Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie
herzlich zu unserer 111. Plenarsitzung.
– Da ansonsten das Risiko bestanden hätte, dass das
ohne jede Bemerkung schlicht zu Protokoll gegangen
wäre, habe ich mir mit der erwartbaren spontanen Re-
aktion diesen dezenten Hinweis erlaubt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 1 a und 1 b auf
– wir bleiben also streng bei der 1 –:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Verbesserung der Hospiz- und Palliativver-
Drucksache 18/5170
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Wöllert, Pia Zimmermann, Sabine Zimmermann
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE
Hochwertige Palliativ- und Hospizversorgung
als soziales Menschenrecht sichern
Drucksache 18/5202
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Die Fraktionen haben dazu eine Aussprachezeit von
60 Minuten vorgesehen. – Dazu sehe ich keinen Wider-
spruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst der Parlamentarischen Staatssekretärin Annette
Widmann-Mauz.
A
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Am Ende eines Lebens, dann, wenn nichtmehr die Frage, ob, sondern nur noch, wann und wieman sterben wird, im Mittelpunkt steht, geht es in ersterLinie darum, den Menschen Ängste zu nehmen, Schmer-zen zu lindern und Raum und Zeit für Begegnung, Zu-wendung, Nähe, Geborgenheit und Mitmenschlichkeitzu ermöglichen. Oft bleiben nur Monate, Wochen oderTage, in denen wir mehr Leben, mehr Lebensqualität ge-ben können. Das ist das Ziel der Hospizbewegung undder Palliativmedizin, und wir wollen sie darin unterstüt-zen.
Heute beraten wir in erster Lesung den Gesetzentwurfzur Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung inDeutschland – und nicht, wie man aufgrund der Bericht-erstattung im Fernsehen heute Morgen hätte vermutenkönnen, einen Gesetzentwurf zum assistierten Suizid.Unser Ziel ist es, dass allen Menschen in Deutschland inZukunft ein möglichst flächendeckendes Angebot dieserHospiz- und Palliativleistungen zur Verfügung steht.Dieses Gesetz betrifft einen Bereich unseres Lebens,der uns allen nahegeht, weil wir ihn alle irgendwann voruns haben. Wir wissen oder ahnen, wie herausforderndes ist, einen schwerstkranken oder sterbenden Angehöri-gen zu versorgen und zu begleiten. Es ist eine innereZerreißprobe zwischen Hinwendung und Überforde-rung, Nähe und schmerzvollem Miteinander.Viel ist in diesem Bereich in den vergangenen Jahrengeschehen, vor allem dank des Einsatzes der Hospizbe-wegung. Neben denjenigen, die in der Hospiz- und Palli-ativversorgung arbeiten, engagieren sich circa 80 000Menschen ehrenamtlich in diesem Bereich.
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10644 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Juni 2015
Parl. Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz
(C)
(B)
Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionenmessen daher dem weiteren Auf- und Ausbau der Hos-piz- und Palliativversorgung in Deutschland eine hoheBedeutung zu. Wir wollen erreichen, dass die Palliativ-medizin und die Hospizkultur möglichst überall dortzum Tragen kommen, wo Menschen sterben: zu Hauseoder im Hospiz, aber natürlich auch in Krankenhäusernund in Pflegeheimen, in den Städten genauso wie aufdem Land.Konkret bedeutet dies: Die Palliativversorgung wirdausdrücklicher Bestandteil der Regelversorgung in dergesetzlichen Krankenversicherung. Zur Steigerung derQualität der Palliativversorgung, zur Zusatzqualifikationder Ärzte und Pflegekräfte sowie zur besseren Vernet-zung mit und Koordinierung von allen anderen an derVersorgung beteiligten Berufsgruppen und Einrichtun-gen wird es mit diesem Gesetz zusätzlich vergütete Leis-tungen geben.Ihre letzte Lebensphase wollen viele Menschen zuHause verbringen. Damit die weißen Flecken in der Pal-liativversorgung, die es noch gibt, von der Landkarteverschwinden, ist die häusliche Krankenpflege in derambulanten Palliativversorgung von erheblicher Bedeu-tung. Dass palliative Leistungen auch zur häuslichenKrankenpflege gehören und sie auch für einen längerenZeitraum als die üblichen vier Wochen verordnet werdenkönnen, wird daher ausdrücklich in diesem Gesetz fest-geschrieben. Der Gemeinsame Bundesausschuss wirddamit beauftragt, die Richtlinie über die Verordnung vonhäuslicher Krankenpflege entsprechend zu überarbeiten.Viele Menschen, liebe Kolleginnen und Kollegen,wollen oder können allerdings nicht zu Hause gepflegtwerden. Für sie sind zum Beispiel stationäre Hospize einguter Ort, um die ihnen noch verbleibende Zeit zu ver-bringen. Die finanzielle Ausstattung stationärer Kinder-und Erwachsenenhospize wird deshalb verbessert, zumBeispiel durch die Erhöhung des Mindestzuschusses derKrankenkassen, damit derzeit unterdurchschnittlich fi-nanzierte Hospize einen höheren Tagessatz je betreuterPerson erhalten können. Zudem tragen die Krankenkas-sen künftig einheitlich 95 Prozent statt bisher 90 Prozentder zuschussfähigen Kosten. Damit reduziert sich derKostenanteil, den Hospize durch Spenden aufbringenmüssen, ohne dass sie ihren Charakter, nämlich den desbürgerschaftlichen Engagements und der engen Veran-kerung in der Zivilgesellschaft, verlieren oder er ihnengenommen wird. Denn dieser Charakter prägt und trägtdie Hospizbewegung. Es ist uns wichtig, das auch beidiesen Finanzfragen immer wieder zum Ausdruck zubringen.
Bei den Zuschüssen für ambulante Hospizdienstekönnen künftig neben den Personalkosten – ebenfallsentgegen manchem Medienbericht – auch die Sachkos-ten berücksichtigt werden. Zudem wird ein angemesse-nes Verhältnis von haupt- und ehrenamtlichen Mitarbei-tern sichergestellt. Wir wollen, dass ambulanteHospizdienste stärker in die Sterbebegleitung in Pflege-heimen einbezogen werden und Krankenhäuser künftigHospizdienste mit Sterbebegleitungen auch in ihren Ein-richtungen beauftragen können.Zur Stärkung der Hospizkultur und der Palliativver-sorgung in den Pflegeheimen wird die Sterbebegleitungzukünftig ausdrücklicher Bestandteil des Versorgungs-auftrags der sozialen Pflegeversicherung. Auch Koope-rationsverträge mit Haus- und Fachärzten, die für diemedizinische Versorgung der Bewohnerinnen und Be-wohner besonders wichtig sind, werden in Zukunft nichtlänger freiwillig sein. Ärzte, die diese Verantwortungund diese Herausforderung annehmen und sich daran be-teiligen, werden in Zukunft dafür flankierend zusätzlicheVergütungen erhalten.Für die Krankenhäuser haben wir vorgesehen, dassanstelle der Fallpauschalenlogik in Zukunft auch kran-kenhausindividuelle Entgelte für Palliativstationen mitden Krankenhausträgern vereinbart werden können –dann, wenn die Krankenhäuser dies wünschen.Schließlich, meine Damen, meine Herren, wollen wirsicherstellen, dass Menschen am Ende ihres Lebens dieUnterstützung und Betreuung erhalten, die sie sich vor-stellen. Wir alle wissen: Über Sorgen und Befürchtun-gen, Werte und Wünsche zu sprechen, ist in dieser Le-bensphase oft ein schwieriger und auch angstbesetzterProzess, mit dem sich viele überfordert und mancheauch alleingelassen fühlen. Diese Klärung gibt aber allden Betroffenen Sicherheit und stellt darüber hinaus füralle an diesem Prozess Beteiligten – die Angehörigen,die behandelnden Ärzte und die Pflegekräfte – eine ganzwichtige Leitlinie für ihren Umgang mit den Patientin-nen und Patienten und für ihre Arbeit dar. Deshalb sehenwir im Gesetzentwurf – neben dem dringend notwendi-gen Anspruch auf Beratung zum Leistungsangebot in derPalliativ- und Hospizversorgung durch die gesetzlichenKrankenkassen – erstmals in Deutschland eine individu-elle, ganzheitliche Beratung zu den Hilfen und Angebo-ten in den Bereichen der medizinisch-pflegerischen,psychosozialen und seelsorgerlichen Betreuung und Ver-sorgung in der letzten Lebensphase in den stationärenPflegeeinrichtungen vor. Das ist ein neues Element, unddamit sind wir Vorreiter in Europa.
Wir können, meine sehr verehrten Damen und Her-ren, insgesamt auf den positiven Erfahrungen und denEntwicklungen der letzten Jahre aufbauen. Vieles ist inBewegung. Dazu beigetragen hat nicht nur, dass wirüber alle Parteigrenzen hinweg gemeinsam einen breitenpolitischen Konsens aufbauen konnten. Dazu beigetra-gen hat vor allem auch, dass die vielen Akteure in denjeweiligen Verantwortungsbereichen in diesem besonde-ren Feld der Gesundheitspolitik mit großem Engagementaktiv zusammengearbeitet haben, ob das nun im Charta-Prozess oder im Nationalen Forum „Hospiz- und Pallia-tivversorgung in Deutschland“ im Bundesgesundheits-ministerium war. Ich möchte mich ausdrücklich dafürbedanken –
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Juni 2015 10645
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Frau Kollegin.
A
– ich komme zum letzten Satz –; denn ich habe die
Diskussionen als ausgesprochen konstruktiv und pro-
duktiv empfunden. Die Hospizkultur hat damit auch ei-
nen positiven Einfluss auf die politische Kultur gehabt.
Ich freue mich auf die Beratungen im Deutschen Bun-
destag.
Herzlichen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Pia
Zimmermann das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!Herr Minister Gröhe, Frau Staatssekretärin Widmann-Mauz, Sie läuten Ihr Gesetz zur Hospiz- und Palliativ-versorgung mit großen Worten ein. Ich zitiere:Schwerkranke und sterbende Menschen benötigenin ihrer letzten Lebensphase die bestmöglichemenschliche Zuwendung, Versorgung, Pflege undBetreuung.Ich frage Sie aber allen Ernstes: Ist das, was Sie mit die-sem Gesetzentwurf vorlegen, Ihrer Meinung nach wirk-lich das Bestmögliche? Meine Fraktion jedenfalls sowiedie überwiegende Mehrzahl der Sozial- und Betroffe-nenverbände werden Ihnen da widersprechen.
Ihre großen Ankündigungen sind erneut nur kleineVerbesserungen. Auch durch meine langjährigen Erfah-rungen im Gesundheitswesen kann ich Ihnen versichern:Sie beenden damit weder die bestehenden Ungleichhei-ten im Hospiz- und Palliativsystem, noch verbessern Siedie Qualität. Zudem sind die von Ihnen vorgeschlagenenVerbesserungen leider auch nicht ausreichend finanziert.
Wir brauchen einen präzisen, in allen Sozialgesetzbü-chern gleichlautenden Rechtsanspruch auf eine hoch-wertige Hospiz- und Palliativversorgung.
Dieser Anspruch muss für jede Bürgerin und jeden Bür-ger unabhängig von der Art der Erkrankung, der Art derBehinderung, dem individuellen Lebensort und natürlichauch unabhängig von der Versicherungsform gelten.
Dazu liegt heute ein Antrag meiner Fraktion vor. Ichlade Sie herzlich ein: Schreiben Sie von uns ab. HabenSie Mut, und gehen Sie endlich die dringend notwendigeReform im Bereich der Hospiz- und Palliativversorgungan.Meine Damen und Herren, ich möchte auf einige un-serer Forderungen eingehen, die in Ihrem Gesetzentwurfkeine Rolle spielen, von denen wir aber meinen, sie soll-ten enthalten sein.
Erstens. Heben Sie die Ungleichbehandlung zwischenMenschen in stationären Pflegeeinrichtungen und Hospi-zen auf, und beenden Sie so die Zweiklassenbetreuung.Zweitens. Garantieren Sie im Rahmen der Umsetzungdes neuen Pflegebegriffs, dass hospizliche und palliativ-pflegerische Angebote in Pflegeeinrichtungen nicht wei-ter zu steigenden Eigenanteilen für die Betroffenen undderen Angehörige führen; denn gute Versorgung darfauch hier nicht vom Geldbeutel abhängig sein.
Drittens. Beseitigen Sie die strukturelle Ungleichbe-handlung bei der palliativmedizinischen Versorgungssi-tuation von Schmerzpatienten in Pflegeeinrichtungen.Kein Mensch sollte Schmerzen haben, die verhindertwerden können.
Viertens. Hören Sie auf, die Menschen weiter mit Ih-ren unbestimmten Rechtsbegriffen zu verunsichern, undpräzisieren Sie Ihr Gesetz bei der Hospiz- und Palliativ-beratung sowie bei der Sterbebegleitung.Fünftens. Schaffen Sie verbindliche Regelungen fürdie Personalbemessung, und machen Sie sich auf denWeg, die palliativmedizinische, palliativpflegerische undhospizorientierte Ausbildung in den Gesundheits- undPflegeberufen bundeseinheitlich durch ein entsprechen-des Berufsgesetz zu regeln.
Nur so können wir mehr Pflegekräfte gewinnen, und nurso können wir der akuten Arbeitsverdichtung bei denheutigen Pflegekräften entgegentreten. Mehr gut ausge-bildetes Personal bedeutet natürlich auch bessere Pflege.Sechstens. Auch eine Vollfinanzierung der Hospiz-leistungen muss drin sein, vor allen Dingen für die am-bulanten Hospizleistungen, die Sachkosten inklusive.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in diesemKontext will ich noch einmal erwähnen, dass ich das En-gagement der Ehrenamtlichen in diesem Bereich außer-ordentlich schätze und dass ihnen hohe Anerkennung ge-bührt. Ich denke, ich spreche hier im Namen des ganzenHauses.
Aber bürgerschaftliches Engagement ist kein Ersatz fürfehlende Fachkräfte und darf auch nicht missbrauchtwerden, um vorhandene Strukturdefizite zu verdecken.
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10646 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Juni 2015
Pia Zimmermann
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Wir brauchen eine Hospiz- und Palliativpflege, diedie Würde des Menschen unter Beachtung seiner Selbst-bestimmung am Lebensende in den Mittelpunkt stellt.
Dafür benötigen wir andere Personal- und Sachkosten-schlüssel und endlich eine grundlegende Reform derPflegeversicherung, die nicht nur das Teilleistungsprin-zip aufhebt, sondern auch eine Angleichung der Finan-zierung der Sterbebegleitung in Pflegeheimen an das Ni-veau der Hospize gewährleistet.Meine Damen und Herren von der Großen Koalition,das alles können Sie in unserem Antrag noch einmalnachlesen. Daher erneuere ich mein Angebot: SchreibenSie von der Linken ab. Sie werden sehen: Das würde dieHospiz- und Palliativversorgung in unserem Land weitnach vorne bringen.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Hilde Mattheis ist die nächste Rednerin für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichstelle eingangs fest: Manche Themen eignen sich nichtfür politische Attacken. Wir in diesem Haus sind dochalle einer Meinung – davon gehe ich aus –, dass wir imBereich der Hospiz- und Palliativversorgung wichtigeBausteine setzen müssen,
auch als Grundlage für weitere Verbesserungen in derVersorgung. Es geht vor allen Dingen darum, Struktur-unterschiede aufzuheben.Wenn wir uns in diesem Punkt einig sind, dann lassenSie uns darüber beraten, wie wir das hinbekommen.Denn wir wissen doch auch alle: Das Thema „Würde imAlter“ ist für viele von uns mit der Vorstellung verbun-den, dass wir auch in der letzten Lebensphase möglichstselbstbestimmt und schmerzfrei am Leben, soweit esmöglich ist, teilhaben können. Wir wollen uns nicht vor-stellen, bettlägerig auf die Hilfe anderer angewiesen zusein. Stattdessen wollen wir uns vorstellen, die letztenTage im Kreis unserer Angehörigen, unserer Liebstenverbringen zu können – nicht nur satt und sauber, son-dern auch schmerzfrei, angenommen und respektiert.
Wir wissen, dass die Realität heute noch viel zu oftanders aussieht. Heute, 30 Jahre nach dem Start der Hos-pizbewegung, kümmern sich mehr als 1 500 ambulanteDienste, 200 stationäre Hospize und 250 Palliativstatio-nen sowie – das wurde schon gesagt – 80 000 hochenga-gierte Ehrenamtliche um die Betroffenen. Die Menschen,die sich in diesem Bereich engagieren, müssen, vor allenDingen im Sinne derer, um die es uns heute geht, unter-stützt werden. Daher bringen wir heute den vorliegendenGesetzentwurf in das parlamentarische Verfahren ein.
Nun geht es darum, Lücken zu schließen, was wir inden letzten Jahren im Rahmen der Berichtspflichten desBundesministeriums immer wieder angemahnt haben.Es geht nicht nur um Lücken in Bezug auf die speziali-sierte ambulante Palliativversorgung, sondern vor allenDingen auch – was uns als SPD ein großes Anliegenist – um Lücken im Bereich der stationären Pflegeein-richtungen.
Wir wissen: Das ist kein leichtes Thema. Wir wollenes heute – der Medienbericht wurde schon angesprochen –dezidiert nicht mit einer Sterbehilfedebatte verbinden.Denn heute geht es um Hospiz- und Palliativversorgung.Egal wo wir uns verorten, wir sind uns in diesem Haussicherlich einig, dass wir in dem Bereich Palliativ undHospiz Verbesserungen wollen. Es geht darum, dass guteVersorgung nicht von dem Ort, an dem Menschen leben,abhängig sein darf. Egal wo Menschen hier in Deutsch-land leben, sie müssen die Garantie einer guten Versor-gung haben.Die ambulante Palliativversorgung zu verbessern unddie Vernetzung der Regelversorgung anzugehen, ist einwichtiger Teil dieses Gesetzentwurfs. Die Leistungsan-sprüche der häuslichen Krankenpflege auch im Hinblickauf ambulante Palliativversorgung gesetzlich klarzustel-len und den Gemeinsamen Bundesausschuss zu beauf-tragen, für den Bereich Palliativpflege konkrete Festle-gungen zu den Versorgungsanforderungen zu treffen, istBestandteil dieses Gesetzentwurfs.
Die SAPV wird erleichtert. Stichworte hierfür sind:Einführung des Schiedsverfahrens und Klarstellung inBezug auf selektivvertragliche Regelung. Es darf keineSAPV light geben.
Deshalb wollen wir auch die stationäre und ambu-lante Hospizarbeit weiter stärken. Es wurde schon daraufhingewiesen: Der Anteil der zuschussfähigen Kosten,die getragen werden, wird von 90 auf 95 Prozent erhöht.Denn die Hospizbewegung hat uns gesagt: Wir brauchenAnreize, um aus dem Spendenbereich Mittel für dieHospizarbeit zu schöpfen. Diese Erhöhung ist wichtig,aber auch die Erhöhung des Mindestzuschusses von7 Prozent auf 9 Prozent der monatlichen Bezugsgröße.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Juni 2015 10647
Hilde Mattheis
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Neben den Personalkosten werden natürlich auch dieSachkosten angemessen berücksichtigt. Die Sterbebe-gleitung und Palliativversorgung in stationären Pflege-einrichtungen – auch das ist wichtig – werden ebensoverbessert wie die ärztliche Versorgung. Wir wissen: Dieärztliche Versorgung in stationären Pflegeeinrichtungenist nicht optimal. Auch bei diesem ganz wichtigen undgroßen Bereich müssen wir leider von Unterversorgungsprechen. Das alles sind Bausteine, auf die auch meineKolleginnen noch eingehen werden. Uns reicht ein guterWille für eine bessere Versorgung nicht aus.
Vielmehr wollen wir hier Fakten schaffen.Ich sage zum Abschluss meiner Rede ganz deutlich:Dieses Gesetz ist ein Baustein. Wir können in diesem ei-nen Gesetz nicht quasi alle Bereiche regeln. Einen ande-ren Baustein haben wir letzte Woche mit dem Versor-gungsstärkungsgesetz gesetzt. Schauen Sie sich an, wasalles in diesem Gesetz bei der sektorenübergreifendenVersorgung verbessert wurde; dies wirkt sich auch aufden Bereich, um den es heute geht, aus.Wir werden mit dem Pflegestärkungsgesetz zwei wei-tere wichtige Dinge angehen. Wir werden auch mit demPräventionsgesetz – wir haben den Entwurf heute imAusschuss beraten und auch entsprechende Änderungs-anträge besprochen – einen wichtigen Baustein setzen.All das ergibt ein Gesamtkonzept, das für uns als SPDdie Überzeugung, dass Gesundheit und Pflege zur Da-seinsvorsorge gehören, dokumentiert. Da darf es keinezwei Klassen geben, sondern die Zugänge zum medizi-nischen und pflegerischen Fortschritt müssen für alle ge-geben sein. Das ist unsere Überzeugung.
Ja, das alles muss finanziert werden. Wir können dasVorhaben jetzt angehen. Hinsichtlich der Finanzierungs-fragen werben wir weiterhin für unser Konzept, nämlichfür eine solidarische und paritätische Finanzierung.
Vielen Dank.
Elisabeth Scharfenberg ist die nächste Rednerin fürdie Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter HerrMinister! Herr Laumann! Sehr geehrte Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Gäste, die heute dieser Debattezuhören können! Es ist ein schweres Thema, mit demwir uns heute befassen: Palliativ- und Hospizversor-gung. Das ist nichts, was wir von uns wegdrücken kön-nen. Das betrifft uns alle, jede und jeden hier im Raum.Es geht um die eigene Endlichkeit. Es geht auch um daseigene Sterben. Wir alle haben Angst vor Abhängigkeit.Wir haben Angst vor Hilflosigkeit und natürlich auchAngst vor dem Verlust der Würde. Wir haben Angstvor dem Verlust unserer Selbstbestimmung. Wir habenAngst vor Schmerzen. Es geht aber auch um Loslassenund Abschied für Angehörige. Es geht auch um die Ak-zeptanz von Grenzen, gerade für Ärzte und für Pflege-personal. Das heißt, wir drücken dieses Thema weg, so-lange wir irgendwie können, bis wir uns eben nicht mehrwegducken können, bis wir uns mit dem Thema aus-einandersetzen müssen. Das tun wir heute hier.Bei der Palliativ- und Hospizversorgung gibt es trotzaller Fortschritte der letzten Jahre immer noch sehr, sehrviel zu tun. Das ist – da gebe ich der Kollegin recht –kein Thema für parteipolitisches Gezänk.
Der Bundestag muss sich intensiv mit diesen schwerenFragen befassen. Es ist an uns, diese Debatte anzustoßenbzw. auszulösen, die Debatte zu führen und das Themadadurch natürlich auch in die Gesellschaft zu tragen.Diese Debatte hat eine ganz hohe symbolische Bedeu-tung. Deshalb dürfen wir daraus keine Symbolpolitikmachen.
Ihr Gesetzentwurf ist an vielen Stellen gut und richtig.Aber ich denke, die Probleme werden nicht in der gan-zen Breite grundsätzlich genug angepackt. Was meineich damit? Ich meine insbesondere die stationären Ein-richtungen und Krankenhäuser. Sie wollen die Palliativ-versorgung in stationären Pflegeinrichtungen und Kran-kenhäusern stärken. Das ist absolut notwendig. Klinikenund Pflegeheime sind die Orte, an denen 80 bis 90 Pro-zent der Menschen sterben. Um ein Gefühl dafür zu ent-wickeln: Ich rede hier von 700 000 bis 800 000 Men-schen; das ist, um es noch deutlicher zu machen, dieEinwohnerzahl von Frankfurt am Main. Das zeigt uns,wie drängend dieses Problem ist. Diese Realität erreichttäglich die Menschen, die in stationären Einrichtungenund Krankenhäusern leben, versorgt werden oder aucharbeiten. Diese Einrichtungen sind nicht darauf einge-richtet. Dennoch müssen sie diese Situation managen.Es fehlt an Personal. Es fehlt an Geld. Gute Palliativ-und Hospizversorgung in Kliniken und Pflegeheimen istaber von einem sehr, sehr gut ausgebildeten Personal ab-hängig. Das ist auch und vor allem eine Frage von genü-gend Personal. Dazu steht derzeit leider noch wenig inIhrem Gesetzentwurf. Wir alle wissen, dass es in Klini-ken wie in Pflegeeinrichtungen doch wirklich an allenEcken und Enden an Personal fehlt. Wir haben einen zu-nehmenden Fachkräftemangel; das ist kein Geheimnis.
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10648 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Juni 2015
Elisabeth Scharfenberg
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Das können wir täglich erleben. Das können wir lesen,und das können wir spüren. Auch die Menschen in denEinrichtungen berichten uns das sehr drastisch.Ein Problem ist natürlich die unzureichende Finanzie-rung des Pflegepersonals. Ich denke, die Zusammenle-gung der Pflegeberufe wird dieses Problem nicht lösen.Aber was könnte eine Lösung sein? Ich denke, ein Schrittin die richtige Richtung wäre ein verbindliches Personal-bemessungsinstrument.
Damit würde der Personalbedarf in Krankenhäusern undPflegeeinrichtungen objektiv gemessen werden, dasheißt: Wie viel Personal brauche ich denn wirklich fürwelche Tätigkeit? Damit könnte man auch punktgenaulanden.Ein weiteres Problem ist, dass Bewohnerinnen undBewohner in stationären Einrichtungen quasi keinen An-spruch auf einen stationären Hospizplatz haben; das istein Riesenproblem. Denn man geht davon aus, dassdiese Menschen in der stationären Einrichtung oder imAltenpflegeheim versorgt sind. Aber auch da fehlt es anHänden, und da fehlt es an Zeit. Ich denke, damit müs-sen wir uns ganz ehrlich auseinandersetzen.
Das alles – das weiß auch ich – geht nicht von heuteauf morgen. Das wird Geld kosten. Aber das muss unsgute Pflege auch wert sein. Die Palliativ- und Hospizver-sorgung ist auf gute Pflege absolut angewiesen. GutePalliativ- und Hospizversorgung kostet Zeit und Geld.Wenn wir ehrlich sind, weiß das jeder hier im Raum. Ichdenke, wir sollten uns dem stellen.
Was braucht es noch? Angehörige sterbender Men-schen brauchen eine bessere Unterstützung. Trauerbe-gleitung ist besonders wichtig. Der Sterbeprozess, denkeich, ist ein ganz besonderer Prozess; Kliniken berichtenuns das. Angehörige zu unterstützen, ist aktive Präven-tion und beugt Erkrankungen nach dem Todesfall vor.Ich meine hiermit ganz klar Depressionen.Auch das fehlt mir derzeit noch – ich sage: „derzeitnoch“ – in Ihrem Gesetzentwurf. Ich denke aber, das istleicht zu heilen und wird nicht allzu viel Geld kosten.Die Wirkung ist enorm groß, und wir sollten auch hiergenau hinschauen.
Ich komme zum Schluss. Ich denke, die Gesetzesvor-haben, die wir im Moment angehen, nehmen beeindru-ckend schnell Gestalt an, aber ich glaube wirklich, wirsollten auch noch mutige Weichenstellungen vorneh-men. Wir haben zurzeit eine riesengroße Chance. DieseChance sollten wir nutzen, gerade im Bereich der Pallia-tiv- und Hospizversorgung. Das sind wir den Menschenim Land und auch uns schuldig.Herr Minister, liebe Kolleginnen und Kollegen, wirhaben in diesem Haus einen interfraktionellen Arbeits-kreis Palliativ- und Hospizversorgung, in dem sehr kol-legial und gut miteinander gearbeitet wird. Ich bitte ein-fach wirklich noch einmal, zu erwägen, ob dies nicht einThema für einen gemeinsamen interfraktionellen Ge-setzentwurf ist. Wir alle haben gute Ideen. Lassen Sie sieuns einspeisen und uns gemeinsam an einem Strang zie-hen. Das wäre ein starkes Zeichen.Vielen Dank.
Ich erteile dem Kollegen Jens Spahn für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!66 Prozent der Deutschen sagen, sie würden gerne zuHause sterben können, aber nur 20 Prozent ist das tat-sächlich vergönnt. Sie haben darauf hingewiesen: Esgeht um Hunderttausende Menschen, die jedes Jahr ster-ben. Nur 3 Prozent sagen in Umfragen, sie würden essich wünschen bzw. vorstellen können, im Krankenhauszu sterben; das wäre eine Option für sie. Tatsächlichstirbt etwa die Hälfte – gute 50 Prozent – aller Menschenin Deutschland in Krankenhäusern. Nur 1 Prozent sagt,sie können es sich vorstellen bzw. würden es sich wün-schen, in einem Pflegeheim zu sterben. Tatsächlich ster-ben etwa 23 Prozent in einer Pflegeeinrichtung.Allein diese wenigen Zahlen machen deutlich, für wiewenige Menschen der Wunsch, zu Hause zu sterben – siesagen für sich: das sind das Umfeld und die Situation, indenen ich aus dieser Welt scheiden möchte; das möchteich durchleben und erleben –, tatsächlich wahr wird.Deswegen ist es wichtig, dass wir das durch eine guteambulante Palliativversorgung und einen entsprechen-den Ausbau möglich machen.Wir haben 2007 mit einem ersten entsprechenden Ge-setz begonnen, durch das diese Leistungen vor acht Jah-ren in die Regelversorgung der gesetzlichen Kranken-versicherung aufgenommen wurden. Seitdem ist vielpassiert, aber noch nicht flächendeckend genug. Deswe-gen ist es gut und wichtig, dass wir mit diesem Gesetz-entwurf weitere Schritte gehen, um diesem Wunsch ge-recht zu werden und die ambulante Palliativversorgungin Deutschland auszubauen.
Dazu müssen natürlich viele kleine Maßnahmen er-griffen werden, die auch schon angesprochen wurden,zum Beispiel die Einführung von Schiedsstellen, dasVergüten bestimmter Leistungen, das Anheben der ärzt-
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Jens Spahn
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lichen Vergütung und Kooperationen mit Pflegeeinrich-tungen.Frau Zimmermann, Sie haben hier einige Forderun-gen erhoben, denen am Ende auch niemand widerspre-chen mag. Das Problem ist nur: Diese sind so allgemein-gültig, dass den Menschen damit nicht geholfen ist. Siemüssen im Gesetzentwurf am Ende dann schon auchkonkrete Maßnahmen vorsehen, die zum Teil eben klein-teilig sind und deren Umsetzung zu einer besseren Ver-sorgung führen kann.Eines werden Sie uns nicht ausreden können, näm-lich, dass wir viele gute Maßnahmen vorgeschlagen ha-ben, die in die richtige Richtung gehen. Es wäre schön,wenn Sie das im Interesse der Menschen auch einmal an-erkennen würden.
Es ist gerade gesagt worden, man solle diese Debattehier nicht parteipolitisch ausschlachten.
Dass Sie daraus indirekt wieder eine Debatte über dieBürgerversicherung und über die private und gesetzlicheKrankenversicherung machen, sieht mir sehr nach Aus-schlachten aus.
– Sie haben von unterschiedlichen Klassen bei derPalliativversorgung gesprochen.
– Ja, unabhängig von der Versicherung. Damit deutenSie das an.Das eigentliche Problem ist übrigens ein anderes– das muss hier auch einmal gesagt werden –: DiePrivatversicherten haben an dieser Stelle viel mehr Pro-bleme als die gesetzlich Versicherten, weil sich die pri-vaten Krankenversicherungen oft weigern, eine Pallia-tivversorgung zu bezahlen. Wenn wir an dieser Stellegemeinsam mit Ihnen zu einer Verbesserung für die Pri-vatversicherten kommen können, dann können wir gernedarüber reden.
Ein weiterer Punkt, der vielen Menschen in dieser De-batte wichtig ist – dies beschäftigt und besorgt sie, wes-halb man diese Debatte heute nicht ganz von der Debatteüber Sterbehilfe trennen kann, Frau Mattheis –, ist dieAngst vor einem qualvollen Tod. Sie haben Angst vorSchmerzen, Atemnot und Leid. Aus dieser Angst unddieser Sorge heraus wächst – das zeigen auch Umfragen –der Wunsch nach Sterbehilfe bzw. nach der Möglichkeit,diese Option zu haben, um dem Leid zu entgehen. Des-wegen kann man diese beiden Debatten nicht völlig von-einander trennen.Wenn es aber so ist, dass vor allem diese Angst vorLeid und Qualen während des Sterbeprozesses dazuführt, dass viele überhaupt erst über die Option der Ster-behilfe nachdenken, dann ist doch die erste und besteAntwort auf diese Sorgen, dass wir sagen: Jeder inDeutschland soll die Möglichkeit haben, soweit es ebengeht, ohne Schmerzen und Angst vor Atemnot mit einerentsprechenden medizinischen und pflegerischen Be-gleitung sterben zu können. Wir wollen den Menschengenau diese Angst nehmen, indem wir ihnen ein Ange-bot machen. Das ist die erste und beste Antwort auf dieDebatte zur Sterbehilfe.
Noch ein Punkt: Wir sind – wenn wir den Blick aufdie Diskussion über die Palliativmedizin insgesamt inden letzten 15 bis 25 Jahren richten – doch weitergekom-men. Auch hier ist ein enormer Fortschritt erkennbar.Überhaupt hat sich die Frage bezüglich einer Pallia-tivversorgung in diesem Umfang erst gestellt, nachdemes ab den 60er- und 70er-Jahren moderne medizinischeMöglichkeiten wie eine Reanimation bzw. Wiederbele-bung in der Folge der künstlichen Beatmung und künstli-chen Ernährung gab. Erst dadurch sind an vielen Stellenviel längere Sterbeprozesse – über viele Wochen, Mo-nate und zum Teil sogar Jahre hinweg – und ganz andereSituationen am Lebensende entstanden. Dadurch stelltesich die Debatte über Fragen des Sterbens bzw. des Ster-beprozesses noch einmal ganz anders dar, als es in denvielen Jahrzehnten, Jahrhunderten und Jahrtausendenvorher der Fall war.Wir haben in den letzten 40 bis 60 Jahren ganzenorme Fortschritte erlebt, was die Möglichkeiten derMedizin angeht. Das hat zunächst erst einmal dazu ge-führt, dass wir lange leben können. Außerdem kann imSterbeprozess noch vieles zusätzlich möglich gemachtwerden.Ein Problem dabei war – das wird erst seit 10, 20 Jah-ren in der Medizin bzw. bei den Ärzten, in der Gesell-schaft und der Politik richtig diskutiert –, dass der Fokusviel zu lange und in zu starkem Maße auf folgende Fra-gen gerichtet war: Was geht technisch noch? Was kön-nen wir noch an Technik bzw. Gerät und Medizin einset-zen, um irgendetwas zusätzlich möglich zu machen?Man hat dabei nicht die Debatte über die Fragen zugelas-sen: Was ist eine gute, sinnvolle und qualitätsvolle Ster-bebegleitung? Wann sollte man es vielleicht auch einmalgut sein lassen? Es ging darum, überhaupt erst einmalanzuerkennen, dass es Situationen gibt, in denen ein Arztnicht mehr heilen bzw. behandeln und etwas besser ma-chen kann, sondern dass nichts mehr geht und der Pro-zess des Sterbens einsetzt.Aus dem Anerkennen der Tatsache, dass man amEnde der Möglichkeiten ist, wurde in den 90er-Jahreneine gute Sterbebegleitung, Palliativversorgung undHospizarbeit entwickelt. Das ist der Qualitätsschritt, derin den letzten 10, 20 Jahren gelungen ist. Er findet in
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10650 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Juni 2015
Jens Spahn
(C)
(B)
dieser Debatte, die wir aktuell hier haben, eine gute undsinnvolle Fortsetzung.
Abschließend richte ich einen Appell an uns alle. Da-für sind ja Debatten wie diese – sie finden auf vielenVeranstaltungen, die wir auch vor Ort haben, statt – ge-eignet. Sie erfreuen sich übrigens – auch wenn es um Pa-tientenverfügungen und ähnliche Themen geht – großenInteresses. Man wundert sich, wie viele Menschen mitganz konkreten Fragen zu solchen Veranstaltungen kom-men. So wird das Sterben ein Stück weit wieder ins Le-ben bzw. in den Alltag zurückgeholt.Ich weiß noch – ich habe das hier, glaube ich, schoneinmal gesagt –, wie mir meine Eltern und meine Groß-eltern gesagt haben: Früher war das Sterben zu Hauseganz normal. Es war auch selbstverständlich, dass manals Kind die Großmutter oder den Großvater hat sterbensehen. Ich war um die 30, als ich zum ersten Mal einenToten gesehen habe. Es gibt viele Menschen, die 50 oder60 Jahre alt sind und noch nie in ihrem Leben einen To-ten gesehen haben. Wir schieben das weg – außerhalbdessen, was Familie, Zuhause bzw. Heim ist.Ich glaube, es ist wichtig, dass wir mit dieser Debattedas Sterben bzw. den Tod wieder als Teil des Lebens inden Alltag zurückholen; denn damit enttabuisieren wirden Tod. Dann ist es möglich, über all die Dinge zu dis-kutieren, über die auch wir hier reden. Und es ist weiter-hin möglich, auch über das zu sprechen, was notwendigfür eine gute Sterbebegleitung ist.
Kathrin Vogler ist die nächste Rednerin für die Frak-
tion Die Linke.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Vielleicht sollten wir uns noch einmalvergegenwärtigen, worüber wir hier sprechen: Es gehtum die Angst, die viele Menschen begleitet, dass sie ihreletzten Lebensstunden zwischen piepsenden Apparatenverbringen müssen, versorgt von gestressten Pflegekräf-ten, deren Gesichter hinter einem Mundschutz verstecktsind, oder dass sie im Pflegeheim mit viel zu wenig Per-sonal dahinvegetieren oder schwere und unerträglicheSchmerzen und Ängste erleiden müssen. Aber das mussnicht sein. Diese Ängste können und sollten wir denMenschen nehmen.Niemand, egal bei welcher Krankheit, muss unter un-erträglichen Schmerzen leiden; denn wenn Heilung nichtmehr möglich ist, kann heute die Palliativmedizin Linde-rung und Hilfe auch am Lebensende bieten. Dabei stehtam Lebensende die Lebensqualität, so absurd das viel-leicht klingen mag, im Mittelpunkt. Darum kümmernsich viele Menschen als Beschäftigte oder Ehrenamtli-che auf Palliativstationen, in Hospizen oder in ambulan-ten Palliativteams. Dafür haben sie jeden Dank, auch dendieses Hauses, verdient.
Aber leider ist es nicht so, dass wir schon eine flä-chendeckende Versorgung hätten und dass wirklich jederMensch von diesen Angeboten erreicht werden kann.Das müssen wir ändern.
Wer nicht mehr lange zu leben hat, der kann nicht wo-chenlang auf einen Platz im Hospiz oder auf die Unter-stützung eines Palliativteams warten. Deswegen, HerrMinister Gröhe, bedanke ich mich bei Ihnen und IhremTeam, dass Sie uns relativ zügig einen Gesetzentwurfvorgelegt haben, um die Hospiz- und Palliativversor-gung zu verbessern.Manches, was Sie vorschlagen, geht durchaus in dierichtige Richtung; darin sind wir uns einig, dabei unter-stützen wir Sie. Aber ich finde wirklich, lieber JensSpahn, dass es notwendig ist und möglich sein muss,Punkte zu benennen, wo noch Lücken sind und wo nochNachbesserungsbedarf besteht.
Dafür haben wir einen Antrag eingebracht, den ich Sienoch einmal bitte zu lesen.Wir würden uns freuen, wenn einige unserer Vor-schläge aufgegriffen würden. Ich nenne einige Beispiele.Es ist nicht einzusehen, dass hochqualifizierte Leitungs-kräfte in Hospizen ihre wertvolle Arbeitszeit dafür auf-wenden, um Spenden zu sammeln. Wir schlagen alsovor, die Arbeit in den Hospizen vollständig zu finanzie-ren und den Einrichtungen damit Sicherheit zu geben.Unterschiedliche Standards in Hospizen und Pflegehei-men dürfen nicht sein. Jens Spahn hat darauf hingewie-sen: Viel mehr Menschen sterben in Pflegeheimen als inHospizen. Auch in der Pflegeausbildung müssen die Be-reiche Palliativmedizin, palliative Betreuung und Sterbe-begleitung aufgewertet werden.
Was wir wollen, ist, dass jeder Mensch, auch auf demLand, egal welche Erkrankung er hat, einen verbindli-chen Anspruch auf allgemeine und auch auf speziali-sierte Palliativversorgung bekommt, und zwar sowohlambulant als auch stationär. Dafür müssen wir den Hos-pizausbau noch einmal forcieren, insbesondere auf demLand und für Kinder. Auch die Trauerbegleitung fürKinder und verwaiste Eltern müssen wir noch einmal inden Blick nehmen.Im Übrigen fehlt noch ein wichtiger Wunsch, den ichIhnen in meinem letzten Satz gerne mitgeben möchte– ihn höre ich bei jedem Hospizbesuch und bei jedemGespräch mit Medizinerinnen und Medizinern aus derPalliativversorgung –: Wenn Sie Schwerkranken undSchmerzpatienten wirksam helfen wollen, dann gebenSie endlich auch Cannabis für Kranke frei.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Juni 2015 10651
Kathrin Vogler
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Helga Kühn-
Mengel für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher auf derTribüne! Dieses Thema – da haben Sie, die Sie das ge-sagt haben, völlig recht – eignet sich nicht für den politi-schen Schlagabtausch.Korrigieren, Frau Zimmermann, möchte ich Sie an ei-ner Stelle: Es gibt zwischen uns sehr viele Schnittstellenund viele Dinge, die wir ähnlich sehen. Auch die Ver-bände stimmen diesem Gesetzentwurf in großer Zahl zu.
Es gibt viele Diskussionsgruppen, auch im interfraktio-nellen Arbeitskreis. An vielen Stellen wird die richtigeWeichenstellung betont, und das ist ganz wichtig.Das Thema steht zwar nicht direkt, aber indirekt inBeziehung zur Sterbehilfe. Wir haben immer gesagt: Be-vor wir darüber reden, müssen wir die hospizliche undpalliative Versorgung verbessern, und das tun wir mitdiesem Gesetzentwurf ganz deutlich.
Man muss auch sagen, dass sich viel getan hat. Wasdie Entwicklung der Schmerztherapie angeht, ist in denletzten zehn Jahren viel geschehen, was zur Stärkung derPalliativversorgung und der ambulanten und hospizli-chen Versorgung beigetragen hat. Sie ist zwar noch nichtflächendeckend, aber deutlich verbessert worden. Bun-desweit haben 8 000 Ärztinnen und Ärzte die Zusatzbe-zeichnung „Palliativmedizin“ erworben. Das bedeuteteine deutliche Qualitätsverbesserung. Über 20 000 Pfle-gekräfte sowie Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen weite-rer Berufsgruppen haben eine anerkannte Weiterbildungin diesem Bereich absolviert.Wir brauchen zwar noch mehr Kräfte, aber ich be-tone: Es ist viel geschehen. Trotzdem bleibt noch viel zutun. Wir brauchen eine flächendeckende Hospiz- undPalliativversorgung auch da, wo es heute noch wenigAngebote gibt. Wir müssen immer die Qualität im Blickhaben, bei der ambulanten Schmerztherapie wie auch beider spezialisierten Therapie.Wir müssen auch auf die betroffenen Kinder achten– sie werden mit ihren lebensbedrohenden und lebens-verkürzenden Erkrankungen oft viele Jahre versorgt –und im Blick behalten, welche Kooperationen, Netz-werke und Angebote es in diesem Bereich gibt.Wichtig ist auch der Krankenhausbereich. 46 Prozentder Menschen, die jährlich in Deutschland versterben,sterben im Krankenhaus.Wir brauchen auch mehr sektorenübergreifende Ko-operationen. In diesem Zusammenhang verweise ich aufdas Versorgungsstärkungsgesetz mit dem Innovations-fonds, der zum Beispiel auch die Möglichkeit bietet,Projekte zur sektorenübergreifenden Versorgung zu be-nennen und zu fördern.Vor diesem Hintergrund geht der Gesetzentwurf ein-deutig in die richtige Richtung: mehr Möglichkeiten zurVernetzung und zur Koordination sowie mehr Angebotein der Region, gerade auch im ländlichen Bereich.Gut ist bei der Weiterentwicklung der allgemeinenambulanten Palliativversorgung und der Finanzierungder Hospize – Kollegin Mattheis hat es schon erwähnt –,dass 95 Prozent der zuschussfähigen Kosten übernom-men werden. Die Finanzierung wurde erweitert; es istaber keine Vollfinanzierung, weil – auch das will ich er-wähnen – das Ehrenamt zur Palliativversorgung und zurHospizversorgung gehört.
Man muss den 80 000 Ehrenamtlichen in diesem Be-reich immer wieder danken und ihnen Wertschätzungentgegenbringen. Sie gehören seit dem Ursprung derHospizversorgung dazu.
Wir müssen auch die Hausärzte und das Pflegeperso-nal darauf hinweisen, dass sie beraten müssen und dieMenschen einen Rechtsanspruch darauf haben. Deswe-gen ist es richtig, dass dies mit dem Gesetzentwurf be-tont wird.Richtig und wichtig ist, dass wir jedem Mann und je-der Frau einen Zugang zur palliativen und hospizlichenVersorgung schaffen müssen. Das ist ganz wichtig. Ge-statten Sie mir eine persönliche Bemerkung: Ich binauch dafür, dass wir im Krankenhaus einen Palliativbe-auftragten oder eine -beauftragte implementieren unddies zu einem Bestandteil der Qualitätssicherung ma-chen.Die palliative Versorgung kann vieles leisten. Men-schen, die sterben müssen, machen häufig die Erfahrung,dass durch Schmerz- und Symptomkontrolle – so para-dox es klingt – wieder mehr Lebensqualität und Lebens-mut entstehen.Insofern kann ich sagen: Wir werden alle an diesemGesetzentwurf arbeiten und ihn weiterentwickeln. Er istein sehr guter Schritt für die Patientinnen und Patienten.
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Das Wort erhält nun der Kollege Harald Terpe für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
sage es gleich vorneweg: Jede einzelne Regelung, die
Sie im Gesetzentwurf vorschlagen, erweitert die Mög-
lichkeiten der Palliativ- und Hospizversorgung. Es geht
dabei um eine Versorgung im Leben am Lebensende und
die Sicherung der Lebensqualität. Das muss man gerade
im Zusammenhang mit der Diskussion über Sterbehilfe
eindeutig betonen: Die Palliativversorgung ist eine Hilfe
zum Leben und zur Sicherung der Lebensqualität.
Ich greife einen der Vorschläge heraus. Die Stärkung
der allgemeinen ambulanten Palliativversorgung ist ein
wesentlicher Baustein des Gesetzes; denn hier holen wir
etwas nach, was wir vielleicht schon etwas früher hätten
machen müssen. Wir haben heute das Problem – das
muss man klar sagen –, dass der Gedanke der Palliativ-
medizin und der Hospizversorgung gar nicht flächende-
ckend verankert ist, weder bei den Patienten noch bei
den Angehörigen und auch nicht beim medizinischen
Personal. Bis die flächendeckende Beratung, die wir uns
alle wahrscheinlich gemeinsam vorstellen, erreicht ist,
wird es noch eine Weile dauern. In diesem Zusammen-
hang ist die Stärkung der allgemeinen ambulanten
Palliativversorgung eine wichtige Sache.
Ebenfalls wichtig ist die Koordination. Das Gesetz
berücksichtigt durch entsprechende Regelungen auch
den koordinativen Faktor. Es wird beispielsweise vorge-
schlagen, im Krankenhaus einen Beauftragten für pallia-
tivmedizinische Angelegenheiten zu implementieren.
Wie auch immer man es letztendlich macht: Die Koordi-
nation der unterschiedlichen Ebenen der Palliativ- und
Hospizversorgung ist eine wichtige Aufgabe, die wir in
Angriff nehmen müssen; denn es gibt Zielkonflikte. Je-
der wünscht sich, im Kreise seiner lieben Angehörigen
und mit aller erdenklichen Hilfe zu Hause zu sterben.
Aber stationäre Palliativmedizin und Hospize sind eine
Form der Zentralisierung, weil hier spezialisiertes Wis-
sen angeboten wird. Dieser Zielkonflikt lässt sich nur
durch eine sehr enge Koordination der unterschiedlichen
Ebenen lösen.
Natürlich kann man noch mehr machen. Wir müssen
im parlamentarischen Verfahren wahrscheinlich auch da-
rüber diskutieren, wie wir es schaffen, dass es mehr Hos-
pize in der Fläche gibt. Die Deckung der Betriebskosten
zu 95 Prozent ist sicherlich richtig. Ich betone aber, dass
es wichtig ist, nicht 100 Prozent zu übernehmen; denn es
geht hier oft um das Ehrenamt. Die ehrenamtlich Tätigen
möchten gar nicht 100 Prozent haben, weil sie ansonsten
das Gefühl haben, eine stille Enteignung ihrer Idee hin-
nehmen zu müssen.
Wir müssten auch eine Lösung zugunsten von Investi-
tionen in Hospize finden. Dafür haben wir bislang noch
keine Lösung. Wir müssen darüber diskutieren, wie wir
die Palliativ- und Hospizbewegung in vielen mittelgro-
ßen Städten, wohin Hospize eigentlich gehören und in
denen oft keine vorhanden sind, befördern können. Ich
plädiere dafür, uns darüber im parlamentarischen Ver-
fahren Gedanken zu machen.
Wir müssen uns zudem Gedanken über die Ausbil-
dung im Bereich der Palliativ- und Hospizpflege ma-
chen. Diese Pflege ist partiell anders als die in Pflegehei-
men. Es geht hier um das Selbstbestimmungsrecht der zu
Pflegenden, das es zu achten gilt, obwohl man weiß,
dass die zu Pflegenden ihre Autonomie zunehmend ver-
lieren.
Herr Kollege.
Ich komme gleich zum Schluss. – Ich erlebe oft, dass
dann eine Übernahme durch die Pflegekräfte erfolgt, die
nichts mit dem Selbstbestimmungsrecht der zu Pflegen-
den zu tun hat. In dieser Hinsicht gibt es in der Ausbil-
dung noch viel zu tun.
In diesem Sinne appelliere ich, interfraktionell zu dis-
kutieren und möglicherweise zu einem interfraktionellen
Gesetzentwurf zu kommen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Emmi Zeulner ist die nächste Rednerin für die CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Leben in Würde bis zuletzt – diesen Satz hö-ren wir in der derzeitigen Debatte immer wieder. Dochwas Würde für den Einzelnen ausmacht und was ein Le-ben und Sterben in Würde bedeutet, können wir als Poli-tiker nicht festlegen. Dies bleibt eine ganz individuelleEntscheidung für jeden von uns. Doch was wir von poli-tischer Seite definieren können, sind die bestmöglichenRahmenbedingungen für ein würdevolles Leben und, ja,auch ein würdevolles Sterben.Um diese Gestaltung der Rahmenbedingungen gehtes auch heute wieder im vorliegenden Gesetzentwurf.Als zuständige Berichterstatterin der CDU/CSU-Bun-destagsfraktion möchte ich gerne einige für mich wich-tige Punkte ausführen. Es ist mir ein Herzensanliegen,
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Emmi Zeulner
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die Versorgung mit spezialisierter ambulanter Palliativ-versorgung, kurz SAPV, besonders im ländlichen Raumzu stärken, weil es dort noch die meisten weißen Fleckengibt.Was macht SAPV aus? Die SAPV ist ein Team aushochspezialisierten Palliativmedizinern und Palliativ-pflegekräften, das rund um die Uhr für schwerstkrankeund sterbende Menschen und deren Angehörige zuHause oder im Pflegeheim erreichbar ist. Das Team hateinen ganzheitlichen Therapieansatz, der die medizini-sche, pflegerische und psychosoziale Betreuung umfasst.Der Patient und die betroffene Familie können sich alsoin schwierigen Situationen, wenn zum Beispiel plötzlichstarke Schmerzen oder Atemnot beim Patienten auftre-ten, in ein sicheres Netz fallen lassen. Dieser vernetzteAnsatz zieht sich wie ein roter Faden durch den ganzenGesetzentwurf.Um dieses Netz weiterzuspinnen und die letzten Lü-cken endgültig zu schließen, ist es richtig, Schiedsstelleneinzurichten, wo eine Einigung in Bezug auf den Ver-tragsinhalt zwischen Krankenkassen und SAPV-Teamserzielt werden kann; denn im Gegensatz zu Teams inBallungsräumen stehen die Teams im ländlichen Raumvor ganz anderen Herausforderungen: Die Wege sindlänger, die betroffenen Patienten weniger, und die Kin-der der Patienten sind häufig gar nicht mehr vor Ort,sondern in Ballungsräumen, nämlich dort, wo die Arbeitist, und fallen als Unterstützung weg. Trotzdem muss esmöglich sein, auch dort SAPV-Teams entstehen zu las-sen, die sich finanziell tragen. Die Schiedsstellen sindein Hebel dafür.
Aber nicht nur im ambulanten Bereich bessern wirnach, sondern auch im stationären Bereich, im Bereichder Palliativstationen. Das Fallpauschalensystem, wie esin Krankenhäusern üblich ist – ich werde nicht müde, eszu sagen –, belohnt ein Mehr an Leistungen mit mehrGeld. Das passt einfach nicht für Palliativstationen. Ta-gesgleiche Pflegesätze hingegen machen es möglich,ohne Einbußen bei der Vergütung den Patienten indivi-duell zu betreuen. Wenn ein sterbenskranker Menschkeine Musiktherapie mehr haben möchte, dann sollte dasohne einen finanziellen Nachteil für die Stationen mög-lich sein.Zukünftig wollen wir eine echte Wahlmöglichkeitzwischen den Systemen schaffen. Es wird Krankenhäu-sern gesetzlich das Recht zugesprochen, gegenüber denKassen die Abkehr vom DRG-System auf Palliativsta-tionen zu erklären, wenn sie das wollen. Die Qualitätdarf darunter natürlich nicht leiden. Deswegen gibt eszum Beispiel in Bayern im Sinne des Bayerischen Kran-kenhausgesetzes verbindliche Qualitätskriterien für Pal-liativstationen. Um im gesamten System Krankenhausden Palliativgedanken besser zu verwurzeln, werden wirüber zusätzliche Palliativbeauftragte, wie es die Kolleginschon angesprochen hat, natürlich diskutieren müssen.Auch die Einrichtung eines Konsiliardienstes solltebesser berücksichtigt werden; denn wir unterstützenzwar im neuen Krankenhausgesetz mit den Struktur-fonds den Aufbau neuer Palliativstationen, was sehrsinnvoll ist, aber natürlich wird nicht jedes Krankenhauseine solche schaffen können. Trotzdem sollten auch inKrankenhäusern ohne Palliativstation die Menschen inder letzten Phase fachgerecht betreut werden und diePflegekräfte und Ärzte einen Experten der Hospiz- undPalliativversorgung hinzurufen können.Auch die finanzielle Ausstattung ambulanter Hospiz-dienste und stationärer Hospize werden wir entspre-chend verbessern. So können zukünftig beispielsweiseKinderhospize eigene Rahmenvereinbarungen treffen.Die unschätzbar wichtige Arbeit, die dort tagtäglich ge-leistet wird, verlangt eine entsprechende Unterstützungund Honorierung. Das tun wir. An dem bürgerschaftli-chen Gedanken, auf dem die Hospizbewegung fußt, hal-ten wir dabei dennoch fest.Die Grundvoraussetzung für eine bessere Versorgungist jedoch, die Menschen in unserem Land über die Mög-lichkeiten der Hospiz- und Palliativversorgung aufzuklä-ren. Die gesetzlichen Krankenkassen werden hierbei be-auftragt, als Lotsen zu fungieren und die Menschen überihre Möglichkeiten zu informieren.Als Parlamentarierin ist es mir wichtig, dass klarge-stellt wird, dass im Rahmen einer ganzheitlichen Bera-tung zum Beispiel die Möglichkeit einer Patientenverfü-gung oder einer Vorsorgevollmacht angesprochen wird.
Auch eine öffentliche Kampagne könnte dieses Anliegenunterstützen.Der Entwurf des Hospiz- und Palliativgesetzes schafftdurchdachte und dynamische Rahmenbedingungen, diedie Versorgung in unserem Land nachhaltig positiv prä-gen werden; davon bin ich fest überzeugt. Nach demvorgelegten Eckpunktepapier der Koalition, aus demsich der Gesetzentwurf entwickelt hat, kommt nun un-sere Stunde, die Stunde der Parlamentarier. Ich freuemich, gemeinsam mit Ihnen parteiübergreifend diesemguten Gesetzentwurf den letzten Schliff zu geben.Liebe Kollegin Zimmermann, selbstverständlich kannich lesen, auch die Anträge der Linken. Die in den Ge-setzentwurf eingeflochtenen Überprüfungen werden dasParlament auch noch in der nächsten Legislatur beschäf-tigen. Ich bin geneigt, zu sagen: Wir haben hier eine his-torische Chance, die entscheidenden Weichen für einenvernetzten, ganzheitlichen, patientenorientierten Ansatzin der Versorgung sterbender und schwerstkranker Men-schen zu stellen.Vielen herzlichen Dank.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-ordneten Bettina Müller, SPD-Fraktion.
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10654 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Juni 2015
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Heute verbringt die Mehrheit der Menschen
die letzte Lebensphase in stationären Einrichtungen, in
Pflegeheimen oder in Krankenhäusern. Wenn die
schwerkranken und sterbenden Menschen eine Wahl hät-
ten, würden die meisten von ihnen lieber zu Hause im
Kreis ihrer Angehörigen sterben. Dafür brauchen wir ei-
nen umfassenden Ausbau der Palliativmedizin, der Pallia-
tivpflege und der hospizlichen Sterbebegleitung.
Insbesondere im ländlichen Raum fehlt es jedoch an
ausreichenden Angeboten auf diesem Gebiet. Deshalb
wollen wir mit dem vorgelegten Gesetzentwurf auch die
Hausärzte durch Programme und Netzwerke stärker an
der Versorgung von schwerkranken und sterbenden
Menschen beteiligen. Sie haben oft über Jahre hinweg
einen sehr intensiven und auch sehr vertrauensvollen
Kontakt zu ihren Patienten. Die meisten Kranken wün-
schen sich daher, dass der Arzt, der die Familie ein Le-
ben lang begleitet und auch sie selbst behandelt hat, am
Ende des Lebens zur Stelle ist und sie ihm ihre Sorgen
und Nöte mitteilen können. Wir werden daher ein beson-
deres Augenmerk auf die Versorgungsverträge richten,
die die Selbstverwaltungspartner für diesen hausärztli-
chen Bereich aushandeln müssen.
Dabei muss natürlich auch darauf geachtet werden,
dass die Qualität stimmt. Entsprechende Zusatzqualifi-
kationen oder eine enge Anbindung an SAPV-Teams
sind unabdingbare Voraussetzung für einen Einsatz in
diesem Bereich. Eine Palliativversorgung zweiter Klasse
wird es mit uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht
geben.
Hier gilt aber auch: Konkurrenzdenken ist völlig fehl
am Platz. Vielmehr werden wir in den nächsten Jahren
aus allen Berufsgruppen Spezialisten für diese wichtige
Aufgabe brauchen. Es wird zum einen aufgrund der de-
mografischen Entwicklung eine höhere Anzahl schwer-
kranker und sterbender Menschen geben. Zum anderen
wird gerade mit diesem verbesserten Angebot für die
hospizliche und palliative Versorgung im häuslichen Be-
reich, die wir mit diesem Gesetz schaffen, auch die Zahl
derer steigen, die zu Hause bleiben und diese Form der
Versorgung in Anspruch nehmen wollen. Gerade in der
letzten Lebensphase verändert sich zudem der Hilfebe-
darf ständig, sodass eine vernetzte Versorgung – dieses
Stichwort ist heute wiederholt gefallen – besonders
wichtig ist. Hier wird es ein Zusammenwirken von Fach-
ärzten, Hausärzten, SAPV-Teams und Hospizdiensten
geben müssen, um den Bedürfnissen der Schwerkranken
gerecht zu werden.
Wir brauchen nicht nur ein Mehr an Versorgung; wir
brauchen vor allen Dingen auch die Vielfalt an Versor-
gungsformen. Wir brauchen also alle, die für diese Ver-
sorgung geeignet sind. Ich appelliere an alle, sich eng zu
vernetzen und in den Regionen zum Wohl der Patienten
zusammenzuarbeiten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die häusliche Kran-
kenpflege hat hier eine besondere Bedeutung. Wir
werden daher die Voraussetzung dafür schaffen, dass
Menschen über die üblichen vier Wochen hinaus pallia-
tivpflegerisch betreut werden können, und das Leis-
tungsspektrum entsprechend erweitern. Um den Ausbau
der SAPV im ländlichen Raum zu fördern, werden wir
– das ist schon angeklungen – die betreffenden Versor-
gungsverträge dadurch unterfüttern, dass wir Schieds-
verfahren einführen, damit im Fall von Uneinigkeit
schnell Lösungen herbeigeführt werden können.
Auch die unersetzlichen – das will ich betonen – am-
bulanten Hospizdienste wollen wir mit diesem Gesetz
stärken. Wir werden neben den Personalkosten künftig
auch die Sachkosten berücksichtigen, und es soll in die-
sem Bereich ein angemessenes Verhältnis zwischen eh-
renamtlichen und hauptamtlichen Mitarbeitern geben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die besten
Strukturen nützen jedoch nichts, wenn die Betroffenen
nichts davon wissen. Daher haben Versicherte künftig ei-
nen Anspruch auf individuelle Beratung und Hilfestel-
lung durch die Krankenkassen bei der Auswahl und
Inanspruchnahme von Leistungen im Hospiz- und Pallia-
tivbereich. Dazu gehören auch schriftliche Informatio-
nen über die lokal vorhandenen Angebote und Hilfe-
stellungen bei der Kontaktaufnahme hierzu. Die Kran-
kenkassen sollen hierbei mit der Pflegeberatung, mit den
kommunalen Servicestellen oder auch mit den schon
vorhandenen Versorgungsstrukturen zusammenarbeiten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jahrelang war die
Hospiz- und Palliativversorgung ein Stiefkind des Ge-
sundheitswesens. Heute besteht aber Einigkeit darüber,
dass eine menschenwürdige Behandlung schwerkranker
und sterbender Menschen ein zentrales Anliegen von
Medizin und Pflege sein muss. Am Ende geht es nicht
mehr um invasive Apparatemedizin, sondern es geht da-
rum, dass die Menschen nicht allein sind, dass sie keine
Schmerzen haben und dass sie selbst entscheiden kön-
nen, wie sie ihre letzte Zeit verbringen. Dafür, denke ich,
schaffen wir mit diesem Gesetz gute Voraussetzungen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Letzter Redner in der Aussprache ist der Abgeordnete
Erwin Rüddel, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf erfül-len wir ein Versprechen aus dem Koalitionsvertrag. Die
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Juni 2015 10655
Erwin Rüddel
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Menschen in Deutschland erhalten Zugang zu einer bes-seren Hospizarbeit und zu einer flächendeckenden Pallia-tivversorgung. Wir wollen eine Kultur der Hilfe im Ster-ben anbieten, die es erlaubt, die letzte Lebensphaseselbstbestimmt und bestmöglich begleitet zu verbringen.Mit dem Hospiz- und Palliativgesetz werden in dergesetzlichen Krankenversicherung, in der sozialen Pfle-geversicherung und in unseren Krankenhäusern spürbareVerbesserungen bei der Versorgung in der letzten Le-bensphase verwirklicht. Das gilt für die ambulanteHospizversorgung ebenso wie für die Pflege in der häus-lichen Umgebung und für die stationären Pflegeeinrich-tungen.Nicht zuletzt wird dieses Gesetz einen ganz wichtigenBeitrag zu dem leisten, was ich mal die „Runderneue-rung der Pflege in der laufenden Legislaturperiode“ nen-nen möchte. Damit meine ich die beiden Pflegestär-kungsgesetze, den Bürokratieabbau in der Pflege, dieNeugestaltung des Pflege-TÜVs und die Reform derAusbildung in den Pflegeberufen.Tatsächlich hat die Pflegepolitik seit Einführung derstaatlichen Pflegeversicherung noch nie so viel Auf-merksamkeit erhalten wie in dieser Legislaturperiode.
Ich erwähne in diesem Zusammenhang auch das Versor-gungsstärkungsgesetz und das Präventionsgesetz.
Alle beinhalten wichtige Elemente zur Verbesserung derPflege in Deutschland.Meine Damen und Herren, die Antwort auf die NöteSchwerstkranker und Sterbender besteht in einer umfas-senden ärztlichen, pflegerischen und psychosozialen Be-gleitung. Dazu ist es erforderlich, überall ausreichendeAngebote der Palliativmedizin, der Palliativpflege undder hospizlichen Sterbebegleitung zu schaffen sowieumfassend über Versorgungsangebote in der letzten Le-bensphase zu informieren.Mir ist besonders wichtig, auch in ländlichen undstrukturschwachen Regionen das Leistungsangebot aus-zubauen, die palliative Pflege in Heimen und in derhäuslichen Umgebung zu stärken sowie insbesondere dieVernetzung und Kooperation zwischen den Akteuren vo-ranzubringen.Wir werden mit diesem Gesetz auch die ärztliche Ver-sorgung bei der Sterbebegleitung in Pflegeheimen ent-scheidend verbessern; denn die Sterbebegleitung wirdBestandteil des Versorgungsauftrages der sozialen Pfle-geversicherung. Über die Kooperation der Pflegeheimemit Hospiz- und Palliativnetzen wird öffentlich infor-miert. Außerdem fördern wir diese möglichst enge Zu-sammenarbeit der Pflegeheime mit Haus- und Fachärz-ten zur medizinischen Versorgung der Bewohnerinnenund Bewohner mit zusätzlichen Vergütungen.Finanzielle Unterstützung gibt es auch für individu-elle Beratungsangebote in Pflegeheimen zur medizini-schen, pflegerischen und seelsorgerischen Betreuung inder letzten Lebensphase. Die Kassen arbeiten dabei mitder Pflegeberatung, mit kommunalen Servicestellen odermit vorhandenen Versorgungsnetzwerken zusammen.Meine Damen und Herren, es geht darum, auf dieÄngste und Bedürfnisse schwerstkranker und sterbenderMenschen und ihrer Angehörigen bestmöglich einzuge-hen und sie nicht alleinzulassen. Deshalb möchte ichzum Schluss unseren Dank und unsere Hochachtung fürdie 80 000 Mitbürgerinnen und Mitbürger zum Aus-druck bringen, die in Deutschland ehrenamtlich in derHospizbewegung engagiert sind.
Dem Wunsch der Hospiz- und Palliativverbände,diese unschätzbare Arbeit durch die Krankenkassenkünftig stärker zu fördern, werden wir gerne nachkom-men.
Die Aussprache ist damit geschlossen.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 18/5170 und 18/5202 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Damitsind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 2 auf:Befragung der BundesregierungDie Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-binettssitzung mitgeteilt: Beschluss zur Nichtinan-spruchnahme der Übergangsregelungen der zweitenStufe des Beitrittsvertrags mit Kroatien in Bezug aufdie Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Entsendungvon Arbeitnehmern bei der grenzüberschreitendenDienstleistungserbringung für den Zeitraum ab1. Juli 2015.Das Wort für einen einleitenden Bericht hat Frau Bun-desministerin Andrea Nahles.Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit undSoziales:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieArbeitnehmerfreizügigkeit ist eine zentrale Errungen-schaft der europäischen Einigung. Die Möglichkeit,überall in Europa leben und arbeiten zu können, ist fürdie Mehrheit der Bürger tatsächlich das wichtigste EU-Bürgerrecht.In den letzten zwei Jahren haben wir in Deutschlanddieses Recht für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmeraus Kroatien eingeschränkt. Diese Einschränkung läuftam 30. Juni 2015 aus. Das Gleiche gilt übrigens für Ent-sendungen in den Branchen Bau, Gebäudereinigung undInnendekoration. Wir haben hier von einer Übergangsre-gelung Gebrauch gemacht, die uns der Beitrittsvertragmit Kroatien einräumt.
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10656 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Juni 2015
Bundesministerin Andrea Nahles
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Gleichzeitig haben wir aber bereits für qualifizierteArbeitnehmer, für Auszubildende und auch für Saison-kräfte aus Kroatien den Zugang zum Arbeitsmarkt in denletzten zwei Jahren erleichtert. Jetzt müssen wir der Eu-ropäischen Kommission förmlich mitteilen, ob wir wei-ter von dieser Übergangsregelung Gebrauch machenwollen. Das Bundeskabinett hat heute beschlossen, diebestehenden Übergangsregelungen nicht zu verlängern.Damit hat die Bundesregierung entschieden, zum 1. Juli2015 die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit für kroatischeStaatsbürgerinnen und Staatsbürger herzustellen.Was hat uns zu dieser Entscheidung bewogen? Wirhaben in der ersten Phase nach dem EU-Beitritt Kroa-tiens schlicht gute Erfahrungen mit kroatischen Zuwan-derern gemacht. Die Zugangserleichterungen wurdenseit dem 1. Juli 2013 bereits von vielen Menschen ge-nutzt, nämlich den von mir eben erwähnten gut Qualifi-zierten, Auszubildenden und anderen. Dabei konnten wirfeststellen, dass gerade bei kroatischen Zuwanderern dieIntegration in sozialversicherungspflichtige Beschäfti-gungsverhältnisse extrem gut ist. Das hat uns nun auchdazu bewogen, diesen Schritt zu machen.Insgesamt waren 2014 etwa 93 000 Kroatinnen undKroaten bei uns in Deutschland sozialversicherungs-pflichtig beschäftigt.Auch die Europäische Kommission sieht laut einemBericht vom Mai dieses Jahres nur ein geringes Risiko,dass die Zuwanderung kroatischer Arbeitskräfte in an-dere EU-Staaten dort zu Arbeitsmarktstörungen führt.Das hat damit zu tun, dass kroatische Arbeitskräfte vor-rangig nach Deutschland und Österreich einwandern,also in zwei Länder, in denen die Arbeitsmarktlage rechtgut ist. Vor allem aber hat das damit zu tun, dass die Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus Kroatien, die beiuns Arbeit aufnehmen, meist jung und gut ausgebildetsind, und vor allem damit, dass sie in Wirtschaftszwei-gen tätig werden, in denen Arbeitskräfte dringend ge-sucht werden, nicht zuletzt im gesamten Bereich derGastronomie, aber auch im verarbeitenden Gewerbe.Um den deutschen Arbeitsmarkt ist es momentan ins-gesamt gut bestellt. Mit der Einführung des Mindest-lohns stellen wir sicher, dass die Menschen, die jetztaus EU-Ländern zu uns kommen, ebenfalls den Min-destlohn bekommen. Von daher sehen wir die Gefahrdes Lohndumpings als sehr gering an.Für Deutschland bietet Arbeitsmobilität innerhalb Eu-ropas eine große Chance zur Bewältigung des Fachkräf-temangels. Aufgrund der demografischen Entwicklungwird der Fachkräftemangel weiterhin ein Topthema derBundesregierung sein. Die heutige Entscheidung desBundeskabinetts, den Arbeitsmarkt für kroatische Staats-angehörige vollständig zu öffnen, trägt – so sehe ichdas – zur Bewältigung des Fachkräfteproblems bei. Eu-ropa wächst, und es wächst zusammen. Davon profitie-ren wir alle, auch durch einen gemeinsamen europäi-schen Arbeitsmarkt, dem wir heute wieder ein Stücknähergekommen sind.
Herzlichen Dank. – Gibt es Fragen dazu? – Bitte,
Frau Kollegin Pothmer.
Frau Ministerin, herzlichen Dank für den Bericht. Sie
wissen vielleicht, dass Bündnis 90/Die Grünen immer
dafür plädiert hat, die Arbeitnehmerfreizügigkeit ohne
Einschränkung von Anfang an auch für Kroatinnen und
Kroaten zu gewährleisten. Wir sind froh, dass es nun
endlich dazu kommt.
Ich frage Sie: Haben Sie Hinweise dafür, dass in den
letzten zwei Jahren auch Kroatinnen und Kroaten nach
Deutschland gekommen sind, die keine Arbeitserlaubnis
hatten und hier als Scheinselbstständige tätig waren oder
schwarz gearbeitet haben? Gibt es dafür Hinweise? Das
war meine erste Frage.
Zweite Frage. Die Kroatinnen und Kroaten, die regu-
lär hier gearbeitet haben, mussten einen Antrag stellen.
Können Sie uns sagen, wie viel Aufwand diese 93 000
Personen, von denen Sie vorhin gesprochen haben, die
nach Deutschland gekommen sind und eine Arbeitser-
laubnis beantragt haben, verursacht haben?
Bitte, Frau Ministerin.Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit undSoziales:Frau Pothmer, mir liegen keine Informationen vor,was illegale oder nicht angemeldete Beschäftigungen an-geht. Speziell bezogen auf Kroatinnen und Kroaten, aberauch insgesamt ist das natürlich schwer zu bemessen.Allerdings gab es aufgrund weitgehender Öffnungen inden letzten zwei Jahren eigentlich nur noch eine Gruppe,die Schwierigkeiten hatte, einen Zugang zum Arbeits-markt zu finden, nämlich die niedrigqualifiziertenNichtsaisonarbeiter. Alle anderen Gruppen – Saisonar-beitskräfte, gut Qualifizierte, Auszubildende und Men-schen, die eine zweijährige Berufsausbildung nachwei-sen konnten – hatten auch bisher einen Zugang zumArbeitsmarkt. Da der legale, der reguläre Zugang zumArbeitsmarkt in den letzten zwei Jahren insofern alsosehr gut war, kann ich mir nicht vorstellen, dass einegroße Gruppe den illegalen, den nichtlegalen Weg ge-wählt hat. Das kann ich heute zwar nicht durch Zahlenbelegen, aber aufgrund unserer diesbezüglichen Ein-schätzung traue ich mir diese Aussage zu. Ich denke,dass sie auf jeden Fall richtig ist.Zur zweiten Frage. Ja, natürlich gibt es einen gewis-sen Aufwand. Wir haben die Prüfungen aber sehr oftsehr schnell durchführen können. Der Aufwand ist imkonkreten Einzelfall aber sicherlich bürokratischer, alsman denkt. Deswegen bin ich froh, dass ich heute sagenkann: Wir können darauf verzichten. Es ist nicht mehrnotwendig. Es ist ein Fortschritt, den wir heute hier er-reichen. Natürlich ist es auch eine Maßnahme zur Entbü-rokratisierung. Deswegen bin ich froh, dass wir dasheute beschlossen haben.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Juni 2015 10657
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Schönen Dank. – Die nächste Frage stellt jetzt der
Abgeordnete Markus Paschke, SPD-Fraktion, und da-
nach Jutta Krellmann, die Linke.
Vielen Dank, Frau Ministerin. – Es gab ja bereits in
der ersten Stufe Ausnahmen von der Beschränkung der
Arbeitnehmerfreizügigkeit. Können Sie mir noch einmal
genau sagen, welche das waren und welche Erfahrungen
damit gemacht wurden?
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und
Soziales:
Wir haben von Anfang an, seit dem ersten Tag des
Beitrittes im Juli 2013, gesagt: Akademikerinnen und
Akademiker, die einen entsprechenden Abschluss haben,
können hier unmittelbar eine Beschäftigung aufnehmen.
Dazu kamen Auszubildende in einer betrieblichen Aus-
bildung und Saisonkräfte. Man sollte nicht unterschät-
zen, dass insbesondere die Zahl der Saisonkräfte, die bis
zu sechs Monate hier tätig sein konnten und stark im
gastronomischen Bereich eingesetzt worden sind, sehr
hoch war.
Für Beschäftigte, die eine qualifizierte Berufsausbil-
dung haben – das habe ich eben bereits gesagt –, war der
Zugang zu diesen Berufen dann doch mit einigen Prü-
fungen verbunden, aber möglich. Diese Zugangsmög-
lichkeit wurde auch in Anspruch genommen. Diese
Beschäftigten benötigen in Zukunft keine Arbeitsgeneh-
migung mehr. Das ist ein Fortschritt.
Signifikante Beschränkungen gab es in den letzten
zwei Jahren allerdings für Leute, die weniger gut qualifi-
ziert waren oder über gar keine formalen Abschlüsse,
wie wir sie hier kennen, verfügten und die eben länger
als sechs Monate, also nicht als Saisonarbeitskräfte, hier
arbeiten wollten. Genau in dem Bereich haben wir die
Vorschriften jetzt gelockert.
Man darf auch nicht vergessen: Beschränkungen für
Entsendungen bestanden in den Bereichen Bau, Gebäu-
dereinigung und Innendekoration. Auch dieser Faktor
wird mit der heutigen Entscheidung des Bundeskabinetts
aufgehoben.
Man kann dazu sagen: Das ist insgesamt, glaube ich,
eine gut vertretbare Entscheidung.
Die nächste Frage stellt die Abgeordnete Jutta
Krellmann, die Linke, und danach Dr. Astrid
Freudenstein, CDU/CSU-Fraktion. – Frau Krellmann,
bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Ministerin, vie-len Dank für Ihren Bericht. Ich persönlich erinnere michan die Diskussionen, die wir zur Arbeitnehmerfreizügig-keit geführt haben; ich glaube, das war im Jahr 2008.Wir sind dann nach Diskussionen, auch im Ausschuss,zu dem Ergebnis gekommen, dass es vermutlich dochnicht so gut ist, den Arbeitsmarkt hier in Deutschlandabzuschotten. Von daher finde ich es gut, dass die Ent-wicklung nun in diese Richtung geht.Ich habe zwei Fragen. Nach einem Bericht der EU-Kommission profitiert besonders Deutschland von derAbwanderung junger und qualifizierter Menschen ausKroatien. Es kann aus meiner Sicht natürlich ein Pro-blem für Kroatien selbst darstellen, wenn qualifizierteLeute dort abgezogen werden. Meine erste Frage ist da-her: Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung indem Zusammenhang bei der Stärkung wirtschaftlichschwacher Regionen in Deutschland und bei der Stär-kung wirtschaftlich schwacher Regionen in Kroatien undin Europa insgesamt?Ich komme zu meiner zweiten Frage. Das BMAS hatim Februar eine Studie zur Bedeutung der Zuwanderungfür Beschäftigung und Wachstum veröffentlicht. Darinmachen die Autoren im Grunde darauf aufmerksam,dass Menschen, die zuwandern, insbesondere im erstenJahr der Zuwanderung eher schlechter bezahlt werden.Sie werden zwar nicht unterhalb irgendwelcher Regelun-gen bezahlt, aber schlecht und nicht entsprechend ihrerQualifikation. Die Frage, die sich daran anschließt, lau-tet: Macht sich die Bundesregierung Gedanken oder gibtes Pläne, noch in dieser Regierungszeit eine Erleichte-rung der Anerkennung von Berufsqualifikationen aufden Weg zu bringen, um den Menschen die Anerken-nung ihrer erzielten Qualifikation zu ermöglichen?Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit undSoziales:Wenn ich Sie richtig verstehe, bezieht sich die Frageauf den Braindrain, wie es in modernem Deutsch soschön heißt. Tatsächlich muss man ihn ernst nehmen. Indem EU-Kommissionsbericht, den Sie erwähnt haben,findet sich dazu allerdings die klare Aussage, dass derEU-Kommission zurzeit keine Erkenntnisse darüber vor-liegen, dass er die Wirtschaft in Kroatien schwächt.Es findet definitiv – das habe ich ja eben schon ge-sagt – eine Zuwanderung von gut ausgebildeten Leutenstatt. Gleichzeitig gibt es eine extrem angespannte Lageauf dem Arbeitsmarkt in Kroatien. Mir liegen die Datenvor: Es gibt dort eine extrem hohe Jugendarbeitslosigkeitvon 46 Prozent; das ist eine der höchsten in Europa. Siekönnen sich vorstellen, dass viele junge Menschen, diedort vor der Alternative stehen, gar keinen Job zu habenoder für einige Zeit eine Arbeit im Ausland aufzuneh-men, die Entscheidung treffen – ich kann sie gut nach-vollziehen –, ihr Glück in Deutschland, in Österreichund in anderen Ländern zu suchen.Es gibt allerdings auch einen wirtschaftsstärkendenEffekt; denn mobile Arbeitnehmer überweisen sehr vielGeld in ihre Heimatländer. Das kennen wir schon aus derZeit der – so hieß es hier immer – Gastarbeiter. DieÜberweisungen führen tatsächlich in nicht unerhebli-chem Umfange zu einer teilweisen Stabilisierung derWirtschaft und machen einen guten Anteil des BIP inKroatien aus. Rückflüsse von Mitteln, die die Menschenin anderen Ländern erarbeiten, führen zu einer Stabilisie-rung der Wirtschaft im Heimatland.
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10658 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Juni 2015
Bundesministerin Andrea Nahles
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Wir können diesen Braindrain jedenfalls zurzeit nichtals etwas ausmachen, was Kroatien insgesamt schadet.Dafür gibt es nach meiner Erkenntnis keine Belege.Trotzdem, würde ich sagen, muss man da wachsam seinund es beobachten. Entsprechende Effekte beobachtenwir auch im Zusammenhang mit vielen osteuropäischenLändern.Zweitens. Wir haben tatsächlich bereits etwas ge-macht, nämlich ein Anerkennungsgesetz verabschiedet,um das zweite von Ihnen beschriebene Problem hinsicht-lich der Anerkennung von Qualifikationen anzugehen.Das Gesetz gilt weltweit als vorbildlich. Wir sind dafür– ich war letztes Jahr bei der OECD in Paris – ausdrück-lich gelobt worden.Jetzt stellen wir bei der Umsetzung fest, dass es vorallem – das ist etwas, was ich in meinem Haus verant-worte – einen Bedarf an Teilnachqualifizierungen gibt,die nötig sind, um eine Anerkennung der gesamten Qua-lifikationen zu erhalten und damit Lohn und Gehalt andas anzupassen, was die Qualifikation eigentlich nahe-legt und aus meiner Sicht gerechtfertigt ist. Es geht alsotatsächlich um eine Verstärkung der Hilfen bei Teilnach-qualifizierungen. Wir werden im Rahmen der Diskussio-nen über Zuwanderung im Allgemeinen darauf drängen,die entsprechenden Mittel zu erhöhen.Ich kann also Ihr Anliegen nur unterstützen. Esbraucht diese zusätzlichen Anerkennungsschritte. Wirbrauchen dafür aber meiner Meinung nach keine neuegesetzliche Grundlage, sondern müssen die Begleitungder Menschen intensivieren und früher als bisher Kom-petenzen vermitteln und dem Bedarf an Teilqualifizie-rungen, den es gibt, gerecht werden. Genau das tun wir.Darauf werden wir in den nächsten Monaten einenSchwerpunkt legen.
Nächste Fragestellerin ist die Abgeordnete Astrid
Freudenstein, CDU/CSU-Fraktion. Danach folgt der Ab-
geordnete Josip Juratovic, SPD-Fraktion.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Ministerin, Sie
hatten eben die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Kroatien
angesprochen. Meine Frage wäre, ob Ihnen darüber hi-
naus Push-Faktoren bekannt sind, die eine Abwanderung
kroatischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach
Deutschland begünstigen könnten.
Eine Nachfrage bezüglich der Überweisungen: Ist Ih-
nen die genaue Höhe bekannt? In welcher Höhe sind
Überweisungen in Deutschland tätiger kroatischer Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach Kroatien getä-
tigt worden?
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und
Soziales:
Ja, sie ist mir bekannt. Zumindest gibt es eine Berech-
nung, die einen im Jahre 2013 überwiesenen Nettobetrag
von rund 700 Millionen Euro ausweist. Das entspricht
1,6 Prozent des kroatischen BIP. Das wird wirklich als
eine deutliche Unterstützung der kroatischen Wirtschaft
wahrgenommen. Es ist zu vermuten, dass der Umfang
2014 nicht geringer war. Das ist also schon ein relevan-
ter Faktor, und man kann ihn auch beziffern.
Zur anderen Frage hinsichtlich der Push-Faktoren.
Wissen Sie, es ist relativ simpel: Der wichtigste Push-
Faktor, gerade bei jungen Menschen, ist die Hoffnung
auf eine Anstellung – damit man überhaupt Arbeit hat –,
auf ein besseres Gehalt und auf bessere Arbeitsbedin-
gungen. Das sind die wichtigsten Motivationen; das ist
der Movens für viele Menschen, hierherzukommen.
Darüber hinaus muss man wissen, dass in Kroatien
das drittniedrigste Pro-Kopf-BIP in der EU vorzufinden
ist. Das ist ein Indikator dafür, dass die gesamtwirt-
schaftliche Situation sehr schlecht ist. Allerdings mehren
sich jetzt zum Glück die Zeichen, dass sich die Wirt-
schaft in Kroatien erholt. Deswegen hoffe ich auch, dass
wir eine Perspektive bieten können.
Unser Ziel ist es, durch einen zirkulären, einen freien
Arbeitsmarkt in Europa einen Push-Effekt für die Wirt-
schaft insgesamt in Europa zu erzielen. Für uns ist es auf
Dauer nicht gut, wenn es zwischen den Ländern zu
große Unterschiede gibt. Nach dem Knick aufgrund der
Bankenkrise 2008/2009 konnten wir feststellen, dass in
dem Maße, wie wir die Freizügigkeit mit anderen Län-
dern realisiert hatten, zum Beispiel mit Polen, die Löhne
dort angestiegen sind und sich die Wirtschaft stabilisiert
hat. Dieser Effekt wird sich auch in ganz Osteuropa ein-
stellen, auch wenn es längere Zeit dauert, als wir erhofft
hatten.
Danke schön. – Nächster Fragesteller ist der Abge-
ordnete Josip Juratovic von der SPD-Fraktion; danach
Martin Pätzold, CDU/CSU-Fraktion.
Vielen Dank. – Frau Ministerin, zunächst einmaldenke ich, dass es ein sehr guter Beschluss ist. Er führtmeines Erachtens zu mehr Gleichberechtigung innerhalbder Europäischen Union. Ich möchte mich bedanken undSie beglückwünschen. Meine Frage ist: Ist Ihnen be-kannt, wie sich die anderen Mitgliedstaaten in der Euro-päischen Union zu dieser Frage verhalten werden?Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit undSoziales:Es sind in 13 Mitgliedstaaten in Europa diese Über-gangsregelungen in Anspruch genommen worden. Mirliegen zum jetzigen Zeitpunkt keine weiteren Erkennt-nisse vor. Ich werde aber morgen in Luxemburg beimEPSCO-Rat sein und mit den Kollegen darüber reden.Es stehen noch Entscheidungen aus, die in diesen Tagenin allen Ländern fallen. Aber einen Überblick habe ichzum jetzigen Zeitpunkt leider noch nicht. Ich glaube,dass viele darauf schauen, wie sich Deutschland verhält,und dass die Entscheidung, die wir heute getroffen ha-ben, durchaus einen Einfluss darauf haben wird, wie dieanderen Länder entscheiden.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Juni 2015 10659
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Nächster Fragesteller ist der Abgeordnete Martin
Pätzold, CDU/CSU-Fraktion; danach Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Ministerin, vielen Dank für die
Darstellung. – Sie haben deutlich gemacht, dass die
Übergangsregelungen auch dafür gedacht waren, zu
schauen, wie sich der deutsche Arbeitsmarkt entwickelt.
Es ist sichtbar, dass diejenigen, die bisher aus Kroatien
nach Deutschland gekommen sind, hier auch berufstätig
sind. Deswegen würde mich interessieren, welche Kos-
ten, welche finanziellen Auswirkungen durch den Be-
schluss des Bundeskabinetts zu erwarten sind.
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und
Soziales:
Im Saldo gehen wir von einer Finanzierungsneutrali-
tät aus. Wenn es uns gelingt, die Leute hier gut zu inte-
grieren, zahlen sie Steuern, zahlen sie Sozialversiche-
rungsbeiträge. Selbst wenn einige in die Arbeitslosigkeit
gehen, glauben wir, dass es insgesamt eine kostenneu-
trale Entwicklung ist. Wenn es gut läuft, kann es sogar
zusätzliche Einnahmen geben.
In jedem Fall bekommen wir Fachkräfte. Ich kann die
genaue Zahl nicht beziffern. Es werden Lücken ge-
schlossen, gerade im Südwesten, wo der Fachkräfteman-
gel in einigen Bereichen besonders extrem ist. Von daher
würde ich volkswirtschaftlich insgesamt von einem posi-
tiven Push reden. Weil wir den Faktor Fachkräfte nicht
wirklich beziffern können, gehen wir in unseren offiziel-
len Berechnungen davon aus, dass unser Beschluss kos-
tenneutral ist.
Nächster Fragesteller ist Dr. Wolfang Strengmann-
Kuhn; danach Frau Krellmann von den Linken. – Bitte.
Vielen Dank. – Frau Ministerin, ich habe eine Frage
zu den Kroaten, die hierherkommen und die Arbeit su-
chen, aber nicht gleich eine Beschäftigung finden. Die
meisten finden relativ schnell eine Arbeit.
Mich würde interessieren: Wie werden Arbeitsu-
chende aus Kroatien unterstützt? Gibt es bei den Arbeits-
agenturen spezielle Programme und Angebote in ihrer
Muttersprache? Bei uns ist der Bezug aktiver Leistungen
für Menschen ausgeschlossen, die Arbeit suchen. Wäre
es nicht sinnvoll, um die Menschen sowohl in die Ge-
sellschaft als auch in den Arbeitsmarkt gut integrieren zu
können, wenn es auch aktive Leistungen gäbe, zumin-
dest nach den ersten drei Monaten, in denen es grund-
sätzlich ausgeschlossen ist?
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und
Soziales:
Schauen wir uns die Gesamtzahl derjenigen an, die
aus Kroatien zuwandern. Das sind nach unseren Schät-
zungen etwa 10 000 im Jahr. Das halten wir für eine ver-
tretbare Größenordnung, zumal die Menschen eine sehr
gute Ausbildung und eine hohe Motivation mitbringen.
Für die Arbeitsvermittlung ist das gut managebar.
Darüber hinaus haben wir Beratungsstellen eingerich-
tet. Es gibt mittlerweile in allen großen Städten in
Deutschland Büros von NGOs – sie werden auch von
meinem Haus finanziell unterstützt; das wird auch noch
weiter ausgebaut –, deren muttersprachliche Mitarbeiter
bei Vermittlungsbemühungen und Suchbemühungen un-
terstützend tätig sind. Das ist einer der Punkte, den ich
für wichtig halte. Wir müssen mit den Menschen, die zu
uns kommen, wirklich ins Gespräch kommen über das,
was sie wollen und können, und über das, was sie an
Kompetenzen mitbringen. Von daher ist das keine außer-
ordentliche Aufgabe, für deren Bewältigung extra Struk-
turen geschaffen werden müssen. Nach unseren Erfah-
rungen kann man die Vermittlung der etwa 10 000
Menschen, die aus Kroatien zu uns kommen, im Regel-
geschäft mit der zusätzlichen Beratung, wie sie bereits
existiert, gut managen.
Sie haben eine weitere Frage zu den aktiven Leistun-
gen gestellt. Das ist eine grundsätzliche Frage – da noch
einige Gerichtsurteile anhängig sind, möchte ich mich
hier mit einer Stellungnahme zurückhalten –, die man in
der Bundesregierung bisher noch nicht abschließend er-
örtert hat. Man muss aber Überlegungen dazu anstellen
– bestimmte Aspekte haben sehr wohl ihre Berechtigung –,
und das wird auch gemacht. Aber vor dem Hintergrund
der ausstehenden Urteile und der Tatsache, dass sich die
Bundesregierung derzeit nicht konkret mit diesem
Thema befasst, kann ich hierzu nichts weiter ausführen.
Danke schön. – Nächste Fragestellerin ist die Abge-
ordnete Jutta Krellmann, die Linke.
Vielen Dank. – Frau Ministerin, ich habe zwei Nach-fragen zu dem Thema „Anerkennung von Berufsab-schlüssen“. Erstens. Wer stellt denn fest, dass Nachquali-fikationen und Anschlussqualifikationen notwendigsind? Zweitens. Wer finanziert diese anschließend?Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit undSoziales:Erstens. Das stellt teilweise die Bundesagentur fürArbeit fest, wenn die Menschen um Beratung bitten.Zweitens gibt es ein gesetzliches Anerkennungsverfah-ren. Das ist ein eigenständiges Verfahren, in dem mitmuttersprachlicher Unterstützung systematisch abge-fragt wird, welche Qualifikationen vorliegen. Derzeit ha-ben wir – schlagen Sie mich nicht, wenn es nicht ganzstimmt – ungefähr 27 000 Anerkennungsverfahren er-folgreich abgeschlossen. Diese sind im Zuständigkeits-bereich von Frau Wanka angesiedelt. Wir sind alsoschon auf einem guten Weg.Wenn festgestellt wird, dass eine zusätzliche Teilqua-lifizierung notwendig ist, damit die Gesamtqualifikationanerkannt werden kann, dann wird uns das gemeldet.
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10660 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Juni 2015
Bundesministerin Andrea Nahles
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Mit Mitteln der Bundesagentur für Arbeit – es gibt aucheinige Projekte, die durch den ESF finanziert werden –können Qualifikationen durchgeführt werden. Es gibthier also eine ganze Reihe von Möglichkeiten. Entspre-chende Verfahren laufen bereits. Das ist also nichtsNeues. International sind wir dafür auch schon gelobtworden.Man kann allerdings noch eine Schippe obendrauf le-gen. Ich bin bestimmt nicht diejenige, die sagt: Das istder Umfang, den wir uns vorgestellt haben. – Es könntenmit Sicherheit noch mehr als 27 000 Personen das Ver-fahren durchlaufen. Das wollen wir auch angehen. FrauWanka, ich und die Bundesregierung insgesamt sind unseinig, dass wir das anpacken und weiter ausbauen wol-len.
Vielen Dank. – Gibt es sonstige Fragen zur Kabinetts-
sitzung? – Frau Haßelmann von Bündnis 90/Die Grünen.
Bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Ministerin, mich
würde interessieren, ob heute die Tatsache, dass die Bun-
desregierung und mit ihr die Große Koalition plant,
einen Ermittlungsbeauftragten zur Sichtung der NSA-
Selektorenliste einzusetzen, Gegenstand der Kabinetts-
sitzung war. Es gibt entsprechende Agenturmeldungen,
dass Sie sich in der Großen Koalition darauf geeinigt ha-
ben, dem Untersuchungsausschuss die Listen nicht zur
Verfügung zu stellen, sondern nur einen Ermittlungsbe-
auftragten einzusetzen.
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und
Soziales:
Das hat heute keine Rolle gespielt.
Die Kollegin Glöckner von der SPD-Fraktion hat sich
noch gemeldet. – Bitte.
Herzlichen Dank. – Frau Ministerin, meine Frage
geht in die folgende Richtung: Es hieß, die Bundesregie-
rung sei bei ihrer Entscheidung von den Sozialpartnern
unterstützt worden. Mich würde in diesem Zusammen-
hang interessieren, wie der Gewerkschaftsbund und die
Arbeitgeberverbände die Entscheidung beurteilen. –
Danke.
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und
Soziales:
Es ist wichtig, dass wir an dieser Stelle die Sozialpart-
ner mit einbinden. Gerade bei der Arbeitnehmerfreizü-
gigkeit – Frau Krellmann hat das eben schon erwähnt –
gab es eine ganz lange Debatte, ob wir sie mit dem deut-
schen Arbeitsmarkt auf eine gute Weise verbinden kön-
nen. Es gab auch immer Angst hinsichtlich Lohndum-
pings. Deswegen haben wir uns auch mit den
Sozialpartnern, speziell mit dem DGB, im Vorhinein un-
terhalten. Sie haben keine Bedenken geäußert, diesen
Schritt heute hier zu gehen.
Danke schön. – Noch einmal Frau Haßelmann, Bünd-
nis 90/Die Grünen. Bitte.
Danke, Herr Präsident. – Frau Ministerin, Sie haben
mir ja gerade sehr knapp geantwortet in Bezug auf meine
Frage, ob sich das Kabinett damit befasst hat und heute
entschieden hat, dass die NSA-Selektorenliste nicht an
den Untersuchungsausschuss geht, sondern dass ein Er-
mittlungsbeauftragter eingesetzt werden soll. Das Kabi-
nett hat ja die Aufgabe, sich mit wichtigen außen- und
innenpolitischen Entscheidungen zu befassen. Das ist
Auftrag des Kabinetts. Das können Sie Ihrer Kabinetts-
geschäftsordnung entnehmen. Ich wundere mich daher
sehr über Ihre Antwort. Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt ist: Wo werden Entscheidungen die-
ser Art getroffen, und wo ist speziell diese getroffen
worden, wenn nicht im Kabinett?
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und
Soziales:
Es ist vollkommen richtig, dass wir uns im Kabinett
mit wichtigen Fragen befassen, aber alles zu seiner Zeit.
Demzufolge kann ich Ihnen auch nicht bestätigen, dass
diese Entscheidung gefallen ist. Ich kann Ihnen nur sa-
gen, dass sie heute nicht Gegenstand der Kabinettssit-
zung gewesen ist.
– Ja.
– Ich bin heute im Kabinett gewesen, ich saß dort und
habe zugehört. Ich kann Ihnen nur berichten, was ich ge-
hört habe. Möglicherweise vermuten Sie da Sachen, die
es nicht gegeben hat. Ich kann Ihnen nur davon berich-
ten, was wirklich stattgefunden hat.
Gibt es weitere Fragen zu anderen Themen? – Das istnicht der Fall. Dann schließe ich die Befragung.Wir rufen den Tagesordnungspunkt 3 auf:FragestundeDrucksache 18/5160Eine ganze Flut von Fragen wird schriftlich beant-wortet.Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern.Die Frage 1 der Kollegin Katrin Kunert und die Frage 2des Kollegen Andrej Hunko werden schriftlich beant-wortet.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Juni 2015 10661
Vizepräsident Peter Hintze
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Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finan-zen. Die Fragen 3 und 4 des Abgeordneten Dr. AxelTroost werden schriftlich beantwortet.Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeitund Soziales. Die Frage 5 der Kollegin Bärbel Höhn, dieFragen 6 und 7 der Kollegin Sabine Zimmermann sowiedie Fragen 8 und 9 des Kollegen Harald Weinberg wer-den schriftlich beantwortet.Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Zur Be-antwortung steht bereit die Parlamentarische Staatsse-kretärin Dr. Maria Flachsbarth.Ich rufe Frage 10 des Abgeordneten FriedrichOstendorff, Bündnis 90/Die Grünen, auf:Zu welchen Ergebnissen bezüglich der Kleingruppenhal-tung ist der Staatssekretärsausschuss Tierschutz in seiner letz-ten Sitzung am 11. Juni 2015 gekommen, und wann wirddiese Kleingruppenhaltung auslaufen?Frau Staatssekretärin, bitte.D
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege Abge-
ordneter, der Staatssekretärsausschuss hat die Thematik
des Auslaufens von Kleingruppenhaltung in seiner Sit-
zung am 11. Juni erörtert. Die Erörterungen sind aber
noch nicht abgeschlossen und sollen fortgesetzt werden.
Haben Sie eine Nachfrage?
Ja, ich habe eine Nachfrage.
Bitte schön.
Diese Antwort war sehr knapp. Da sich ja die Bundes-
länder mit dem Ministerium verständigt haben, diese Ar-
beitsgruppe einzurichten, und nun alle davon ausgingen,
dass es hier zu messbaren Ergebnissen kommt, ist es
doch sehr verwunderlich, dass hier auf so schroffe Weise
kein Kompromiss gesucht worden ist. Deshalb: Was hat
Sie bewogen, überhaupt der Einsetzung dieser Arbeits-
gruppe zuzustimmen? Es war doch klar, dass die Länder
ein anderes Ausstiegsdatum präferieren als das Ministe-
rium. Jeder normal denkende Mensch erwartet, dass es
hier Richtung Kompromiss läuft. Was hat Sie bewogen,
dieser Arbeitsgruppe praktisch die kalte Schulter zu zei-
gen?
D
Herr Kollege Ostendorff, ich kann Ihnen nur wahr-
heitsgemäß über das Ergebnis des Gespräches berichten.
Es ist so, wie ich es Ihnen mitgeteilt habe. Die unter-
schiedlichen Positionen von Bundesregierung und Bun-
desländern sind seit Jahren bekannt. Es ist immer gut,
dass man, wenn es unterschiedliche Positionen gibt, sich
miteinander an einen Tisch setzt und versucht, Kompro-
misse zu finden.
Haben Sie noch eine Zusatzfrage, Herr Abgeordne-
ter?
Ja, gerne.
Bitte.
Gestatten Sie, dass ich noch einmal insistiere. – Die
Situation ist seit Jahren so, wie Sie sie beschreiben: Auf
der einen Seite stehen die Bundesländer, die 2025 aus
der Käfighaltung und der Kleingruppenhaltung ausstei-
gen wollen, also ein Ende fünf Jahre eher präferieren,
und auf der anderen Seite steht das Bundeslandwirt-
schaftsministerium, das sich für ein Ende im Jahre 2030
ausspricht. Die Arbeitsgruppe ist eingerichtet worden,
um hier einen Kompromissweg, eine gemeinsame Linie
zu finden. Ihre Antwort kann also nicht befriedigen. Das
ist eine Antwort, die Sie schon vor Jahren hätten geben
können, bevor die Arbeitsgruppe eingerichtet wurde. Ich
frage daher noch einmal: Ist es der Wille des Ministe-
riums, hier zu einer Vereinbarung, zu einem Kompro-
miss zu kommen?
D
Herr Kollege Ostendorff, auch Sie kennen vermutlich
die Stellungnahme der Bundesregierung vom 14. Juni
2012 zu dem Beschluss des Bundesrates auf Drucksache
95/12, in der verfassungsrechtliche Bedenken bezüglich
der Vorschläge der Bundesländer geltend gemacht wor-
den sind. Diese verfassungsrechtlichen Bedenken sind
nach wie vor nicht ausgeräumt. Von daher muss man tat-
sächlich auf dieser Grundlage versuchen, eine gemein-
same Lösung zu finden. Eine solche Lösung ist noch
nicht gefunden worden.
Schönen Dank. – Weitere Fragen dazu gibt es nicht.Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Vertei-digung. Die Frage 11 der Abgeordneten Katrin Kunertund die Frage 12 des Kollegen Hans-Christian Ströbelewerden schriftlich beantwortet.Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.Ich rufe die Frage 13 der Kollegin Schauws auf:Mit welchen Argumenten hält die Bundesregierung imEPSCO-Rat, europäischer Rat für Beschäftigung, Sozialpoli-tik, Gesundheit und Verbraucherschutz, einen Prüfvorbehaltfür eine EU-Richtlinie für eine Frauenquote in Aufsichtsrätenbörsennotierter Unternehmen aufrecht?
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10662 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Juni 2015
Vizepräsident Peter Hintze
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(B)
Zur Beantwortung steht die Parlamentarische Staats-sekretärin Elke Ferner bereit. – Frau Staatssekretärin,bitte.E
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kollegin
Schauws, Ihre Fragen 13 und 14 beantworte ich zusam-
men, wenn Sie das gestatten.
Ja.
Dann rufe ich auch die Frage 14 der Kollegin
Schauws auf:
Wie und wann wird sich die Bundesregierung konstruktiv
an der EU-Richtlinie für eine Frauenquote beteiligen?
E
Wie Sie wissen, ist vor kurzem das deutsche Gesetz
für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und
Männern an Führungspositionen in Kraft getreten. Die
Bundesregierung prüft den Richtlinienentwurf derzeit.
Diese Prüfung ist noch nicht abgeschlossen. Während
der Beratungen unter lettischer Präsidentschaft zeigte
sich ein nach wie vor heterogenes Meinungsbild: von
voller Unterstützung über grundlegend positiv mit Ände-
rungswünschen bis hin zur Ablehnung der Richtlinie.
Alle Mitgliedstaaten halten derzeit einen allgemeinen
Prüfvorbehalt aufrecht, da noch nicht absehbar ist, wie
sich der Text entwickeln wird. Das ist bei Verhandlun-
gen auf EU-Ebene ein übliches Verfahren.
Sie haben jetzt vier Zusatzfragen, die Sie aber nicht
stellen müssen;
das ist nur das geschäftsordnungsmäßige Angebot. Wenn
zwei Fragen zusammen beantwortet werden, hat man die
Möglichkeit zu jeweils zwei Nachfragen, insgesamt also
zu vier Nachfragen. Sie dürfen sie nach Lust und Laune
ausschöpfen. – Bitte, Frau Kollegin Schauws.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich habe zwei Nach-
fragen.
Die erste Frage. Sie haben gesagt, dass Sie das Prüf-
verfahren beantragt haben, weil wir das Gesetzgebungs-
verfahren zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen
hatten. Meine Frage ist: Was gedenken Sie nach dem
Prüfverfahren zu tun? In welcher Art und Weise wollen
Sie dieses Thema, nachdem wir ja nun ein nationales
Gesetz haben, auf EU-Ebene konstruktiv nach vorne
bringen?
Die zweite Frage. Nach dem Prüfverfahren besteht
die Möglichkeit, dass Mitgliedstaaten, die bereits effek-
tive Regelungen im Hinblick auf eine ausbalancierte
Repräsentation von Männern und Frauen getroffen ha-
ben – wir in Deutschland haben das mit unserem Gesetz
getan, jedenfalls zu einem Teil –, keine Anpassungen
vornehmen müssen. Deswegen noch einmal die Frage:
Wie wollen Sie als Regierung der Bundesrepublik
Deutschland diese Richtlinie konstruktiv und effizient
befördern, um auch an dieser Stelle Vorbild für andere
EU-Mitgliedstaaten zu sein? Ich glaube nämlich, hier
richtet sich der Blick mit großen Erwartungen zu Recht
auf die Bundesregierung.
E
Frau Kollegin, der Punkt ist: Wir sind im Moment
dabei, die Position der Bundesregierung intern abzustim-
men. Wenn es eine abgestimmte Position der Bundes-
regierung gibt, dann können wir uns auch konstruktiv in
den Prozess auf der EU-Ebene einklinken.
Es ist richtig, was Sie gesagt haben: dass der ur-
sprüngliche Richtlinienentwurf insbesondere unter der
italienischen, aber auch unter der lettischen Ratspräsi-
dentschaft so verändert worden ist, dass die Möglichkeit
von Ausnahmen für Mitgliedstaaten, die selber nationale
Regelungen getroffen haben, vorgesehen wurde. Das
wird sicherlich auch bei den Abstimmungen, die inner-
halb der Bundesregierung erfolgen, noch eine Rolle
spielen.
Sind Sie zufrieden? – Das ist schon einmal etwas
wert.
Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereichs des
Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend. – Schönen Dank, Frau Staatssekretärin.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur.
Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staats-
sekretär Enak Ferlemann bereit.
Ich rufe die Frage 15 des Abgeordneten Gastel, Bünd-
nis 90/Die Grünen, auf:
Inwieweit trifft es nach Kenntnis der Bundesregierung zu,
dass der Grund für den Stopp der Bohrarbeiten für den Filder-
tunnel bei Stuttgart-Fasanenhof fehlende Unterfahrungsrechte
waren, und für wie viele von diesem Tunnel betroffene
Grundstücke fehlen derzeit nach Kenntnis der Bundesregie-
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
E
Sehr geschätzter Herr Präsident! Meine sehr verehr-ten Damen und Herren! Ich beantworte die Frage desKollegen Gastel wie folgt: Bei Stuttgart 21 handelt essich nicht um ein Projekt des Bedarfsplans für die Schie-nenwege des Bundes, sondern um ein eigenwirtschaftli-ches Projekt der Deutschen Bahn AG. Nach Angaben der
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Juni 2015 10663
Parl. Staatssekretär Enak Ferlemann
(C)
(B)
Deutschen Bahn AG ist die in den Stuttgarter Nachrich-ten aufgestellte Behauptung, dass sich das Wiederanfah-ren der Tunnelbohrmaschine nach der Weihnachtspause2014 wegen fehlender Unterfahrungsrechte verzögerthabe, unzutreffend. Alle erforderlichen Unterfahrungs-rechte hätten im vollen Umfang vorgelegen.
Eine Nachfrage, Herr Kollege? – Bitte schön.
Vielen Dank. – Herr Ferlemann, für ein eigenwirt-
schaftliches Projekt steckt ganz schön viel öffentliches
Geld darin; das wollte ich schon noch erwidert haben.
Haben Sie hinsichtlich der Tunnelarbeiten in Stuttgart
denn Erkenntnisse über den Zeit- und Kostenplan? Lie-
gen die im Plan, oder gibt es da Verzögerungen?
E
Das Projekt ist, wie gesagt, kein Projekt des Bedarfs-
plans. Deswegen erfolgt keine direkte Steuerung dieses
Projekts durch den Bund, sondern das macht die DB AG
alleine. Nach Auskunft der DB AG liegt das Projekt ins-
gesamt im Zeit- und Kostenplan.
Gibt es zu dem Bereich noch eine Nachfrage, oder
sind Sie fertig? – Danke.
Ich rufe die Frage 16 des Kollegen Gastel auf:
Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung unter
Verweis auf die Verschiebung der geplanten Verlängerung der
Neckar-Schleusen vom Jahr 2025 auf das Jahr 2031 und auf
die Beschränkung der Ausbaupläne auf den Abschnitt von der
Mündung bis Heilbronn aus der Aussage im Staatsanzeiger
für Baden-Württemberg , wo-
nach „der Bund, der für die großen Wasserstraßen zuständig
ist, den Neckarausbau scheibchenweise ad acta zu legen
scheint“, und welche Konsequenzen zieht die Bundesregie-
rung aus der Tatsache, dass laut des genannten Artikels die
Bundesregierung „eine erhebliche Unterfinanzierung“ beim
Erhalt und zukunftsfähigen Ausbau der Wasserstraßen ein-
räumt?
E
Ich gebe folgende Antwort: Das mit dem Ausbau des
Neckars betraute Amt für den Neckarausbau wird zur
Beschleunigung der Maßnahmen auch durch andere
Dienststellen der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung,
unter anderem durch das Neubauamt Hannover, unter-
stützt. Des Weiteren werden positive Effekte von der
künftig verstärkten Anwendung standardisierter Bauwei-
sen erwartet.
Bei den Bundeswasserstraßen sind gegenwärtig für
laufende oder in Planung befindliche Projekte keine
Finanzierungsengpässe erkennbar. Als limitierender
Faktor wirkt hier gegenwärtig vielmehr die begrenzte
Planungsressource.
In dieser Situation ist eine strenge Priorisierung der
Infrastrukturmaßnahmen unausweichlich. Vor diesem
Hintergrund erfolgt auch die erneute Bewertung und
Priorisierung aller noch nicht begonnenen Aus- und
Neubauvorhaben im Rahmen der Aufstellung des Bun-
desverkehrswegeplanes.
Danke schön. – Haben Sie eine Zusatzfrage? – Bitte
schön, Herr Kollege Gastel.
Vermutlich habe ich nicht nur eine Zusatzfrage. – Zu-
nächst war zu lesen, dass der bisherige Zeitplan das Jahr
2025 als Zieljahr für den Ausbau der Neckarschleusen
enthielt. Dann war vom Jahr 2031 zu lesen – ich glaube,
das war ein bestätigter Termin –, und in den letzten Ta-
gen war in den Medien plötzlich vom Jahr 2044 und von
einem Ausbau nicht bis Plochingen – also kein Vollaus-
bau –, sondern lediglich bis Heilbronn die Rede. Können
Sie diese Zahlen bestätigen? Welche Zahlen – einmal für
den Ausbau bis Heilbronn und einmal bis Plochingen –
stimmen aus heutiger Sicht?
E
Die Zahlen kann ich nicht bestätigen, Herr Kollege.
Sie wissen aus Ihrer Tätigkeit im Verkehrsausschuss des
Deutschen Bundestages, dass der Ausbau bis Heilbronn
Priorität hat, wobei die neuen Schleusenkammern eine
Länge von 135 Metern aufweisen sollen. Danach müs-
sen wir die Schleusen bis Stuttgart bzw. bis Plochingen
erst einmal sanieren. Wir nutzen die Sanierung, um die
Schleusenkammern, wo es geht, auf eine Länge von
110 Metern zu vergrößern, um auch größere Schiffe
schleusen zu können.
Der Hintergrund ist, dass beim Neubau einer Schleu-
senkammer die jeweils bestehende Schleusenkammer
den Betrieb aufrechterhalten muss. Fällt sie aus, ist der
Neckar dicht. Das darf nicht passieren. Deswegen müs-
sen erst alle bestehenden Schleusenkammern saniert
werden, bevor es an den Ausbau und die Errichtung zu-
sätzlicher Schleusen geht. Das wird von Heidelberg aus
neckaraufwärts geschehen und dauert seine Zeit.
Wir brauchen in Teilen ein neues Planrecht. Der Bau-
grund hat sich als deutlich schlechter als ursprünglich
kalkuliert herausgestellt. Die Baumaßnahmen werden
einen größeren Zeitumfang in Anspruch nehmen. Von
daher ist der Zeitplan – das Jahr 2031 ist angegeben –
angespannt.
Schönen Dank. – Sie könnten noch eine Zusatzfrage
stellen, wenn Sie möchten. Sie müssen aber nicht.
Diese Möglichkeit werde ich auch gerne nutzen. Vie-
len Dank, Herr Präsident.
Das hatte ich vermutet. – Bitte schön.
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10664 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Juni 2015
(C)
(B)
Die Verkehrsminister der Länder Baden-Württem-
berg, Hessen, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen
haben – ich glaube, in dieser oder in der letzten Woche –
moniert, dass sowohl für die Schleusen entlang des
Rheins als auch entlang des Neckars zu wenig Geld zur
Verfügung steht und dass es vor allem keine Planungssi-
cherheit gibt. Das heißt, es werden keine Zahlen bzw.
Daten in Bezug darauf genannt, wann was konkret vor-
angeht. Das wird kritisiert. Die Bundesregierung wurde
aufgefordert, hier für Klarheit zu sorgen.
Sie sagten vorhin, es sei weniger ein finanzielles Pro-
blem als ein Planungsproblem. Was machen Sie jetzt
ganz konkret? Was sind die Konsequenzen, die die Bun-
desregierung aus der Kritik der genannten vier Bundes-
länder zieht?
E
Ich weise die Kritik der vier Bundesländer zurück. Es
ist nicht an dem. All diese Bundesländer sind über die
laufenden Vorhaben gut informiert und können die Zeit-
räume selber abschätzen. Über ein Planverfahren können
keine verlässlichen Aussagen getroffen werden, weil
man nie weiß, ob es Einsprüche, Einwendungen oder so-
gar Gerichtsverfahren gibt. Von daher gesehen können
nur grobe Abschätzungen vorgenommen werden.
Was die Frage der Kapazitätsausweitung bei den Pla-
nungen angeht, haben wir sowohl im Haushalt des Jah-
res 2014 als auch in dem des Jahres 2015 erstmalig seit
vielen Jahren wieder mehr Stellen für die Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung bekommen. Dabei geht es insbe-
sondere um Stellen im Planungsbereich. Wir sind derzeit
dabei, all diese Stellen komplett zu besetzen und den
Ämtern zuzuweisen, die besonders hohe Neubaukapazi-
täten benötigen.
Herzlichen Dank. – Die übrigen Fragen aus diesem
Geschäftsbereich und aus den weiteren Geschäftsberei-
chen werden schriftlich beantwortet.
Damit sind wir am Ende der Fragestunde.
Ich unterbreche die Sitzung des Deutschen Bundes-
tages bis 16.40 Uhr. Dann wird der Tagesordnungs-
punkt 4 aufgerufen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Platz
zu nehmen. – Die unterbrochene Sitzung ist wieder er-
öffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Vereinbarte Debatte
17. Juni 1953 – Für Freiheit, Recht und Einheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Kai Wegner für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Wir wollenfreie Menschen sein!“ Dieser bewegende Appell derDemonstranten des 17. Juni steht in verdichteter Formfür all das, wofür sich vor 62 Jahren Hunderttausende er-hoben haben: für ein Leben in Würde, für Demokratie,für Menschenrechte, für Selbstbestimmung, für das Stre-ben nach Glück, für die Freiheit. „Wir wollen freie Men-schen sein!“ Es gibt wohl keinen besseren Satz, um dieheutige Debatte hier im Deutschen Bundestag über denVolksaufstand von 1953 zu eröffnen.Wir erinnern heute an ein einschneidendes und fol-genreiches Ereignis deutscher Geschichte, an ein Ereig-nis, das die Schicksale vieler Menschen prägte. Wir erin-nern an Frauen und Männer, die vor 62 Jahren viel Mutbewiesen, weil sie der Entwicklung ihres Landes und ih-rem eigenen Leben eine andere Richtung geben wollten,weil sie freie Menschen sein wollten.Alles begann mit einer Auseinandersetzung um Ar-beitsbedingungen und Löhne. Doch schnell weitete sichdie Ablehnung neuer Arbeitsnormen zu einem Protestgegen das Zwangsregime der SED und ihr Unterdrü-ckungssystem aus. Neben den ursprünglichen Forderun-gen nach einer Verbesserung der Arbeitsbedingungentraten dezidiert politische Forderungen. Die Demon-stranten verlangten freie Wahlen. Sie forderten denRücktritt der Regierung, und schließlich forderten sie dieWiedervereinigung unseres Landes.Schnell griffen die Proteste um sich. In der gesamtenDDR beteiligten sich rund 1 Million Bürger in mehr als560 Städten und Gemeinden. Der breite Protest erschüt-terte die DDR in ihren Grundfesten. Letztlich wurde derVersuch, die Ketten fremder Gewaltherrschaft abzu-schütteln, vom Panzerring der Sowjetarmee und demSED-Regime blutig niedergedrückt. Mehr als 50 Todes-opfer waren zu beklagen. Rund 1 600 Demonstrantenbezahlten ihre Teilnahme mit zum Teil langjährigenHaftstrafen in Gefängnissen und Arbeitslagern.Meine Damen und Herren, das Regime konnte zwardie Menschen im Juni 1953 unterdrücken, aber niemalsderen Freiheitsliebe besiegen.
Die Ideen und Ideale der Demonstranten lebten fort. Undin den Funktionärsvillen von Pankow und Wandlitz gingseither die Angst um, die Angst vor dem eigenen Volk.Der 17. Juni 1953 war die erste Massenerhebung imMachtbereich des Kommunismus. Damit hat er einegrundlegende weltpolitische Bedeutung. Ihm folgten derAufstand in Ungarn, der Prager Frühling, die Gründungder Solidarnosc und schließlich – ja – der Fall der Berli-ner Mauer im November 1989.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Juni 2015 10665
Kai Wegner
(C)
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Der Sieg der Freiheit über die Unterdrückung, derSieg der Demokratie über die Diktatur, der Sieg desRechts über die Willkür, die Wiedervereinigung unseresLandes: all das ist auch das Verdienst der mutigen Män-ner und Frauen des 17. Juni 1953.
Meine Damen und Herren, der Volksaufstand jährtsich in diesem Jahr zum 62. Male. 62 Jahre sind für dieErinnerung eine lange Zeit. Die Männer und Frauen, diesich damals gegen die SED-Diktatur erhoben, werden äl-ter. Viele sind schon gestorben. Es gibt immer wenigerZeitzeugen, die ihr Wissen an die nachfolgenden Gene-rationen weitergeben können. Umso wichtiger ist einelebendige und authentische Gedenk- und Erinnerungs-kultur. Lassen Sie uns deshalb den 17. Juni als ein zen-trales Symbol der Freiheitsgeschichte unseres Landesweiter stärken.
Denn sich vor Augen zu führen, was einst geschah,schützt davor, vergangenes Unrecht zu relativieren oderzu beschönigen, wie es mittlerweile leider viel zu oft ge-schieht.Ich bin dem Bundesminister Wolfgang Schäuble sehrdankbar, dass es vor zwei Jahren gelungen ist, den Platzvor dem Bundesministerium der Finanzen, wo der Auf-stand begann, offiziell als „Platz des Volksaufstandesvon 1953“ zu benennen. Endlich hat dieser Platz einenNamen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang ganz besondersden Opferverbänden danken. Die Opferverbände habensich über Jahre für die Benennung dieses Platzes stark-gemacht, und hier haben sich Geduld und Beharrlichkeitausgezahlt. Denn dieser Platz hat jetzt seinen Namen.Wir brauchen solche authentischen Erinnerungsorte,um die Geschichte für die nachfolgenden Generationenerfahrbar und erlebbar zu machen. Aber, meine Damenund Herren, wir können, nein, wir müssen noch mehrtun. Das ist ein Buch der Stiftung zur Aufarbeitung derSED-Diktatur.
Hierin finden sich die Biografien der Toten des Volks-aufstandes.Ich würde es sehr begrüßen, wenn am Platz desVolksaufstandes vor dem Finanzministerium eine Stelezu Ehren der Todesopfer aufgestellt werden könnte. Ichdenke, es ist höchste Zeit, dass wir den mutigen Frei-heitskämpfern nicht nur zwischen Buchdeckeln, sondernauch und ganz konkret im Straßenbild ein Gesicht ge-ben.
Ich rufe weiterhin alle öffentlichen Behörden dazuauf, in den von ihnen herausgegebenen Kalendern den17. Juni als einen Gedenktag auszuweisen. Der 17. Junihat einen Platz in unserer Geschichte, und deshalb ver-dient er auch einen Platz in sämtlichen Kalendern unse-res Landes.Auch die Länder können noch viel mehr tun, zumBeispiel den 17. Juni in den Rahmenlehrplänen derSchulen stärken oder Schülerwettbewerbe ausloben. Ichmöchte die Geschichtslehrer an unseren Schulen aus-drücklich ermutigen, mit ihren Klassen Erinnerungs-und Gedenkorte aufzusuchen.Meine Damen und Herren, auch und gerade in denneuen Ländern könnten Plätze und Orte nach dem Volks-aufstand benannt werden. Ich bin wahrlich kein Bilder-stürmer. Aber ich glaube, unser Land würde sich nichtzum Schlechteren verändern, wenn wir weniger Ernst-Thälmann- und Rosa-Luxemburg-Straßen hätten, dafüraber mehr Straßen, die mit ihrem Namen die Toten des17. Juni ehren würden.
Der 17. Juni ist nicht irgendein Tag im Jahreskalen-der, sondern ein herausragendes Datum der deutschenFreiheits- und Einheitsgeschichte. Wir gedenken mitRespekt und Dankbarkeit der Männer und Frauen des17. Juni. Wir verneigen uns vor den Opfern. Eine Lehreaus dem Volksaufstand ist, dass Freiheit und Demokratiealles andere als selbstverständlich sind. Das sehen wirderzeit in der Welt. In viel zu vielen Ländern müssen dieMenschen für Freiheit und Demokratie auf die Straßegehen. Ich nenne zum Beispiel die Ukraine. Freiheit undDemokratie müssen immer erst errungen und dann be-wahrt werden.Meine Damen und Herren, sollte unsere Demokratiein Deutschland jemals in Gefahr geraten, wünsche ichmir, dass die Menschen in unserem Land genauso mutigfür ihre Freiheit einstehen, wie das einst die Männer undFrauen des 17. Juni getan haben. Sie sollten nicht nurdann, sondern immer Vorbild für uns sein; denn sie sindfür Freiheit und Demokratie auf die Straßen gegangen.Ich finde, wir können stolz auf den 17. Juni 1953 sein.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Thomas Lutze für die Frak-
tion Die Linke.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Liebe Gäste! Sehr geehrter Herr Wegner, ich könnte sehrgerne auf Hindenburg als Straßennamen verzichten. BeiRosa Luxemburg fällt mir das ein bisschen schwerer.Nun zum eigentlichen Anlass. Gewalt gegen die Be-völkerung ist durch nichts und niemanden zu rechtferti-gen. Das gilt für die gewaltsame Niederschlagung derProteste in der DDR im Jahr 1953 ebenso wie für den
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10666 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Juni 2015
Thomas Lutze
(C)
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Bau der Mauer in Berlin und die Schließung der Grenzezur Bundesrepublik im Jahr 1961. Heute gedenken wirvor allem der Opfer, und niemand wird vergessen.Im Jahr 1953 war Deutschland gespalten. Diese Spal-tung war ein Ergebnis des von Nazideutschland ver-schuldeten Zweiten Weltkrieges. Während sich 1953 inder Bundesrepublik wirtschaftliche Aufbruchstimmungverbreitete, waren die Voraussetzungen in der damaligenDDR grundlegend anders. Im Osten gab es keinenMarshallplan – zumindest hat man es nicht angenommen –,mit dem man die zerstörte und daniederliegende Wirt-schaft hätte aufbauen können. Ganz im Gegenteil: DieDDR musste immense Reparationen an die Sowjetunionzahlen. Dies und die politische Fehleinschätzung der re-gierenden SED führten dazu, dass sich die Arbeiter auf-lehnten, protestierten und letztendlich streikten. DenHerrschenden in der DDR fiel – auch unter dem direktenEinfluss Moskaus – nichts Besseres ein, als die eigenenLeute zusammenschießen zu lassen. Auch wenn die mi-litärische Gewalt maßgeblich durch die in der DDR sta-tionierte Rote Armee ausgeführt wurde – die wesentlicheVerantwortung lag bei der damaligen DDR-Regierung.
Noch einmal: Gewalt ist, wenn man die historischenRahmenbedingungen einordnet, durch nichts zu recht-fertigen.Fakt ist auch, dass sich die damalige DDR nicht imluftleeren Raum entwickeln konnte. Deutschland, Eu-ropa und große Teile der Welt waren mitten im KaltenKrieg. Das atomare Wettrüsten war auf beiden Seiten invollem Gange. In Korea zum Beispiel tobte ein Stellver-treterkrieg, der in seiner Brutalität dem Zweiten Welt-krieg in nichts nachstand. Beide Seiten der geteilten Weltstritten um ihren Einflussbereich, und dies mit fast allenMitteln. Lediglich auf den Einsatz von Atomwaffen hatman verzichtet, weil man wusste, dass dann die Mensch-heit vernichtet worden wäre.Und auch innerhalb Deutschlands war das nicht an-ders. Provokationen, Manipulationen und gegenseitigeEinflussnahme zulasten des jeweils anderen bestimmtenden innerdeutschen Alltag. Auch hier trägt der Westeneine gewisse Mitverantwortung dafür, dass die innen-politische Situation in der DDR im Jahr 1953 eskalierte.
Erst die Entspannungspolitik Willy Brandts führte dazu,dass sich die beiden deutschen Staaten gegenseitig nichtwie kleine Kinder, sondern wie Erwachsene behandel-ten.
Ein zweiter Aspekt. Es war auch ein gravierenderFehler in 40 Jahren DDR, dass es kein Streikrecht undkeine freien Gewerkschaften gab.
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben einRecht darauf, ihre Interessen über Gewerkschaften undauch über Streiks zum Ausdruck zu bringen und durch-setzen zu können. Die Worte „Selbstbestimmung“ und„Mündigkeit“ klingen so einfach, passen aber nicht ingewisse Machtstrukturen, erst recht nicht in die der da-maligen DDR. Gestatten Sie mir deshalb einen vorsichti-gen Hinweis auch auf aktuelle Diskussionen. Wenn auchdie Rahmenbedingungen heute vollkommen anders sind:Wenn heutzutage Arbeitgeber und Wirtschaftsverbändedavor warnen und sich darüber beschweren, dass zu vielgestreikt wird, dann ist das historisch gesehen ein gewis-ser Widerspruch und eine fatale Fehleinschätzung.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ich bin Jahr-gang 1969 und in Leipzig aufgewachsen. Ich habe alsZwanzigjähriger die politische Wende in meiner damali-gen Heimatstadt miterlebt und vielleicht ein ganz kleinwenig auch mitgestaltet. Es war für mich eine sehr span-nende Zeit. Ich erinnere mich sehr gerne daran, manch-mal auch etwas wehmütig. Auf den Montagsdemos imSommer und im Herbst 1989 sah ich Hunderte soge-nannte Angehörige der bewaffneten Organe – so nannteman damals Polizei, Armee und Staatssicherheit – in derLeipziger Innenstadt. Viele von denen, die bewaffnet aufLkws saßen, waren im gleichen Alter wie ich. Ich gingwenige Jahre zuvor mit ihnen zusammen zur Schule. Siehatten das Pech, gerade jetzt ihren meist unfreiwilligenWehrdienst ableisten zu müssen. Diesen Wehrdienstkonnte man in der DDR nicht verweigern,
vor allem dann nicht, wenn man studieren wollte. ErstJahre später habe ich für mich realisiert, wie gefährlichdie Situation damals war. Freunde berichteten, dass siewochenlang in ihren Kasernen saßen und diese Kasernennicht verlassen konnten. Sie hockten nun mit Waffen undscharfer Munition auf den Lkws.Im Gegensatz zu 1953 bekamen sie nicht den Befehl,auf die eigenen Leute zu schießen. Der Ruf „Keine Ge-walt!“ siegte. Er siegte, weil die, die demonstrierten, be-sonnen blieben. Er siegte auch, weil die, die die Mög-lichkeit hatten, einen Schießbefehl zu geben, diesenBefehl nicht gaben. Trotz aller Vorbehalte muss man denVerantwortlichen der damaligen DDR-Regierung desJahres 1989 dafür auch danken. Sie hätten die Machtdazu gehabt. Sie hatten es sich mit Sicherheit moralischauch schon so zurechtgelegt, dass es passt. Trotzdem gabes in Leipzig, in Dresden und in Plauen kein zweites Pe-king.Ich bin dankbar dafür, dass ich die Möglichkeit hatte,nach 1990 in einem geeinten Deutschland und in einemzusammenwachsenden Europa leben zu können. Damithatte ich als Jugendlicher 1987 und 1988 im Leben nichtgerechnet. Ich konnte in Saarbrücken studieren, späterdort arbeiten, und ich vertrete seit 2009 Wählerinnenund Wähler aus dem Saarland im Deutschen Bundestag.
Gewalt – das sagte ich schon zweimal – ist durchnichts zu rechtfertigen. Dieser Grundsatz ist für mich all-gemeingültig. Das gilt gleichermaßen für die Opfer des
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Juni 2015 10667
Thomas Lutze
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17. Juni wie auch für die Opfer an der innerdeutschenGrenze. Es gilt für die zusammengeschossenen Men-schen auf dem Pekinger Tiananmen-Platz. Es gilt für dieKinder Vietnams, die von Napalmbomben verstümmeltwurden, und es gilt auch für die Zivilisten in Afghanis-tan, die heute von US-Drohnen getötet werden, Droh-nen, die man von Deutschland aus steuert. Diese Gewaltist zu verurteilen, ganz gleich, was vorgegeben wird, umsie zu rechtfertigen.
Wenn wir uns heute, vollkommen zu Recht und drin-gend notwendig, an das erinnern, was in der früherenDDR am 17. Juni 1953 geschah, so muss man auch da-ran erinnern – das tun wir von der Linksfraktion immerwieder –, dass Menschen, die in der DDR aufgewachsensind, noch heute Nachteile im vereinten Deutschland ha-ben, nur weil sie in der DDR aufgewachsen sind. Auchda müssten wir konsequent handeln und dieses Unrechtendlich beseitigen.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Iris Gleicke für die SPD-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der17. Juni 1953 steht in der demokratischen TraditionDeutschlands auf gleicher Höhe mit der gescheitertenRevolution von 1848 und der erfolgreichen Revolutionvon 1989.
Die Bürgerinnen und Bürger der DDR haben zudem injenen Junitagen des Jahres 1953 als Erste im kommunis-tischen Machtbereich ein weithin sichtbares Signal fürden Beginn einer großen Freiheitsbewegung in Ost- undMitteleuropa gesetzt. Dieser Volksaufstand wurde durchdie sowjetische Armee brutal niedergeschlagen. Es gabTote und Verletzte. Ob später beim Ungarn-Aufstand1956 oder beim Prager Frühling 1968: Es rollten die rus-sischen Panzer. Die in Mittel- und Osteuropa herrschen-den kommunistischen Regimes konnten ihre Macht nurdank massiver sowjetischer Rückendeckung aufrechter-halten. Immer wieder zeigte sich, dass niemand den Auf-ständischen zu Hilfe kam, weil niemand bereit war– weil Gott sei Dank niemand bereit war –, einen drittenWeltkrieg zu riskieren. Es konnte niemand kommen, eskonnte niemand helfen, und deshalb endeten all dieseAufstände fast zwangsläufig in einer Tragödie. Wennman sich das vor Augen führt, wird einem klar, was fürein unglaubliches Glück wir 1989 hatten.
In Westdeutschland wurde der 17. Juni zum Tag derDeutschen Einheit, mit dem der Gedanke an die Einheitwachgehalten werden sollte. Aber je länger die Teilungdauerte, desto ferner rückte die Hoffnung auf ihre Über-windung. In letzter Konsequenz war es der Mut derMenschen in der DDR, die es trotz der traumatischen Er-fahrungen des 17. Juni 1953 und trotz ihrer Angst vor ei-ner „chinesischen Lösung“ wagten, die Diktatur heraus-zufordern und mit dem Ruf „Keine Gewalt!“ zuentwaffnen. Die Diktatur wurde nicht mit Schwertern,sondern mit Pflugscharen besiegt und hinweggefegt. Eswar eine sanfte Gewalt, mit der die Mauer niedergeris-sen wurde.1989 fügte sich so vieles glücklich zusammen. Inganz Osteuropa wurde der Ruf nach Freiheit immer lau-ter. Wir schauten nach Ungarn und nach Polen. Wir sa-hen, wie Michail Gorbatschow Glasnost und Perestroikapropagierte. Vor diesem Hintergrund wurde die Unfähig-keit der greisen Staats- und Parteiführung in der DDRimmer offensichtlicher. Es waren glückliche Umstände.Es war der richtige Zeitpunkt. Es waren die richtigenMenschen, die zum richtigen Zeitpunkt das Heft desHandelns an sich rissen. Nur so konnte das Wunder derfriedlichen Revolution gelingen.So viel Glück war den Aufständischen vom 17. Juni1953 nicht beschieden. Die politischen Rahmenbedin-gungen jener Tage waren andere. Nur acht Jahre nachdem gemeinsamen Sieg der Alliierten über Hitler-Deutschland standen sich die einstigen Verbündeten inOst- und Westdeutschland unversöhnlich gegenüber. EinEiserner Vorhang trennte Europa in seiner Mitte, zwi-schen dem kommunistischen Ostblock und dem Ein-flussbereich der Westmächte. Es herrschte ein KalterKrieg.Die Staaten der sozialistischen Gemeinschaft wurdenunter der absolut beherrschenden Führung der Sowjet-union rigide zusammengehalten. Der innere Aufbaudieser Staaten folgte durchgängig dem Typus einer tota-litären Einparteiendiktatur. Sogenannte verbündeteBlockparteien änderten daran gar nichts. Um jeglicheOpposition entschlossen zu unterdrücken und ihre ei-gene Macht sowie die Geschlossenheit des Ostblocks zufestigen und zu sichern, stützten sich diese Regimes aufeinen umfangreichen Sicherheits- und Unterdrückungs-apparat.Eine weitere Gemeinsamkeit dieser Staaten bestanddarin, dass die unter Führung der kommunistischen Par-teien propagierten Ziele zum Aufbau des Sozialismussowjetischer Prägung bei breiten Teilen der Bevölkerungauf klare Ablehnung stießen. Elementare demokratischeRechte wie Pressefreiheit, Meinungsfreiheit oder Reise-freiheit waren nicht einmal im Ansatz zugelassen. Aberfür lange Zeit blieben die Sowjetunion, der Ostblock, derWarschauer Pakt stabil. Der Eiserne Vorhang trug seinenNamen zu Recht und fand an der innerdeutschen Grenzemit Stacheldraht und Minenfeld, mit Selbstschussanla-gen und Schießbefehl seine traurigste und irrsinnigsteGestalt.Nur langsam, mit einer Politik der kleinen Schritte,mit der von Willy Brandt begonnenen Entspannungs-
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10668 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Juni 2015
Iris Gleicke
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politik gelang es, diese schier unüberwindliche Grenzeein wenig durchlässiger zu machen. „Wandel durch An-näherung“, so lautete damals ein später übel geschmäh-tes Wort. Und auch Brandts Nachfolger Helmut Schmidtund Helmut Kohl suchten und fanden trotz aller Schmä-hungen das Gespräch mit der Staats- und Parteiführungder DDR. Viele erinnern sich noch an die Bilder: WillyBrandt 1970 in Erfurt, Helmut Schmidt 1981 auf demWeihnachtsmarkt in Güstrow, Helmut Kohl, der ErichHonecker 1987 mit militärischen Ehren in Bonn emp-fing.Diese Entspannungspolitik war richtig. Sie war schonallein deshalb richtig, weil sie den Menschen in derDDR Erleichterungen brachte.
Denken Sie an die Häftlingsfreikäufe, an die Familien-zusammenführungen, an die Verwandtenbesuche! Andieser Entspannungspolitik hielt man fest – trotz allerWidrigkeiten und Widersprüche, trotz Afghanistan-Ein-marsch und Olympiaboykott, trotz der Ausrufung desKriegsrechts in Polen, trotz der SS-20-Stationierung unddes NATO-Doppelbeschlusses. Es gab keine Alternativezu dieser Entspannungspolitik; denn das war ja die Lehreaus dem 17. Juni 1953, aus dem Ungarn-Aufstand, ausdem Prager Frühling: Es würde niemand zu Hilfe kom-men. Die Zeit musste reifen, auch wenn das für nicht we-nige eine sehr bittere Erkenntnis gewesen sein muss undsicherlich gewesen ist.Meine Damen und Herren, die große Mehrheit unse-res Volkes und auch die große Mehrheit der Mitgliederdieses Hohen Hauses haben die Realität der DDR-Dikta-tur nie aus eigenem Erleben kennengelernt. Ich gönne esihnen allen, dass sie ihr ganzes Leben in Freiheit ver-bracht haben, und ich bin froh darüber, dass in Ost undWest unterdessen eine neue Generation herangewachsenist, die nie etwas anderes als die gesamtdeutsche Demo-kratie kennengelernt hat. Ich wünsche mir nur von allenetwas mehr aufrichtiges Gedenken an diejenigen, die da-mals, 1953, mutig und tapfer waren und die trotzdemscheitern mussten.
Ihr Mut, ihre Träume, ihre Ideale, all das dürfen wir nie-mals vergessen. Mir geht es nicht um ein pathetischesund innerlich gelangweiltes Heldengedenken, das zurPose erstarrt und von dem aus man ganz schnell wiederzur Tagesordnung übergeht. Mir geht es mehr um einstilles Gedenken, und sei es auch noch so kurz und nichtnur am 17. Juni, ein stilles Nachdenken darüber, dass der17. Juni 1953 zur Tragödie wurde, weil damals nochnicht gelingen konnte, was 36 Jahre später gelungen ist. –Ich danke Ihnen.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol-
legin Steffi Lemke das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher auf denTribünen! Wir würdigen am 17. Juni die Menschen, diesich 1953 in der DDR für Freiheit und für ein besseresLeben einsetzten und dabei ihr Leben riskierten, und wirgedenken derjenigen, die an diesem Tag und infolge die-ses Tages ermordet wurden. Wir wissen nicht genau, wieviele es waren.Der 17. Juni war die Reaktion der Menschen in derehemaligen DDR auf die wirtschaftliche Notlage, diesich dort wöchentlich verschärfte, auf staatliche Bevor-mundung, auf Repression, auf Verfolgung und auf dasEinsperren von Menschen anderen Glaubens und ande-rer politischer Überzeugung. Vor allem setzten sich dieMenschen in der DDR an diesem Tag auf den Straßen– nicht nur in Berlin – gegen den Einfluss der Sowjet-union auf den Staatsapparat der DDR und letztendlichauf die Lebensverhältnisse aller Bürgerinnen und Bürgerin der DDR zur Wehr. Der Aufstand wurde blutig nieder-geschlagen und unterlag jahrzehntelang danach denideologischen Interpretationsschlachten des Kalten Krie-ges.Ich glaube, dass der 17. Juni 1953 nicht verstandenwerden kann und von uns nicht diskutiert werden darfohne die historische und politische Einbettung in dieVorgänge der Blockkonfrontation, der Vorgänge des Kal-ten Krieges. Ich erinnere nur an die Ausführungen vonEgon Bahr um die Rolle des Radiosenders Freies Berlinan diesem Tag und die Diskussion darüber, wie RIAS andiesem Tag über diesen Aufstand berichtete, was in derRedaktion dieses Radiosenders nicht unumstritten gewe-sen ist.Ich selber bin 1968 geboren, in dem Jahr, in dem sichdas Gedenken an den 17. Juni in der alten BRD gewan-delt hatte. Zum ersten Mal fand keine herausgehobeneGedenkveranstaltung statt, und es wurden Überlegungenangestellt, den 17. Juni als Feiertag abzuschaffen. Ichbin aufgewachsen in einem politischen und medialenDiskurs, der den 17. Juni nicht reflektiert hat – nicht inder verhassten Pflichtlektüre Neues Deutschland, aberauch nicht in der zur Gewohnheit gewordenen abendli-chen ARD-Sendung, der Tagesschau.Als ich 1989 vor der Frage stand, ob ich auf dieStraße gehe und mich den friedlichen Revolutionärendes Herbstes 1989 anschließe, hat der 17. Juni für michkeine Rolle gespielt, weil er in meinem Gedächtnis nichtverankert gewesen ist. Wir sind vielmehr in der Furchtvor dem Massaker an den friedlichen Demonstranten aufdem Platz des Himmlischen Friedens am 3. und 4. Juni1989 in Peking auf die Straße gegangen. Uns hat dieAngst im Nacken gesessen, ob das Regime in der DDRzu diesem Zeitpunkt zu ähnlichem Handeln fähig seinkonnte. Ich wusste nicht, in welchem Ausmaß das 1953der Fall gewesen ist – irgendeine dunkle Ahnung durchviele Gespräche, aber keine Fakten. Da hatte die DDRgründliche Arbeit geleistet. Wenn wir in diesem Hausgemeinsam ein Vermächtnis aus 1953 und 1989 ziehenkönnen, dann ist das meines Erachtens – da stimme ichden Ausführungen meiner Vorredner zu –, das Gedenken
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Juni 2015 10669
Steffi Lemke
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an diesen Tag wachzuhalten und die Erinnerungskulturzu pflegen, und zwar nicht nur in Berlin und nicht nurvor dem Bundesfinanzministerium.
Dieser Aufstand war dezentral. Er fand in vielen Ortenund Dörfern in der DDR statt. Es war kein Berliner Auf-stand. Auch das gehört zu den Mythen, die wir, wie ichglaube, entzaubern müssen.
Wir können im Zusammenhang mit dem 17. Juni überalle möglichen Dinge, auch über Stelen, diskutieren. Ichglaube aber, dass dieses Haus in diesen Tagen eine an-dere Aufgabe hat, wenn wir das Vermächtnis der De-monstranten, vor allem derjenigen, die ihr Leben unterdem Regime der DDR verloren haben, und wenn wir dasVermächtnis von 1989 ernst nehmen wollen. Wenn wiram Wochenende lesen, dass die USA erwägen, schweresMilitärgerät in Osteuropa zu stationieren, und der russi-sche Präsident Putin verkündet, dass mehr als 40 neueInterkontinentalraketen stationiert werden sollen, dannist es meines Erachtens Aufgabe dieses Hauses, als Ver-mächtnis von 1953 und 1989 einer drohenden neuen Es-kalationsspirale in Form eines drohenden neuen Wettrüs-tens entgegenzutreten. Das ist mein Hauptanliegen. Indiesem Sinne habe ich auch nichts gegen Stelen.Danke.
Der Kollege Max Straubinger hat für die CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Heute vor 62 Jahren haben Hunderttausende Frauen undMänner den ersten Sargnagel tief in das Unrechtsregimeder DDR geschlagen.
Deshalb ist der 17. Juni 1953 ein ausgesprochen wichti-ger Tag in der Geschichte unseres Landes.In Westdeutschland war er lange unser Tag der Ein-heit. Heute ist das in Vergessenheit geraten. Das müssenwir uns selbstkritisch vor Augen führen. Ich habe heuteviele Tageszeitungen durchgeblättert, um festzustellen,ob es in irgendeiner Zeitung einen Beitrag zum 17. Juni1953 gibt. Ich habe keinen gefunden. Daher ist es umsowichtiger, dass wir heute diese Debatte in diesem HohenHaus führen, um der zu Tode Gekommenen, der Verletz-ten und derer, die eingesperrt worden sind, zu gedenken.
Der 17. Juni ist ein großer Tag. Es ist ein Tag der Zi-vilcourage, des Willens zur Einheit und des Willens zurFreiheit. Deshalb ist der 17. Juni kein ost- und auch keinwestdeutscher Tag; es ist ein gesamtdeutscher Gedenk-tag.
Wir im Westen hatten nach der beispiellosen morali-schen und zivilisatorischen Niederlage der Nazidiktaturdie einmalige Chance, unser Leben in Frieden und Frei-heit selbst zu bestimmen; Kollegin Iris Gleicke hat da-rauf bereits hingewiesen. Auf unsere Landsleute im Os-ten dagegen wartete eine neue Diktatur. Herr Lutze, Siehaben gesagt, dass der Marshallplan dem Westen gehol-fen hat. Das ist richtig. Richtig ist aber auch, dass dieDDR weder demokratisch noch republikanisch war undzudem den Menschen keine Freiheiten ließ. Auch inso-fern ging es den Menschen im Westen besser.Eine demokratische Republik fälscht nicht die Wah-len. Ein demokratischer Staat beugt nicht die Rechte derMenschen. Ein demokratischer Staat bespitzelt nichtmassenhaft und systematisch seine Bürger.
Er fertigt keine Protokolle über das Leben der Menschenan. Er sperrt auch keine Jugendlichen in Umerziehungs-heime, wie es in der DDR der Fall war. Er inhaftiertkeine Andersdenkenden. Demokratische Staaten gehennicht mit Panzern gegen Demonstranten vor, und siebauen auch keine Mauern um die eigene Bevölkerungherum auf, wie es in der DDR war, und sie erschießenniemanden, der nur das Land verlassen will. – Ein Staat,der all das tut, ist ein Unrechtsstaat,
nicht nur in der Konsequenz, sondern von Grund auf.Die vielen Tausend Flüchtlinge und Ausreisewilligen,die Unzähligen, die in die innere Emigration gingen, dieGefangenen in Hohenschönhausen, in Bautzen, inSchwedt und anderswo, die vielen Mauertoten und dieToten des 17. Juni 1953 bezeugen das mit ihrem Schick-sal. Auch ihrer gedenken wir heute.
Dass wir heute zu unserem Glück vereint sind, ver-danken wir dem langen Atem und dem unbedingtenFreiheitswillen der Menschen in der DDR. Den mutigenVolksaufstand hat das Stasiregime noch feige mit sowje-tischen Panzern niederschlagen lassen; die Toten undVerletzten wurden bereits erwähnt. Den Freiheitswillender Menschen freilich haben Ulbricht und seine Erbennicht erdrücken können – nicht durch Panzer, nicht
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Max Straubinger
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durch die Mauer, nicht durch den Schießbefehl und auchnicht durch die 600 000 Spitzel während der Zeit des Be-stehens der DDR, die ihren Beitrag geleistet haben. DerWille nach Freiheit blieb wach in den Herzen der Men-schen. Sie haben dann mit ihrem Mut die Mauer einge-rissen, eine Diktatur friedlich niedergerungen und freieWahlen erzwungen.Frau Kollegin Gleicke hat die Entspannungspolitikangesprochen. Wir möchten ausdrücklich die Leistungenvon Brandt und Genscher anerkennen. Aber es lag auchan Menschen wie Helmut Kohl, Theo Waigel, WolfgangSchäuble, Sabine Bergmann-Pohl und Lothar deMaizière, dass es gelungen ist, die Einheit in Freiheit zuvollenden und letztendlich dem Auftrag der Menschendes 17. Juni gerecht zu werden.
Aber dass diese Stunde überhaupt kommen konnte,verdanken wir nicht zuletzt unserem unvergessenenbayerischen Ministerpräsidenten Dr. Franz Josef Strauß.
Strauß ist nie müde geworden, darauf zu drängen, denGrundlagenvertrag auf seine Verfassungskonformität zuüberprüfen. Bayerns Klage in Karlsruhe erwies sich alsein Glücksfall für die deutsch-deutsche Geschichte.
Es war nicht nur für mich – als Junge im Westen aufge-wachsen, der sich in keiner Weise so intensiv mit derGeschichte befasste – bedeutsam, dass Franz JosefStrauß bei den vielen Reden, die er hielt, immer auf diedeutsche Einheit hinwies. Als Junge hat man daran garnicht mehr geglaubt; das sage ich ganz offen. Es waraber richtig, dass klargestellt wurde, dass das Wiederver-einigungsgebot für alle Verfassungsorgane bindend ist.Damit ist es auch gelungen, auf der Grundlage desGrundgesetzes die Wiedervereinigung zu erreichen.Die Verweigerung der völkerrechtlichen Anerken-nung war Bayerns Beitrag zum Fall des Unrechtsstaates;denn so blieben wir Deutsche, was wir trotz Teilung im-mer waren: ein Volk – ein Volk, das stolz ist auf die Frei-heitskämpfer des 17. Juni.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Thomas Jurk für die SPD-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Unter meinen Zuhörern wird eswohl nur wenige geben, die die Gemeinde Krauschwitzin der Oberlausitz kennen. Sie liegt nur etwa 2 Kilometervon meinem Heimatort entfernt. Dort fuhren am 17. Juni1953 vor den Toren der Keulahütte, einer Eisengießerei,sowjetische Panzer auf, um gegen demonstrierende Ar-beiter den Ausnahmezustand durchzusetzen. Das zeigt,wie breit und umfassend der Aufstand und das Aufbe-gehren am 17. Juni 1953 tatsächlich waren. Es wareneben nicht nur die großen Zentren wie Berlin, Leipzigoder Dresden, in denen die Menschen ihrer Unzufrieden-heit Ausdruck verliehen. Es gab eben auch Görlitz,Niesky oder Krauschwitz.In Görlitz und Niesky wird heute, beinahe zeitgleich,traditionell der Ereignisse des 17. Juni 1953 gedacht. Inbeiden Städten schien der Volksaufstand am aussichts-reichsten zu verlaufen. In Niesky wurde die Kreisdienst-stelle des Ministeriums für Staatssicherheit besetzt, undin Görlitz hatten die Aufständischen gar komplett dieMacht übernommen. Sie bildeten für eine provisorischeVerwaltung ein Stadtkomitee, das umgehend die Amts-geschäfte aufnahm, und der alte Sozialdemokrat MaxLatt verkündete die Einsetzung eines Initiativkomiteeszur Wiedergründung der SPD. Erst als Sowjetarmee undkasernierte Volkspolizei von außerhalb in der Stadt ein-trafen, wurde der wohl erfolgreichste Aufstand jenes17. Juni niedergeschlagen.Sie werden sich fragen, woher ich, der erst neun Jahrespäter geboren wurde, so etwas wissen kann. Die Ant-wort ist ganz einfach: von meinem Vater. Über den17. Juni wurde in meiner Familie vor 1990 häufig ge-sprochen. Dabei meinten meine Eltern manches Mal:Wenn das am 17. Juni geklappt hätte! – Ja, die Menschenwollten schon damals ein besseres Leben, Freiheit undDemokratie. Dafür sind sie auf die Straße gegangen, be-freiten politische Häftlinge und entmachteten die Funk-tionäre der verhassten Staatsmacht.Den 17. Juni 1953 nicht selbst erlebt zu haben, ist einSchicksal, das ich mit immer mehr Menschen teile.Umso wichtiger ist die Bewahrung der Geschichte des17. Juni 1953, auch der Tage davor und der Tage danach.
Bewahrung setzt aber unverfälschte Geschichtsschrei-bung voraus. Deshalb will ich daran erinnern, dass der17. Juni 1953 in der Geschichtsschreibung der DDR alsfaschistischer Putsch, gesteuert aus dem Westen, diffa-miert wurde. Die DDR-Führungskaste hätte unter keinenUmständen zugegeben, dass es ausgerechnet die Arbei-ter waren, die sich gegen den sogenannten Arbeiter- undBauernstaat erhoben hatten. So wurden besonders jeneMenschen verunglimpft, die Demonstrationszüge an-führten oder auf Kundgebungen das Wort ergriffen.Diese Menschen bezahlten einen hohen Preis. Wemnicht rechtzeitig die Flucht in den Westen gelang, derwurde zu drakonischen Strafen verurteilt oder büßte garmit dem Leben. Jene Schicksale, jene Ereignisse, jeneKonsequenzen müssen in unserer Erinnerung weiterle-ben. Dabei bleiben die Schilderungen von Zeitzeugenunverzichtbar.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Juni 2015 10671
Thomas Jurk
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Heute können wir die ganze Geschichte neu insBlickfeld nehmen, zurück bis 1945 und vorwärts bis zurfriedlichen Revolution von 1989. Diese Geschichte isteine Geschichte des permanenten Wechselspiels vonHoffnungen und Enttäuschungen. Das gilt insbesonderefür das Jahr 1953 selbst. Denn mit dem Tod Stalins am5. März 1953 verbanden sich Hoffnungen, Hoffnungenauf ein Nachlassen des innenpolitischen Terrors gegenAndersdenkende und eine bessere Wirtschaftspolitik.Tatsächlich wurden diese Hoffnungen dann enttäuscht.Im April 1953 wurde beschlossen, ganzen Bevölke-rungsgruppen keine Lebensmittelkarten mehr zu gebenund die ohnehin horrenden HO-Preise für Lebensmittelzu erhöhen. Die schon vorher prekäre Versorgungslageverschlechterte sich weiter. Auch die Ermäßigungen fürdie Arbeiterfahrkarten wurden gestrichen. Gleichzeitigwurden die Produktionsnormen erhöht, was zu deutli-chen Lohneinbußen führte. Gerade deshalb ging derAufstand von den besonders stark betroffenen Arbeiternaus.Wenn ich eingangs von sowjetischen Panzern sprach,so waren es letztendlich diese, die den Volksaufstand zu-nichtemachten. Die Führung der Sowjetunion hatte auchnach dem Tode Stalins nicht die Absicht, die Einwohnerder DDR in die Freiheit oder gar in die Einheit zu entlas-sen. Dass der „große Bruder“ mit eiserner Faust 1956 inUngarn und 1968 in der Tschechoslowakei alle Demo-kratiebewegungen noch blutiger niederwalzte, machtdeutlich, wie wichtig für die friedliche Revolution desHerbstes 1989 die politischen Veränderungen unterMichail Gorbatschow in der ehemaligen Sowjetunionwaren.
Für die SPD war der 17. Juni immer ein besonderesDatum; denn der Aufstand war für uns Sozialdemokra-ten zuallererst ein Arbeiteraufstand. So ist es kein Wun-der, dass die Westdeutschen den Feiertag am 17. Juni ei-nem Sozialdemokraten zu verdanken hatten: HerbertWehner, dem aus Sachsen stammenden damaligen Vor-sitzenden des Bundestagsausschusses für gesamtdeut-sche Fragen. Er war es, der den Namen „Tag der Deut-schen Einheit“ vorschlug und mit der SPD-Bundestagsfraktion bei einer Abstimmung am 3. Juli1953 im Bundestag durchsetzte, sodass der 17. Juni zumNationalfeiertag wurde.Die damaligen Ereignisse sind für mich auch eine Er-mutigung für eine Politik des langen Atems. In einerZeit, in der mitunter eine Politik der Kurzatmigkeitherrscht, ist es wichtig, daran zu erinnern, dass Politikmehr ist als eine Anhäufung von Projekten, Kampagnenund Gesetzgebungsvorhaben. Das Erreichen der großenZiele und die Lösung von grundlegenden Menschheits-fragen brauchten manchmal Generationen. Rückschlägewie der, den die Menschen 1953 erlebten, waren nichtdas letzte Wort der Geschichte. Wie glücklich dürfen wirauch heute noch über die Wiedererlangung der EinheitDeutschlands sein.
Der 17. Juni 1953 bleibt ein herausragendes Datumder deutschen Geschichte, ein Tag zum Erinnern, ein Tagzum Gedenken und ein Tag zum Nachdenken. Was fürmich in besonderer Weise bleiben wird, ist die Bewunde-rung für die Menschen jener Zeit. Sie haben damals denBeweis erbracht, dass Zivilcourage auch in Zeiten größ-ter Entbehrungen und Gefahren möglich ist.
Das Wort hat der Kollege Dr. Harald Terpe für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Erinnerung an den 17. Juni erfordert von uns undauch von mir, dass wir uns zuallererst vor den Opfernverneigen. Opfer sind diejenigen, die getötet wordensind, aber es gibt auch viele Opfer, die in den Gefängnis-sen saßen, also Gerichtsprozesse bekommen hatten. Zuden Opfern zählt auch eine große Gruppe, die aus denEreignissen des 17. Juni 1953 Angst mitgenommen hat.Ich weiß aus persönlichem Erleben – auch ich bin einNachgeborener; ich wurde ein Jahr nach 1953 geboren –,dass die Angst vor den Repressalien, die Angst vor demNiederwalzen von Protesten in der DDR eine großeRolle gespielt hat. Diese Angst hat fortgewirkt. Zu Rechtist schon gesagt worden: Manchmal braucht es Genera-tionen, bis solch eine Angst wieder überwunden wird.Diese Generationen hat auch die ostdeutsche Bevölke-rung letztlich bis 1989 gebraucht. Wir als Nachgeborenekonnten uns von dieser Angst mehr befreien als viele,die den 17. Juni als eine Niederschlagung und Unterdrü-ckung von Freiheit und Recht in der DDR erlebt hatten.
Aber wie das immer so ist: Jedes Negative hat in derErinnerung letztlich auch etwas Positives. Man darfnicht vergessen, dass der 17. Juni 1953 am eindrucks-vollsten bewiesen hat, auf welchem Lügengebäude dieDDR-Führung ihren Staat gegründet hatte. Es sind ja inerster Linie die Arbeiter und Bauern gewesen – daraufist zu Recht hingewiesen worden –, die auf die Straßegegangen sind. Diese Arbeiter und Bauern wurden nunvon denen niedergewalzt, deren angebliche Ziele es wa-ren, alles für die Arbeiter und Bauern zu tun.Mit anderen Worten: Das Lügengebäude war offen-sichtlich. Das hat für die DDR, also für die ostdeutscheBevölkerung, Langzeitwirkungen gehabt, weil man vondem Augenblick an – so habe ich es zumindest erlebt –diesem Regime überhaupt kein Vertrauen mehr entge-gengebracht hat. Sie haben nie wieder irgendein Ver-trauen in der Bevölkerung erreichen können. Sie habensich auch gar nicht bemüht. Wie wir wissen, sind ja auchalle danach folgenden Wahlfälschungen und dergleichenmehr niemals vertrauensbildende Maßnahmen für dieBevölkerung der DDR gewesen. Ich verneige mich
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Dr. Harald Terpe
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heute auch vor denjenigen in Ostdeutschland, die gesagthaben: Es muss auch Leute geben, die in Ostdeutschlandbleiben und den Freiheits- und Gerechtigkeitsgedankenweitertragen.
Das hat dann 1989 zu der friedlichen Revolution ge-führt. „Keine Gewalt“, das war eine hochpolitische Lo-sung. Ich kann mich noch gut erinnern, wie wir organi-siert haben, dass wir mit dieser Losung auf jeden Fallverhindern, dass es zu einem gewalttätigen Eingreifendes Staates kommt. Das ist wirklich ein großes Glück.Ich kann Iris Gleicke nur sagen: Wir haben da natürlicherhebliches Glück gehabt, dass das nicht passiert ist. Wirkönnen alle nur dafür danken, dass es so gekommen ist.
Lassen Sie mich zum Abschluss an uns, aber auch andie Zuhörer auf den Rängen appellieren, niemals zuzu-lassen, dass solche Geschichtsereignisse umgedeutetwerden; denn das ist etwas, was die DDR eindrucksvollgemacht hat. Sie hat es in mehreren Jahrzehnten ge-schafft, das nahezu in Vergessenheit zu bringen. Es istklar: Es war für sie ja auch brisant, Arbeiter und Bauernniederzuschießen und dazu dann Stellung zu nehmen. Inder geschichtlichen Erinnerung gerade der nachwach-senden DDR hat der 17. Juni 1953 nur dort eine Rollegespielt, wo auch Familien betroffen waren. Ansonstenwar er aus den Geschichtsbüchern gestrichen oder wurdeals faschistischer Putsch usw. diffamiert. Wir können sa-gen, dass es heute wieder ähnliche Propagandaausdrückegibt, wenn es irgendwo darum geht, Freiheitsbewegun-gen niederzuschlagen.
Ich glaube, wir Deutschen haben aufgrund unserer Ge-schichte, auch aufgrund unserer glücklichen Geschichteder letzten Jahrzehnte, eine große Verantwortung, unsfür die demokratischen und rechtsstaatlichen Freiheits-bewegungen in anderen Ländern zu engagieren unddiese zu unterstützen.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Dr. Thomas Feist für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kollegen!Sehr verehrte Damen und Herren! Wir haben heute zumGedenken an den 17. Juni 1953 vieles gehört, auch vie-les Richtige. Allerdings muss ich sagen, dass ich, wennich mich an die Demonstrationen 1989 in Leipzig erin-nere, schon ein Problem damit habe, dass wir dafürdankbar sein sollen, dass die Staatsmacht in ihrer Ohn-macht nicht auf uns geschossen hat. Dafür fehlt mir jeg-liches Verständnis.
In unserem Haus der Geschichte in Leipzig ist einWarnhinweis zu lesen. Darauf steht: Warnung! Ge-schichte kann zu Einsichten führen und verursacht Be-wusstsein. – Es ist wichtig, dass wir uns an geschichtli-che Daten wie den 17. Juni 1953 erinnern. Denn ohneden 17. Juni 1953 ist weder der 9. Oktober 1989 in Leip-zig mit 70 000 Demonstranten zu denken noch der9. November mit dem Fall der Berliner Mauer und erstrecht nicht der 3. Oktober 1990 auf dem Weg zur deut-schen Einheit. Deswegen ist es wichtig, immer und im-mer wieder an den 17. Juni 1953 und an die mutigenMänner und Frauen dieses Tages auch hier im DeutschenBundestag zu erinnern.
Herr Kollege Straubinger hat darauf hingewiesen,dass er heute einmal eine Presseschau unternommen undnachgeschaut hat, wer an den 17. Juni 1953 erinnert.Dieser Tag ist in der öffentlichen Wahrnehmung in derTat unterbelichtet. Umso wichtiger ist es, dass wir hierim Deutschen Bundestag Jahr für Jahr an den 17. Ju-ni 1953 erinnern.Ich möchte mich stellvertretend für eine Behördeauch bei Roland Jahn bedanken, dem Bundesbeauftrag-ten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes derehemaligen DDR, weil diese Behörde eine der wenigenist, die Jahr für Jahr mit sehr guten Veranstaltungen andie Männer und Frauen von 1953 erinnert. Vielen herzli-chen Dank dafür.
Wenn man über die Geschichte spricht, dann mussman auch darüber reden, welche Lehren wir daraus zie-hen. Ich habe vorhin schon gesagt, dass ich ein Problemdamit habe, dass wir über das Glück hinaus, das wir1989 hatten, dankbar dafür sein sollen, dass wir damalsnicht erschossen worden sind. Ich muss sagen: Auchheute ist hier noch vieles in einer Grauzone – auch in derhistorischen Bewertung. Ich schaue jetzt keine Partei imSpeziellen an; in Thüringen sind mehrere an der Regie-rung. Walter Ulbrichts großartige Devise lautete:Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssenalles in der Hand haben.Damit zeigt der Hinweis auf die Dankbarkeit in Be-zug auf die Truppen, die uns nicht erschossen haben, et-was vom – so könnte man sagen – totalitären Denken,das in einem demokratischen Rechtsstaat zumindest be-fremdlich wirkt.
Es ist schon viel zu den Umständen gesagt worden,die dazu geführt haben, dass Hunderttausende Menschen– man spricht von bis zu 1,5 Millionen – in der gesamten
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Juni 2015 10673
Dr. Thomas Feist
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DDR – nicht nur in Berlin, nicht nur in Leipzig, sondernüberall – auf die Straße gegangen sind. Es war eine pro-grammatische Sache, die dazu geführt hat, dass die Un-zufriedenheit der Leute mit diesem Unrechtsregime derDDR gewachsen ist.Die Programme zum planmäßigen Aufbau des Sozia-lismus – so hießen sie – vernichteten im Zuge derZwangskollektivierung Tausende Existenzen von priva-ten Unternehmern, Bauern und Selbstständigen. Politi-sche Mündigkeit bezahlten Tausende mit hohen Zucht-hausstrafen. Einer, der davon betroffen war, derSchriftsteller und Leipziger Ehrenbürger Erich Loest,berichtete, dass sich die Aufständischen des 17. Juni,wenn sie sich im Zuchthaus begegnet sind, mit der For-mel „Beim nächsten Mal klappt’s“ grüßten. Daraufmussten sie allerdings 36 Jahre warten. Deswegen ist esumso wichtiger, dass wir in der Euphorie einer glücklichverlaufenen, friedlichen Revolution und einer gelunge-nen Wiedervereinigung an die Menschen denken, die am17. Juni 1953 ihr Leben riskierten, um gegen das Un-rechtsregime in der damaligen DDR zu protestieren.
Vor zwei Jahren hat Werner Schulz in Leipzig einebemerkenswerte Rede zum 17. Juni 1953 gehalten. Erhat darin auf einige Dinge hingewiesen, die auch dieVerfolgungsangst der Mächtigen in der DDR in späterenZeiten deutlich dokumentiert haben. So konnte zum Bei-spiel die Zahl der Interzonenzüge, die am 17. Juni ver-kehren durften, 16 oder 18 sein, aber niemals 17. Dasmuss man sich einmal vorstellen! Erich Mielke hat seineUntergebenen Ende August 1989, als die Lage in derDDR für die Staatsmacht immer bedrohlicher wurde, ge-fragt: „Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?“Dieses Datum war natürlich in den Köpfen der Herr-schenden, aber auch noch in den Köpfen der Eltern,Großeltern und auch Kinder, die über diesen Tag gespro-chen und sich im Geheimen in der DDR – auch das gabes nämlich – dieser Menschen erinnert haben.Da wir in Leipzig nicht nur glückliche Erfahrungenmit dem Errichten von Denkmälern haben, möchte icheinmal ein geglücktes herausheben, das den17. Juni 1953 betrifft. 2003 wurde die Straße, in der am17. Juni 1953 ein junger Mann erschossen worden ist, in„Straße des 17. Juni“ umbenannt. Im selben Jahr habensich 20 junge Leute gesagt: Wir wollen an diesen Tag er-innern. – Junge Leute, wohlgemerkt. Sie haben Unter-stützer – unter anderem auch den ehemaligen Bundes-tagsvizepräsidenten Thierse, der sich dieser Bewegungangeschlossen hatte – bekommen. Sie haben Folgendesgesagt: Wir warten jetzt nicht auf öffentliche Förderun-gen, sondern wir machen das einfach. – Sie haben dasGeld dafür zusammenbekommen. Seitdem erinnern imStadtzentrum von Leipzig – wenn Sie auf der linkenSeite vor dem Alten Rathaus stehen, können Sie es sehen –ins Pflaster eingelassene bronzene Kettenabdrücke anden 17. Juni 1953 und an die mutigen Männer dieses Ta-ges.
Es ist schon angesprochen worden, dass der 17. Juni1953 in einer ganzen Reihe anderer Daten steht. DerPrager Frühling ist angesprochen worden. Auch Ungarnwurde erwähnt. Natürlich wurde aber auch die friedlicheRevolution in der DDR angesprochen. Der wesentlicheUnterschied, der aus meiner Sicht zwischen 1953 und1989 besteht, ist, dass 1989 nicht nur deshalb geglücktist, weil die Menschen mutiger waren, sondern weil inder Sowjetunion ein Mann regiert hat, der MichailGorbatschow hieß. Der ist für Glasnost und Perestroika,für Transparenz und Rechtsstaatlichkeit eingetreten.Plötzlich waren die Machthaber in der alten DDR – die,wie Kurt Hager es einmal formulierte, ihre Wohnungennicht neu tapezieren, wenn der Nachbar es macht – völ-lig verunsichert. Die Menschen, die 1989 auf die Straßegegangen sind – ich war einer von ihnen –, haben ge-wusst, dass von dieser Seite keine Bedrohung kommtund dass auf der anderen Seite – nämlich bei den „be-waffneten Organen“, wie es damals hieß – natürlich auchFreunde und Bekannte waren, bei denen die Schwellewesentlich höher lag, auf die eigenen Leute, auf die ei-gene Familie zu schießen. Deswegen ist es an diesemTag – wenn wir an den 17. Juni 1953 erinnern – gerecht-fertigt, an Michail Gorbatschow zu denken und uns auchbei ihm zu bedanken, dass wir 1989 die Möglichkeit zurFreiheit für alle und 1990 die Möglichkeit der Einheit füralle hatten.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache und danke ausdrücklich
allen Beteiligten – nicht nur denen, die hier vorne am
Redepult standen, sondern allen hier im Saal – für ihr
Engagement und ihre Teilnahme an dieser Debatte.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen
Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 18. Juni 2015,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.