Krafttreten konnte . Dafür auch ein Lob an die Länder undKommunen!
Neben der größten kommunalen Entlastung durch dieÜbernahme der Kosten für die Grundsicherung im Alterund bei Erwerbsminderung sowie der Entlastung bei derPaul Lehrieder
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Eingliederungshilfe im Rahmen des Bundesteilhabege-setzes sorgt der Bund damit weiterhin für leistungsfähi-ge Kommunen . Und wir haben vor zwei Stunden eineintensive Debatte im Bundestag über die Entlastung derKommunen mit den Kommunalpolitikern geführt .Mit dem Gesetz zur weiteren Entlastung von Ländernund Kommunen ab 2015 und zum quantitativen und qua-litativen Ausbau der Kindertagesbetreuung stockt derBund das Sondervermögen zum Kindertagesbetreuungs-ausbau um 550 Millionen Euro auf rund eine 1 MilliardeEuro auf . Zudem erhalten die Länder in den Jahren 2017und 2018 weitere 100 Millionen Euro zur Finanzierungder Betriebskosten für den Ausbau weiterer Betreuungs-plätze .Sehen Sie, Frau Brantner, wir passen auf, dass dieKitas weiterhin qualitativ und quantitativ ausgebaut wer-den können . Ich möchte auch darauf hinweisen, dass wirderzeit über das Programm „KitaPlus“ für längere Öff-nungszeiten von Kindertagesstätten diskutieren . In denJahren 2016, 2017 und 2018 werden jeweils 33 Milli-onen Euro – wenn man es zusammenrechnet, sind das100 Millionen Euro – in den Qualitätsausbau und in dieVerbesserung der Öffnungszeiten von Kitas investiert .Frau Präsidentin, meine Redezeit läuft ab – ich hättenoch viel zu sagen . Ich bedanke mich für die Aufmerk-samkeit und wünsche Ihnen gute Beschlüsse . Wie gesagt,wir werden den Antrag der Grünen – damit ich dazu auchetwas gesagt habe –, Frau Brantner, selbstverständlichablehnen .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Der letzte Redner zu diesem Tages-
ordnungspunkt ist der Kollege Dr . Fritz Felgentreu,
SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das istfür mich heute keine Debattenrede wie jede andere . ImWahlkampf bin ich wirklich Sturm gelaufen gegen dasBetreuungsgeld . Es war mein Hauptthema – es war übri-gens erfolgreich .
Ich war Kandidat und bin Abgeordneter für Berlin-Neu-kölln – eines der bekanntesten Brennpunktquartiere inDeutschland . Die Vorstellung, dass wir Geld ausgeben,damit Kinder nicht in die Kita gehen, war und ist mirimmer noch schlichtweg unerträglich .
Ich gebe offen zu: Dass wir die Abschaffung des Be-treuungsgeldes damals nicht durchsetzen konnten, hat esmir schwergemacht, dem Koalitionsvertrag zuzustim-men – und das trotz Mindestlohn und Mietpreisbremse,die ich für die Menschen in Neukölln unbedingt habenwollte .Und trotzdem, liebe Kolleginnen und Kollegen, seheich die Abschaffung des Gesetzes durch das Bundes-verfassungsgericht ein wenig mit gemischten Gefühlen .Kollege Rief, ich hätte mir gewünscht, dass eine kritischeund konstruktive Debatte in diesem Haus eine politischeMehrheit für eine bessere Verwendung der Betreuungs-geldmittel hervorgebracht hätte . Die Abschaffung durchVerfassungsrecht ersetzt diese Debatte nicht .
Aber sie gibt uns immerhin den Anlass, diese notwen-dige Debatte jetzt zu führen . Es ist deswegen auch gut,dass die Fraktionen der Opposition dazu heute einenAufschlag machen . Offensichtlich ist aber auch: Eine Ei-nigung über die Verwendung der Betreuungsgeldmittelwird es ohne die Union nicht geben .
Deshalb werden wir uns auch von Ihren Anträgen, FrauKollegin Brantner, Herr Kollege Müller, als Koalitionnicht treiben lassen . Der Versuch, vorzupreschen, immerder Erste zu sein, der die richtige Lösung gesehen undgefordert hat, ist der Sache nicht immer dienlich .
Die SPD geht mit ganz klaren Vorstellungen in dieseVerhandlungen . Wir wollen, dass die Betreuungsgeldmit-tel weiter den Familien zugutekommen .
Kinder und Familien fördern wir am besten und am ge-rechtesten durch erstklassige Kitas und Schulen .
Deshalb wollen wir dieses Geld zusätzlich in unsereKitas investieren . Darüber werden wir mit der Union re-den . Und verlassen Sie sich darauf: Diese Koalition wirdeine gemeinsame Lösung finden.
Dass die Betreuungsgeldmittel weiter für Kinder undFamilie eingesetzt werden, ist der SPD-Fraktion auchvor dem Hintergrund der gegenwärtigen Flüchtlingsbe-wegung sehr wichtig . Denn wir dürfen jetzt einen Fehlernicht machen: Wir dürfen nicht auf sinnvolle und not-wendige Maßnahmen verzichten und dann als Begrün-dung angeben, dass dafür wegen der Flüchtlinge keinGeld mehr da sei .
Paul Lehrieder
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Wer so argumentiert, meine Damen und Herren, derlegt die Axt an die Wurzeln des guten Willens, mit demsich die Gesellschaft zurzeit den Herausforderungen derFlüchtlingsbewegung stellt . Was die Kitas angeht, ist so-wieso das Gegenteil richtig: Wer etwas für unsere Kitastut, der tut zugleich etwas dafür, dass Flüchtlingsfamilienschnell in unserer Gesellschaft ankommen .Nach Schätzungen des Familienministeriums werdenwir für Flüchtlingskinder zusätzlich knapp 70 000 Kita-plätze brauchen . Und die, meine Damen und Herren,müssen wir auch bereitstellen . Ich will jedes einzelnedieser Flüchtlingskinder in unseren Kitas sehen . Dort ler-nen sie Deutsch .
Dort lernen sie, dass Jungen und Mädchen bei uns diegleichen Rechte haben . Dort erleben sie, nach welchenRegeln das Zusammenleben in unserer Gesellschaftfunktioniert . Diese sozialisierende Funktion der Kita, dieüber eine einfache Bildungsfunktion weit hinausgeht, istgerade für die Kinder aus Flüchtlingsfamilien ungeheuerwichtig . Ich will die Wahlfreiheit der Familien überhauptnicht einschränken . Aber diese Kinder gehören in unsereKitas .
Aber damit die Kitas das alles auch leisten können,brauchen sie unsere Unterstützung . Das heißt, mit jedemEuro, den wir heute in die Kitas stecken, tun wir etwasfür alle: Wir tun etwas für die einheimischen Familien,die natürlich diese Kitabetreuung in hoher Qualität brau-chen, sie in Anspruch nehmen und das auch weiter tunsollen, und wir tun etwas für die, die jetzt neu dazukom-men . Vor allem aber tun wir etwas für eine gute gemein-same Zukunft .
Es ist unsere Pflicht – davon bin ich fest überzeugt, meine Damen und Herren –, dem Ernst der Lage, in derwir uns befinden, mit Realismus, aber auch mit gutem Willen und mit Optimismus zu begegnen . Gerade bei denBeratungen über die Betreuungsgeldmittel können wirbeweisen, dass uns das gelingen wird .Vielen Dank .
Vielen Dank, Fritz Felgentreu . – Einen schönen Nach-
mittag Ihnen von meiner Seite, auch unseren Gästen!
Wir kommen jetzt zum Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/6063 . Die Frakti-
on Bündnis 90/Die Grünen wünscht Abstimmung in der
Sache, die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen
Überweisung, und zwar federführend an den Ausschuss
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie mitbe-
ratend an den Haushaltsausschuss . Darüber stimmen wir
jetzt ab .
Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über den
Antrag auf Ausschussüberweisung ab . Ich frage des-
halb: Wer stimmt für die beantragte Überweisung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist die
Überweisung beschlossen bei Zustimmung von CDU/
CSU, SPD und Linken gegen die Stimmen von Bünd-
nis 90/Die Grünen . Damit stimmen wir logischerweise
über den Antrag in der Sache nicht ab .
Tagesordnungspunkt 7 b . Interfraktionell wird Über-
weisung der Vorlage auf Drucksache 18/6041 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen . Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall .
Hat dazu eigentlich jemals jemand Nein gesagt?
Ich muss das immer fragen, aber niemand sagt Nein .
Frau Noll, Sind Sie einverstanden? – Gut . Dann ist die
Überweisung so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf – ich lese
schon einmal vor, worum es geht, und bitte, zügig Platz
zu nehmen –:
– Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Anpassung des nationalen Bankenabwick-
lungsrechts an den Einheitlichen Abwicklungs-
mechanismus und die europäischen Vorgaben
Drucksachen 18/5009, 18/5325, 18/5458 Nr. 3
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses
Drucksache 18/6091
– Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/6092
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre und
sehe keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Ich sehe, dass langsam die Expertinnen und Experten
Platz nehmen, und eröffne die Debatte mit der Wortertei-
lung an Alexander Radwan für die CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wirschließen mit dem heute vorliegenden Gesetz die Anpas-sung des Bankenabwicklungsrechts ab . Das ist der letzteBaustein auf dem Weg zur Bankenunion, die auf europä-ischer Ebene vorgegeben wurde . Das Ziel ist, zukünftignicht mehr den Steuerzahler in die Pflicht zu nehmen, wenn aufgrund von Krisen die Banken in Schieflagen ge-raten . Wir wollen, dass sie rechtzeitig Eigenkapital auf-Dr. Fritz Felgentreu
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bauen und weitere Maßnahmen treffen, damit so etwasgar nicht erst passiert . Sollte es aber passieren, dann ist esnotwendig, dass die Banken und die Gläubiger hier in diePflicht genommen werden. Deswegen werden wir jetzt gemäß der europäischen Richtlinie die Vorgaben für denAbwicklungsbereich umsetzen, die dann zum 1 . Januar2016 in Kraft treten werden .Ich bedanke mich hier beim Bundesfinanzministerium und den Kollegen für die zügige Arbeit . Wir in Deutsch-land sind hier Vorreiter, da wir entsprechend vorange-hen . Darum will ich heute auch primär den Blick auf dieeuropäische Ebene lenken, weil es nicht sein kann, dassDeutschland alleine vorangeht, sondern auch auf europä-ischer Ebene muss dieses Gesetz gemeinsam umgesetztwerden .Der Steuerzahler soll zukünftig nicht mehr haften . Umdas zu erreichen, wird eine Haftungskaskade aufgebaut .Dazu soll ein Fonds gegründet werden, der erst natio-nal aufgebaut wird und dann entsprechend europäisiertwird; aber zunächst bauen wir ihn eben national auf . Hiermöchte ich einen Punkt, der sicherlich in der weiterenDebatte diskutiert werden wird, herausgreifen . Ich dankeausdrücklich dem Bundesfinanzminister – sein Staats-sekretär ist stellvertretend anwesend –, dass er durchge-setzt hat, dass Rechtsgrundlage dieses Fonds eben nichtdas europäische Gemeinschaftsrecht ist, sondern dass erein intergouvernementaler Fonds ist . – Herr Schick, Sieschauen so?
– Ich halte das dezidiert für richtig; denn wir diskutie-ren jetzt ja die Einlagensicherung auf europäischer Ebe-ne . Hätten wir hier auf europäischer Ebene das Präjudizgeschaffen, dass entsprechende Zahlungen auf Basisdes europäischen Gemeinschaftsrechts erhoben werdenkönnten, dann hätten wir jetzt eine ganz andere Lage beiden Diskussionen über die europäische Einlagensiche-rung . Hier mögen wir uns inhaltlich unterscheiden, ichjedenfalls halte eine europäische Einlagensicherung zumjetzigen Zeitpunkt für falsch .
Dadurch, dass der Fonds intergouvernemental ver-einbart wurde, haben wir als Deutscher Bundestag nochein Wörtchen mitzureden, und wir können die Vorgabenentsprechend mitgestalten . Ich werde zum Thema Mitge-staltung bei einem anderen Punkt, wo wir nicht überein-stimmen, noch etwas sagen .Wichtig ist aber auch – das ist meine Bitte an das Bun-desfinanzministerium –, genau darauf zu schauen, wie die Umsetzung in den Nationalstaaten momentan läuft .Bail-in war immer eine Forderung Deutschlands . Wirstehen dahinter, aber wir wissen aus den Diskussionenim Rat und im Parlament, dass Bail-in – dass also Gläu-biger, dass diejenigen, die in den Banken engagiert sind,also die Aktionäre, herangezogen werden – nicht derHerzenswunsch aller anderen Mitgliedstaaten war . Ichbeobachte, dass derzeit Bail-in in anderen Staaten nichtso strikt umgesetzt wird . Darum müssen wir genau dar-auf schauen und auch die Kommission ermuntern, hierentsprechend zu intervenieren, wenn es nicht in dieserForm umgesetzt wird .
Wir haben die Rangfolge der Papiere entsprechenddefiniert. Hier geht Deutschland voran. Auch bei diesem Punkt ist es notwendig, dass die Europäische Zentral-bank den Rahmen mit definiert. Auch bei der Frage der Zentralbanktauglichkeit hatten wir heftige Diskussionen .Ich hätte mir gewünscht, dass die Europäische Zentral-bank, die sich bei dem einen oder anderen Punkt sehrstark engagiert hat, zumindest rechtzeitig eine Antworthätte geben können, ob dieser Gesetzestext die Zentral-banktauglichkeit der Papiere beeinflusst oder nicht. Das war leider nicht in wünschenswertem Maße der Fall .Ein heftiger Diskussionspunkt von deutscher Seitewar das Thema Verordnungsermächtigung bei MaRisk .Ich halte den Beschluss, den wir heute fassen werden,für richtig. Wir ermächtigen das Bundesfinanzministe-rium, hier eine Verordnung zu erlassen . Ich halte es fürnotwendig und für richtig, weil wir beim Aufbau einereuropäischen Aufsicht sind . Viele Mechanismen, die dasFunktionieren der europäischen Aufsicht bedingen, wer-den in den nächsten Monaten und Jahren greifen . DasArgument, das ich gegen Ende der Beratungen gehörthabe, man könne in ein, zwei Jahren eine Verordnungs-ermächtigung nachreichen, halte ich, gelinde gesagt, fürblauäugig angesichts der Tatsache, dass die EuropäischeZentralbank dann ja schon zwei Jahre lang definiert hat; da kann man dann nicht mehr nachträglich kommen . Unddem BMF und der BaFin jetzt die Waffen zu nehmen,um hier entsprechenden Einfluss auszuüben, ist kontra-produktiv .Auch den Argwohn, der hier bei manchen mitschwingt,die behaupten, dass das BMF oder die BaFin keine euro-päische Aufsicht möchten, halte ich für bemerkenswert .Natürlich wollen wir eine europäische Aufsicht .
Allen, die hier im Plenum, im Ausschuss und in ihrenSonntagsreden immer sagen – Herr Schick, dazu gehörenauch Sie –, dass die Struktur des deutschen Bankensys-tems mit seinen Regionalbanken auf europäischer Ebeneberücksichtigt werden muss, sei gesagt: Die Aufsicht-spraxis wird jetzt definiert, und es gibt auf europäischer Ebene ein ständiges Ringen darum, wie die Normen rich-tig gesetzt werden sollen . Von daher halte ich es, gelindegesagt, für indiskutabel, das BMF nicht in die Lage zuversetzen, auf europäischer Ebene tätig zu werden . Dieparlamentarische Kontrolle bleibt ja erhalten . Wir wer-den dem BMF klar sagen: Wenn eine entsprechende Ver-ordnung erlassen werden sollte, nachdem zuvor die EZBkontaktiert wurde, dann möge ein Vertreter des BMF zuuns in den Finanzausschuss kommen .Ich erwarte gerade von der BaFin, dass sie auf euro-päischer Ebene Einfluss auf die Aufsichtspraxis nimmt. Denn die Schaffung von Aufsicht auf europäischer Ebe-ne darf nicht bedeuten, dass nur Regeln für Banken wieBNP Paribas, Barclays und UniCredit geschaffen wer-den; es sollte das ganze Spektrum abgedeckt werden .Alexander Radwan
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Ich vertraue hier dem BMF und der BaFin, dass sie esentsprechend sorgsam handhaben werden, damit wir zueiner europäischen Aufsicht kommen, die der Vielfalt inEuropa gerecht wird . Die Verordnungsermächtigung, diewir heute beschließen wollen, ist also notwendig, damitwir die Diskussion aktiv mitgestalten können und nichtnur abwarten und zuschauen müssen . Übrigens sorgenwir damit auch für Transparenz und parlamentarischeKontrolle, die Sie in anderen Bereichen immer fordern .In diesem Bereich fordern Sie sie zu meinem großen Er-staunen nicht . Auf jeden Fall lehnen wir Ihren Antrag ab .Besten Dank .
Vielen Dank, Kollege Radwan . – Nächster Redner in
der Debatte: Dr . Axel Troost für die Linke .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das hier vorliegende Gesetz passt deutsches Recht aneuropäisches Recht an, das schon längst beschlossen ist .Insofern sind die Spielräume bescheiden . Ich will michdeswegen hier nicht an Details abarbeiten . Sicher ist abernatürlich, dass eine europäische Bankenrettung insge-samt besser sein wird als das, was zum Teil handwerklichschlecht in den Jahren 2008 und folgende in einzelnenLändern gemacht worden ist .Erinnern wir uns: Auch in Deutschland ist viel, vielGeld in die Stabilisierung der Banken geflossen, viel mehr Geld als jemals für die Sanierung Griechenlands .Anders als die Bevölkerung in den Krisenstaaten werdensich die Finanzjongleure von damals immer noch einenkomfortablen Lebenswandel leisten können .Die Bankenunion hat sicherlich auch Schwächen .Eine Schwäche ist und bleibt die Tatsache, dass Groß-britannien nicht wirklich miteinbezogen ist . Eine zweiteSchwäche ist – sie ist von Herrn Radwan angesprochenworden –, dass man abwarten muss, mit welcher Ge-schwindigkeit die festgelegten Regeln in den einzelnenLändern dann wirklich ratifiziert und umgesetzt werden. Zu den Schwächen zählt aus meiner Sicht sicherlichauch der Bankenabwicklungsfonds; denn wenn alles be-schlossen ist, soll auf europäischer Ebene als letzte Stufebei der Rettung von Banken ein Fonds in einer Größen-ordnung von 50 Milliarden Euro entstehen . Dieser Fondslöst dann den deutschen Fonds ab . Der deutsche Fondsumfasst 70 Milliarden Euro; jetzt haben wir sinniger-weise einen für Gesamteuropa im Umfang von nur noch50 Milliarden Euro .
– 50 Milliarden Euro insgesamt . – Die Frage ist natür-lich: Wird das reichen, wenn wir wirklich eine großeBank abwickeln müssen? Es bleiben auch die Fragen:Wer zahlt da in welcher Form ein? Und: Was geschiehtmit unserem deutschen Fonds?Ich möchte, weil ich da gerade Zahlen bekommenhabe, die restliche Zeit nutzen, um mich mit der Praxisder Einzahlung in den deutschen Fonds zu beschäftigen,der nicht aufgelöst wird, sondern bestehen bleibt, wobeikeiner so genau weiß, was mit dem Geld dort passierensoll .Von 2011 bis 2014 sollten die Banken entsprechend ih-rer Risikogewichtung in den Fonds einzahlen . Wenn siedementsprechend eingezahlt hätten, dann hätte der Fondsjetzt ein Volumen von 7 Milliarden Euro . Tatsächlichsind aber nur 2,3 Milliarden Euro im Fonds enthalten .4,7 Milliarden Euro sind nicht erhoben worden . Für die-jenigen, die es interessiert, sei nebenbei bemerkt: Auf derInternetseite meiner Fraktion und auf meiner Internet-seite kann man all das statistisch nachvollziehen . – So,und woran liegt das? Aufgrund von Verschonungsregelnhaben die Großbanken 70 Prozent ihrer eigentlich einzu-zahlenden Beiträge nicht eingezahlt, sondern sie wurdenihnen gestundet, während die Sparkassen und Genossen-schaftsbanken, also die Blöden, ihre Beiträge in vollemUmfang eingezahlt haben .
– Entsprechend der Risikogewichtung, so wie das hierbeschlossen worden ist .
– Die Aufregung kann ich schon verstehen .
Jetzt gibt es eine sogenannte Zumutbarkeitsregel,gemäß der Beiträge zur Bankenabgabe nur maximal inHöhe von 20 Prozent des Jahresgewinns abgeführt wer-den müssen, ansonsten muss die Zahlung erst einmalgestundet werden . Gegen Stundung spricht auch nichts .Aber die Stundung gilt nur für zwei Jahre, und wenn diezwei Jahre vorüber sind, wird das Geld endgültig gestri-chen; das gilt bisher schon für 2,6 Milliarden Euro .Um es klar und deutlich zu sagen: Wir haben hier Re-geln beschlossen, die besagen, dass die Großbanken, dassdie systemrelevanten Banken – die Einzelzahlen liegenmir vor – entsprechend einzahlen sollen, um Wiedergut-machung zu leisten für die vielen Milliarden, die wir indiese Banken gesteckt haben . Anschließend werden dieBeiträge zur Bankenabgabe festgelegt . Wenn die Bankendiese nicht zahlen können, dann werden diese nicht ge-stundet, sondern zum großen Teil endgültig gestrichen .Mit der Schaffung der Bankenunion gilt das dann auchfür die restlichen 2,1 Milliarden Euro, die noch ausste-hen .
Alexander Radwan
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Da kann man nur sagen: Das ist ein absoluter Skandal .
Wenn ein normales Unternehmen Zahlungen zu tätigenhat und sie nicht leisten kann, dann werden diese gestun-det, aber sie werden doch nicht nach zwei Jahren gestri-chen und sind damit weg .
– Nein, das hat mit dem vorliegenden Gesetz gar nichtszu tun,
aber es passt in den Gesamtzusammenhang . Dass Sie dasnicht gerne hören wollen, kann ich gut verstehen .
Eine der vielleicht kriminellsten Banken der Welt,nämlich die Deutsche Bank
– ja, ja –, die jedes Jahr in den USA zu Strafzahlungen inMilliardenhöhe verknackt wird und diese auch bezahlt,kann anschließend, weil das sozusagen gewinnminderndist, ihre Beiträge nicht in unseren Bankenrettungsfondseinzahlen .
Das ist aus meiner Sicht ein wirklicher Skandal .Wir verhandeln ja derzeit darüber, ob wir Kommunenund Ländern genug Geld für die Flüchtlingshilfe zur Ver-fügung stellen können; in diesem Rahmen sind Beträgein Höhe von 2,1 Milliarden Euro eine große Summe .Diese erlassen wir aber systemrelevanten Großbanken inDeutschland .Danke schön .
Danke, Herr Troost . – Herr Brinkhaus, Sie müssen
noch ein bisschen warten, dann können Sie auf die Rede
von Herrn Troost eingehen .
Nächster Redner: Manfred Zöllmer von der SPD .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Warum beschließen wir heute eigentlich ein Gesetz, dasAbwicklungsmechanismusgesetz heißt? Wenn wir dasbesser verstehen wollen, müssen wir uns gedanklichnoch einmal in die Krisenjahre 2007 und 2008 zurück-versetzen . Auf dem Höhepunkt der Finanzmarktkrisemussten auch in Deutschland Banken gerettet werden .Dies war notwendig, weil es sonst zu einem Zusammen-bruch der Finanzmärkte mit unabsehbaren Folgen fürWirtschaft und Ersparnisse gekommen wäre . Gerettetwurden damals die Banken mit unserem Geld, dem Geldder Steuerzahlerinnen und Steuerzahler . Das war damalsunausweichlich . Aber wir haben uns in die Hand verspro-chen: Das darf nicht noch einmal geschehen . Wir wollennicht noch einmal für die Zockereien der Banken bluten .Banken werden auch in Zukunft pleitegehen könnenwie jedes andere Unternehmen auch . Ein „too big to fail“wird der Vergangenheit angehören; denn zukünftig wer-den Eigentümer und Gläubiger vorrangig haften, nichtmehr die Steuerzahler . Risiko und Haftung gehören inZukunft auch bei systemrelevanten Banken wieder zu-sammen . Dazu waren viele gesetzliche Änderungen not-wendig . Deshalb hat es lange gedauert, bis wir an diesemPunkt angekommen sind . Wir haben eine europäischeBankenunion geschaffen und umgesetzt . Wir haben ei-nen europäischen Bankenfonds eingerichtet, finanziert von den Beiträgen der Banken . Wir haben sehr viele Ge-setze gemacht, um dieses Ziel zu erreichen .Jetzt sind wir dabei, das, was wir bisher in Deutsch-land gemacht haben, an die europäischen Vorgaben an-zupassen . Wir haben die FMSA, die Bundesanstalt fürFinanzmarktstabilisierung, die als nationale Behörde tä-tig ist . Auf europäischer Ebene haben wir eine Abwick-lungsbehörde, die von der ehemaligen BaFin-Chefin, Frau König, geleitet wird .Was haben wir umgesetzt? Mit einer sogenanntenHaftungskaskade ist nun gesetzlich festgeschrieben,wer mit welchen Wertpapieren in welcher Reihenfolgehaftungsmäßig im Fall der Insolvenz einer Bank heran-gezogen wird . Neusprachlich heißt das Bail-in . DieseNeuregelung hat nicht alle Verfahrensbeteiligten begeis-tert, weil nun bestimmte Papiere an Wert verloren haben,weil sie zukünftig im Insolvenzfall herangezogen werdenkönnen . Dies war aber notwendig, um das Ziel der soge-nannten Bail-in-Fähigkeit zu erreichen . Wir haben aberdie Übergangsfrist verlängert, damit sich die betroffenenFinanzinstitute auf diese veränderten Bedingungen ein-stellen können .Es wäre sehr gut, wenn diese Haftungskaskade, diewir hier beschlossen haben, in Zukunft zur Blaupause fürähnliche Beschlüsse in anderen europäischen Ländernwird . Der Kollege Radwan hat eben deutlich gemacht,dass in vielen Ländern in Europa das Ganze noch nichtumgesetzt worden ist . Das ist etwas, was so nicht seinkann .Über die Verordnungsermächtigung zur Umsetzungder sogenannten Mindestanforderungen an das Risiko-management, über die sogenannten MaRisk, haben wirlängere Zeit diskutiert . Es hat ein bisschen öffentlicheKritik der EZB gegeben . Diese fürchtete, damit sei dieeinheitliche europäische Bankenaufsicht bedroht . ManDr. Axel Troost
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muss aber wissen, eine Reihe anderer Länder in Europahaben bereits ähnliche Verordnungen beschlossen .Für die beiden regierungstragenden Fraktionen gilt,dass niemand eine einheitliche europäische Aufsicht be-hindern will .
Wir haben dafür gesorgt, dass sie eingeführt wird .
Es muss aber darum gehen, lieber Kollege Schick, dieBesonderheiten des deutschen Bankensystems – wir sinduns doch sicher einig, dass das deutsche System eineganze Reihe von schützenswerten Besonderheiten hat –
angemessen zu berücksichtigen . Zudem müssen wir si-cherstellen, dass die BaFin in Zukunft auf Augenhöheagieren kann .
– Auf Augenhöhe mit der EZB . – Deshalb haben wireinen vernünftigen Kompromiss gefunden: Nicht dieBaFin, sondern das Finanzministerium erlässt diese Ver-ordnung; dies geschieht auf der Basis europäischer Rege-lungen, und der Finanzausschuss des Deutschen Bundes-tags ist entsprechend einzubinden .Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit unserem Ge-setzentwurf stellen wir sicher, dass auch in der Über-gangsphase genügend Geld zur Verfügung steht, um ineinem Insolvenzfall leistungsfähig zu bleiben . Die Mit-tel der deutschen Bankenabgabe stehen zur Verfügung .Durch eine Kreditermächtigung haben wir die Leistungs-fähigkeit der deutschen Kammer des europäischen Ab-wicklungsfonds erheblich erhöht, bis dieser Fonds imJahr 2024 mit 55 Milliarden Euro, lieber Axel Troost,gefüllt sein wird .Schaut man sich die europäische Ebene genauer an, somuss es jetzt darum gehen, dass die einheitliche Umset-zung der europäischen Regelungen Vorrang hat . Es soll-te Aufgabe der Europäischen Kommission sein, daraufhinzuwirken, dass diese Richtlinien zügig in nationalesRecht umgesetzt werden . Man sollte nicht öffentlich überirgendwelche zu vergemeinschaftende Einlagensiche-rungssysteme nachdenken . Das schafft nur Verwirrung .Deshalb unterstützen wir ausdrücklich unseren Finanz-minister, der deutlich gemacht hat, dass so etwas zumjetzigen Zeitpunkt mit Deutschland nicht zu machen ist .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Gesetz mar-kiert einen guten Tag für den Steuerzahler, einen gutenTag für die soziale Marktwirtschaft .
Risiko und Haftung fallen zukünftig wieder zusammen .Wer schlecht wirtschaftet, geht in Insolvenz . Das gilt zu-künftig auch für Banken .Vielen Dank .
Vielen Dank, Herr Kollege Zöllmer . – Nächster Red-
ner in der Debatte: Dr . Gerhard Schick für Bündnis 90/
Die Grünen .
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Uns liegt ein Gesetzentwurf vor, der zeigt, dassdie Bundesregierung und die Koalition das Eigentlichegar nicht mehr regeln müssen . Weil das auf europäischerEbene schon geregelt ist, konnten sie zum Glück garnicht so arg viel schlecht machen .
Die grundlegende Idee, einen Abwicklungsmechanismusauf europäischer Ebene einzuführen, finden wir richtig, und dafür sind technische Anpassungen erforderlich .Deswegen werden wir diesem Gesetzentwurf zustimmen .
Es gibt allerdings drei Punkte, die ich ansprechenmuss, bei denen wir ganz klar eine andere Position ver-treten – diese sind ja teilweise in den Redebeiträgen, diewir gehört haben, bereits angeklungen –:Der erste Punkt betrifft die Verordnungsermächtigungzum Risikomanagement; Herr Kollege Zöllmer, Sie ha-ben das schon angesprochen . Wir haben in Europa ja nunendlich eine Bankenaufsicht . Wir Grünen hätten sie lie-ber parlamentarisch kontrolliert;
aber es wurde der Weg eingeschlagen, den die Bun-desregierung vorgeschlagen hatte . Das war der einzigeVorschlag, der damals auf dem Tisch lag . Deswegen istjetzt die Europäische Zentralbank für die Bankenaufsichtzuständig . Jetzt ist es erforderlich, dafür zu sorgen, dassdiese einheitliche europäische Aufsicht ihre Arbeit sinn-voll machen kann . Wenn jetzt jeder Staat sein Bankenauf-sichtsrecht einzeln definiert, dann müssen die Aufseher der Europäischen Zentralbank bei ihrem Agieren ständigunterschiedliche nationale Aufsichtsrechte zugrunde le-gen . Das wäre kompliziert, und vor allem hätten wir dasZiel dann immer noch nicht erreicht, nämlich ein einheit-liches Spielfeld für die Banken in Europa . Wir wollennicht, dass jeder Staat Ausnahmeregelungen gestaltenkann, weil dadurch das Gesamtsystem instabil würde .Sie sprechen in diesem Zusammenhang von Waffen .Darüber wundere ich mich schon . Sie gehen also in eineneue Auseinandersetzung über die Gestaltung des Play-ing Fields in Europa, anstatt konstruktiv daran mitzuwir-ken, dass wir endlich eine sinnvolle Aufsichtsstruktur inManfred Zöllmer
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Europa erhalten . Sie sind damit einmal mehr europapoli-tisch auf dem Holzweg .
Der zweite Punkt, den ich ansprechen will, hat miteinem Aspekt zu tun, den wir schon seit langem the-matisieren, übrigens auch gemeinsam mit den Sozial-demokraten, als sie noch in der Opposition waren . Esgeht darum, dass wir hinsichtlich des Umgangs mit denAbwicklungsanstalten eine gesetzgeberische Lücke ha-ben: Während man für die Vergütungen der Vorständeder Banken, die gerettet wurden, einen Deckel festgelegthat, hat man einen solchen Deckel für die Vergütungender Vorstände von Abwicklungsanstalten, die von diesenBanken abgespalten wurden, nicht festgelegt . Deswegenhat uns der Bundesrechnungshof aufgefordert, auch fürdie Abwicklungsanstalten Gehaltsbeschränkungen ein-zuführen . Wir haben einen entsprechenden Antrag imAusschuss vorgelegt. Sie haben das abgelehnt. Ich finde, das ist ein Fehler; denn auch an dieser Stelle müssen wirdafür sorgen, dass nicht zulasten der Steuerzahler Millio-nen kassiert werden . Es ist ja so, dass auf dem Finanzsek-tor insgesamt zu hohe Gehälter gezahlt werden . Dort, wowir sinnvolle Regelungen schaffen können, sollten wirdas tun, um diese zu begrenzen .
Der dritte Punkt betrifft die Frage, ob das Geld für deneuropäischen Fonds ausreicht . Die vorgesehenen 55 Mil-liarden Euro werden – das wird deutlich, wenn wir dieErfahrungen der letzten Finanzkrise zugrunde legen –nicht ausreichen, wenn es noch einmal zu einer schwerenKrise kommt . Es wäre aber auch nicht sinnvoll, einenextrem großen Topf zu schaffen . Das Entscheidende ist,dass man eine Kreditlinie hat . Das gilt umso mehr fürdie Phase des Übergangs, für die Zeit, in der sich diesesSystem aus den nationalen Töpfen heraus aufbaut . Ein-mal mehr waren Sie europapolitisch auf dem Holzweg .Sie haben nicht für die Schaffung einer Kreditlinie zumESM, also für eine europäische Lösung, plädiert, sondernSie schaffen jetzt eine neue Kreditmöglichkeit auf nati-onaler Ebene . Damit stehen wir wieder vor genau demProblem, das Sie vorgeben lösen zu wollen, nämlich ei-ner Verbindung von Bankenrisiken und Staatenrisiken .Wenn es zu einer Bankenkrise in einem finanziell nicht so starken europäischen Mitgliedstaat käme, könnte daserneut Probleme bei der Staatsfinanzierung auslösen, und dann wären wir in genau dem Schmodder, der eigentlichbekämpft werden soll . Wir halten das für falsch . Wir ha-ben Sie aufgefordert, das anders zu machen . Da ist aufjeden Fall noch eine wichtige Korrektur vorzunehmen .
Ich will mit Blick auf die weitere Diskussion über dieAbwicklung von Banken noch zwei Punkte ansprechen .Das muss man an dieser Stelle einfach sagen, weil nichtder Eindruck entstehen darf, mit diesem Gesetz und denInstitutionen, die bisher geschaffen wurden, seien dieProbleme gelöst .Es bleibt dabei, dass die großen Banken zu komplexsind, zu groß und auch in ihrer internen Struktur so, dassman sie nicht wirklich abwickeln kann . Deswegen bleibtdie Frage des Trennbankensystems auf der Tagesord-nung . Es ist dringend notwendig, dass Sie von der Brem-se heruntergehen und hier für ein europäisches Trennban-kengesetz eintreten .
– Aber auch eines mit Biss .Das Zweite ist etwas, über das wir noch nicht soviel diskutiert haben, nämlich das „No creditor worseoff“-Prinzip . Ich glaube, dass an dieser Stelle ein Prob-lem darin liegt, dass man in der Situation der Abwicklungnachweisen muss, dass keiner der Gläubiger schlechtergestellt wird als in einem Insolvenzverfahren . Das wirddie Verfahren möglicherweise erschweren . Hier gilt es,harte Vorgaben umzusetzen . Es bleibt also in SachenBankenabwicklung noch viel zu tun, damit das Ziel, denSteuerzahler vor Bankenrisiken zu schützen, erreichtwird .Danke .
Vielen Dank, Gerhard Schick . – Nächster Redner in
der lehrreichen Debatte: Ralph Brinkhaus für die CDU/
CSU .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Wenn der KollegeTroost von den Linken gar nicht zu diesem Gesetzent-wurf redet und dann auch noch teilweise beleidigend undausfallend wird, muss dieser Gesetzentwurf ja ganz gutsein .
Denn sonst hätte er über das geredet, was hier heute zurDebatte steht .
Meine Damen und Herren, am 29 . Juni 2012 ist Fol-gendes passiert: An diesem Tag hat man sich in Europadarauf geeinigt, dass man eine Bankenunion einführt,dass man alle wichtigen Banken in Europa gemeinsambeaufsichtigt, damit in Griechenland, Spanien, Portugal,aber auch in Deutschland kein Unsinn mehr geschehenkann . Man hat gesagt: Wenn eine Bank in die Insolvenzgeht, dann soll nicht der Steuerzahler bluten, sonderndann sollen zuerst die Eigentümer bluten, dann die Gläu-biger, dann ein Fonds, der von den Banken selber zu fi-nanzieren ist, und erst dann, wenn etwas schiefgeht, istder europäische Steuerzahler dran . Genau das setzen wirheute wieder einmal mit einem Gesetz um, indem wirdas Sanierungs- und Abwicklungsgesetz, das Kreditwe-Dr. Gerhard Schick
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sengesetz und das Restrukturierungsfondsgesetz ändern .Dies ist ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zur euro-päischen Bankenunion .
Es wäre schön gewesen, wenn in dem einen oder an-deren Debattenbeitrag auch darauf hingewiesen wordenwäre, dass dieses Prinzip, dass nicht mehr der Steuerzah-ler für Bankeninsolvenzen zahlen soll, in Deutschlandschon seit 2010 gilt, dass wir schon 2010 ein Restruktu-rierungsgesetz auf den Weg gebracht haben
und 2011 mit dem Restrukturierungsfondsgesetz das not-wendige Geld dafür eingesammelt haben . Das zeigt, dassFinanzpolitik, dass Regulierungspolitik in Deutschlandimmer besonders innovativ war, auch im Gegensatz zuEuropa . Wir sind nicht nur mit dem Restrukturierungsge-setz vorangegangen . Wir haben wahrscheinlich als erstesLand auf der Welt schon 2010 die toxischen Leerverkäu-fe reguliert und teilweise verboten .
Wir haben als erstes Land auf der Welt den Hochfre-quenzhandel reguliert . Wir waren die Ersten – das habenSie, Herr Schick, nicht gesagt –, die ein Trennbankenge-setz auf den Weg gebracht haben .
Deutschland war immer sehr innovativ und ist im Be-reich der Bankenregulierung und der Sicherheit der Ban-ken vorangegangen . Wir haben auch an den europäischenProjekten sehr konstruktiv mitgearbeitet, zum Beispielan der CRD IV und der CRR; da ging es um Eigenkapi-tal und Liquidität . Wir haben im Schattenbankenbereichbei der AIFM-Richtlinie mitgearbeitet, und wir haben beider Regulierung der für den Finanzmarkt sehr gefährli-chen Derivate, bei der EMIR-Paketlösung, mitgearbeitet .Auch das haben wir in Deutschland gemacht, weil wireins immer wussten – das war die Leitplanke unseresHandelns –: Es muss unser Ziel sein, jedes Produkt, je-den Finanzmarkt und jeden Vertriebsweg zu regulieren .Das ist der Weg, auf dem wir 2008, damals noch in derersten Großen Koalition, aufgebrochen sind . Jetzt, siebenJahre später, sind wir schon viel weiter .
Wir waren auch diejenigen, die immer gewusst ha-ben, dass Geld keine Grenzen kennt, dass man deswe-gen am besten internationale Lösungen findet und dass wir, wenn internationale Lösungen nicht möglich sind,europäische Lösungen brauchen . Deswegen akzeptierenwir, dass wir eine europäische Aufsicht und eine europä-ische Regulierung haben . Europa hat es uns dabei nichtimmer leicht gemacht . Es war immer sehr schwierig, zuvermitteln, dass es in Deutschland so etwas wie Spar-kassen und Volksbanken gibt und einen Mittelstand, derKredite braucht . Das waren viele Kämpfe . Aber wenndiese Kämpfe ausgestanden waren, wenn diese Gesetzeund Direktiven fertig waren, dann waren es meistens wirin Deutschland, die diese Dinge am schnellsten und amgründlichsten umgesetzt haben, teilweise zum Leidwe-sen der Wirtschaft, und die das nicht nur in die Geset-zesblätter hineingeschrieben haben, sondern auch dafürgesorgt haben, dass das im täglichen Aufsichtshandeln,in der täglichen Bankenpraxis Einzug gefunden hat .Deswegen, meine Damen und Herren, braucht unsniemand, weder in Frankfurt bei der EZB noch in Brüs-sel bei der Kommission, darüber zu belehren, was eineeuropäische Bankenunion und was europäische Finanz-marktregulierung ist . Uns muss auch deswegen niemandbelehren, weil wir ganz genau wissen, welche Schwä-chen dieses System hat .Um einige Beispiele für die Schwächen zu nennen:Die Europäische Zentralbank hat versprochen, dass Ban-ken nur besenrein, also ohne Risiken, in dieses Systemhineinkommen . Was haben wir in Griechenland gesehen?Wenn Griechenland in die Knie geht, ist das griechischeBankensystem nicht in der Lage, das zu kompensieren .Wir haben in Zypern gesehen: 50 Prozent der Bilanzsu-mme bestehen dort aus sogenannten notleidenden Kredi-ten, und die dortigen Banken sind nicht durch den Stress-test gefallen . In Portugal und Spanien haben wir gesehen,dass dort mit bestimmten steuerlichen – ich will nicht„Tricks“ sagen – Instrumenten dafür gesorgt worden ist,dass der Stresstest überhaupt bestanden wurde .Wir wissen, dass es diese Fehler gibt . Wir wissenauch, dass wir keine Trennung von Steuerzahlerrisiken,Länderrisiken und Bankenrisiken hinbekommen, wenngriechische Banken das meiste Geld an den griechischenStaat, portugiesische an den portugiesischen Staat unddeutsche an den deutschen Staat ausleihen . Wenn dieganze Sache nicht mit Eigenkapital zu unterlegen ist,dann haben wir auch kein geringeres Risiko . Deswegenmüssen wir da nacharbeiten .Wir müssen auch an einer anderen Stelle nacharbei-ten . Sehen Sie sich doch einmal an, wer die ganzen Re-gulierungen im Zusammenhang mit der Bankenunion inEuropa umgesetzt hat – und zwar vollständig –, wer Geldin seinen Restrukturierungsfonds einzahlt, wer tatsäch-lich die Einlagensicherungsrichtlinie und die Abwick-lungsrichtlinie umgesetzt hat .
Zum Schluss sage ich eines ganz klar – das ist dieBotschaft, die hier und heute von der CDU/CSU-Bun-destagsfraktion und, weil es im Koalitionsvertrag steht,auch von der SPD ausgeht –: Es ist vor diesem Hinter-grund absolut unverständlich, dass die Kommission unddie Europäische Zentralbank zu diesem Zeitpunkt übereine Vergemeinschaftung der Einlagensicherung reden .
Meine Damen und Herren, das können wir nicht akzep-tieren; wir werden uns an geeigneter Stelle und in ande-Ralph Brinkhaus
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ren Debatten noch dazu äußern . Das ist eine Provokationvon Brüssel, zeigt aber auch einen archetypischen Hand-lungsstrang, den wir in Brüssel erleben: Anstatt Hüter derVerträge zu sein, anstatt darauf zu achten, dass das, wasbeschlossen worden ist, richtig gemacht wird, geht manimmer weiter in Richtung weiterer Vergemeinschaftun-gen .
Dann muss man sich nicht wundern, wenn das Vertrau-en in Europa darunter leidet . Dann muss man sich auchnicht wundern, wenn Länder wie Großbritannien darübernachdenken, dieses Europa zu verlassen .Wir wollen ein Europa . Wir wollen ein gutes Europa .Aber dazu muss ein Schritt nach dem anderen gemachtwerden . Dazu gehört: keine Vergemeinschaftung derEinlagensicherung, zumindest nicht in dieser Phase .Danke schön .
Danke, Herr Brinkhaus . – Nächster Redner: Lothar
Binding für die SPD .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr verehrte Damen und Herren! Was der KollegeBrinkhaus eben zur Einlagensicherung und zur Verge-meinschaftung gesagt hat, findet unsere uneingeschränk-te Unterstützung .
Das ist sehr gut . Es ist nämlich ein stabilisierendes Ele-ment in Europa, auch wenn es im Moment national or-ganisiert ist .
Ich bin mit dem Fahrrad hierhergefahren und habe aufdem Weg und eben im Restaurant einige Leute gefragt,was sie sich unter dem Abwicklungsmechanismusgesetzvorstellen . Es wird niemand glauben: Keiner wusste, wasdamit gemeint ist .
Dafür habe ich vollstes Verständnis; deshalb will ichdazu einen Satz sagen .Wir hatten ja eine Krise . Die Banken waren insolvent,also zahlungsunfähig . Aber es war unklar, wie die Bankenund wir damit umgehen, weil es kein Insolvenzrecht fürBanken gibt . Was haben wir dann gemacht? Wir habendie Banken mit Steuergeld gerettet . Das hat die Steuer-zahler und uns natürlich sehr geärgert . Denn wir wolltendie Sparer schützen, aber jene an den Kosten beteiligen,die die Krise verursacht haben, also zum Beispiel Spe-kulanten, Erfinder von toxischen Produkten und, wie wir inzwischen wissen, Leute, die den Libor manipuliert unddaran verdient haben . Diese Leute sollten für die Krisebezahlen .
Das ging aber nicht .Das Gute an einem Insolvenzverfahren ist, dass mansich nach einer Insolvenz anschaut, was an dem betref-fenden Unternehmen gut ist – das will man erhalten –und was an ihm schlecht und nicht mehr tragfähig ist;das will man vom Markt nehmen . Dieses Ziel verfolgenwir mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf, dessenkomplizierten Namen ich eben genannt habe .Damit wollen wir künftig Sparer, Steuerzahler undKreditnehmer schützen . Wir wollen dafür sorgen, dassdie betreffenden Banken im Rahmen eines Bail-in all dasbezahlen, was in der Bank ist, und auch die Risiken, diedort eingegangen wurden, übernehmen . Es gibt aber im-mer wieder Kritik an der letzten Instanz . Wir sagen: DieBanken sollen 55 Milliarden Euro in einen Fonds einzah-len . – Diese Zahl wird kritisiert . Gelegentlich tun es dieGrünen; eben hat es auch Axel Troost wieder getan .Ich will einmal meinen berühmten Zollstock herausho-len und Ihnen etwas zeigen: Das ist in etwa so, als wennman eine Treppe in den ersten Stock baut . Dabei kannman oben oder unten anfangen, je nachdem, was für eineTreppe es ist . Axel Troost sagt immer: Diese Stufe ist vielzu niedrig; da kann man das erste Stockwerk gar nicht er-reichen . – Wir sagen dann: Moment mal, du hast ja vomGesamtzusammenhang gesprochen . Wir müssen uns dieganze Treppe anschauen .
Wenn man die nämlich geht, dann erreicht man auch dasoberste Stockwerk .Um das mit den Stockwerken etwas genauer zu be-schreiben: Du hast ganz vergessen, dass zunächst dasharte Eigenkapital haften muss .
– Ja, das ist richtig . – Danach muss das zusätzliche Ei-genkapital haften .
– Das ist auch richtig . – Dann muss das Ergänzungskapi-tal haften; das ist auch richtig .
Dann wird Fremdkapital in Eigenkapital umgewan-delt; das ist auch richtig . Im Anschluss daran greifen Ab-schreibungsvorschriften; auch das ist richtig .Ralph Brinkhaus
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Ich will das gar nicht zu Ende führen .
Wir merken: Diese 55 Milliarden Euro sind nur die letzteStufe . Alle anderen hast du vergessen . Deshalb nennst duauch den Gesamtbetrag nicht . Es wäre doch interessant,in deiner Rechnung zu erfahren, wie hoch eigentlich diegesamte Sicherung ist, die aus dieser Gesetzgebung folgt .
– Das weiß keiner, auch nicht der Axel Troost .
Deshalb und weil er alles andere nicht berücksichtigt,kann er das auch nicht kritisieren, jedenfalls nicht in derForm, dass 55 Milliarden Euro nicht genügen .
Wenn man alles weglässt, dann hat man natürlich zu we-nig; das ist klar .
Ich mache hier eine kleine Zäsur und will auch sagen,was uns geärgert hat: Der Bankenverband hat immerwieder versucht, zu erreichen, dass die Bankenabgabeals Betriebsausgabe steuerlich geltend gemacht wer-den kann . Dazu muss ich sagen: Das hat uns geärgert .Anfangs haben wir noch gesagt: Das muss in Europagleichmäßig geregelt werden; fast alle anderen haben dasnicht . – Der Bankenverband wollte das aber auch noch,als Frankreich schon längst auf dem Weg war, dieseMöglichkeit wieder abzuschaffen .Ich finde, die Banker haben hier eine Logik nicht ver-standen; denn wenn wir es zulassen würden, dass dieBankenabgabe als Betriebsausgabe steuerlich geltendgemacht werden kann, dann hieße das, dass sich derSteuerzahler an dem, was die Banken zu ihrer eigenenRettung einzahlen, mit 30 Prozent beteiligt . Das wolltenwir nicht .
Deshalb sind wir für den von uns allen gefundenenguten Kompromiss dankbar . Dass die Anrechnungsfähig-keit als Steuersparmodell hier nicht durchgesetzt wurde,ist eine sehr gute Sache .
Ich will noch kurz darlegen, woran wir erkennen, dassunsere Regulierungen gut funktioniert haben: Ich kom-me zwar ungern auf die Rating-Agenturen zurück – jederweiß, dass Fitch und Standard and Poor’s Rating-Agen-turen sind, und jeder kennt meine guten Englischkennt-nisse und weiß, dass „Rating“ für mich von „Raten“kommt, weshalb ich nicht gerne darauf zurückkomme –,aber sie haben etwas Gutes gemacht . Sie haben nämlichdie Bonitätsnoten vieler Banken gesenkt . Daraus folg-te für die Banken zwingend, dass sie sich selbst darumkümmern müssen, mehr Eigenkapital aufzubauen unddie innere Sicherheit der Banken zu stabilisieren . Daranmerkt man, dass unsere Regulierungen auch via Urteileder Rating-Agenturen sehr gut funktionieren .Ich hoffe, dass sie so gut funktionieren, dass der Steu-erzahler tatsächlich nie mehr zur Kasse gebeten wird,weil Manager Fehlentscheidungen getroffen haben .
Vielen Dank .
Vielen herzlichen Dank, Lothar Binding – auch für die
Treppe, die Sie präsentiert haben .
Für uns hier oben ist auch viel Neues dabei .
Letzter Redner in dieser sehr emotionalen Debatte:
Klaus-Peter Flosbach für die CDU/CSU-Fraktion . Sie
müssen das jetzt toppen . Das wird nicht leicht .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir diskutieren heute, wie wir so schön sagen, über denletzten Teil der Bankenunion . Bankenunion bedeutet:Aufsicht in erster Linie über große internationale, sys-temrelevante Finanzunternehmen und auch deren Ab-wicklung, wenn sie in die Schieflage geraten.Diese Maßnahme darf man aber niemals alleine sehen,sondern man muss sie in die 40 Maßnahmen einbetten,die wir in den letzten sieben Jahren umgesetzt haben,um den Finanzmarkt nicht nur in Deutschland, sondernauch in Europa zu stabilisieren und um das sicherzustel-len, was unser Credo ist: Wir wollen nicht mehr, dass derSteuerzahler für Banken haftet, die in die Schieflage ge-raten . – Das ist der Kern .
Lieber Kollege Troost, ich bitte Sie, noch einmal inden Berichten der Bundesanstalt für Finanzmarktstabili-sierung nachzusehen . Sie haben gerade nämlich davongesprochen, was die damalige Krise alles ausgelöst hat .Keine der Garantien, die wir damals durch den Soffin gegeben haben – der Gesamtumfang betrug 168 Milliar-den Euro –, musste eingelöst werden .
Lothar Binding
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Unser größter Verlust war der Schuldenschnitt in Grie-chenland mit über 9 Milliarden Euro .
Viele Banken haben alles zurückgeführt . Das sollten wirhier erst einmal festhalten, bevor wir hier mit falschenZahlen kommen .
Das Wichtigste für die Banken und für die Stabilisierungdes Marktes ist ohne Zweifel, dass genügend Eigenkapi-tal zur Verfügung steht . Ich bin auch froh, dass die G 20im November festlegen wollen, wie viel Kapital die gro-ßen, systemrelevanten Banken vorhalten müssen und wiedie Roadmap für die sogenannten Schattenbanken ausse-hen soll . Das ist wichtig für die gesamte Marktstabilität .Für uns ist einfach wichtig, dass wir, wenn eine Bankwirklich in Schieflage gerät, wissen, wie abgewickelt wird . Da sind wir mit diesem Gesetzentwurf, mit derUmsetzung der Anpassung an die europäischen Vorga-ben, ein wesentliches Stück weitergekommen .
Dann wird, lieber Kollege Binding, eben nicht mehr zu-nächst der Steuerzahler herangezogen, sondern in ersterLinie die Aktionäre selbst und das Eigenkapital in Höhevon 8 Prozent der Bilanzsumme . Dann sind die Gläubi-ger an der Reihe – die Größenordnung wird ja im Marktdiskutiert; es geht um 600 Milliarden Euro Schuldtitel -;das ist die sogenannte Bail-in-Phase . Das heißt, sie kön-nen als haftendes Eigenkapital herangezogen werden .Erst dann kommt der gemeinsam von den Banken zu fi-nanzierende Fonds in Höhe von 55 Milliarden Euro, derin der Tat erst im Aufbau begriffen ist .Nun sage ich dem Kollegen Troost – weil er hier heutedargestellt hat, dass das alles nur ein Geschenk an dieBanken gewesen ist – Folgendes: Sie haben eine Anfragean das Ministerium gerichtet . Das habe ich mir natürlichgenau angeguckt . In der Antwort steht ausdrücklich, dassdie Nachhaftung nur für zwei Jahre besteht, weil erstensder Bundesrat das verlangt hat und weil zweitens erheb-liche verfassungsrechtliche Bedenken bestehen, das nochlänger auszuführen . Es war insofern kein Geschenk .Außerdem gab es bei jeder Bank eine Begrenzungauf 20 Prozent ihres Jahresgewinns . Die zahlen natürlicherst einmal ihre normalen Steuern . Dann kommen nocheinmal 20 Prozent darauf, und dieser Betrag ist nicht ab-zugsfähig .
Damit hat man auch die Belastung .Deshalb bitte ich Sie als Nächstes: Gucken Sie sicheinmal den Bericht der Bundesbank über die Rentabilitätdeutscher Banken an . Da werden wir gewarnt . Wir ha-ben hier so viele Maßnahmen zur Regulierung der Ban-ken durchgesetzt, dass die Bundesbank davor warnt unduns sagt, doch bitte aufzupassen, dass alles miteinanderabgestimmt ist und wir nicht den Weg beschreiten, dieRentabilität in deutschen Banken total herunterzufahren .
Wir fragen natürlich: Reichen all diese Maßnahmenaus? Hier ist mehrfach der europäische Fonds angespro-chen worden, der von den Banken bezahlt werden soll .Gut, das wissen wir einfach nicht . Wir wissen nur eines:Ein Grund der Krise war, dass Haftung und Verantwor-tung auseinandergefallen sind . Ich halte es für richtig,dass Deutschland auch in den Verhandlungen dafür ge-sorgt hat, dass nicht sofort der europäische Rettungs-fonds, der ESM, wieder einspringt, wenn im Fonds nichtmehr genug Geld sein sollte; denn das wäre der falscheWeg . Es geht heute darum, die Risiken zu minimieren,nicht darum, sie auf die anderen Länder zu verteilen . Daswäre, Herr Troost, der falsche Weg . Den wollen wir nichtbeschreiten, liebe Kolleginnen und Kollegen .
Wir erleben in der Tat derzeit eine Asymmetrie; vie-le Länder haben die Bankenabwicklungsrichtliniennoch nicht umgesetzt . Wir sind in der Tat – der Kolle-ge Brinkhaus hat das noch einmal dargelegt – immer dieErsten gewesen: beim Restrukturierungsgesetz und beivielen anderen Maßnahmen . Wir sind die Schnellsten, umStabilität in unserem Markt hinzubekommen . Deswegenist es für mich auch äußerst wichtig, dass wir nicht aufdie falschen Felder gehen, indem wir jetzt schon wiedervergemeinschaften wollen . Dazu kommt nun auch nochdie sogenannte Einlagensicherung bei unseren Banken .Das betrifft insbesondere die Sparkassen und die Volks-banken . Es darf nicht sein, dass diese mit ihren Einlagendafür geradestehen müssen, wenn in anderen LändernFehler passieren . Das machen wir auf jeden Fall nichtmit, liebe Kolleginnen und Kollegen .Herr Schick, Sie haben davon gesprochen, dass Siekeine Verordnung haben wollen, was die Mindestan-forderung an das Risikomanagement angeht . Sie sagenhier – obwohl viele Länder eigene Verordnungen haben –in der jetzigen Phase, wo die europäische Abwicklungnoch nicht steht, dass wir die deutsche Position jetzt auf-geben sollen . Dabei entscheidet es sich in den nächstenzwei Jahren, wie die Regeln auf europäischer Ebene seinwerden . Damit würden Sie unsere Position völlig freige-ben . Das werden Sie mit uns niemals machen können .
Sie haben gesagt, wir sollten in Deutschland nicht denFehler machen, bei Abwicklungsanstalten Millionenge-hälter zu zahlen . In der Tat ist es so, dass wir in Deutsch-land zwei große Abwicklungsanstalten haben, die soge-nannten Bad Banks, die derzeit Papiere in dreistelligerMilliardenhöhe verkaufen und sie in den Markt hinein-geben . Sie machen das sehr erfolgreich . Bisher sind dieGehälter dort nicht über die Maßen hoch, sondern ent-Klaus-Peter Flosbach
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sprechen in etwa dem, was Firmen, die in die Krise ge-kommen sind, an ihre Manager bezahlen .Wir haben immer dafür plädiert, da keine Begrenzungeinzuführen . Nach dem Vorschlag, der in Ihrem Antragenthalten ist, hätte jeder Sparkassendirektor ein Mehr-faches an Rentenansprüchen gegenüber denjenigen, diehier für uns die Kastanien aus dem Feuer holen sollen,die für uns dreistellige Milliardenbeträge retten sollen .Wenn sie einen Fehler machen, dann gnade uns Gott .Wir müssen dafür sorgen, dass wir die besten Leute ha-ben, die hinter diesem Staat stehen und diese schwierigeAufgabe übernehmen, sodass wir in Deutschland keineVerluste erleben .
Denken Sie bitte an Ihre Redezeit .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Frau Präsidentin,
ich glaube, mit diesem Gesetzentwurf zum letzten Teil
der Bankenunion tragen wir einen erheblichen Teil zur
Stabilisierung der Märkte, zur Stabilisierung des Finanz-
systems und dazu bei, dass der Steuerzahler nicht mehr
herangezogen wird, wenn Banken in eine Schieflage ge-
raten .
Vielen Dank .
Vielen herzlichen Dank, lieber Klaus-Peter Flosbach .
Dann kommen wir jetzt zur Abstimmung über den
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines
Gesetzes zur Anpassung des nationalen Bankenabwick-
lungsrechts an den Einheitlichen Abwicklungsmechanis-
mus und die europäischen Vorgaben zur Bankenabgabe .
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 18/6091, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf den Drucksachen 18/5009 und
18/5325 in der Ausschussfassung anzunehmen . Ich bit-
te diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss-
fassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen . – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzent-
wurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von
CDU/CSU, SPD und den Grünen bei Enthaltung von der
Linken angenommen .
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ge-
setzentwurf ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD,
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Linken ange-
nommen . – Vielen Dank für die wirklich lehrreiche De-
batte . Dass man darüber so emotional diskutieren kann,
hat mich begeistert .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W . Birkwald, Sabine Zimmermann ,
Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Erziehungsleistung von Adoptiveltern würdi-
gen – Mütterrente anerkennen
Drucksache 18/6043
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Zweite und dritte Beratung des von den Ab-
geordneten Matthias W . Birkwald, Sabine
Zimmermann , Klaus Ernst, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch –
Anrechnung von Zeiten des Mutterschutzes
Drucksache 18/4107
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Soziales
Drucksache 18/5279
Ich bitte, zügig die Plätze zu wechseln, damit wir
gleich anfangen können .
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre und
sehe keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache mit Matthias W . Birkwald
für die Linke .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Sehr geehrte Besucherinnen und Besucher aufden Tribünen! Das Rentenpaket ist jetzt mehr als einJahr alt . Mütter, deren Kinder vor 1992 geboren wurden,haben profitiert. Chronisch Kranke, die eine Erwerbs-minderungsrente beantragen müssen, und Beschäftigte,die 45 Jahre lang geschuftet haben und dieses Jahr ab63 Jahren in Rente gehen können, profitieren ebenfalls vom Rentenpaket .
– Da könnt ihr auch klatschen .
Aber jetzt werden wir über zwei Gruppen von Müt-tern sprechen, die durch das Rentenpaket massiv be-nachteiligt werden . Ingrid Berger hat neben ihren zweileiblichen Kindern drei Kinder aus Indien und Vietnamadoptiert . Für diese drei Kinder erhält sie keinen Centsogenannter „Mütterrente“, weil die Bergers ihre Kindererst nach deren erstem Geburtstag adoptiert haben . Hät-ten die Bergers ihre Kinder nach dem Juli 2014 adoptiert,dann würden sie die Kindererziehungszeiten anteilig an-gerechnet bekommen und erhielten mehr „Mütterrente“ .Klaus-Peter Flosbach
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So gehen sie leer aus . Das ist ein Schlag ins Gesicht die-ser Adoptiveltern, und davon gibt es viele .Der Bundesverband der Pflege- und Adoptivfamilien spricht von sage und schreibe 40 000 betroffenen Famili-en . Sozial gerecht ist das nicht .
Darum fordere ich Sie, liebe Kolleginnen und Kolle-gen von Union und SPD, nachdrücklich auf: Lassen Siedie 40 000 Adoptiveltern nicht im Regen stehen! LegenSie bald eine gerechte und angemessene Lösung für die„Mütterrente“ der Adoptiveltern auf den Tisch!
Meine Damen und Herren, nicht nur die Adoptivmüt-ter werden benachteiligt . Nein, viele Mütter müssen ei-nen Monat länger arbeiten als alle anderen, damit sie dieRente ab 63 bzw . 65 ohne Abschläge bekommen . Auchsie werden bestraft . Warum? Ein Monat Mutterschutz vorder Geburt wird den Müttern nicht auf die 45 Jahre – oderdie 540 Monate – Wartezeit angerechnet, die sie brau-chen, um ab 63 bzw . künftig ab 65 abschlagsfrei in Rentegehen zu dürfen . Das ist ein Monat, in dem Müttern dasArbeiten von Gesetzes wegen verboten ist – zu Recht .Sie beziehen dafür Mutterschaftsgeld, aber die Kran-kenkassen zahlen keinen Cent Beitrag für sie in die Ren-tenversicherung ein . Und zack: Der Monat taucht aufdem Rentenkonto nicht als Wartezeit auf . Herr KollegeDr . Zimmer, Sie sagen bestimmt gleich, dass es diesenFall in Wirklichkeit gar nicht gebe . Wir Linken sagen:Das ist falsch . Denn bei keiner Mutter, deren Kind imersten Drittel eines Monats geboren wurde und die nichtbereits zehn Jahre zuvor schon ein Kind geboren hatte,zählt der Mutterschutzmonat vor der Geburt zur Warte-zeit der Rente ab 63 . Bei keiner einzigen! Das, meineDamen und Herren, ist frauendiskriminierend, verfas-sungswidrig und völlig inakzeptabel .
Herr Kollege Dr . Zimmer, wenn es die Rente ab 63schon früher gegeben hätte, wäre auch bei Ihrer Mutterder Mutterschutzmonat nicht für die Rente angerechnetworden . Warum? Sie sind an einem 3 . Mai geboren .
Der Mutterschutz begann am 23 . März . Davor hat IhreMutter weder gearbeitet noch geboren . Darum zählt derkomplette Monat April dazwischen nicht als Wartezeitfür die Rente für besonders langjährige Versicherte . We-gen Ihres Gesetzes! Sie und die SPD sind dafür verant-wortlich .
Ja, Sie haben recht: Wegen dieses einen Monats wirdkeiner Mutter die vorgezogene Altersrente komplett ver-wehrt . Darum aber geht es den Betroffenen gar nicht,die sich in Briefen, E-Mails und Petitionen an uns Abge-ordnete gewandt haben: Frau Sendelbeck aus Nürnberg,Frau Blankenhagen aus dem schönen Harz und Frau Au-gustin-Grau aus dem noch schöneren Köln . Ihnen gehtes nur darum, dass sie nicht durch den Umstand, dasssie Kinder geboren haben, benachteiligt werden und dasssie nicht einen Monat länger auf die Rente ab 63 wartenmüssen als Männer . Das ist doch nur gerecht .
Wollen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen vonCDU, CSU und SPD, diesen Müttern antworten, dass esihr Problem gar nicht gebe? Sagen Sie ihnen, dass sie mitihrem Gerechtigkeitsempfinden völlig danebenliegen? Bitte schön: Das Ehepaar Blankenhagen und das Ehe-paar Grau sitzen dort oben auf der Tribüne . Ich heiße Sieherzlich willkommen!
Die vier sind schon ganz gespannt, was Sie ihnen zusagen haben . Herr Blankenhagen hat sich die Mühe ge-macht und die erste Debatte hier im Bundestag genauanalysiert . Er hat einige der damals von Ihnen vorgetra-genen Argumente zurechtgerückt . Ist das nicht eine gera-dezu vorbildliche Bürgerbeteiligung?Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,lesen Sie doch mal, was die Betroffenen so aufregt! Ant-worten Sie nicht uns Linken, sondern antworten Sie denBetroffenen!
Sie sind nämlich dafür heute extra nach Berlin gereist .Frau Kollegin Schmidt, vielleicht werden Sie als So-zialdemokratin gleich Ihr Argument wiederholen, dassFrauen noch ganz andere Probleme bei der Rente hätten .Stimmt. Aber warum finden wir dann nicht gemeinsam eine Lösung für dieses eine konkrete Problem, das of-fenkundig das Gerechtigkeitsempfinden von Müttern be-sonders stört? Das ist kein Wunder; denn auf die 45 Jahrewerden folgende Zeiten angerechnet: Pflichtbeiträge aus Beschäftigung und Minijobs, Pflichtbeiträge aus selbst-ständiger Tätigkeit, freiwillige Beiträge unter bestimm-ten Bedingungen, Wehr- oder Zivildienstzeiten, Zeitender nicht erwerbsmäßigen Pflege von Angehörigen, Zeiten der Kindererziehung bis zum zehnten Lebens-jahr des Kindes, Leistungen bei beruflicher Weiterbil-dung, Arbeitslosengeld, Teilarbeitslosengeld, Kranken-geld, Verletztengeld, Übergangsgeld, Kurzarbeitergeld,Schlechtwettergeld, Winterausfallgeld, Insolvenzgeld,Konkursausfallgeld und Ersatzzeiten zum Beispiel fürpolitische Haft in der DDR . Aber ausgerechnet die vierWochen Mutterschutz gehören nicht dazu . Ich fordereSie auf: Rechnen Sie den Mutterschutz als Wartezeit an!
Achten Sie auf Ihre Redezeit!
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin .Matthias W. Birkwald
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Der DGB-Frauenausschuss hat den SPD-Abgeordne-ten dazu einen Brief geschrieben und genau das gefor-dert . Antworten Sie den DGB-Frauen! Hören Sie auf sie!Unterstützen Sie den Gesetzentwurf der Linken, oder le-gen Sie einen eigenen vor! Dann gäbe es eine Gerechtig-keitslücke weniger in der Rente . Alle betroffenen Mütterwürden es Ihnen danken .Danke schön .
Vielen Dank . – Der nächste Redner ist Dr . Matthias
Zimmer für die CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LieberKollege Birkwald, dass meine Mutter einmal so vom So-zialismus vereinnahmt werden würde,
würde sie heute noch mit Empörung ablehnen, und siehätte damit recht .Mit dem Rentenpaket, das im Juli 2014 in Kraft ge-treten ist, haben wir deutliche Verbesserungen für dieRentnerinnen und Rentner in Deutschland eingeführt,Verbesserungen, die so noch keine andere Regierung zu-vor umgesetzt hat . Die Große Koalition hat‘s gemacht .
Die Mütterrente verbessert die soziale Absicherungder Rentnerinnen, die vor 1992 Kinder bekommen underzogen haben . Sie erhalten einen weiteren Entgeltpunktfür jedes Kind zusätzlich zu ihrem bestehenden Renten-anspruch . Damit sorgt die Mütterrente dafür, dass die Er-ziehung von Kindern bei der Rente stärker ins Gewichtfällt, und das ist auch gut so .Mit der abschlagfreien Rente ab 63 Jahren könnenMenschen, die 45 Jahre Beiträge zur Rentenversicherunggezahlt haben, ohne Abzüge in den Ruhestand gehen;bisher mussten Versicherte für jeden Monat, den sie vorder Regelaltersgrenze in Rente gehen, 0,3 Prozent Kür-zungen bei ihrer Rente in Kauf nehmen . Damit wird ho-noriert, dass diese Menschen über einen langen Zeitraumihren Beitrag zur Stabilisierung des Rentensystems undunserer Gesellschaft geleistet haben .Das wollte ich vorwegschicken, weil es die beidenVorlagen der Linken in eine bestimmte Perspektiverückt . Bei dem Antrag geht es darum, dass Adoptivelternin jedem Fall die Mütterrente erhalten . Der Gesetzent-wurf problematisiert Zeiten des Beschäftigungsverbotsnach dem Mutterschutzgesetz bei der Anrechnung vonWartezeiten von 45 Jahren bei der abschlagsfreien Rente .Fangen wir mit Letzterem an . Der Mutterschutz um-fasst die Zeiten sechs Wochen vor und acht Wochen nachder Geburt eines Kindes . Die werdende Mutter und ihrKind sollen in dieser Zeit vor Gefährdungen, Überforde-rungen und Gesundheitsschädigungen am Arbeitsplatz,vor finanziellen Einbußen, aber auch vor dem Verlust des Arbeitsplatzes während der Schwangerschaft und ei-nige Zeit nach der Geburt geschützt werden . Währenddieser 14 Wochen, sechs Wochen vor der Geburt, achtWochen danach, besteht ein Beschäftigungsverbot . DieseZeiten unterliegen damit nicht der Versicherungs- oderBeitragspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung. Während dieser Zeiten werden aber Mutterschaftsgeldund ein Arbeitgeberzuschuss gezahlt . Auch diese gewähr-ten Leistungen unterliegen nicht der Versicherungs- undBeitragspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung. Rentenrechtlich handelt es sich danach also nicht umBeitragszeiten, sondern um Anrechnungszeiten, die auchnicht bei der 45-jährigen Wartezeit für die abschlagsfreieRente ab 63 berücksichtigt werden .
Nun haben die Linken eine Lücke entdeckt, die abervermutlich keine ist . Ich will das an einem Beispiel klar-machen: Geht eine Mutter zum Beispiel im März in denMutterschutz und wird das Kind im April geboren, wirdbereits der gesamte April von der Anrechnung aufgrundder Kinderberücksichtigungszeiten erfasst .Kommt das Kind erst im Mai auf die Welt, wird der ge-samte Mai erfasst . Bei sechs Wochen Mutterschutz kannaber für den Fall, dass die Geburt des Kindes weder inden einen noch den anderen Monat fällt, also wedervon der Beschäftigung noch von der Kinderberücksich-tigungszeit erfasst wird, ein Problem entstehen . Dafürmüssen zwischen dem Beginn des Mutterschutzes undder Geburt des Kindes zwei Monatswechsel liegen . Dannwird ein Monat nicht erfasst; folglich kann frau erst einenMonat später in Rente gehen .
Nicht zu vergessen: Dies kommt nur bei denjenigen zumTragen, die die Voraussetzungen für den Bezug einerRente mit 63 im Übrigen erfüllen, und eben auch nurdann, wenn genau ein Monat bei der Anrechnungszeitfehlt . – Das scheint mir ein eher theoretischer Fall zusein .Ich darf hier den Kollegen Kurth von den Grünen an-führen, der im März dieses Jahres bei der ersten Lesungdes Gesetzentwurfs gesagt hat, ihn beschleiche der Ge-danke, dass die vierwöchige Lücke – ich zitiere – „imwirklichen Leben … so gut wie keine Rolle spielenwird“ . Die Kollegin Schmidt von der SPD hat damalssekundiert:Sie machen hier einen großen Bahnhof für ein sehrkleines, theoretisches Problem .Ich glaube, die beiden Kollegen haben recht . Wohl derRegierung, deren Opposition sich im ganz kleinen Karoverliert .Aber man kann ja einmal genau hinschauen; das ist inOrdnung . Das hat der Kollege Peter Weiß getan .Matthias W. Birkwald
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Herr Kollege Zimmer, gestatten Sie eine Zwischenfra-
ge des Kollegen Birkwald?
Herr Präsident, ich würde meine Argumentation gerne
zu Ende führen .
Jawohl .
Der Kollege Weiß hat im März berichtet, er habe im
Ministerium nachgefragt, ob es tatsächlich solche Fälle
gibt, Fälle also, bei denen aus den genannten Gründen
genau vier Wochen fehlen . Die Antwort war, dem Minis-
terium sei kein solcher Fall bekannt .
Ich habe mich heute selbst erkundigt und die Aussage
erhalten, es handele sich um einen theoretischen Fall – so
jedenfalls die Rentenversicherung und das Ministerium .
Eine weitere Aussage war: Alle Fälle, die bisher im Mi-
nisterium vorgebracht worden sind, hätten ergeben, für
den rentenrechtlichen Abschlag seien andere Faktoren
wie etwa die Unterbrechung der Erwerbsbiografie ver-
antwortlich gewesen . Im Übrigen gilt das auch für den
von Ihnen geschilderten Fall: keine Unterbrechung der
Erwerbsbiografie, aber eine Übertragung von renten-
rechtlichen Zeiten auf den Ehemann .
Wenn das stimmt – ich habe keinen Grund, an die-
ser Aussage zu zweifeln –, dann gilt für mich der Satz:
Politik sollte keine Probleme lösen, die Menschen nicht
haben .
Deswegen können wir dem Gesetzentwurf der Linken
nicht zustimmen . Wir haben die begründete Vermutung,
dass es hier nicht um das Wohl der Mütter geht, sondern
dass ein Einfallstor geschaffen werden soll, um die Leis-
tungen der Rente mit 63 weiter auszuweiten . – Ein netter
Versuch, aber nicht mit uns .
Lassen Sie mich noch kurz auf die zweite Vorlage
der Linken, auf den Antrag, eingehen, in dem die Erzie-
hungsleistungen von Adoptiveltern thematisiert werden .
Mit dem Rentenpaket gilt, dass ab dem 1 . Juli 2014
die ersten 24 Monate nach Ablauf des Geburtsmonats
des Kindes als Kindererziehungszeit in der gesetzlichen
Rentenversicherung anerkannt werden . Kindererzie-
hungszeiten werden Adoptiveltern sowie leiblichen El-
tern, Stiefeltern oder Pflegeeltern dabei nach denselben
Grundsätzen anerkannt. Damit profitieren alle Eltern
gleichermaßen von den verbesserten Regelungen zur
Mütterrente . Wer in den ersten 24 Monaten seinen Bei-
trag zur Kindererziehung geleistet hat, dem werden diese
Zeiten ganz oder auch teilweise angerechnet .
Bei den Bestandsrentnerinnen und -rentnern wurde
ein pauschaliertes Verfahren gewählt; denn nur so war zu
gewährleisten, dass die Mütterrente für Eltern, die bereits
in Rente sind, auch ohne zusätzliche Bürokratiekosten
zum Tragen kommt . Von der Ausweitung der Kinderer-
ziehungsregelung profitiert man, wenn einem der zwölfte
Kalendermonat der Kindererziehungszeiten angerechnet
wurde . Damit konnte die vereinfachte Mütterrente für
Bestandsrentnerinnen und -rentner als ein Zuschlag an
persönlichen Entgeltpunkten umgesetzt werden . Eine in-
dividuelle Prüfung findet hier für keine der etwa 9,5 Mil-
lionen Betroffenen statt .
Eine Ausnahmeregelung, wie sie für die Adoptivel-
tern vorgeschlagen wird, wäre aber nicht nur aus verwal-
tungstechnischen und Kostengründen schwierig . Wenn
man für Adoptiveltern eine individuelle Prüfung einfüh-
ren möchte, dann müsste man dies unter Gleichbehand-
lungsgrundsätzen auch für alle anderen Eltern einführen,
die ähnlich betroffen sind, zum Beispiel bei Pflegekin-
dern und auch Kindern, die in den ersten Monaten im
Ausland erzogen worden sind .
Das pauschale Verfahren, das eine Auszahlung der Müt-
terrente für Bestandsrentnerinnen und -rentner erst mög-
lich macht, wäre damit insgesamt hinfällig .
Unter dem Strich bleibt von dem, was die Linke gefor-
dert hat, ein großer bürokratischer Aufwand für ein mini-
males Ergebnis, das mit gesteigertem Pathos vorgetragen
wird . Es blitzt ein wenig auf, was Sozialismus eigentlich
ist . Aus diesem Grund lehnen wir beide Vorlagen ab .
Herzlichen Dank .
Für eine Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Birkwald .
Vielen Dank, Herr Präsident, dass Sie die Kurzinter-vention zulassen . – Herr Kollege Dr . Zimmer, zunächstzu Ihrem letzten Vorwurf, es handele sich um einen gro-ßen bürokratischen Aufwand: Ich habe unseren Gesetz-entwurf natürlich dabei . Es handelt sich bei der Änderungdes Sechsten Buches Sozialgesetzbuch um fünf Zeilen .Fünf Zeilen! Das ist also eine ganz kleine Geschichte .
Zweitens ist es völlig egal, wie viele Betroffene esgibt . Selbst wenn es so wenige wären, wie Sie behaupten,wäre das überhaupt kein Grund, die Gleichberechtigungvon Mann und Frau außer Kraft zu setzen .
Soweit mir bekannt ist, können bisher nur Frauen dieKinder kriegen . Deswegen müssen viele Frauen vier Wo-chen länger arbeiten, wenn sie die Voraussetzungen fürdie Rente ab 63/65 erfüllen wollen . Das sind nicht so we-nige; das Gesetz gilt ja erst seit dem 1 . Juli vergangenenJahres .Sie können ja einmal in der CDU/CSU-Bundestags-fraktion den Test machen . Lassen Sie da doch bitte ein-
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mal alle Frauen aufstehen, deren Kinder zwischen demErsten und dem Zehnten eines Monats geboren wurden .Sie werden feststellen, dass das ungefähr ein Drittel allerMütter sind, die sich im Raum befinden. Sie werden wei-ter feststellen, dass dieses Problem in Zukunft aufwach-sen wird; denn bis dato haben viele der Betroffenen über-haupt nicht gemerkt, dass ihnen dieser eine Monat fehlt,weil er bei den Renteninformationen oder auch bei denRentenauskünften nicht auftaucht . Erst dann, wenn es indie Nähe des 63 . Geburtstags geht, wird überlegt: Habeich die erforderlichen Monate zusammen? – Wenn dieVersicherten daraufhin die Renteninformationen durch-sehen, fällt ihnen – und auch der Rentenversicherung –auf, dass der Monat fehlt .Ich habe eben gesagt, dass ich den Betroffenen eineStimme verleihen will . Deswegen lese ich das einmalkurz vor: Eine Grundschullehrerin aus den neuen Bun-desländern hatte nach ihrem dreijährigen Studium an ei-nem Institut für Lehrerbildung am 1 . August 1969 ihreArbeit im Schuldienst begonnen
– nein, das habe ich noch nicht vorgelesen, Herr Dr .Rosemann – und aufgrund durchgängiger Beschäftigungam 31 . Juli 2014 mit 64,5 Jahren die 45 Beitragsjahrevoll . Infolge der Tatsache, dass ihre erste Schwanger-schaftsfreistellung am 28 . Februar 1971 begann und dieGeburt am 11 . April 1971 erfolgte, ist ihr der Monat März1971 nicht als Wartezeit für die Rente 63/65 angerechnetwurden . Sie ist deshalb statt am 1 . August 2014 erst am1 . September 2014 in den wohlverdienten Ruhestandnach den Bedingungen der Rente ab 63/65 gegangen .Genau darum geht es . Sie sagen: Frauen sind Beschäf-tigte und Rentnerinnen zweiter Klasse . Sie dürfen für einund dieselbe Rente vier Wochen länger arbeiten . – Dasist ungerecht .
Herr Kollege Birkwald, für eine Kurzintervention
haben Sie nur ein begrenztes Zeitfenster, und dieses ist
ausgeschöpft .
– Prima .
Dann darf ich den Kollegen Dr . Zimmer fragen, ob er
darauf erwidern möchte .
Herr Präsident, das lasse ich mir natürlich nicht entge-
hen, weil es mir die Gelegenheit gibt, im Sinne der Stoff-
festigung durch Wiederholung die wesentlichen Aussa-
gen noch einmal vorzutragen .
Ich glaube, der eigentliche Punkt, lieber Kollege
Birkwald, ist folgender: Die abschlagsfreie Rente nach
45 Beitragsjahren – an der Stelle sind wir uns vielleicht
einig – bevorzugt Männer, weil die Erwerbsbiografien
von Frauen auf eine völlig andere Art und Weise ge-
brochen sind und deshalb vermutlich erheblich weniger
Frauen davon Gebrauch machen können .
Auf der anderen Seite, lieber Kollege Birkwald, haben
Sie diese Beispiele . Ich habe beim Ministerium und bei
der Rentenversicherung nachgefragt und eine sehr ein-
deutige Auskunft erhalten .
Die Auskunft war: Es ist ein theoretisches Problem . Bis-
lang ist bei allen Fällen, die vorgebracht worden sind, der
Renteneintritt nach 45 Beitragsjahren an anderen Fakto-
ren gescheitert . – Das hatte mit dem von Ihnen beschrie-
benen Problem überhaupt nichts zu tun . Deshalb meine
dringende Bitte: Legen Sie diese Fälle dem Ministerium
vor! Der SPD-Fraktion haben Sie sie offensichtlich vor-
gelegt – der CDU/CSU-Fraktion leider nicht, sodass wir
bisher nicht die Möglichkeit hatten, das zu prüfen .
Bislang verlasse ich mich darauf, dass die Aussage des
Ministeriums steht: Wir wissen von keinem solchen Fall .
Wenn entsprechende Fälle vorgebracht wurden, ließen
sie sich alle mit anderen Faktoren erklären . – Ich bitte
Sie, das zur Kenntnis zu nehmen . Das würde uns viele
Debatten hier ersparen .
Vielen Dank .
Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Markus Kurth
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Herr Birkwald, eine Bemer-kung kann ich mir nicht verkneifen: Nach Ihrer Art vonStatistik müsste ja jede fünfte Person hier im Raum einChinese sein . Das ist aber offenkundig nicht der Fall . In-sofern kann ich mich damit nicht anfreunden .
Herr Zimmer, Sie haben mich korrekt zitiert: Ich habein der ersten Lesung gesagt, ich hätte den Verdacht, dasses sich nur um sehr, sehr wenige Fälle handelt . Aber dasheißt ja nicht, dass man sich diesen nicht zuwenden soll-te .
Gerade wenn es so wenige Fälle sind, kann man, glaubeich, an dieser Stelle doch versuchen, eine pragmatischeRegelung zu finden. Das gilt auch für den Fall der Adop-Matthias W. Birkwald
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tiveltern. Ich finde, man sollte noch einmal genau prüfen, ob wirklich so viel Verwaltungsaufwand entstünde . Ichglaube, das ließe sich einfacher regeln . In der Tat zeigendiese beiden Vorlagen der Linken, dass das Rentenpaketunzählige Schieflagen hat, und das ist schlecht.
Die Vorlagen zeigen aber auch, wie wenig geschlech-tersensibel die Bundesregierung bei ihrem Gesetzesvor-haben vorgegangen ist . Wenn von den Begünstigten derabschlagsfreien Rente ab 63 oder nach 45 Beitragsjahrennur jeder Vierte eine Frau ist, dann hat das mit Geschlech-tergerechtigkeit nicht viel zu tun . Auch das ist schlecht .
Davon kann auch die sogenannte Mütterrente nichtablenken; denn auch da entstehen für viele Frauen Ge-rechtigkeitslücken . Was ist denn mit all den Frauen, diedie Grundsicherung im Alter beziehen? Bei ihnen wirddie Mütterrente angerechnet; sie haben nichts davon, ob-wohl gerade sie ein Rentenplus nötig hätten .Zudem wirkt das Rentenpaket dämpfend auf das Ren-tenniveau; das haben wir bei den Beratungen im letztenJahr rauf- und runterdiskutiert . Auch davon sind insbe-sondere Frauen betroffen . Gerade Frauen sind auf einestarke gesetzliche Rente angewiesen; denn sie verfügenseltener als Männer über zusätzliche Versorgungsmög-lichkeiten aus Privatversicherungen und Betriebsrenten .
Nein, das Rentenpaket ist in der Hinsicht nicht aus-gewogen . Ich habe eine Kleine Anfrage zum Thema„Rentenlücke zwischen Männern und Frauen“ an dieBundesregierung gestellt . Wir müssen uns gerade mit dergeschlechterspezifischen Rentenlücke hier im Deutschen Bundestag in den nächsten Wochen und Monaten nocheinmal ernsthaft auseinandersetzen .
Das Problem ist, dass sich die Verwerfungen auf demArbeitsmarkt, die vielfältigen Benachteiligungen vonFrauen – ich erinnere nur an die Lohnlücke, die Minijob-und Teilzeitfalle – im Laufe eines Erwerbslebens über-einanderlagern und zu einer viel größeren Rentenlückeführen . Zurzeit liegt die Rentenlücke zwischen Frauenund Männer bei der gesetzlichen Rente bei 57 Prozent,bei den privaten Lebensversicherungen bei 70 Prozentund bei der betrieblichen Altersversorgung sogar bei79 Prozent; das ist ein enormes Gefälle . Zwar hat sichdie Rentenlücke in den letzten Jahrzehnten verringert,aber wenn wir nicht grundsätzlich etwas ändern, dannakzeptieren wir, dass es noch 50, 60 oder 70 Jahre dau-ert, bis sich die Rentenwerte von Männern und Frauenangeglichen haben werden . So lange können wir einfachnicht warten .
Daher sagen wir: Nicht pauschale Lösungen wie die so-genannte Mütterrente können das Problem lösen . Natür-lich können wir uns hier mit Details beschäftigen, wie esdie vorliegenden Vorlagen tun . Aber ich meine, dass wirdas Problem grundsätzlich lösen müssen .Was wir neben der vollen Gleichberechtigung auf demArbeitsmarkt primär wollen, ist ein Mentalitätswandel,der eben auch Männer bei der Erziehung und Pflege in die Pflicht nimmt.Wir brauchen auch einen Mentalitätswandel bei den Ar-beitgebern, damit Frauen eine größere Zeitsouveränitätbei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf haben .
– Das wollte ich gerade sagen; das ist mein nächsterSatz . – Unseres Erachtens geht das nur über positive An-reize, die es auch für Männer attraktiver machen, sich anErziehungsarbeit, Hausarbeit und Fürsorgearbeit stärkerzu beteiligen .
Ich spreche hier zum Beispiel von einem verbessertenElterngeld, das partnerschaftlich aufgeteilt wird, und ei-ner echten Pflegezeit, die es auch Männern ermöglicht, Gehaltseinbußen auszugleichen . Auch im Rentenrechtgibt es zahlreiche Möglichkeiten der emanzipatorischenWeiterentwicklung, die ich in ganzer Breite und Schön-heit im Rahmen dieser Debatte mangels Zeit nicht mehrausführen kann .
Aber das werden wir nachholen .
Aufwertungsmöglichkeiten gibt es eben auch im Ren-tenrecht . Ich fände es gut, wenn wir neben den Detailpro-blemen – das werden wir anstoßen – hier im Plenum undin den Ausschüssen ergebnisoffen und mit klarem Blickauf das Problem der geschlechtsspezifischen Rentenlü-cke diskutieren könnten .Vielen Dank .
Für die SPD spricht jetzt die Kollegin Dagmar
Schmidt .
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren auf den Tribünen! Liebe Kolleginnen undKollegen! Lieber Herr Birkwald, ja, es ist ungerecht,dass manchen Adoptivmüttern, die zum Zeitpunkt derEinführung der Mütterrente bereits in Rente waren, dieErziehungszeit nicht angerechnet wird . Es war bei ei-Markus Kurth
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ner so großen Reform nicht möglich, jeden Einzelfallzu berücksichtigen . Diese Pauschalregelung – Stichtag:12 . Kalendermonat nach der Geburt des Kindes – kannauch an anderen Stellen zu Ungerechtigkeiten führen .Das liegt in der Natur der Sache bei pauschalen Lösun-gen und bei Stichtagsregelungen . Das war für uns aberkein Grund, deswegen die Mütterrente gar nicht einzu-führen . Dazu wird mein Kollege Martin Rosemann nochetwas sagen .Ja, es ist auch ungerecht, dass Zeiten des Mutterschut-zes, also die sechs Wochen vor dem Geburtstermin unddie acht Wochen nach der Entbindung, bei der Altersren-te für besonders langjährig Versicherte nicht anerkanntwerden . Das hat damit zu tun, dass anders als im Krank-heitsfall für die Mutterschutzzeiten keine Rentenbeiträgegezahlt werden . Wenn Sie mich fragen, können wir da-rüber gerne mit dem Bundesgesundheitsminister reden .
Wie groß ist das Problem wirklich? Jeder Monat, indem die Frau nur einen Tag arbeitet und Beiträge bezahlt,wird voll angerechnet . Die Monate nach dem Zeitpunktder Geburt werden dann als Kinderberücksichtigungs-zeiten angerechnet . Das heißt – Sie haben es gesagt –,im Endeffekt geht es um vier Wochen, die Frauen längerarbeiten müssten als Männer . Davon können nur Frauenbetroffen sein . Deswegen ist es ungerecht .Wenn Sie aber von dem großen Gerechtigkeitsemp-finden reden, dann muss ich, ehrlich gesagt, sagen: Wir wurden gebeten, uns um ganz andere Probleme zu küm-mern . Wir haben uns auch erfolgreich darangemacht,diese Ungerechtigkeiten zu beseitigen, und große sozia-le Fortschritte erzielt . Die Aufzählung erspare ich Ihnennicht . Ich hoffe, dass auch die Familien auf der Tribünedas eine oder andere darin finden, was ihre persönliche Lebenssituation verbessert bzw . erleichtert hat .Uns haben viele Menschen geschrieben, die lange indie Rentenversicherung eingezahlt haben, die oftmalsmit 14 oder 15 Jahren zu arbeiten begonnen haben undihren solidarischen Beitrag geleistet haben . Wir habenentschieden, dass, wer 45 Jahre gearbeitet und eingezahlthat, zwei Jahre früher abschlagsfrei in Rente gehen kann .Davon haben bisher 240 000 Menschen profitiert. Das ist auch verdient und gerecht .
Wir haben mit der Mütterrente 9,5 Millionen Men-schen, zum überwiegenden Teil Frauen, zu mehr Gerech-tigkeit verholfen . Die höhere Mütterrente hat die Aus-zahlbeträge für Frauen insgesamt um 10 Prozent erhöht .
Das ist schon eine Hausnummer . Auch wenn wir es lieberaus Steuermitteln bezahlt hätten: Das ist gerecht, und siehaben es verdient .
Wir kennen wie Sie viele Menschen, die aus ge-sundheitlichen Gründen nicht bis zur Regelalters-grenze arbeiten können . Deswegen haben wir die Er-werbsminderungsrente und die Reha gestärkt und imPräventionsgesetz mehr Mittel für die betriebliche Ge-sundheitsprävention zur Verfügung gestellt . Aber dasreicht uns noch nicht . Wir wollen verhindern, dass Men-schen ihre Gesundheit durch Arbeit gefährden, und ihnenzusätzliche Unterstützung beim Gesundheitsschutz amArbeitsplatz zukommen lassen . Wir haben das hier schonunter dem Stichwort „Ü45-Check-up“ diskutiert . Durchflexible Übergänge in die Rente wollen wir eine indivi-duelle Anpassung des Renteneinstiegs bezogen auf dieGesundheit und die Erwerbsbiografie ermöglichen, ohne dass die Menschen Angst vor Altersarmut haben müssen .Jede Rente – das wissen Sie – ist nur so gut wie dieErwerbsbiografie. Hier gibt es viele Baustellen, die wir angehen und abarbeiten, und zwar vor allem zugunstender Frauen .Erstens: die Bekämpfung des Niedriglohnsektors . Wirhaben einen Mindestlohn eingeführt . 4 Millionen Men-schen, davon 60 Prozent Frauen, haben jetzt mehr Geldin der Tasche . Das ist verdient und gerecht, und das warüberfällig .
Zweitens: die sogenannte gläserne Decke . Karrierehängt nicht nur vom Können ab . Uns sind Frauen be-kannt, denen, obwohl sie klüger und gebildeter waren,der Mann vorgezogen wurde . Frauen machen seltenerKarriere als Männer, nicht weil sie dümmer und faulersind, sondern weil man gerne diejenigen unterstützt, diegenauso sind wie man selbst . Männer helfen Männern beider Karriere . Um dieses System zu durchbrechen, habenwir jetzt eine Frauenquote .
Drittens: ungleicher Lohn trotz gleicher Arbeit . Trotzgleicher Arbeit verdienen Frauen weniger als Männer .Deswegen wollen wir ein Gesetz für Lohngerechtigkeit .Wir wollen mehr Transparenz bei der Bezahlung undeine Diskussion darüber, wie systematische Ungerech-tigkeiten überwunden werden können . Bei uns heißt dasEntgeltgleichheitsgesetz .Viertens: ungleiche Bezahlung bei gleichwertiger Ar-beit . Hier geht es um die bessere Bezahlung in typischenFrauenberufen . Wir wollen eine angemessene Bezahlungvon Erzieherinnen .
Deswegen wäre es aus unserer Sicht sinnvoll, das Betreu-ungsgeld in die Kitas zu stecken .Herr Birkwald, es geht hier um die Frage – Herr Kurthhat das ebenfalls angesprochen –, wie wir dafür sorgen,Dagmar Schmidt
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dass Frauen am Ende ihres Erwerbslebens eine ordentli-che Rente bekommen .
Das ist ein Thema, das eigentlich auch Sie beschäftigensollte . Die Gerechtigkeitsfrage wird in Briefen und Ge-sprächen an uns herangetragen . Deswegen rede ich andieser Stelle darüber, auch wenn Sie uns unsere Erfolgevielleicht neiden .
Fünftens: Frauen arbeiten oftmals unfreiwillig in Teil-zeit . Deswegen wollen wir das Recht auf Rückkehr inVollzeit . Ich hoffe, dass wir das noch in diesem Jahr hin-bekommen . Wir fördern den Ausbau der Kitas mit mehre-ren Milliarden Euro; das ist kein Geld aus der Portokasse,sondern viel Geld für Verbesserungen . Wir wollen auchmehr Partnerschaftlichkeit bei Familienarbeit und Kin-dererziehung . Das fördern wir mit dem Elterngeld Plus .Wenn ich alles zusammenfasse, dann erzielen 4 Milli-onen Menschen durch den Mindestlohn ein besseres Ein-kommen, erfahren jetzt schon 240 000 Menschen durchdie Rente nach 45 Versicherungsjahren eine Erleichte-rung und erhalten 9,5 Millionen Frauen durch die Müt-terrente eine gerechtere Rente . Es sind Millionen Frauen,denen durch die Frauenquote, durch Entgeltgleichheit,durch Recht auf Vollzeit, durch bessere Kinderbetreu-ung und mehr Partnerschaftlichkeit mehr Gerechtigkeitwiderfährt und widerfahren wird . Darauf, liebe Kollegin-nen und Kollegen, sind wir sehr stolz .Glück auf!
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Matthäus
Strebl .
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen undKollegen! Als eine der wichtigsten sozialen Errungen-schaften dieser Legislaturperiode hat die Regierungs-koalition zum 1 . Juli 2014 die sogenannte Mütterrenteeingeführt. Wie wir schon gehört haben, profitieren da-von 9,5 Millionen Frauen, die vor 1992 Kinder geborenhaben . Wir geben jährlich rund 6,7 Milliarden Euro dafüraus . Das Geld ist zweifellos – darin sind wir uns sicheralle einig – gut angelegt . Wir haben mit der Mütterrentefür mehr Gerechtigkeit gesorgt und die Erziehungsleis-tung von Millionen Müttern anerkannt .Die Fraktion Die Linke hat nun einen Antrag vor-gelegt, in dem sie fordert, dass die Erziehungsarbeit abdem Zeitpunkt der Adoption in vollem Umfang in dergesetzlichen Rentenversicherung anerkannt wird, undzwar unabhängig vom Alter des Kindes zum Zeitpunktder Adoption .Lassen Sie mich kurz die Rechtslage erläutern . Kin-dererziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversiche-rung werden Adoptiveltern nach denselben Grundsätzenwie leiblichen Eltern, Stief- und Pflegeeltern gewährt. Danach wurden zunächst die ersten 36 Monate nach derGeburt des Kindes als Kindererziehungszeit anerkannt .Seit dem 1 . Juli 2014 sind es die ersten 24 Monate beider Geburt vor 1992 . Das bedeutet: Auch Adoptivelternprofitieren sehr wohl von der Mütterrente, wenn sie in diesem Zeitraum ein Adoptivkind erzogen haben .
Adoptiveltern haben jedoch dann keinen Anspruch aufdie Mütterrente, wenn das Kind bei der Aufnahme in dieFamilie bereits 24 Monate beziehungsweise 36 Monatealt oder älter war .
Eine solche altersmäßige Grenzziehung bedeutet keineWillkür . Es wäre nicht vermittelbar, wenn zum einen dieleiblichen Eltern oder der Elternteil, der die Erziehungs-arbeit geleistet hat, und zum anderen auch noch die Ad-optiveltern die Mütterrente erhielten .Eine Ausnahmereglung, die ausschließlich in Fälleneiner Adoption auf die tatsächliche Erziehungsleistungim zweiten Lebensjahr abstellen würde, ist verfassungs-rechtlich unter Gleichbehandlungsgesichtspunkten si-cherlich problematisch . Denn das hieße, dass sie für alleEltern gelten müsste, die aufgrund ähnlicher Sachver-halte auch ein Interesse an einer individuellen Prüfunghaben .Werte Kolleginnen und Kollegen, bei den Diskussi-onen um die Einführung der Mütterrente war allen Be-teiligten klar, dass für die Bestandsrenten, die ebensovon der Mütterrente profitieren sollten, eine praktikable Lösung gefunden werden musste . Die gesuchte Lösungmusste also praktikabel sein und die Umsetzung der Müt-terrente zeitnah ermöglichen . Rentnerinnen und Rentnererhalten deshalb die Mütterrente in vereinfachter undpauschaler Form als einen Zuschlag an persönlichenEntgeltpunkten . Eine individuelle Prüfung bzw . Neube-rechnung der etwa 9,5 Millionen Bestandsrenten unterBerücksichtigung der Erziehung von vor dem Jahr 1992geborenen Kindern wäre zeitnah nicht umsetzbar gewe-sen .
Auch wenn es ungerecht erscheint, so ist doch festzu-halten, dass ein anderes Verfahren aufwendige Vorbe-reitungs- und Bearbeitungszeiten erfordert hätte . DieMütterrente hätte dann nicht zum 1 . Juli des vergangenenJahres in Kraft treten können . Millionen Frauen hättendann das Nachsehen gehabt .Ein weiterer Aspekt kommt hinzu: Wenn den leibli-chen Eltern die Anrechnung von KindererziehungszeitenDagmar Schmidt
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zugestanden wurde, können Adoptiveltern nicht zusätz-lich Kindererziehungszeiten angerechnet bekommen .Eine solche Besserstellung ist rentenrechtlich alleinschon aus Gründen der Gleichbehandlung im Verhältniszu den leiblichen Eltern ausgeschlossen .Völlig unerwähnt bleibt in dem vorliegenden Antrag,dass die Leistungsverbesserung im Zusammenhang mitder Mütterrente auch für Adoptiveltern zu einer längeranzurechnenden Kindererziehungszeit führen kann .Möglich ist auch, dass im Vergleich zur vorherigenRechtslage überhaupt erst ein Anspruch auf Kindererzie-hungszeiten entsteht, dann nämlich, wenn die Adoptionim zweiten Lebensjahr erfolgte .Verehrte Kolleginnen und Kollegen, dem Antrag derFraktion Die Linke können wir nicht folgen . Deswegenlehnen wir ihn ab .Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der
Kollege Dr . Martin Rosemann für die SPD .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren auf den Tribünen! Zunächsteinmal will ich festhalten: Die Mütterrente ist ein Erfolg .Auch infolge der Einführung der Mütterrente sind dieRenten der Frauen in Deutschland um sage und schreibe10 Prozent gestiegen, die Renten der Frauen mit Kindernsogar um 12 Prozent .
Das, meine Damen und Herren, ist ein Erfolg der Politikdieser Koalition . Das haben wir erreicht, weil wir – imGegensatz zu allen anderen Verbesserungen, die es imRentenrecht gegeben hat – auch Bestandsrentnerinnenund Bestandsrentner davon profitieren ließen. Insofern war es richtig und wichtig, dass wir genau dies gemachthaben, sprich: die Mütterrente auch Bestandsrentnerin-nen und Bestandsrentnern zugutekommen ließen .Dies führte aber, meine Damen und Herren, zu derProblematik bei Adoptionen, die wir heute hier debattie-ren . Um es klar zu sagen: Das ist bei allen, die zukünftigin Rente gehen, kein Problem . Hier wird die Erziehungs-leistung im zweiten Lebensjahr eines Kindes uneinge-schränkt denen zugerechnet, die sie erbracht haben . Dasgilt selbstverständlich auch für Pflege- und Adoptivel-tern .Damit aber auch Bestandsrentnerinnen von der Müt-terrente profitieren können – das ist schon gesagt wor-den –, musste auf eine Pauschalregelung zurückgegrif-fen werden: Bestandsrentnerinnen bekommen pauschaleinen Entgeltpunkt für das zweite Jahr der Kindererzie-hungszeit .Dabei bekommt derjenige den Punkt für das zweite Le-bensjahr des Kindes, für den die Berücksichtigung derKindererziehung im ersten Lebensjahr erfolgte .
Alles andere wäre bei 9,5 Millionen Versichertenbiogra-fien schlicht nicht durchführbar gewesen.
Damit wird in den meisten Fällen auch die Realität abge-bildet und damit die Lebensleistung der Kindererziehungan der richtigen Stelle gewürdigt .Natürlich kommt es in Einzelfällen zu Ungerechtig-keiten . Ich will aber darauf hinweisen, dass die Adop-tion kurz nach dem ersten Geburtstag eines Kindes nurein Beispiel dafür ist . Ein anderes ist, wenn der Vater imzweiten Lebensjahr des Kindes die Kindererziehung über-nommen hat, die Mutter im ersten Jahr . Dann bekommttrotzdem die Mutter den zusätzlichen Entgeltpunkt, nichtder Vater; das ist vor allen Dingen bei Scheidungen einProblem . Wenn die Eltern das Kind im ersten Lebensjahrim Ausland erzogen haben, bekommt keiner den zusätzli-chen Rentenentgeltpunkt . Wenn ein Kind beispielsweisenur bis zum zwölften Monat in einer Pflegefamilie gelebt hat, danach aber wieder bei seinen leiblichen Eltern oderin einer anderen Pflegefamilie, dann bekommt die Mutter der Pflegefamilie des ersten Jahres den Entgeltpunkt. Es gibt aber umgekehrt auch Beispiele dafür, bei de-nen sich die pauschale Zurechnung des Entgeltpunktesfür die Erziehungszeiten für die betroffenen Versichertenpositiv auswirkt, beispielsweise wenn durch die pauscha-le Anrechnung keine Kappung an der Beitragsbemes-sungsgrenze erfolgt .
Meine Damen und Herren von den Linken, all dies ver-schweigen Sie in Ihrem Antrag . Eine umsetzbare Lösungfür diese Probleme bieten Sie nicht an .
Natürlich wäre es theoretisch möglich, all diese Fällenoch einmal händisch zu überprüfen . Der Aufwand fürdie Einzelfallprüfung von Hunderttausenden von Be-standsrentnern wäre aber schlicht zu hoch . Was nichtgeht – und das verschweigen Sie den Betroffenen –, ist,dass eine Einzelfallprüfung eben nur für eine Gruppe, dieSie jetzt besonders interessiert, nicht möglich ist .
Matthäus Strebl
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Ich will dazu sagen, dass im Fall von Adoptionen imZweifel jemand anderem der Entgeltpunkt wieder weg-genommen werden müsste, der aber gar nicht bekannt ist .
Die einzige Alternative wäre also gewesen, Bestands-rentnerinnen von der zusätzlichen Berücksichtigung derKindererziehungszeiten auszunehmen . Genau das woll-ten wir nicht, weil das noch mehr Ungerechtigkeiten pro-duziert hätte .
Mich erreichen immer wieder Briefe von Adoptivel-tern, die ein Kind adoptiert haben, das fünf oder sechsJahre alt ist. Diese profitieren von der Mütterrente gar nicht . Ich kann sehr gut mit ihnen fühlen, weil ich dasThema Adoption aus meiner eigenen Familie gut kenne .Deswegen will ich an der Stelle sagen: Die Berücksichti-gung der Kindererziehungszeiten für vor 1992 geboreneKinder beschränkt sich grundsätzlich auf die ersten bei-den Lebensjahre und danach auf die ersten drei Lebens-jahre .
Der Grund dafür ist, dass insbesondere in den erstenMonaten nach der Geburt die Möglichkeit, Familienar-beit und Erwerbsarbeit zu verbinden, besonders einge-schränkt ist .Mir ist klar – und ich glaube, das ist uns allen klar –,dass wir damit die Lebensleistung der Erziehung einesKindes insgesamt natürlich nicht angemessen würdigen .Ich will an dieser Stelle aber darauf hinweisen, dass esim Rentenrecht weitere Ansatzpunkte gibt: für Zeiten vor1992 die Aufwertung von geringen Rentenanwartschaf-ten im Rahmen der Renten nach Mindesteinkommen undab 1992 die Höherwertung niedriger Entgeltpunkte bzw .die Gutschrift von zusätzlichen Entgeltpunkten im Rah-men der Kinderberücksichtigungszeiten .Wenn man darunter den Strich zieht, muss man sagen:Das, was wir tun konnten, um Erziehungszeiten für vor1992 geborene Kinder besser anzuerkennen, das habenwir als Koalition auch getan .
Damit schließe ich die Aussprache .
Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 9 a .
Interfraktionell wird Überweisung dieser Vorlage auf
Drucksache 18/6043 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein-
verstanden? – Ich sehe keinen Widerspruch . Dann ist die
Überweisung so beschlossen .
Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 9 b, zur
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Die
Linke zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetz-
buch – Anrechnung von Zeiten des Mutterschutzes .
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/5279,
den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksa-
che 18/4107 abzulehnen . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-
chen . – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist damit in zweiter Beratung abgelehnt mit
den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stim-
men der Fraktion Die Linke und von BÜNDNIS 90/Die
Grünen . Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung
die weitere Beratung .
Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräf-
te an der EU-Operation EUNAVFOR MED
als ein Teil der Gesamtinitiative der EU zur
Unterbindung des Geschäftsmodells der Men-
schenschmuggel- und Menschenhandelsnetz-
werke im südlichen und zentralen Mittelmeer
Drucksache 18/6013
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für. Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für. Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für. wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Weil ich kei-
nen Widerspruch vernehme, gehe ich davon aus, dass Sie
alle damit einverstanden sind .
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem
Redner das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär
Dr . Ralf Brauksiepe .
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Vielen Dank, Herr Präsident . – Liebe Kolleginnenund Kollegen! In der Nacht vom 18 . auf den 19 . Aprildieses Jahres kam es im Mittelmeer zu einem tragischenUnglück . Ein Flüchtlingsschiff war vor der Küste Liby-ens gekentert . 28 Personen konnten gerettet werden . Dieitalienische Küstenwache musste 24 Leichen bergen .Weitere Suchaktionen blieben erfolglos . Ein Überleben-der berichtete jedoch, dass bis zu 950 Menschen an Bordgewesen seien, teils von ihren Schleusern im Laderaumeingeschlossen, darunter rund 200 Frauen und 50 Kinder .Diese Tragödie hat uns alle fassungslos gemacht undsowohl der Politik als auch der Zivilgesellschaft in Eu-ropa das grauenvolle Leid der Flüchtlinge vor Augengeführt . Leider blieb dieser zutiefst erschütternde Vorfallkein Einzelfall .Laut UN-Angaben traten seit Beginn dieses Jahresmehr als 300 000 Menschen die gefährliche Überfahrtüber das Mittelmeer an . Tausende von Frauen, Männernund Kindern haben bei ihrem Versuch, auf diesem Wegnach Europa zu gelangen, ihr Leben verloren .Dr. Martin Rosemann
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierunghat deshalb bereits Ende April dieses Jahres schnell undentschlossen gehandelt und zwei Schiffe der deutschenMarine in das Mittelmeer gesandt, um zu verhindern,dass noch mehr Menschen auf See ums Leben kommen .Der Einsatzgruppenversorger Berlin und die Fregat-te Hessen sowie mittlerweile der Versorger Werra unddie Fregatte Schleswig-Holstein haben bislang über8 030 Menschen aus Seenot gerettet . Das ist eine ganzaußerordentliche Leistung unserer Soldatinnen und Sol-daten, und zwar sowohl fachlich als auch menschlich, fürdie wir dankbar sind .
Dieses Engagement zeigt sich auch dieser Tage, indenen es darum geht, dass wir denjenigen, die Bürger-krieg und Not entfliehen und Asyl brauchen, hier bei uns in Deutschland Schutz gewähren . Überall dort, wo ihreUnterstützung gebraucht wird, helfen unsere Soldatinnenund Soldaten zusammen mit vielen anderen helfendenHänden mit . Auch dafür gebührt ihnen allen unser beson-derer Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen .
Das Ausmaß der Flüchtlingsbewegungen der vergan-genen Wochen zeigt uns sehr deutlich, dass in Europaeine gemeinsame Antwort auf die vielfältigen Dimen-sionen der Flüchtlingsbewegungen erforderlich ist, vonder Bekämpfung der Fluchtursachen bis hin zu einermenschlichen Versorgung der Bedürftigen hier bei uns .Wir mussten leider feststellen, dass die Anstrengun-gen zur Unterstützung der Seenotrettung allein nicht dasschreckliche Sterben im Mittelmeer stoppen konnten .Dazu war und ist das Geschäftsmodell der Schleuser ein-fach zu perfide und zu lukrativ.Im Gegenteil: Unsere humanitäre Hilfe wird von denKriminellen sogar schamlos ausgenutzt .Deshalb haben wir am 18 . Mai dieses Jahres mit un-seren Partnern in der Europäischen Union die OperationEUNAVFOR Med ins Leben gerufen . Unser europäi-scher Ansatz umfasst vier Ziele:Erstens . Die Seenotrettung ist und bleibt ein Hauptan-liegen unseres Engagements im südlichen und zentralenMittelmeer .Zweitens . Wir müssen aktiv gegen die kriminellenSchleusernetzwerke vorgehen .Drittens . Wir müssen mit den Herkunfts- und Transit-ländern zusammenarbeiten, um die strukturellen Ursa-chen von Flucht und Migration zu bekämpfen .Viertens schließlich . Die innereuropäische Solidaritätund Verantwortung bei der Aufnahme dieser verzweifel-ten Menschen in der Europäischen Union ist gefordert .Die deutsche Marine ist seit Beginn dieser EU-Opera-tion im Juni 2015 an EUNAVFOR Med beteiligt . In derPhase 1 dieser Mission ging und geht es neben der akutenSeenotrettung auch darum, das Vorgehen der Schlepper,für die es ein abscheuliches Milliardengeschäft darstellt,all diese Menschen auf ihre lebensgefährlichen Reisenzu schicken, genau zu beobachten . Dies ist in den letz-ten Monaten gelungen . Wir haben ein deutlich besseresLagebild aufbauen können, als wir es in der Vergangen-heit hatten . Wir konnten wertvolle Erkenntnisse über dieSchleusernetzwerke, ihre Routen und ihre Methoden ge-winnen . Diese wollen wir nun gezielt nutzen und dafürsorgen, dass diese mit äußerster Brutalität vorgehendenSchleuser nicht länger schalten und walten können, wiesie wollen .Dazu wollen wir mit der Phase 2 i beginnen . Mit einerdeutschen Beteiligung von bis zu 950 Soldatinnen undSoldaten soll in dieser Phase beschränkt auf die inter-nationalen Gewässer im südlichen und zentralen Mittel-meer gezielt und effektiv gegen die kriminellen Schleu-sernetzwerke vorgegangen werden . Es ist zu erwarten,dass die Schleuser zu Herbstbeginn, bei aufkommendemschlechteren Wetter auch seetüchtigere Schiffe als bisheraußerhalb der libyschen Hoheitsgewässer einsetzen, dasssie Schiffe aus Ägypten und Tunesien an die westlicheKüste Libyens, nahe Tripolis, heranschaffen oder Schiffezur Erkundung einsetzen, um die Flüchtlingsboote in derNähe von EUNAVFOR-Med-Einheiten auszusetzen .Mit dem Übergang in die Phase 2 i können jetzt in in-ternationalen Gewässern verdächtige Schiffe angehaltenund durchsucht werden . Wenn sich der Verdacht bestäti-gen sollte, dass sie für Menschenschmuggel oder Men-schenhandel benutzt werden, sind wir nun in der Lage,die Schleuserschiffe umzuleiten oder zu beschlagnah-men . Ziel dieser Phase 2 i ist es somit, die Bewegungs-freiheit der Schleuser einzuschränken und damit ihr kri-minelles, menschenverachtendes Geschäft schwierigerzu machen . Zugleich – das betone ich noch einmal – wirddie Seenotrettung selbstverständlich weiterhin uneinge-schränkt fortgesetzt .Es ist ein richtiger und ein sinnvoller Schritt, jetzt aufhoher See gegen Schleuserschiffe vorzugehen, um demÜbel auf den Grund zu gehen und den kriminellen Ma-chenschaften das Handwerk zu legen .Die Soldatinnen und Soldaten an Bord unserer Schif-fe, im Hauptquartier in Rom und auf dem italienischenFührungsschiff leisten bereits jetzt einen erfolgreichenund sehr wichtigen Dienst . Deutschland ist nach Italiender zweitgrößte Truppensteller und eine tragende Säuleder gesamten Operation . Wir sollten weiterhin zu un-serem Wort stehen und zeigen, dass auf uns Verlass ist .Dieser Einsatz ist eine wichtige gemeinsame Leistungder Europäischen Union für Menschen in Not und gegenkriminelle Menschenschleusung . Wir stehen nicht allein,wir sind eingebunden in ein Bündnis, eingebunden ineine Wertegemeinschaft, und gemeinsam mit dieser han-deln wir . Ich bitte Sie deswegen um Unterstützung fürdas vorliegende Mandat .Herzlichen Dank .
Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
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Der Kollege Stefan Liebich spricht jetzt für die Frak-
tion Die Linke .
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Lie-be Kolleginnen und Kollegen! Herr Brauksiepe, nichtdass hier Missverständnisse entstehen: Wir debattierenund entscheiden nicht über die Rettungsaktion im Mit-telmeer . Dafür ist überhaupt kein Mandat notwendig; sieläuft schon . Wir reden heute einzig und allein über dieEntscheidung, Soldatinnen und Soldaten auf hohe See zuschicken, um dort militärisch gegen Schlepper vorzuge-hen . Das ist hier das Thema .Ich möchte in die Vergangenheit schauen: Ein Flucht-helfervertrag „verstößt weder gegen ein gesetzlichesVerbot noch ohne Weiteres gegen die guten Sitten“ .Wer Flüchtende dabei unterstütze, das ihnen zustehendeRecht auf Freizügigkeit zu verwirklichen, kann sich aufbilligenswerte Motive berufen und handelt sittlich undnicht anstößig .– So hat der Bundesgerichtshof 1977 geurteilt . Sie ahnenes: Damals ging es um die Flüchtlinge, die aus der DDRin die Bundesrepublik Deutschland geflohen sind, die das Risiko ihres Todes an der Mauer und dem Stacheldrahtnicht eingehen wollten .
Diejenigen, die ihnen damals geholfen haben, wurdenvon den DDR-Oberen als kriminelle Menschenhändlerbezeichnet und in der Bundesrepublik als Helden ge-feiert . Es gibt selbstverständlich viele Unterschiede zudamals, aber eines galt damals wie heute: Wo Grenzengeschlossen sind, wird es immer Versuche geben, sie zuüberwinden . Deshalb müssen Mauern abgebaut werdenund nicht Stacheldrahtzäune errichtet .
Stattdessen schicken Sie Soldaten in das Mittelmeer,um Schiffe anzuhalten, zu durchsuchen, umzuleiten, und,wenn es Widerstand gibt, mit Waffengewalt zu agieren .
Sie suggerieren, dass dadurch weniger Menschen aufdiese lebensgefährliche Überfahrt gehen . Das wird nichtklappen . Ja, es gibt grausame Geschäftemacher, dieskrupellos die Not der Menschen ausnutzen, die um ihrLeben fliehen, ja, sie setzen sie auf seeuntüchtige Boote auf die Gefahr hin, dass sie ertrinken, oder stecken sie inhermetisch abgeschlossene Lastkraftwagen, in denen sieersticken . Aber diese Schlepper und ihre Hinterleute sindnicht die Ursache der Flucht, sondern eine ihrer Folgen .Sie bekämpfen die Symptome, statt die Ursachen anzu-gehen .
Ich höre manchmal, dass die Menschen mit Lügenüber ein Leben in Wohlstand hierher gelockt werden . Fürdenjenigen, der tagtäglich um sein Leben bangen muss,der nicht einmal mehr Gras zu essen hat – Sie kennen jadie Berichte aus den belagerten syrischen Städten –, ist esein immenser Wohlstand, nachts ohne Assads Fassbom-ben oder den Terror des IS schlafen zu können und eineregelmäßige Mahlzeit zu bekommen . Es ist doch normal,dass man so einer Hölle entfliehen möchte. Würde das nicht jeder von uns tun?
In meinem Wahlkreis in Pankow hat kürzlich die In-tegrationsbeauftragte über den Ansturm der Menschengeklagt . Wissen Sie, was sie meinte? Sie meinte nichtden Ansturm der Flüchtlinge, sondern den Ansturm derHelferinnen und Helfer in Prenzlauer Berg, Pankow undWeißensee, die in den Kleiderkammern und bei der Es-sensausgabe arbeiten wollen . Sie alle kennen das auchaus Ihren Wahlkreisen .Dieses Bild vom guten Deutschland, dem AngelaMerkel ein Gesicht gegeben hat, zerstören Sie mit diesenEntscheidungen . Dieses Bild wird korrigiert . Wir schi-cken Soldaten an Grenzen .
Wir wollen das individuelle Asylrecht durch willkürlicheFestlegung sogenannter sicherer Herkunftsstaaten ein-schränken . Es soll geringere Leistungen für Menschengeben, die ihr Recht auf Asyl wahrnehmen wollen .Das Schlimmste ist: Es gab ein einvernehmliches Tref-fen des CSU-Vorsitzenden, immerhin dem Vorsitzendeneiner Regierungspartei in Deutschland, mit dem – ichkann es nicht mehr anders sagen – rechtsradikalen Mi-nisterpräsidenten Ungarns .
Wissen Sie, was das für ein Mann ist, mit dem Sie sichda getroffen haben? Wir alle haben das Bild des kleinenAylan gesehen, der tot am Strand von Bodrum gelegenhat . Orban sagt:Die Türkei ist ein sicheres Land . Bleibt dort! Es istriskant, zu kommen . Und wir können nicht garantie-ren, dass ihr hier akzeptiert werdet .Wie kaltherzig kann man eigentlich sein?
Ungarns Regierung schaltet Anzeigen in jordanischenund libanesischen Zeitungen auf Englisch und Ara-
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bisch: Wir Ungarn sind gastfreundlich, aber ergreifendie strengstmöglichen Maßnahmen gegen jene, die ver-suchen, hier illegal einzureisen . – Orban sagt über Men-schen, die um ihr Leben fliehen: Sie klopfen nicht nur an die Tür, sie schlagen dieTür ein . Unsere Grenzen sind in Gefahr, . . . Ungarnund ganz Europa sind in Gefahr .Mit dem heutigen Antrag der Bundesregierung gebenSie Orbans abstoßender Polemik recht . Sie stellen sichgegen die Mehrheit der Menschen in Deutschland, diehier die Flüchtlinge willkommen heißen wollen . Diesesneue Mandat ist der traurige Höhepunkt Ihrer Abschot-tungspolitik . Es werden doch nicht weniger Flüchtlingekommen . Es wird gefährlichere Routen geben, und eswird höhere Preise für diejenigen geben, die fliehen wol-len . Das ist doch alles Irrsinn .
Richten Sie stattdessen eine zivile Rettungsmissionein . Schaffen Sie legale Wege für Menschen, die einfachihr Recht auf Asyl wahrnehmen wollen . Nur so könnenSie den Schleppern die Geschäftsgrundlage entziehen .
Stoppen Sie bitte endlich Waffenverkäufe in Kriegs-und Krisengebiete .
Für den Frieden und dagegen, dass Menschen fliehen müssen, ist das das Beste, was Deutschland tun kann .
Der Kollege Niels Annen spricht als Nächster für die
SPD .
Vielen Dank . – Herr Präsident! Lieber Herr KollegeLiebich, ich glaube, es gibt gar keinen Grund für so vielAufregung, die Sie hier eben inszeniert haben .
Ich habe, weil Sie das allgemein angesprochen haben,trotzdem eine Bitte – darauf lege ich schon Wert -: MeineFraktion hat sich nicht mit Herrn Orban getroffen, undwir haben auch nicht vor, das zu tun .
Wir beraten heute über ein Mandat – manchmal hilftja ein Blick in den Mandatstext –, bei dem es im We-sentlichen darum geht – das hat der Kollege Brauksieperichtig dargestellt –, dass wir das, was unsere Soldatin-nen und Soldaten in den letzten Monaten bereits getanhaben, fortsetzen wollen, nämlich durch die Präsenz derdeutschen Marine dafür zu sorgen, dass Menschen ausSeenot gerettet werden . Etwa 8 000 Menschen sind vonunseren Soldatinnen und Soldaten gerettet worden . Wirwollen, dass das fortgesetzt wird .Der zweite Grund, aus dem wir heute hier zusammen-kommen, ist – mir leuchtet überhaupt nicht ein, wie mansich darüber so sehr aufregen kann –, dass diese nationaleAufgabe, die wir uns gestellt und die unsere Soldatin-nen und Soldaten erledigt haben, jetzt in eine europäi-sche Mission eingebettet wird . Deswegen, Herr KollegeLiebich, muss ich Ihnen bei aller Wertschätzung an die-ser Stelle widersprechen: Diese Bundesregierung – mitUnterstützung der Fraktionen der Großen Koalition – be-kämpft beides: die Fluchtursachen, aber auch die Aus-wirkungen .
Ich finde, es ist nicht besonders redlich, hier einen Wi-derspruch zu konstruieren . Wenn Ihre Annahme richtigwäre, dass wir uns nicht um die Fluchtursachen kümmer-ten, dann könnte man über alles Mögliche reden . Aberdas ist nicht der Fall . Diese Bundesregierung hat geradeMillionen Euro an Extramitteln bereitgestellt und sich inBrüssel dafür eingesetzt, dass jetzt 1 Milliarde Euro mo-bilisiert wird . Unser Außenminister ist, glaube ich, dereinzige westliche Außenminister, der in den letzten Jah-ren mehrfach die Flüchtlingslager in den Nachbarstaatenbesucht hat . Er hat António Guterres zu einer Konferenzeingeladen und dem Hohen Flüchtlingskommissar derVereinten Nationen eine Bühne geboten . Er hat dafür ge-arbeitet – nicht immer auf der Bühne; manchmal auchhinter den Kulissen –, dass finanzielle Zusagen nicht nur gemacht, sondern auch eingehalten werden .Ja, wir sind nicht so weit gekommen, wie wir kommenwollten; niemand beklagt das mehr als ich . Aber jetzt ha-ben wir in dieser Frage ein Momentum . Ich glaube, wirbekommen hier etwas hin . Es gibt auch wieder politischeBewegung . Aber eines muss man sehr klar sagen: Wersich hier hinstellt und sagt: „Wir müssen die Fluchtur-sachen bekämpfen; wir brauchen einen regionalen Blickauf die Krise und einen umfassenden Ansatz“, dem wür-de ich immer sagen: Genau das ist es, worum wir unsjeden Tag bemühen .
Da werden manchmal Fehler gemacht . Das reicht auchnicht immer aus . Auch das ist richtig; daher diskutierenwir hier darüber . Aber die Finanzierung der Flüchtlings-lager in Syriens Nachbarländern gehört genauso zur Ur-sachenbekämpfung wie die Operation, über die wir hierund heute miteinander diskutieren .Nun zu der Frage: Wer nimmt eigentlich Flüchtlin-ge auf? In Deutschland haben wir Hunderttausende vonMenschen aufgenommen . Ich glaube, wir sind uns alleeinig: Es ist eine großartige Leistung der Bürgerinnenund Bürger in diesem Land, aber auch der öffentlichenVerwaltung, der Kommunen, der Landesregierungen undStefan Liebich
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des Bundes, dass wir das gemeinsam und miteinanderhinbekommen .
Dazu gehört aber auch, dass wir in einer europäischenDimension nicht nur über Quoten reden – ich hoffe, auchda machen wir langsam Fortschritte –, sondern auch denLändern, die von diesem Unglück ganz besonders betrof-fen sind, helfen .
Kollege Annen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Neu?
Selbstverständlich, Herr Präsident .
Herr Kollege Annen, wir haben jetzt mehrfach den Be-
griff „Fluchtursachen“ gehört . Ich habe von Ihnen aber
noch keine konkrete Fluchtursache genannt bekommen,
außer dass die Flüchtlingslager im Nahen Osten eine Ur-
sache sein könnten . Aber es dürfte doch wesentlich mehr
dazugehören . Im Übrigen habe ich den Eindruck, dass
die Flüchtlingslager im Nahen Osten nicht die tatsächli-
che Ursache, sondern auch ein Symptom sind . Vielleicht
können Sie das etwas präzisieren .
Ja, das kann ich sehr gerne machen, Herr Kollege . –Ich glaube, wer die Entwicklung der letzten Wochenund Monate durch Zeitungslektüre aufmerksam verfolgthat – ich empfehle ja immer ein Qualitätsprodukt ausmeinem Wahlkreis, die Tagesschau –, der wird sicherlichwissen, dass die desaströse Lage in den Flüchtlingslagerneine Ursache ist . Inzwischen ist, glaube ich, allgemeinbekannt – darüber bin ich übrigens froh –, dass die finan-ziellen Mittel des Welternährungsprogramms nicht mehrausreichen, um die etwa 30 Dollar pro Monat zu bezah-len . Wir liegen aktuell bei etwa 13 Dollar pro Monat .Viele Familien haben keine Perspektive mehr . Da eskeine Perspektive gibt, während des Krieges in das Hei-matland Syrien zurückzukehren, richtet man sich natür-lich in Richtung Europa aus; das ist auch nachvollzieh-bar .Es gibt aber auch Gründe, die wir nicht unmittelbar be-einflussen können. Das Assad-Regime ist in den letzten Monaten mili-tärisch unter Druck geraten . Das bedeutet – das werdenSie sicherlich auch verfolgt haben, Herr Kollege Neu –,dass inzwischen auch im Kernland des Assad-Regimesgekämpft wird . Ich weiß nicht, ob Sie sich mit der Lagein Syrien beschäftigt haben, aber bei einem Blick auf dieLandkarte werden Sie sehr schnell feststellen, dass dieGebiete, die Assad kontrolliert, die Gebiete in Syriensind, in denen die meisten Menschen leben . Das heißt,der Krieg, den der IS führt, betrifft nur einen relativ klei-nen Teil der Bevölkerung .Es gibt also ein Zusammentreffen von unterschiedli-chen Ursachen: die Kampfhandlungen, eine Unterfinan-zierung und eine Perspektivlosigkeit . Ich glaube, all dashat mit dazu beigetragen, dass wir heute eine solche Si-tuation haben .Ich denke, damit ist meine Antwort beendet, und Siedürfen sich gerne wieder hinsetzen .Ich komme nun zu dem Thema, auf das ich sowiesozu sprechen kommen wollte: Es gibt in der gesamtennordafrikanischen Region – vor allem aber in Libyen –eine Destabilisierung . Diese hat dazu geführt, dass esin Libyen nach der Intervention keine funktionierendenstaatlichen Strukturen mehr gibt . Ich will an dieser Stelleeinmal sagen: Hier geht es auch um die Bekämpfung vonFluchtursachen, Herr Kollege Liebig .Unser Außenminister hat mit vielen hochengagier-ten Kolleginnen und Kollegen im Auswärtigen Amt Tagund Nacht daran gearbeitet, dass der UN-Vermittler un-terstützt wird . Wir haben jetzt einen Vertragstext für einÜbereinkommen, das – ich will es vorsichtig formulie-ren – die Chance zu einer Einheitsregierung eröffnet . Wirmüssen alles dafür tun, dass diese Chance ergriffen wird;
denn nur eine Einheitsregierung in Libyen versetzt uns indie Lage, am Ende wieder staatliche Strukturen in diesemLand aufzubauen . Das wird natürlich nicht von heute aufmorgen gehen .Da wir heute über die Operation EUNAVFOR MEDsprechen, die sich übrigens auf die internationalen Ge-wässer bezieht – auch das hat der Staatssekretär hier ja zuRecht erwähnt –, müssen wir hier natürlich auch erwäh-nen – wir tun das im Übrigen auch; wir verschweigen dasja nicht –, dass wir das Problem nicht allein durch einemilitärische Operation der europäischen Partner in denGriff bekommen, sondern dass wir in Nordafrika wiedereine Staatlichkeit brauchen .Es geht natürlich auch um die Schleuserbekämpfung .Herr Kollege Liebig, ich finde, man darf das, was dort passiert, nicht relativieren . Dort werden Leute in nichtmehr seetüchtigen Booten geradezu gestapelt . Diejeni-gen, die oben einen Platz bekommen, haben am meistenbezahlt, und diejenigen, die unten sitzen, haben mögli-cherweise überhaupt keine Überlebenschance . Wir redenhier also über keine Banalität .Um die Chance zu nutzen, diese Kriminalität wirk-lich nachhaltig zu bekämpfen, brauchen wir polizeilicheMaßnahmen . Diese können wir aber erst dann gewähr-leisten, wenn es dort wieder staatliche Strukturen gibt .Deswegen hängt das alles miteinander zusammen . Ichglaube, es ist der Sache und auch der Arbeit unserer Sol-datinnen und Soldaten nicht angemessen, das so zu ver-einfachen, wie Sie es getan haben .
Ich danke für die Aufmerksamkeit .
Niels Annen
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Das Wort hat der Kollege Omid Nouripour für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unab-hängig davon, wie wir zu einzelnen Einsätzen stehen, istes hier eine gute Tradition, dass wir denjenigen, die wiram Ende des Tages entsenden – mit welchen Stimmen-verhältnissen auch immer –, für ihren Einsatz danken .Ich möchte an dieser Stelle etwas Persönliches sagen,weil mich das sehr ergriffen hat: Vor ziemlich genau48 Stunden war ich in Erbil, und ich habe den deutschenKontingentführer dort getroffen, der dort auch die Aus-bildung des Peschmerga verantwortet hat . Wenige Stun-den danach ist er leider Gottes verstorben . Ich glaube,dass das für seine Familie unheimlich hart sein muss . Ichkann mir das gar nicht vorstellen . Ich glaube, es ist wich-tig, dass von dieser Stelle aus auch ein Zeichen des Mit-gefühls an sie ergeht. Wir können nicht nachempfinden, wie es der Familie und den Angehörigen geht .Nun zur Sache: Herr Staatssekretär, das ThemaFluchthelfer hatte bei Ihnen aus meiner Sicht einen et-was komischen Zungenschlag . Es gibt Fluchthelferinnenund Fluchthelfer, die eine unglaubliche Arbeit leisten,und zwar jeweils auch in dem eigenen Land – jenseitsder Legalität . Das sind Leute – das ist jetzt angemerktworden –, die vor 26, 27 Jahren in diesem Land noch einBundesverdienstkreuz erhalten hätten . Ich kenne solcheLeute im In- und Ausland und bin dankbar, dass sie inunmöglichen Situationen den Menschen beim Überlebenhelfen. Ich finde, auch das muss man hier sagen, auch wenn viele der Leute, die im Mittelmeer tätig sind, nichtunter diese Kategorie fallen .Das ist zweifelsfrei so . Es gibt also schon einen großenUnterschied zwischen Fluchthelfern und Schleppern . Ichfinde, dass das auch betont werden muss. Ich würde mich wirklich freuen, wenn ein Vertreter der Bundesregierungdas irgendwann einmal an irgendeiner Stelle zum Aus-druck bringen würde .
Das vorliegende Mandat stellt eine Symptombekämp-fung dar . Es ging hier schon ein paar Mal um Symptom-bekämpfungen . Denen haben wir – zum Beispiel amBeginn von Atalanta – zugestimmt . Es muss aber immerklar sein, welcher politische Rahmen existiert, und esmuss klar sein, wie man das Problem denn eigentlich an-gehen will .Wenn man gegen das Geschäftsmodell der Schlepperim Mittelmeer, unter denen – ich sage es noch einmal –sich sehr viele Schwerkriminelle befinden, vorgehen will, dann muss man natürlich auch legale Wege finden. Dabei geht es zum Beispiel um das Resettlement . Man muss na-türlich auch über eine Einwanderungsgesetzgebung bzw .darüber nachdenken, wie man Einwanderung regulierenkann . Natürlich muss man ebenfalls darüber nachdenken,wie man den Nachbarstaaten helfen kann . Der KollegeAnnen hatte ja mit der Antwort, die er gerade gegebenhat, völlig Recht . Er hat davon gesprochen, wie es in denLagern aussieht und dass es für die Menschen dort nichtauszuhalten ist . Natürlich müssen wir alles daran setzen,dass die Nachbarstaaten stabil sind und dass die humani-täre Hilfe auch kommt .Ich schaue mir jetzt einmal das Umfeld und das, wasSie vorlegen, an: Das CDU-Präsidium hat beschlossen,dass ein Einwanderungsgesetz sinnvoll ist . Es will nach2017 darüber beraten . Das wurde komplett vertagt . AlsoFehlanzeige!Ich komme zur Transparenz: Wir müssen doch wis-sen, worüber wir als Parlament abstimmen . Wir müssendoch wissen, was die Bundeswehr darf und nicht darf .Wir müssen doch überprüfen können, ob das Refoule-ment-Verbot wirklich eingehalten wird . Das heißt, dassMenschen, die dort ankommen oder in internationalenGewässern aufgegriffen werden, auch Asylanträge stel-len können . Das kann die Bundesregierung – auch aufNachfrage nicht – gar nicht nachprüfen . Mir liegt hier dieAntwort der Bundesregierung auf eine Anfrage meinesKollegen Jürgen Trittin vor . Dort wird einfach nur – umes mit meinen Worten zu sagen – festgestellt: Na ja, wirwissen es nicht so genau .Um das aber zu wissen, müssen wir in den Operati-onsplan gucken können . Das war bisher bei jedem Man-dat üblich gewesen . Der Operationsplan lag schön bravin der Geheimschutzstelle . Man ist dorthin gegangen undhat sich ihn angeguckt . Aus irgendeinem Grund – nachvielen Nachfragen – weigert sich die Bundesregierungeinfach, uns den Plan zu zeigen . Das ist nicht unbedingtein Vertrauensvorschuss . Damit können wir hier nicht ar-beiten .
Herr Staatssekretär, Sie haben doch gerade gesagt,dass die Seenotrettung natürlich weitergeht . Das ist rich-tig so . Wir haben aber Zahlen, welche die Frau Kolle-gin Brugger erfragt hat . In zwei Monaten wurden 6 000Menschen gerettet . Danach gab es in der Statistik einenBruch . Der trat in dem Augenblick ein, als nicht mehr dasnationale Kommando, sondern das EU-Kommando galt .Seit dem wurden in zweieinhalb Monaten 2 500 Men-schen gerettet . Die Zahl ging also von 6 000 auf 2 500herunter . Das zeigt eindeutig, dass da andere Dinge Prio-rität haben . Wenn man richtig hört, geht es jetzt in ersterLinie um Aufklärung und nicht nur um Seenotrettung .Auch das ist eine Prioritätensetzung, mit der wir einfachnicht leben können .Genauso steht es auch um das gesamte Krisenmanage-mentkonzept . Wir sind jetzt bei Phase 2 i) . Die Phase 1betraf die Seenotrettung . Wir waren – mit den Konse-quenzen, die ich gerade beschrieben habe – dafür . Jetztsteht Phase 2 i) an . Dabei geht es um die Bekämpfung derSchlepper . Die Bundesregierung hat in Brüssel ja längstden weiteren Phasen – also 2 ii) und 3 ii) – zugestimmt .Dabei geht es um die libyschen Häfen bzw . um die Frage,was man dort tun soll .
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Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn Sie in Libyen eineEinheitsregierung haben wollen, dann sollten Sie, wie esder Kollegen Annen gerade völlig zu Recht beschriebenhat, vielleicht auch einmal auf die Stimmen von Libyenhören . Die klingen nicht unbedingt so, als ob irgendeineder beiden Regierungen davon begeistert wäre, dass jetztdemnächst Schiffe in Häfen versenkt werden sollen, beidenen man tagsüber aus der Luft nicht sehen kann, ob dasein Schlepperboot oder ein Schleuserboot ist . Von daherkann das einfach nicht funktionieren .Man hat auch nicht das Gefühl, dass es für die Opti-on, an Land gegen Schleuser vorzugehen, in Libyen einegroße Begeisterung gibt . Jetzt wird es spannend: Es sollteja im Sicherheitsrat ein Mandat dafür geben . Wenn mansich aber anschaut, wie die afrikanischen Vertreter dort –Angola, der Tschad und Nigeria – dazu stehen, erkenntman: Alle drei Länder lehnen dieses Ansinnen höchstvehement ab . Von daher muss man eigentlich sagen: Esgeht nicht nur um das Binnenverhältnis zwischen Schlep-pern und EU, sondern es gibt im Übrigen auch noch einpaar lokale Akteure . Deren Stimme bzw . Zustimmunghaben Sie aber nicht .
Herr Nouripour, bitte, versuchen Sie jetzt, einen Punkt
zu setzen .
Ich komme zum letzten Punkt: Wenn nicht noch ein
Wunder passiert, wenn das Mandat so bleibt, wenn Sie
uns den Operationsplan nicht vorlegen und weiterhin so
argumentieren, wie Sie es tun, kann ich meiner Fraktion
leider Gottes bei aller Ablehnung des Geschäftsmodells
der Schlepper nur empfehlen, dieses Mandat abzulehnen .
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Jürgen
Hardt das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Nouripour, in der gegenwärtigen Situation gilt dashumanitäre Gebot: Wir müssen verhindern, dass Men-schen im Mittelmeer ertrinken . Das können wir zumeinen dadurch tun, dass wir diese Menschen aus denseeuntüchtigen Booten retten, mit denen sie von denSchleppern fahrlässigerweise aufs Meer hinausgeschicktwerden . Das können wir zum anderen dadurch tun, dasswir verhindern, dass Schlepper diese Menschen mit fal-schen Versprechungen und unter Verharmlosung des Ri-sikos in diese Boote locken und damit in Lebensgefahrbringen .Ich glaube, dass in diesem Einsatz, sowohl so, wieer bisher in Stufe 1 abgelaufen ist, als auch so, wie erjetzt geplant ist, genau diese Kombination vorgesehenist . Es geht darum, Menschen zu retten . Nach heutigemStand konnten durch Schiffe der deutschen Marine 8 030Menschen gerettet werden . Es geht auch darum, zu ver-hindern, dass dieser äußerst gefährliche, für viele leidertödliche Weg beschritten wird .Frau Brugger hat – darüber haben wir im Bundestagnicht debattiert – zu diesem Thema mit Spiegel Onlinegesprochen, was wir natürlich alle lesen werden . Ichglaube nicht, dass der Einsatz der Stufe 2 i), wie er jetztvon der Bundesregierung in diesem Antrag beschlossenwerden soll, dazu führen wird, dass weniger Flüchtlingegerettet werden .
Erstens . Die Zahl der Schiffe, die unter EU-Mandatfahren, wird sich von vier auf acht erhöhen . Zweitens .Die Zahl der Schiffe, die auf andere Weise zur Rettungbeitragen, hat in der letzten Zeit zugenommen, sodassmöglicherweise die Notwendigkeit, dass MarineschiffeFlüchtlinge aufnehmen müssen, nicht mehr in dem Maßegegeben ist, wie das in der Anfangsphase der Fall war . Esist allerdings auch so, dass das Wetter im Herbst strengerwird und dass es dann offensichtlich wird, wie gefährlicheine Flucht auf dem Meer ist, und vielleicht auch deswe-gen der eine oder andere davor zurückschreckt .Ich möchte den Blick auf das wenden, was wir in derEU auch noch vereinbart haben . Wir haben gesagt: Wennes eine libysche Regierung gibt – es liegt jetzt ein Frie-densvertrag vor, der von den Parlamenten in Tobruk undTripolis abgesegnet werden muss, was vielleicht bald ge-schehen wird –, mit der wir zusammenarbeiten können,dann werden wir sicherlich auch darüber nachdenken,ob wir weitergehen und die Stufe 2 ii), so ist es offiziell formuliert, und dann gegebenenfalls die Stufe 3, also einkonkreter Einsatz vor der libyschen Küste, umsetzen .Das ist im Grunde das, was wir anstreben, nämlichden Flüchtlingen ein sicheres Zuhause jenseits des Mit-telmeers zu geben . Wir möchten ihnen zusichern können,dass ihrem Antrag auf Schutz vor politischer Verfolgungim Einvernehmen mit der libyschen Regierung entspro-chen wird . So können wir vermeiden, dass diese Men-schen nach Europa kommen müssen, um hier ihren An-trag zu stellen .Ich glaube, Ihre Ablehnung und Ihre Skepsis gegen-über dem Antrag der Bundesregierung fußen ganz we-sentlich darauf, dass Sie wissen: Wenn Sie heute zustim-men, wird es bei einem späteren Antrag, der vielleichtin wenigen Wochen oder Monaten vorliegen wird, nochschwieriger, Nein zu sagen . Ich glaube, dass wir diesenWeg konsequent weitergehen sollten, um zu vermeiden,dass Menschen im Mittelmeer ertrinken .Ich möchte an dieser Stelle noch ergänzen, dass wirdie Bemühungen der Bundesregierung, die Mittel derUN-Ernährungsprogramme zur Versorgung von Flücht-lingen deutlich aufzustocken, damit es nicht zu finanzi-ellen Engpässen kommt, welche zu einer erneuten Fluchtund zu einer Verunsicherung der Menschen führen, mas-siv unterstützen . Wir stellen uns aber schon die Fragen:Omid Nouripour
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Wie konnte es so weit kommen? Wie können wir dieStrukturen der UN und ihrer Tochterorganisationen op-timieren und verbessern?
Kollege Hardt, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-
kung der Kollegin Keul?
Ja, gerne .
Vielen Dank, Herr Kollege . – Sie haben eben gesagt:
Wir werden in wenigen Wochen mit der Stufe 3, also mit
der Erteilung eines Mandats, vor der libyschen Küste
tätig zu werden, zu rechnen haben . Die Lage in Libyen
sieht nicht gerade rosig aus .
Sie wissen, dass Sie dafür eine völkerrechtliche Grund-
lage brauchen . Haben Sie irgendwelche Anhaltspunkte
dafür, dass Russland sich in diesem Zusammenhang ir-
gendwie bewegen wird und es im UNSicherheitsrat hier-
zu eine Einigung geben wird?
Zunächst einmal habe ich meine Erwartung zum Aus-
druck gebracht, dass wir in dem Fall, dass es eine legi-
time libysche Regierung gibt, gemeinsam über weitere
Schritte nachdenken können und dass wir dann auch kon-
sequenterweise, weil wir in der EU einen Mehrstufen-
plan vereinbart haben, die weiteren Schritte gehen .
Man könnte sich in diesem Fall zuallererst vorstellen,
dass die libysche Regierung uns einlädt, dies zu tun . Wir
werden jetzt im Rahmen der Stufe 2 i) zwar die Schlepper,
die wir identifizieren, erkennungsdienstlich behandeln,
aber wir werden sie nicht an eine libysche Regierung zu
einer weiteren strafrechtlichen Verfolgung übergeben .
Ich glaube, dass es zunächst dazu kommen wird, dass wir
auf Einladung einer libyschen Regierung gegebenenfalls
mit ihr zusammenarbeiten und mit ihr gemeinsam das
Schlepperwesen bekämpfen und vor allem – das ist mei-
nes Erachtens noch viel wichtiger – gemeinsam zu einem
Weg kommen, wie mit den Flüchtlingen auf libyschem
Boden in humanitärer Hinsicht vernünftig umgegangen
werden kann .
Ich war bei den Programmen der Vereinten Nationen
stehen geblieben . Wir erleben jetzt, dass die Bundesre-
gierung dabei konsequent vorangeht . Sie hat auch schon
vor einigen Monaten in Berlin eine Konferenz einberu-
fen. Trotzdem finde ich es unbefriedigend, dass wir bei
den Vereinten Nationen nicht zu Strukturen kommen, die
dafür sorgen, dass wir erst gar nicht in eine solche Situ-
ation geraten. Ich finde, es muss klare Vereinbarungen
und Frühwarn- und Vorwarnmechanismen geben, die das
verhindern . Im 70 . Jahr der Vereinten Nationen sollten
die Vereinten Nationen so weit entwickelt sein, dass die
großen Hilfsprogramme nicht von der Hand in den Mund
leben müssen . In diesem Sinne wünsche ich mir, dass wir
uns gemeinsam dafür einsetzen .
Danke schön .
Der Kollege Dr . Fritz Felgentreu hat für die SPD-Frak-
tion das Wort .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Lieber Kollege
Jürgen Hardt, ich denke, es ist auch in Ihrem Sinne, wenn
ich an dieser Stelle auch im Namen des Verteidigungsaus-
schusses ganz allgemein den Männern und Frauen vom
Tender „Werra“ und von der Fregatte „Schleswig-Hol-
stein“ für ihren großartigen Einsatz im Mittelmeer und
vor allen Dingen auch für die humanitäre Wirkung dieses
Einsatzes danke, die heute bereits mehrfach angespro-
chen worden ist . Das möchte ich hiermit gerne tun .
Die Linke hat kritisiert, dass wir mit der Erweiterung
und dem Eintritt in die Phase 2 des Einsatzes auch ein
politisches Bekenntnis dazu ablegen, die Schleuserkri-
minalität zu bekämpfen . Ich möchte dieses politische
Bekenntnis gerne noch einmal ausdrücklich unterstrei-
chen . Die Tatsache, dass es sich bei der Bekämpfung von
Schleuserkriminalität in der Tat um Symptombekämp-
fung handelt, heißt doch nicht, dass es nicht sinnvoll ist,
diese Symptome zu bekämpfen .
Die Schleuser im Mittelmeer nutzen mit krimineller
Intention die Notlage der Menschen aus und setzen deren
Not manipulativ ein, um selber viel Geld zu verdienen und
die Europäer zu einem humanitären Einsatz zu zwingen .
Diese Art der Herangehensweise verdient es, bekämpft
zu werden . Wenn dafür der EUNAVFOR-MED-Einsatz
ein effektives Mittel ist, dann müssen wir unbedingt zu
diesem Mittel greifen .
Das heißt nicht – ich glaube, das ist der Punkt, über
den wir eigentlich reden müssen –, dass wir die Bekämp-
fung der Fluchtursachen deswegen aufgeben . Das eine
ist die Ebene der Symptombekämpfung, um die wir uns
auch im Sinne einer europäischen Solidarität kümmern
müssen . Das andere ist die Frage, wie wir damit umge-
hen können, damit in Zukunft weniger Menschen den
Wunsch entwickeln, den gefährlichen Weg der Flucht
über das Mittelmeer zu gehen .
Kollege Felgentreu, gestatten Sie eine Frage oder Be-
merkung des Kollegen Liebich?
Selbstverständlich, gerne .Jürgen Hardt
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Herr Kollege Felgentreu, selbstverständlich hat die
Linke gar nichts dagegen, dass Kriminalität bekämpft
wird . Unser Argument war, dass die Bekämpfung, wie
Sie sie vorschlagen, aussichtslos sein wird . Denn solange
die Grenzen geschlossen sind, wird es immer Leute ge-
ben, die versuchen, illegal über die Grenzen zu kommen .
Mich würde interessieren, was Sie zu diesem Argument
sagen .
Dann habe ich noch eine Frage:
Finden Sie nicht auch, dass die Bekämpfung von Krimi-
nalität Aufgabe der Polizei und nicht der Armee ist?
Sie kommen auf einen Punkt zu sprechen, auf den ich
in meiner Rede gerade eingehen wollte . Eines ist doch
vollkommen klar: Wenn wir erreichen wollen, dass die
Menschen nicht mehr den Wunsch haben, über eine ge-
fährliche Flucht nach Europa zu gehen, dann müssen wir
die Fluchtursachen bekämpfen . Die Bekämpfung der
Fluchtursachen erreichen wir nicht, indem wir die Krimi-
nellen bekämpfen, die die Not der Flüchtlinge ausnutzen .
Das ist aus meiner Sicht ein völlig klarer Zusammen-
hang . Insofern brauchen wir eine Strategie, die an allen
Punkten ansetzt .
Die Grenzsicherung in Europa ist ebenfalls eine mi-
litärische Aufgabe . Dass diese im Rahmen des EUNAV-
FOR-MED-Einsatzes auch von der Bundeswehr wahrge-
nommen wird, halte ich für eine Selbstverständlichkeit .
Bei der Bekämpfung der Fluchtursachen müssen wir
allerdings wesentlich tiefer ansetzen . Dazu gehört na-
türlich auch der Vorschlag der Grünen, legale Wege der
Einwanderung zu schaffen . Ich würde an diesem Punkt
gerne weitermachen, erspare Ihnen aber, das im Rahmen
meiner Antwort zu tun .
Herr Nouripour, Sie haben vollkommen recht – die
SPD-Fraktion hat sich bereits mehrfach in diesem Sin-
ne geäußert –, dass die legalen Wege der Einwanderung
ausgeweitet werden müssen . Das wollen wir auch tun .
Deswegen wollen wir gerne ein Einwanderungsgesetz
schaffen . In einem Punkt glaube ich allerdings nicht,
dass dies weit genug trägt . Die bloße Möglichkeit einer
legalen Einwanderung wird niemals so ausgestaltet wer-
den können, dass sie den gesamten Druck nimmt . Wenn
wir legale Wege der Einwanderung schaffen, die für die
einzelnen Menschen mit unerträglich langen Wartezeiten
verbunden ist, dann wird es trotzdem viele Menschen
geben, die den gefährlichen Weg der Flucht weitergehen
wollen . Deswegen kann das nur ein Baustein einer Stra-
tegie sein und niemals die gesamte Strategie ersetzen .
Der heute bereits mehrfach gegebene Hinweis auf
den Zusammenbruch der staatlichen Ordnung in Libyen
ist wichtig . Hier nähern wir uns einem Punkt an, über
den wir bei der Bekämpfung der Fluchtursachen zu we-
nig diskutiert haben . Wir haben über die unerträglichen
Verhältnisse in den Lagern und die Tatsache gesprochen,
dass das Leben in Libyen unsicher geworden ist . Wenn
wir aber den Blick über Libyen hinaus richten, dann se-
hen wir, dass überall dort, wo Menschen in dem tödli-
chen Dreieck aus organisierter Kriminalität, Terror und
Korruption versuchen müssen, ein Leben aufzubauen,
eine echte Perspektive nicht entstehen kann . Es ist ge-
rade diese Perspektivlosigkeit, die anständige Menschen
in die Flucht treibt . Deswegen meine ich, dass wir als
Europäer auf ganz andere Weise als bisher – konsequen-
ter und stringenter – und mit größerer Bereitschaft die
Machtmittel, über die wir verfügen, bei der Bekämpfung
der organisierten Kriminalität und der Korruption einset-
zen müssen . Da haben Sie vollkommen recht, Herr Kol-
lege Liebich: Das wird eher die Aufgabe der Polizei, von
Interpol und Europol, sein als die der Bundeswehr . Aber
wir müssen es tun .
Wir dürfen nicht nur die Schleuser verhaften, die Boo-
te über das Mittelmeer steuern . Vielmehr müssen wir
auch die Geldströme offenlegen, die durch die Schleu-
serkriminalität generiert werden . Wir müssen das Geld,
das damit verdient wird, beschlagnahmen . Wir müssen
internationale Haftbefehle gegen die für solche Schleu-
seraktivitäten verantwortlichen Hintermänner ausstellen
können, die an vielen Stellen als scheinbare Ehrenmän-
ner ihrer Arbeit nachgehen und die wir als Ansprech-
partner nicht gebrauchen können . Das ist der eigentliche
Punkt . Die Bekämpfung von Fluchtursachen setzt an vie-
len Stellen an . Armutsbekämpfung ist eine davon .
Letzter Hinweis . Kollege Nouripour, Sie haben be-
mängelt, dass der Operationsplan bislang nicht vorliegt .
Damit haben Sie natürlich recht . Aber er soll im Laufe
dieser Woche eingehen . Es ist sicherlich eine Selbstver-
ständlichkeit, dass man in den Ausschüssen nicht ver-
nünftig über EUNAVFOR MED diskutieren kann, wenn
man keinen Zugang zum Operationsplan hat . Sie haben
auch gesagt, Sie könnten so nicht darüber abstimmen . Sie
müssen aber auch noch nicht darüber abstimmen . Heu-
te ist die erste Beratung . Seien Sie versichert: Bis zur
Abstimmung wird die Bundesregierung auch in diesem
Punkt ihre Hausaufgaben gemacht haben, sodass wir
dann eine vernünftige Beratungsgrundlage haben .
Ich danke Ihnen für Ihre Geduld .
Der Kollege Florian Hahn hat für die CDU/CSU-Frak-
tion das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!135 000 Flüchtlinge und Wirtschaftsmigranten sind inden ersten drei Wochen im September 2015 in Bayernangekommen . Das sind mehr als im gesamten Jahr zuvor .Das fordert von unseren Behörden, von den Beam-ten, von der Polizei, von den vielen Ehrenamtlichen, vonOrganisationen wie den freiwilligen Feuerwehren, vomTHW, von anderen Rettungsdiensten und vor allem auchvon unseren kommunalen Entscheidungsträgern, denbayerischen Landräten, den bayerischen Bürgermeistern,unglaubliche Kraft, Kreativität und Courage . Denn dieMenschen müssen erstversorgt und untergebracht wer-den . Außerdem müssen sich gerade die Kommunalpoliti-
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ker bei unzähligen Bürgerversammlungen, bei Interviewsmit den Lokalmedien und in direkten Gesprächen mit denzunehmend besorgten Bürgern auseinandersetzen, diesich fragen, wie das alles weitergehen soll . Ich möchtedeshalb ausdrücklich der Bundeskanzlerin danken, dasssie für den kommenden Montag ein Gespräch mit denbayerischen kommunalen Spitzenverbänden zugesagthat . Das ist ein gutes Zeichen . Das zeigt, dass wir uns inder Bundespolitik dieser Belastung vor Ort bewusst sind .Der Zustrom Hunderttausender Menschen nach Euro-pa, nach Deutschland, fordert die Politik, also uns alle,auf allen politischen Ebenen . Die CSU hat in einem Pa-pier ihres außen- und sicherheitspolitischen Arbeitskrei-ses am 5 . September dieses Jahres und heute mit einerErklärung ihrer Landtagsfraktion zu diesem Thema zahl-reiche Lösungsideen ausgearbeitet .Um auch in Zukunft den Menschen, die Hilfe am drin-gendsten benötigen, zeitnah und direkt helfen zu können,sind aus unserer Sicht folgende Punkte unerlässlich: Wirmüssen den Zustrom insgesamt eindämmen .
Wir brauchen mehr europäische Solidarität, und wirmüssen nationale Handlungsspielräume ausschöpfenund schaffen . Übrigens, wenn wir über mehr europäischeSolidarität reden und diese erreichen wollen, dann müs-sen wir feststellen: Diese Solidarität erreicht man nicht,wenn wir andere Regierungschefs beschimpfen . Viel-mehr müssen wir mit anderen Regierungschefs sprechen,und genau das hat die CSU getan .
Wenn Sie von der Linken konsequent wären, dannwürden Sie auch Herrn Tsipras beschimpfen, der offen-sichtlich wieder bereit ist, mit den finsteren Nationalisten in Griechenland zu paktieren . An dieser Stelle höre ichbei Ihnen irgendwie gar nichts .Aber wenn es darum geht, die Dinge anzupacken,dann geht es auch darum, Asylmissbrauch abzustellen,
Verfahren zu beschleunigen und bleibeberechtigteFlüchtlinge zu integrieren, auszubilden und sie mögli-cherweise auch auf die Zeit nach dem Bürgerkrieg in ih-rer Heimat vorzubereiten . Außerdem müssen wir, wo wirdies können, Fluchtursachen und Schleuserkriminalitätbekämpfen . Vieles, was diese Woche entschieden wurdebzw . noch vorbereitet und entschieden wird, geht in dierichtige Richtung und wird dem gerecht .Das sehen wir auch bei der Mission EUNAVFORMED, deren Ziel es ist, die kriminellen Aktivitäten derMenschenschleuser im Mittelmeer vor der nordafrikani-schen Küste zu bekämpfen . Diese Mission war bislangerfolgreich, nicht nur, weil es den Besatzungen deutscherSchiffe gelungen ist, mehr als 800 000 Menschen vonhochseeuntauglichen Kähnen und Schlauchbooten zuretten, sondern auch, weil es möglich war, wichtige In-formationen über die Organisationen der Schleusernetz-werke im Mittelmeer, über ihre Routen und über ihreTaktiken zu sammeln .An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an die Sol-datinnen und Soldaten der Marine .
Ich konnte mir mit Kollegen vor Ort auf der Fregatte„Schleswig-Holstein“ einen Eindruck davon verschaf-fen, welchen physischen und psychischen Belastungenunsere Frauen und Männer bei einer solchen Seenotret-tung ausgesetzt sind . 10 bis 16 Stunden dauert eine sol-che Evakuierung . Die Soldaten stecken während dieserZeit bei hohen Außentemperaturen gerade im Sommer inGanzkörperschutzanzügen, müssen dafür sorgen, dass eszu keinen Tumulten kommt, dass Flüchtlinge nicht insWasser fallen und ertrinken und dass sie sich selbst nichtin Gefahr bringen . Ich habe vor dieser Leistung aller-höchsten Respekt .
Jetzt ist es sinnvoll, zügig in die Phase 2 i) dieserOperation einzutreten und die Bewegungsfreiheit derSchleuser einzuschränken, um deren kriminellen Akti-onen Grenzen setzen zu können. Dabei findet natürlich weiter Seenotrettung statt; das ist doch gar keine Frage .Aber der Einsatz bewaffneter Streitkräfte ist auf mittlereSicht sinnvoll, wenn der Schwerpunkt tatsächlich auchauf die Bekämpfung der Schleuseraktivitäten übergeht .Dazu wird mit diesem neuen, erweiterten Mandat ein ent-scheidender Schritt getan . Deswegen ist dieses Mandatabsolut sinnvoll .Herzlichen Dank .
Ich schließe die Aussprache .Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/6013 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall . Dann ist die Überweisungso beschlossen .Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Keul,Luise Amtsberg, Volker Beck , weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENGesetzliche Grundlage für Angehörigenschmer-zensgeld schaffenDrucksache 18/5099Überweisungsvorschlag:Florian Hahn
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Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .Ich bitte, die notwendigen Umgruppierungen in denFraktionen zügig vorzunehmen .Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat die KolleginKatja Keul für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Während der
Sommerpause haben wir erlebt, wie sich die Auseinan-
dersetzung zwischen der Lufthansa und den Opferanwäl-
ten hinsichtlich der Entschädigung der Hinterbliebenen
der Opfer des Flugzeugabsturzes verschärfte . Die Luft-
hansa hat den Angehörigen einen Betrag angeboten, in
dem unter anderem die Trauer der nächsten Angehörigen
mit 10 000 Euro bemessen wurde . Das haben nun einige
als unangemessen zurückgewiesen .
Ich will hier und heute auch nicht darüber debattie-
ren, welcher Betrag für den Verlust eines Angehörigen
angemessen ist oder nicht . Das Problem im deutschen
Recht ist ein ganz anderes . Danach steht den Angehöri-
gen nämlich gar kein eigener Schmerzensgeldanspruch
zu; es stehen ihnen also genau 0,00 Euro zu . Sie müssten
durch die Trauer erst selbst krank werden; dann würden
sie entschädigt . Bei – in Anführungszeichen – normaler
Trauer besteht kein Rechtsanspruch . Alles, was die Luft-
hansa hier angeboten hat, ist reine Kulanz .
Das gilt nicht nur in Fällen der gesetzlichen Gefähr-
dungshaftung, wie sie für eine Fluggesellschaft oder
den Halter eines Kfz gilt, sondern auch bei schuldhaf-
tem Handeln . Das heißt: Auch dann, wenn Sie jemanden
töten, egal ob vorsätzlich oder fahrlässig, brauchen Sie
keinen Cent an die Angehörigen zu zahlen . Teuer wird es
nur, wenn das Opfer mit seinen Schmerzen überlebt . Ich
will es mal etwas krasser formulieren: Sollten Sie einen
Menschen überfahren haben, setzt das deutsche Zivil-
recht den Anreiz, noch mal zurückzusetzen und die Sa-
che zu Ende zu bringen . Das sollten wir als Gesetzgeber
so nicht stehen lassen .
Wenn ich einen Arm oder ein Bein verliere, habe ich
erhebliche Schmerzen . Wenn ich mein Kind verliere,
habe ich auch Schmerzen . Es wird Ihnen vielleicht so
gehen wie mir: Ich würde eher einen Arm oder ein Bein
hergeben als das Leben meines Kindes . – Warum also
dieser Schmerz nicht auch beziffert werden könnte, ist
nicht ersichtlich, zumal wir damit im europäischen Ver-
gleich ziemlich isoliert sind .
Wenn sich jetzt die Kfz-Versicherer zu Wort melden
und davor warnen, die Beiträge würden erheblich stei-
gen, können wir ganz gelassen bleiben . Es geht ja nicht
darum, amerikanische Verhältnisse einzuführen . Die
Höhe des Schmerzensgeldes steht im deutschen Recht
im Ermessen der Richter, deren Entscheidungen in soge-
nannten Schmerzensgeldtabellen gesammelt werden, die
für eine gewisse Gleichbehandlung und Transparenz sor-
gen . Das Gleiche würde auch für das von uns geforderte
Angehörigenschmerzensgeld gelten . Dabei sind keine
Millionenbeträge zu erwarten . Soweit es um Verkehrsun-
fälle geht, ist die Summe der materiellen Schäden, also
der Blechschäden, ohnehin um so vieles höher als die
Schmerzensgelder, dass letztere in der Gesamtheit kaum
ins Gewicht fallen .
Was machen unsere Nachbarn? In der Schweiz beträgt
das Angehörigenschmerzensgeld bis maximal 48 000
Euro, in Frankreich bis zu 30 000 Euro, in Italien bis zu
80 000 Euro . Vielleicht entscheiden sich deutsche Ge-
richte für einen niedrigeren Betrag . Am Ende wird sich
der Betrag in die bisherige Schmerzensgeldtabelle ein-
fügen müssen .
Entscheidend ist aber, dass wir überhaupt erst mal den
Weg für diesen Anspruch frei machen . Die Nulllösung
ist keine Lösung. Sie ist eine Schieflage im deutschen
Zivilrecht .
Ihre Beseitigung ist rechtssystematisch auch nicht allzu
schwierig . Wir müssen das BGB dazu nicht neu schrei-
ben .
Die zentrale Anspruchsnorm für das Schmerzensgeld ist
§ 253 Absatz 2 BGB, der da lautet:
Ist wegen einer Verletzung des Körpers, der Gesund-
heit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestim-
mung Schadensersatz zu leisten, kann auch wegen
des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine
billige Entschädigung in Geld gefordert werden .
Wenn wir nun dieser Aufzählung die Worte „dem
Tode eines nahen Angehörigen“ beifügen, sind wir schon
ein ganzes Stück weiter . Das Gleiche müssten wir dann
noch im § 823 Absatz 1 BGB machen . Damit hätten
wir für den Bereich des Verschuldens ein Angehörigen-
schmerzensgeld begründet . Für die gesetzlichen Fälle
der Gefährdungshaftung müssten wir nur jeweils die Er-
gänzungen in den entsprechenden Anspruchsgrundlagen
vornehmen .
Mit unserem Antrag wollen wir einen konstruktiven
Beitrag zu der Lösung dieses rechtspolitischen Problems
leisten . Wir hoffen, dass das Justizministerium bald einen
entsprechenden Gesetzentwurf erstellt und einbringt .
Vielen Dank .
Das Wort hat der Kollege Dr . Hendrik Hoppenstedt fürdie CDU/CSU-Fraktion .
Vizepräsidentin Petra Pau
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ichbeginne, möchte ich kurz auf einen Punkt von Ihneneingehen, Frau Keul . Sie haben gesagt: Wenn Sie einenVerkehrsteilnehmer überfahren haben, macht es zivil-rechtlich viel Sinn, wieder zurückzusetzen . – Ich will dasgar nicht auf die Schnelle beurteilen, aber ich will auf je-den Fall sagen: Strafrechtlich haben Sie dann ein deutlichgrößeres Problem .
Das sage ich deswegen, weil wir hier eine ganze MengeZuschauer haben, die nicht auf dumme Gedanken kom-men sollen .Meine Damen und Herren, die Debatte um die Einfüh-rung eines Schmerzensgeldanspruches hat, wie viele an-dere Debatten, einen etwas bizarren Verlauf genommen .Begonnen hat diese Debatte nämlich nicht etwa mit derVerabredung im Koalitionsvertrag, einen Schmerzens-geldanspruch für Angehörige ins BGB zu schreiben . Dortheißt es – ich zitiere –:Menschen, die einen nahen Angehörigen durch Ver-schulden eines Dritten verloren haben, räumen wirals Zeichen der Anerkennung ihres seelischen Leidseinen eigenständigen Schmerzensgeldanspruch ein…Das hat übrigens – das darf ich an dieser Stelle in Be-scheidenheit anmerken – unsere Fraktion in den Koaliti-onsvertrag mit hineinverhandelt .Nein, die Debatte begann am 24 . März dieses Jahres,als unter tragischen Umständen ein Germanwings-Flug-zeug in den französischen Alpen zerschellt ist . In derPresse war dazu zu lesen:Der Germanwings-Absturz hat die Koalition aufge-rüttelt, die Opferentschädigung weiter zu fassen .Oder:Die Koalition ist wegen des Germanwings-Abstur-zes unter Druck geraten .Das ist aus zweierlei Gründen, meine Damen undHerren, ziemlich falsch . Erstens haben wir uns in derKoalition – und zwar gerade unabhängig von tragischenUnglücksfällen – zur Einführung eines solchen Hinter-bliebenenschmerzensgeldanspruches verabredet . DasUnglück setzt uns also nicht unter Druck, sondern bestä-tigt und untermauert – das tut übrigens auch der Antrag,den Sie hier stellen – die Richtigkeit dessen, was wir indiesem Vertrag vereinbart haben – so schmerzlich das fürden einen oder anderen sein mag .
Zweitens – das möchte ich gerne auch deshalb dar-stellen, weil Sie die Lufthansa Gruppe erwähnt haben –leistet die Lufthansa nicht nur materiellen Schadenser-satz für den Tod der Passagiere – zum Beispiel in Formvon Unterhaltszahlungen an die Angehörigen – und zahltein Schmerzensgeld, welches Passagiere aufgrund derletzten Minuten an Bord zugesprochen bekommen habenund welches jetzt auf die Erben übergeht, sondern dieLufthansa zahlt auch 10 000 Euro Schmerzensgeld fürjeden nächsten Angehörigen .Eine solche Schmerzensgeldzahlung kommt nach derSchockschaden-Rechtsprechung eigentlich nur dann inBetracht, wenn der Angehörige Gesundheitsschäden er-litten hat, für die er im Übrigen auch noch beweispflich-tig ist . Die Lufthansa hat auf den Beweis verzichtet, wasim Ergebnis in vielen Fällen de facto der Zahlung einesHinterbliebenenschmerzensgeldes gleichkommt, wel-ches gesetzlich ja noch gar nicht verankert ist .Daher ist jedenfalls nach meinem Empfinden das Ver-halten der Lufthansa Gruppe ein denkbar schlechter An-lass, nach dem Gesetzgeber zu rufen – abgesehen davon,dass die Lufthansa Gruppe ein großer Konzern ist, was jain Teilen unserer Gesellschaft inzwischen schon an sichals schlecht bewertet wird .Ein wichtiger Anlass, um über das Thema zu debattie-ren, wären allerdings die vielen trauernden Angehörigender Straßenverkehrstoten, die jeden Tag aufgrund desVerschuldens Dritter zu beklagen sind . Diese Angehöri-gen haben eben keinen Anspruch auf Anerkennung ihresseelischen Leids – darauf liegt im Übrigen auch kein me-dialer Fokus .Ich bin sehr zuversichtlich, dass das Bundesministeri-um für Justiz und Verbraucherschutz noch in diesem Jahreinen – wie üblich – sehr anständigen Gesetzentwurf vor-legen wird .
– Also, meistens sind die Gesetzentwürfe anständig;
ich will ja nicht, dass der Staatssekretär hier in Freu-dentänze ausbricht .Um noch einmal klarzustellen, worum es eigentlichgeht: Es geht nicht darum, wie vielfach fälschlicherwei-se in der Diskussion behauptet wird, Leben materiell zubewerten, sondern es geht vielmehr darum, einen symbo-lischen Ausgleich für den Trauerschmerz nächster Ange-höriger zu leisten, in dem Bewusstsein, dass eine solcheGeldleistung den Verlust eines geliebten Menschen nie-mals wird ausgleichen können .Bei der konkreten Ausgestaltung treten wir als Uni-on erstens dafür ein, dass dieser Anspruch nicht nur beiVerschulden ausgelöst wird, sondern auch im Falle derGefährdungshaftung, weil wir den Angehörigen langwie-rige und schwierige Beweisprozesse ersparen möchten .Wir treten zweitens dafür ein, dass der Anspruch inseiner Höhe in richterliches Ermessen gestellt wird undnicht wie in vielen anderen Rechtsordnungen Europasmit einer Fixsumme abgegolten wird, weil wir nämlichglauben, dass die Qualität von Opfer und Angehörigemin weiten Bereichen ganz unterschiedlich sein kann . Dasmuss gerecht und vernünftig gelöst werden, deswegendas richterliche Ermessen .
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Drittens treten wir dafür ein, dass sich die Anspruchs-höhe in einem maßvollen Rahmen bewegt, zum Beispielin dem Rahmen, in dem sich auch die Rechtsprechungzu Schockschäden bewegt . Denn klar ist, dass kein Gelddieser Welt einen geliebten Menschen zurückbringenkann . Unser Gesetzesvorhaben soll zeigen, dass dieRechtsgemeinschaft aller Bürgerinnen und Bürger einSignal des Mitgefühls an diejenigen aussendet, die durchFremdverschulden den Tod eines nächsten Angehörigenzu verarbeiten haben .Meine Damen und Herren, zum Schluss . Wir haben eshier mit einem Antrag der Grünen zu tun, der nahezu aus-schließlich aus dem Koalitionsvertrag abschrieben ist .
Ich begrüße, dass Sie den Koalitionsvertrag regelmäßiglesen . Ich kann Sie nur ermuntern, das weiter zu tun . Ichfinde, dass die intellektuelle Leistung des Abschreibens an sich ausbaufähig ist .
Kollege Hoppenstedt .
Ich bin sofort fertig . – Ich meine, dass das zumindest
ein Anlass und Indiz dafür sein könnte, dass wir in die-
sem Hohen Hause eine große Mehrheit für die Einfüh-
rung eines solchen Anspruches finden können.
Herzlichen Dank .
Der Kollege Jörn Wunderlich hat für die Fraktion Die
Linke das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Zuschauer auf den Rängen! Mit dem vorliegendenAntrag der Grünen wird die Bundesregierung aufgefor-dert, einen eigenen gesetzlichen Schmerzensgeldan-spruch für Hinterbliebene zu schaffen . Dazu sollen dieentsprechenden Paragrafen im BGB geändert werden . ImFalle der Gefährdungshaftung – die Kollegin Keul hat esausgeführt – soll der gesetzliche Schadensersatzanspruchum ein Schmerzensgeld für Hinterbliebene erweitertwerden, und im Opferentschädigungsgesetz soll ergänztwerden, dass Hinterbliebene im Falle der Zahlungsun-fähigkeit auch einen Anspruch gegen den Staat geltendmachen können . Es ist hier schon festgestellt worden: Indiesem Antrag wird letztlich das gefordert, was im Koa-litionsvertrag steht und was sich die Koalition vorgenom-men hat . Denn auch die Koalition will diesen eigenstän-digen Schmerzensgeldanspruch beim Verlust eines nahenAngehörigen durch Verschulden eines Dritten .Wer nach den Ausführungen meines werten Vorred-ners jetzt aber denkt, dass dieser Antrag hier einstimmigangenommen wird und die Bundesregierung schnell ei-nen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegt, dem sageich: Das wäre ja ein Novum . Es hieß ja schon: Es ist einAntrag der Grünen . – Das wäre ja das erste Mal, dass ichhier erlebe, dass ein Antrag der Opposition zustimmendabgeschlossen wird .
Ich meine, ihr überlegt euch ja jetzt schon, mit welcherBegründung ihr im Ausschuss diesen Antrag dann ab-lehnt, anstatt mal das Problem anzugehen .
Die Standardbegründung ist dann immer: Wir brau-chen eure Anträge nicht, wir lösen das selber . – Aber ihrmacht es ja nicht . Im Koalitionsvertrag steht: Wir wollendas . – Zwischen Wollen und Tun klafft in dieser Koaliti-on eine Kluft, die kein Mensch überspringen kann .
Das Problem ist erkannt, und es bleibt dabei: Es mussbehoben werden . Wir wissen, wie die jetzige Rechtspre-chung ist: sehr restriktiv . Es ist ja schon gesagt worden:Anspruch für Hinterbliebene gibt es nur bei einer trau-matischen Schädigung der psychischen oder physischenGesundheit, die medizinisch fassbar ist und deshalbKrankheitswert besitzt und über das normale Maß einerseelischen Erschütterung hinausgeht . Dieser Anspruchist also ganz eng gefasst . Das ist es ja, was wir behebenwollen – alle miteinander hier im Hause .
Aber ihr macht es eben nicht . Denn, Kollege Fechner,im Juli, nach dem schweren und schlimmen Unfall in denAlpen, haben Sie selber noch gesagt: Das wollen wir ma-chen .
Das ist auch schon zwei Monate her . Und was ist seitherpassiert? Nichts .
Es heißt jetzt wieder: „Ja, wir machen“ und „bis zumJahresende“ . Das glaube ich wohl . Dann könnt ihr dochsagen: „Gut, wir stimmen dem Antrag zu“, und die Re-gierung legt das entsprechende Gesetz vor, das ja hierschon angekündigt wurde, das ich aber noch nicht sehe .Deshalb ist es gut, dass die Grünen mit ihrem Antrag dieKoalition noch einmal auffordern, ihrer eigenen Agendaendlich gerecht zu werden und den Schmerzensgeldan-spruch endlich gesetzlich zu normieren .
Dr. Hendrik Hoppenstedt
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Mir ist auch klar – das ist bereits gesagt worden –, dassGeld diese Verluste nicht ersetzen kann .Auf eines muss ich noch hinweisen: Wie Sie allewissen, gibt es im SGB II, im SGB XII und im Asyl-bewerberleistungsgesetz Regelungen, nach denen einAnspruch auf Leistungen nur besteht, wenn nicht ausrei-chend Einnahmen oder Vermögen zur Verfügung stehen .Bei all diesen Transferleistungen gilt das sogenannteZuflussprinzip. Wir müssen also bei der Erarbeitung des Gesetzentwurfes – ich spreche hier den Staatssekretär an,der mitten in der Arbeit ist, wie es heißt –
klarstellen, dass das Schmerzensgeld wegen eines Scha-dens, der kein Vermögensschaden nach § 253 Absatz 2BGB ist, nicht als Einkommen berücksichtigt wird . Wirmüssen darauf achten, dass der gesetzliche Anspruch aufSchmerzensgeld für Hinterbliebene entweder im § 253Absatz 2 BGB geregelt wird oder in den entsprechendenTransfergesetzen, damit es nachher nicht heißt: Du bistzwar ein Angehöriger und hast seelisches Leid, und wirversuchen, eine wie immer geartete Geldsumme an dichauszukehren, um dieses Leid ein wenig zu lindern . Aberes tut uns furchtbar leid, du bist arm und deshalb wirddieses Geld verrechnet . – Auch arme Menschen leidenund sollen eine entsprechende Entschädigung bekom-men . Darauf müssen wir dringend achten .Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Für die SPD-Fraktion erhält der Kollege Dr . Johannes
Fechner das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Auch die SPD-Frak-tion wollte in den Koalitionsverhandlungen diese Rege-lungen . In meiner früheren Tätigkeit als Rechtsanwalthatte ich den Fall, dass bei einem Verkehrsunfall eineFamilie die Katastrophe erlebt hat, dass ein einjährigesKind zu Tode kam . Für eine Familie kann man sich nichtsSchlimmeres vorstellen . Auch wenn wir den Verlust ei-nes Kindes nie durch eine Geldzahlung aufwiegen kön-nen, so ist es eine wertvolle Hilfe in solchen schwierigenZeiten, der Familie finanzielle Unterstützung zu gewäh-ren . Deshalb brauchen wir den Lückenschluss; wir brau-chen diese Regelung im BGB .
Die Hürden – das ist schon gesagt worden – sind zuhoch . Nach der Rechtsprechung kann nur derjenige einenAnspruch auf Schmerzensgeld geltend machen, der denNachweis erbringt, dass er eine über das normale Maßder Trauer hinausgehende psychische Beeinträchtigunghat . An diesen Formulierungen merkt man schon, dasses sehr schwierig ist, den Nachweis zu erbringen . Des-wegen brauchen wir im Sinne der Rechtsklarheit dieseRegelung .Wir sind dabei in unseren Beratungen schon rechtweit . Wir wollen über die bloße Verschuldenshaftunghinaus auch die Gefährdungshaftung in den Ansprucheinbeziehen, etwa bei Verkehrsunfällen . Es ist eine wich-tige Regelung . Wir sind uns darüber hinaus einig, dasswir die Frage, ob wir beim Opferentschädigungsgesetzetwas machen, zunächst zurückstellen . Wir wollen alsomit der BGB-Regelung beginnen . Kollege Bartke wirddazu noch Ausführungen machen . Für uns ist auch klar,dass der Anspruch für die Hinterbliebenen nur greifensoll, wenn die nahestehende Person verstirbt . Bei schwe-ren Verletzungen wollen wir diesen Anspruch nicht zu-billigen .Einigen müssen wir uns noch in der Frage, ob wir denVorschlag aufgreifen, einen Mindestbetrag in das Gesetzzu schreiben, wie es ihn in anderen Ländern gibt . Ich per-sönlich würde dies nicht tun . Ich glaube, es wäre sys-temfremd und zu weit gegriffen, wenn wir uns als Par-lamentarier anmaßen würden, den Wert eines Menschenzu beziffern und eine konkrete Summe in die BGB-Normzu schreiben . Aber ich kann mir sehr wohl vorstellen,dass wir als eine Art Richtschnur für die Rechtsprechungin der Gesetzesbegründung einen Korridor benennen .20 000 Euro könnte ich mir als Mindestbetrag durchausvorstellen . Es soll kein Almosen, sondern den Menschenin einer solchen schwierigen Situation eine Hilfe sein . Invielen anderen Ländern gibt es das, etwa in Belgien oderin Finnland . Deswegen meine ich: Auch in Deutschlandsollte dies möglich sein .
Ich teile die Bedenken der Versicherungswirtschaft,dass in der Folge Unsummen an Schadensersatz- undSchmerzensgeldbeträgen auszubezahlen sein werdenund dann die Beiträge explodieren werden, ausdrück-lich nicht . Wir beschränken den Anspruch, wie gesagt,auf Todesfälle . Wenn man sich die Rechtsprechung beiSchockschäden anschaut, dann weiß man: Schon heutesind keine Millionenbeträge, sondern deutlich niedrigereBeträge zu zahlen .Im Übrigen meine ich, dass die Feststellung, wie hochdas Schmerzensgeld sein sollte, beim jeweiligen Einzel-richter gut aufgehoben ist . Auch das ist ein Grund, war-um wir keine Summe ins Gesetz schreiben sollten .Sie sehen also: Wir sind in unseren Beratungen schonweit . Ich hoffe, dass wir noch in diesem Jahr den Ge-setzesentwurf vorlegen können . Dass dies notwendig ist,hat auch das Gefeilsche nach der Germanwings-Katast-rophe gezeigt . Ich fand es unwürdig . Ich glaube, wennwir schon heute eine klare gesetzliche Regelung hätten,würden diese Diskussionen anders verlaufen . Man kanneinem Hinterbliebenen, der sein Kind oder einen nahenJörn Wunderlich
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Angehörigen verloren hat, nicht zumuten, in dieser Trau-ersituation auch noch um Gelder zu feilschen .
Sie sehen: Wir sind schon recht weit . Deswegen müs-sen wir im Ausschuss nicht lange überlegen, mit welcherBegründung wir den Antrag dort ablehnen werden . Es istschlicht nicht notwendig, dass der Bundestag die Bun-desregierung zum Handeln auffordert, weil wir das jetztschon tun . Im Übrigen erheben Sie im Zusammenhangmit dem Opferentschädigungsgesetz eine Forderung, diewir so nicht unterstützen .
– Doch, Frau Keul: unter Ziffer 3 auf der zweiten Seite .Ich zeige Ihnen gern Ihren Antrag .
Das müssen Sie jetzt bitte auf die Ausschussberatun-
gen verschieben .
Das verschieben wir . Gestatten Sie mir bitte einen letz-
ten Satz. – Ich finde es sehr wohltuend, dass wir uns hier
im Sinne der Hinterbliebenen, für die diese Regelung so
wichtig ist, wohl parteiübergreifend auf einen Vorschlag
einigen und zu einer einvernehmlichen Lösung kommen
werden .
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit .
Die Kollegin Dr . Silke Launert hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! NachMassenunglücken stellt sich immer wieder die Frage –es wurde mehrfach angesprochen – nach Schadensersatzund Schmerzensgeld . Wir kennen es vom Zugunglück inEschede, vom Seilbahnunglück in Kaprun und jetzt, wieschon mehrfach angesprochen, vom Absturz der Ger-manwings-Maschine in den französischen Alpen . Ganzhäufig – mein Kollege Hoppenstedt hat es zu Recht schon erwähnt – kommt die Frage in der Praxis nach tödlichenVerkehrsunfällen auf .Damit geht immer konkret die Frage nach einemSchmerzensgeld für die Angehörigen der Opfer einher .Bislang ist im BGB vorgesehen, dass die nahen Ange-hörigen grundsätzlich nur einen Anspruch auf Ersatz dermateriellen Schäden haben, aber nur ausnahmsweise aufErsatz der immateriellen Schäden, wobei eine Gesund-heitsverletzung die Voraussetzung dafür ist . Das heißt,in diesen Fällen, bei sogenannten Schockschäden, istes erforderlich, dass eine Gesundheitsbeeinträchtigungvorliegt, die deutlich über das hinausgeht, was Naheste-hende als mittelbar Betroffene in derartigen Fällen er-fahrungsgemäß an Beeinträchtigungen erleiden . Da siehtman: Das aktuelle Recht ist sehr eng, die Anforderungensind sehr streng, die Rechtsprechung ist sehr restriktiv .Das wird von den Angehörigen der Opfer oft als nichtnachvollziehbar empfunden .Der heutige Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen fordert jetzt die Bundesregierung auf, dieses Defi-zit zu beseitigen und einen Schmerzensgeldanspruch fürAngehörige einzuführen . Ich freue mich über den An-trag; denn er zeigt, dass wir uns zumindest bei diesemhochsensiblen Thema offensichtlich einig sind und in diegleiche Richtung gehen .
Ich möchte daran erinnern, dass die CSU schon 2012auf ihrem Parteitag einen entsprechenden Entschluss ge-fasst hat, dass wir eine entsprechende Forderung in denKoalitionsvertrag aufgenommen haben, dass sich unserbayerischer Justizminister, Herr Bausback, dafür stark-gemacht hat und übrigens schon im Januar dieses Jah-res einen sehr ausdifferenzierten Vorschlag vorgelegt hatund dass die Vorlage des Entwurfs des Bundesjustizmi-nisteriums bevorsteht; im August hat man sich schon aufEckpunkte geeinigt . Ich verstehe also nicht, wieso mansagen kann: Da ist nichts passiert . Deshalb brauchen wirjetzt den Antrag der Grünen, um Druck auf die Bundes-regierung zu machen . – Seit Januar liegt ein ausdifferen-zierter Vorschlag des bayerischen Justizministeriums vor .Sehr gut!
Ich hoffe, das Bundesjustizministerium orientiert sichdaran; Eckpunkte sind ja auch schon beschlossen . DerAntrag der Grünen ist für mich ein Schaufensterantrag .
– Ganz genau: Wir machen es besser . Wir, Bayern, dieCSU, haben etwas vorgelegt . Der Punkt ist doch: Wassteht in Ihrem Antrag drin? Fast nichts!
Also, wenn ich einen Vorschlag mache, dann schreibe ichauch etwas Konkretes rein .
– Weil fast nichts in Ihrem Antrag steht . Sonst könntenwir uns über Details unterhalten .
Dr. Johannes Fechner
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Jetzt reden wir nur darüber, ob der Antrag Sinn machtoder nicht .
Es steht nicht drin, wie Sie sich die Gefährdungshaftungkonkret vorstellen . Sie bringen keine eigenen Ideen ein .Es steht nicht drin, welche Vorstellung Sie in Bezug aufdie Höhe des Schmerzensgeldes haben oder in welchemRahmen sich ein Anspruch bewegen soll . Das hätte ichmir gewünscht .
– Glauben Sie mir, es wird nicht mehr lange dauern, dannlegen wir einen ganz konkreten Antrag vor und nicht nurBlabla .
– Doch! Hören Sie zu!
– Ja, genau .Ich möchte, dass wir uns hinsichtlich der Bezifferungan der ausdifferenzierten Rechtsprechung, die wir inDeutschland haben, orientieren . Ich möchte nicht, dasswir in den Sog großer Summen geraten, wie man sie ausden USA kennt . Das würde zum einen dem Ansinnen desAnspruchs und zum anderen dem System des bestehen-den Schadensersatzrechtes, das wir in Deutschland ha-ben, nicht gerecht . Wir haben eben kein Strafschadens-ersatzrecht .Wichtig ist, dass wir dabei nicht aus den Augen ver-lieren, warum wir diesen Anspruch einführen wollen . Esgeht um das Schutzbedürfnis, aber auch um den Wer-tungswiderspruch, der heute schon mehrfach angespro-chen wurde . Schon im Koalitionsvertrag steht: Es gehtuns darum, ein Zeichen der Anerkennung des seelischenLeids zu setzen . Es geht uns nicht darum, den Eindruckzu erwecken, dass wir den Verlust eines Menschen auf-wiegen oder finanziell ausgleichen wollen. Mehr als die-ses Stückchen Anerkennung kann es nicht sein .Abschließend möchte ich noch sagen: Sicher wird dasSchmerzensgeld für Angehörige niemals Trost bieten,und gewiss wird es nicht gutmachen, was nicht gutzu-machen ist, so wie es das Schadensersatzrecht eigentlichvorsieht . Doch ist es für die Angehörigen ein Zeichen inschweren Zeiten . Ich freue mich darauf, dass uns bald derausdifferenzierte, hoffentlich am bayerischen Entwurf
orientierte Entwurf des Bundesjustizministeriums vorlie-gen wird . Dann können wir richtig im Detail verhandeln .Vielen Dank .
Das Wort hat der Kollege Dr . Matthias Bartke für die
SPD-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Her-ren! Auch wenn es zuweilen nicht den Anschein hatte:Wir reden hier über eine Situation, die wir alle niemalserleben möchten . Wir alle hoffen inständig, niemals alsHinterbliebene Schmerzensgeld fordern zu müssen . Wirhaben eben schon verschiedene Beispiele für eine solchefurchtbare Situation gehört . Die vielen Einzelschicksa-le bleiben oft unbemerkt . Allerdings ist der Absturz desGermanwings-Flugzeugs im März dieses Jahres in unseraller Bewusstsein gedrungen: Von einem Tag zum ande-ren können wir durch ein Verbrechen unser Kind oderunseren Ehepartner verlieren .In vielen europäischen Ländern wird in solchen Fäl-len Angehörigenschmerzensgeld gezahlt – das ist schongesagt worden –, in Deutschland ist das bisher nicht derFall . Nur wenn Hinterbliebene eine schwere seelischeErschütterung über das „normale“ Maß an Trauer hinausnachweisen können, steht ihnen ein Schadensersatz zu .Es bleibt aber noch eine andere Möglichkeit: DerSchmerzensgeldanspruch des Getöteten kann vererbtwerden; das hat Frau Keul eben ausgeführt . Das gehtaber nur, wenn er nicht gleich tot war . Das führt zu Versi-cherungsschreiben der folgenden makaberen Art:Aufgrund des erlittenen Genickbruchs ist nicht da-von auszugehen, dass der Verstorbene noch gewis-se Zeit gelebt hat . Ein Schmerzensgeld kann dahernicht gewährt werden .Im Zweifelsfall steht damit der Schädiger im Falle derTötung besser da, als wenn das Opfer mit Beeinträchti-gungen überlebt . Das, meine Damen und Herren, kannnicht richtig sein .
Beerdigungskosten und entgangener Unterhalt derHinterbliebenen werden bisher abgedeckt, Trauer undLeid werden es nicht . Diese Lücke wollen wir schließen .Darauf haben wir uns bereits im Koalitionsvertrag geei-nigt . Aktuelle Beispiele machen den Bedarf nur deutli-cher .Wir werden den Hinterbliebenen nun einen eigenenSchmerzensgeldanspruch einräumen . Dabei ist einesganz klar: Trauer ist unermesslich und kann nie mit Geldaufgewogen werden .Meine Damen und Herren, wir haben bereits ersteVorstellungen von dem Hinterbliebenenanspruch . Dazugehört, dass der Anspruch nur im Falle des Todes einesDr. Silke Launert
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nahestehenden Menschen gewährt wird . Der Anspruchsoll außerdem nicht nur bei Verschulden, sondern auch inden Fällen der Gefährdungshaftung bestehen .
Liebe Frau Keul, Sie merken, mit Ihrem Antrag schlagenSie mit diesen beiden Punkten also genau unsere Rich-tung ein . Das freut mich sehr .
Ihre Forderung zum Opferentschädigungsgesetz se-hen wir allerdings sehr kritisch . Im OEG gibt es derzeitweder Schadenersatz noch Schmerzensgeld . Es soll viel-mehr Schädigungsfolgen ausgleichen . Ein Angehörigen-schmerzensgeld widerspricht diesem Zweck deutlich .In Ihrem Antrag steht auch etwas zum OEG . Wenn SieIhren Antrag noch einmal lesen, werden Sie das auchnachvollziehen .
Sie wollen mit dem Angehörigenschmerzensgeld eineLeistung in das Opferentschädigungsgesetz einführen,die nicht einmal die Geschädigten selbst durch das Ge-setz erhalten . Ich halte das aus Gleichheitsaspekten fürvöllig unvertretbar .Meine Damen und Herren, wir werden das Rechtder sozialen Entschädigung neu ordnen . Ich würde esaber für falsch halten, wenn wir dabei ein Angehörigen-schmerzensgeld in dieses Gesetz einfügten . Ich bin miraber sicher, dass eine zivilrechtliche Lösung, wie sie sichderzeit in Vorbereitung befindet, eine bedeutende positi-ve Änderung für Hinterbliebene einleitet .Ich danke Ihnen .
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/5099 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung
so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
– Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Umsetzung der Protokoller-
klärung zum Gesetz zur Anpassung der Ab-
gabenordnung an den Zollkodex der Union
und zur Änderung weiterer steuerlicher
Vorschriften
Drucksache 18/4902
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz-
ausschusses
Drucksache 18/6094
Drucksache 18/6095
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Kollege
Olav Gutting für die CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Waspassiert, wenn man zu sperrige Gesetzestitel wählt, dassehen wir hier an der Medienwand, nämlich „Anpassungder Abgabenordnung an den EU-Zollkodex“ . Das habenwir jedoch bereits 2014 beschlossen . Hier geht es um et-was anderes, nämlich um die Umsetzung der Protokol-lerklärung dazu .Ich freue mich, dass wir eigentlich nicht darüber de-battieren, sondern heute abschließend über das Steuerän-derungsgesetz 2015 beraten, aber nicht über das Gesetzzur Umsetzung der Protokollerklärung zum Gesetz zurAnpassung der Abgabenordnung an den Zollkodex derUnion und zur Änderung weiterer steuerlichen Vorschrif-ten .
Bereits in der ersten Lesung habe ich gefordert, dasswir dringend an der Namensgebung dieses Gesetzes eineÄnderung vornehmen müssen . Auch wenn sich das ur-sprüngliche Wortungetüm in der Praxis der beratendenBerufe über die Dauer der Beratungen etwas verfestigthat, so muss man doch sagen: Wir machen Gesetze auchund gerade für die Bürgerinnen und Bürger und auch fürdie Bundestagsverwaltung . Diese müssen ja nicht gleichkollabieren oder in Schockstarre verfallen, wenn sie die-sen Gesetzestitel lesen .Inhaltlich ist das Gesetz natürlich auch gelungen, auchwenn es sich in weiten Passagen quasi um eine Auftrags-gesetzgebung nach den Wünschen des Bundesrates han-delt .Mit dem Wegfall des Funktionsbenennungserforder-nisses bei § 7 g des Einkommensteuergesetzes vermeidenwir Anwendungsunsicherheiten bei Unternehmen . Diesist im Übrigen auch ein Beitrag zur Entbürokratisierung .Denn bisher ist für die Inanspruchnahme des Investiti-onsabzugsbetrages die Funktion des anzuschaffendenoder herzustellenden begünstigenden Wirtschaftsgutesbis zu drei Jahre im Voraus zu benennen .Mit dem Steueränderungsgesetz 2015 hätten wir ger-ne auch die Problematik der überschießenden Wirkungbei der Wegzugsbesteuerung nach § 50 i des Einkom-mensteuergesetzes endgültig korrigiert . Diese äußerstkomplexe Vorschrift ist ein Dauerbrenner bei unserenBeratungen und wird von vielen Verbänden fundiert undvöllig zu Recht kritisiert . Auch die eigens geschaffeneBund-Länder-Arbeitsgruppe hat festgestellt, dass dieseNorm in der aktuellen Fassung überschießende WirkungDr. Matthias Bartke
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erzeugt, die wir mit dem ursprünglichen Ziel der Rege-lung so nicht verfolgen wollten .Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass wir es biszum Abschluss der Beratungen zu diesem Gesetz nichtgeschafft haben, eine rechtssichere, europarechtssichere,praktikable gesetzliche oder auch untergesetzliche Rege-lung zu erarbeiten . Wir werden aber an diesem Themadranbleiben und eine Lösung suchen und sicherlich auchfinden.
Die Änderungen im Umwandlungssteuerrecht warenim Koalitionsvertrag so vereinbart . Ob es hier überhaupteine systemwidrige Lücke gibt oder gab, die es zu schlie-ßen gilt, darüber gehen die Meinungen durchaus ausein-ander . Uns war es wichtig, dass wir bei der neuen Rege-lung wenigstens eine Mittelstandskomponente einbauen .Dies ist mit der Anhebung der Grenze auf 500 000 Eurozumindest in Teilen gelungen . Wirtschaftlich sinnvolleUmstrukturierungen im Mittelstand wollen wir nicht ver-hindern . Wir wollen auch nicht an die Eigenkapitalbasisdieser Unternehmen herangehen .
Bezüglich des zweimaligen Anfalls der Grunderwerb-steuer bei der Abwicklung von offenen Immobilienfondshaben wir uns darauf geeinigt, diese Fehlstellung im Ge-setz zu beseitigen .
Spätestens im anstehenden Gesetzgebungsverfahren zurModernisierung des Besteuerungsverfahrens werden wirhier die Situation für unsere Verbraucherinnen und Ver-braucher entscheidend verbessern .Die Umsatzsteuer bei der interkommunalen Zusam-menarbeit wird mit diesem Gesetz ebenfalls rechtssi-cher gestaltet . Die durch die Rechtsprechung des Bun-desfinanzhofs bestehende Unsicherheit wird durch die Schaffung eines neuen § 2 b des Umsatzsteuergesetzesbeseitigt . Um es kurz zu sagen: Die Kommunen dürfenLeistungen umsatzsteuerfrei nur dort erbringen, wo siedadurch nicht unternehmerisch tätig werden . Das ist unswichtig; denn wir wollen auch die berechtigten Interessenvon kleinen und mittelständischen Unternehmen wahren .
Wir hatten das Ziel, die Beratungen zu diesem Steu-eränderungsgesetz – man kann auch sagen, das war eineArt Jahressteuergesetz – rechtzeitig vor Ende diesesJahres abzuschließen, sogar mehrere Monate vor Endedieses Jahres . Dieses Ziel haben wir erreicht . Warum istdas wichtig? Weil wir den steuerberatenden Berufen unddenjenigen, die diese Gesetze anwenden müssen, auchin der Verwaltung, genügend Zeit geben wollen, um sichdarauf vorzubereiten . Die meisten der Regelungen tretenja zum 1 . Januar 2016 in Kraft .Dies ist uns gelungen . Deswegen möchte ich mich andieser Stelle bei den Kolleginnen und Kollegen Bericht-erstattern bedanken . Ich darf Sie alle ermuntern, diesemGesetz heute zuzustimmen .
Jetzt hat der Kollege Richard Pitterle für die Fraktion
Die Linke das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Lieber Herr Gutting, ich befürchte,dass das Beste an dem heute vorliegenden Gesetzentwurftatsächlich die vorgeschlagene Namensänderung ist .Statt „Gesetz zur Umsetzung der Protokollerklärung zumGesetz zur Anpassung der Abgabenordnung an den Zoll-kodex der Union und zur Änderung weiterer steuerlicherVorschriften“
soll es jetzt schlicht „Steueränderungsgesetz 2015“ hei-ßen .
Aber auch als „Steueränderungsgesetz 2015“ wird es denErwartungen, zum Beispiel hinsichtlich der Bekämpfungvon Steuerumgehung, nicht gerecht . Ich will mich ange-sichts der mir zustehenden vier Minuten Redezeit auf einpaar Punkte beschränken .Erstens . Die Bundesregierung unternimmt nichts, umdie Steuerumgehung durch hybride Gestaltungen zu ver-hindern . Bei hybriden Gestaltungen nutzen grenzüber-schreitend tätige Unternehmen eine Rechtsform, die inzwei Staaten steuerrechtlich unterschiedlich behandeltwird . Auf diese Weise können sie eine doppelte Nicht-besteuerung erreichen und sich so vor dem Steuerzahlendrücken, auf Kosten aller anderen Steuerzahlerinnen undSteuerzahler .Die OECD hat konkrete Vorschläge gemacht, welcheMaßnahmen hiergegen getroffen werden müssten . Sogarder Bundesrat hat Sie, meine Damen und Herren von derBundesregierung, aufgefordert, zu handeln:Ein weiteres Abwarten mit der Folge weiterer Steu-ermindereinnahmen für die öffentlichen Haushalteist nicht hinnehmbar .Doch anstatt mit diesem Gesetz endlich konkreteMaßnahmen umzusetzen, gründen Sie stattdessen nachdem Motto „Wenn ich nicht weiter weiß, gründe ich ei-nen Arbeitskreis“ eine Bund-Länder-Gruppe, die irgend-wann einmal ein Zwischenergebnis liefert, wenn wir bisdahin nicht alle gestorben sind .Zweiter Punkt: der Investitionsabzugsbetrag bei derEinkommensteuer . Bisher konnten kleine und mittlereUnternehmen ihre Anschaffungskosten für bestimmteOlav Gutting
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Wirtschaftsgüter wie zum Beispiel eine neue Maschineoder einen Firmenwagen steuerlich sozusagen im Vo-raus absetzen, um für die Investition genügend Mittelansparen zu können . Sie mussten jedoch, vereinfachtausgedrückt, klipp und klar sagen, was mit dem Geldangeschafft werden soll . Diese Bedingung haben Siejetzt gestrichen, sodass die vorverlagerte Abschreibungvon Investitionen in Höhe von 200 000 Euro jetzt quasivoraussetzungslos gewährt wird . Das öffnet einem Miss-brauch des Investitionsabzugsbetrags Tür und Tor . Des-wegen lehnen wir das ab .
Letzter Punkt: die Schließung von Lücken im Um-wandlungssteuergesetz . Beim VW-Porsche-Deal Mit-te 2012 wurden bestimmte Regelungslücken so ausge-nutzt, dass dem Fiskus geschätzte 1,5 Milliarden Euro anSteuereinnahmen entgangen sind . Es ist schon peinlich,dass die Bundesregierung drei Jahre gebraucht hat, umdarauf zu reagieren . Noch schlimmer ist, dass Sie hiernur halbherzige Regelungen vorlegen, die immer nochSteuerschlupflöcher lassen. Das ist für uns nicht hin-nehmbar .
Ihre in der ersten Lesung zu diesem Gesetz noch voll-mundig angekündigte Schließung von Regelungslückenwar offensichtlich wieder einmal nur heiße Luft .Nach alldem kann die Linke diesem Gesetzentwurfnicht zustimmen . Da aber an anderer Stelle im Gesetzzumindest ein paar gute Ansätze, zum Beispiel bei dernotwendigen Anpassung der Grunderwerbsteuer an daskürzlich ergangene Urteil des Bundesverfassungsge-richts, vorhanden sind, werden wir den Gesetzentwurfauch nicht ablehnen, sondern uns der Stimme enthalten .Man muss ja schließlich schon froh sein, wenn Sie hierausnahmsweise einmal nicht kompletten Murks präsen-tieren .
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit .
[SPD]: Wenn er sich anstrengt,
Der Kollege Dr . Jens Zimmermann hat für die
SPD-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich sageeinmal so: Wenn sich die Opposition enthält, ist das ei-gentlich ein Prädikat für dieses Gesetz und zeigt, dass wirhier offensichtlich ein gutes Ergebnis abgeliefert haben .Ob „Murks“ parlamentarisch ist, weiß ich nicht, aber, ichglaube, insgesamt haben wir bei diesem Gesetz gute Ar-beit gemacht . Es ist immer eine große Herausforderungfür alle Beteiligten, für die Mitarbeiterinnen und Mitar-beiter, für die Parlamentarier und für das Ministerium .Es sind viele Runden, die wir da drehen . Aber jetzt sindwir zu einem guten Ergebnis gekommen . Es ist schon er-wähnt worden: Wir setzen eine Protokollerklärung um,die wir dem Bundesrat bei der Umsetzung des Zollko-dex-Anpassungsgesetzes gegeben haben . Ich glaube, esist sehr wichtig, dass wir Zusagen, die wir treffen, amEnde einhalten .
Auch wenn die Bundesratsbank nicht so voll ist, wieman es sich vielleicht wünschen könnte, wenn wir hierDinge umsetzen, die der Bundesrat so vehement gefor-dert hat,
ist es doch wichtig, dass wir an dieser Stelle arbeitsfähigbleiben . Natürlich haben wir wieder Klassiker dabei, beidenen es um redaktionelle Änderungen geht . Aber wirhaben eben auch eine ganze Menge Themen, bei denenwir auf Rechtsprechung eingehen . Es ist wichtig, dasswir unsere Steuergesetzgebung in regelmäßigen Abstän-den entsprechend anpassen .Ich will auf zwei Punkte eingehen, weil sie für uns alsSozialdemokratinnen und Sozialdemokraten von großerinhaltlicher Bedeutung sind .Das eine ist die Änderung von § 20 des Umwand-lungssteuergesetzes . Der Begriff „VW-Porsche-Deal“hat ja in den heutigen Tagen fast schon ein schwierigesGeschmäckle, aber auch damals hat man gedacht – vie-le sagen das noch heute –, dass diese Fusion ein Ge-schmäckle hatte, weil dort keine Steuern angefallen sind .Es ist sehr aufschlussreich, die einschlägigen juristischenInternetforen zu konsultieren . Dort werden schon heuteTipps gegeben, wie man auf unser Gesetz, das wir gleichverabschieden wollen, zu reagieren hat, welche Bera-tungsansätze es gibt . Das ist für mich Zeichen genug,dass wir hier etwas Richtiges machen, dass wir eine Lü-cke schließen . Wir wollen die Möglichkeiten des Mittel-standes, sich zusammenzuschließen, nicht beschränken,aber wir wollen hier ein ganz legales Steuerschlupfloch schließen, und das ist gut so .
Lassen Sie mich im zweiten Teil der Rede noch auf§ 50 i EStG eingehen . Da geht es um die Entstrickung .Auch da haben wir sehr lange diskutiert . Das ist ja einThema, das nicht im Gesetz enthalten ist, sondern wirdiskutieren immer noch darüber, was zu tun ist . Wirhaben eine Protokollerklärung mit aufgenommen, undes gibt eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die sich überdieses Thema unterhält . Aber es gibt da natürlich einigeProbleme: Auf der einen Seite wird behauptet, er hätteüberschießende Tendenz, hier würden also Steuerpflich-tige übermäßig belastet . Auf der anderen Seite haben wirbis heute aber keinen konkreten Fall vorliegen, in demdas wirklich nachgewiesen wurde .Aus diesem Grund sind wir der Meinung, dass wir daweitermachen müssen . Hier kann ich auch unsere Ge-sprächsbereitschaft signalisieren; wir sind bereit, weiterRichard Pitterle
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über dieses Thema zu diskutieren . Aber wir können erstdann Zustimmung signalisieren, wenn ein Vorschlag aufdem Tisch liegt, der auch europarechtskonform ist . Denndie Problematik ist – das kennen alle, die sich damit be-schäftigen –: Bei allen Lösungen, über die momentandiskutiert wird, besteht die Gefahr, dass europäische In-länder und Ausländer wieder diskriminiert werden, unddann fliegt uns das ganze Thema genauso um die Ohren wie die Autobahnmaut . Das kann nicht unser Ziel sein .
Alles in allem glaube ich, dass wir ein ordentlichesGesetz auf den Weg gebracht haben . Es wird – leider –nicht das letzte Gesetz dieser Art sein . Ich schaue einmalalle Beteiligten an und sehe: Wir alle freuen uns schonwieder sehr darauf, in vielen Runden über die nächstenÄnderungen zusammen zu debattieren . Aber ich glaube,wenn wir alle das genauso besonnen machen, wie wir esdiesmal gemacht haben, dann werden wir ein gutes Steu-eränderungsgesetz 2016 hinbekommen .Vielen Dank .
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kol-lege Dr . Thomas Gambke das Wort .
Sehr verehrte Präsidentin! Liebe späte Besucher imPlenum! Werte Kolleginnen und Kollegen! Hätten Siedoch diesen ersten Änderungsantrag nicht eingebracht,in dem Sie das Gesetz als „Steueränderungsgesetz 2015“bezeichnen! Das ist ein Etikettenschwindel, meine Da-men und Herren vor allen Dingen von der Union .
Denn ein Steueränderungsgesetz 2015 hätte genau diePunkte aufgreifen müssen – Kollege Pitterle hat schonein paar genannt –, die wir hätten regeln müssen .Ich war gerade im Mittelstandsbeirat beim Bundes-wirtschaftsministerium . Da haben wir über die Abschrei-bung geringwertiger Wirtschaftsgüter und die Anhebungder viel zu niedrigen Schwelle für die Sofortabschrei-bung gesprochen . Ein Handy beispielsweise muss manheute über fünf Jahre abschreiben . Da hätten Sie anpa-cken müssen . Und Sie hätten die Steuergestaltung ver-hindern müssen; Herr Pitterle hat es angesprochen .Haben Sie schon einmal etwas von der Atomisierungin Bezug auf die Zinsschranke gehört?
Dabei geht es um Immobilienfonds, die man bis zur3-Millionen-Euro-Freigrenze bei der Zinsschranke füllt,um die Gewinne dann, weil die Zinsschranke nicht greift,ins Ausland zu transferieren . Das, was hier Zinsen wären,sind dann Dividenden, die im Ausland nicht versteuertwerden .Meine Damen und Herren, ich könnte noch ein paarweitere Themen nennen . Und ich will auch noch einesnennen, weil es mir wirklich auf den Nägeln brennt: dasThema Umsatzsteuerbetrug . Es ist für Sie als Zuschauervielleicht ganz interessant, zu hören: Es wird nicht nurbei VW der Dieselmotor mit Elektronik frisiert, sondernes werden auch Kassen im Handel frisiert . Es wird in dieSoftware von Kassen eingegriffen, um den Umsatz zuverringern und Umsatzsteuer zu hinterziehen .
– Das ist gerichtsnotorisch . Eine Eisdiele im Saarlandbeging einen Umsatzsteuerbetrug in Höhe von 1,9 Mil-lionen Euro .
Sie sollten sich das einmal anschauen . Das geschiehtmithilfe einer modifizierten Software. Da hätten Sie re-agieren müssen . Die Länder haben mit 16 gegen 0 einenBericht dazu vorgelegt. Aber das Bundesfinanzministeri-um hat diesen Bericht nicht zur Kenntnis nehmen wollen .Meine Damen und Herren, wir müssen etwas tun . Wennman „Steuergesetz 2015“ draufschreibt, dann sollte auch„Steuergesetz 2015“ drin sein, und dann müssen solcheSachen angepackt werden .
Richtig, die Protokollerklärung ist umgesetzt worden .Da stehen eine Menge Dinge drin, die gemacht werdenmussten; das hat unsere volle Zustimmung . Aber es gibteben auch ein paar andere Sachen, die gemacht wurden,zum Beispiel bei den Regelungen für die Versicherungs-industrie . Sie haben vorgesehen, dass die Rücklagen fürBeitragserstattungen bis Ende 2015 weiterhin als Eigen-kapital gelten sollen . Das ist branchenbezogen vielleichteine Sache, die man sich überlegen kann, aber die fi-nanziellen Auswirkungen sind erheblich . Ehe man einesolch einschneidende Regelung macht, hätte man nochzweimal darüber nachdenken müssen . In einem anderenPunkt haben Sie ja sogar noch in der letzten Minute eineÄnderung zurückgezogen .Meine Damen und Herren, das ist kein Steuerände-rungsgesetz 2015 . Das ist die Umsetzung einer Protokol-lerklärung, ja . Aber das Etikett, das Sie dem Gesetzent-wurf gegeben haben, hat er nicht verdient . Sie könnenihn ja noch ablehnen . Dann heißt es nach wie vor „Um-setzung der Protokollerklärung“ .Ich sage: Wir werden ihn zwar nicht ablehnen, aberbei den handwerklichen Mängeln, die wir immer noch er-kennen, können wir uns bei der Abstimmung über diesenGesetzentwurf nur der Stimme enthalten .Dr. Jens Zimmermann
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Vielen Dank .
Das Wort hat der Kollege Fritz Güntzler für die CDU/
CSU-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Lieber Herr Gambke, da wir das Steuerrechtändern, ist der Begriff „Steueränderungsgesetz 2015“ ansich schon richtig . Nur weil Sie sich mit Ihren Vorstellun-gen bisher nicht durchsetzen konnten – vielleicht könnenSie das ja einmal,
wenn es hier andere Mehrheiten gibt –, können Sie dieBegrifflichkeit an sich nicht abwählen.
Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Was kann es ei-gentlich Schöneres geben, als hier an einem Donnerstag-abend über Steuerpolitik und Steuerrecht zu diskutieren?
Als Steuerberater habe ich das Steuerrecht über Jahreanwenden dürfen, müssen, können, und jetzt darf ich esmitgestalten . Über manche Debattenbeiträge bin ich teil-weise aber doch etwas verwundert .Ich bin froh, dass wir mit diesem Gesetzentwurf Teiledes Koalitionsvertrages umsetzen . Das gilt insbesonderefür die interkommunale Zusammenarbeit . Wir haben imKoalitionsvertrag vereinbart, dass es keine steuerrechtli-che Behinderung der interkommunalen Zusammenarbeitgeben soll . Wir wollten keine Belastung mit Umsatzsteu-er und wünschten uns eine EU-rechtliche Lösung, diees aber so schnell nicht geben wird – das mussten wirerfahren –, sodass wir als nationaler Gesetzgeber gefor-dert waren, zu handeln, und wir haben gehandelt . Damithaben wir Wort gehalten .
Das Handeln war dringend notwendig, nachdem derEuGH und der Bundesfinanzhof in mehreren Entschei-dungen entschieden haben, dass die kommunalen Bei-standsleistungen nicht mehr steuerfrei sind . Früher hattenwir ja das System, dass bei einer Kommune steuerbar nurdas war, was im Rahmen eines Betriebes gewerblicherArt geschah; die Beistandsleistungen wurden vom BFHeben nicht als eine Tätigkeit im Rahmen eines Betriebesgewerblicher Art gesehen . Daher hätten wir, wenn aufdie Urteile nicht reagiert worden wäre, jetzt das Prob-lem, dass alle Kommunen mit den Beistandsleistungenin der interkommunalen Zusammenarbeit in die Umsatz-steuerschuld hineingewachsen wären . Ich glaube, geradeaufgrund der finanziellen Situation einiger Kommunen wäre das sehr problematisch gewesen . Wir wollen ja dieinterkommunale Zusammenarbeit – aufgrund der demo-grafischen Entwicklung in vielen Regionen, aber auch aufgrund der finanziellen Ausstattung der Kommunen. Die Anpassung war also notwendig . Wir mussten denArtikel 13 der Mehrwertsteuersystemrichtlinie berück-sichtigen, haben aber auch im Auge haben müssen, dasses immer ein gewisses Spannungsfeld zwischen der kom-munalen wirtschaftlichen Tätigkeit und der Wirtschaftgibt .Ich finde, die Bund-Länder-Arbeitsgruppe hat hier ei-nen guten Kompromiss gefunden, den wir umsetzen, undich bin auch froh, dass sich zum Beispiel der Zentral-verband des Deutschen Handwerks und die kommunalenSpitzenverbände darauf verständigt haben – es kam zueiner gemeinsamen Auslegung, die wir ja auch in denBericht des Finanzausschusses noch aufgenommen ha-ben –, dass sie mit diesen Dingen leben können .Ich sage auch in Richtung Wirtschaft, dass ich sehraufmerksam beobachte, was die Kommunen machen,und ich habe meine Zweifel, ob eine Kommune im Bun-desland A unbedingt etwas über einen Zweckverbandim Bundesland C anbieten muss . Die Frage ist aber, obdas Umsetzsteuerrecht das richtige Vehikel ist, sich mitdiesen Dingen auseinanderzusetzen, oder ob es nichtdas Gemeindewirtschaftsrecht ist, das wir überall haben .Vielleicht müsste auch die Kommunalaufsicht hier undda einmal ein bisschen besser hinschauen, ob das, wasuns teilweise berichtet wird, wirklich noch im kommuna-len Bereich geschieht .Ich glaube, wir haben, wie gesagt, einen guten Kom-promiss gefunden . Wir betreten steuerrechtliches Neu-land . Wir haben das Vergaberecht herangezogen, um dieKriterien für eine sogenannte größere Wettbewerbsver-zerrung zu erzeugen . Das ist eine gute Lösung .Man muss der Wirtschaft auch sagen, dass das fürdie Kommunen heißt: Was bis jetzt steuerpflichtig war, wird auch in Zukunft steuerpflichtig sein, und was bis jetzt nicht steuerbar war, wird in Zukunft steuerbar undsteuerpflichtig sein. Der Status quo wird für die Kom-munen gar nicht gehalten, sondern sie werden in diesemPunkt unter Umständen einiges verlieren . Das werdenwir uns genau angucken müssen . Von daher ist es auchrichtig, dass wir die Übergangsregelung haben, dass dieKommunen bis zum 1 . Januar 2021 wählen können, nachwelchem Regime sie die Umsatzbesteuerung durchfüh-ren wollen .Ich sage auch in Richtung Kommunen und kommu-naler Spitzenverbände – insbesondere in Richtung derBerater in den Kommunen, von denen ich viel kenne –,dass wir uns das genau angucken werden . Wenn diesesVehikel des § 2 b Umsatzsteuergesetz dazu genutzt wird,den Vorteil von 19 Prozent für andere Dinge des Wettbe-werbsrechts zu nutzen, werden wir uns mit dem Gesetznoch einmal neu beschäftigen müssen; denn das ist nichtDr. Thomas Gambke
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intendiert . Wir haben aber die Zusage der kommunalenSpitzenverbände, sich damit zu beschäftigen .
Der neue § 2 b Umsatzsteuergesetz ist also, wie ich finde, eine gute Lösung für die Kommunen, aber auch für dieWirtschaft .Lassen Sie mich jetzt noch zwei oder drei kleine An-merkungen zu dem machen, was vorher gesagt wurde .Über das Umwandlungssteuergesetz – §§ 20, 21 und24 – könnte man jetzt viel sagen . Man könnte sich dazuäußern, ob das gerechtfertigt ist oder nicht, ob es – Fach-leute sehen das teilweise anders – wirklich eine Miss-brauchsregelung oder ein Steuerschlupfloch ist. Ich finde nur, es ist schade, dass wir uns nicht einigen konnten,dass diese Regelung nicht rückwirkend angewandt wird .Im Gesetz steht ja jetzt: 1 . Januar 2015 . Das heißt, alleEinbringungen, die in dieser Zeit – bis heute – gelaufensind, werden den Beratern unter Umständen – so langesie nicht unter dem Freibetrag oder unter 25 Prozent lie-gen – auf die Füße fallen. Ich finde, wir haben auch eine Treuepflicht gegenüber Anwendern unseres Rechtes. Diese sollten die Möglichkeit haben, sich darauf einzu-stellen . Man kann von ihnen auch nicht verlangen, dasssie Bundesratsprotokolle lesen . Ich sage immer: Wer dastut, liest auch Telefonbücher . Ich glaube, wir dürfen dieErwartungshaltung da nicht zu hoch schrauben .
Ich komme zum § 50 i EStG, Herr Binding . Ich hof-fe, dass wir im Rahmen des Steueränderungsgesetzes –Herr Dr . Zimmermann hat das für 2016 schon angekün-digt – endlich einen § 50 i EStG verwirklichen . Denndie Bund-Länder-Arbeitsgruppe hat ja festgestellt, dasses diese überschießende Wirkung gibt . Die bezweifelnSie immer noch . Beschäftigen Sie sich einmal mit denErgebnissen .
– Ja, wir brauchen aber eine Lösung, denn die Fälle sindja schon verwirklicht . Wenn Sie sagen, dass sie Ihnennicht bekannt sind, lade ich Sie gerne einmal zu mir indie Kanzlei ein . Ich kann Ihnen die Fälle zeigen, die wirzurzeit nicht bearbeiten können . Dabei handelt es sichum reine Inlandsfälle, die wir nicht gestalten können .Wir haben hier einen dringenden Handlungsbedarf beim§ 50 i EStG .Ich könnte noch etwas zu den hybriden Gestaltungensagen, wenn meine Redezeit nicht vorbei wäre . HerrPitterle, Sie wissen genau, dass wir im BEPS-Prozesssind . Wir haben 15 Maßnahmen und sind da auf demWeg, missbräuchliche Gestaltungen – auch die hybridenGestaltungen – anzugehen . Es macht keinen Sinn, dassder nationale Gesetzgeber da alleine vorgeht . Uns zu un-terstellen, dass wir da untätig wären, ist einfach unrichtig .Ich bitte Sie jetzt einfach, dem Gesetz zuzustimmen .Ich hoffe, der Bundesrat tut das auch möglichst schnell,damit sich die Steuerpflichtigen darauf einstellen können.Herzlichen Dank .
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Andreas
Schwarz das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! An-gesichts meiner knapp bemessenen Redezeit möchte ichmich nur auf einen Aspekt dieses umfassenden Steuer-gesetzes konzentrieren, der mich als ehemaliger Bürger-meister und immer noch amtierender Kommunalpolitikermit besonderer Freude erfüllt . Es handelt sich hier ganzgenau um die Neuregelung der Umsatzbesteuerung vonLeistungen der öffentlichen Hand .Mich haben dazu zahlreiche Briefe von Kommunenaus meinem Wahlkreis erreicht, denn die Kommunen wa-ren angesichts der Rechtsprechung des Bundesfinanzho-fes mehr als verunsichert, was die steuerliche Belastungund natürlich auch die damit verbundene interkommuna-le Zusammenarbeit angeht . Die Zusammenarbeit öffent-licher Einrichtungen ist nicht zuletzt aufgrund knapperHaushalte und des demografischen Wandels von großer Bedeutung . Ob bei der Erfüllung hoheitlicher Aufgabenoder bei Leistungen der Daseinsvorsorge: Die Nutzungvon Synergieeffekten und die Auslastung vorhandenerpersoneller und sachlicher Ressourcen liegen im öffentli-chen Interesse und erfolgen nicht im Wettbewerb mit pri-vaten Leistungen . Daher soll dieser Leistungsaustauschöffentlicher Einrichtungen weiterhin nicht mit Umsatz-steuer belastet und dadurch verteuert werden . Das ist,denke ich, ein Vorteil für die Bürgerinnen und Bürger inunserem Land .An dieser Stelle sei klargestellt: Hier geht es nicht da-rum, dass etwa die Kommunen den Wettbewerb störenoder behindern . Im Wettbewerb erbrachte Leistungen un-terliegen ja, wie es der Kollege gerade erklärt hat, auchkünftig der Umsatzsteuer . Das ist auch richtig so . DieSPD-Bundestagsfraktion hat sich jedoch immer dafüreingesetzt, die Zusammenarbeit öffentlicher Einrichtun-gen bei hoheitlichen Tätigkeiten nicht zu besteuern .
Das gilt für die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten,die Kirchen und insbesondere die Kommunen . Schon imKoalitionsvertrag haben wir das Bekenntnis zur inter-kommunalen Zusammenarbeit verankert . Gemeinsammit unserem Koalitionspartner ist es nun gelungen, indiesem Gesetz klare Regeln für die Umsatzbesteuerungöffentlicher Leistungen zu entwickeln . Mit der Neurege-lung haben wir unser Ziel für beide Seiten erreicht, fürdie öffentlichen Einrichtungen auf der einen Seite undfür die Wirtschaftsunternehmen auf der anderen Seite,eine dauerhafte und auch rechtssichere Planungsgrund-lage zu schaffen .Fritz Güntzler
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 124 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 24 . September 201512074
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(D)
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit .
Ich schließe die Aussprache .
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Umsetzung der Protokollerklärung zum Gesetz zur An-
passung der Abgabenordnung an den Zollkodex der Uni-
on und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften .
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 18/6094, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 18/4902 in der Aus-
schussfassung anzunehmen . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wol-
len, um das Handzeichen . – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen der Unionsfraktion und der
SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen .
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei
Enthaltung der Opposition angenommen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sigrid
Hupach, Dr . Petra Sitte, Halina Wawzyniak, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion Die Linke
Verleihbarkeit digitaler Medien entsprechend
analoger Werke in Öffentlichen Bibliotheken
sicherstellen
Drucksache 18/5405
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss Digitale Agenda
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist es so beschlossen . – Ich bit-
te, gegebenenfalls notwendige Gespräche außerhalb des
Plenums zu führen .
Das gilt bitte auch für die Kollegen der Unionsfraktion .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat die Kollegin
Sigrid Hupach für die Fraktion Die Linke .
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Wir legen heute einen Antrag vor, der dafür wirbt, glei-che Regelungen für den Verleih von digitalen und körper-lichen Medien, kurz E-Books und klassischen Büchern,in öffentlichen Bibliotheken einzuführen .Das ist in unserer digitalen Zeit eigentlich eineSelbstverständlichkeit, sollte man meinen . Die Realitätsieht aber anders aus . Obwohl die öffentlichen Biblio-theken zu den meistgenutzten Bildungseinrichtungen inDeutschland gehören und Bücher immer öfter auch alsE-Books erscheinen, stehen die Nutzerinnen und Nutzerunserer Bibliotheken häufig vor einem enttäuschend ma-geren E-Book-Angebot . Das Wenige, das auszuleihen ist,ist meist nicht das Aktuelle oder das Gesuchte .Wer sich in seiner Lektüre zum Beispiel an der Spie-gel-Bestsellerliste orientiert, wird hier kaum auf seineKosten kommen . Noch immer ist es so, dass von den Ti-teln dieser Liste nur die Hälfte in den Bibliotheken aus-geliehen werden kann . Betroffen sind davon einmal mehrMenschen mit niedrigem Einkommen; denn gerade fürsie bieten die öffentlichen Bibliotheken die Möglichkeit,am kulturellen Leben teilzunehmen .Die Bibliotheken fürchten, durch das reduzierte An-gebot an elektronischen Medien an Attraktivität zu ver-lieren . Seit Jahren setzen sie sich deshalb in Deutschlandund auf europäischer Ebene für eine Gleichstellung vondigitalen und analogen Medien im Urheberrecht ein .Dennoch unterscheidet sich das E-Book in seiner recht-lichen Stellung erheblich vom gedruckten Buch, auchwenn der darin transportierte Inhalt identisch ist .Elektronische Medien werden auf der Basis von zeit-lich befristeten Lizenzverträgen zwischen Verlagen oderAnbietern wie der divibib GmbH mit ihrem Onleihe-An-gebot und den Bibliotheken angeboten . Genau hier liegtdas Problem . Bei den digitalen Medien können öffentli-che Bibliotheken nicht ausschließlich selbst bestimmen,welche Titel sie einkaufen . Denn die Anbieter diktierenhier die Bedingungen von Auswahl und Preis . Große Ver-lage wie Fischer, Rowohlt oder die Holtzbrinck-Gruppeverweigern gar den Verleih von E-Books . Bibliothekenhaben aber den Auftrag, die Meinungsvielfalt widerzu-spiegeln . Bei den digitalen Medien jedoch bestimmenwirtschaftliche Interessen das Angebot .Wir fordern mit unserem Antrag die Bundesregierungauf, zu einer Klarstellung in den §§ 17 und 27 des Urhe-berrechtsgesetzes zu kommen,
mit dem Ziel, unsere Bibliotheken endlich zukunftssicherzu machen . Die Erweiterung des Erschöpfungsgrundsat-zes auf nicht körperliche Werke, das damit verbundeneSchaffen von fairen Lizenzvergabemodellen und dieAusweitung und Aufstockung der Bibliothekstantiemewürden die Bibliotheken in die Lage versetzen, ihren Le-sern ein aktuelles und vielfältiges Angebot zu unterbrei-ten und dieses zu fairen Preis- und Lizenzkonditionen zuerwerben .Diese Anpassung des Urheberrechts ist eine so ein-fache wie überfällige Maßnahme, mit dem Effekt, dasseigentlich alle davon profitieren würden: sowohl die Nut-zer als auch die Bibliotheken, Autoren und auch die Ver-lage . Der Verleih von gedruckten Büchern hat die Verla-Andreas Schwarz
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ge trotz aller Unkenrufe in den 60er-Jahren nicht in denRuin getrieben; er hat vielmehr die Lesefreudigkeit ge-stärkt . Beim Verleih von E-Books wird das genauso sein .Besinnen Sie sich also auf Ihren Koalitionsvertrag,in dem schon angekündigt wurde, zu prüfen, ob den öf-fentlichen Bibliotheken gesetzlich das Recht eingeräumtwerden soll, elektronische Bücher zu lizenzieren! ZweiJahre hatten Sie Zeit dafür; aber noch immer liegt keinEntwurf vor . Da lassen Sie uns einmal mehr Ihre Arbeitmachen .Auch Frau Grütters kritisierte erst kürzlich die aufwen-dige Lizenzierungspraxis für E-Books seitens der Verla-ge . In den Handlungsempfehlungen der Internet-Enqueteheißt es deutlich: Der Verleih digitaler Medien soll wiebei analogen Werken sichergestellt werden .Auch auf europäischer Ebene gibt es in dieser Fra-ge deutlich mehr Bewegung als im Bundestag: Im Julistimmte das Europäische Parlament über den Reda-Be-richt zur Reform der InfoSoc-Richtlinie von 2001 ab .Auch hier heißt es: Neue Ausnahmen beim Urheberrechtsollen das Ausleihen von E-Books ermöglichen .Unser Antrag versetzt Sie, liebe Kolleginnen und Kol-legen von der Koalition, jetzt in die komfortable Lage,mit einer einfachen Zustimmung zu diesem Antrag dennächsten Schritt ins digitale Zeitalter zu tun und vielenMenschen in diesem Land einen einfachen und kosten-günstigen Zugang zu Information, Wissen und Kultur zuermöglichen .Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Dr . Stefan
Heck das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Bitte gestatten Sie, dass ich die Rede mit einem schonetwas älteren Zitat beginne:Überdem zwingt das deutsche Publicum seineSchriftsteller, nicht nach dem Zuge des Genius, son-dern nach Speculationen des Handelns [ihre Tätig-keit] zu wählen .So beklagt sich schon 1784 der erst 25-jährige Theater-dichter Friedrich Schiller . Er wandte sich mit diesem undanderen Hilferufen wahllos an glühende Bewunderer,deren Briefe er zuvor in den kalten Wintermonaten ausmateriellen Gründen unbeantwortet gelassen hatte .Friedrich Schiller konnte von dem erst nach seinemTod 1805 etablierten Autorenschutz nicht mehr profi-tieren . Er lebte vielmehr von dem Ertrag seiner Auffüh-rungen und seiner Herausgebertätigkeit . Seinen Lebens-unterhalt konnte er mit seinen Werken, die heute nochimmer zur Weltliteratur gehören, nicht bestreiten .Seit den Zeiten Friedrich Schillers hat sich das deut-sche Urheberrecht zum Glück gewandelt . Das moderneUrheberrecht schützt nicht nur die Urhebereigenschaftdes Autors, sondern es stellt auch sicher, dass ihm einfinanzieller Ertrag aus seinen Werken zusteht.
Ich glaube, wenn Friedrich Schiller heute gelebt hät-te, hätte er bestimmt gute Erfahrungen mit der VG Wortgemacht . Aber spätestens seit dem Aufkommen von Tab-let-Computern und E-Book-Readern hat die Digitalisie-rung aller Lebensbereiche auch den Buchmarkt erreicht .Die neuen Möglichkeiten, die damit verbunden sind, sindin ihrer Revolution wahrscheinlich vergleichbar mit derErfindung des Buchdrucks vor über 550 Jahren. Komplizierter als damals ist aber die Frage, welcheVerkaufsmodelle sich in Zukunft durchsetzen werden .Deshalb ist es uns, der CDU/CSU-Fraktion, besonderswichtig, dass wir diese neue technische Entwicklungvon Anfang an auch rechtlich angemessen begleiten unddabei einen umfassenden Autorenschutz sicherstellen .Die Autoren von heute müssen die Schwierigkeiten vonFriedrich Schiller jedenfalls nicht mehr kennenlernen .Vielleicht darf man noch erwähnen, dass auch hinterjedem E-Book ein Autor steht . Ebenso wie bei „körperli-chen Medien“ ist er darauf angewiesen, dass er aus demVerkauf seiner Werke einen Ertrag erhält . Insbesonderefür Schriftsteller und Autoren von nicht wissenschaft-lichen Werken ist dieser Ertrag entscheidend beim Be-streiten des Lebensunterhalts . Dafür handeln Kopierge-rätebetreiber und Verleiher von gedruckten Werken eineVergütung mit der VG Wort aus . Diese wird dann an-schließend an die Autoren ausgeschüttet . Deshalb machtes schon einen Unterschied – damit sind wir bei den Bib-liotheken –, ob ein gedrucktes Buch verliehen wird oderob für den Download ein E-Book zur Verfügung gestelltwird . Bei dem Verleih gedruckter Bücher bleibt nämlichdie Anzahl der in Verkehr gebrachten Bücher stets gleich .Der Autor hat für jedes Exemplar, das sich im Umlaufbefindet, bereits ein Honorar erhalten.Ganz anders verhält es sich bei der „Ausleihe“ vonE-Books . Sie sind auf einem Datenträger gespeichert undkönnen der Bibliothek nicht mehr im eigentlichen Sinnezurückgegeben werden . Deshalb ist es technisch schwie-rig, zu gewährleisten – eine Garantie ist wahrscheinlichausgeschlossen –, dass das ausgeliehene E-Book nichteinfach an Dritte weitergegeben wird . Deshalb kann beidem sogenannten Verleih von E-Books auch nicht si-chergestellt werden, dass der Autor für jedes im Umlaufbefindliche Exemplar ein Honorar erhalten hat. Sobald ein einziges Exemplar herausgegeben wurde, kann dieseszumindest technisch zum Nulltarif und unkontrollierbarweitergegeben werden . Der Autor droht so um die ver-dienten Früchte seiner Arbeit gebracht zu werden . Wirwollen deshalb dafür Sorge tragen, dass der Erschöp-fungsgrundsatz auch zukünftig für gedruckte und digitaleMedien unterschiedlich gehandhabt wird .
Sigrid Hupach
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Vor diesem Hintergrund ist der Ansatz, den Erschöp-fungsgrundsatz auf digitale Medien, E-Books und Hör-bücher, auszudehnen, ziemlich sachfremd . Was würdedas denn für die Autoren von E-Books und Hörbüchernbedeuten? Hat ein Nutzer der Bibliothek das E-Book aufeinem Datenträger gespeichert, oder hat ein Käufer beieinem Onlinehändler das Hörbuch heruntergeladen, dür-fen diese Werke beliebig weiterverbreitet werden . DasUrheberrecht des Autors wäre praktisch nutzlos .
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, entwe-der wollen Sie diesen Unterschied zwischen gedrucktenund digitalen Werken nicht verstehen, oder Sie trampelnganz bewusst auf dem geistigen Eigentum der Urheberherum . Auf jeden Fall lassen Sie mit Ihrem Antrag dieKreativen und die Intellektuellen in diesem Land imStich, auf die Sie sich sonst so gerne berufen .
Die CDU/CSU-Fraktion wird weiterhin dafür streiten,dass im Grundsatz der Autor darüber entscheiden darf,wer sein Werk zu welchen Konditionen nutzen darf . Dievon der Linken offensichtlich betriebene Sozialisierunggeistigen Eigentums wird es mit uns nicht geben . Wirwerden deshalb gegen den vorliegenden Antrag stimmen .Vielen Dank .
Das Wort hat die Kollegin Tabea Rößner für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Sehr geehrte Damenund Herren! Examenszeit, und das Standardwerk ist inder Bibliothek nicht auffindbar oder über Monate vorge-merkt, oder wichtige Seiten sind herausgerissen . Vielevon Ihnen kennen das vielleicht, sofern Sie Ihre Arbeitenselbst geschrieben haben .
Das müsste in digitalen Zeiten mit Internet, iPad, Toli-no und Co . eigentlich vorbei sein . Das ist es aber nicht .Auch in der digitalen Bibliothek können Bücher vergrif-fen sein, weil nur so viele Exemplare verliehen werdenkönnen, wie Lizenzen erworben wurden .Die öffentliche Bibliothek muss sich für die digitaleZukunft neu aufstellen . Hierfür braucht sie – da trifft derAntrag der Linken den richtigen Nerv – ein breitgefä-chertes digitales Angebot und dafür finanzielle Unterstüt-zung . Die Bibliothek muss als Bildungseinrichtung füralle sozialen Schichten und Altersstufen, für Schul- undErwachsenenbildung sowie als Anlaufpunkt für Migran-tinnen und Migranten erhalten bleiben, auch digital .
Ich habe aber Zweifel, ob die hier vorgeschlagenen Än-derungen den Verbraucherinnen und Verbrauchern tat-sächlich einen Mehrwert bringen . Mehr noch: Sie könn-ten ihnen sogar einen Bärendienst erweisen .Der Buchmarkt versucht gerade, sich mit kommerzi-ellen Leihportalen für E-Books auf die neuen Lesege-wohnheiten einzustellen . Das ist übrigens etwas, was wirimmer eingefordert haben . Das Angebot der Bibliothe-ken erscheint da schädlich . Es ist kostenfrei, und für dieAusleihe zahlen die Bibliotheken an Autoren und Verla-ge die Bibliothekstantieme; sie liegt jetzt bei 4 Cent . BeiSkoobe oder Readfy erhalten Autoren und Verlage zwi-schen 16 Cent und 1,10 Euro pro Leihe . Mit der Biblio-thekstantieme würden sie also nur noch einen Bruchteilbekommen . Die Kreativen dürfen aber eben nicht zu denVerlierern der Digitalisierung werden .
– Da könnten Sie von der Union eigentlich auch klat-schen .
Dabei ist es richtig, die Bibliotheken finanziell besser auszustatten . Es sollte ihnen weiterhin möglich sein, einedem öffentlichen Auftrag entsprechende qualitative Aus-wahl anzubieten .Ich hadere hier allerdings vor allem mit der geplan-ten Änderung in § 17 Urheberrechtsgesetz . Abgesehendavon, dass wir damit erst einmal Brüssel durchlaufenmüssten: Digitale Medien könnten dann an jeden weiter-verkauft werden . Das klingt zwar erst einmal wunderbar,hat aber einen Haken: Ein florierender Gebrauchtwaren-handel mit digitalen Gütern könnte eine ungewollte Spi-rale nach unten auslösen . Anbieter wie Amazon oder Ap-ple stehen bereits mit Secondhand-Verkaufsplattformenfür Digitales in den Startlöchern .Sollte es hier grünes Licht geben, wäre die Konkurrenzfür Verlage enorm . Digitales verrottet nicht . GebrauchteE-Books wären mit einem Klick in alle Welt weiterver-kauft, zu Spottpreisen, und zwar ohne Riss oder Kaf-feefleck. Das stärkt geschlossene Systeme wie das von Amazon, und es schadet dem kulturellen Angebot . Dennwer investiert dann noch? Wer nimmt das wirtschaftli-che Risiko eines Flops auf sich, und wer setzt noch aufunbekannte Autoren oder vielleicht auf gewagte Inhalte?Unter idealen Bedingungen sind das die Verlage . Es sindzumindest nicht die digitalen Verkaufsplattformen .Wir dürfen das wirtschaftliche Fundament nicht derarterschüttern, dass die kulturelle Vielfalt darunter leidet .Wenn nur noch risikofreie Bestseller auf dem Markt sind,kann das sicher nicht im Sinne der Verbraucherinnen undVerbraucher sein .
Wir sprechen hier ja nicht nur von E-Books . Digitale Me-dien, das sind ja auch Musik- oder Filmdateien .Dr. Stefan Heck
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Ich möchte festhalten: Öffentliche Bibliotheken müs-sen ein facettenreiches digitales Angebot bereithalten,und sie dürfen keine Nischeninstitutionen werden . Wirbrauchen aber eine sozialverträgliche Lösung, und dafürsollten sich alle Seiten ins Zeug legen .Um dies zu schaffen, müssen Länder und Kommunendringend in die Lage versetzt werden, digitale Bibliothe-ken finanziell ausreichend auszustatten. Die Belange der Kreativen müssen mitgedacht werden . Zudem braucht esMut bei den Verlagen, auch Neues zu wagen, und die be-teiligten Kreise müssten aufeinander zugehen und einegemeinsame Lösung erarbeiten, die dann allen Seitenzugutekommt . Dabei sind faire Lizenz- und Nutzungsbe-dingungen Pflicht. Wenn diese Chance aber vertan wird, dann muss der Gesetzgeber die Lösung für sie finden. Vielen Dank .
Das Wort hat der Kollege Christian Flisek für die
SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kol-
leginnen und Kollegen! Liebe Frau Kollegin Hupach,
offen gesprochen, ich begrüße es außerordentlich, dass
sich auch die Linke um ein modernes Urheberrecht
im digitalen Zeitalter bemüht . Das ist keine Selbstver-
ständlichkeit . Ich begrüße es aber umso mehr, dass vor
allen Dingen die Koalition und hier insbesondere Bun-
desjustizminister Heiko Maas dem urheberrechtlichen
Stillstand insbesondere der letzten Legislaturperiode ein
Ende setzt und sich mit einer sehr klar umrissenen ur-
heberrechtlichen Agenda mit uns gemeinsam aufmacht,
den modernen Rechtsrahmen für den Kreativstandort
Deutschland zu setzen .
Man muss kein Prophet sein, um festzustellen, dass
die nächsten Monate für alle urheberrechtlich Interes-
sierten in diesem Hause sehr intensiv sein werden . Der
Bundesjustizminister hat jetzt innerhalb kurzer Zeit zwei
Referentenentwürfe vorgestellt . Das eine ist ein Refe-
rentenentwurf für ein Verwertungsgesellschaftengesetz .
Damit wird in Umsetzung einer EU-Richtlinie das Wahr-
nehmungsgesetz, der Rechtsrahmen der Verwertungsge-
sellschaften, komplett auf neue Füße gestellt . Insbeson-
dere werden die Abgabe für Geräte und Speichermedien
und der damit verbundene Prozess der Tariffindung straf-
fer gefasst; er wird effizienter gestaltet. Das sind sehr
gute Signale an die Branche .
Lieber Herr Dr . Heck, Sie haben eingangs Ihrer Rede
Friedrich Schiller angesprochen . Wir werden vor allen
Dingen die Schillers des 21 . Jahrhunderts in ihrer Po-
sition stärken . Wir werden nämlich dafür sorgen, dass
das Urhebervertragsrecht weiterentwickelt wird, modern
weiterentwickelt wird . Wir werden insbesondere dafür
sorgen, dass Urheber aus ihrer Einzelkämpferstellung
herausgeholt werden . Wir werden gemeinsame Vergü-
tungsregelungen stärken . Wir werden auch die kollektive
Rechtsdurchsetzung stärken . Das ist ein gutes Zeichen
für alle Kreativen in diesem Land .
Man kann also mit Fug und Recht sagen: Es tut sich
einiges im Urheberrecht, meine Damen und Herren, und
dabei wird es nicht bleiben . Der Bundesjustizminister hat
am Montag dieser Woche beim Max-Planck-Institut für
Innovation und Wettbewerb in München eine viel beach-
tete Rede zur Zukunft des Urheberrechts gehalten . Ich
empfehle jedem die Lektüre . Er hat dort angekündigt,
dass er in Kürze eine Studie von diesem Max-Planck-In-
stitut vorlegen wird, die sich damit beschäftigt, wie wir
es schaffen, die Nutzergewohnheiten, die in den nächs-
ten 5, 10, 15 Jahren aufkommen werden, so in unserem
Urheberrecht zu berücksichtigen, dass das Urheberrecht
endlich einmal auf der Höhe der Zeit ist, dass wir also
proaktiv tätig werden und nicht immer nur reaktiv den
technischen Entwicklungen hinterherlaufen .
Wenn man sich vor allen Dingen mit der Metho-
dik dieser Studie auseinandersetzt, erkennt man etwas
sehr Beachtliches: Es werden – so ist es angekündigt –
40 hochinnovative Geschäftsmodelle von Start-ups em-
pirisch analysiert, um genau diese modernen Nutzerge-
wohnheiten einmal vor Augen zu haben . Ich glaube – das
sage ich dann auch an die Kolleginnen und Kollegen von
der Linkspartei –, das wird eine sehr gute empirische
Grundlage sein, sodass wir dann gemeinsam in diesem
Hause einmal eine grundsätzliche Debatte über den Mo-
dernisierungsbedarf des Urheberrechtsgesetzes führen
können und bewerten können, wo wir tatsächlich einen
Regelungsbedarf haben .
Es ist von meinen Kolleginnen und Kollegen schon
angesprochen worden: Man muss sehr vorsichtig sein,
wenn man zum Beispiel beim Erschöpfungsgrundsatz
Hand anlegt . Das bezieht sich nicht nur auf die Bibliothe-
ken oder auf Einzelproblemlagen . Das sind sehr grund-
sätzliche Normen, die eine Vielzahl von Fällen regeln .
Da muss man mit Bedacht herangehen . Ich glaube, das
Vorgehen des Bundesjustizministers bietet uns hierfür
eine wirklich gute empirische Grundlage . Ich bin sehr
zuversichtlich, dass wir noch in dieser Legislaturperiode
hierzu weitere Vorschläge machen werden .
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Dr . Volker
Ullrich das Wort .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wenn Sie sich in einer der 10 000 Leihbüche-reien in Deutschland ein Buch ausleihen, hat es zuvorTabea Rößner
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die Kommune oder der Staat gekauft, und pro Ausleihewerden 3 bis 4 Cent Bibliothekstantieme fällig . Wenn Siesich ein gedrucktes Buch selbst kaufen, wird damit derUrheber entschädigt, und Sie können das Buch frei wei-tergeben . Das nennt sich „Erschöpfungsgrundsatz“ .Die Vertriebswege ändern sich jedoch mit der Digi-talisierung . Wir haben im letzten Jahr knapp 5 ProzentE-Books im deutschen Markt gehabt . In den Vereinig-ten Staaten ist man mittlerweile bei etwa 20 Prozent an-gelangt . Wer meint, dass die Verhältnisse des digitalenMarktes eins zu eins mit denen des analogen vergleichbarsind, der irrt, und der liegt falsch . Es geht um die Frage:Welche rechtlichen Rahmenbedingungen setzen wir imBereich der zunehmenden Digitalisierung, um geistigesEigentum zu schützen? Ihr Ansatz, die wesentlichen Ele-mente des Schutzes des geistigen Eigentums im analogenBereich – Bibliothekstantieme, Erschöpfungsgrundsatz –in die digitale Welt zu übertragen, geht fehl . Dieser An-satz, meine Damen und Herren, ist geprägt von einemgrundsätzlichen Missverständnis vom Funktionieren derdigitalen Welt und – ich füge hinzu – auch von einemgrundsätzlichen Mangel an Sensibilität dem geistigen Ei-gentum gegenüber .
Vielleicht sollten Sie sich einmal ein paar Zitate vorAugen führen . Der – inzwischen verstorbene – Heraus-geber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Frank Schirr-macher hat gesagt:Die Vorstellung, dass das Netz an sich frei und kos-tenlos sei, ist eine der stärksten Illusionen der Ge-genwart .
Und weiter:Es ist aber eine Schlüsselfrage der digitalen Zu-kunft, dass sich jedermann der unerwünschten Ver-breitung . . . seines geistigen Eigentums widersetzenkann .Oder lesen Sie die vielbeachtete Rede von Jaron La-nier, Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhan-dels, nach! Er hat auch davor gewarnt, dass Autoren ihrRecht verlieren und ein erhebliches Maß an Ungerechtig-keit erleiden müssen .Oder lesen Sie gar beim britischen Unternehmer JamesDaunt nach, der gewarnt hat, dass die E-Book-Ausleiheeine zerstörerische Kraft ist, die den Markt so zerstörenkann, dass Autoren nichts mehr davon haben werden .
Das sind sicherlich dramatische Worte . Aber die-se Worte müssen uns zu einer wesentlichen Erkenntnisbringen: Welcher Vertriebsweg auch immer gewähltwird, wie sehr die Digitalisierung Aspekte unseres Le-bens umfasst – der Schutz des geistigen Eigentums unddie Vergütung des Urhebers bleiben für uns gültige undeherne Rechtsgrundsätze .
Ich muss Ihnen sagen, liebe Kollegen der Linkspar-tei: Sie haben mir einen zu sorglosen Umgang mit demgeistigen Eigentum! Wir mussten erst kürzlich über dieAbschaffung des Leistungsschutzrechtes debattieren
und haben Ihren Antrag dazu zu Recht niedergestimmt .Heute haben wir eine weitere Schleifung des Urheber-rechts zu bereden, und ich sage Ihnen: Der Schutz desgeistigen Eigentums hat bei uns hohen Wert . Wir werdenIhre Anträge nicht unterstützen .
Ich kann für unsere Fraktion festhalten: Die Heraus-forderungen einer Wissensgesellschaft werden wir nurdann meistern, wenn wir geistigem Eigentum und Kreati-vität schützenden Raum geben . Das sind wir den Autorenund den Künstlern schuldig . Wir stehen an der Seite derAutoren . Sie stehen an der Seite derjenigen, die kopierenwollen und diejenigen zurückdrängen, die an geistigenMaterien hart arbeiten .
Man kann es vielleicht, wenn wir in die Zukunft desUrheberrechts blicken, auch an einer sprachlichen Fines-se festmachen: Im Englischen heißt es „copyright“ – dasRecht, zu kopieren . Im Französischen spricht man über„le droit d’auteur“ – das Recht des Autors .
Wir werden am Ende des Tages das Recht des Autorsschützen – das geistige Eigentum als wesentliches Ele-ment der Wissensgesellschaft . Diesen Weg lassen wiruns nicht nehmen; deswegen lehnen wir Ihren – untaug-lichen – Antrag ab .
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Siegmund
Ehrmann das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Meine Damen und Herren! Die Entwicklung desBuchmarktes zeigt, dass Bücher schon lange nicht mehrdas alleinige Trägermedium sind . Lässt man die Fach-bücher und die Schulbücher außen vor, sieht es auf demsogenannten Publikumsmarkt so aus, dass im zweitenQuartal des Jahres 2015 die E-Books einen Anteil vonetwa 5,6 Prozent am Markt hatten . Das ist ein Zuwachsgegenüber dem Vergleichsquartal des Jahres 2014 umetwa 12 Prozent .Dr. Volker Ullrich
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Wenn man sich dann noch vergegenwärtigt, dass in derersten Hälfte des Jahres 2015 bei den über Zehnjährigen2,9 Millionen E-Books erworben haben, dann zeigt das,wie sich die Nachfrage auf dem Markt verändert hat . Esergibt sich damit aber auch ein Reflex mit Blick auf die Situation der öffentlichen Bibliotheken . Denn die Verän-derungen im Markt müssten sich in der Angebotspaletteder Bibliotheken widerspiegeln .Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag formuliert,dass öffentliche Bibliotheken auch im digitalen Umfeldihrem Auftrag nachkommen können müssen . Sie sinddie am stärksten genutzten Kultur- und Bildungseinrich-tungen in Deutschland . Insgesamt 10 000 Bibliothekenhalten jährlich 440 Millionen Medien bereit, die dortnachgefragt werden können . So vollzieht sich Teilhabean Wissen, und das ist eine ganz wichtige öffentlicheLeistung, die wir über die öffentlichen Bibliotheken dar-bieten .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Antrag der Lin-ken zielt auf diesen Kontext . Ich würde nicht so weitgehen wie mein Vorredner, das mit dem Untergang desAbendlandes und dem Schleifen des geistigen Eigentumsgleichzustellen .
Es sind erwägenswerte Aspekte in ihm formuliert, aberdie entscheidende Frage ist – das gebietet fairer parla-mentarischer Umgang –, zu prüfen, ob sie tragen . Dahabe ich meine Zweifel .Nicht zu verkennen ist: Den Bibliotheken werden be-reits heute E-Medien über private Anbieter – es wurdeerwähnt – wie Onleihe, ciando eBooks oder OverDriveangeboten . Das ist gut, hat aber Schwächen . Wenn da-bei lediglich rund 1 400 öffentliche Bibliotheken mitma-chen, kann man nicht von einem flächendeckenden An-gebot sprechen . In der Tat ist es so, dass Bestseller nurzu 50 Prozent über die Onlineangebote, die dargebotenwerden, zugänglich sind . Zudem liegt die Einkaufsent-scheidung bei der privaten Wirtschaft, bei den Partnernin den Unternehmen, bei den Anbietern und nicht wie beianalogen Medien bei den öffentlichen Bibliotheken .Meine Damen und Herren, alleine die rechtlicheGleichstellung von digitalen und körperlichen Medienführt nicht automatisch zu einem vernünftigen, angemes-senen und gerechten Interessenausgleich zwischen Au-toren, Übersetzern und Verlagen auf der einen Seite undden Bibliotheken auf der anderen Seite . Hierzu bedürftees genauerer Eckpunkte der anzustrebenden Lizenzver-träge . Das ist vorhin in Debattenbeiträgen formuliertworden . Da bleibt der Antrag also vage .Schließlich und zuletzt – es wurde erwähnt –: HeikoMaas hat eine wirklich beachtliche und beeindruckendeRede in München gehalten
und dabei die urheberrechtlichen Projekte der GroßenKoalition vorgetragen . Auch das Thema „E-Books in Bi-bliotheken“ wurde darin erwähnt, und es wurde auf dieeuroparechtliche Dimension abgestellt . So ganz einfachund allein können wir das hier nicht verhandeln, unab-hängig von den Aspekten, die ich vorgetragen habe . Daswird mit Sicherheit in den Gesetzesvorlagen der Koali-tion, die uns erreichen werden, zu verhandeln sein . IhrGesetzentwurf ist gut gemeint, löst aber die zu Recht be-schriebenen Probleme nicht wirklich .Herzlichen Dank .
Herzlichen Dank . – Wir sind am Ende der Aussprache .Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/5405 an die in der Tagesordnung auf-geführten Ausschüsse vorgeschlagen . Wie auch sonstmanchmal ist die Federführung strittig . Die Fraktionender CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beimAusschuss für Recht und Verbraucherschutz, die Frakti-on Die Linke wünscht Federführung beim Ausschuss fürKultur und Medien .Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag derFraktion Die Linke – Federführung beim Ausschuss fürKultur und Medien – abstimmen . Wer stimmt für diesenÜberweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Dieser Überweisungsvorschlag ist mit denStimmen des Hauses gegen die Stimmen der FraktionDie Linke abgelehnt .Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag derFraktionen der CDU/CSU und SPD – Federführung beimAusschuss für Recht und Verbraucherschutz – abstim-men . Wer stimmt für diesen Vorschlag? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Der Überweisungsvor-schlag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD undBündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FraktionDie Linke angenommen .Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlän-gerung der Befristung von Vorschriften nachden TerrorismusbekämpfungsgesetzenDrucksache 18/5924Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz VerteidigungsausschussSiegmund Ehrmann
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b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungEvaluation nach Artikel 9 des Gesetzes zurÄnderung des Bundesverfassungsschutzgeset-zesDrucksache 18/5935Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz VerteidigungsausschussDie Reden sollen zu Protokoll gegeben werden .1) –Ich sehe, Sie sind damit einverstanden .Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 18/5924 und 18/5935 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen .Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall .Dann sind die Überweisungen so beschlossen .Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und desBerichts des Finanzausschusses
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr . GerhardSchick, Kerstin Andreae, Dr . Thomas Gambke,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN sowie der AbgeordnetenRichard Pitterle, Susanna Karawanskij, Dr . AxelTroost, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKESonderermittler zur Aufarbeitung derCum-Ex-Geschäfte einsetzenDrucksachen 18/3735, 18/6088Auch hier sollen die Reden zu Protokoll gegebenwerden .2) – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden . Dannist so beschlossen .Wir kommen zur Abstimmung . Der Finanzausschussempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 18/6088, den Antrag der Fraktionen Bündnis 90/DieGrünen und Die Linke auf Drucksache 18/3735 abzuleh-nen . Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlus-sempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU undSPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünenund der Fraktion Die Linke angenommen .Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung
– zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSUund SPDPrinzipien des deutschen Bildungswesensstärken – Gleichwertigkeit und Durchläs-sigkeit der beruflichen und der akademi-schen Bildung durchsetzen1) Anlage 22) Anlage 3– zu dem Antrag der AbgeordnetenDr . Rosemarie Hein, Sigrid Hupach, SabineZimmermann , weiterer Abgeord-neter und der Fraktion DIE LINKEAusbildungsqualität sichern – Gute Ausbil-dung für alle schaffen– zu dem Antrag der Abgeordneten BeateWalter-Rosenheimer, Brigitte Pothmer, KaiGehring, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMit einer echten Ausbildungsgarantie dasRecht auf Ausbildung umsetzenDrucksachen 18/4928, 18/4931, 18/4938,18/6040Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .Ich bitte, die Plätze einzunehmen und die Gespräche,die noch notwendig sind, vielleicht außerhalb des Plen-arsaales zu führen .Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat Dr . ThomasFeist, CDU/CSU-Fraktion .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Meine lieben Kolle-ginnen und Kollegen! Wir beraten heute in dieser Debat-te abschließend unseren hervorragenden Antrag
„Prinzipen des deutschen Bildungswesens stärken –Gleichwertigkeit und Durchlässigkeit der beruflichen und der akademischen Bildung durchsetzen“ .Wenn man sich die Entwicklung der letzten Jahre an-schaut, dann erscheint es mir so, dass wir für die beruf-liche Bildung etwas mehr tun müssen, als wir das bishergetan haben .
Genau darauf zielt unser Antrag, und deswegen werdenwir ihm heute mit großer Mehrheit zustimmen . Das wer-den auch Sie, Herr Kollege Mutlu, nicht verhindern kön-nen .
Wo wir jetzt über die Gleichwertigkeit akademischerund beruflicher Bildung reden, stelle ich mit Freude fest, dass der Bundesregierung unsere Diskussionen, auch die,die wir dazu im Ausschuss geführt haben, nicht verbor-gen geblieben sind . So sind im Regierungsentwurf desHaushaltes die Themenbereiche, deren Unterstützungwir im Antrag gefordert haben, schon mit Mitteln unter-setzt, die mich fröhlich stimmen .
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 124 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 24 . September 2015 12081
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Der Ansatz für die Berufsorientierung, den wir um27 Prozent aufgestockt haben, bleibt in dieser Höhe be-stehen . Das ist genau der richtige Weg, jungen Menscheneine gute Berufs- und Studienorientierung zu ermögli-chen . Bei der Vielzahl der Wege, die man über das Studi-um und über den Beruf in eine Karriere hinein hat, ist eswichtig, so vorzugehen und damit alle jungen Menschen,egal welcher Schulform, zu erreichen .
Darüber hinaus machen wir etwas für die überbetrieb-lichen Ausbildungsstätten . Die überbetrieblichen Ausbil-dungsstätten liefern genau dort einen Mehrwert, wo Be-triebe entsprechende Fertigkeiten und Fähigkeiten nichtvermitteln können . Bei der Förderung dieser überbetrieb-lichen Ausbildungsstätten ist im Haushaltsentwurf einAufwuchs von 25 Prozent vorgesehen . Auch das ist einErgebnis unserer Beratungen, ein Ergebnis, worüber wiruns freuen können .Die Begabtenförderwerke assoziiert man gemeinhinmit Studienförderwerken, aber es gibt Begabtenförde-rung auch sehr erfolgreich in der beruflichen Bildung und beruflichen Weiterbildung. Im Haushalt haben wir einen Aufwuchs von 7 Prozent .Ich komme noch zu einer anderen Zahl: Wenn wirüber Internationalisierung und Gleichwertigkeit im aka-demischen Bereich reden, dürfen wir den beruflichen Bereich nicht außen vor lassen . Auch dort gibt es einenMittelaufwuchs von 15 Prozent .Von unserem Antrag sind also genau die richtigen Si-gnale ausgegangen, meine lieben Kolleginnen und Kol-legen .
Einen Punkt müssen wir noch in den Blick nehmen –auch das ist im Antrag beschrieben –: die Berufsschulen .Der Kollege von der SPD freut sich . Vielleicht wird derPunkt nachher auch noch von der SPD erwähnt . Wir sinduns aber völlig einig – ich glaube, im ganzen Haus –,dass wir für die Berufsschulen mehr tun müssen;
denn sie haben in den Ländern oft nicht den Stellenwert,der ihnen eigentlich zustände . Da wird uns sicherlichnoch irgendetwas Gutes einfallen, was wir hier im Deut-schen Bundestag auf den Weg bringen können, um dieQualität an den Berufsschulen nicht nur sicherzustellen,sondern sie auch dort, wo es nötig ist, ganz gezielt zuerhöhen .
Bei den Berufsschulen, den überbetrieblichen Ausbil-dungsstätten, geht es vor allen Dingen um Qualität . Wennich an Qualität im internationalen Maßstab denke, dannfallen mir die WorldSkills ein, die Berufsweltmeister-schaften . Sie sind nicht nur deswegen gut, weil sie vorzwei Jahren in meiner Heimatstadt Leipzig stattgefundenhaben . In diesem Jahr haben sie in São Paulo stattgefun-den . Dort haben 1 200 junge Leute aus 50 Ländern in59 Disziplinen miteinander gewetteifert, wer der Besteist. Ich finde, dass wir den Drive der WorldSkills nutzen sollten, um etwas für Exzellenz im Bereich der berufli-chen Bildung und Weiterbildung zu tun . Wir haben, umein Bild zu verwenden, einen super Breitensport, aber imSpitzensport fehlt noch etwas . Ich will mich gerne mitIhnen in Zukunft für mehr Exzellenz in der beruflichen Bildung einsetzen .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als Nächste hat Dr . Rosemarie Hein,
Fraktion Die Linke, das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Dr . Feist, Ihre Fröhlichkeit kann ich nicht teilen .
Sie haben hier zum Beginn des neuen Ausbildungsjahreseine Haushaltsrede gehalten . Ich will über andere Zahlenreden .Im vergangenen Jahr gab es in der beruflichen Bildung bekanntlich einige Sorgen . Sie haben die Sorgen durch-aus geteilt; zum Teil hatten wir sie gemeinsam . Auch ausdiesem Grund hat sich die Allianz für Aus- und Weiter-bildung, in der Unternehmerverbände, Gewerkschaften,Bundesagentur für Arbeit, Bund und Länder vertretensind, zusammengesetzt, um Lücken zu schließen . Eswurde ein umfangreicher Maßnahmenkatalog verab-schiedet, der zum Teil schon in diesem Ausbildungsjahrumgesetzt werden sollte . Ich will mich nur mit zwei derMaßnahmen befassen:Erstens . Angesichts der hohen Zahl unversorgter Be-werberinnen und Bewerber sollten der Bundesagentur fürArbeit 20 000 zusätzliche Ausbildungsstellen gemeldetwerden . Das hielten wir für zu wenig . Wir haben auch be-zweifelt, dass es zu schaffen ist . Nun hat die DGB-Jugendam 1 . September einen Bericht auf Basis der Zahlen derBundesagentur vorgelegt, aus dem hervorgeht, wie es imMonat August aussah . Fakt ist: Zur Erreichung des Zielsvon 20 000 zusätzlichen Stellen fehlten einen Monat vorAusbildungsbeginn noch 15 000 Stellen . Nun werden Siesicherlich sagen: Warten Sie mal ab, der 30 . – –
– Ich weiß doch, was Sie denken . So gut ist das schon .
– Das war jetzt eine Bemerkung, die Sie sich gut hättenschenken können .
Dr. Thomas Feist
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Sie werden also einwenden, dass am 30 . September ab-gerechnet wird und bis dahin noch Zeit ist . Aber es ist jawohl nicht anzunehmen, dass man 15 000 Stellen in ei-nem Monat schafft, wenn man in acht Monaten nur 5 000geschaffen hat .Vielmehr ist festzustellen, dass es jetzt noch wenigerBetriebe als im vergangenen Jahr gibt, die ausbilden . DieZahl der unbesetzten Ausbildungsplätze – es sind immer-hin 123 000 bundesweit – ist hoch; aber mehr als doppeltso viele Ausbildungsplätze werden noch gesucht, näm-lich über 300 000 . Es ist also zu befürchten, dass dieseswichtige Ziel der Allianz schon im ersten Jahr nicht er-reicht wird .Zweitens . Die Allianz wollte die soziale Chancen-gleichheit beim Zugang zur Ausbildung verbessern .Dazu wurde die Möglichkeit der assistierten Ausbildunggeschaffen und im SGB III verankert . Es gab dazu Mo-dellprojekte, in denen sehr gute Erfahrungen gesammeltwurden . Nun lasse ich mal beiseite, dass dafür die Bedin-gungen im SGB III verschlechtert worden sind; es bleibttrotzdem ein gutes Instrument . Also habe ich mich in derSommerpause umgehört, wie denn jetzt der Start gelun-gen ist . Ich habe mit Unternehmen, mit der Bundesagen-tur und mit Trägern geredet . Alle haben mir gesagt: GuteIdee, aber wir haben Schwierigkeiten bei der Umsetzung .10 000 Plätze sollten geschaffen werden, 5 000 sind es indiesem ersten Jahr geworden, und nicht einmal die konn-ten besetzt werden .Es ist also offensichtlich schwierig, sowohl Betriebeals auch Jugendliche davon zu überzeugen, dass eine as-sistierte Ausbildung ihnen tatsächlich bei den Schwierig-keiten helfen kann, die sie sonst hätten, zum Beispiel ihreAusbildung überhaupt anzutreten oder auch sie erfolg-reich zu absolvieren . Vielleicht müssen wir bei unserenAnstrengungen noch etwas nachlegen . Vielleicht müssenwir überprüfen, ob die Instrumente überhaupt greifen .Vielleicht muss man sich die Konditionen noch einmalansehen . Vielleicht muss man auch anders dafür werben .Vielleicht muss man den bürokratischen Aufwand über-prüfen usw .Ich finde, man muss auch die Erfahrung der Träger, die in der Modellphase gut gearbeitet haben, nutzen . Ichverstehe überhaupt nicht, warum die Ausschreibungsbe-dingungen so gestaltet wurden, dass viele Modellträgeraus der Modellphase keine Chance hatten, wieder denAuftrag zu bekommen. Ich finde, da müssen Sie etwas tun . Sie haben auch noch Zeit . Die nächste Ausschrei-bung endet am 5 . November . Vielleicht können Sie danoch etwas nachsteuern .Verehrter Herr Dr . Feist, die Berufsschulen zu verän-dern und ihre Qualität zu verbessern, das finden wir auch wichtig; da sind wir uns einig . Ich muss Ihnen nur sagen:Das ist dummerweise nicht Aufgabe des Bundes; viel-mehr unterliegt das der Länderhoheit .
– Das ist richtig . Ich würde da auch mitmachen . Aber Siesind doch immer der Hemmschuh an dieser Stelle .
– Schauen wir einmal, was Ihnen einfällt .Sie können natürlich auch eines machen, nämlich un-serem Antrag heute zustimmen . Dann wären eine ganzeMenge Probleme erledigt .Danke schön .
Vielen Dank . – Nächster Redner ist Rainer Spiering,
SPD-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kol-legen! Ich habe nachgeschaut: Vor fast genau einem Jahr,übrigens fast zur gleichen Zeit, habe ich an diesem Red-nerpult gestanden und Bemerkungen zur universitärenLehrerausbildung gemacht . Ich möchte mich ausdrück-lich beim Kollegen Feist bedanken, dass er den Ballaufgenommen hat und das Thema Berufsschule in denFokus der CDU/CSU-Fraktion gerückt hat .
Auch ich möchte eindringlich begründen, warum das soeminent wichtig ist .Ich habe im letzten Jahr die Diskussion hier im Hau-se verfolgt und festgestellt – Frau Dr . Hein, auch IhreAnmerkungen belegen das –, dass der Fokus hinsichtlichberuflicher Ausbildung häufig auf die Nachfrageseite, also auf die der Betriebe, gelegt wird . Wir sollten unserenFokus aber deutlicher auf die ganz starke Seite dessenrichten, was der Staat macht .Sie dürfen nie vergessen: Berufsausbildung der Ju-gend ist arbeitsmarktabhängig . Der Arbeitsmarkt kanndabei helfen, den Jugendlichen einen viel besseren Startins Leben zu ermöglichen . Das ist eine Säule . Wir ver-treten eine andere Säule – hinsichtlich der Zuständigkeitder Länder bin ich übrigens auch nicht Ihrer Meinung –:
Staatliche Aufgabe ist die Berufsschulbildung . Wir ha-ben übrigens, wenn ich auch das sagen darf, ein Berufs-bildungsgesetz, und das ist Bundesangelegenheit .
– Wenn Sie möchten, dann können Sie gern eine Zwi-schenfrage stellen .Dr. Rosemarie Hein
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Was die Unterstützung der Länder oder die Frage derLänderkompetenzen angeht, so möchte ich auf die „Qua-litätsoffensive Lehrerausbildung“ eingehen, für die derBund 500 Millionen Euro frisches Geld freigegeben hat .Darüber hatten nicht die Länder zu entscheiden . Viel-mehr konnten sich die Universitäten bewerben . 500 Mil-lionen Euro frisches Geld! Jetzt liegen die Ergebnissevor . In 2 von 30 Bewerbungen der Universitäten gehtes um Berufsschullehrerausbildung . Eine Bewerbungmöchte ich herausgreifen, weil ich sie schon im letztenJahr eingefordert habe: Die TU Berlin, die übrigens einenrichtig guten Ruf hinsichtlich der Berufsschullehreraus-bildung hat, verfolgt ein Projekt, bei dem es um Profes-sions- und Forschungsorientierung in berufsbezogenenLehramtsstudien geht . Das heißt, die TU Berlin geht aufdie Metaebene und hinterfragt: Was passiert eigentlich inunserem Land? Das ist der richtige Ansatz . Nur wenn wirForschungsergebnisse haben, auch sozialwissenschaftli-cher Art, die sich am Beruf orientieren, können wir auchAntworten geben .Ich möchte deutlich machen, warum das für uns alleso wichtig ist . Wir sind ein Hightech-Land geworden .Wir haben in den letzten zehn Jahren im Forschungs-bereich elementar viel erlebt und erreicht . Im BereichIngenieurwissenschaften haben wir einen Riesensprungnach vorne gemacht . Berufsschule leistet den Transferdieser Erkenntnisse ins reale Leben . Dabei geht es um dieKernkompetenz . Berufsschullehrerausbildung beinhaltetnämlich Berufspädagogik, -methodik und -didaktik, undzwar zehn Semester langEs geht mir darum, diese Qualität, die wir ehemalsvorzeigbar weltweit gehabt haben, wieder zu erreichen .
Das bedeutet, dass wir wesentlich elementarere Anstren-gungen unternehmen müssen . Wir müssen unsere Uni-versitäten auffordern, in diesem Bereich tätig zu werden .Das ist keine Ländersache, sondern universitäre Sache .Die Universitäten waren frei, sich zu bewerben .Daraus, dass zwei Universitäten den Zuschlag be-kommen haben, kann man zwei Varianten ableiten . Ers-te Variante: Bei der Berufsschullehrerausbildung an denUniversitäten ist die Welt so in Ordnung, dass es keinenBedarf gibt . Zweite Variante, über die man auch malnachdenken kann: Die Berufsschullehrerausbildung istzurzeit nicht unbedingt im Fokus aller Universitäten .Wenn dem so sein sollte, dann ist es Aufgabe dieses Ho-hen Hauses, dies zu benennen und sich damit auseinan-derzusetzen, und zwar sowohl mit den Mitteln der poli-tischen Rede als auch mit den Mitteln eines Haushalts .Wenn ich Herrn Dr . Feist richtig verstanden habe, hater den Ball vom vergangenen Jahr aufgenommen, und ererkennt gemeinsam mit der CDU/CSU-Fraktion die ele-mentare und wichtige Bedeutung von Berufsschulen inunserem Land . Wenn wir uns in diesem Hohen Hause da-rüber einig sind, dann werden wir auch Mittel und Wegefinden, um die Berufsschulen in Zukunft wesentlich stär-ker zu unterstützen, als wir das heute tun .Herzlichen Dank fürs Zuhören .
Vielen Dank . – Für Bündnis 90/Die Grünen sprichtjetzt die Kollegin Beate Walter-Rosenheimer .
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kollegin-nen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Am 1 . Septem-ber hat ein neues Ausbildungsjahr begonnen – ein wei-teres Jahr ohne Ausbildungsgarantie, ein weiteres Jahr,in dem junge Menschen in Deutschland keine Garantieauf einen Ausbildungsplatz haben . Diese Ausbildungs-garantie haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen vonder SPD und von der Union, in Ihrem Koalitionsvertraggroß angekündigt . Heute wissen wir: Dieses Verspre-chen haben Sie nicht eingelöst . Auch in den kommendenWochen werden deshalb wieder Hundertausende jungerMenschen in den Maßnahmen des Übergangsdschungelslanden . Das, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kol-legen, ist für diese jungen Menschen eine herbe Enttäu-schung und, wie ich finde, politisch untragbar.
Sicher, im Bereich der Ausbildungspolitik hat sich ei-niges getan . Das haben wir auch gehört . Wir begrüßenzum Beispiel ausdrücklich, dass mit der assistierten Aus-bildung – auch auf Druck der grünen Bundestagsfrakti-on –
– das finde ich schon – ein sehr sinnvolles Instrument ausgebaut wird .Die bisherigen Schritte sind jedenfalls für eine Gro-ße Koalition und eine noch größere Allianz für Aus- undWeiterbildung ziemlich klein .
– Ja, seien Sie doch nicht so verzagt! Wagen Sie docheinmal einen großen Wurf! Das wäre auch eine Möglich-keit .Der Zugang zu Bildung ist der Schlüssel zu echter ge-sellschaftlicher Teilhabe . Das wissen auch Sie . Ich den-ke, in diesem Punkt sind wir uns auch einig . Das gilt fürdiejenigen, denen das Lernen leichter fällt, und auch fürdiejenigen, die etwas mehr Zeit brauchen . Das gilt ganzbesonders für die vielen jungen Menschen, die in diesenTagen als Flüchtlinge zu uns kommen . Auch das ist einAspekt bei der beruflichen Bildung. Die Hälfte der Flüchtlinge, die jetzt bei uns ankom-men und in Deutschland Sicherheit und Schutz suchen,Rainer Spiering
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sind unter 25 Jahre alt und brauchen Bildung und Aus-bildung .
Das sind nach Schätzungen allein in diesem Jahr etwa400 000 bis 500 000 junge Menschen . Das stellt einegewaltige Herausforderung für unser Bildungssystemdar und erfordert schnelles und entschiedenes Handeln .Denn eins ist klar: All diese jungen Menschen werdennicht einfach wieder verschwinden, auch wenn sich dieCSU das scheinbar immer noch anders wünscht .Gerade Ihnen möchte ich sagen: Nehmen Sie docheinmal ernst, was Ihre Freunde bei den Industrie- undHandelskammern, beim Handwerk und den Arbeitgebernseit Monaten fast gebetsmühlenartig vortragen: JungeFlüchtlinge bringen Potenzial mit, sie sind wissbegierig,sie wollen lernen, sie wollen arbeiten . Gleichzeitig su-chen viele Unternehmen händeringend nach Azubis undengagieren sich vorbildlich für Flüchtlinge . Das, liebeKolleginnen und Kollegen, verdient auch großen Res-pekt .
Von der Bundesregierung wird dieses große Engagement,wie ich finde, viel zu wenig unterstützt. Nehmen Sie einmal das Beispiel des Bleiberechtswährend der Berufsausbildung . Seit vielen Monatenfordern wir Sie gemeinsam mit den Sozialpartnern auf,dafür zu sorgen, dass Asylsuchende und Geduldete wäh-rend der Ausbildung nicht mehr abgeschoben werdendürfen . Man kann kaum glauben, was Sie hier liefern .Schaffen Sie doch endlich eine anständige und rechtssi-chere Lösung!
Das Gleiche gilt übrigens auch für den Zugang zustaatlicher Unterstützung während der Ausbildung .Junge Flüchtlinge sollen schnell in Ausbildung und Ar-beit kommen . Das unterstützen wir voll und ganz . Wirfragen uns aber schon, warum Sie so wenig tun, wennauch Sie dafür sind . Wir fordern Sie deshalb auf: Unter-stützen Sie junge Flüchtlinge in der Ausbildung endlichordentlich!
Wer von Teilhabe und Integration spricht, liebe Kol-leginnen und Kollegen, der darf über Bildung nichtschweigen . Lassen Sie Ihren schönen Worten also endlichhandfeste Taten folgen! Und sorgen Sie dafür, dass auchjunge Flüchtlinge die Hilfe bekommen, die sie für ihrenAusbildungserfolg brauchen; das ist menschlich gebo-ten, das ist integrationspolitisch wichtig, und das ist auchvolkswirtschaftlich sinnvoll . Lassen Sie uns gemeinsamdafür sorgen, dass das duale System in Deutschland auchbei der Integration von Flüchtlingen sein großes Potenzi-al entfalten kann .
Vielen Dank . – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt Uda Heller .
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Heute findet zeitgleich der erste Bund-Län-der-Sondergipfel zum Thema Flüchtlinge statt . Es istmir daher ein besonderes Anliegen, der aktuellen Flücht-lingsproblematik auch in dieser Debatte zur Berufsbil-dung einen Platz einzuräumen .Unsere Ministerin, Frau Wanka, hat in der gestrigenAusschusssitzung schon aufgezeigt, welch wichtige Im-pulse gesetzt werden sollen . So werden beispielsweise1,2 Milliarden Euro aus dem Haushalt für Berufsorien-tierung und Potenzialanalysen eingesetzt . Davon sollen500 000 Jugendliche und auch Flüchtlinge profitieren. Wir alle kennen die Folgen des demografischen Wan-dels . Mein Bundesland ist davon besonders betroffen:Sachsen-Anhalt soll bis zum Jahr 2060 rund ein Drittelseiner Bürger verloren haben . Meine Damen und Herren,diese Entwicklung spiegelt sich auch deutlich in unseremAusbildungs- und Arbeitsmarkt wider . Uns allen ist be-kannt, dass Unternehmen seit Jahren den zunehmendenMangel an Fachkräften und unzureichende Ausbildungs-bewerber beklagen . Aus diesem Grund ist die deutscheWirtschaft auf Zuwanderung angewiesen . Wir solltendiese dramatische Situation als Chance ansehen und un-seren Flüchtlingen eine Perspektive geben . Gleichzeitigwarne ich davor, zu hohe Erwartungen zu wecken . DieMehrzahl der Jugendlichen hat keine Deutschkenntnisseund ist nicht auf dem Stand, um sofort in eine Ausbildungeingegliedert zu werden . Hier müssen wir eine MengeUnterstützungsarbeit leisten . Dazu sind wir als Koalitionbereit .
Problematisch ist auch, dass Jugendliche oft nicht anAusbildungsstandorten bleiben, die sie als unattraktivempfinden. Bei meinen Besuchen in gastronomischen Einrichtungen wird mir berichtet, dass Auszubildendeaus dem Ausland ihre Ausbildungsstätten im ländlichenRaum häufig verlassen und in attraktivere Städte wech-seln . Viele Unternehmen haben dies bereits erkannt undversuchen, durch wohnortnahe Ausbildung, durch An-schlussperspektiven und andere Anreize Auszubildendezu gewinnen . Hier denke ich beispielsweise an die In-itiativen und Programme des Handwerks, der SiemensAG oder auch an die Ausbildungsprojekte der DeutschenBahn für Migranten .Neben den großen gibt es auch zahlreiche kleine Un-ternehmen, beispielsweise den Fahrradhersteller MIFABeate Walter-Rosenheimer
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in meiner Heimatregion . Auch dort will man versuchen,junge Flüchtlinge über eine Berufsausbildung zu inte-grieren . Im Moment versuchen wir, eine Ausbildungs-klasse für Fahrradmonteure am Berufsschulstandort zubilden .Besonders freue ich mich auch über die kürzlich un-terzeichnete Erklärung aller 14 Partner der Allianz fürAus- und Weiterbildung . Sie enthält zahlreiche Maß-nahmen, damit Flüchtlinge schnellstmöglich in Bildung,Ausbildung oder Beschäftigung kommen . Hierfür müs-sen sich Bund, Länder, Wirtschaft, Gewerkschaften undnatürlich die Agentur für Arbeit intensiv abstimmen undvernetzen . Meine Damen und Herren, ich denke, wir sinduns alle einig, wenn ich sage, dass „Menschen in Spracheund Arbeit zu bringen … der Schlüssel zum Integrations-erfolg“ ist .
Die Bundesregierung hat durch zahlreiche Maßnah-men bereits viel erreicht, um Flüchtlingen den Zugangzum Arbeitsmarkt zu erleichtern . Zum Beispiel habenwir das Gesetz zur Aufhebung des Arbeitsverbotes fürAsylsuchende und Geduldete verabschiedet . Seit dem1. August 2015 sind Geduldete, die eine qualifizierte Berufsausbildung aufnehmen wollen, für die Dauer derAusbildung vor einer Abschiebung geschützt . Auch dieWartefrist für die Aufnahme einer Beschäftigung wur-de auf 3 Monate gekürzt, und nach 15 Monaten entfälltauch die Vorrangprüfung . Die Aufnahme von Praktikasowie der Zugang zu ausbildungs- und berufsbegleiten-den Maßnahmen für junge Asylsuchende und Geduldetewurde erleichtert .Dass sich jedes Engagement für die duale Ausbildunglohnt, zeigt sich beispielsweise daran, dass nach Zeitensinkender Ausbildungszahlen im Handwerk nun ein An-stieg der Zahl der Lehrverträge verzeichnet werden kann .Wenn der Anstieg auch nicht allzu hoch ist, so sind auch2 Prozent etwas . In den ostdeutschen Ländern sind es so-gar 4,3 Prozent mehr als im Vorjahr .Einen wichtigen Schritt in Richtung Gleichwertigkeitbeider Bildungssäulen sind wir kürzlich gegangen, indemwir die Leistungen nach dem AFBG deutlich verbessertund so das Meister-BAföG erhöht haben .
Mit unserem Antrag wollen wir die Qualität und At-traktivität der Berufsausbildung weiter stärken und jungeMenschen im Ausbildungssystem unterstützend beglei-ten, egal ob Deutsche oder Migranten . Lassen Sie unsdiesen Weg gemeinsam gehen . Ich lade Sie herzlich ein,unserem Antrag zuzustimmen und die Gleichwertigkeitbeider Bildungssäulen zu befürworten .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als letzter Redner zu diesem Tages-
ordnungspunkt erhält jetzt der Kollege Willi Brase,
SPD-Fraktion, das Wort .
Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Unser gemeinsamer Antragzur Durchlässigkeit und Gleichwertigkeit der beruflichen und der akademischen Bildung zeigt sehr deutlich Wegeauf, wie wir dies Zug um Zug auch im Sinne von Qualitätnach vorne bringen werden. Wenn man sich die berufli-che Bildung und die hochschulische Bildung anschaut –auch das, was wir im Bachelor-Bereich mittlerweile anvielfältigen Ordnungen haben –, dann sieht man, dass dieberufliche Bildung einen Vorteil hat, nämlich den, dass die Ordnungen der über 320 Ausbildungsberufe eine bun-desweite Gültigkeit haben . Diese bundesweite Gültigkeitsollten wir erhalten und weiter unterstützen . Das ist einpositives Merkmal . Um die Durchlässigkeit kümmernwir uns . Das haben wir mit den Ländern verabredet undbeschlossen . Es gibt nach wie vor diese zwei wunderba-ren Wege für die jungen Leute, um bis ganz nach obenzu kommen . Das wird auch in unserem Antrag deutlich .
Ein zweiter Punkt, den ich ansprechen möchte – erist auch schon von Vorrednern dargestellt worden –, istdie Situation mit den Flüchtlingen . Ich glaube, dass wirein großes und gutes Instrumentarium haben, um diejungen Flüchtlinge, deren aufenthaltsrechtlicher Statusgeklärt ist, sozusagen in Qualifizierung zu nehmen. Ich möchte hier für die Einstiegsqualifizierung verbunden mit Sprachkursen als ein wesentliches Mittel werben .Bei der Einstiegsqualifizierung können junge Leute ein Stück weit praktisch arbeiten und gleichzeitig Sprach-kurse machen; dies orientiert sich an einer Ordnung derdualen Ausbildung . Wenn wir das in der Allianz mit denArbeitgebern, mit den Unternehmen, mit den Organisa-tionen und mit den Arbeitgeberverbänden gemeinsamhinbekommen, machen wir etwas sehr Gutes und Sinn-volles für die jungen Flüchtlinge in unserem Land . Dafürmöchte ich sehr herzlich werben .
Ein weiterer Punkt ist sicherlich die Frage – das habenwir auch im Antrag formuliert –: Wie schaffen wir es, dieWege des Aufstiegs durch die duale Ausbildung stärkerbekannt zu machen? Was haben wir an Fortbildungsord-nungen? Ein Teil der Fortbildungsordnungen ist bundes-weit geregelt . Wir haben auch vielfältige Ordnungen, diein den jeweiligen Industrie- und Handelskammern oderin den Handwerkskammern, sprich: in den zuständigenStellen, verankert sind . Für mich bedeutet Qualität derdualen Ausbildung, diese Aufstiegsmöglichkeiten nochviel stärker als bisher in der Berufsorientierung, in derBerufsberatung deutlich zu machen, damit junge Leutewissen, welchen wunderbaren Weg sie über die dualeUda Heller
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berufliche Ausbildung gehen können. Das halte ich für richtig und notwendig .
Lassen Sie mich noch ganz kurz zwei Bemerkungenzur assistierten Ausbildung und zur Unterstützung derBundesländer machen . Die assistierte Ausbildung wirdvon der Allianz ausdrücklich gefordert . Wir haben sie imFrühjahr dieses Jahres hier im Bundestag beschlossen .Man kann bemängeln, dass das noch nicht genug ist; aberwenn man sich die Verlautbarung der Allianz zur Betreu-ung und zur Unterstützung von jugendlichen Flüchtlin-gen anschaut, dann sieht man, dass dort die assistierteAusbildung neben anderen Maßnahmen angeführt wird .
– Doch, auch die Betriebe machen mit .Schauen Sie sich in der Presse an, was derzeit von Un-ternehmen gesucht und was angeboten wird . Die Indus-trie- und Handelskammern nicht nur in meiner Region,sondern auch anderswo führen teilweise schon Kurse mitFlüchtlingen durch; Ehrenamtliche erteilen dort Spra-chunterricht . Das bürgerschaftliche Engagement ist ge-waltig . Es ist gigantisch, was dort abläuft, nicht nur in derdirekten Betreuung, was Unterkunft, Kleidung und Essenangeht, sondern auch im Hinblick auf die Maßnahmender Industrie- und Handelskammern . Da kann man nurDanke schön sagen, dass dies so schnell und unmittelbarvonstattengeht .
Was die Berufsschulen angeht, Frau Kollegin Hein:Wir haben 2002 – damals in Anbetracht der Zinserspar-nisse aufgrund der Versteigerung der UMTS-Frequen-zen – ein Programm aufgelegt und den Ländern Mittelgegeben, um die sächliche, technologische Ausstattungder Berufskollegs zu verbessern . Das war ein sehr gutesProgramm . Ich denke, auch da ist es richtig, wenn wir beiden Berufsschullehrern anfangen . Wir brauchen zur Qua-litätssicherung gute Berufsschullehrer . Ich halte das, wasKollege Spiering, Kollege Feist und auch Sie gesagt ha-ben, für richtig: Lassen Sie uns das gemeinsam machen!Frau Präsidentin, jetzt muss ich noch einen ganz kur-zen Satz zitieren, wenn ich darf .
Aber wirklich einen kurzen .
Es ist ein ganz kurzer Satz .
Es ist immer verdächtig, wenn jemand von kurzen
Sätzen spricht .
Am Ende wird alles gut . Wenn es nicht gut wird, ist
es noch nicht das Ende .
In diesem Sinne: Glück auf!
Danke . – Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sinddamit am Ende dieses Tagesordnungspunktes angekom-men .Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzung auf Drucksache 18/6040 . Der Ausschussempfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSUund SPD auf Drucksache 18/4928 mit dem Titel „Prin-zipien des deutschen Bildungswesens stärken – Gleich-wertigkeit und Durchlässigkeit der beruflichen und der akademischen Bildung durchsetzen“ . Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmenvon Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linkeangenommen .Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-sache 18/4931 mit dem Titel „Ausbildungsqualität si-chern – Gute Ausbildung für alle schaffen“ . Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dage-gen? – Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmender Fraktion Die Linke angenommen .Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchsta-be c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung desAntrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-sache 18/4938 mit dem Titel „Mit einer echten Ausbil-dungsgarantie das Recht auf Ausbildung umsetzen“ . Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stim-men der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen .Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten NiemaMovassat, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEVersöhnung mit Namibia – Gedenken an undEntschuldigung für den Völkermord in derehemaligen Kolonie Deutsch-SüdwestafrikaDrucksache 18/5407Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lungb) Beratung des Antrags der Abgeordneten TomKoenigs, Uwe Kekeritz, Kordula Schulz-Asche,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENWilli Brase
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Die Beziehungen zwischen Deutschland undNamibia stärken und unserer historischenVerantwortung gerecht werdenDrucksache 18/5385Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lungNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der KollegeNiema Movassat, Fraktion Die Linke .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zwi-schen 1904 und 1908 beging das Deutsche Kaiserreichin der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika, demheutigen Namibia, einen brutalen Völkermord . Bis zu100 000 Menschen wurden damals ermordet . Es warGeneralleutnant Lothar von Trotha, der damals den Ver-nichtungsbefehl gegen die Herero erteilte . Ich zitiere ihn:Gewalt mit krassem Terrorismus und selbst mitGrausamkeit auszuüben, war und ist meine Politik .Ich vernichte die aufständischen Stämme in Strö-men von Blut …Die deutschen Truppen trieben daraufhin die Herero,darunter Alte, Frauen und Kinder, in die Wüste und lie-ßen sie dort verhungern und verdursten . Die deutschenKolonialherren steckten Herero und Nama in Konzent-rationslager, deportierten sie und missbrauchten sie fürrassistische, pseudowissenschaftliche Experimente . Diedeutsche Wirtschaft zog Herero und Nama zur Zwangs-arbeit heran . Doch nicht nur ihre Freiheit, sondern auchihr Land und ihr Vieh wurden ihnen geraubt .Dies alles ist über 100 Jahre her . In diesen über100 Jahren hatte kein einziges deutsches Staatsoberhauptden Mumm und den Anstand, das Wort „Völkermord“in den Mund zu nehmen und offiziell um Vergebung zu bitten. Ich finde das beschämend.
Erst in den letzten Jahren bewegte sich endlich etwas:2004 entschuldigte sich die ehemalige Entwicklungsmi-nisterin Heidemarie Wieczorek-Zeul im eigenen Namenerstmals für die Verbrechen . Seit dem letzten Jahr führtdas Auswärtige Amt einen Dialog mit der namibischenRegierung, in dem es die Definition „Völkermord“ endlich anerkannt hat . In diesem Jahr schließlich, zum100 . Jahrestag des Endes der deutschen Kolonialherr-schaft im damaligen Deutsch-Südwestafrika, hat Bun-destagspräsident Lammert unmissverständlich von Völ-kermord gesprochen . Das alles ist sehr zu begrüßen .
Zwei wesentliche Schritte zu einer echten Versöhnungmit Namibia stehen aber noch aus:Erstens eine offizielle Entschuldigung durch den Bun-despräsidenten und die Bundeskanzlerin, am besten imRahmen eines Besuchs in Namibia, bei dem vor denNachfahren der Opfer um Vergebung gebeten wird .
Einige denken vielleicht: Das ist so lange her . Warummüssen wir uns jetzt noch entschuldigen? Es hat etwasmit Anstand zu tun, die Verbrechen der eigenen Vorfah-ren beim Namen zu nennen und um Vergebung dafür zubitten . Das gehört zu einem anständigen Verhalten dazu .
Zweitens – und das ist sehr bedeutsam – leiden dieNachfahren der Opfer bis heute an den Folgen des da-maligen Völkermordes und insbesondere des Land- undViehraubs . Noch heute sind fast 80 Prozent ihres ur-sprünglichen Farmlandes in der Hand von Weißen . DieNachfahren der Opfer sind bitterarm und haben keinewirtschaftliche Grundlage für ein menschenwürdiges Le-ben . Deshalb ist es notwendig, dass wir auch über eineWiedergutmachung diskutieren .
Dabei geht es nicht um individuelle Entschädigungen,sondern darum, strukturelle Nachteile auszugleichen . Esgeht darum, diejenigen, deren Vorfahren Land und Viehgenommen wurden und die deshalb bis heute in bittererArmut leben, zu unterstützen .
Die Bundesregierung sollte diese Fragen in einemtransparenten und ergebnisoffenen Dialog mit der nami-bischen Regierung und den Nachfahren der betroffenenVolksgruppen diskutieren . Ich möchte auch darauf hin-weisen, dass es dem internationalen Ansehen der Bun-desrepublik schaden würde, wenn diese Dinge erst vorinternationalen Gerichten landen müssten – egal wie dieEntscheidung dann ausgeht .Lassen Sie uns endlich die richtigen Schritte gehen .Der Völkermord wird jetzt von der Bundesregierungauch als solcher bezeichnet . Nun muss die Entschuldi-gung folgen, und der Dialog über Wiedergutmachungmuss beginnen .Ich finde es übrigens bedauerlich, dass die Regierungs-koalition bisher keinen eigenen Antrag zu diesem Themahier vorgelegt hat . Insbesondere von der SPD bin ichenttäuscht; denn in der letzten Legislatur haben Sie nocheinen recht vernünftigen Antrag mit der Unterschrift desheutigen Außenministers Steinmeier vorgelegt .Wir müssen endlich gemeinsam eine Lösung finden und dafür sorgen, dass Deutschland seiner kolonialenVergangenheit offen ins Auge blickt . Das sind wir denNachfahren der Opfer schuldig .Danke schön .
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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Vielen Dank . – Nächster Redner ist Professor Dr . Egon
Jüttner, CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Während der deutschen Kolonialzeit zwischen
1884 und 1915 sind in Deutsch-Südwestafrika die Men-
schenrechte schwer verletzt worden . Den traurigen Hö-
hepunkt stellt die brutale Niederschlagung des Aufstan-
des der Herero, der Nama und der Damara dar, in deren
Folge Zehntausende Menschen auf grausamste Weise
umkamen .
Als im August 1904 der Aufstand der Herero nieder-
geworfen wurde, floh der größte Teil von ihnen in die
fast wasserlose Kalahari-Wüste, wo sie mitsamt ihren
Frauen und Rinderherden verdursteten . Von rund 80 000
bis 100 000 Hereros im Jahre 1904 lebten 1911 nur noch
15 130 .
Die verbrecherische und menschenverachtende Vor-
gehensweise bei der Niederschlagung der Revolte der
Herero war bezeichnend für die Denkweise der damals
Verantwortlichen . Gefangene Herero und Nama wurden
von den Deutschen in eigens für sie errichtete Konzentra-
tionslager gebracht, in denen nicht einmal die Hälfte der
Gefangenen überlebte .
Die Verurteilung der damaligen Ereignisse ist par-
teiübergreifend . So wurden sowohl im Jahre 1989 unter
der von der CDU/CSU geführten Bundesregierung als
auch im Jahre 2004 unter der sozialdemokratisch geführ-
ten Regierung weitreichende Anträge beschlossen, die
das deutsch-namibische Verhältnis betreffen . In diesen
Anträgen bekennen sich die Antragsteller zu Schuld und
Verantwortung und stehen nach wie vor dazu .
Meine Damen und Herren, diese parteiübergreifen-
den Bekenntnisse machen deutlich, dass sich die Bun-
desrepublik Deutschland der historischen Verantwor-
tung Deutschlands für die Ereignisse im ehemaligen
Deutsch-Südwestafrika bewusst ist, zu ihrer Verantwor-
tung steht und deshalb besondere Beziehungen zu Nami-
bia pflegt.
Integraler Bestandteil, tragende Säule und Ausdruck
der besonderen Beziehungen zwischen Namibia und
Deutschland ist dabei die Entwicklungspolitik . Erwähnt
sei die seither gezahlte Summe der deutschen Entwick-
lungshilfe, die etwa 800 Millionen Euro beträgt . Damit
ist Namibia nicht nur afrikaweit Spitzenreiter deutscher
Zuwendungen pro Einwohner, sondern auch das Land,
das von Deutschland weltweit die höchste Entwicklungs-
hilfeleistung pro Einwohner erhält .
Im Rahmen der deutschen Entwicklungszusammenar-
beit werden Fachkräfte entsandt und beispielsweise für
den Transportbereich Ausbildungsprogramme erarbeitet .
Das Straßennetz wird verbessert . Bisher wurden etwa
1 000 Kilometer Straßen mit deutscher Unterstützung
gebaut oder erneuert . Im Jahre 2007 wurde außerdem
die deutsch-namibische Sonderinitiative begonnen, für
die Deutschland 31 Millionen Euro bereitgestellt hat .
Mit diesen Mitteln werden Maßnahmen der Kommunal-
entwicklung in den Siedlungsgebieten derjenigen Volks-
gruppen finanziert, die unter der deutschen Kolonialherr-
schaft besonders gelitten haben .
Im kulturellen Bereich – um nur ein weiteres Beispiel
zu nennen – gibt es ebenfalls eine gute Zusammenarbeit
zwischen Deutschland und Namibia . Das bilaterale Kul-
turabkommen zwischen beiden Ländern umfasst weit-
reichende Kooperationen in den Bereichen Hochschule,
Sprachförderung, Medien, Film, Literatur und Sport .
Meine Damen und Herren, es ist wohl unbestritten,
dass das, was vor 111 Jahren in Namibia geschehen ist,
nach heutigen Maßstäben des Völkerrechts als Völker-
mord bezeichnet wird . Die Rechtsnorm des Völkermords
wurde allerdings erst 1948 geschaffen, sodass ein Rück-
bezug nicht möglich ist und Rechtsansprüche daraus
auch nicht hergeleitet werden können . Dennoch gibt es
seit dem 2 . Juni 2014 – das muss man betonen – zwi-
schen dem deutschen Außenminister und der namibi-
schen Außenministerin einen politischen Dialogprozess,
der einen gemeinsamen Beitrag dazu leisten soll, die
Fragen der Kolonialzeit zu überwinden und eine würdige
Kultur des Gedenkens und Erinnerns an die damaligen
Gräuel zu finden.
Die Gespräche verlaufen, wie aus dem Auswärtigen
Amt zu hören ist, sehr gut, sind aber noch nicht abge-
schlossen . Diesem Prozess und seinem Ergebnis sollten
wir jetzt nicht durch Beschlüsse des Bundestages vor-
greifen . Vielmehr sollte erst der zwischen den beiden Re-
gierungen gefundene Konsens abgewartet und danach im
Deutschen Bundestag diskutiert werden .
Ich danke Ihnen .
Vielen Dank . – Als Nächster hat jetzt der Kollege Tom
Koenigs, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir sind uns also hier im Hause einig: Das warVölkermord . Es war der erste Völkermord im 20 . Jahr-hundert, und es war einer, bei dem wir Schuld auf unsgeladen haben . Generalleutnant von Trotha, der damalsVerantwortliche, sagte:Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero,mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh, erschos-sen . Ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf,treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auf sieschießen .Das erfüllt den Tatbestand der wissentlichen und gewoll-ten Ausrottung dieses Volkes .Jetzt kann man sagen: Das ist lange her, wir sind unseinig, und wir haben eigentlich schon alles gemacht . – Inanderen Versöhnungsprozessen zwischen Ländern, in de-nen schwerste Verbrechen verübt worden sind – aktuellgerade in Kolumbien –, fordern die Opfer immer Wahr-
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heit, Gerechtigkeit, Entschädigung und die Garantie derNichtwiederholung .Wir müssen uns schon fragen, wie weit die Wahrheitüber die koloniale Verantwortung Deutschlands in unse-ren Schulen bekannt ist . Wissen wir, dass zum Beispieli
Wir wollen niemanden in den Schatten stellen, aber
wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne .
Das war unsere Sonne, nicht die Sonne in Afrika .
Wissen wir auch, dass zum Beispiel August Bebel in
diesem Hause an dieser Stelle vehement gegen den Ko-
lonialismus polemisiert hat?
Das ist weitgehend nicht bekannt . Das gehört aber zur
Wahrheit . Das muss in die Schulen .
Der zweite Punkt ist Gerechtigkeit . Wie kann man den
Nachkommen der Opfer Gerechtigkeit angedeihen las-
sen? Ich glaube, da ist sehr vieles nötig: das Anerkennen
der Schuld, etwa in einer Resolution dieses Bundestages,
die Bitte um Entschuldigung, auch durch eine Resolution
dieses Bundestages, aber vor allem die Wiederherstel-
lung der Würde der Opfer . Deshalb muss man die Nach-
kommen der Opfer anhören, und zwar auf Augenhöhe .
Das ist sehr schwierig . Da gibt es aber ein paar Dinge,
zum Beispiel die Rückgabe der Schädel, an die man
übrigens auf scheußliche Weise gekommen ist und die
angeblich zu wissenschaftlichen Zwecken – das waren
fadenscheinige Gründe – hierhergeschickt worden sind .
Aber es gibt auch andere Dinge, etwa Austausch oder
Zusammenarbeit .
Dann kommt der schwierige Punkt Entschädigung .
Was kann das sein? Richtig: Es geht nicht darum, jedem
Nachkommen oder jedem, der behauptet, ein Nachkom-
me zu sein, 1 000 Euro in die Hand zu drücken . Aber
eines ist ganz offensichtlich: Wer schon einmal in Nami-
bia war, der weiß, dass es in Namibia eine fast perfekte
Rassentrennung gibt . Von den wunderschönen Loggias
gehört keine einzige einem Schwarzen. Sie finden in den
Restaurants in Windhuk keinen einzigen weißen Kellner
und keinen einzigen schwarzen Gast. Sie finden in den
Slums in Namibia keinen einzigen Weißen . Das kann
doch kein Zufall sein .
Ich glaube, da müssen wir ansetzen . Wir müssen se-
hen: Da ist noch einiges im Argen . Das ist Rassismus,
wenn auch nicht so aggressiv wie damals in Südafrika,
den es anzugehen gilt . In diese Richtung müssen wir un-
sere Initiativen lenken .
Das darf nicht durch entwürdigenden Paternalismus ge-
schehen oder in der Art: Wir wissen schon, wie es geht .
Vielmehr muss dies mit der Bevölkerung, auch mit der
armen Bevölkerung des Landes geschehen und auch mit
Kritik an der reichen, der weißen Bevölkerung, die das
immer hintanstellt .
Ich glaube – das hat Professor Jüttner richtig gesagt –,
wir brauchen eine ganz besondere Beziehung zu der Re-
publik Namibia . Diese Beziehung muss so besonders und
so intensiv wie mit anderen Staaten sein, deren Angehö-
rige wir zu Opfern gemacht haben .
Ich würde mich freuen, wenn sich das auf allen Ebenen
unseres Staates und auch in diesem Parlament ausdrü-
cken würde .
Danke sehr .
Vielen Dank . – Das Wort hat jetzt die Kollegin Dagmar
Freitag, SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir haben heute Abend schon einiges über die deutscheKolonialherrschaft in Deutsch-Südwestafrika, wie es da-mals hieß, gehört . Ohne Zweifel gehört dieses Kapitel zuden ganz dunklen in der deutschen Geschichte .Natürlich – ich denke, darin sind wir uns hier alleeinig – ist es an der Zeit, eine politische und morali-sche Verantwortung für die Gräueltaten an den Herero,den Nama und Angehörigen weiterer Volksgruppen zuübernehmen . Ich glaube, wir sind uns fraktionsübergrei-fend dieser nicht geringen, sondern sehr großen Verant-wortung bewusst . Ebenso sind wir uns – Herr KollegeKoenigs, ich stimme Ihnen darin ausdrücklich zu – derSchuld bewusst, die die kaiserlichen Kolonialtruppen aufsich geladen haben, und ich wiederhole – auch wenn esheute Abend schon mehrfach festgestellt worden ist –:Der Vernichtungskrieg vor über 100 Jahren war einKriegsverbrechen, ja, es war auch Völkermord .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bundesaußenminis-ter Dr . Frank-Walter Steinmeier nahm Mitte letzten Jah-res mit seiner namibischen Amtskollegin Gespräche aufmit dem Ziel, dem deutsch-namibischen Dialogprozessneue Dynamik zu geben und endlich die ungeregeltenFragen aus unserer Vergangenheit aufzuarbeiten . Zieldieses Dialoges ist es, gemeinsam – auf diesem Wortliegt die Betonung – eine angemessene und natürlichauch würdige Form des Gedenkens und des Erinnernsan die entsetzlichen Taten der Vergangenheit zu finden. Denn natürlich haben Deutschland und Namibia eine ge-meinsame Vergangenheit, und diese muss auf der Basisdes gegenseitigen Vertrauens aufgearbeitet werden . Ichglaube, die Initiative unseres Außenministers ist sehrTom Koenigs
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dazu angetan, genau diese Basis des Vertrauens zu schaf-fen .
Die ersten Gespräche verlaufen auf beiden Seiten sehrkonstruktiv, aber – und das sollten wir nicht unterschät-zen – sie werden ihre Zeit brauchen . Diese Zeit solltenwir ihnen, denke ich, geben . Denn Sorgfalt geht in dieserschwierigen Phase sicherlich vor Schnelligkeit .Wichtig ist aus unserer Sicht – auch das möchte icherwähnen –, dass die namibische Seite mit abgestimmtenWünschen in die formellen Gespräche mit Deutschlandhineingehen kann .Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen: Es gibtbereits einen eng abgestimmten Dialog auf Regierungse-bene . Hinzu kommen – das werden auch die Kolleginnenund Kollegen aus der SADC-Parlamentariergruppe be-stätigen können – ausgesprochen gute parlamentarischeBeziehungen, nicht nur vonseiten der Präsidenten derbeiden Parlamente, sondern auch vonseiten der Fraktio-nen des Hohen Hauses .Im Juni dieses Jahres leitete ich als Vorsitzende derSADC-Parlamentariergruppe eine Delegationsreise, dieuns selbstverständlich auch nach Namibia führte; daswar in der Gruppe von vornherein völlig klar . Wir hattendort einen ausgesprochen intensiven Meinungsaustauschmit Abgeordneten sowohl der Regierungspartei als auchder Opposition und mit zahlreichen Vertretern der Regie-rung . Dies gilt es unbedingt aufrechtzuerhalten und, womöglicherweise noch notwendig, vielleicht auch noch zuintensivieren . Denn wir dürfen eines nicht unterschätzen:All das, was in der Vergangenheit von deutscher Seite inNamibia geschehen ist, ist bis heute tief im geschichtli-chen Bewusstsein der Menschen im Lande präsent .Das heißt, ein offener Diskurs zur deutschen Koloni-alvergangenheit ist aus unserer Sicht unverzichtbar . Wirbefürworten und unterstützen daher auch eine Vielzahlvon Förderprogrammen im In- und Ausland, die an dieGewalttaten von damals erinnern . Ich will nur beispiel-haft auf Maßnahmen des Auswärtigen Amtes wie die„Aktion Afrika“ oder das Kulturerhaltprogramm ebensowie auf die Programme des Goethe-Instituts verweisen .In diesem Zusammenhang ist es für Sie sicherlichauch von Interesse, dass wir einem langgehegten namibi-schen Wunsch nachkommen, indem wir das Goethe-Zen-trum in Windhuk in ein Goethe-Institut umwandeln unddamit aufwerten .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Nachgang des100 . Jahrestages der Schlacht am Waterberg und der be-reits zitierten Äußerungen der damaligen Entwicklungs-ministerin Heidi Wieczorek-Zeul wurde die Sonderiniti-ative „Namibian-German Special Initiative Programme“ins Leben gerufen . Diese Sonderinitiative hat das Ziel,durch mit der Bevölkerung abgestimmte Projekte die Le-bensbedingungen in den Siedlungsgebieten derjenigenVolksgruppen zu verbessern, die in besonderer Weiseunter der deutschen Kolonialherrschaft gelitten haben .Zurzeit läuft eine gemeinsame Auswertung dieser Initi-ative von namibischer und deutscher Seite . Eines wurdein unseren Gesprächen in Namibia ganz deutlich – dieKollegen werden das bestätigen können –: Eine Fortset-zung dieser Sonderinitiative über das Jahr 2015 hinauswürde begrüßt . Ich denke, wenn die Evaluierung posi-tiv ist, werden wir uns fraktionsübergreifend – so ist esjedenfalls verabredet – dafür einsetzen, diese Initiativeweiter zu verfolgen .Zum Schluss noch ein Wort zu den Anträgen der Kol-leginnen und Kollegen der beiden Oppositionsfraktio-nen . Sie enthalten sehr viele richtige Ansätze und sinn-volle Impulse . Aber viele der von Ihnen angesprochenenElemente sind ohnehin fester Bestandteil des laufendenDialogprozesses . Ich sage ganz offen: Ich halte es fürwenig sinnvoll, wenn in dieser sensiblen Phase der Ge-spräche durch Anträge möglicherweise eine Diskussionin Gang gesetzt wird, die nicht als ausgesprochen hilf-reich bezeichnet werden könnte . Der Gedanke unseresHandelns sollte wie ein roter Faden die Versöhnung zwi-schen beiden Ländern sein . Das gilt für die Versöhnungzwischen den Ländern genauso wie für die innernamibi-sche Versöhnung; denn nach Möglichkeit sollen – auchdas ist wichtig – keine neuen innernamibischen Gräbenaufgerissen werden .Wir sind auf einem wirklich guten Weg, unserer his-torischen Verantwortung gegenüber Namibia – ich sageausdrücklich: endlich – gerecht zu werden . Daher begrü-ße ich natürlich, dass beide Länder im Rahmen des Di-alogprozesses an einer gemeinsamen Zukunft arbeiten .Vergangenheit aufarbeiten bedeutet in der Konsequenz,Zukunft zu gestalten . Das ist der Weg unserer beidenLänder .Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt Dr . Bernd Fabritius .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Was vor nunmehr 111 Jahren im heutigen Na-mibia begann, ist sicher mehr als nur ein sehr traurigesKapitel deutscher Kolonialgeschichte . Ein beachtlicherTeil der Historiker sowie letztlich die Aufzeichnungender deutschen Kolonialherren selbst zeichnen ein bruta-les Bild des Grauens . Nachdem es zu einem Aufstand derunterdrückten Völker und des damaligen Deutsch-Süd-westafrikas kam, rächte sich die sogenannte deutscheSchutztruppe gnadenlos und rottete mit menschenver-achtender Konsequenz beträchtliche Teile der Stämmeaus .Im vergangenen April haben wir in einer anderenDebatte hier im Haus über das erbarmungslose Vorge-hen des Osmanischen Reiches gegen die Armenier vor100 Jahren gesprochen . Dabei wurde festgehalten, dassdie UN-Völkermordkonvention, die erst 1951 in KraftDagmar Freitag
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getreten ist, selbstverständlich hinsichtlich ihrer Rechts-folgen nicht rückwirkend angewendet werden kann .Gleichzeitig haben wir aber einhellig bekräftigt, dass diein der Konvention enthaltene Definition von Völkermord keine zeitlich beschränkende Komponente beinhaltet .Deshalb haben wir damals klar gesagt, dass die an denArmeniern verübten Verbrechen den Tatbestand des Völ-kermordes erfüllen und daher selbstverständlich als Völ-kermord zu bezeichnen sind .
Lassen Sie es mich an dieser Stelle ganz klar sagen:Selbstverständlich muss bei Beurteilung der Verbrechenim damaligen Deutsch-Südwestafrika derselbe Maßstabangelegt werden . Das Vorgehen der Kolonialtruppenunter dem berüchtigten General von Trotha erfüllt beigenauer Betrachtung und nach heutigen Erkenntnissenden gleichen Tatbestand und kann daher – so meine fes-te Überzeugung – ebenfalls als Völkermord bezeichnetwerden .
Bereits in besagter Debatte im April habe ich daranerinnert, dass eine wahrheitsgetreue, kritische Auseinan-dersetzung mit der jeweils eigenen Geschichte Grundlagejedweder Versöhnung ist . Ein solcher Aufarbeitungspro-zess ist in Bezug auf die Verbrechen, die an den Herero,Nama und anderen Völkern verübt wurden, seit länge-rem im Gange . Das eindeutige Bekenntnis zur deutschenVerantwortung hat auch der Bundestag bereits 1989 und2004 bekräftigt, was Sie, Herr Kollege Jüttner, schon zuRecht erwähnt haben .Nicht nur aus diesem Grund bin ich allerdings überden Zeitpunkt der Einbringung der Oppositionsanträgeetwas verwundert . Auch die Kolleginnen und Kollegender Grünen und der Linken müssten wissen, dass derzeitein Dialogprozess zwischen Deutschland und Namibia indie entscheidende Phase geht, in dem gemeinsam eineganze Reihe der von Ihnen zu Recht – das betone ich –vorgebrachten Punkte thematisiert werden . Am Ende die-ser intensiv und erfreulich konstruktiv geführten Gesprä-che soll ein würdiges Gedenken, ein würdiges Erinnernan die damaligen Verbrechen gefunden werden . Es wäreäußerst unklug – hier teile ich ebenfalls die Meinung desKollegen Jüttner –, den Ergebnissen dieses Dialogpro-zesses vorzugreifen .Ihre Anträge verwundern auch aus einem anderenGrund: Es gibt in Afrika nun wahrlich eine ganze Rei-he akuter Probleme zu bewältigen . Von Somalia überBoko Haram bis hin zu den Nachwehen des sogenann-ten Arabischen Frühlings reicht die Bandbreite, um nureinige dieser Probleme zu nennen . In Europa wiederumstehen wir derzeit vor der größten Herausforderung fürStaat und Gesellschaft seit Jahrzehnten . Die Asylkrise inDeutschland ist Symptom einer humanitären Katastro-phe gigantischen Ausmaßes . Wir werden mit einer Völ-kerwanderung konfrontiert, auf die unser Asylrecht – alsIndividualanspruch für einzelne Personen und nicht fürganze Völker – nicht eingerichtet ist und die, wenn esso weitergeht, zu einem Kollaps staatlicher Systeme füh-ren wird . Sie verweigern sich einer Realpolitik zu dieserThematik, erschöpfen sich in Symbolpopulismus und be-schäftigen uns mit solchen Anträgen, die nur eine weitereemotionale Betroffenheit befeuern sollen . Dem kann ichnicht zustimmen .
Was Sie in Ihren Anträgen leider auch ausblenden,auch wenn Sie, Herr Kollege Movassat, es vorhin zu-gegeben haben: Parallel zu dem angesprochenen Di-alogprozess findet seit vielen Jahren gerade wegen der besonderen Verantwortung Deutschlands gegenüberNamibia eine ausgeprägte Entwicklungszusammenar-beit statt . Diese ist integraler Bestandteil der besonderenBeziehungen beider Länder, was auch im Umfang derdeutschen Leistungen deutlich zum Ausdruck kommt:Bis zum Jahr 2014 belief sich das Volumen der Entwick-lungszusammenarbeit auf insgesamt über 800 MillionenEuro .Ich bin der Bundesregierung sehr dankbar – damitkomme ich zum Ende –, dass die bilateralen Beziehungenzu Namibia weiterhin so hohe Priorität genießen . Nochmehr freut es mich, dass in den vergangenen Jahren ge-radezu freundschaftliche Bande zwischen unseren beidenLändern aufgebaut werden konnten . Gerade deshalb binich sehr zuversichtlich, dass der laufende Dialogprozesszeitnah und vor allem mit einem positiven Ergebnis imSinne einer angemessenen Aufarbeitung abgeschlossenwerden kann . Die Anträge der Opposition brauchen wirdazu nicht, erst recht nicht zum jetzigen Zeitpunkt .Danke .
Vielen Dank . – Wir sind damit am Ende der Ausspra-che .Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenauf den Drucksachen 18/5407 und 18/5385 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen .Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall .Dann sind die Überweisungen so beschlossen .Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Berei-nigung des Rechts der LebenspartnerDrucksache 18/5901Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
InnenausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .Dr. Bernd Fabritius
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Ich eröffne die Aussprache . Für die Bundesregierunghat der Parlamentarische Staatssekretär Christian Langedas Wort .
C
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Der Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung ist ein weiterer wichtiger Schritt hin zum Ziel der
vollständigen Gleichstellung von Ehe und Lebenspart-
nerschaft .
In gleichgeschlechtlichen Partnerschaften werden
Werte gelebt, die grundlegend für unsere Gesellschaft
sind . Die Bundesregierung verfolgt daher das Ziel, be-
stehende Diskriminierungen von gleichgeschlechtlichen
Lebenspartnerschaften und damit eine unterschiedliche
Behandlung von Menschen aufgrund ihrer sexuellen
Identität in allen gesellschaftlichen Bereichen zu been-
den . Dies umfasst insbesondere die Beseitigung rechtli-
cher Regelungen, die gleichgeschlechtliche Lebenspart-
nerschaften im Vergleich mit der Ehe schlechterstellen .
Lebenspartnerschaften – in kaum einem anderen Be-
reich des Rechts dürfte es in den letzten Jahren einen
so erheblichen und rasanten gesellschaftlichen Wandel
und, damit verbunden, eine Änderung des Rechts gege-
ben haben . Diese Entwicklung dauert noch an . Erst seit
dem 1 . August 2001 können gleichgeschlechtliche Paare
durch Begründung einer Eingetragenen Lebenspartner-
schaft ihrer Beziehung einen rechtlichen Rahmen ge-
ben, nicht einmal zehn Jahre nach der ersatzlosen Auf-
hebung der Strafandrohung in § 175 Strafgesetzbuch .
Um die Schlechterstellung von Lebenspartnerinnen und
Lebenspartnern zu beseitigen, wurden in der Folgezeit
weitere Anpassungen, unter anderem im Steuerrecht und
im Beamtenrecht, vorgenommen . Noch immer gibt es je-
doch im deutschen Recht Vorschriften, in denen Ehe und
Lebenspartnerschaft unterschiedlich behandelt werden,
ohne dass dafür ein überzeugender Grund ersichtlich
wäre, und genau das wollen wir ändern .
Die Bundesregierung, meine Damen und Herren, hat
nach der Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsur-
teils zur Sukzessivadoption im letzten Jahr nunmehr den
Entwurf eines Gesetzes zur Bereinigung des Rechts der
Lebenspartner auf den Weg gebracht .
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Beck?
C
Nein, das gestatte ich nicht; denn ich bringe den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung ein .
Der Gesetzentwurf sieht gleichstellende Regelungen
für Ehe und Lebenspartnerschaft in zahlreichen Gesetzen
und Verordnungen aus ganz unterschiedlichen Rechtsge-
bieten vor . Die vorgeschlagenen Änderungen betreffen
insbesondere das Zivilrecht, das Sozialrecht und das Ver-
fahrensrecht .
Ich möchte hervorheben, dass der Entwurf mehrere
Änderungsvorschläge enthält, die durchaus sehr große
praktische Auswirkungen entfalten, zum Beispiel die
geplante Einführung einer Bescheinigung zur Begrün-
dung einer Lebenspartnerschaft im Ausland . Der Ge-
setzentwurf sieht die Möglichkeit der Ausstellung einer
Bescheinigung für gleichgeschlechtliche Paare vor, die
im Ausland eine Partnerschaft auf Lebenszeit begründen
wollen . Die Behörden einiger Staaten verlangen näm-
lich eine Bescheinigung einer deutschen Behörde, dass
der Begründung einer Partnerschaft auf Lebenszeit kein
rechtliches Hindernis entgegensteht . Eine deutsche Be-
scheinigung ist daher notwendig . Ihre Einführung ent-
spricht nicht nur dem Wunsch der Betroffenen; auch die
deutschen Auslandsvertretungen haben einen entspre-
chenden Bedarf mitgeteilt .
Als wichtigen Schritt auf dem Weg hin zur vollständi-
gen Gleichbehandlung von Ehe und Lebenspartnerschaft
sehe ich ferner, dass mit dem Inkrafttreten des Gesetzes
eine Gleichstellung im gesamten Mietrecht erreicht wird .
Dann wird nämlich beim Tod eines Mieters dessen Le-
benspartner ein vorrangiges Eintrittsrecht in das Miet-
verhältnis zustehen . Nach derzeitigem Recht hat nur ein
Ehepartner ein solches vorrangiges Eintrittsrecht .
Sie sehen: Mit diesem Gesetzentwurf kommen wir
auf dem Weg der vollständigen Gleichstellung der Le-
benspartnerschaft mit der Ehe ein Stück weiter .
Deshalb, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, bitte
ich um Ihre Zustimmung .
Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Nächster Redner ist Harald Petzold,Fraktion Die Linke .
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Sehr verehrte Besucherinnen und Besucher! Dervorliegende Entwurf eines Gesetzes zur Bereinigung desRechts der Lebenspartner, wie er genannt wird, ist ausSicht meiner Fraktion eine einzige Mogelpackung .
Er täuscht etwas vor, was er im Endeffekt nicht einhält .
– Na ja . Volker, du wirst uns nachher noch ganz ge-nau erklären, was er bereinigt . – Ich sage: Man könnte esauch Betrug nennen .
Es ist bezeichnend, dass sich Herr StaatssekretärLange als Vertreter eines SPD-geführten Bundesministe-riums hier weigert, eine Zwischenfrage zu dem Gesetz-entwurf zuzulassen,
weil nämlich die SPD im Wahlkampf versprochen hat:100 Prozent Gleichstellung nur mit uns .
Jetzt wird wieder ein Gesetzentwurf vorgelegt, dernicht vollständig gleichstellt . Das ist ein Betrug an alldenjenigen, die an die Umsetzung des Koalitionsvertra-ges glauben und auf das vertrauen, was dort zugesichertwird, dass nämlich bestehende Diskriminierungen vongleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften und vonMenschen aufgrund ihrer sexuellen Identität in allen ge-sellschaftlichen Bereichen beendet werden .
Das wird mit diesem Gesetzentwurf nicht eingehalten .Ich frage Sie: Ist es Ihnen nicht peinlich, dass Sie dieUmsetzung des Koalitionsvertrages nicht einmal von Ih-rem SPD-geführten Bundesministerium einfordern, ver-ehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD?
An die Bundesregierung gerichtet, sage ich: Wir ha-ben jetzt die Halbzeit der Wahlperiode . Sie feiern sich alsBundesregierung rauf und runter,
aber kommen uns hier wieder mit einem Gesetzentwurf,den Sie noch dazu als großen Wurf feiern, der nichtgleichstellt – im Gegenteil . Sie schreiben ja selbst:Es handelt sich hierbei im Wesentlichen um redakti-onelle Änderungen von Vorschriften von geringererpraktischer Bedeutung .Genau das ist es .
Die Bundesländer – wenigstens diejenigen mit Regie-rungsbeteiligung von SPD, Grünen und Linken – habeninzwischen begriffen, dass man das Problem mit einemeinzigen Satz lösen könnte: der Öffnung der Ehe fürgleichgeschlechtliche Partnerschaften .
Genau das hat die Linke bereits im Dezember 2013 miteinem Gesetzentwurf vorgeschlagen, der seitdem imRechtsausschuss zur Behandlung vorliegt, genauso wiees Bündnis 90/Die Grünen in diesem Sommer beantragthaben; ihr Gesetzentwurf liegt ebenfalls im Rechtsaus-schuss . Sie haben immer mit dem Verweis darauf, dassdie Bundesregierung einen eigenen Gesetzentwurf ein-bringen wird, eine öffentliche Anhörung zu unseren Ge-setzentwürfen verhindert oder verschoben,
und jetzt legen Sie hier einen solchen Witz vor .
Kommenden Freitag werden die Bundesländer unswieder ins Stammbuch schreiben, was eigentlich ver-langt wird, nämlich die volle rechtliche Gleichstellung .Die Länder Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg,Schleswig-Holstein, Thüringen, Bremen, Hamburg,Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen – alles Bundes-länder, in denen die Linke, die SPD und die Grünen ander Regierung beteiligt sind – werden einen entsprechen-den Gesetzentwurf vorlegen . Brandenburg wird dem alsneuntes Bundesland ebenfalls zustimmen . Damit ist dieMehrheit gesichert . Dieser Gesetzentwurf ermöglicht dieÖffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare durchErgänzung des § 1353 des BGB .
Wenn Sie hier im Bundestag die Abstimmung schonnicht freigeben, sodass jeder Abgeordnete nach seinemGewissen abstimmen kann, dann nehmen Sie sich dochwenigstens ein Beispiel an dem Abstimmungsverhalten,das im Bundesrat gepflegt wird. Wenn sich dort eine Ko-alitionsregierung nicht einig ist, dann enthält sie sich .Enthalten Sie sich hier doch einfach der Stimme, wennüber die Gesetzentwürfe von Grünen und Linken abge-stimmt wird! Dann reichen unsere Stimmen nämlich aus .Dann haben wir eine Mehrheit dafür, dass endlich gleich-gestellt werden kann .
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Vielen Dank, meine sehr verehrten Damen und Her-ren .
Vielen Dank . – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt Dr . Sabine Sütterlin-Waack .
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
legen! Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Be-
reinigung des Rechts der Lebenspartner, den wir heute
in erster Beratung lesen, ist ein weiterer wichtiger Schritt
zur rechtlichen Gleichstellung von Ehegatten und Le-
benspartnern; der Herr Staatssekretär hat das ausgeführt .
Die Bundesregierung hat ein Artikelgesetz ausgearbeitet
ähnlich dem Gesetz zur Anpassung steuerlicher Regelun-
gen an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-
richts, das wir im letzten Jahr verabschiedet haben .
Mithilfe des Gesetzes sollen Vorschriften verschiedens-
ter Rechtsbehelfe angepasst werden, Vorschriften, in de-
nen Ehegatten und Lebenspartner bislang unterschiedlich
behandelt wurden .
Gleich vorweg: Die gemeinsame Adoption durch
gleichgeschlechtliche Paare sowie die Öffnung der Ehe
stehen heute nicht zur Debatte bzw . sind – wenig über-
raschend – nicht Regelungsgegenstand des vorliegenden
Gesetzentwurfs .
Der Entscheidungsfindung mit Blick auf diesen Ge-
setzentwurf und einige andere Gesetzentwürfe wird
sicherlich die öffentliche Anhörung am kommenden
Montag dienen . Dem Kenner der Materie wird nicht
entgangen sein, dass uns vor einigen Monaten ein Ar-
tikelgesetz, eingebracht von der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen, vorgelegt wurde, das eine höhere Anzahl an
zu verändernden Gesetzen zum Inhalt hat . Aus diesem
quantitativen Unterschied lässt sich nun aber wirklich
nicht der Schluss ziehen, die Regierungskoalition wol-
le weitere Ungleichheiten bewusst aufrechterhalten . Das
wäre falsch .
Fast alle im vorliegenden Gesetzentwurf ungeregelten
Angleichungen werden auf andere Art und Weise regu-
liert, teils durch Wegfall, teils durch grundlegende Über-
arbeitung der entsprechenden Gesetze .
Frau Kollegin, der Kollege Beck möchte Ihnen eine
Frage stellen .
Ich folge der Tradition des Staatssekretärs und möchte
diese Frage nicht zulassen .
Der Kollege Beck hat danach auch noch das Wort .
Heute geht es überwiegend um redaktionelle Ände-rungen von Vorschriften des Zivil- und Verfahrensrechtssowie des sonstigen öffentlichen Rechts . So sieht der Ge-setzentwurf gleichstellende Regelungen unter anderemin der Insolvenzordnung, im Bereich der Vollstreckung,im Bundesvertriebenengesetz sowie in vielen anderenGesetzen und Verordnungen vor . Konkret heißt es zumBeispiel, dass die Vorschriften bezüglich der Insolvenz-masse nicht nur für die ehelichen Partner, sondern auchfür die Gütergemeinschaft der Lebenspartner gelten .Darüber hinaus wird geregelt, dass ein eingetragenerLebenspartner gegenüber seinem Partner nun auch dieeinstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung bean-tragen kann, allerdings nur, wenn diese der Aufhebungder Miteigentümergemeinschaft dient und Kinder sonstin Mitleidenschaft gezogen werden würden . Ansprücheaus dem Bundesvertriebenengesetz können dem Gesetz-entwurf folgend jetzt nicht nur durch Ehegatten, sondernauch durch die eingetragenen Lebenspartner geltend ge-macht werden .In einigen wenigen Fällen gab es sogar Besserstellun-gen der Lebens- gegenüber den Ehepartnern .
Auch diese werden nun beseitigt . So wird künftig nichtnur die Begründung der doppelten Ehe, sondern auch dieEingehung der doppelten Lebenspartnerschaft strafbarsein . Wir beraten also heute keine spektakulären, aberdennoch wichtige Änderungen .
Besonders hervorheben möchte ich die Änderung imPersonenstandsgesetz sowie die Änderung im BGB imBereich des Mietrechts .Im Personenstandsgesetz ist ein bisher wichtigerSachverhalt nicht geregelt, nämlich das Ausstellen vonEhefähigkeitszeugnissen für diejenigen, die im Auslandeine Partnerschaft auf Lebenszeit mit einem gleichge-schlechtlichen Partner begründen wollen . Bisher war dasAusstellen solcher Zeugnisse den Ehewilligen vorbehal-Harald Petzold
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ten . Eine derartige Bescheinigung ist in einigen Staateneine Voraussetzung, um zu heiraten oder die Partner-schaft eintragen zu lassen . Deswegen ist die Neuregelungdes § 39 a Personenstandsgesetz sehr zu begrüßen . Durchdiese Vorschrift wird es dem zuständigen Standesamtkünftig möglich sein, ein Äquivalent zum Ehefähigkeits-zeugnis auszustellen .Wir haben es schon gehört: Eine weitere Änderung,die ich ausdrücklich erwähnen möchte, ist die Ergänzungim Mietrecht . Konkret: Jetzt können Lebenspartner ge-nau wie Ehepartner nach dem Tod des alleinigen Mietersvorrangig vor den Kindern in den Mietvertrag eintreten .Wir gehen also mit dem vorliegenden Gesetzentwurfden seit 2001 beschrittenen Weg weiter, Lebenspartnerund Ehegatten rechtlich gleichzustellen .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Jetzt hat der Kollege Volker Beck,
Bündnis 90/Die Grünen, das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es war
ein Beispiel für Feigheit vor der Wahrheit, wenn Koaliti-
onsredner nicht Rede und Antwort stehen wollen zu der
Frage
– das will ich gerade sagen; vielleicht kann der Anschluss-
redner das aufklären –, warum bestimmte Regelungen
in dem Gesetzentwurf der Bundesregierung enthalten
sind, inwiefern das Recht da bereinigt wird, wie es in der
Überschrift des Gesetzentwurfs heißt, und warum andere
Regelungen darin fehlen . Es ist ja nicht so, dass dieses
Gesetz konkurrenzlos ist . Sie haben es erwähnt: Ein Ge-
setzentwurf meiner Fraktion, der tatsächlich Schluss ma-
chen würde mit allen Rechtsungleichheiten zwischen der
Lebenspartnerschaft und der Ehe, liegt seit einem Jahr im
Rechtsausschuss . Sehen wir einmal von dem Streit beim
Adoptionsrecht ab, bleiben trotzdem noch einige Fragen
offen: Warum werden die Schutzrechte im Transsexuel-
lengesetz, die für Ehegatten gelten, nicht auf Lebenspart-
ner übertragen?
Warum wird bei der Einbürgerung des Lebenspartners
eines Spätaussiedlers – das interessiert vielleicht Herrn
Fabritius – ein anderes Recht angewandt, als wenn beide
verheiratet wären?
Welches Defizit haben homosexuelle Menschen, dass
beim Sprengstoffgesetz für Ehegatten und Lebenspartner
ein anderes Recht gelten soll?
Haben Sie sich etwas dabei gedacht, oder haben Sie ein-
fach den Überblick verloren?
Dass Sie den Überblick verloren haben, mag schon
sein . Wir haben im Mai nachgefragt, ob die Bundesre-
gierung weiß, wie oft das Lebenspartnerschaftsrecht seit
2001 geändert wurde . Die Bundesregierung konnte das
nicht sagen . Mittlerweile wissen die Ressorts nicht mehr,
wann und wo sie etwas angeglichen haben oder wo sie
bei einer Reform etwas vergessen haben, was hinterher
wieder angeglichen werden muss . Das zeigt: Das Herum-
doktern am Lebenspartnerschaftsgesetz sollte ein Ende
haben . Nehmen Sie sich an der großen Zahl der Länder
ein Beispiel, und öffnen Sie die Ehe!
Das wäre ein Beitrag zur Entbürokratisierung, und das
würden die Menschen verstehen . Wie wollen Sie eigent-
lich den vielen Menschen, die gerade zu uns kommen,
erklären, was den Gesetzgeber getrieben hat, ein Le-
benspartnerschaftsgesetz zu verabschieden, und was es
beinhaltet?
Lassen Sie uns die Ehe öffnen . Jeder weiß, was darunter
zu verstehen ist . Von Finnland bis Südafrika, von Kanada
bis Argentinien gibt es die Ehe für gleichgeschlechtliche
Paare . Was läuft in diesem Land verkehrt, dass das bei
uns nicht möglich sein soll?
Frau Kramp-Karrenbauer, Ihre Parteivorsitzende im
Saarland, hat kürzlich vor Publikum erklärt, worum es
geht . Ja, es ginge um Bauchgefühl . – Ich sage Ihnen: Es
wäre ganz schön, Frau Merkel kaufte sich einen Kamil-
lentee, widmete sich der Besserung ihrer Stimmung im
Bauch
und sagte auch bei diesem Thema: Ja, gleiche Rechte für
Lesben und Schwule, Respekt vor der Verschiedenheit
der Menschen . Wir schaffen das .
Vielen Dank . – Als Nächster hat Alexander Hoffmann,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kollegin-nen und Kollegen! Kollege Beck, ich habe Ihren EinwurfDr. Sabine Sütterlin-Waack
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bezüglich der Flüchtlingssituation nicht so recht verstan-den .
Die Zuwanderungssituation stellt uns im Moment vorbesondere Herausforderungen. Ich finde es wichtig, dass auch die Regierungskoalition keinerlei Zweifel daranlässt, dass die Menschen, die in diesen Tagen zu uns kom-men, unser Rechtsgefüge, unsere Rechtsordnung akzep-tieren müssen . Dazu gehört auch, dass gleichgeschlechtli-che Menschen bei uns in Form einer Lebenspartnerschaftgegenseitige Verantwortung auf Lebenszeit übernehmenkönnen. Aber, Herr Kollege Beck, Sie pflichten mir si-cher bei, dass das eine große Herausforderung sein wird,weil es gerade im muslimischen Kulturkreis noch daseine oder andere Vorurteil zu beseitigen gilt .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin froh, dasswir heute die Gelegenheit haben, über dieses Thema zudebattieren . Es ist ein Thema, das sensibel ist und Emo-tionen betrifft . Deswegen ist es wichtig, dass wir darüberreden und nicht nur etwas aufschreiben und zu Protokollgeben . Was mich an dieser Debatte grämt – das will ichganz offen sagen –, ist, dass die Opposition heute wiederkeine Gelegenheit ausgelassen hat, das Bild von einerUnion zu zeichnen, die offensichtlich durchsetzt ist vonhomophoben Spinnern .
Wenn man genau hinsieht, dann muss man ehrlich sagen:Über 90 Prozent der Regelungen, die wir heute verab-schieden, können Sie unterschreiben . Warum kann manan der Stelle nicht fernab von jeglicher Parteipolitik sa-gen: „Mensch, das ist ein gewaltiger Schritt in die rich-tige Richtung“?
Das ist ein Schritt in die richtige Richtung . Es sind über31 Gesetze, die heute ihre Überarbeitung finden.
[DIE LINKE]: Das ist kein ge-
Man muss konstatieren: Wir sind uns doch im Ergeb-nis einig . Wir alle wollen nicht, dass Menschen aufgrundihrer sexuellen Orientierung diskriminiert werden .
Wir wollen Gleichstellung . Das Einzige, was uns im Mo-ment noch unterscheidet, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, ist der Weg dorthin .Wir wollen Gleichstellung, wenn auch – das gebe ichzu – mit einer unterschiedlichen Bezeichnung . Wir wol-len uns die Zeit nehmen, uns die Gesetze vorzunehmen .
Und Sie wollen – Kollege Beck, das war doch Ihr neues-ter Antrag – eigentlich die Ehe für alle öffnen und deswe-gen alle Zweifel beseitigen .
Aber dass eine gleichgeschlechtliche Lebenspartner-schaft etwas anderes ist als eine Ehe,
sagt zum Beispiel das Bundesverfassungsgericht . Am7 . Mai 2013 bestätigte es, dass das Institut der Ehe alleinder Verbindung zwischen Mann und Frau vorbehalten ist .
Man beachte die Wortwahl: „vorbehalten“ .Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle haben seitJahren über Gleichstellung gesprochen . Mit der Verwen-dung des Wortes „Gleichstellung“ haben wir immer be-stätigt, dass wir dem Grunde nach davon ausgehen, dasses sich um verschiedene Konstellationen handelt, die wirgleichwertig behandeln wollen . Wenn man im Duden,wenn man in Wikipedia nach dem Begriff „Gleichstel-lung“ forstet, dann findet man folgende Erklärung: Es ist die „Angleichung der Lebenssituation von im Prinzip alsgleichwertig zu behandelnden Bevölkerungsgruppen“ –gleichwertig zu behandeln, aber eben nicht gleich .
Dinge, die gleich sind, können wir gleich bezeichnen .Bei Dingen, die gleichwertig sind, schadet eine unter-schiedliche Bezeichnung aber doch nicht .
So sind wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, über Jah-re hinweg an dieses Thema der Antidiskriminierung, derGleichstellung herangegangen – so wie bei Mann undFrau, die unterschiedlich bezeichnet werden, die aber beiuns über genau dieselben Rechte verfügen .
Erst in den letzten Monaten hat ein Schwenk stattge-funden, vielleicht unter dem Eindruck eines gesellschaft-Alexander Hoffmann
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lichen Mainstreams . Und jetzt ist die Diktion: Wir wollendie Ehe für alle . –
Ich empfehle uns: Nehmen wir uns die Zeit, zu einer ech-ten Gleichstellung zu kommen . Ich glaube, das ist sehrim Interesse aller Beteiligten .Ich freue mich auf die weitere Beratung und bedankemich für die Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Als letzter Redner zu diesem Tages-
ordnungspunkt hat jetzt der Kollege Karl-Heinz Brunner
das Wort .
Geschätzte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und
Kollegen! Schön, dass zu dieser späten Stunde noch so
viele der Debatte zu diesem wichtigen Thema folgen! Ich
befürchtete schon eine etwas schütterere Anwesenheit .
Die Zuschauerinnen und Zuschauer auf der Tribüne ma-
chen es noch besser .
Es hat mich eigentlich gefreut, heute festzustellen:
Schön, dass es die SPD gibt! Denn wenn es uns nicht
gäbe, woran könnte sich sonst jetzt die Opposition abar-
beiten und reiben?
Eine wirkliche Gleichstellung gibt es nur mit uns . Des-
halb war der Slogan „100 % Gleichstellung nur mit uns“
richtig; er ist richtig und wird richtig bleiben . Denn die
Beseitigung von Diskriminierungen bei schwulen und
lesbischen Ehen und Familien gibt es nur mit uns .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, eigentlich
ist es ja beschämend, dass es bei uns 14 Jahre nach der
Einführung des Instituts der Lebenspartnerschaft immer
noch Diskriminierung, Ausgrenzung und Intoleranz gibt .
Schlimm ist für mich immer noch, wenn gegen diese Dis-
kriminierung und Intoleranz nicht entschieden vorgegan-
gen wird, obwohl die breite Mehrheit der Gesellschaft,
die Mehrheit der Abgeordneten dieses Hauses – aus allen
Fraktionen – sowie inzwischen die Mehrheit in Europa
längst für die Ehe für alle ist .
Aber das ist heute leider nicht das Thema .
Heute geht es nur um die Angleichung der Rechtsvor-
schriften . Meine Damen und Herren, für mich ist es abso-
lut unverständlich und auch nicht hinnehmbar, dass selbst
die im Koalitionsvertrag vereinbarten Ziele unterlaufen,
ignoriert und torpediert werden . Man müsste erwarten –
ja, man sollte es –, dass das Wohl aller Deutschen ein-
schließlich der Schwulen und Lesben Richtschnur des
Handelns ist, und zwar im Kanzleramt, bei der Kanzlerin .
Warum sage ich das? Ich wiederhole, was ich schon
im Frühjahr gesagt habe: Schon seit Sommer 2014 lag
der entsprechende Gesetzentwurf im Kanzleramt . Ich
frage: Warum hat ihn Frau Merkel bis zum Koalitions-
gipfel im Frühjahr 2015 in ihrem Hause blockiert? Und
warum hat Frau Merkel die Bedenkenträger und Bewah-
rer miefiger Intoleranz weitere sieben Monate das Ver-
fahren verzögern lassen?
Warum geht es mit dem Nationalen Aktionsplan gegen
Homophobie im federführenden Innenministerium nicht
voran? Schließlich zeigt unsere Familienministerin, wie
das gehen könnte .
Warum sind hier die kleinen Schritte so klein, dass es
auch mir schwerfällt, überhaupt noch Bewegungen fest-
zustellen? Warum ist die Entscheidung über die feste
Verbindung zweier Menschen eine politische und keine
Gewissensfrage?
Ich will nicht, dass wir auf der Stelle treten . Ich als
Sozialdemokrat will Bewegung .
Ich will ein weltoffenes Land ohne Diskriminierung von
Asylbewerbern, Flüchtlingen, Schwulen, Lesben, Bi-
und Transsexuellen . Ich will dies, das sage ich deutlich,
mit dieser Regierung, und das möglichst bald .
Gestatten Sie noch eine Frage des Kollegen Hoffmann?
Gerne, wenn wir schon einmal beieinander sind . Kol-
lege Beck darf auch noch eine Frage stellen . Wir haben
heute Abend, bis das Licht ausgeht, noch etwas Zeit hier
im Hause .
Kollege Brunner, ich denke, die Zeit haben wir . – Siehaben über die Kanzlerin und über das Innenministeriumreferiert . In meinem Kopf ist noch ein Fragezeichen ge-blieben . Der Entwurf, über den wir reden, ist ein Entwurfdes Justizministeriums?Alexander Hoffmann
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Selbstverständlich . Im Sommer 2014 wurde er dem
Kanzleramt vorgelegt, und bis zum Koalitionsgipfel im
Frühjahr 2015 ist er im Kanzleramt liegen geblieben .
Jetzt darf der Kollege Beck endlich seine Frage stel-
len .
Zunächst einmal lobe ich ausdrücklich Ihren Mut und
Ihre kollegiale Fairness, die anderen Rednern vorhin ab-
gingen .
Ich wollte Sie fragen, ob Sie wissen, warum das
Rechtsbereinigungsgesetz von Heiko Maaß zahlreiche
Regelungen wie das Explosionsstoffgesetz, die Einbür-
gerungsregelung für Lebenspartner von Spätaussiedlern
oder verschiedene Laufbahnverordnungen des Bun-
des nicht enthält? Gibt es dafür einen rechtspolitischen
oder einen verfassungsrechtlichen Grund? Oder war das
Schlamperei? Oder hat die Bundeskanzlerin diese Artikel
eigenhändig aus dem Gesetzentwurf herausgerissen?
Da ich nicht weiß, was die Bundeskanzlerin in dem
Fall denkt bzw . was im Gesetzentwurf enthalten ist, kann
ich nur die Vermutung anstellen, man wollte auch der
Opposition die Gelegenheit geben, in der Beratung in den
Ausschüssen an diesem Gesetzentwurf zu feilen .
Ich sage herzlichen Dank und wünsche allen einen
schönen Abend .
Vielen Dank . – Damit sind wir am Ende dieser Aus-sprache .Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 18/5901 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt esdazu anderweitige Vorschläge? – Ich sehe, das ist nichtder Fall . Dann ist die Überweisung so beschlossen .Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a bis 19 d auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu derMehrseitigen Vereinbarung vom 29. Okto-ber 2014 zwischen den zuständigen Behördenüber den automatischen Austausch von Infor-mationen über FinanzkontenDrucksache 18/5919Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Innenausschussb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum auto-matischen Austausch von Informationen überFinanzkonten in Steuersachen und zur Ände-rung weiterer GesetzeDrucksache 18/5920Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
InnenausschussAusschuss für Recht und Verbraucherschutz Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GOc) Beratung des Antrags der Abgeordneten LisaPaus, Dr . Thomas Gambke, Britta Haßelmann,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENAbgeltungsteuer abschaffenDrucksache 18/6064Überweisungsvorschlag:Finanzausschussd) Beratung des Antrags der Abgeordneten LisaPaus, Dr . Thomas Gambke, Britta Haßelmann,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENTransparenz von Kapitaleinkommen stärken– Automatischen Austausch von Informatio-nen über Kapitalerträge auch im Inland ein-führenDrucksache 18/6065Überweisungsvorschlag:FinanzausschussDie Reden sollen zu Protokoll gegeben werden . – Ichsehe, Sie sind damit einverstanden .Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagenauf den Drucksachen 18/5919, 18/5920, 18/6064 und18/6065 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-schüsse vorgeschlagen . – Ich sehe, Sie sind damit einver-standen . Damit sind die Überweisungen so beschlossen .Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Vierzehnten Geset-zes zur Änderung des AtomgesetzesDrucksache 18/5865Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-heit
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
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(D)
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden .1) –Ich sehe, Sie sind damit einverstanden .Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 18/5865 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt esdazu anderweitige Vorschläge? – Ich sehe, das ist nichtder Fall . Dann ist die Überweisung so beschlossen .Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit amSchluss unserer heutigen Tagesordnung .1) Anlage 4Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-destages auf morgen, Freitag, den 25 . September 2015,9 Uhr, ein .Die Sitzung ist geschlossen .Ich wünsche Ihnen allen noch einen wunderschönenAbend . Auf Wiedersehen .