Protokoll:
18094

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 18

  • date_rangeSitzungsnummer: 94

  • date_rangeDatum: 19. März 2015

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 21:53 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 18/94 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 94. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 I n h a l t : Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8881 A Absetzung des Tagesordnungspunktes 12 . . . 8881 B Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . . 8881 C Tagesordnungspunkt 4: Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin: zum Europäischen Rat am 19./20. März 2015 in Brüssel . . . . . . . . . 8881 B Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin . . . . . . . 8882 A Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE) . . . . . . 8885 D Thomas Oppermann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 8888 C Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8892 A Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 8893 D Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8896 C Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 8897 A Dirk Becker (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8897 C Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8898 C Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 8899 C Norbert Spinrath (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 8901 B Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU) . . . . . . . . 8902 B Matern von Marschall (CDU/CSU) . . . . . . . . 8903 C Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . 8904 B Tagesordnungspunkt 5: a) Antrag der Abgeordneten Caren Lay, Eva Bulling-Schröter, Kerstin Kassner, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Energienetze zurück in die öf- fentliche Hand – Rechtssicherheit bei der Rekommunalisierung schaffen Drucksache 18/4323 . . . . . . . . . . . . . . . . . 8905 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Wirtschaft und Energie zu dem Antrag der Abgeordneten Caren Lay, Eva Bulling-Schröter, Kerstin Kassner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Übernahme der Energie- netze durch Stadtwerke erleichtern Drucksachen 18/3745, 18/4222 . . . . . . . . 8905 D Caren Lay (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 8906 A Thomas Bareiß (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 8907 D Caren Lay (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 8908 B Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8910 C Florian Post (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8912 A Christian Kühn (Tübingen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8912 D Jens Koeppen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 8913 B Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8915 D Jens Koeppen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 8916 A Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . 8916 B Johann Saathoff (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8917 C Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8919 A Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 Thomas Bareiß (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 8920 A Barbara Lanzinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 8920 D Uwe Beckmeyer, Parl. Staatssekretär BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8922 C Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8923 D Uwe Beckmeyer, Parl. Staatssekretär BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8924 B Ingbert Liebing (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 8924 C Bernhard Daldrup (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 8926 C Tagesordnungspunkt 6: a) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Fortschrittsbericht 2014 zum Fachkräf- tekonzept der Bundesregierung Drucksache 18/4015 . . . . . . . . . . . . . . . . . 8928 B b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Fortschrittsbericht 2013 zum Fachkräf- tekonzept der Bundesregierung Drucksache 18/796 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8928 B Andrea Nahles, Bundesministerin BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8928 C Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8930 A Karl Schiewerling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 8931 A Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8932 C Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8933 C Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 8934 C Albert Weiler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 8935 A Tobias Zech (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 8936 B Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8937 C Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . . 8938 C Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU) . . . . . . . 8939 C Uwe Lagosky (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 8940 C Zusatztagesordnungspunkt 2: Vereinbarte Debatte: zu den Vorkommnissen in Frankfurt anlässlich der Einweihung der EZB-Zentrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8941 C Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8941 D Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 8944 A Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8944 D Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 8945 A Albert Weiler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 8946 A Johannes Kahrs (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8946 D Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8948 A Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . 8949 B Sabine Leidig (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 8949 C Burkhard Lischka (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 8951 C Tagesordnungspunkt 21: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zum Internationalen Erbrecht und zur Änderung von Vorschriften zum Erbschein sowie zur Änderung sonsti- ger Vorschriften Drucksache 18/4201 . . . . . . . . . . . . . . . . . 8952 B b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung der Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsge- fährdenden Gewalttaten (GVVG-Ände- rungsgesetz – GVVG-ÄndG) Drucksache 18/4279 . . . . . . . . . . . . . . . . . 8952 B c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung des Personalausweis- gesetzes zur Einführung eines Ersatz- Personalausweises und zur Änderung des Passgesetzes Drucksache 18/4280 . . . . . . . . . . . . . . . . . 8952 C Tagesordnungspunkt 22: a)–g) Beratung der Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses: Sammelübersichten 157, 158, 159, 160, 161, 162 und 163 zu Petitionen Drucksachen 18/4207, 18/4208, 18/4209, 18/4210, 18/4211, 18/4212, 18/4213 . . . . 8952 D Kersten Steinke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 8953 A Zusatztagesordnungspunkt 3: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE: Reiches Land – Arme Kinder 8954 A Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 8954 A Jutta Eckenbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 8955 A Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8956 C Susann Rüthrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 8957 C Norbert Müller (Potsdam) (DIE LINKE) . . . . 8958 C Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 III Kai Whittaker (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 8959 D Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8960 D Bärbel Bas (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8962 B Dr. Martin Pätzold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 8963 B Frank Junge (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8964 A Gabriele Schmidt (Ühlingen) (CDU/CSU) . . 8965 A Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 8966 A Tagesordnungspunkt 7: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung von Emp- fehlungen des NSU-Untersuchungsaus- schusses des Deutschen Bundestages Drucksachen 18/3007, 18/4357 . . . . . . . . . 8967 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucher- schutz zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Luise Amtsberg, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Hasskriminalität wirkungsvoll statt sym- bolisch verfolgen Drucksachen 18/3150, 18/4357 . . . . . . . . 8967 C Dr. Johannes Fechner (SPD) . . . . . . . . . . . . . 8967 D Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . 8968 C Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 8970 A Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . 8971 A Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8971 B Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD) . . . . . . . . . . . . 8972 D Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 8973 C Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8974 B Michelle Müntefering (SPD) . . . . . . . . . . . . . 8975 A Dietrich Monstadt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 8975 C Tagesordnungspunkt 8: Antrag der Abgeordneten Dr. Franziska Brantner, Katja Dörner, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Alleinerziehende stärken – Teilhabe von Kindern sichern Drucksache 18/4307 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8976 D Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8977 B Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . 8978 B Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 8979 D Dr. Fritz Felgentreu (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 8981 A Gudrun Zollner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 8982 C Stefan Schwartze (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 8983 B Bettina Hornhues (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 8984 B Tagesordnungspunkt 9: Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streit- kräfte an der EU-geführten Ausbildungs- und Beratungsmission EUTM Somalia auf Grundlage des Ersuchens der somalischen Regierung mit Schreiben vom 27. Novem- ber 2012 und 11. Januar 2013 sowie der Be- schlüsse des Rates der Europäischen Union vom 15. Februar 2010 und 22. Januar 2013 in Verbindung mit den Resolutionen 1872 (2009) und 2158 (2014) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen Drucksache 18/4203 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8985 C Michael Roth, Staatsminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8985 D Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 8986 D Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8988 A Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8989 B Lars Klingbeil (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8990 C Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 8991 C Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8992 C Michael Vietz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 8992 D Tagesordnungspunkt 10: a) Antrag der Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Transparenz herstellen – Ein- führung eines verpflichtenden Lobbyis- tenregisters Drucksache 18/3842 . . . . . . . . . . . . . . . . . 8993 D b) Antrag der Abgeordneten Britta Haßelmann, Volker Beck (Köln), Luise Amtsberg, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Transpa- renz schaffen – Verbindliches Register für Lobbyistinnen und Lobbyisten ein- führen Drucksache 18/3920 . . . . . . . . . . . . . . . . . 8993 D Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 8994 A Bernhard Kaster (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 8995 C IV Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8997 A Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8998 A Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 8999 B Dr. Katarina Barley (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 9000 B Tagesordnungspunkt 11: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Neunten Ge- setzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften Drucksache 18/4202 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9001 C Enak Ferlemann, Parl. Staatssekretär BMVI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9001 C Sabine Leidig (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 9002 C Kirsten Lühmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 9003 C Matthias Gastel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9004 C Oliver Wittke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 9005 C Martin Burkert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9007 A Daniela Ludwig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 9008 A Zusatztagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Friedrich Ostendorff, Harald Ebner, Nicole Maisch, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Männliche Eintagsküken leben lassen Drucksache 18/4328 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9008 D Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9009 A Dieter Stier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 9010 A Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9010 D Harald Ebner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9011 A Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . 9011 D Christina Jantz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9012 D Artur Auernhammer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 9013 D Tagesordnungspunkt 13: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Ge- setzes zur Änderung des Bundesfernstra- ßengesetzes Drucksache 18/4281 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9014 C Patrick Schnieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 9014 D Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . 9015 D Gustav Herzog (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9016 D Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9018 A Gero Storjohann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 9018 D Tagesordnungspunkt 14: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Ernährung und Landwirtschaft zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Caren Lay, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Keine Privatisierung von Ackerland und Wäldern durch die Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH Drucksachen 18/1366, 18/2036 . . . . . . . . . . . 9020 A Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . 9020 B Hans-Georg von der Marwitz (CDU/CSU) . . 9021 A Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9022 B Jeannine Pflugradt (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 9023 A Carola Stauche (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 9024 B Tagesordnungspunkt 15: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Agrar- und Fischereifonds- Informationen-Gesetzes und des Betäu- bungsmittelgesetzes Drucksache 18/4278 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9025 B Tagesordnungspunkt 16: Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- nanzausschusses zu dem Antrag der Abgeord- neten Luise Amtsberg, Volker Beck (Köln), Hans-Christian Ströbele, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Kontoeröffnungen für Flüchtlinge ermöglichen Drucksachen 18/905, 18/4137 . . . . . . . . . . . . 9025 C Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9025 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 9027 A Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 V Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Agrar- und Fischereifonds-Informationen- Gesetzes und des Betäubungsmittelgesetzes (Tagesordnungspunkt 15) . . . . . . . . . . . . . . . . 9027 C Hermann Färber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 9027 C Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) . . . . . . . . . . . 9028 B Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . 9029 B Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9029 D Peter Bleser, Parl. Staatssekretär BMUB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9030 C Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Kontoeröffnungen für Flüchtlinge ermögli- chen (Tagesordnungspunkt 16) . . . . . . . . . . . . 9031 B Olav Gutting (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 9031 B Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU) . . . . . 9032 A Dr. Jens Zimmermann (SPD) . . . . . . . . . . . . 9032 C Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 9034 A Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9034 D Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 8881 (A) (C) (D)(B) 94. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 Beginn: 9.00 Uhr
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    1) Anlage 2 2) Anlage 3 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 9027 (A) (C) (D)(B) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Barthel, Klaus SPD 19.03.2015 Behrens, Herbert DIE LINKE 19.03.2015 Benning, Sybille CDU/CSU 19.03.2015 Dr. Böhmer, Maria CDU/CSU 19.03.2015 Brugger, Agnieszka BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 19.03.2015 Bülow, Marco SPD 19.03.2015 Dr. Gauweiler, Peter CDU/CSU 19.03.2015 Gottschalck, Ulrike SPD 19.03.2015 Groth, Annette DIE LINKE 19.03.2015 Hajduk, Anja BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 19.03.2015 Hartmann (Wackern- heim), Michael SPD 19.03.2015 Hintze, Peter CDU/CSU 19.03.2015 Höhn, Bärbel BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 19.03.2015 Dr. Krüger, Hans-Ulrich SPD 19.03.2015 Dr. Launert, Silke CDU/CSU 19.03.2015 Leutert, Michael DIE LINKE 19.03.2015 Menz, Birgit DIE LINKE 19.03.2015 Mißfelder, Philipp CDU/CSU 19.03.2015 Dr. Müller, Gerd CDU/CSU 19.03.2015 Dr. Reimann, Carola SPD 19.03.2015 Rix, Sönke SPD 19.03.2015 Dr. Rosemann, Martin SPD 19.03.2015 Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 19.03.2015 Schimke, Jana CDU/CSU 19.03.2015 Schwarzelühr-Sutter, Rita SPD 19.03.2015 Spahn, Jens CDU/CSU 19.03.2015 Wicklein, Andrea SPD 19.03.2015 Dr. Zimmer, Matthias CDU/CSU 19.03.2015 Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Agrar- und Fischereifonds-Infor- mationen-Gesetzes und des Betäubungsmittel- gesetzes (Tagesordnungspunkt 15) Hermann Färber (CDU/CSU): So dankbar ich der Bundesregierung bin, dass sie hier versucht hat, Schlim- meres zu verhindern, so unzufrieden bin ich nach wie vor mit dem Gesamtergebnis. Ich kenne alle technischen Argumente, die zu diesem Ergebnis geführt haben, und ich kann sie auch teilweise nachvollziehen. Die Bundes- regierung hat auf europäischer Ebene unsere daten- schutzrechtlichen Bedenken sehr deutlich gemacht, ist aber leider nicht auf hinreichende Zustimmung gestoßen. Ich wundere mich schon sehr, dass manche Kreise, die das Recht auf informationelle Selbstbestimmung sonst für unverzichtbar halten, nun im Falle der Land- wirtschaft keinerlei Probleme mit einer meiner Ansicht nach massiven Verletzung dieses Rechtes haben. Deutschland ist nun in der Pflicht, diese EU-Verordnung umzusetzen. Wir dürfen hier aber trotzdem nicht die politische Wir- kung unserer Entscheidungen aus den Augen verlieren: Dieses Gesetz wird dazu führen, dass wieder einmal ein Berufsstand, der heute schon unter vielen Diffamie- rungen in der Öffentlichkeit zu leiden hat, an den Pran- ger gestellt wird. Wieder einmal wird die Landwirtschaft anders – und zwar strenger – behandelt als jede andere Branche in Deutschland. Bei keinem anderen Subventionsfonds der EU wer- den die Zahlungen an natürliche Personen veröffentlicht. Und bei Subventionen, die auf nationaler Ebene verteilt werden, etwa durch das Wirtschaftsministerium, werden Einzelempfänger überhaupt nicht ausgewiesen. Ich weiß, es gibt rechtstechnische Gründe dafür. Aber wir müssen hier auch das Ergebnis verantworten. Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Anlagen 9028 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 (A) (C) (D)(B) Wir beklagen uns hier in diesem Hause gerne über den Strukturwandel in der Landwirtschaft, wir beklagen das Höfesterben. Aber wie soll ein angehender junger Land- wirt denn überhaupt noch das Gefühl dafür entwickeln, dass seine Arbeit hier in Deutschland politisch gewollt und gesellschaftlich unterstützt wird? Jeder Landwirt muss sich demnächst in seinem persönlichen Umfeld für erhaltene Subventionen rechtfertigen. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass er dies auch vor Leuten tun muss, die ihrerseits Subventionen erhalten haben, die aber nicht veröffentlicht werden müssen. Diese Ungleichbe- handlung ist für mich nicht zu rechtfertigen, und ich kann sie auch keinem Landwirt erklären. Die Ungleichbehandlung ist das Problem. Hier wäre mindestens zu verlangen, dass sich die Bundesregierung, die diesem Verfahren in Brüssel zuge- stimmt hat, deutlich vor die Landwirte stellt und jeder Fehlinterpretation klar und deutlich entgegentritt. Und das ist jetzt keine Forderung an den Landwirtschafts- minister, der in dieser Hinsicht sehr aktiv ist, sondern an die gesamte Bundesregierung und an das ganze Haus. Landwirte leisten für die erhaltenen Zahlungen einen klaren und definierbaren Gegenwert. Sie erbringen Leis- tungen für die Gesellschaft, die über den Preis nicht ab- gedeckt sind. Für eine reine Neiddebatte besteht also keinerlei Anlass. Das muss unzweifelhaft deutlich gemacht werden, und zwar so, dass es auch wirklich bei der Masse der Be- völkerung ankommt. Die Bundesregierung hat in ihrem Gesetzentwurf eine missbräuchliche Verwendung der Daten mit einem Buß- geld von bis zu 300 000 Euro bewehrt. Aber was ist eine missbräuchliche Nutzung dieser Daten? Ist eine Verwen- dung der Daten zu Kampagnenzwecken bereits Miss- brauch? Nach meiner Ansicht ja, aber rechtlich vermutlich nicht. Auch hier brauchen wir eine klare Grenzziehung, die die Landwirte mit den Problemen nicht alleinlässt. Wir haben in den letzten Jahren den Landwirten in diesem Land schon eine Menge zugemutet. So richtig und notwendig viele Einzelmaßnahmen gewesen sein mögen, so dringend warten die Landwirte in Deutsch- land auf ein politisches Signal aus diesem Haus, dass ihre wichtige Arbeit gewürdigt wird und dass auch ihre Interessen einmal eine Rolle spielen. Ich finde, wir soll- ten uns alle Gedanken machen, wie ein solches klares Si- gnal aussehen könnte. Der vorliegende Gesetzentwurf ist es leider nicht, er konnte es auch nie sein. Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Im Rahmen der eu- ropäischen Transparenzinitiative informiert die EU- Kommission die europäischen Bürger über die Verwen- dung der EU-Haushaltsmittel. Das betrifft nicht nur die Ausgaben des Agrarhaushaltes, auch die Empfänger von Geldern aus dem ESF oder von Wirtschaftsförderung aus dem EFRE werden veröffentlicht. In anderen Mit- gliedstaaten gibt es darüber keine Diskussionen, es ist selbstverständlich. Transparenz stärkt das Vertrauen der europäischen Bürgerinnen und Bürger in die europäischen Institutio- nen, in die Wirtschaftlichkeit ihrer Haushaltsführung und den Nutzen für die Gesellschaft. Daher unterstützt die SPD diese Zielsetzung nachdrücklich. Darum kann ich auch die Vorbehalte im Bereich der Landwirtschaft nicht nachvollziehen. Transparenz muss selbstverständlich auch für die Zah- lungen im Agrarsektor gelten. Immerhin beansprucht der Agrarsektor mit 55 Milliarden Euro immer noch über 40 Prozent der EU-Haushaltsmittel. In Deutschland be- trifft das rund 320 000 Zahlungsempfänger und umfasst ein Gesamtvolumen von 6,5 Milliarden Euro EU-Mit- teln. Ich muss aber ganz ehrlich sagen: Ich bin enttäuscht, was die Terminierung des Gesetzes angeht. Bis zum 31. Mai 2015 sind die europäischen Vorgaben in deut- sches Recht umsetzen. Sonst droht ein Vertragsverlet- zungsverfahren. Die Zeit drängt also. Das Ministerium lässt uns mit dem vorliegenden Gesetzentwurf einmal wieder gerade so auf der Zielgeraden einlaufen. Dafür habe ich wenig Verständnis. Was den Umfang und die Art der jetzt vorliegenden Veröffentlichungsrechte angeht, sind andere europäische Staaten wesentlich weiter. Die Bedenken der Bundesre- gierung gegen die Veröffentlichungen der Zahlungsemp- fänger werden weder von der EU-Kommission noch vom Europäischen Parlament noch von den anderen EU- Staaten geteilt. Diese spezielle deutsche Sicht auf die Dinge scheint mir maßgeblich vom Deutschen Bauernverband beein- flusst. Der DBV hat sich wieder einmal als der größte Bremser gezeigt. Sicherlich bieten die Zielsetzung und die Ausrichtung der Direktzahlungen immer wieder An- lass zur Diskussion. Dieser muss man sich aber dann auch stellen und nicht ausweichen. Ich bin davon über- zeugt, dass die Veröffentlichungspflichten am Ende der Landwirtschaft dienen werden. Die Kritik des Berufs- standes und des Bauernverbandes am Umfang der Veröf- fentlichungspflichten ist daher unverhältnismäßig. Die verbindlichen EU-rechtlichen Vorgaben sehen eine Veröffentlichung der Empfänger von Zahlungen aus den EU-Agrarfonds inklusive natürlicher Personen vor. Veröffentlicht werden: Vorname und Name, die Ge- meinde, in der der Empfänger wohnt oder eingetragen ist, sowie gegebenenfalls die Postleitzahl, die Höhe der gezahlten Beträge, die im Haushaltsjahr zugeflossen sind, sowie Angaben zur Währung. Es ist richtig und wichtig, dass die Transparenz der Zahlungen, der Datenschutz und die Subventionskon- trolle in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht werden. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir mit diesem Gesetz die vom Europäischen Gerichtshof gemachten Vorgaben rechtsfest umsetzen. Wir gewährleisten dadurch den rechtssicheren Vollzug in Deutschland. Wir legen den Schwellenwert für die Höhe der Beihilfezahlungen, un- terhalb dessen der Name des Begünstigten nicht veröf- fentlicht wird, auf 1 250 Euro fest. Das halte ich für an- gemessen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 9029 (A) (C) (D)(B) Der nunmehr vorliegende Gesetzentwurf beinhaltet im Übrigen auch ausreichende Regelungen zum Verbot und zur Ahndung von missbräuchlichen Verwendungen der Daten der Zahlungsempfänger. Ich bin davon über- zeugt, dass damit alle Persönlichkeitsrechte und der Da- tenschutz ausreichend gewahrt werden. Bloße statistische Durchschnittszahlen und eine Auf- listung der Zahlungsempfänger ausschließlich nach Post- leitzahlen reichen nicht aus. Für Sozialdemokraten gilt der Grundsatz, dass wir zukünftig nur noch öffentliches Geld für öffentliche Leistungen ausgeben wollen. Land- wirte erbringen Leistungen im Bereich des Umwelt-, Tier-, Boden- und Gewässerschutzes. Dazu kommen die Maßnahmen zum Erhalt unserer Kulturlandschaft und der Biodiversität. Diese konkreten Maßnahmen wollen wir auch zukünftig mit öffentlichem Geld bezahlen. Die Gießkanne als Verteilungsprinzip sollte doch aus- gedient haben. Pauschale Zahlungen sind ein Auslauf- modell. Deshalb müssen wir uns schon heute Gedanken darüber machen, an welchen Stellen wir die europäische Agrarpolitik weiterentwickeln wollen. Einen guten Anlass bietet die Halbzeitbewertung 2017 der europäischen Agrarpolitik. Spätestens dann sollten wir den Einstieg in den Ausstieg aus dem bisherigen Di- rektzahlungssystem einläuten. In der Perspektive müs- sen wir aus dem bisherigen Zahlungssystem aussteigen und das Zweisäulenmodell aufgeben. Eine Umschich- tung weiterer Mittel von der 1. in die 2. Säule ist als nächster Schritt unerlässlich. In diesem Zusammenhang plädiere ich dafür, ab 2017 mehr als die bisher vereinbarten 4,5 Prozent für eine sinnvolle Politik zur Entwicklung der ländlichen Räume umzuschichten. Dabei sind doch 25 Prozent möglich. Alle Bundesländer haben in der Sitzung des Bundes- rates am 6. März 2015 dem Gesetzentwurf ohne Einwen- dungen zugestimmt. Ich hoffe daher, dass auch die Op- position diesem Gesetzentwurf in den anschließenden Beratungen im zuständigen Ausschuss zustimmen wird. Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Alle europäi- schen Landwirtschaftsbetriebe bekommen nach be- stimmten Regeln Agrarsubventionen aus Brüssel. Doch wer wie viel Geld wofür bekommt, ist oft unklar. Trans- parenz sollte aber gerade bei der Verwendung von öffentlichen Geldern aus Sicht der Linken eine Selbst- verständlichkeit sein. Und wenn in der Agrarförderung unser Prinzip gelten würde „öffentliches Geld für öffentliche Leistung“, wäre es doch geradezu grotesk, diese öffentliche Leistung und ihre finanzielle Unterstützung nicht allgemein zugäng- lich zu machen. Ich kann nicht nachvollziehen, welche Neiddebatte sich daraus entwickeln soll. Diese Behaup- tung der Union und des Bauernverbandes halte ich für vorgeschoben. Im Gegenteil würden wir Linken es sogar begrüßen, wenn diese Transparenzregeln für alle Wirtschaftsberei- che gelten würden. Wichtig ist uns allerdings, dass die Veröffentlichungspflicht nicht nur für Agrargenossen- schaften oder GmbHs gilt, sondern für alle, also auch für Familienbetriebe. Das ist nicht selbstverständlich. Im Jahr 2010 hat die damalige Bundesagrarministerin Ilse Aigner ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs zum Anlass genommen, natürliche Personen, also Fami- lienbetriebe, wieder von der Veröffentlichungspflicht zu befreien. Die EU-Kommission hat sich damit nicht zufriedengegeben und eine Lösung gefordert, um die Transparenz zu erhöhen, ohne den personenbezogenen Datenschutz zu verletzen. Durch die heute vorliegende Gesetzesänderung wird nachgebessert und Transparenz wieder für alle zur Pflicht, was übrigens im Zuge der EU-Agrarreform auch breiter Konsens war. Auf der Internetseite www.agrar-fischerei-zahlungen.de können sich demnächst alle Interessierten ein eigenes Bild darüber machen, was mit den EU-Geldern finanziert wird. Auf der Seite sind auch grundsätzliche Informationen zu allen EU-Agrarfonds einsehbar, also sowohl zum ELER-Fonds zur Entwicklung des ländlichen Raums als auch zum Fonds mit den Direktzahlungen für die Land- wirtschaftsbetriebe und auch zum Meeresfischereifonds. Leider sind die Informationen, wie so oft, sehr leseun- freundlich sortiert und für Laien schwer verständlich. Das sollte so schnell wie möglich geändert werden, wenn man es mit Transparenz und Öffentlichkeit ehrlich meint. Die EU-Kommission will damit auch der Notwendigkeit einer öffentlichen Kontrolle über die Ver- wendung der Mittel aus den europäischen Agrarfonds gerecht werden. Die Daten stehen zwei Jahre online. Auch aus Sicht der Linksfraktion trägt mehr Transparenz vor allem zu mehr Akzeptanz bei. Und mehr Akzeptanz benötigt die EU-Agrarpolitik dringend. Denn es geht nach wie vor um einen, zwar kleiner werdenden, aber immer noch er- heblichen Anteil am EU-Haushalt. Und es ist offen, ob und wie die EU-Agrargelder in der nächsten Agrar- förderperiode nach 2020 verteilt werden sollen. Es gibt immer mehr Stimmen, die diese Direktzahlun- gen an Agrarbetriebe infrage stellen. Der Deutsche Bau- ernverband sollte eher darauf achten, dass niemand auf die Idee kommt, es solle hier etwas verschleiert werden. Zum Beispiel die Agrarsubventionen, die auch der eine oder andere Bundestagsabgeordnete bekommt, wie auf der Plattform abgeordnetenwatch nachzulesen ist. Eine solche Debatte wäre nun ganz und gar nicht im Interesse der Agrarbetriebe. Also sollte man besser offen damit umgehen und zeigen, dass das Geld im Interesse des Ge- meinwohls gut angelegt ist. Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Transparenz ist notwendig für Demokratie! Infor- miertheit ist Voraussetzung für eigene Entscheidungen! Wissen ist Bedingung für Beteiligung! Die Akzeptanz dieser wichtigen Grundsätze gehört eigentlich auch zum politischen Selbstverständnis der Bundesregierung. Zu- 9030 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 (A) (C) (D)(B) mindest sollte sie das. Aber tut sie dies auch? Zumindest gehört sie zur politischen Rhetorik der Bundesregierung. Zur ihrer politischen Praxis gehören dagegen Ver- schleierung, Verzögerung und Desinformation. So hat die Bundesregierung über lange Zeit hinweg die Veröf- fentlichung der Höhe von Agrarzahlungen, also Steuer- geldern, abgelehnt, blockiert und verhindert. Das hat gute Gründe. Wenn wir uns die Verteilung der Agrar- zahlungen, rund 5 Milliarden Euro pro Jahr, anschauen, dann wird deutlich, für welche Klientel die Bundesre- gierung Agrarpolitik betreibt. Ein Beispiel: Ein Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe, die größten 3 200 von 320 000, bekommen circa 22 Prozent der Agrargelder oder rund 300 Euro pro Hektar. Das heißt: Wer viel hat, dem wird gegeben. Da- gegen bekommen die kleinsten 50 Prozent der Betriebe gerade mal 8 Prozent der Gelder. Diese Zahlen machen zwei Dinge deutlich: Erstens die Ungerechtigkeit der Agrarpolitik in Deutschland. Die unionsgeführte Agrarpolitik vertritt nur die Interessen der großen Betriebe. Zweitens die Unfähigkeit und den Unwillen der Bun- desregierung, die Probleme in der Landwirtschaft zu lö- sen. Eine Kappung und Umverteilung der Zahlungen wären in der Gemeinsamen Agrarpolitik möglich gewe- sen. Dieses hätte struktur- und sozialpolitische Effekte. Stattdessen werden die Gelder weiterhin über die Fläche gegossen und versickern auf den staubigen Feldern der Agrarindustrie. Dies macht deutlich, warum die Bundesregierung kein Interesse an Transparenz der Agrarzahlungen hat. Es brauchte erst das Urteil des Europäischen Ge- richtshofes, um die Bundesregierung an ihre Aufgabe zu erinnern und diese Transparenz endlich herzustellen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird dieses Urteil um- gesetzt. Doch Bundesminister Schmidt ist sich nicht zu schade, weiterhin die Keule zu schwingen und jedem zu drohen, der sich oder andere informieren möchte. Ich zi- tiere den Minister aus seiner Rede an die Mitglieder in der Unions- und SPD-Fraktion: Wir haben „größten Wert auf Datensparsamkeit und Schutz vor Datenmiss- brauch gelegt“ und: „Wir werden sehr genau beobach- ten, wie die veröffentlichten Daten wahrgenommen und veröffentlicht werden“. Herr Minister, dieses ist eine of- fene Drohung. Dieses kommt einem Maulkorb für die interessierte Öffentlichkeit gleich. Moderne Politik sieht anders aus, sie braucht größt- mögliche Transparenz. Herr Minister, die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, zu erfahren, wohin die 5 Milliarden Euro pro Jahr fließen. Die Öffentlichkeit hat auch ein Recht darauf, mit diesen Daten zu arbeiten. Es ist erklär- tes Ziel der EU, mit der Transparenzregelung über die Verwendung von Gemeinschaftsmitteln die Öffentlich- keitswirksamkeit und die Akzeptanz der Gemeinsamen Agrarpolitik zu verbessern. Mit Ihrer Politik, Herr Minister, bewirken Sie aber das genaue Gegenteil. Mit Ihrer Politik erfüllen Sie nicht das Ziel von Transparenz und Akzeptanz. Ihre Politik ist gegen die Bürger gerichtet, und Ihre Politik ist gegen die Landwirtschaft gerichtet. Herr Minister, Landwirtschaft und Gesellschaft ste- hen nicht gegeneinander. Nein, eine Politik für die Land- wirtschaft benötigt Transparenz und nicht Verschleie- rung gegenüber der Zivilgesellschaft. Herr Minister, sorgen Sie dafür. Und sorgen Sie im Übrigen endlich für eine andere, bessere Landwirtschaft. Peter Bleser, Parl. Staatssekretär beim Bundes- minister für Ernährung und Landwirtschaft: Wir beraten heute hier in diesem Hohen Hause über das Gesetz zur Änderung des Agrar- und Fischereifonds-Informationen- Gesetzes und des Betäubungsmittelgesetzes. Hinter dem sperrigen Namen verbirgt sich die nationale Umsetzung der EU-Bestimmungen für die Veröffentlichung von EU-Zahlungen an unsere Landwirte und Fischer. Sie alle wissen, in der Vergangenheit haben diese Veröffentli- chungen für Wirbel gesorgt. Viele Landwirtinnen und Landwirte fühlten sich an den Pranger gestellt. Und ich sage es ganz offen: Ich kann ihren Ärger und ihre Sorge sehr gut verstehen! Es stellt sich schon die Frage: Warum trifft es eigent- lich nur die Landwirte? Sie sind ja bei weitem nicht die einzigen Empfänger von EU-Leistungen. Wenn wir über Transparenz reden, kann man auch an andere Bereiche denken. Wir haben im Jahr 2013 mit der Reform der gemein- samen Agrarpolitik, GAP, einen wichtigen Schritt für die Zukunftsfähigkeit der Landwirtschaft gemacht. Ilse Aigner hat das ausverhandelt. Es waren zähe und lang- wierige Verhandlungen – die Interessen lagen weit ausei- nander. Am Ende war es ein Kompromiss, aber es war ein guter Kompromiss für Deutschland. Viele deutsche An- liegen, insbesondere die Forderung nach stabilen Di- rektzahlungen, konnten wir erfolgreich durchsetzen. Wir haben ein stabiles Fundament für die Landwirtschaft ge- schaffen! Und so war es richtig, dass Deutschland dem Gesamtpaket der GAP-Reform zugestimmt hat. Teil die- ses Gesamtpaketes war auch die Neuregelung über die Veröffentlichung der Agrarzahlungen. Wir sind nun europarechtlich zur Umsetzung der Ver- öffentlichung nach den neuen EU-Vorschriften bis spä- testens zum 31. Mai 2015 verpflichtet. Auch wenn man weiterhin Zweifel haben kann, ob die neue EU-Regelung tatsächlich den Anforderungen des EuGH-Urteils ent- spricht – insbesondere was die Verhältnismäßigkeit be- trifft –, so führt derzeit kein Weg an deren Umsetzung vorbei; andernfalls droht ein Vertragsverletzungsverfah- ren. Das würde eine deutlich erhöhte und vor allem kriti- sche öffentliche Aufmerksamkeit nach sich ziehen. Des- halb müssen wir die Veröffentlichung im Interesse unserer Landwirtinnen und Landwirte nun so gut wie möglich gestalten. Die neuen EU-Bestimmungen sehen vor, zukünftig bei der Veröffentlichung der Agrarzahlungen auch wie- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 9031 (A) (C) (D)(B) der natürliche Personen einzubeziehen und die einzelnen Fördermaßnahmen differenzierter als bisher auszuwei- sen und zu erläutern. Wir wollen diese Informationen nutzen, um die Leistungen unserer Landwirte besser zu erklären. Die Menschen können dann sehen: Unsere Bauern erhalten keine Almosen sondern erbringen für die Zahlungen wichtige Gegenleistungen. Beispiel Tier- schutz: Die Bauern stehen im Fokus gesellschaftlicher Erwartung. Nun wird man nachlesen können, mit wel- chen förderungswürdigen Maßnahmen sie hier schon heute höchste Leistungen erbringen. Sehen wir es posi- tiv: Klug eingesetzt, kann das der Gemeinsamen Agrar- politik zu mehr Akzeptanz verhelfen. Wichtig ist auch die neue Bagatellgrenze: Wer zu den Kleinempfängern gehört und nicht mehr als 1 250 Euro EU-Agrarfördermittel erhält, wird nur in anonymisierter, mit einem Code versehener Form veröffentlicht. In dem Gesetzentwurf hat das BMEL größten Wert auf Datensparsamkeit und Schutz vor Datenmissbrauch gelegt. Wir wollen ausschließlich die vom EU-Recht zwingend vorgeschriebenen Informationen über die Emp- fänger von Agrar- und Fischereizahlungen veröffentli- chen; es handelt sich insoweit also um eine verpflich- tende Eins-zu-eins-Umsetzung europäischen Rechts. Die verpflichtenden Informationen werden veröffentlicht, aber nicht nach dem One-Click-Prinzip der EU. Damit ist es in Deutschland nicht möglich, Listen von Empfän- gern und Zahlungen zu entnehmen. Beim Schutz der Landwirte vor missbräuchlicher Da- tenverwendung beschränkt sich der Entwurf hingegen nicht auf eine reine Umsetzung der EU-Vorgaben. Herr Bundesminister Schmidt hat veranlasst, dass erstmals eine Datenschutzregelung ausgenommen wird, mit der eine missbräuchliche, nicht dem Transparenzziel ent- sprechende Nutzung der veröffentlichten Daten unter- sagt und mit einem Bußgeld von bis zu 300 000 Euro be- wehrt wird. Damit haben wir ein vernünftiges Regelwerk vorge- schlagen, das Datensparsamkeit, Verhinderung von Miss- brauch und eine transparente Erläuterung der Leistungen der Landwirtschaft in den Vordergrund stellt. Dafür werbe ich um Ihre Zustimmung. Wir werden sehr genau beobachten, wie die veröffent- lichten Daten wahrgenommen und verwendet werden. Sollte sich herausstellen, dass trotz dieser Vorkehrungen durch die Veröffentlichung der Agrar- und Fischereizah- lungen die Datenschutzinteressen der Bäuerinnen und Bauern massiv verletzt werden, wird Herr Bundesminis- ter Schmidt nicht zögern, dies zu einem EU-Thema zu machen. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden Zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Kontoeröffnungen für Flüchtlinge ermöglichen (Tagesordnungspunkt 16) Olav Gutting (CDU/CSU): Das Schicksal von Flüchtlingen beschäftigt uns alle, und es ist gut, dass wir uns gemeinsam dafür einsetzen, den Asylsuchenden in Deutschland Zugang zu einem Konto zu ermöglichen. Darin sind wir uns einig. Nur über die Frage, welcher Weg der richtige ist, sind wir unterschiedlicher Ansicht. Durch die wachsende Anzahl der Flüchtlinge steigt auch die Zahl der Betroffenen, denen derzeit ein Zugang zu einem Konto aufgrund fehlender geeigneter Doku- mente verschlossen bleibt. Das wollen wir ändern. Im Jahr 2014 hat es bei Asyl-Erstanträgen nochmals einen Zuwachs zum Vorjahr um circa 70 Prozent gege- ben. Eines der Hauptherkunftsländer ist aufgrund des dort tobenden schrecklichen Bürgerkrieges weiterhin Syrien. Wir wollen diesen Menschen helfen, und wir wollen diesen Flüchtlingen auch Zugang zu einem Konto ge- währen: denn ohne Konto ist eine Teilhabe am Leben in unserer Gesellschaft nur schwer möglich. Deshalb hat sich die Bundesregierung bereits frühzei- tig und mit Nachdruck unter Federführung des BMF bei den europäischen Verhandlungen zur Zahlungskonten- richtlinie erfolgreich dafür eingesetzt, dass der Zugang zu einem Bankkonto mit grundlegenden Funktionen ei- nem breiten Personenkreis unter Einbeziehung von Flüchtlingen mit berechtigtem Status eingeräumt wird. Die Grünen machen es sich jedoch mit ihrem Antrag zu einfach, in dem sie die Bundesregierung auffordern, per Rechtsverordnung, sozusagen in einer Hau-Ruck- Aktion, zu bestimmen, dass Duldungsbescheinigungen geeignete Dokumente zur Überprüfung der Identität im Sinne des Geldwäschegesetzes sind. Eine solche Rechts- verordnung verstößt nach unserer Auffassung gegen gel- tendes höherrangiges Recht. Und bei aller gebotenen Eile, einen rechtswidrigen Weg wollen wir doch wohl alle nicht beschreiten. Dem Petitum der Grünen wird durch das bereits in der Ressortabstimmung befindliche Umsetzungsgesetz zur Zahlungskontenrichtlinie vollumfänglich Rechnung ge- tragen. Der Antrag der Grünen ist auch deshalb abzulehnen, da diese Regelung dem Versuch gleichkäme, das Pferd von hinten aufzuzäumen. Wichtig ist, dass wir jetzt nicht die rechtlichen Vo- raussetzungen für eine Kontoeröffnung nach dem Geld- wäschegesetz aushebeln. Wir wollen die rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen dafür schaffen, dass auch Asylsuchende und Personen, deren Aufenthalt in Deutschland nur geduldet ist, über ein amtliches Doku- ment zur Überprüfung ihrer Identität verfügen. Das geht leider nicht von jetzt auf gleich. Dafür braucht man ein wenig Zeit. Mit Schnellschüssen wird man dieser für Flüchtlinge und Geduldete wichtigen Angelegenheit nicht gerecht. Die rechtliche Umsetzung der im September 2014 in Kraft getretenen Richtlinie in nationales Recht muss bis Mitte September 2016 erfolgt sein. Ich bin überzeugt, dass nach abgeschlossener Ressortabstimmung der Ge- 9032 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 (A) (C) (D)(B) setzentwurf schnell und zügig hier beraten und beschlos- sen werden kann. Die von Ihnen vorgeschlagene Lösung ist hingegen ungeeignet. Bei allem Verständnis für die Zielrichtung Ihres Antrages werden wir diesen daher ablehnen. Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU): Seit Ein- gang dieses Antrags von Bündnis 90/Die Grünen ist mittlerweile fast ein ganzes Jahr vergangen. Bei den Be- ratungen in den verschiedenen Ausschüssen wurde frak- tionsübergreifend festgestellt, wie wichtig es ist, über ein eigenes Bankkonto zu verfügen, um am allgemeinen Wirtschaftsgeschehen heute teilnehmen zu können. Mittlerweile ist im September 2014 die Zahlungskon- tenrichtlinie der EU verabschiedet worden, in der festge- halten ist, dass die Mitgliedstaaten sicherzustellen ha- ben, dass Verbraucher mit rechtmäßigem Aufenthalt in der Union und Asylsuchende sowie Verbraucher ohne Aufenthaltstitel, die aber aus rechtlichen oder tatsächli- chen Gründen nicht abgeschoben werden können, das Recht haben, ein Zahlungskonto mit grundlegenden Funktionen bei ansässigen Kreditinstituten zu eröffnen und zu nutzen. Auf Drängen der Bundesregierung wurde diese Aus- weitung des ursprünglichen Entwurfs dieser Richtlinie auf Asylsuchende und nach deutschem Ausländerrecht geduldete Personen in die Richtlinie vorgenommen. Die deutsche Verhandlungslinie spiegelt sich in Artikel 16 Absatz 2 der Richtlinie wider, denn durch den Nachdruck, mit dem Deutschland verhandelt hat, haben nunmehr ex- plizit auch Asylsuchende sowie Geduldete, die aus recht- lichen oder tatsächlichen Gründen nicht abgeschoben werden können und sich regelmäßig in Deutschland auf- halten, Anspruch auf ein Zahlungskonto. Zunächst könnte man nun also feststellen, dass mit der Richtlinie die Grundlage geschaffen wurde, um den vorliegenden Antrag der Kollegen für erledigt zu erklä- ren. Die Richtlinie muss bis September 2016 in nationa- les Recht umgesetzt werden, und damit wird dem Anlie- gen Rechnung getragen. Die Vorbereitungen zur Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht haben bereits im vergangenen Jahr be- gonnen, und bis zur Sommerpause soll dazu ein abge- stimmter Entwurf vorgelegt werden. Dabei ist es drin- gend notwendig, dass nach den europarechtlichen Vorgaben jegliche Diskriminierung beim Zugang zu Zahlungskonten für alle Personengruppen ausgeschlos- sen wird. Es tritt dabei aber ein Problem auf, da das Recht auf die Kontoeröffnung beschränkt wird durch die Bestim- mungen über die Verhinderung von Geldwäsche und die Terrorismusbekämpfung. Nach dem Geldwäschegesetz, GWG, müssen die Kreditinstitute die Identität desjeni- gen, der ein Konto eröffnen will, prüfen. Nach § 4 Ab- satz 4 GWG setzt die Identitätsprüfung ein amtliches Dokument mit einem Lichtbild der Person voraus. Dies ist bei Aufenthaltsgestattungen bzw. Duldungsbescheini- gungen allerdings regelmäßig nicht der Fall. Somit muss im weiteren Gesetzgebungsverfahren zur Umsetzung der Richtlinie darauf geachtet werden, dass dem entspre- chenden Personenkreis durch geeignete Dokumente, die den Vorgaben des GWG entsprechen, die Kontoeröff- nung ermöglicht wird. Wir sind zuversichtlich, dass hier bei der Umsetzung der Richtlinie die notwendigen Schritte getan werden, damit eine Diskriminierung des Personenkreises vermie- den wird. Erfreulicherweise bieten Sparkassen und Raiffeisen- banken in sehr pragmatischer Art und Weise bereits seit einiger Zeit sogenannte Guthabenkonten an, die in man- chen Landkreisen und Städten schon genutzt werden, um den Asylsuchenden und den Geduldeten bargeldlos die ihnen zustehenden Leistungen zukommen zu lassen. Diese Kreditinstitute handeln vorbildlich und sozial ver- antwortungsvoll. Wir haben im Finanzausschuss den Antrag abgelehnt, weil er sich durch die zu erwartende verantwortungs- volle Umsetzung der EU-Zahlungskontenrichtlinie in al- lernächster Zeit erledigen wird. Dieses Votum schlage ich auch dem Hohen Haus vor. Dr. Jens Zimmermann (SPD): Jeder weiß: Ohne ein Konto geht im Alltag heute fast nichts mehr. Trotzdem haben in Deutschland momentan noch fast 700 000 Men- schen kein eigenes Girokonto, darunter Obdachlose, Sai- sonarbeiter, freie Dienstleister oder Gaststudenten. Es betrifft auch Menschen, die oft eine lange und ge- fährliche Flucht hinter sich haben, weil sie in Deutsch- land und Europa auf ein neues, besseres Leben hoffen. Flüchtlinge haben in Deutschland häufig große Schwie- rigkeiten, ein Girokonto zu eröffnen. Das Problem liegt auf der Hand, denn viele verfügen über keine Ausweis- papiere, weil sie ihnen auf der Flucht abgenommen wur- den oder weil sie sie aus Angst vernichtet haben. Hier kollidieren Ausländerrecht und Geldwäschevor- schriften. Ich will kurz skizzieren, worum es geht: Jede Bank muss nach dem Geldwäschegesetz vor Er- öffnung eines Kontos die Identität des künftigen Kunden prüfen. Denn das Geldwäschegesetz soll verhindern, dass Kriminelle oder Terroristen illegales Geld über Banken „waschen“. Das Gesetz verpflichtet Banken des- halb dazu, die Identität der Kunden zu prüfen. Identitäts- nachweise sind Ausweispapiere, also Personalausweise, Reisepässe oder ein Ausweisersatz. Ausländische Staatsangehörige, die nur eine Duldung nach dem Aufenthaltsgesetz besitzen und kein Pass- dokument aus ihrem jeweiligen Herkunftsstaat, konnten deshalb in der Vergangenheit häufig kein Konto eröff- nen. Anders als bei Flüchtlingen mit Aufenthaltsgestat- tung werden Duldungsbescheinigungen häufig nicht als Ausweisersatz ausgestellt und deshalb auch von den meisten Banken nicht als Dokument zur zweifelsfreien Identifizierung im Sinne des Geldwäschegesetzes aner- kannt. Und genau hier liegt das Problem: Für die Betroffe- nen ist es schlimm, wenn ihnen die Eröffnung eines Girokontos aus den verschiedensten Gründen nicht mög- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 9033 (A) (C) (D)(B) lich ist. Eine Teilnahme am sozialen und wirtschaftli- chen Leben setzt auch den Zugang zu Finanzdienstleis- tungen voraus. Denn ein Leben ohne Konto schränkt ein: ob bei Mietzahlungen, bei Arbeits- oder Handyverträgen oder beim Bezahlen von Rechnungen. Ich gehe davon aus, dass wir uns mit allen anderen Bundestagsfraktionen darin einig sind, hier als Gesetz- geber handeln zu müssen. Jeder und jede sollte das Recht haben, ein Konto eröffnen zu können. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen: Sie fordern nun in Ihrem Antrag, dass Duldungsbescheini- gungen durch Rechtsverordnung des Innenministeriums als geeignete Dokumente für eine Identitätsüberprüfung bestimmt werden. Auch wenn wir alle in dieser Frage das politische Ziel ihres Antrags teilen und auch wenn das Innenministe- rium zu solchen Anpassungen grundsätzlich ermächtigt ist, halten wir als SPD-Bundestagsfraktion gemeinsam mit unseren Unionskollegen den von Ihnen vorgeschla- genen Weg für falsch. Denn hierzu braucht es keine Än- derung auf dem Verordnungsweg, wie Sie es in Ihrem Antrag fordern. Hierzu braucht es vielmehr ein umfas- sendes Gesetzgebungsvorhaben, in dem unter Beteili- gung aller verantwortlichen Ressorts ein vernünftiger Vorschlag ausgearbeitet wird. Eine umfassende Lösung für das eben beschriebene Problem kommt zeitnah: Das Recht auf ein „Konto für jedermann“ ist im September letzten Jahres mit der Ver- abschiedung der EU-Zahlungskontenrichtlinie auf den Weg gebracht worden. Mit der nationalen Umsetzung der Richtlinie wird das Recht für jeden Verbraucher auf Zugang zu einem Basis- konto mit grundlegenden Funktionen verankert. Sie er- wähnen es in Ihrem Antrag selbst: Die Richtlinie schafft in Artikel 16 erstmals auch das Recht für „Asylsuchende und Verbraucher ohne Aufenthaltstitel, die aus rechtli- chen oder tatsächlichen Voraussetzungen nicht ab- geschoben werden können“, ein „Zahlungskonto mit grundlegenden Funktionen“ zu eröffnen. Hier danke ich der Bundesregierung nochmals aus- drücklich dafür, dass sie sich in den europäischen Ver- handlungen engagiert für die Aufnahme von Asylsu- chenden und Geduldeten in die Richtlinie eingesetzt hat. Dem Einsatz der Bundesregierung ist es zu verdanken, dass das Recht auf ein „Konto für jedermann“ im wahrs- ten Sinne des Wortes ein Recht sein wird, dass für jeder- mann und jedefrau gelten wird. Denn mit der Umsetzung der Richtlinie wird in Deutschland das Recht auf ein Girokonto für alle verankert. Erst mit der Umsetzung der Zahlungskontenrichtlinie können dann auch andere Kre- ditinstitute verpflichtet werden, Kontoeröffnungen für alle zu ermöglichen. Damit sich die Situation bis zur Umsetzung der Zah- lungskontenrichtlinie bereits jetzt für viele Flüchtlinge verbessert, haben Bundesfinanzministerium und die BaFin Ende 2014 zusammen mit dem Sparkassen- und Giroverband eine Übergangslösung erarbeitet. Für Flüchtlinge, die nach § 60 Aufenthaltsgesetz geduldet sind, akzeptieren Sparkassen auch eine Meldebescheini- gung zusammen mit den Kerndaten und einem Lichtbild für eine Kontoeröffnung. Das ist eine gute Übergangslö- sung, die dabei hilft, das Problem auch im Sinne der Ausländerbehörden der Kommunen und Kreise unbüro- kratisch zu lösen. Alle diese laufenden Aktivitäten lässt Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, völlig unberücksichtigt. Für uns als Sozialdemokraten hat das Thema eine hohe Bedeutung. Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben uns schon in der letzten Wahlperiode mit einem Antrag für einen Rechtsanspruch auf ein Guthabenkonto in Deutschland eingesetzt. Wir haben bei der abschließen- den Beratung des vorliegenden Antrags im Finanzaus- schuss in einer schriftlich abgegebenen Erklärung zwei Dinge gefordert: Erstens fordern wir als SPD-Fraktion eine zügige na- tionale Umsetzung der Richtlinie, damit wir die jetzige Situation, die für alle Beteiligten unbefriedigend ist, möglichst schnell ändern. Dass immer mehr Kommunen dazu übergehen, Bargeld statt Gutscheine an Flüchtlinge auszugeben, macht eine zügige Umsetzung nur noch dringlicher. Ich freue mich deshalb darüber, dass es für die Umsetzung der Zahlungskontenrichtlinie einen Zeit- plan gibt, der vorsieht, dass der Referentenentwurf noch vor der Sommerpause fertiggestellt wird. Dann kann die Umsetzung voraussichtlich bis zum nächsten Frühjahr abgeschlossen werden. Zweitens muss im Umsetzungsverfahren ein Weg ge- funden werden, bei dem Duldungsbescheinigungen re- gelmäßig als Ausweisersatz anerkannt werden, damit eine Kontoeröffnung möglich ist. Die amtlichen Dokumente für Asylsuchende und Personen ohne Aufenthaltstitel müssen also so gestaltet sein, dass künftig zweifelsfrei eine Identitätsprüfung möglich ist, ohne mit Geldwä- schevorschriften in Konflikt zu geraten. Denn auch in der EU-Geldwäscherichtlinie, auf der die nationalen Vorschriften im Geldwäschegesetz beruhen, ist dies be- reits berücksichtigt. In den Erwägungsgründen der Richtlinie heißt es ausdrücklich, dass die Bestimmungen der Geldwäscherichtlinie nicht als Vorwand für Kredit- institute dienen dürfen, wirtschaftlich weniger interes- sante Verbraucher abzulehnen. Deshalb müssen auch die Vorgaben zur Identifizierung im Geldwäschegesetz mit der Umsetzung der Zahlungskontenrichtlinie geändert werden. Für mich als Berichterstatter der SPD-Bundestags- fraktion zum Thema Geldwäschebekämpfung ist eine zweifelsfreie Identifizierung von Personen, die ein Konto eröffnen möchten, dem Grunde nach natürlich eine gute und sinnvolle Maßnahme. Es kann und darf aber nicht sein, dass Menschen von Vorschriften negativ betroffen sind, für die diese gar nicht gedacht sind. Deshalb müssen wir eine Lösung finden, die beiden Ansprüchen gerecht wird: Eine wirksame Bekämpfung von Geldwäsche muss weiterhin möglich sein. Gleich- zeitig muss aber auch sichergestellt werden, dass nie- mand an der Eröffnung eines Kontos gehindert wird, sei 9034 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 (A) (C) (D)(B) es durch bestimmte Vorschriften oder durch die Banken selbst. Ich bin mir sicher, dass wir hier in enger Abstimmung zwischen Innen- und Finanzministerium sowie dem Ministerium für Recht und Verbraucherschutz zu einer guten Lösung kommen werden. So schaffen wir bald die Grundlage für einen bargeldlosen Zahlungsverkehr, der niemanden mehr ausschließt. Der Referentenentwurf für das Zahlungskontenge- setz wird noch vor der Sommerpause fertiggestellt. Jetzt an einer einzelnen Schraube zu drehen, obwohl in ein paar Monaten sowieso das ganze Räderwerk umgebaut wird, halte ich nicht für hilfreich. Wir wollen eine Regelung, die niemanden mehr au- ßen vor lässt. Denn nicht nur Flüchtlinge haben Pro- bleme bei der Eröffnung von Bankkonten. Wir wollen außerdem eine Regelung, die gleichzeitig dem Rechts- anspruch des Einzelnen auf ein Girokonto und dem Inte- resse aller an einer wirksamen Geldwäschebekämpfung gerecht wird. Auf beides liefert der vorliegende Antrag keine Ant- wort. Deshalb werden wir diesen Antrag ablehnen. Ulla Jelpke (DIE LINKE): Wir beraten heute ab- schließend einen Antrag der Fraktion der Grünen, Flüchtlingen den Zugang zu einem Girokonto zu erleich- tern. Viele Asylbewerber und Geduldete können derzeit kein Konto eröffnen, weil sie keine Pässe haben. Und wer seine Identität nicht eindeutig nachweisen kann, darf nach dem Geldwäschebekämpfungsgesetz kein Konto haben. Doch ohne Girokonto kriegt man keine Wohnung, keine Arbeit, kann keinen Telefonvertrag schließen. Flüchtlinge leiden also unter einem Gesetz, dass eigentlich schwere Kriminalität und Terrorismus bekämpfen soll. Das kann in einem Rechtsstaat nicht sein, und deshalb unterstützen wir den Antrag der Grü- nen. Die Sparkassen bemühen sich seit Jahren, auch Asyl- suchenden und Geduldeten ohne Pass die Eröffnung ei- nes Kontos zu ermöglichen. Seit 2011 ist das in einigen Fällen bei der Sparkasse Berlin möglich. Und im vergan- genen Jahr hat das Bundesministerium der Finanzen eine Übergangsregelung geschaffen. Demnach können nun auch Inhaber einer Aufenthaltsgestattung ohne Pass oder Ersatzausweis ein Konto eröffnen. Das ist gerade für viele syrische Flüchtlinge eine Erleichterung, die wir be- grüßen. Allerdings profitieren viele der Geduldeten nicht von dieser großzügigen Auslegung der Regeln gegen Geld- wäsche. Denn viele von ihnen haben keine Duldungsbe- scheinigung mit Passfoto. Das ist der Fall, wenn sie sich nach Meinung der Behörden nicht ausreichend um einen Pass oder Passersatz bemühen. Damit fehlt ihnen der eindeutige Identitätsnachweis, und Sparkassen dürfen für sie weiterhin kein Konto eröffnen. Und das Bundesinnenministerium beharrt ausdrück- lich auf dieser ausgrenzenden Regelung. Hier wird das Geldwäschebekämpfungsgesetz missbraucht, um Tau- senden Geduldeten den Alltag zu erschweren. Diese Dis- kriminierung muss endlich beseitigt werden. Derzeit erstellt das Bundesfinanzministerium einen Gesetzentwurf zur Umsetzung der EU-Richtlinie zu Zahlungskonten. Zentral darin ist das Jedermannskonto. Mit Umsetzung der Richtlinie werden auch Geduldete ohne Pass in den Genuss eines Girokontos kommen. Das wird glücklicherweise auch von der Koalition nicht be- stritten. Laut der Aussagen in der Ausschussberatung sollen auch Geduldete ohne Pass in Zukunft eine Dul- dungsbescheinigung mit Lichtbild erhalten. Doch bis- lang liegt dazu nicht einmal ein Gesetzentwurf vor. Die Zahl der Asylsuchenden und Geduldeten ohne Pass oder Ausweisersatz steigt. Diese Menschen dürfen nicht wei- ter vertröstet werden. In den nächsten Wochen werden wir über Änderungen im Aufenthaltsrecht beschließen. Das wäre eine gute Gelegenheit für die Koalition, die Hindernisse bei der Eröffnung von Girokonten für Ge- duldete endlich wegzuräumen. Zugleich kann ich es den Grünen aber nicht ersparen, noch einmal klar zu sagen: Die Situation geduldeter Menschen in Deutschland ohne anerkannten Identitäts- nachweis ist von viel drängenderen Problemen geprägt. Häufig unterliegen sie beispielsweise einem Beschäfti- gungsverbot – ein Konto zu haben oder nicht, ist für sie also eher ein Luxusproblem. Die Linke wird deshalb demnächst einen Antrag zur Debatte stellen, mit dem wir die Lebenssituation von Asylsuchenden und Geduldeten insgesamt verbessern wollen. Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist ein Armutszeugnis, dass CDU/CSU und SPD blinde Koalitionsräson über das Wohl der Menschen und über ihre eigene Überzeugung setzen. Sonst hätten sie unse- ren Antrag im Finanzausschuss angenommen – schließ- lich wurde er fraktionsübergreifend begrüßt. Bislang ist vielen Geduldeten die Eröffnung eines Bankkontos ver- wehrt, weil ihre Papiere nicht den amtlichen Anforde- rungen entsprechen. Ohne Bankkonto ist ihre Teilhabe am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben kaum möglich. Die jüngst in Kraft getretenen Erleichterungen beim Arbeitsmarktzugang werden ins Leere laufen, da Gehälter in der Regel auf Konten überwiesen werden. Wenn das so bleibt, ist das integrationspolitischer Non- sens. Es ist zynisch, wenn die Koalition nun auf die anste- hende Umsetzung der EU-Zahlungskontenrichtlinie in nationales Recht verweist, nach der die Eröffnung eines Bankkontos für Geduldete gewährleistet werden muss. Geduldete werden dadurch auf September 2016 vertrös- tet, denn erst dann läuft die Frist zur Richtlinienumset- zung ab. Diesem Unfug kann der Bundestag heute ein Ende setzen, indem er unseren Antrag im Plenum verab- schiedet und die entsprechenden Gesetzesänderungen in die anstehende Beratung des Gesetzentwurfs zur Neube- stimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendi- gung einspeist. Bislang verlangt § 4 Absatz 4 Nummer 1 Geldwä- schegesetz, GwG, ein amtliches Identitätspapier mit Lichtbild bei der Kontoeröffnung. Dieser Anforderung Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 9035 (A) (C) (D)(B) können viele Geduldete nicht nachkommen, weil die Duldungspapiere oft nicht über Lichtbilder verfügen oder ansonsten nicht den amtlichen Anforderungen ent- sprechen. Ohne Bankkonto ist aber ihre Teilnahme am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben kaum möglich. Aber vielen Geduldeten ist es nicht möglich, entspre- chende Identitätspapiere vorzulegen. Sie haben nur eine Bescheinigung über die Nichtabschiebung, die ihre Dul- dung nachweist. Das ist oftmals ihr einziges Identitäts- papier. Wir meinen, man sollte die Rechtsgrundlage da- für schaffen, dass dieses Papier die Voraussetzungen des Geldwäschegesetzes hinsichtlich des Identitätsnachwei- ses bei Eröffnung eines Kontos erfüllt. Geduldete sind in aller Regel Flüchtlinge. Bei ihnen wurden im Rahmen des Identitätsnachweises meist Fin- gerabdrücke genommen. Die Identität steht also zwei- felsfrei fest. Nur kommen viele Flüchtlinge völlig unver- schuldet nicht an Ausweispapiere heran. Die Gründe dafür sind verschieden. Es gibt zum Beispiel ausländi- sche Botschaften, die generell keine neuen Ausweise ausstellen, wie die Botschaft des Irak. Bei anderen Staa- ten gibt es das Problem, dass man generell die Staatsan- gehörigkeit anzweifelt. Dieses Problem haben wir oft mit der Botschaft des Libanon. Wieder andere Staaten stellen an die Ausstellung neuer Pässe hohe Anforderun- gen, die von den meisten Flüchtlingen nicht erfüllt wer- den können. Das fängt bei den hohen Gebühren an und endet bei den Dokumenten, die man für einen neuen Pass vorlegen muss. Ein Bankkonto ist der Schlüssel zur Teilhabe am ge- sellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben. Gehälter werden in aller Regel auf Konten überwiesen. Privat- rechtliche Verträge haben oft zur Voraussetzung, dass man ein Girokonto angeben kann, egal ob es um einen Mobilfunkanbieter, ein Fitnessstudio, eine Vereinsmit- gliedschaft oder einen Einkauf im Internet geht. Auch das Anmieten einer Wohnung setzt oftmals ein Giro- konto voraus. Auch erspartes Geld kann man nur anle- gen, wenn man ein Konto hat. Aufgrund dieser Problematik wurde die sogenannte EU-Zahlungskontenrichtlinie des Europäischen Parla- ments und des Rates über die Vergleichbarkeit von Zah- lungskontogebühren, den Wechsel von Zahlungskonten und den Zugang zu Zahlungskonten mit grundlegenden Funktionen verabschiedet, die am 17. September 2014 in Kraft trat. Die Richtlinie soll den diskriminierungsfreien Zugang zur Kontoeröffnung sicherstellen. Das EU-Par- lament hat in seiner damaligen Stellungnahme hierzu klargestellt, dass es einen Mechanismus geben sollte, da- mit auch Verbraucher „ohne festen Wohnsitz, Asylbewer- ber und Verbraucher ohne Aufenthaltserlaubnis, deren Abschiebung jedoch aus rechtlichen Gründen unmöglich ist“, Zugang zu einem Zahlungskonto mit grundlegen- den Funktionen erhalten. Die Zahlungskontenrichtlinie muss nun bis Septem- ber 2016 in nationales Recht umgesetzt werden. Das dauert aber für die in Rede stehende Gruppe der Gedul- deten zu lange. Es muss umgehend per Rechtsverord- nung klargestellt werden, dass auch Duldungen als Legi- timitätsnachweis für eine Kontoeröffnung gelten. Es ist erfreulich, dass das Bundesfinanzministerium per Rundschreiben Erleichterungen für bestimmte Perso- nengruppen bei der Kontoeröffnung bis zur Umsetzung der Zahlungskontenrichtlinie zugestanden hat. Das greift nur leider für die Gruppe der Geduldeten nicht vollstän- dig und bleibt daher Stückwerk. Die Koalition hat sich auf eine neue Bleiberechtsrege- lung verständigt; den entsprechenden Gesetzentwurf beraten wir im März. Es wäre klug, eine notwendige Än- derung des Geldwäschegesetzes im Rahmen des Gesetz- gebungsverfahrens zum GE Neubestimmung des Bleibe- rechts und der Aufenthaltsbeendigung vorzunehmen und dem vorliegenden Antrag zuzustimmen. Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de 94. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 4 Regierungserklärung zum Europäischen Rat TOP 5 Rekommunalisierung der Energienetze TOP 6 Fachkräftekonzept der Bundesregierung ZP 2 Vorkommnisse in Frankfurt anlässlich der Einweihung der EZB-Zentrale TOP 21 Überweisungen im vereinfachten Verfahren TOP 22 Abschließende Beratungen ohne Aussprache ZP 3 Aktuelle Stunde zur Kinderarmut in Deutschland TOP 7 Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses TOP 8 Teilhabe von Kindern von Alleinerziehenden TOP 9 Bundeswehreinsatz EUTM Somalia TOP 10 Lobbyistenregister TOP 11 Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften ZP 4 Tötung männlicher Küken TOP 13 Änderung des Bundesfernstraßengesetzes TOP 14 Privatisierung von Ackerland und Wäldern TOP 15 Agrar- und Fischereifonds-Informationen-Gesetz TOP 16 Kontoeröffnungen für Flüchtlinge Anlagen
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1809400000

Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen; ich

begrüße Sie herzlich.
Vor Eintritt in unsere Tagesordnung teile ich Ihnen

mit, dass es eine interfraktionelle Vereinbarung gibt, die
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge-
führten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Pläne der Bundesregierung für einen nationa-
len Alleingang bei der Vorratsdatenspeiche-
rung

(siehe 93. Sitzung)


ZP 2 Vereinbarte Debatte
zu den Vorkommnissen in Frankfurt anläss-
lich der Einweihung der EZB-Zentrale

ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
DIE LINKE:
Reiches Land – Arme Kinder

ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Friedrich Ostendorff, Harald Ebner, Nicole
Maisch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Männliche Eintagsküken leben lassen
Drucksache 18/4328
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz

Dabei soll wie üblich von der Frist für den Beginn der
Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden.

Tagesordnungspunkt 12 – hier geht es um die Bera-
tung des Antrags zur flächendeckenden Milchviehhal-
tung – wird abgesetzt. Stattdessen soll der Antrag auf
Drucksache 18/4328 mit dem Titel „Männliche Eintags-
küken leben lassen“ mit einer Beratungszeit von 25 Mi-
nuten aufgerufen werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Es kommt nicht häufig vor, dass schlichte Änderungen
der Tagesordnung zu spontanen Begeisterungsstürmen
bei einzelnen Fraktionen führen; aber das haben die
Schriftführer natürlich festgehalten.

Schließlich mache ich noch auf eine nachträgliche
Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste
aufmerksam:

Der am 27. Februar 2015 (89. Sitzung) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Aus-
schuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung (19. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen
werden:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
zung der Richtlinie 2013/34/EU des Europäi-
schen Parlaments und des Rates vom 26. Juni
2013 über den Jahresabschluss, den konsoli-
dierten Abschluss und damit verbundene Be-
richte von Unternehmen bestimmter Rechts-
formen und zur Änderung der Richtlinie
2006/43/EG des Europäischen Parlaments
und des Rates und zur Aufhebung der Richt-
linien 78/660/EWG und 83/349/EWG des

(Bilanzrichtlinie-Umsetzungsgesetz – BilRUG)


Drucksache 18/4050
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

Ich frage Sie: Sind Sie mit diesen Vereinbarungen
einverstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Also
können wir so verfahren.

Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 4 auf:

Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin

zum Europäischen Rat am 19./20. März 2015
in Brüssel





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
rung 96 Minuten vorgesehen. – Auch dazu höre ich kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin Frau Dr. Merkel.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1809400100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Der Europäische Rat im
Frühjahr ist traditionell der wirtschaftlichen Lage in Eu-
ropa gewidmet. Dazu können wir zunächst feststellen,
dass es aller Voraussicht nach in diesem Jahr erstmals
seit Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise wieder in
allen europäischen Mitgliedstaaten Wachstum geben
wird. Das ist eine gute Nachricht.

Sogar die Arbeitslosigkeit, die vor allem unter jungen
Menschen nach wie vor ohne Zweifel viel zu hoch ist,
geht insgesamt zwar langsam, aber Schritt für Schritt zu-
rück. Dies gilt übrigens gerade für zwei Länder, die be-
sonders von der europäischen Staatsschuldenkrise be-
troffen waren, die ihre Hilfsprogramme inzwischen aber
erfolgreich abgeschlossen haben: Spanien und Irland. In
diesen beiden Ländern sank die Arbeitslosenquote im
letzten Jahr jeweils um über zwei Prozentpunkte. Die Er-
folge Irlands und Spaniens sind nur zwei Beispiele dafür,
was entschlossenes Handeln einzelner Länder und soli-
darische europäische Unterstützung gemeinsam bewir-
ken können.

Insgesamt wird also deutlich, dass wir bei der Über-
windung der europäischen Staatsschuldenkrise unter
schwierigen Bedingungen schon einiges erreicht haben;
dauerhaft und nachhaltig überwunden haben wir diese
aber noch nicht. Dafür müssen wir uns weiter anstren-
gen. Drei Elemente sind und bleiben dabei wichtig.

Erstens. Die wachstumsfreundliche Konsolidierung
muss fortgesetzt werden; denn nachhaltiges Wachstum
und solide Haushalte bedingen einander. Es ist entschei-
dend, den gestärkten Stabilitäts- und Wachstumspakt
glaubwürdig anzuwenden. Nur dann kann der Pakt seine
Funktion erfüllen und das Vertrauen in einen dauerhaft
stabilen Euro-Raum wiederherstellen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Zweitens: Strukturreformen. Sie sind eine Dauerauf-
gabe, wenn wir Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und
Beschäftigung nachhaltig stärken wollen. Dabei muss
unser Maßstab nicht Europa sein, sondern die Welt; denn
nur dann wird es uns gelingen, unser europäisches Wirt-
schafts- und Sozialmodell im globalen Wettbewerb dau-
erhaft zum Erfolg zu führen.

Drittens: Investitionen, die Wachstum und Beschäfti-
gung unterstützen. Dabei bleibt entscheidend, dass die
Rahmenbedingungen für private Investitionen stimmen.

Auch dafür sind solide Finanz- und Strukturreformen
notwendig. Der Europäische Fonds für Strategische In-
vestitionen, den der Europäische Rat im Dezember letz-
ten Jahres beschlossen hat, kann und, ich hoffe, wird
auch einen wichtigen Beitrag leisten, private Investitio-
nen zu mobilisieren.

Die Arbeiten an diesem Fonds kommen gut voran.
Die Finanzminister haben sich letzte Woche auf einen
Verordnungsentwurf für den Fonds geeinigt, der nun in
die Beratungen mit dem Europäischen Parlament geht.
Ich wünsche mir, dass die Verhandlungen zügig abge-
schlossen werden, damit der Fonds wie geplant Mitte
des Jahres seine Arbeit aufnehmen kann.

Durch seine Verankerung in der Europäischen Inves-
titionsbank soll sichergestellt werden, dass solche Pro-
jekte ausgewählt werden, die wirtschaftlich sinnvoll sind
und die unsere Wachstumskraft und Wettbewerbsfähig-
keit auch nachhaltig stärken. Deutschland wird im G-7-
Vorsitz in enger Abstimmung mit den europäischen Part-
nern und Institutionen auch gegenüber außereuropäi-
schen Partnern deutlich machen, wie wichtig nachhaltige
Haushaltspolitik, umfassende Strukturreformen und ge-
zielte Investitionen sind, um das globale Wachstum zu
stärken.

Gleichzeitig werden wir uns mit allem Nachdruck da-
für einsetzen, wichtige europäische Vorhaben entschlos-
sen voranzutreiben. Dazu gehört auch das Abkommen
zur Transatlantischen Handels- und Investitionspartner-
schaft zwischen der Europäischen Union und den Verei-
nigten Staaten von Amerika.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dieses Freihandelsabkommen bietet große Chancen, und
es ist notwendig für das Wachstum in Europa und die
Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit unserer Un-
ternehmen. Ohne Zölle und unnötige Bürokratie wird es
für unsere Unternehmen erheblich leichter, das enorme
Potenzial des amerikanischen Marktes zu erschließen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Meine Damen und Herren, Deutschlands Wirtschafts-
beziehungen zu den Vereinigten Staaten sind wichtig
und auch von wachsender Bedeutung für unseren Wohl-
stand. Allein im vergangenen Jahr sind die deutschen
Exporte in die USA um gut 7 Prozent auf 96 Milliarden
Euro gestiegen. Ich unterstütze deshalb sehr, dass der
heute beginnende Europäische Rat mit einer Diskussion
zum Transatlantischen Freihandelsabkommen noch ein-
mal unterstreicht, welch große Bedeutung er diesem Ab-
kommen beimisst. Wir hatten bereits im Dezember das
Ziel vorgegeben, die Verhandlungen für das Abkommen
noch in diesem Jahr abzuschließen, und wir sollten alles
daransetzen, dieses Ziel auch zu erreichen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ein weiteres wichtiges europäisches Vorhaben ist die
Schaffung einer Energieunion. Sie soll zukünftig den
Rahmen für unsere europäische Energiepolitik bieten





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)


und auch die Umsetzung unserer europäischen Klima-
und Energieziele für 2030 befördern. Im Zentrum des
Konzepts einer Energieunion steht eine sichere, bezahl-
bare, umweltverträgliche und wettbewerbsfähige Ener-
gieversorgung. Aus unserer Sicht muss der Schwerpunkt
dabei primär auf der Stärkung des Energiebinnenmarktes
und der Umsetzung der Klima- und Energieziele für
2030 liegen.

Durch die Ukraine ist das Thema Energieversor-
gungssicherheit wieder stärker ins Bewusstsein gerückt.
Auch dies wird ein zentraler Aspekt der Energieunion
sein. Wir werden auch in den kommenden Jahren unsere
Anstrengungen verstärken müssen, die Energieversor-
gung in allen Mitgliedstaaten langfristig zu sichern.
Schlüsselelemente sind dabei für uns der weitere Ausbau
der erneuerbaren Energien, mehr Energieeffizienz, die
Diversifizierung der Energiequellen und ein funktionie-
render Energiebinnenmarkt.

Die Bundesregierung tritt dafür ein, dass bei der Um-
setzung der Energieunion marktwirtschaftliche und wett-
bewerbliche Ansätze im Vordergrund stehen. Deshalb
muss etwa ein gebündelter Gaseinkauf für Mitgliedstaa-
ten freiwillig und auf Ausnahmen begrenzt bleiben.

Wichtig ist weiter, dass ein glaubwürdiger und ver-
lässlicher Rahmen geschaffen wird, um die Klima- und
Energieziele 2030 auch tatsächlich zu erreichen. Dafür
brauchen wir einen konkreten Vorschlag der Europäi-
schen Kommission für eine verlässliche Governance-
Struktur, das heißt: klare Regeln für die Umsetzung der
Ziele und auch entsprechende Konsequenzen, wenn das
nicht erfolgt. Das ist deshalb so wichtig, weil wir Ende
des Jahres bei der Klimakonferenz in Paris endlich ein
neues und ambitioniertes weltweites Klimaabkommen
verabschieden wollen, das alle Staaten zu Klimaschutz-
aktivitäten verpflichtet und das spätestens 2020 in Kraft
tritt.

Wir brauchen zum Wohle kommender Generationen
einen klaren und für alle verbindlichen Rahmen, der uns
auf einen Entwicklungspfad führt, mit dem wir das öko-
logisch so wichtige 2-Grad-Ziel auch einhalten können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Die Bundesregierung wird die französische Regierung
und ich werde den französischen Präsidenten François
Hollande nach Kräften darin unterstützen, die Klima-
konferenz in Paris erfolgreich abzuschließen, unter an-
derem durch einen starken Impuls auch der G-7-Staaten
und durch den diesjährigen Petersberger Klimadialog.

Mit dem geplanten Minderungsbeitrag der Europäi-
schen Union und ihrer Mitgliedstaaten für das neue Kli-
maabkommen sendet die EU ein kraftvolles Signal an
die Staatengemeinschaft. Wir wollen bis 2030 eine
Treibhausgasreduktion um mindestens 40 Prozent ge-
genüber 1990 erreichen. Der Europäische Rat wird die-
sen Beschluss noch einmal bekräftigen. Damit wollen
wir auch einen Anreiz für andere große Volkswirtschaf-
ten schaffen, ihre möglichst ambitionierten Klimaschutz-
beiträge für Paris rechtzeitig und vor allen Dingen auch
in transparenter Art und Weise vorzulegen.

Meine Damen und Herren, die wirtschaftliche, soziale
und ökologische Stärke Europas dient ohne Zweifel dem
Wohl der Bürgerinnen und Bürger unserer Europäischen
Union, und das erwarten die Menschen auch zu Recht.
Sie ist aber auch notwendige Grundlage, um die großen
geopolitischen Herausforderungen bewältigen zu kön-
nen, denen sich Europa 70 Jahre nach Ende des Zweiten
Weltkrieges und 25 Jahre nach Ende des Kalten Krieges
ausgesetzt sieht – vorneweg durch die Lage in der
Ukraine.

Als vor 25 Jahren der Kalte Krieg zu Ende ging, er-
möglichte dies den Staaten Mittel- und Osteuropas, end-
lich selbstbestimmt ihren Weg zu gehen. Das Denken in
Blöcken und Einflusssphären schien ein für alle Mal
überwunden. Aber wenn sich der Europäische Rat heute
Abend mit der Lage in der Ukraine befasst, dann tut er
das fast auf den Tag genau ein Jahr nach dem verfas-
sungswidrigen Referendum auf der Krim. Wir wussten
damals wie heute: Die Gründe, die für dieses Referen-
dum genannt wurden, waren Vorwände. Dieses Referen-
dum hatte einen einzigen Zweck: Es war das Werkzeug,
einem russischen Plan folgend, die Krim der Ukraine zu
entreißen. Russland sollte die Krim dann als Teil bekom-
men, und so ist es auch geschehen.

Die Annexion der Krim war und bleibt ein Akt gegen
das internationale Recht, gegen die Verträge, in denen
sich Russland verpflichtet hatte, die Souveränität und In-
tegrität der Ukraine zu achten. Mit dieser Annexion hat
Russland das Fundament unserer europäischen Friedens-
ordnung infrage gestellt. Ich bin froh, dass Europa da-
rauf von Anfang an und bis heute eine klare Antwort ge-
geben hat.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Russlands Griff nach der Krim genauso wie seine
Handlungen in der Ostukraine fordern uns Europäer he-
raus. Ja, die Interessen innerhalb der Europäischen
Union sind unterschiedlich, auch unsere Abhängigkeit
von Energieimporten oder Handelsverbindungen ist un-
terschiedlich. Aber ich sage: Die Europäische Union hat
diese Herausforderung bis heute bestanden. Wir haben
uns nicht spalten lassen. Wir haben in der Diskussion,
wie es unsere Art ist, zu gemeinsamen Entscheidungen
gefunden und diese auch nach außen vertreten – mit ei-
ner europäischen Stimme und gemeinsam mit unseren
transatlantischen Partnern. Ich möchte – und das gilt für
die ganze Bundesregierung –, dass das so bleibt. Darauf
werden wir hinarbeiten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Präsident Hollande und ich haben in Abstimmung mit
anderen europäischen Partnern im Februar eine Initiative
ergriffen, um das Blutvergießen und das tägliche Leid
der Menschen in der Ostukraine zu beenden. Die
Ukraine, Russland und die Separatisten haben sich in
Minsk auf ein Maßnahmenpaket verpflichtet, das erst ei-
nen Waffenstillstand und den Abzug schwerer Waffen
und dann weitere Schritte zu einer politischen Lösung
vorsieht. Uns musste immer klar sein, dass dieser Pro-
zess nicht ohne Verzögerungen und Rückschläge ablau-





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)


fen würde, dass er nur ein Hoffnungsschimmer sein
konnte – nicht mehr, aber eben auch nicht weniger. Doch
auch wenn der Waffenstillstand noch zerbrechlich und
der Waffenabzug noch nicht ausreichend überwacht ist,
so sind doch Anfänge gemacht. Auf diesem Weg müssen
alle Beteiligten weitergehen, bis hin zu dem letzten
Schritt, den das Maßnahmenpaket von Minsk vorsieht:
wenn nämlich die Ukraine wieder die Kontrolle über
ihre eigene Grenze zu Russland übernimmt.

Wir Europäer haben im vergangenen Jahr in mehreren
Entscheidungsrunden Sanktionen verhängt. Diese Sank-
tionen, die im Juli bzw. September auslaufen werden,
wollen und können wir nicht aufheben, wenn nur erste
Forderungen der Minsker Vereinbarungen erfüllt sind;
das wäre falsch. Deshalb werde ich mich heute Abend
dafür einsetzen, dass sich die Dauer der Sanktionen am
Paket von Minsk und seiner Erfüllung orientiert.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich bin überzeugt: Damit handeln wir im Sinne der euro-
päischen Werte, die uns einen, und im Interesse der
Menschen, die in den betroffenen Gebieten leben. Au-
ßerdem machen wir deutlich, dass wir auf der Umset-
zung des gesamten Paketes von Minsk bestehen.

Meine Damen und Herren, nicht nur die sicherheits-
politischen, sondern auch die wirtschaftlichen Heraus-
forderungen für die Ukraine bleiben groß. Deutschland
hat deshalb unter anderem bilateral einen zusätzlichen
Kreditrahmen in Höhe von 500 Millionen Euro zugesagt.
Im Rahmen unseres G-7-Vorsitzes haben wir das Engage-
ment der internationalen Gemeinschaft zur finanziellen
Unterstützung der Ukraine koordiniert. Die Entscheidung
des Internationalen Währungsfonds, Kredithilfen in Höhe
von 17,5 Milliarden US-Dollar zu gewähren, und der
Vorschlag der Europäischen Kommission für weitere
Kredite in Höhe von 1,8 Milliarden Euro sind dabei
wichtige Beiträge, um die Lage in der Ukraine zu stabili-
sieren. Die Europäische Union hat mit Unterstützung der
Mitgliedstaaten und insbesondere Deutschlands darüber
hinaus ihre humanitären Hilfsleistungen in den beson-
ders betroffenen Gebieten im Osten der Ukraine deutlich
verstärkt.

Meine Damen und Herren, die Ukraine-Krise berührt
natürlich auch das Verhältnis zu unseren anderen östli-
chen Nachbarn. Im Mai findet der nächste Gipfel zur
Östlichen Partnerschaft in Riga statt. Die Ukraine, Geor-
gien und Moldau haben Assoziierungsabkommen mit
der Europäischen Union geschlossen. Ziel dieser Ab-
kommen ist die europäische Unterstützung beim Aufbau
eines funktionierenden Rechtsstaates, einer erfolgrei-
chen Marktwirtschaft, um den Menschen in diesen Län-
dern eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Ziel ist nicht
der Beitritt zur Europäischen Union oder zur NATO.

Die Östliche Partnerschaft – das gilt unverändert –
richtet sich gegen niemanden, auch nicht gegen Russ-
land. Ich bedaure sehr, dass Präsident Putin dennoch
Entscheidungen einzelner Länder für ein EU-Assoziie-
rungsabkommen zu einer Frage von Entweder-oder, für

oder gegen Russland gemacht hat. Das Gegenteil bleibt
richtig: Es geht nicht um ein Entweder-oder, sondern es
geht um ein Sowohl-als-auch, von dem alle nur profitie-
ren können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb wird die Europäische Union in genau diesem
Geist ihr Angebot der Östlichen Partnerschaft beim
heute beginnenden Europäischen Rat in Brüssel und
beim Gipfel der Östlichen Partnerschaft in Riga im Mai
bekräftigen.

Meine Damen und Herren, ein weiteres außenpoliti-
sches Thema des Europäischen Rates wird die Lage in
Libyen sein. Nur ein paar hundert Kilometer vor den To-
ren Europas taumelt Libyen am Rande eines Bürger-
kriegs. Terrorgruppen und organisierte Kriminalität ma-
chen sich das Chaos zunutze und nisten sich dort ein.
Mit welchen Konsequenzen das verbunden ist, führt uns
die Terrororganisation IS immer wieder mit der barbari-
schen Ermordung unschuldiger Menschen vor Augen.

Lassen Sie mich die Gelegenheit nutzen, der Opfer zu
gedenken, die gestern in Tunesien im Rahmen eines ter-
roristischen Anschlags ums Leben kamen. Den Angehö-
rigen gilt unser tief empfundenes Mitgefühl. Wir werden
alles tun, was in unserer Kraft steht, um Tunesien zu hel-
fen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Lage in Libyen hat massive Auswirkungen nicht
nur auf Nordafrika und die Sahelzone, sondern eben
auch auf uns in Europa. Bereits jetzt gehört Libyen zu
den wichtigsten Transitländern für Flüchtlinge aus
Afrika und Nahost. Die Vereinten Nationen bemühen
sich um eine politische Lösung. Diese Bemühungen
richten sich auf das Ziel, in Libyen eine Regierung der
nationalen Einheit bilden zu können; denn nur auf die-
sem Weg werden dauerhafter Frieden, Stabilität und
Wohlstand möglich sein. Wir unterstützen diese Bemü-
hungen gemeinsam mit der EU und anderen Partnern mit
aller Kraft.

Herr Präsident, meine Damen und Herren, eigentlich
sah die offizielle Tagesordnung des Europäischen Rates
keine Beratung zur Lage in Griechenland vor. Nun aber
werden wir heute Abend in einer kleinen Gruppe mit
Ministerpräsident Tsipras doch darüber sprechen; denn
natürlich drehen sich zurzeit wieder viele unserer Ge-
danken um dieses Land. Griechenland gelten wieder ver-
stärkt die Bemühungen der Finanzminister wie der euro-
päischen Institutionen.

Griechenland, das Land, in dem vor fünf Jahren die
europäische Staatsschuldenkrise ihren Ausgang nahm,
hat diese Krise noch lange nicht hinter sich. Es bleibt ein
sehr schwerer Weg zu gehen. Dabei ist heute so klar wie
2010, als die europäischen Partner in einem erheblichen
politischen wie finanziellen Kraftakt das erste europäi-
sche Hilfsprogramm für Griechenland auflegten: Nur





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)


mit einem solchen Kraftakt wird es gehen, nur in diesem
Zusammenspiel von Solidarität und griechischer Eigen-
anstrengung, nur indem die einen helfen und die anderen
die Hilfe als Verpflichtung verstehen, als Verpflichtung,
den Haushalt in Ordnung zu bringen, zu reformieren und
daraufhin zu arbeiten, eines Tages keine Hilfe mehr zu
brauchen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Nur so wird es gehen, indem man Vereinbarungen trifft
und sich alle an Vereinbarungen halten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich habe den griechischen Ministerpräsidenten Alexis
Tsipras für Montag nach Berlin eingeladen. Ich freue
mich auf seinen Besuch. Wir werden Zeit haben, aus-
führlich miteinander zu reden, vielleicht auch zu disku-
tieren.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Es ist natürlich völlig klar, dass niemand eine Lösung für
Griechenlands Probleme schon heute Abend in Brüssel
oder am Montagabend erwarten kann. Eine Lösung der
Probleme kann es auch nur auf der Basis dessen geben,
was in der Euro-Gruppe miteinander vereinbart worden
ist. Kein Treffen im kleinen Kreis kann oder wird die Ei-
nigung auf Vorschlag der Institutionen – Internationaler
Währungsfonds, Europäische Zentralbank und Europäi-
sche Kommission – in der Euro-Gruppe ersetzen. Doch
ich führe alle meine Gespräche heute, Montag und viele
andere mehr in dem Verständnis, dass aus Meinungsver-
schiedenheiten Gemeinsamkeit wird, so wie es auf dem
Weg zur europäischen Einigung immer wieder gelungen
ist. Deutschland ist dazu bereit; denn ich bin mir sehr
wohl bewusst: Die Welt schaut auf uns, wie wir in der
Euro-Zone mit Problemen und Krisen in einzelnen Mit-
gliedstaaten umgehen. Die Welt misst uns daran, und sie
wird Europa umso mehr respektieren, wenn wir zeigen,
dass wir gemeinsam handeln und gemeinsam die Pro-
bleme lösen können.

Ich habe immer wieder gesagt: Scheitert der Euro,
scheitert Europa. Das fanden und finden manche zu dra-
matisch. Aber ich bleibe dabei; denn der Euro ist weit
mehr als eine Währung. Er ist neben den europäischen
Institutionen, die wir geschaffen haben, der stärkste Aus-
druck unseres Willens, die Völker Europas wirklich im
Guten und Friedlichen zu vereinen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Er ist der Ausdruck des völkerverbindenden Miteinan-
ders, mit dem wir unwiderruflich die Lehre aus Jahrhun-
derten der Kriege und der Feindschaften gezogen haben.
Wenn ich bedenke, was wir auf diesem Weg der europäi-
schen Einigung geschafft haben, dann sehe ich keinen
Grund, vor den heutigen Aufgaben zu verzagen – im Ge-
genteil.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Vielleicht ist es wieder an der Zeit, dass wir es uns
selber laut sagen: Die Europäische Union ist die Ge-
meinschaft des Friedens, sie ist die Gemeinschaft der
Stabilität, sie ist die Gemeinschaft der Freiheit. Viele
europäische Mitgliedstaaten haben in den vergangenen
Jahrzehnten Diktaturen überwunden und sich die Demo-
kratie erkämpft: Spanien, Portugal, auch Griechenland
und natürlich die Staaten dessen, was man einmal den
Ostblock nannte, ein Teil Deutschlands auch. Die Blöcke
gibt es nicht mehr. Stattdessen gibt es eine erweiterte
Europäische Union. Auch das haben wir geschafft, und
darauf können wir Europäer stolz sein.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE])


Vielleicht ist es auch an der Zeit, dass wir uns wieder
daran erinnern, wie wir diese wunderbare Wandlung
vom Kontinent des Krieges zum geeinten Europa ge-
schafft haben: mit Kreativität und Vertragstreue, mit fes-
ten Prinzipien ebenso wie mit Verständnis füreinander
und Kompromissbereitschaft.


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch mit Vertragsänderungen!)


Und darauf kommt es jetzt wieder an. Dafür bitte ich
weiterhin um Ihre Unterstützung, zum Wohle der Euro-
päerinnen und Europäer, die zu ihrem Glück vereint
sind.

Vielen Dank.


(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der SPD sowie der Abg. Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1809400200

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der

Kollegin Sahra Wagenknecht für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809400300

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!

Frau Bundeskanzlerin! Zu ihren besten Zeiten hatte die
deutsche Außenpolitik zwei Prioritäten. Das waren die
europäische Einigung und eine Politik der guten Nach-
barschaft gegenüber Russland. Es sollte Ihnen schon zu
denken geben, Frau Merkel – wenn Sie bitte zuhören
könnten –,


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist eine Frechheit!)


dass Nationalismus und Zwietracht in Europa, knapp
zehn Jahre nachdem Sie das Kanzleramt übernommen
haben, wieder gedeihen wie lange nicht mehr und im
Verhältnis zu Russland die Entspannungspolitik einem
neuen Kalten Krieg gewichen ist.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)






Dr. Sahra Wagenknecht


(A) (C)



(D)(B)


Die spezifischen US-Interessen in Europa hat vor kur-
zem der Chef des einflussreichen Thinktanks Stratfor in
einer Pressekonferenz in eindrucksvoller Offenheit er-
läutert: Hauptinteresse der Vereinigten Staaten sei es, ein
Bündnis zwischen Deutschland und Russland zu verhin-
dern, denn – so wörtlich – „vereint sind sie die einzige
Macht, die uns“, also die USA, „bedrohen kann“.

Diese vermeintliche Bedrohung von US-Interessen
wurde auf absehbare Zeit erfolgreich erledigt. Das be-
gann eben damit, dass die EU im Rahmen der Östlichen
Partnerschaft versucht hat, die betreffenden Länder aus
der wirtschaftlichen und politischen Kooperation mit
Russland herauszubrechen.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aberwitzig!)


Frau Merkel, natürlich war das gegen Russland gerich-
tet; aber es war eben auch nicht im Interesse der betref-
fenden Länder. Sie haben denen das Entweder-oder auf-
gezwungen, nicht Russland.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Ergebnis hat die Ukraine einen Großteil ihrer In-
dustrie verloren. Heute ist dieses Land ein bankrotter
Staat, in dem Menschen hungern und frieren und die
Löhne niedriger sind als im afrikanischen Ghana.

Aber die Konfrontation mit Russland hat nicht nur die
Ukraine zerstört. Sie schadet ganz Europa. Es ist doch
ein offenes Geheimnis, dass die Vereinigten Staaten den
Konflikt mit Russland auch aus wirtschaftlichen Grün-
den schüren. Wenn US-Regierungen von Menschenrech-
ten reden, dann geht es in der Regel um Bohrrechte oder
um Schürfrechte. Gerade in der Ukraine ist angesichts
der großen Schiefergasvorkommen verdammt viel zu
schürfen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn jetzt im Rahmen der Energieunion von neuen
Pipelinerouten und einer zunehmenden Unabhängigkeit
vom russischen Gas geredet wird, dann sollten Sie den
Leuten ehrlicherweise sagen, was das bedeutet: wach-
sende Abhängigkeit vom wesentlich teureren und ökolo-
gisch verheerenden US-Frackinggas. Ich halte das nicht
für eine verantwortungsvolle Perspektive.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Liste der ehemaligen deutschen Spitzenpolitiker,
die Ihre Russlandpolitik kritisiert haben, Frau Merkel, ist
lang. Da finden Sie die Namen Ihrer Vorgänger Gerhard
Schröder, Helmut Kohl, Helmut Schmidt und ebenso
Hans-Dietrich Genscher. Vielleicht hat das ja auch zu Ih-
rem Einlenken beigetragen. Auf jeden Fall war es rich-
tig, dass Sie gemeinsam mit dem französischen Präsi-
denten Hollande die Initiative zu neuen Verhandlungen
ergriffen haben. Minsk II hat immerhin dazu geführt,
dass in der betreffenden Region seit Wochen deutlich
weniger Menschen sterben als in den Wochen und Mo-
naten davor und dass die Tür zu einer friedlichen Lösung
geöffnet wurde.


(Beifall bei der LINKEN)


Natürlich ist das ein wichtiges Ergebnis. Sie, Frau
Bundeskanzlerin, und der französische Präsident verdie-
nen dafür Anerkennung.


(Tino Sorge [CDU/CSU]: Dann sagen Sie das doch auch mal!)


Wem aber an Frieden und Sicherheit in Europa liegt,
der muss den Weg von Minsk II jetzt auch mit Konse-
quenz und Rückgrat weitergehen. Da ist es natürlich ein
Problem, dass Konsequenz und Rückgrat nicht gerade zu
Ihren hervorstechenden Eigenschaften gehören.


(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)


Laut OECD haben beide Seiten den Waffenstillstand
wiederholt gebrochen. Sie, Frau Merkel, haben gerade
wieder gefordert, dass die Sanktionen gegen Russland
erst aufgehoben werden, wenn Minsk II umgesetzt ist.


(Beifall des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU])


Natürlich ist es inakzeptabel, wenn aus den Reihen
der Aufständischen immer noch geschossen wird.


(Tino Sorge [CDU/CSU]: Inakzeptabel!)


Aber wenn ukrainische Truppen oder die auf ihrer Seite
kämpfenden Nazi-Bataillone weiter schießen, dann ist
das doch mindestens genauso inakzeptabel. Dazu hört
man von Ihnen kein kritisches Wort.


(Beifall bei der LINKEN)


Wieso melden Sie sich auch nicht mit Kritik zu Wort,
wenn die ukrainische Regierung trotz drohenden Staats-
bankrotts in diesem Jahr viermal so viel Geld für neue
Waffen ausgeben möchte als im letzten Jahr?


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: So ist es!)


Das spricht nicht gerade dafür, dass der Weg des Frie-
dens in der ukrainischen Regierung besonders engagierte
Unterstützer hat.

Ebenso können die Entsendung von Militärberatern
und die Waffenlieferungen durch die Vereinigten Staaten
und Großbritannien eher als Torpedierung denn als
Unterstützung des Friedensprozesses gewertet werden.
Aber wollen Sie jetzt auch gegen die USA und Groß-
britannien Sanktionen verhängen? Ich glaube, es wäre
besser, einzusehen, dass diese ganze unsägliche Sank-
tionspolitik ein einziger großer Fehler war, mit dem sich
Europa ins eigene Knie geschossen hat. Deswegen soll-
ten die Sanktionen nicht verlängert werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir brauchen auch keine zusätzlichen Panzer. Wir
brauchen auch keine 3 000 Mann starke NATO-Interven-
tionstruppe in Osteuropa, die niemanden schützt, son-
dern den Frieden in ganz Europa nur noch mehr gefähr-
det.


(Beifall bei der LINKEN)


Helmut Schmidt hatte doch recht, als er schon 2007
gewarnt hat, dass für den Frieden der Welt von Russland
heute viel weniger Gefahr ausgeht als etwa von Amerika





Dr. Sahra Wagenknecht


(A) (C)



(D)(B)



(Lachen der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


und dass die NATO nur noch ein Instrument US-ameri-
kanischer Hegemoniebestrebungen sei. Wenn das
stimmt, dann lässt das doch nur einen vernünftigen
Schluss zu: dass Europa endlich eine eigenständige und
von den USA unabhängige Politik machen muss.


(Beifall bei der LINKEN)


Herr Juncker hat nun die These aufgestellt, wir
bräuchten eine europäische Armee, um zu zeigen, dass
es uns mit der Verteidigung europäischer Werte gegen-
über Russland ernst ist. Ich glaube, dieser Vorschlag
zeigt vor allem eins: wie weit sich Europa von dem ent-
fernt hat, was einst die Gründerväter der europäischen
Einigung wollten.


(Beifall bei der LINKEN)


Damals ging es – Frau Merkel, Sie haben es eben selber
angesprochen – um Frieden, um Demokratie und um So-
lidarität.


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und den bösen Kapitalismus!)


Nie wieder sollten Nationalismus und Völkerhass die eu-
ropäischen Länder entzweien. Aber um solche Werte zu
verteidigen, dafür brauchen Sie wahrlich keine bewaff-
neten Bataillone.

Wenn Sie die Demokratie verteidigen wollen, Frau
Merkel, dann setzen Sie sich doch dafür ein, dass die eu-
ropäischen Länder endlich wieder von ihren gewählten
Regierungen und nicht von Finanzmärkten, nicht von
dem ehemaligen Investmentbanker Mario Draghi und,
bitte schön, auch nicht von Ihnen, Frau Merkel, regiert
werden.


(Beifall bei der LINKEN – Michael GrosseBrömer [CDU/CSU]: Distanzieren Sie sich einmal von der Gewalt gestern! Das wäre ein wichtiger Schritt!)


Wenn Sie Demokratie wollen, dann stoppen Sie die so-
genannten Freihandelsabkommen, dann stoppen Sie
TTIP, in dessen Folge demokratische Wahlen endgültig
zur bloßen Farce verkommen.


(Beifall bei der LINKEN)


Das wäre eine Verteidigung europäischer Werte! Das
wäre eine Verteidigung von Demokratie, diese unsägli-
chen Verhandlungen über TTIP und ähnliche Abkom-
men endlich auszusetzen!


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn Sie ein einiges Europa wollen, dann hören Sie
auf, andere Länder zu demütigen und ihnen Programme
zu diktieren, die ihrer jungen Generation jede Perspek-
tive nehmen.


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben doch zugestimmt bei Griechenland!)


Hören Sie auf, Europa sogenannte Strukturreformen vor-
zuschreiben, die nur auf wachsende Ungleichheit und ei-
nen immer größeren Niedriglohnsektor hinauslaufen!


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wer koaliert denn mit den Rechten in Griechenland? Das ist doch Ihre Schwesterpartei!)


In Deutschland sind infolge dieser Politik mittlerweile
3 Millionen Menschen trotz Arbeit so arm, dass sie nicht
ordentlich heizen, sich nicht anständig ernähren und
schon gar nicht in den Urlaub fahren können. Statt diese
Politik zum Exportschlager zu erklären, wäre es an der
Zeit – und übrigens sehr im europäischen Interesse –, sie
endlich hier in Deutschland zu korrigieren; denn es ist
nicht zuletzt das deutsche Lohndumping, das anderen
Ländern der Währungsunion die Luft zum Atmen
nimmt.


(Beifall bei der LINKEN)


Finanzminister Schäuble hat kürzlich versucht, die
griechische Regierung mit der Bemerkung vorzuführen:
Tja, regieren sei halt immer ein Rendezvous mit der
Realität.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Richtig! – Max Straubinger [CDU/CSU]: So ist es!)


Da kann man nur sagen: Schön wär’s! Schön wäre es,
wenn die deutsche Regierung ihr Rendezvous mit der
Realität endlich auch einmal erleben würde.


(Beifall bei der LINKEN – Michael GrosseBrömer [CDU/CSU]: Das schreiben Sie sich auch einmal auf, bevor Sie eine Rede halten!)


Denn Realität ist jedenfalls, dass es nicht die Syriza, son-
dern die griechischen Schwesterparteien von CDU/CSU
und SPD waren, die über Jahrzehnte einen riesigen
Schuldenberg aufgetürmt haben, um sich und der Ober-
schicht die Taschen vollzustopfen.


(Beifall bei der LINKEN)


Realität ist auch, dass Griechenland bereits 2010 hoff-
nungslos überschuldet war und dass es eine verantwor-
tungslose Veruntreuung von deutschem Steuergeld war,
mit diesem Geld die Schulden der Griechen bei den Ban-
ken zu bezahlen. Wir haben deswegen damals nicht zu-
gestimmt. Wir haben damals schon einen Schulden-
schnitt gefordert.


(Beifall bei der LINKEN)


Wer einem Überschuldeten Kredit gibt, der wird sein
Geld mutmaßlich nie wiedersehen. Aber die Verantwor-
tung dafür liegt bei Ihnen, Frau Merkel und Herr
Schäuble, und nicht bei der neuen griechischen Regie-
rung, die noch nicht einmal zwei Monate im Amt ist.


(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)


Realität ist auch, dass unter dem Protektorat der von
Ihnen immer noch hochgeschätzten Troika, über deren
kriminelle Machenschaften man sich in dem hervorra-
genden Dokumentarfilm von Harald Schumann infor-





Dr. Sahra Wagenknecht


(A) (C)



(D)(B)


mieren kann, die griechischen Schulden noch weiter ge-
wachsen und die griechischen Milliardäre noch reicher
geworden sind.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: So ist es!)


Und das wollen Sie fortsetzen? Da kann ich nur sagen:
Gute Nacht!

Wenn Sie unser Geld zurückholen wollen, dann holen
Sie es bei denen, die es bekommen haben,


(Beifall bei der LINKEN)


und das waren nicht griechische Rentner und griechische
Krankenschwestern, sondern die internationalen Ban-
ken und die griechische Oberschicht. An dieser Stelle
können Sie der griechischen Regierung helfen, das Geld
wieder einzutreiben.


(Beifall bei der LINKEN – Michael GrosseBrömer [CDU/CSU]: Sagen Sie das doch einmal Herrn Tsipras! Wer regiert denn in Griechenland?)


Zu der ganzen Debatte um mögliche Reparationszah-
lungen möchte ich nur sagen:


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Die ist zu Ende!)


Egal, wie man diese Forderungen juristisch bewertet, das
Mindeste, was man von Vertretern des deutschen Staates
erwarten kann, ist ein Mindestmaß an Sensibilität im
Umgang mit diesem Thema.


(Beifall bei der LINKEN – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)


– Ich muss sagen, dass Sie jetzt auch noch lachen, ist
wirklich traurig.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Unsensibel!)


Angesichts dessen, wie die deutschen Besatzer in
Griechenland gewütet haben, und der Tatsache, dass
1 Million Griechinnen und Griechen in diesem finsteren
Kapitel deutscher Geschichte ihr Leben verloren hat,
finde ich die schnoddrigen Äußerungen von Ihnen, Herr
Schäuble, und von Ihnen, Herr Kauder, einfach nur re-
spektlos, und ich schäme mich dafür.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


Um daran zu erinnern, dass Umgang mit Geschichte
auch anders geht, möchte ich zum Schluss aus der Rede
Richard von Weizsäckers aus Anlass des 40. Jahrestages
der Befreiung zitieren. – Ich komme gleich zum Schluss,
Herr Präsident. – Sie bezog sich damals vor allem auf
Russland und Osteuropa, aber sie gilt natürlich auch für
Griechenland:


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Was Sie alles wissen!)


Wenn wir daran denken, was unsere östlichen
Nachbarn im Kriege erleiden mussten, werden wir
besser verstehen, dass der Ausgleich, die Entspan-

nung und die friedliche Nachbarschaft mit diesen
Ländern zentrale Aufgaben der deutschen Außen-
politik bleiben. Es gilt, dass beide Seiten sich erin-
nern und beide Seiten einander achten.

Ja, nur wenn wir uns erinnern und nur wenn wir ei-
nander achten, nur dann finden wir zu einer Politik der
guten Nachbarschaft zurück, sowohl innerhalb der EU
als auch gegenüber Russland.


(Anhaltender Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1809400400

Nächster Redner ist der Kollege Thomas Oppermann

für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Thomas Oppermann (SPD):
Rede ID: ID1809400500

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Verehrte Frau Wagenknecht, wir sind ja einiges
von Ihnen gewohnt,


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wir von Ihnen auch!)


aber dass Sie jetzt die Europäische Kommission, den In-
ternationalen Währungsfonds und die EZB und ihre Ar-
beit in Griechenland als kriminelle Machenschaften be-
zeichnen, ist eine neue Qualität.


(Dr. Sahra Wagenknecht [DIE LINKE]: Schauen Sie sich doch den Dokumentarfilm an! Bilden hilft!)


Ich habe den Eindruck, dass Ihre Kritik jedes Ziel und
jedes Maß verloren hat.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der LINKEN)


Ich weiß auch gar nicht, warum Sie so schimpfen. Ihre
Fraktion hat doch vor zwei Wochen mit großer Mehrheit
der Verlängerung des Programmes zugestimmt.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Richtig!)


Ihre ganze Rede eben war doch ein Abarbeiten an der
Unzufriedenheit mit der Entscheidung Ihrer eigenen
Fraktion.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir über Europa reden, dann will ich auch ein
Wort zu den Bildern und zu den Nachrichten sagen, die
uns gestern aus Frankfurt erreicht haben. Dass ausge-
rechnet jetzt so militant gegen die EZB demonstriert
wird, die ja in den letzten Jahren ganz maßgeblich für
die Stabilität in Europa gesorgt hat, die dazu beigetragen
hat, dass Krisenländer nicht im Finanzchaos versinken,
das ist für mich schwer verständlich.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie der Abg. Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])






Thomas Oppermann


(A) (C)



(D)(B)


Jeder in Deutschland hat natürlich das Recht, friedlich
zu demonstrieren. Das ist ein wichtiges Grundrecht, das
wir immer verteidigen.


(Zuruf von der LINKEN)


Wenn aber Einzelne oder einzelne Gruppen aus diesen
Demonstrationen heraus Feuerwehrleute und Polizisten
angreifen, dann ist das unerträglich.


(Beifall im ganzen Hause)


Ich sage ganz klar: Das sind für mich keine Demonstran-
ten. Das sind politische Kriminelle. Ich hoffe sehr, dass
sie für ihr Verhalten mit aller Konsequenz zur Rechen-
schaft gezogen werden.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])


Meine Damen und Herren, auch wenn, wie es die
Bundeskanzlerin gesagt hat, von diesem Gipfel noch
keine Lösung zu erwarten ist, müssen wir alles daranset-
zen, dass Griechenland doch noch einen Weg aus dieser
Krise findet. Das wünsche ich Griechenland. Das wün-
sche ich aber auch uns. Denn eine erfolgreiche Entwick-
lung in Griechenland liegt in unserem ureigenen Inte-
resse.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Deutschland haftet mit rund 50 Milliarden Euro für
griechische Staatsanleihen. Aber es steht nicht nur finan-
ziell viel auf dem Spiel, sondern auch, weil ein Austritt
Griechenlands aus der Euro-Zone enorme wirtschaftli-
che und soziale Verwerfungen in Griechenland zur Folge
hätte. Vor allem aber geht es um die Frage, ob Europa in
dieser schwierigen Situation zusammenbleibt oder ausei-
nanderfällt. Denn wir müssen uns klarmachen, dass ein
Ausscheiden Griechenlands aus der Euro-Zone ein dra-
matischer Akt und ein schwerer Rückschlag wäre, nicht
nur für die Euro-Zone, sondern auch für die ganze Idee
der Europäischen Union. Das wäre mit Blick auf die Kri-
sen in dieser Welt und auf die Krisenherde in Libyen, im
Nahen Osten und in der Ukraine ein schwer hinzuneh-
mendes Zeichen der Schwäche der Europäischen Union,
das wir überhaupt nicht gebrauchen können.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb, meine Damen und Herren, hoffe ich sehr,
dass auf dem Gipfel alle miteinander daran arbeiten, die
Probleme Griechenlands innerhalb der Euro-Zone zu lö-
sen. Dabei muss man allerdings, und zwar entgegen aller
links- oder rechtspopulistischen Propaganda, klar darauf
hinweisen: Diese Probleme hat nicht die Europäische
Union, nicht die Euro-Zone und auch nicht die Bundes-
regierung verursacht, sondern das Schulden- und
Finanzdesaster in Griechenland ist in erster Linie auf das
jahrzehntelange Wirken korrupter politischer und öko-
nomischer Eliten zurückzuführen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Ja, genau! Auch von Pasok!)


– Dazu gehört auch Pasok; gar keine Frage.

Auch nach nunmehr über fünfjährigen Reformbemü-
hungen hat sich die Situation in Griechenland immer
noch nicht grundlegend gebessert. Es gibt in Griechen-
land immer noch keine effiziente Staatsverwaltung und
Justiz. Stattdessen hat das klientelistische System einen
völlig überdimensionierten öffentlichen Dienst hervor-
gebracht, der zu einer Versorgungsanstalt für die Anhän-
ger der regierenden Parteien degeneriert ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Michael Grosse-Brömer [CDU/ CSU]: Der wird jetzt sogar noch ausgebaut! – Zurufe von der LINKEN)


Selbstständige müssen sich in Griechenland mit einer
irrsinnigen Bürokratie auseinandersetzen. Es gibt immer
noch eine riesige Schattenwirtschaft mit Schwarzarbeit,
Korruption und Steuerhinterziehung. Vor allem den Pri-
vilegierten und Vermögenden und den oligarchischen
Gruppen in diesem Lande ist es immer wieder gelungen,
sich der Besteuerung zu entziehen.


(Joachim Poß [SPD]: Bis heute!)


Griechenland, meine Damen und Herren, ist nicht nur
deshalb hoch verschuldet, weil es Probleme mit der wirt-
schaftlichen Wettbewerbsfähigkeit hat, sondern vor al-
lem auch deshalb, weil es kein intaktes Staatswesen und
keine funktionierende Steuerverwaltung gibt. Griechen-
land ist auch deshalb ein armer Staat, weil privater
Reichtum nicht angemessen besteuert wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE])


Nur wenn diese Reformen ernsthaft in Angriff ge-
nommen werden, machen weitere Hilfen für Griechen-
land überhaupt einen Sinn.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Jahrelang laufen lassen und nach sechs Wochen die Erfüllung haben wollen! Das geht doch gar nicht!)


Das ist der Grund dafür, warum wir darauf bestehen,
dass es eine Fortsetzung des Programmes nur geben
kann, wenn Zug um Zug die dringend notwendigen Re-
formen durchgeführt werden.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Wir sind zu Solidarität bereit. Aber Solidarität ist keine
Einbahnstraße, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN: Oh! – Nicht das schon wieder! – Das ist jetzt ja ganz neu!)


Wir müssen leider feststellen – in diesem einen Punkt
gebe ich Ihnen recht, Frau Wagenknecht –, dass die alte
Regierung diese Probleme trotz einzelner Fortschritte
nicht wirklich angepackt hat. Wenn jetzt die neue Regie-
rung


(Zuruf von der SPD: Die macht das auch nicht!)






Thomas Oppermann


(A) (C)



(D)(B)


ernsthaft das klientelistische System und die Korruption
bekämpfen und eine umfassende Staatsreform auf den
Weg bringen will, dann verdient sie die Unterstützung
Deutschlands und Europas. Das ist doch gar keine Frage.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber leider hat die neue Regierung schon in den ers-
ten zwei Monaten viel Vertrauen verspielt.


(Widerspruch bei der LINKEN)


Ich finde die zum Teil aggressive Tonlage mehr als be-
fremdlich.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sehr richtig! – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Und was ist mit Herrn Schäuble?)


Die persönlichen Angriffe auf Bundesfinanzminister
Schäuble sind absolut unangemessen, meine Damen und
Herren.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der griechische Finanzminister Varoufakis hat in den
letzten Wochen so viele Vorschläge gemacht, dass ich je-
denfalls nicht mehr weiß, wofür er steht.


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Fragen Sie ihn doch einfach!)


Ich finde es gut, dass die Bundeskanzlerin jetzt Lösun-
gen mit Herrn Tsipras sucht. Im Übrigen müssen wir
aufpassen, dass dies kein Konflikt zwischen Deutsch-
land und Griechenland wird. Das müssen wir verhin-
dern. Die Aufstellung ist doch nicht „Deutschland gegen
Griechenland“, sondern es geht um Griechenland und
Europa; so muss es doch richtig lauten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Im Übrigen finde ich es deplatziert, die Verhandlun-
gen über Hilfspakete mit der Forderung nach Reparatio-
nen zu vermischen.


(Zurufe von der LINKEN)


Es war gut und richtig, dass Bundespräsident Gauck bei
seinem Staatsbesuch in Griechenland vor genau einem
Jahr ein klares Bekenntnis zu unserer historischen Ver-
antwortung abgelegt und die Angehörigen der Opfer um
Verzeihung gebeten hat. Er hat aber auch die Forderun-
gen nach Reparationszahlungen zurückgewiesen. Die
Bundesregierung geht davon aus, dass alle Reparations-
fragen einschließlich Zwangsanleihen


(Lachen bei Abgeordneten der LINKEN)


durch die Zwei-plus-Vier-Gespräche rechtlich abschlie-
ßend geregelt sind.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Durch Zahlungen schon 1960!)


Ich teile diese rechtliche Beurteilung.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ich auch!)


Aber klar ist auch: Die Verbrechen der nationalsozialisti-
schen Besatzungsmacht haben kein Verfallsdatum, dafür
tragen wir Verantwortung,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


unabhängig davon, ob Reparationen gezahlt worden sind
oder Ansprüche auf Reparationen bestehen, meine Da-
men und Herren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zu dieser Verantwortung gehört auch, dass wir uns
bemühen, die Spannungen zwischen Deutschland und
Griechenland abzubauen. Viele deutsche Jugendliche
wachsen mit einem völlig einseitigen Bild von Griechen-
land auf, einem Bild, das nur noch von der Schulden-
krise geprägt ist. Deshalb ist es eine sehr gute Initiative,
über die Gründung des Deutsch-Griechischen Jugend-
werkes und die Stiftung Zukunft den Jugendaustausch zu
fördern und Versöhnungsprojekte voranzubringen.

Ich finde, wir sollten den deutsch-griechischen Dialog
auf allen Ebenen intensivieren. Da ist zum Beispiel von
Herrn Fuchtel gefordert worden, die Zusammenarbeit der
Kommunen auszubauen. Von den 5 500 Städtepartner-
schaften, die es gibt, bestehen nur 29 zwischen deut-
schen und griechischen Städten. Ich finde, unsere Kom-
munen haben ein exzellentes Know-how im Bereich der
kommunalen Daseinsvorsorge. Hier muss ja nicht immer
privatisiert werden. Wir können doch auch zeigen, wie
Einrichtungen der kommunalen Daseinsvorsorge auf
kommunaler Ebene hocheffizient organisiert und betrie-
ben werden können. Ich finde, wir sollten mehr Know-
how-Transfer in dieser Art organisieren.

Auch wenn die Verhandlungen mit Griechenland in
den nächsten Wochen hart werden, müssen wir sie im-
mer so führen, dass die Freundschaft zwischen Deutsch-
land und Griechenland daran nicht zerbricht, meine Da-
men und Herren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Genau vor einem Jahr hat Russland die Halbinsel
Krim besetzt und sie annektiert. Wladimir Putin hat das
jetzt so begründet: Bei den Massenprotesten in der
Ukraine sei ein extremer Nationalismus erkennbar ge-
worden; deshalb habe er die Menschen nicht alleinlassen
können. – Man kann über die Proteste auf dem Maidan
denken, wie man will; aber unter keinen Umständen
kann man damit Besetzung und Annexion fremden
Staatsgebietes rechtfertigen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Äußerungen Putins zeigen, dass er sich meilenweit
von den Grundlagen der europäischen Friedensordnung,





Thomas Oppermann


(A) (C)



(D)(B)


wie sie in der KSZE-Schlussakte niedergelegt worden
ist, entfernt hat. Trotzdem war es richtig, dass die Bun-
deskanzlerin und der Bundesaußenminister mit dem
französischen Präsidenten die Verhandlungen in Minsk
genutzt haben, um einen erneuten Waffenstillstand in der
Ostukraine zu vereinbaren. Auch wenn die Einhaltung
und Überwachung dieses Waffenstillstandes Schwierig-
keiten bereiten, ist diese Vereinbarung doch der einzige
Hoffnungsschimmer in diesem Konflikt seit Monaten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Frau Bundeskanzlerin und Herr Bundesaußenminister,
ich möchte Ihnen persönlich ganz herzlich dafür danken,
dass Sie das so unermüdlich auf den Weg gebracht ha-
ben.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Eine Rückkehr zur europäischen Friedensordnung ist
ein langer Weg und setzt als ersten Schritt voraus, dass
die Waffen schweigen, damit der Konflikt friedlich gere-
gelt und ein politischer Verhandlungsprozess in Gang
gesetzt werden kann. Deshalb brauchen wir Deeskala-
tion, und deshalb war es absolut richtig, dass sich die
Bundesregierung eindeutig dagegen ausgesprochen hat,
Waffen in die Ukraine zu liefern. Das würde den Kon-
flikt nicht lösen, sondern weiter intensivieren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dieser Konflikt kann aber nicht mit militärischen Mit-
teln, sondern nur mit politischen Mitteln gelöst werden.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Solange das nicht der Fall ist, müssen die Russland-
Sanktionen natürlich bestehen bleiben. Alle Mitglieder
der Europäischen Union haben diesen Sanktionen zuge-
stimmt. Das zeigt: Europa handelt vereint und lässt sich
nicht auseinanderdividieren. Eine klare Haltung in dieser
Frage schließt aber nicht aus, dass wir inmitten dieses
ungelösten Konfliktes auch immer wieder deutlich ma-
chen: Wir Deutschen wollen eine politisch stabile, wirt-
schaftlich vertiefte und freundschaftliche Beziehung zu
Russland. – Wir müssen diese Dinge aber klären, damit
wir wieder näher zusammenkommen können.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Angesichts der Ukraine-Krise und der vielen weiteren
Konflikte ist es gut, dass wir in Deutschland – das sehen
die allermeisten Bürger so – eine handlungsfähige Re-
gierung und eine stabile Koalition in diesem Bundestag
haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das ist nicht nur außenpolitisch, sondern auch für die
Entwicklung in diesem Land wichtig.

In den letzten Wochen ist viel über das Ende der Ge-
meinsamkeiten gesprochen worden – und das ausgerech-
net, nachdem wir die Mietpreisbremse verabschiedet, die

Frauenquote auf den Weg gebracht und uns über die
Grundzüge eines 15-Milliarden-Euro-Investitionspro-
grammes geeinigt haben. Das hat mich doch ein biss-
chen gewundert. Die Opposition schöpft Hoffnung und
fühlt sich im Aufwind. Aber, meine Damen und Herren,
ich muss Sie enttäuschen: Diese Koalition wird diesem
Land auch in Zukunft eine gute Regierung stellen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Bis wann? 2030? 2040?)


Wenn es bei der Umsetzung des Mindestlohnes offene
Fragen gibt, dann werden wir darüber reden. Dass eine
Lohnänderung für 3,7 Millionen Menschen aufwendig
ist und Zeit braucht, wissen wir, und das wissen wir auch
zu würdigen. Ich möchte mich bei allen Arbeitgebern
bedanken, die den Mindestlohn in diesen Wochen umset-
zen und die offenen Fragen mit dem Bundesarbeits-
ministerium klären. Wir haben einen gesetzlichen Min-
destlohn auf den Weg gebracht und müssen deshalb auch
sicherstellen, dass er nicht nur im Bundesgesetzblatt
steht, sondern auch tatsächlich an die Menschen gezahlt
wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, die Bundeskanzlerin fährt
heute nach Brüssel und nimmt zwei gute Botschaften
mit: In Deutschland wird wieder mehr importiert, und in
Deutschland wird wieder mehr investiert. Beides ist gut
für Europa.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Nicht nur der Mindestlohn, sondern auch die kräftigen
Tarifabschlüsse haben dafür gesorgt, dass die Deutschen
endlich wieder mehr Geld in der Tasche haben. Das
stärkt die Binnenkonjunktur und wird die Importe erhö-
hen.

Der Bundeshaushalt 2016 – das ist jetzt schon klar –
wird ein Investitionshaushalt. 15 Milliarden Euro wer-
den in den nächsten Jahren zusätzlich für öffentliche In-
frastruktur und kommunale Investitionen bereitgestellt.
Das ist auch ein wichtiger Beitrag, um den Unterschied
zwischen finanzstarken und finanzschwachen Kommu-
nen und die unterschiedliche Wirtschaftskraft der einzel-
nen Kommunen auszugleichen.

Ich will an dieser Stelle auch sagen: Wir werden die
Kommunen bei der Flüchtlingsunterbringung nicht al-
leinlassen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es gibt noch 190 000 nicht abschließend bearbeitete
Asylanträge, Herr de Maizière. Unser gemeinsames An-
liegen in dieser Koalition ist: Wir müssen – vielleicht
auch bei den Haushaltsberatungen – darüber reden, wie
wir das schneller in den Griff bekommen können. Wir
müssen diesen Stau abbauen.

Mit Blick auf den anstehenden EU-Gipfel muss aber
klar sein: Die Flüchtlingsproblematik muss nicht nur in





Thomas Oppermann


(A) (C)



(D)(B)


Deutschland, sondern auch in Europa gelöst werden. Wir
brauchen endlich ein Flüchtlingskonzept der Europäi-
schen Union und eine faire Verteilung der Flüchtlinge in
ganz Europa.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Bitte an Sie, Frau Bundeskanzlerin, ist, dies in
Europa ganz oben auf die Agenda zu setzen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1809400600

Katrin Göring-Eckardt ist die nächste Rednerin für

die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Herr Oppermann, dass Sie in Ihrer Rede den eigenen
Leuten Mut zusprechen, was die Arbeit in der Koalition
angeht, und von Hoffnung reden, von der man lesen
kann, dass Sie sie aufgegeben haben, ist gut. Das hat mit
der Debatte jedoch wenig zu tun. Aber eines will ich Ih-
nen schon sagen: Wenn Sie hier darüber reden, dass Sie
die Kosten für die Unterbringung der Flüchtlinge in den
Kommunen übernehmen wollen, dann müssen Sie das
machen, statt dies seit Wochen und Monaten nur anzu-
kündigen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Meine Damen und Herren, vor drei Wochen haben
wir an dieser Stelle mit wirklich überwältigender Mehr-
heit einer Verlängerung der Griechenland-Hilfe um vier
Monate zugestimmt. Wir haben gemeinsam gesagt:
Griechenland braucht Zeit. Wir alle wissen: Vier Monate
sind nicht viel Zeit.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Man muss anfangen, zu arbeiten!)


Ob man diese Zeit unbedingt mit ziemlich undiplomati-
schem Gebettel hier und dort verbringen muss, sei da-
hingestellt. Wahrscheinlich wäre mehr Demut an der ei-
nen oder anderen Stelle angebracht gewesen. Ehrlich
gesagt: Wenn die griechische Regierung gesagt hätte:
„Liebe Europäer, wir sind neu in der Regierung. Wir
wollen und müssen unser Land wieder aufbauen und den
Menschen Mut machen, und dafür brauchen wir etwas
mehr Zeit“: Wer hätte es ihnen verdenken wollen? Mehr
Verständnis hätte man wahrscheinlich nicht bekommen
können.

Aber unabhängig davon, ob der Ton nun die Musik
macht oder nicht: Es ist, glaube ich, nicht angebracht,
mit gleicher Münze zurückzuzahlen. Es geht nicht ein-
fach nur um Hilfen für Griechenland. Es geht darum,
dass wir als Europäerinnen und Europäer handeln, dass
wir das gemeinsam tun, dass wir gemeinsam stolze Eu-
ropäerinnen und Europäer sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])


Deswegen ist es natürlich extrem wichtig, dass die Re-
formschritte umgesetzt werden; das ist selbstverständ-
lich. Aber es ist eben genauso wichtig, dass in das Land
hinein mit Reformen agiert wird, die den Menschen dort
Hoffnung geben.

Stellen Sie sich doch einmal kurz vor, unsere Arbeits-
losenquote läge bei über 25 Prozent, und stellen Sie sich
vor, wir hätten eine junge Generation, die sich selbst für
eine verlorene Generation hält: Wie würden wir agieren?
Wie würden wir handeln? Deswegen sage ich ganz klar
und deutlich: Es ist richtig, dass das griechische Parla-
ment jetzt gesagt hat: Wir müssen den Ärmsten der Ar-
men in unserem Land helfen, und zwar sofort.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Wir hatten über 5 Millionen Arbeitslose!)


Vor Ihrem Treffen in Brüssel muss man eines klar sa-
gen: Es ist richtig, zu diskutieren – so haben Sie das ge-
sagt –; das gilt auch für das Treffen am Montag mit
Herrn Tsipras. Es ist auch richtig, Auseinandersetzungen
zu führen. Aber dazu gehört natürlich auch ein kleines
bisschen Selbstkritik. Ja, es wurden Fehler gemacht,
nicht nur in Griechenland, sondern eben auch von der
Euro-Gruppe und von der Troika.

Der größte Fehler ist es, dass stur an einer einseitigen
Sparpolitik festgehalten wurde. Bei aller Sympathie für
Reformen und für mehr Einnahmen: Wir alle wissen,
dass man Steuerverwaltungen nicht über Nacht aufbaut.
Frau Merkel, ich habe heute sehr wohl und sehr gern ge-
hört, dass Sie von „Kreativität“ und „Vertragstreue“ ge-
redet haben. Das ging wohl eindeutig an Herrn Schäuble
und die CSU.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auf der anderen Seite frage ich mich, woher die Hal-
tung kommt, dass Sie sagen: Die Krise hat ihren Aus-
gangspunkt in Griechenland genommen. – Darüber muss
man historisch sicher noch einmal reden. Das klingt so
ein bisschen wie: Ihr habt doch angefangen. Jetzt verhal-
tet euch gefälligst ordentlich! – Ich finde, so etwas kann
man nicht sagen. Die Euro-Krise hat nicht in Griechen-
land begonnen. Sie hat mit der Finanzkrise begonnen;
sie hat zum Beispiel in Spanien begonnen. Aber jetzt den
Griechen einseitig die Schuld zuzuschieben und zu sa-
gen, sie seien diejenigen, durch die alles so schlimm ge-
worden sei, ist Quatsch. So sollte man in diesen Tagen
auch nicht verhandeln.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich will mich in der Frage des Grexit Herrn
Oppermann ausdrücklich anschließen. Er würde teurer,
und er würde für Europa politisch, außenpolitisch und
ökonomisch eine Katastrophe bedeuten. Deswegen sage
ich allen, vor allen Dingen Ihnen in der Union: Denken
Sie darüber nach, wie es mit den Hilfen für Griechenland





Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


weitergeht. Tun Sie nicht so, als könne man Griechenland
aus Europa wie einen Blinddarm aus einem Körper he-
rausoperieren und danach einfach weitermachen. – Wir
brauchen weitere Hilfe und weitere Unterstützung. Dabei
geht es um das gemeinsame Europa.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Selbstverständlich ist die Euro-Krise kein geeigneter
Zeitpunkt, um über Kriegsentschädigungen für Naziver-
brechen zu reden.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Allerdings ist das Thema zumindest bei den Zwangsan-
leihen weder moralisch noch rechtlich so eindeutig ge-
klärt, wie uns manche in der Bundesregierung glauben
lassen wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich sage Ihnen offen: Ich finde, wir sind seit Jahr-
zehnten in Deutschland nicht mehr so barsch und mit so
wenig Fingerspitzengefühl gegenüber den Opfern des
deutschen Terrorregimes im Ausland während der Nazi-
zeit aufgetreten wie die Bundesregierung in den vergan-
genen Tagen gegenüber Griechenland. Gesprächsbereit-
schaft muss sich von selbst verstehen. Und nein, es gibt
keinen Schlussstrich bei der Aufarbeitung der furchtba-
ren Gräueltaten des Naziregimes, meine Damen und
Herren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Frau Merkel, meine Damen und Herren, vorgestern
hat der Zyklon „Pam“ den Inselstaat Vanuatu mit unge-
heurer Wucht heimgesucht. Er ist ein weiteres Opfer der
Klimakrise. Frau Merkel, wir haben Ihnen genau zuge-
hört. Zu Recht haben Sie die europäische Debatte mit
den Klimazielen verbunden. Offen geblieben ist aller-
dings, was Sie wirklich vorhaben. Eine Energieunion als
Integrationsschritt für Europa könnte tatsächlich ein
Meilenstein sein, und wenn Sie Ihre Worte ernst mein-
ten, dann könnten Sie aus der Energieunion eine echte
Klimaunion machen. Denn die Zukunft einer sicheren
und sauberen Energieversorgung in Europa liegt in den
erneuerbaren Energien.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Aber was jetzt diskutiert wird, ist leider vor allem
eine Fortsetzung der unambitionierten Klimapolitik. Die
entscheidenden heimischen Energieträger sind nicht
Kohle, Gas und Öl, sondern die Erneuerbaren, und es
geht natürlich auch um Energieeffizienz. Die Energie-
union ist eine Chance, uns von russischem Gas unabhän-
gig zu machen, aber nicht, aber bestimmt nicht dadurch,
dass man auf Energielieferanten aus autokratischen Staa-
ten wie Aserbaidschan, Katar oder Saudi-Arabien setzt.

Klimaunion bedeutet auch: Setzen Sie endlich und
mit Nachdruck auf die Erreichung der Klimaziele! Das
ist selbstverständlich wichtig, aber das werden Sie nur
dann erreichen, wenn Sie auf die erneuerbaren Energien

setzen, und zwar mit aller Kraft und Kreativität, die uns
in Deutschland zur Verfügung stehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


In diesem Zusammenhang ist eine Nebenbemerkung
notwendig. Ich frage mich jedenfalls, warum Sie, wenn
es um den Ankauf von Gas geht, die Osteuropäer bei der
Zusammenarbeit im Regen stehen lassen. Wir können
doch nicht einfach sagen: Unsere Verträge mit Russland
sind so prima und wichtig, dass uns alles egal ist, was
wir sonst zu einem gemeinsamen Europa sagen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deswegen sage ich klar und deutlich: Vor den Klimagip-
feln ist es notwendig und dringend, dass Sie dafür sor-
gen, dass die Klimaziele tatsächlich erreicht werden.

Abschließend will ich etwas zur Ukraine sagen. Dass
sich die Annexion der Krim zum ersten Mal jährt, ist für
uns ein Anlass, noch einmal klarzumachen: Diese Anne-
xion ist ein Bruch des Völkerrechts.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)


Es ist gut, dass in Minsk verhandelt worden ist, und es
ist gut, dass die OSZE besser ausgestattet wird.

Für uns gibt es ganz aktuell etwas zu tun, wovon wir
nicht absehen können: Die 1,5 Millionen Binnenflücht-
linge brauchen dringend mehr Unterstützung durch huma-
nitäre Hilfe, damit nicht jemand wie Putin recht behält,
der es gerne sehen würde, dass die Destabilisierung der
Ukraine weitergeht. Deswegen gehört die humanitäre
Hilfe genauso dazu wie die Verhandlungen in Minsk und
das Überprüfen der Einhaltung der Vereinbarungen dort.

Meine Damen und Herren, legen Sie in der Bundesre-
gierung den Hebel um! Die Menschen dort brauchen
dringend Hilfe, und zwar jetzt.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1809400700

Volker Kauder ist der nächste Redner für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Volker Kauder (CDU):
Rede ID: ID1809400800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Bei den Themen, um die es beim Europäischen Rat in
Brüssel gehen soll, fällt einem auf, dass das Thema Grie-
chenland, das uns sehr intensiv beschäftigt, eher inoffizi-
ell eine Rolle spielt, als dass es offiziell auf der Tages-
ordnung steht, dass aber einige Fragen, die ebenfalls für
uns von großer Bedeutung sind, ganz vorne stehen. Zum
einen hat die Bundeskanzlerin über Initiativen für
Wachstum und Beschäftigung und in Verbindung damit
über Strukturreformen gesprochen. Das zweite Thema





Volker Kauder


(A) (C)



(D)(B)


ist der Klimagipfel. Zu all diesen Themen möchte ich ei-
nige kurze Anmerkungen machen.

Ja, es ist richtig: Über den Diskussionen, wie wir
Griechenland in eine bessere Zukunft führen können,
dürfen wir nicht vergessen, dass es in Europa noch eine
Reihe von weiteren Ländern gibt, die dringend Initiati-
ven für Wachstum und Beschäftigung brauchen. Deshalb
ist es auch richtig, dass der Fonds, der jetzt in Europa
aufgelegt wird, mit Inhalten versehen wird und das Eu-
ropäische Parlament sehr schnell zu entsprechenden Be-
schlüssen kommt.

Gestern war der portugiesische Botschafter bei mir
und hat darauf hingewiesen, dass Portugal dringend Un-
terstützung bei Investitionen in eine moderne Infrastruk-
tur und bei Beschäftigung brauche. Er hat weiter darauf
verwiesen, dass das Ausbildungsmodell in Deutschland,
die duale Ausbildung, genau der richtige Weg sei und
man sich in Europa ein wenig mehr darauf besinnen
müsse, dass der Mensch nicht erst beim Akademiker an-
fange, sondern dass es mindestens so viele qualifizierte
Facharbeiter für die Betriebe geben sollte, wie wir Aka-
demiker an Universitäten ausbilden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dazu müsste man, wie er angeregt hat, bei allen europäi-
schen Debatten nicht nur, wie von der OECD formuliert
worden ist, eine Akademikerquote festlegen, sondern
auch sagen, dass mehr in die berufliche Ausbildung in-
vestiert werden müsse. Dies machen wir in Deutschland.
Da bin ich Frau Wanka außerordentlich dankbar, dass sie
genau diesen Zusammenhang immer wieder herstellt.

Frau Nahles, wir reden immer wieder darüber, dass
wir Zuwanderung von Fachkräften brauchen. Ich will
hierzu ein Beispiel aus meiner Region nennen: Die Wirt-
schaftsverbände haben festgestellt, dass bis 2020 15 000
zusätzliche Arbeitskräfte gebraucht werden. Auf die
Frage, welche das sein sollen, antworteten diese: Wir
brauchen maximal 3 000 Ingenieure, aber 12 000 Me-
chatroniker und andere Facharbeiter. – Diese bekommen
wir auf der ganzen Welt nicht, wir müssen sie schon in
Europa selbst ausbilden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deshalb ist das Thema berufliche Bildung von solch gro-
ßer Bedeutung. Ich würde, Frau Bundeskanzlerin, darum
bitten, wenn man von Investitionen und Innovations-
strukturänderungen spricht, nicht nur die universitäre
Ausbildung zu sehen, sondern auch diesen Punkt in Eu-
ropa voranzubringen.

Das zweite Thema, wenn wir über Wachstum und
Innovation sprechen, bleibt natürlich – auch darauf hat
der portugiesische Botschafter gestern hingewiesen –,
dass wir mehr in Zukunftsbereiche investieren müssen.
Da sind wir in Europa, was die Start-ups, was den mo-
dernen Bereich der Digitalisierung angeht, nicht wirk-
lich die wahren Helden. Deswegen würde ich mir wün-
schen, dass gerade für diesen Bereich mehr getan wird
und mehr in ihn investiert wird. Es darf uns in Europa

nicht ruhen lassen, dass alles, was mit „digital“ in Zu-
sammenhang steht, bei uns kaum stattfindet. Es darf auf
Dauer nicht sein, dass es nur Google, nur Yahoo und an-
dere gibt, wir in Europa aber keine entsprechenden Fir-
men und Kapazitäten haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das darf uns nicht ruhen lassen, meine sehr verehrten
Damen und Herren. Das ist nicht nur eine Frage der In-
frastruktur, sondern auch eine Frage, wie wir es schaf-
fen, gerade junge Menschen zu motivieren, sich in die-
sen Bereichen selbstständig zu machen und in diese Be-
reiche eine Zukunftsinvestition einzubringen.

Wenn wir darüber sprechen, dass wir natürlich Inves-
titionen brauchen – Thomas Oppermann hat darauf hin-
gewiesen –, können wir in Europa melden: Wir tun
genau dies in unserem Land. Wir investieren in Infra-
struktur. – Ein Programm im Umfang von rund 15 Mil-
liarden Euro ist auf den Weg gebracht worden, durch das
in die Infrastruktur investiert und auch unseren Kommu-
nen Geld für die Infrastruktur gegeben wird. Das unter-
stützen wir.

Aber natürlich muss auch bei uns gelten, was in
Europa gilt: Allein bei den 15 Milliarden Euro, die wir
zusätzlich für die Infrastruktur und für die Kommunen
geben, kann es nicht bleiben. Es muss auch mit den Län-
dern darüber gesprochen werden, dass sie ihren Beitrag
leisten, die Kommunen finanziell entsprechend auszu-
statten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Thomas Oppermann [SPD])


Es liegt nicht nur daran, dass die Kommunen in Ba-
den-Württemberg im Süden Deutschlands liegen, son-
dern es liegt natürlich auch daran, dass man mitmacht
bei der Erneuerung von Strukturen, bei neuen Aufgaben,
wenn es darum geht, Dinge, die eben nicht mehr gehen,
zu ändern und neue aufzubauen. Da, muss ich sagen,
müssen die Länder einen Beitrag leisten. Es reicht nicht
aus, dass wir jetzt sagen: Okay, vor allem in Nordrhein-
Westfalen unterstützen wir Kommunen. – Aber es muss
etwas getan werden, damit dies nicht zu einer Dauerauf-
gabe für den Bund wird. Auch darum, würde ich meinen,
geht es bei diesen Themen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Thomas Oppermann [SPD])


Nun sind wir beim Thema Europa. Selbstverständlich
haben wir immer formuliert – da sind wir uns in der Ko-
alition einig; wie die letzte Abstimmung dazu hier im
Deutschen Bundestag gezeigt hat, besteht diese Einig-
keit auch in weiten Bereichen dieses Parlaments –: Wir
wollen Europa und die Euro-Zone zusammenhalten. Das
ist gerade auch im Hinblick auf das, was sich in der
Weltpolitik ereignet, von besonderer Bedeutung. Nie-
mand von uns hat ein Interesse daran oder kann gar
Freude darüber empfinden – Putin würde sich freuen –,
wenn es in Europa kriselt und wir nicht mehr zusammen-
halten. Die Botschaft muss ja eine andere sein: Wir tre-
ten mit einem starken und einigen Europa gegen das an,





Volker Kauder


(A) (C)



(D)(B)


wovon dieser Mann glaubt, er könne es sich in Europa
leisten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Das ist doch die Position, die wir formulieren. Dazu
müssen alle in Europa ihren Beitrag leisten, und sie müs-
sen es auch politisch wollen und entsprechend formulie-
ren.


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie auch!)


Wir haben klipp und klar erklärt: Es bleibt dabei, dass
wir solidarisch zusammenstehen. Aber es ist auch klar,
dass das, was miteinander vereinbart wurde, auch einge-
halten werden muss.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Dirk Becker [SPD] und Thomas Oppermann [SPD])


Das Wesentlichste in der Politik ist nicht nur das Formu-
lieren von gemeinsamen Zielen, sondern dass man sich
aufeinander verlassen können muss. Das wissen gerade
wir in der Koalition. Da kann man manche Diskussion
austragen; aber man muss wissen, dass man sich aufei-
nander verlassen können muss. Wenn das nicht mehr ge-
währleistet ist, gehen die Dinge schief.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Genau an diesem Punkt, finde ich, haben wir allen
Grund, Griechenland zu sagen: Das müsst ihr auch ein-
halten und verstehen. – Wenn ich heute lese, dass die
Griechen die Institutionen, wie sie es nennen – die
Troika –, wieder rausgeworfen haben und mit ihnen
nicht zusammenarbeiten wollen, dann kann ich nur sa-
gen: Es gibt zu dieser Zusammenarbeit nun wirklich
keine Alternative. Entweder wird es gemacht, oder wir
können die Voraussetzungen nicht schaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich finde, da darf es auch keine Kompromisse geben.


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Mehr Kreativität“ hat Ihre Kanzlerin gesagt!)


– Frau Göring-Eckardt, zu den Grünen hat Thomas
Oppermann ja alles gesagt. Da fällt einem wirklich
nichts mehr ein.


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schade!)


Nicht derjenige gefährdet die Zukunft Europas, der
Griechenland jetzt nicht einfach nachgibt; vielmehr ge-
fährdet man Europa, wenn man einfach nachgibt, wenn
nichts mehr gilt, was man miteinander vereinbart hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Zuruf der Abg. Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich will noch einmal den portugiesischen Botschafter
zitieren – er hat mir ausdrücklich gesagt: Herr Kauder,
das können Sie öffentlich verwenden –: Wenn man Grie-
chenland jetzt auf eine Art und Weise nachgibt, wie es
nicht in Ordnung ist, dann kann ich in meinem Land
nicht mehr erklären, warum die Menschen überhaupt
Opfer auf sich genommen haben und auch in Zukunft
noch Opfer auf sich nehmen sollten.


(Zuruf von der LINKEN: Hört! Hört!)


Deswegen gilt: Gleiche Positionen für alle in Europa!


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich kann nur hoffen, dass dies auch die Position ist, die
man in Europa vertritt.


(Zurufe von der LINKEN)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wollen
natürlich auch, dass gerade junge Menschen Perspekti-
ven haben. Deswegen habe ich von der Bildung gespro-
chen. Investitionen in Bildung sind auch in Griechenland
von zentraler Bedeutung.

Wir haben als weiteres Thema das Klima. Wir haben
uns in Deutschland auf Klimaziele verpflichtet. Wir trei-
ben den Ausbau der erneuerbaren Energien voran. Da
braucht man uns überhaupt nicht zu ermahnen. Ich kann
verstehen, dass den Grünen das ein bisschen schwerfällt,
nachdem ihnen ein Hauptthema genommen worden ist
und jetzt das Thema Landwirtschaft das Thema Energie
ersetzen soll. Darüber können wir anderweitig einmal re-
den.

Aber es ist natürlich auch klar, Frau Göring-Eckardt:
Man kann nicht sagen: „Es muss mehr für das Klima ge-
tan werden“, und dann, wenn wir versuchen, ein Pro-
gramm zur energetischen Gebäudesanierung auf den
Weg zu bringen – damit kann am meisten für das Klima
getan werden –, die grünen Beteiligten an Landesregie-
rungen das Programm im Bundesrat kippen – wegen ein
bisschen Steuerausfällen. Das ist keine moralische Posi-
tion, die man vertreten kann.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben etwas Grundlegendes nicht mitgekriegt! Herr Seehofer hat das abgesagt im Koalitionsausschuss!)


– Das stimmt ja gar nicht.


(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen Sie doch Zeitung! Herr Seehofer hat das abgesagt! Das ist so ein Quatsch, was Sie da erzählen!)


Deswegen rate ich dringend Folgendes, wenn wir das
Thema noch einmal ansprechen. Man kann nicht einfach
rufen: Wolfgang Schäuble hat enorme Steuereinnahmen. –
Das haben die Länder auch. Moralisch richtig wäre, zu
sagen: Wir machen dieses Programm zur energetischen
Gebäudesanierung. Wir alle haben mehr Einnahmen und
können dann auch ein bisschen mehr ausgeben.





Volker Kauder


(A) (C)



(D)(B)



(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden Sie mal mit Herrn Seehofer! Ich weiß nicht, ob Sie den kennen! Haben Sie schon mal mit Herrn Seehofer geredet? Kennen Sie den?)


Ich würde Sie ermutigen, genau das zu tun, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen von den Grünen.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1809400900

Herr Kollege Kauder, darf der Kollege Krischer eine

Zwischenfrage stellen?


Volker Kauder (CDU):
Rede ID: ID1809401000

Nein.


(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie Angst? – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)


– Sie sind doch nachher selber dran. – Ich möchte Sie
darauf hinweisen, dass Reden und Handeln in diesen
Fragen zusammenpassen müssen. Wir sind bereit, diesen
Beitrag für mehr Klimaschutz zu leisten. Vielleicht ge-
lingt es ja im Rahmen der Bund-Länder-Verhandlungen,
bei diesem Thema zu einer Lösung zu kommen. Im Üb-
rigen kann ich nur sagen: Das ständige Hin- und Her-
schieben löst das Problem wirklich nicht. Ich bin zuver-
sichtlich, dass die Vernunft in diesem Punkt obsiegen
kann.


(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dass Herr Seehofer bald Vernunft annimmt!)


Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Bundeskanz-
lerin hat in Brüssel wichtige Themen zu besprechen, zu
beraten. Ich bin dankbar dafür, dass die Bundesregierung
in diesen Fragen zu einer einheitlichen Position gekom-
men ist. Wir in der Koalition tragen dies mit.

Ein Letztes. Die Große Koalition hat diesem Land in
den letzten Monaten, seit ihrem Bestehen, eine gute Re-
gierung gestellt. Da bin ich ganz der Meinung von
Thomas Oppermann.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben bei den großen Herausforderungen in Europa
und in der Welt – Ukraine und Russland – immer ge-
meinsam eine Lösung auf den Weg bringen können.

Natürlich gibt es in einer Koalition immer wieder das
eine oder andere Knirschen. Ich erinnere mich sehr gut
an Rot-Grün und daran, was dort alles los war.


(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich dachte an Schwarz-Gelb! Bei Rot-Grün war ich nicht dabei! – Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Ja, Frau Roth, natürlich. Die Vergangenheit wird ver-
klärt, aber Sie selber wissen, dass es so war,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


dass Sie unter mancher Aussage des Basta-Kanzlers be-
sonders gelitten haben.


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Das war ein einziges Zitat! Einmal „Basta!“ und sonst nicht!)


So knirscht es auch hin und wieder einmal bei uns. Aber
ich will sagen: Wir arbeiten die Koalitionsvereinbarung
konsequent ab. Wir haben gerade eine gesetzliche
Grundlage für das Deutsche Institut für Menschenrechte
auf den Weg gebracht. Das war ein Punkt, von dem viele
geglaubt haben, dass es da gar nicht zusammengeht. Wir
haben noch ein paar wichtige Themen vor uns. Diese
Koalition dient dem Land in vorbildlicher Weise. Das
mag der Opposition nicht passen, aber die Menschen im
Land sehen es anders. Dort ist die Große Koalition zu
Recht beliebt.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1809401100

Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Krischer

das Wort.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809401200

Herr Kollege Kauder, Sie haben hier gerade behaup-

tet, der Steuerbonus für die energetische Gebäudesanie-
rung sei an Grünen in Landesregierungen gescheitert.
Herr Kauder, ich kann Ihnen da nur sagen: Diese Be-
hauptung ist selbst unter Ihrem Niveau.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie wissen ganz genau, an wem der Steuerbonus ge-
scheitert ist, nämlich an der bayerischen Landesregie-
rung und an einer Partei namens CSU.


(Dr. Franz Josef Jung [CDU/CSU]: Das stimmt aber gar nicht!)


Dazu muss ich nicht einmal grüne Quellen zitieren, son-
dern nur Ihren Koalitionspartner, Herrn Oppermann, der
das ja schriftlich und in aller Klarheit öffentlich mitge-
teilt hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Alle, die sich mit diesem Thema beschäftigen, wissen
das ganz genau. Ich finde es schon ein starkes Stück,
dass Sie hier einen solchen Unsinn verbreiten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte noch auf einen anderen Punkt hinweisen:
Das Land Bayern, die CSU, hat einen sehr schönen Bun-
desratsantrag dazu gestellt, das Thema energetische Ge-
bäudesanierung wieder aufzugreifen. Diesen Antrag des
Landes Bayern und der CSU würde ich unterstützen. Er
besagt nämlich, dass der Steuerbonus aus dem Bundes-
haushalt finanziert werden soll. Ja, bitte schön, Herr
Kauder und Frau Hasselfeldt: Warum tun Sie hier nicht
das, was Herr Seehofer im Bundesrat fordert?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)






Oliver Krischer


(A) (C)



(D)(B)


Machen Sie das! Kümmern Sie sich endlich darum, dass
dieser Steuerbonus kommt! Das liegt in Ihrer Verantwor-
tung. Schieben Sie nicht die Verantwortung auf andere,
die damit gar nichts zu tun haben! Es ist Ihre Verantwor-
tung als Bundesregierung und als eine der diese Koali-
tion tragenden Parteien, dieses Problem zu lösen, und
nicht, hier ein Schwarzer-Peter-Spiel zu treiben.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Volker Kauder (CDU):
Rede ID: ID1809401300

Herr Kollege Krischer, laut zu sein und durch eine

ideologische Brille Dinge anzuschauen, ist die eine Sa-
che.


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)


– Ich habe Ihnen in aller Ruhe zugehört. Da könnte ich
auch disqualifizierend sagen: Alles Unsinn!

Ich will jetzt zu den Fakten kommen. Wir haben in
der letzten Koalition bereits einen Gesetzentwurf zur
energetischen Gebäudesanierung im Bundestag einge-
bracht. Der ist von den rot-grün regierten Bundesländern
abgelehnt worden


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Wegen der Steuerausfälle!)


– genau mit dem Argument: wegen der Steuerausfälle –,
aber zu einem Zeitpunkt, als auch die Länder erhebliche
Steuermehreinnahmen verbucht haben.


(Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Hört! Hört!)


Wir haben jetzt wieder über das Thema gesprochen.
Weil die Länder nicht bereit sind, ihren Anteil zu über-
nehmen, kam der Vorschlag, das über einen Umweg,
nämlich über die Kürzung des sogenannten Handwerker-
bonus, zu finanzieren.


(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: So ist das!)


Da kann ich nur sagen: Den Handwerkerbonus zu kür-
zen, ist genau der falsche Weg, weil er für eine ganze
Reihe von Bereichen der energetischen Gebäudesanie-
rung von Bedeutung ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deswegen haben wir gesagt: Nein, der Handwerker-
bonus wird nicht gekürzt, und wir nehmen einen neuen
Anlauf. – Jetzt kann ich nur sagen, wenn ich nach Nord-
rhein-Westfalen schaue: Die Argumentation von Frau
Kraft in Bezug auf den Energiemix ist schon eigenartig.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das müssen Sie denen sagen!)


– Dort sind Sie doch an der Regierung beteiligt, oder irre
ich mich da? Sind wir beteiligt, oder sind Sie es? Bei den
Grünen tragen Sie nur Verantwortung, wo Sie auch wel-
che haben, Herr Krischer, damit das einmal klar ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es geht von NRW gar nicht – darauf werde ich in den
kommenden Diskussionen immer wieder Wert legen –,
zu sagen: Wir brauchen bei der Energie auch einen Ener-
giemix, in dem die Kohle dabei ist, aber einen Beitrag
zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes wollen wir in NRW
nicht mitfinanzieren. – Das ist moralisch nicht in Ord-
nung.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1809401400

Dirk Becker ist der nächste Redner für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Dirk Becker (SPD):
Rede ID: ID1809401500

Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Frau Bun-

deskanzlerin hat in Ihrer Regierungserklärung auf die
Herausforderungen der Energieunion hingewiesen. Die
Realität hat den Deutschen Bundestag wieder. Anstatt
das zu beschreiben und zu gestalten, was wir europäisch
zwingend als nächsten Schritt der Energiewende brau-
chen, sind wir in Deutschland wieder im Klein-Klein der
Energiepolitik angekommen.

Ich will dazu nur so viel sagen: Alle im Bundestag
vertretenen Parteien dürfen es grundsätzlich keinem
durchgehen lassen, dass man sich aus lokalpolitischen In-
teressen von der Gemeinschaftsaufgabe verabschiedet,
egal ob in Bayern, in Ostdeutschland oder in Westdeutsch-
land. Wir müssen sagen: Wenn wir die Energiewende
wollen, wenn wir einen europäischen Energiemarkt wol-
len, dann müssen wir in Deutschland einheitlich stehen.
Das erwarte ich von allen Verantwortungsträgern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, die europäische Integra-
tionsgeschichte ist eng verflochten mit einer verstärkten
zwischenstaatlichen Kooperation der Energieproduktion,
angefangen von der Europäischen Gemeinschaft für
Kohle und Stahl über die Europäische Atomgemein-
schaft bis hin zu einer Gemeinschaft, die sich heute der
Nachhaltigkeit, dem Klimawandel, aber auch der Versor-
gungssicherheit in ganz Europa widmet. Von daher be-
grüßen wir den Vorstoß der Kommission und auch der
lettischen Präsidentschaft, die Energiepolitik der Mit-
gliedstaaten weiter enger zu verzahnen. Wir begrüßen
diesen Vorstoß, um Versorgungssicherheit und Klima-
politik in Einklang zu bringen. Gerade wir Deutschen
haben ein enormes Interesse daran, dass wir auch vor
dem Hintergrund unserer industriepolitischen Produk-
tion gerade das Thema Versorgungssicherheit ernst neh-
men und alles tun, um weitere Beiträge zur Versorgungs-
sicherheit zu leisten.

Ich will einmal ein paar Zahlen nennen: Mehr als die
Hälfte des europäischen Energieaufkommens wird im-
portiert. Mehr als 400 Milliarden Euro fließen dafür Jahr
für Jahr aus Europa ab. Daher muss es unser Ziel sein,
den Binnenmarkt zu stärken und den Weg der Energie-
union zu nutzen, um Europa insgesamt unabhängiger
und robuster zu machen.





Dirk Becker


(A) (C)



(D)(B)


Frau Göring-Eckardt hat zu Recht kritisiert, dass in
dem vorliegenden Entwurf das Thema der Gasversor-
gung, der Gassicherheit einen sehr großen Raum ein-
nimmt. Frau Göring-Eckardt, das ist natürlich auch der
aktuellen Diskussion über Russland, über die Ukraine-
Krise geschuldet. Ja, wir müssen auch kurzfristig sehen,
wie wir beim Gasmarkt die Versorgungssicherheit si-
cherstellen. Aber ich teile ausdrücklich Ihren Hinweis,
dass wir mittelfristig nicht nur sehen müssen, wie wir die
Bezugsquellen verändern, sondern wie wir durch höhere
Energieeffizienz und durch erneuerbare Alternativen
insgesamt weniger abhängig von Gasimporten werden.

Auch dies ist ein Gebot einer zukunftsgerichteten In-
dustriepolitik; denn, meine Damen und Herren, wir müs-
sen uns immer wieder vor Augen führen, dass Gas in
Deutschland nicht nur verbrannt wird, um Strom und
Wärme zu produzieren, sondern Gas ist auch ein wichti-
ger Rohstoff für die heimische Industrie. So müssen wir
Gas auch behandeln, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD)


Insgesamt erwarte ich von der Kommission in den
weiteren Beratungen, den gerade genannten Aspekten
der Energieeffizienz und den erneuerbaren Alternativen
Rechnung zu tragen.

Grundsätzlich sind die verbesserte Kooperation und
Kommunikation auf europäischer Ebene zu begrüßen.
Insbesondere kann durch eine Vollendung des Binnen-
marktes, durch den Abbau von Überkapazitäten europa-
weit, durch einen stärkeren Netzausbau – nicht nur in
Deutschland, aber insbesondere auch in Deutschland –
und durch den Ausbau der Interkonnektoren, der Zusam-
menarbeit bei Forschung und Entwicklung und der Ver-
tiefung der Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten
der europäische Energiemarkt vorangetrieben werden,
gerade auch mit Blick auf unsere Nachbarn.

Ich will auf einen wichtigen Punkt eingehen, der ge-
rade auch im Energieministerrat am 5. März eine Rolle
gespielt hat. Zentrales Instrument, um Klimaschutz und
Energieverbrauch zusammenzubringen, ist der Emis-
sionshandel. Wir alle wissen, dass wir den europaweiten
Emissionshandel geschaffen haben, um ein wirtschaftli-
ches, ein marktbasiertes Steuerungselement zu haben.
Dieses Element krankt. Die Preise für die Zertifikate
sind deutlich unter dem, was wir einst angenommen ha-
ben. Infolgedessen versagen viele klimapolitische In-
strumente. Aber es ist keine Lösung, dieses Instrument
nun aufzugeben, sondern es muss Lösung sein, an einem
marktbasierten, europaweiten Instrument festzuhalten.
Ich danke ausdrücklich sowohl dem Wirtschaftsminister
als auch der Umweltministerin, Frau Hendricks, die sich
– am 5. März im Energieministerrat bzw. einen Tag spä-
ter im Umweltministerrat – engagiert dafür eingesetzt
haben, dass die Marktstabilitätsreserve 2017 kommt.
Das ist notwendig. Ich denke, beide sollten weiterhin die
Unterstützung aller Fraktionen im Deutschen Bundestag
für diese Politik erhalten.


(Beifall bei der SPD)


Zum Abschluss mit Blick auf eine immer stärker von
Europa dominierte Energiepolitik folgender Hinweis: Wir

erleben gegenwärtig, dass wir uns eben nicht nur mit der
Frage eines europäischen Marktes, einer europäischen
Energiepolitik, sondern zunehmend auch mit Wettbe-
werbsaspekten auseinandersetzen müssen. Vieles von
dem, was wir hier im Parlament als Demokraten beschlie-
ßen, steht immer unter dem Vorbehalt einer Notifizierung,
quasi einer Genehmigung. Ich erwarte als Parlamentarier,
dass die EU-Kommission künftig uns gegenüber offen
kommuniziert, wenn ihr Beschlüsse, die wir hier offen
und demokratisch treffen, Bauchschmerzen bereiten
oder Probleme machen, damit es nicht bei all dem, was
wir hier tun, erst einmal heißt: Na, da müssen wir erst
mal gucken, ob das genehmigungsfähig ist. – Wir müs-
sen den Menschen erklären, was wir energiepolitisch
wollen. Ich erwarte, dass man uns künftig auf europäi-
scher Ebene offen erklärt, wie man mit Beschlüssen bei-
hilferechtlich umzugehen gedenkt. Nur so hat es auch in
Zukunft eine breite Akzeptanz, die Energiepolitik euro-
paweit unter den Aspekten der Versorgungssicherheit,
des Klimaschutzes und der Bezahlbarkeit fortzuentwi-
ckeln.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1809401600

Das Wort erhält nun der Kollege Manuel Sarrazin für

die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809401700

Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle-

gen! Liebe Frau Bundeskanzlerin! Herr Kauder hat ge-
sagt – das gefällt mir sehr gut –: „Wir wollen Europa …
zusammenhalten.“ Er hat auch auf die Herausforderun-
gen in unserer Nachbarschaft hingewiesen. Man kann
das Argument, wie wichtig es ist, den Zusammenhalt in
Europa gerade in diesen Zeiten nicht aufs Spiel zu set-
zen, gar nicht stark genug unterstreichen. Jedoch kam
dann nicht mehr viel außer „aber“.

Ich möchte etwas zitieren, was ich hier oft zitiere. Am
9. Mai 1950, fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten
Weltkriegs, hat der berühmte Außenminister Frankreichs
Robert Schuman die berühmte Schuman-Erklärung ab-
gegeben, die die Hand für Zusammenhalt gereicht hat.
Man muss sich vorstellen, vor welchem Hintergrund
dies fünf Jahre nach dem Ende des Krieges geschah. Er
hat dort den Satz gesagt:

Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden
ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe
der Bedrohung entsprechen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Jetzt möchte ich Sie, Herr Kauder, einfach fragen, ob
Sie glauben, dass unsere Debatte hier diesen „schöpferi-
schen Anstrengungen“ entspricht. Das glaube ich nicht.
Ich glaube, dass wir den Zusammenhalt in Europa in die-
ser Situation wirklich bewahren müssen, indem wir nicht
nur darüber reden, dass der Zusammenhalt da ist, son-
dern indem wir alte europäische Regeln wieder hervor-
heben.





Manuel Sarrazin


(A) (C)



(D)(B)



(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wechselseitiges Vertrauen!)


Dazu gehört eine, Herr Kauder – das geht auch an die
Linkspartei und an Frau Wagenknecht –: Der Kollege
Lenin hat einmal als wichtigstes Argument, warum der
Sozialismus siegen wird –


(Lachen bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ CSU]: Lenin, das ist der „Kollege“? Genosse, nicht Kollege! Die waren Genossen!)


– der Genosse Lenin, Entschuldigung, ich war nie Ge-
nosse, muss ich zugeben –, gesagt,


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das hat ja echt gut geklappt!)


das Rad der Geschichte ist nicht aufzuhalten. Jetzt
möchte ich nicht sagen, dass Ihre Rede zu wenige schöp-
ferische Anstrengungen beinhaltete. Ihre Mär von der
Verschwörung der USA war schon sehr schöpferisch.
Das war vielleicht auch ein bisschen angestrengt. Was
ich aber der Regierung sagen möchte, ist: Wenn diese
Regierung nicht mehr den Eindruck erweckt, in Fragen
der zukünftigen Entwicklung der Europäischen Union
entschlossen voranschreiten zu wollen und daran zu
glauben, Integration voranzutreiben, Probleme zu lösen,
Verträge kreativ auszulegen und Verträge vielleicht auch
einmal wieder zu ändern, um neue Regeln zu schaffen,
wer soll dann noch daran glauben, dass das Rad der Ge-
schichte wirklich der Zusammenhalt Europas ist? Mit
dieser verzagten Art und Weise, zu agieren, sorgen Sie
doch letztlich für die Fragmentierung der Grenzen, die
uns von Herrn Putin und von anderen droht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dazu gehört auch, dass Sie am Montag, wenn Sie mit
Herrn Tsipras eine Diskussion führen, sagen: „Griechen-
land muss sich an die Regeln halten, aber innerhalb des
Prinzips der Regeln sind wir auch bereit, das zu tun, was
getan werden muss“, anstatt immer nur über das Aber zu
reden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Merkel, Sie haben dann einen Satz zum Thema
Investition gesagt. Es wäre ein so wichtiges Signal für
die Menschen in Griechenland und anderswo, dass
Deutschland es als wichtige Aufgabe sieht, für mehr In-
vestitionen in Europa zu sorgen. Sie haben die Initiative
von Herrn Juncker nur in einem Satz kurz genannt. Das
ist nicht das, was Zusammenhalt schafft. Unterstützen
Sie den Juncker-Plan mehr! Sorgen Sie für eine zweite
Säule, für zusätzliche öffentliche Investitionen, bei-
spielsweise über den EU-Haushalt! Machen Sie das!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ihre Rolle bestand in der Vergangenheit darin, zu brem-
sen und zu sagen, dass Sie nicht einzahlen möchten und
eine Befristung des Fonds wollen. Das ist nicht das, was
Zusammenhalt schafft. Das ist das kleine Aber, das am
Ende für Fragmentierung sorgt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zum Abschluss möchte ich zur Energieunion auf Fol-
gendes hinweisen: Wenn wir Paris ernst nehmen und die
Klimaziele aufrechterhalten wollen, dann reicht es nicht,
die alten Ansagen, die nicht ambitioniert genug sind,
einfach zu wiederholen. Sie müssen deutlich machen:
Europa stellt auf CO2-arme Wirtschaft um. – Sie müssen
deutlich sagen: Die Atominitiative von Frankreich, Rumä-
nien, Großbritannien und anderen weisen wir zurück. –
Da kann Deutschland nicht schweigen. Das müssten Sie
heute tun.

Danke sehr.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1809401800

Gerda Hasselfeldt ist die nächste Rednerin für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1809401900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn wir über die aktuellen Herausforderungen in
Europa reden, dann ist vielleicht auch ein Blick darauf
angebracht, was alles geleistet und erreicht wurde. Zur
Wahrheit gehört, dass erstmals seit der Wirtschafts- und
Finanzkrise in jedem europäischen Land wieder Wachs-
tum zu verzeichnen ist. Zur Wahrheit gehört auch, dass
in den Problemländern, in den Ländern, die unter dem
Rettungsschirm standen, wie Spanien, Portugal und Ir-
land, sich die Situation deutlich verbessert hat, dass
diese drei genannten Länder sich mittlerweile auch am
Kapitalmarkt refinanzieren können. Zur Wahrheit gehört
auch, dass gerade in Spanien und in Irland die Arbeitslo-
sigkeit zurückgegangen ist.

All das bestätigt, dass der Kurs, den wir in den letzten
Jahren auch hier im Bundestag immer wieder verfolgt
haben, der Kurs, der in Europa gegolten hat, nämlich So-
lidarität und Solidität, der richtige war und dass wir die-
sen Kurs fortsetzen müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir haben immer unter Beweis gestellt: Europäische
Solidarität gilt. Wir helfen den Staaten, die aus unter-
schiedlichen Gründen in Schwierigkeiten geraten sind.
Aber Solidarität steht nicht alleine – es würde in der Sa-
che auch nichts bringen –, sondern sie ist immer notwen-
dig in Verbindung mit den Eigenanstrengungen der ein-
zelnen Länder. Nur so geht die Rechnung auf.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Weil unser Kurs erfolgreich war – wir alle wissen,
dass nicht alle Probleme gelöst sind –, müssen wir auf
diesem Weg fortfahren. Es gilt der Dreiklang, der uns
auch bisher geleitet hat. Erstens: solide öffentliche Haus-
halte. Sie sind der Schlüssel für das Vertrauen der Fi-
nanzmärkte. Zweitens: Strukturreformen dort, wo es
nötig ist, um die Wettbewerbsfähigkeit in einer globali-
sierten Welt herzustellen und immer wieder nachzujus-
tieren. Drittens: Investitionstätigkeit, um Wachstum und
Beschäftigung zu erreichen, neues Innovationspotenzial
zu erschließen, und zwar sowohl im privaten als auch im





Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)


öffentlichen Bereich. Dieser Dreiklang gehört zusam-
men. Nun kann zwar ein europäischer Rahmen gesetzt
werden, aber die Hauptverantwortung liegt – meines Er-
achtens aus guten Gründen – bei den Nationalstaaten.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Völlig richtig!)


Sie haben die Verantwortung für die Finanzpolitik, für
die Wirtschaftspolitik, für die Arbeitsmarktpolitik und
für viele andere Bereiche. Sie müssen sich daran halten
und ihre Politik danach ausrichten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Entwicklung in den unterschiedlichsten Ländern
zeigt: Wenn man sich an diesen drei Kriterien orientiert,
dann ist der Weg auch erfolgreich. Wir sehen das im
Kleinen, auch in meinem Heimatland Bayern – Sie er-
lauben, dass ich das mit einem Stück Stolz sage –, das
seit mittlerweile zehn Jahren einen ausgeglichenen
Haushalt hat und seit einigen Jahren die Schulden tilgt.
Aber das ist nicht verbunden mit Verarmung und Ver-
schlechterung der Bedingungen für die Menschen. Im
Gegenteil: Den Menschen dort geht es besser, es gibt
weniger Arbeitslose, Jugendarbeitslosigkeit haben wir
so gut wie keine. Die Investitionstätigkeit im öffentli-
chen Bereich und im privaten Bereich ist hervorragend.
Jeder Kinderkrippenplatz und Kindertagesstättenplatz,
für den eine Kommune Förderung beantragt, wird vom
Freistaat Bayern auch gefördert. Der Freistaat Bayern ist
auch das einzige Bundesland, das für die Kommunen
– anders, als es in anderen Ländern der Fall ist – die
Kosten für die Unterkunft von Asylbewerbern über-
nimmt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


An diesem Beispiel wird deutlich: Es zahlt sich aus, so-
lide zu haushalten und solide zu wirtschaften. Dann kann
man bewusst Schwerpunkte der Investitionen dort set-
zen, wo sie notwendig sind.

Die Beispiele können fortgesetzt werden. Letztlich ist
auch Deutschland, sind auch wir ein gutes Beispiel da-
für. Wir haben mit großen Anstrengungen im vergange-
nen Jahr und auch in diesem Jahr einen soliden Haushalt
erreicht. Die Herausforderungen, dies auch in den nächs-
ten Jahren so zu gestalten, sind riesig, aber wir werden
auch dies erreichen. Vor allem stoßen wir Investitionen
an. Das Milliardenprogramm für die nächsten Jahre
wurde angesprochen. Insgesamt 15 Milliarden Euro sind
für Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur und in die
digitale Infrastruktur, aber auch in Bildung und For-
schung vorgesehen. Gerade in diesem Bereich wurde in
Deutschland in den letzten Jahren viel geleistet; denn In-
vestitionen in Bildung und Forschung sind Investitionen
in die Zukunft unseres Landes und genauso wichtig wie
die Investitionen in Straßen und andere Infrastrukturen.
Auch hier stärken wir die Kommunen; das wurde bereits
angesprochen.

Auch auf europäischer Ebene werden mit dem Inves-
titionsfonds die Zeichen auf Investitionsförderung ge-
setzt. Ich hoffe sehr, dass die Auswahl der Projekte so
gestaltet wird, dass Investitionen und Innovationen wirk-

lich angekurbelt werden und private Investitionstätigkeit
generiert wird. Das alles findet nun im europäischen
Rahmen statt. Das heißt, die Nationalstaaten müssen ihre
Verantwortung wahrnehmen.

Es kommt aber ein Zweites hinzu. Die Probleme in
Europa, insbesondere im ökonomischen Bereich, werden
wir nur dann lösen, wenn das, was auf europäischer
Ebene unter den einzelnen Staaten miteinander verein-
bart wurde, auch eingehalten wird. Regeln sind nicht
dazu da, dass man sie nur aufschreibt und dann vielleicht
noch einmal in Sonntagsreden darüber spricht, sie aber
ansonsten in die Schublade legt, sondern Regeln sind
dazu da, sie einzuhalten, sich danach auszurichten, die
politischen Entscheidungen danach auszurichten. Nur so
behalten wir Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit in
ganz Europa.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Thomas Oppermann [SPD])


Das gilt aktuell natürlich in besonderer Weise für
Griechenland. Griechenland ist das Land, das im Zusam-
menhang mit der Staatsschuldenkrise von Anfang an die
größten Probleme hatte und uns auch immer wieder
große Anstrengungen abverlangte. Ich brauche das, was
wir in den letzten Jahren dazu diskutiert und entschieden
haben, was wir an Solidarität gegenüber Griechenland
unter Beweis gestellt haben, hier nicht noch einmal auf-
zuzählen. Das wissen wir alle; wir alle haben es ja ge-
meinsam verantwortet.

Jetzt geht es darum, dass die zusätzliche Zeit, die wir
Griechenland vor einigen Wochen gegeben haben, um
die Bedingungen, die Auflagen des Programms zu erfül-
len, zum Wohl der griechischen Bürger und zur Bekämp-
fung der Krise dort wirklich genutzt wird. Auch da gilt
in besonderer Weise: Das, was vereinbart ist, muss ein-
gehalten werden. Ich rede noch gar nicht vom Tonfall,
von der Tonlage der neuen griechischen Regierung, son-
dern ich rede nur vom Inhalt, von den Entscheidungen,
die notwendig sind. Mir wäre es schon lieber, wenn nicht
so viele Interviews und Homestorys von der griechi-
schen Regierung gemacht werden, sondern wenn sie sich
auf die eigentliche Arbeit konzentriert, die sie zu leisten
hat, auf die Entscheidungen, damit das Land wieder
wettbewerbsfähig wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Thomas Oppermann [SPD])


Aber auch zum Tonfall muss man etwas sagen. Es ge-
hört sich schon, dass man mit denen, von denen man Un-
terstützung haben möchte, anständig umgeht. Das ist im
persönlichen Umgang so, das muss aber auch im politi-
schen Bereich und gerade auch im europäischen Kontext
so gesehen werden. Denn wir alle in Europa sind aufei-
nander angewiesen, miteinander gut umzugehen, ver-
trauensvoll und verlässlich miteinander umzugehen.
Dazu gehört auch die Tonlage.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich will jetzt, weil das vorhin eine Rolle gespielt hat,
noch kurz auf die energiepolitische Diskussion eingehen.
Herr Krischer hat ja einen Bundesratsantrag erwähnt und





Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)


dabei unterstellt, dass Bayern da eine Finanzierung vor-
gesehen hätte. Ich wäre dankbar, wenn mir dies bewie-
sen werden könnte.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich kenne den Antrag!)


Mein Informationsstand ist, dass in diesem Antrag keine
solche Finanzierung enthalten ist, sondern dass das Auf-
kommen so verteilt werden soll, wie es bei einem Ein-
kommensteuer- und Lohnsteuergesetz ganz normal ist,
also dass die Mindereinnahmen von denen getragen wer-
den, die auch die Mehreinnahmen haben. Das ist ganz
normal. Etwas anderes steht da nicht drin.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Thomas Oppermann [SPD])


Meine Damen und Herren, Europa war meines Erach-
tens immer dann ganz besonders stark, wenn es galt,
große Herausforderungen zu meistern. Dass das, was im
ökonomischen Bereich, aber auch im außenpolitischen
Bereich momentan zu meistern ist, nicht trivial ist, son-
dern uns viel Kraft abverlangt, ist unbestritten. Diese Ar-
beit ist immer erledigt worden auf der Basis eines festen
Wertefundaments, auf der Basis von gegenseitigem Ver-
trauen und Verständnis füreinander, auf der Basis von
Verlässlichkeit, durchaus auch verbunden mit manchen
Kompromissen, aber immer, liebe Kolleginnen und Kol-
legen, mit großem Erfolg.

Wir stünden heute nicht so gut da – in Bezug auf un-
sere wirtschaftliche Entwicklung, unseren Wohlstand,
die Sicherheit, die soziale Sicherheit, unser außenpoliti-
sches Gewicht, unseren freiheitlichen Rechtsstaat –,
wenn wir dieses Europa nicht hätten. Darauf sollten wir
uns immer besinnen und daraus auch die Kraft und den
Mut nehmen, das, was vor uns liegt, weiter gut zu gestal-
ten. Unsere Bundeskanzlerin hat uns in all den schwieri-
gen Jahren hervorragend durch diese schwierigen Zeiten
geführt, gerade auch in Europa, und in Europa für Ge-
schlossenheit gesorgt, nicht nur in den ökonomischen
Fragen, sondern auch und gerade in den Fragen der
Ukraine-Krise. Ich möchte ihr dafür herzlich danken und
ihr weiterhin eine glückliche Hand wünschen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1809402000

Das Wort erhält nun der Kollege Norbert Spinrath für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Norbert Spinrath (SPD):
Rede ID: ID1809402100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrten Damen und Herren! Als ich ziemlich ge-
nau heute vor einem Jahr an dieser Stelle sprach, war die
völkerrechtswidrige Annexion der Krim gerade ein paar
Tage alt. Bereits damals mussten wir erkennen, dass
25 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges das Ziel ei-
nes gemeinsamen europäischen Hauses in weite Ferne
gerückt ist; der Begriff „gemeinsames europäisches

Haus“ geht übrigens auf den ehemaligen sowjetischen
Präsidenten Michail Gorbatschow zurück.

Der in den letzten beiden Jahrzehnten gewachsene
Zusammenhalt Europas wurde durch die russische Poli-
tik auf eine Art und Weise infrage gestellt, die wir längst
überwunden zu haben glaubten. Europa – allen voran der
deutsche und der französische Außenminister, die deut-
sche Bundeskanzlerin und der französische Staatspräsi-
dent – hat seit einem Jahr in großer Beharrlichkeit
– nicht zaghaft, Herr Kollege Sarrazin – Lösungen erar-
beitet und als Vermittler agiert.

Der Europäische Rat wird sich auch mit der europäi-
schen Nachbarschaftspolitik und mit der Vorbereitung
des Gipfels, der dazu im Mai dieses Jahres in Riga statt-
findet, beschäftigen. Wir wollen, dass sich die Staaten
der Östlichen Partnerschaft, unter anderem die Ukraine,
Georgien und Moldawien, der EU politisch und wirt-
schaftlich annähern. Wir haben ein sehr weitgehendes
Assoziierungsabkommen, das auch ein Freihandelsab-
kommen ist, verhandelt. Die Ukraine wird sich wirt-
schaftlich nur weiterentwickeln können, wenn sie
irgendwann auch wieder gutnachbarschaftliche Bezie-
hungen zu ihren Nachbarn im Osten herstellen kann. Es
geht eben nicht um eine Entweder-oder-Entscheidung.
Die Ukraine wäre gut beraten, sowohl nach Westen als
auch nach Osten Zusammenarbeit zu suchen, auch wenn
das momentan unerreichbar zu sein scheint.


(Beifall des Abg. Joachim Poß [SPD])


Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will die
Hoffnung nicht aufgeben, dass die Ukraine eines Tages
sogar eine Brücke zwischen Europa und Russland sein
könnte. Die Ukraine muss aber auch im eigenen Inte-
resse die Chancen für sich ergreifen. Sie muss sich zu ei-
nem funktionierenden Rechtsstaat entwickeln. Sie muss
eine moderne Verwaltung aufbauen. Sie muss ihre ma-
rode Wirtschaft modernisieren. Sie muss das unvorstell-
bare Maß an Korruption beenden. Sie muss die Oligar-
chen an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligen.
Vor allem aber muss sie Bürgernähe entwickeln und ei-
nen Aufschwung schaffen, einen Aufschwung für die
Menschen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU])


Alles Handeln muss auf Bürgernähe und auf einen sol-
chen Aufschwung für die Menschen ausgerichtet sein;
sonst sind die Menschen – die 45 Millionen Menschen in
der Ukraine – die wahren Verlierer der Krise.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen die Öst-
liche Partnerschaft auf neue Beine stellen. Wir haben in
den letzten fünf Jahren erlebt, dass es da zu einigen Frik-
tionen gekommen ist. Das waren oft Missverständnisse.
Deshalb müssen wir den Menschen und den politisch
Verantwortlichen in den Partnerländern wiederum und
neu die Vorteile und Ziele der Östlichen Partnerschaft
verdeutlichen. Wir müssen sie dafür sensibilisieren. Wir
müssen dafür werben und die praktischen Auswirkungen
und Vorteile in den Vordergrund stellen.





Norbert Spinrath


(A) (C)



(D)(B)


Wir wollen das hier in Deutschland sehr schnell tun;
das haben wir vereinbart mit dem zügigen Abschluss der
Ratifizierung von drei Assoziierungsabkommen noch
vor dem Gipfel der Östlichen Partnerschaft in Riga. Wir
wollen damit ein wichtiges politisches Signal und einen
neuen Impuls für die Wiederbelebung des Gedankens
der Östlichen Partnerschaft geben.

Es geht bei der Östlichen Partnerschaft nicht um die
Vermittlung des Eindrucks, Second Best zu sein – wenn
man dann eben nur Partner und nicht Mitglied wird –, es
geht um ein fortwährendes Kooperationsangebot der EU
an die östlichen Länder. Wir müssen die Neuausrichtung
der Östlichen Partnerschaft auch dahin gehend verstehen
– und dies sehr deutlich machen –, dass Nachbarschaft
und Assoziierung eben nicht zwangsläufig nur kurze
Zwischenschritte auf dem Weg zu einer EU-Mitglied-
schaft sind, sondern dass sie einen eigenständigen Wert,
einen hohen eigenständigen Wert haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Die Östliche Partnerschaft muss wieder verstärkt als
gemeinsamer Rahmen für die Stärkung der regionalen
Integration und Zusammenarbeit fungieren. Es muss ein
Rahmen da sein, der eine Differenzierung zwischen un-
terschiedlichen Partnern ermöglicht. Wir müssen in die
Östliche Partnerschaft zukünftig aber auch ganz deutlich
wieder stärker die russischen Interessen einbeziehen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Östlichen
Partnerschaft muss es das Ziel sein, künftig durch gute,
vernunftorientierte und ausgewogene Ausgestaltung eine
neue Trennlinie von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer
– um nicht andere, alte Begrifflichkeiten zu gebrauchen –
und damit eine Zone der Instabilität zu vermeiden. Dann
wird es auch gelingen können, dem zu Zeiten von Glas-
nost und Perestroika formulierten Ziel wieder näherzu-
kommen: dem Ziel eines gemeinsamen europäischen
Hauses.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1809402200

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat der Kollege

Dr. Christoph Bergner von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Christoph Bergner (CDU):
Rede ID: ID1809402300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der

Frühjahrsrat der Europäischen Union findet zu einem
Zeitpunkt statt, zu dem wir in diesem Parlament in den
Ausschüssen die Ratifikation der Assoziierungsabkom-
men mit Georgien, der Republik Moldau und der
Ukraine beraten und beschließen. Aus diesem Grunde
möchte auch ich die Aufmerksamkeit noch einmal auf
diesen Tagesordnungspunkt der Ratssitzung lenken und
die damit verbundenen Fragen erörtern. Dabei bin ich
der Bundeskanzlerin sehr dankbar, dass sie heute in ihrer
Regierungserklärung im Hinblick auf die völkerrechts-
widrige Annexion der Krim, aber auch im Hinblick auf
das Infragestellen der Integrität der Ukraine durch die

Aktivitäten der Separatisten im Donbass klare Worte der
Bewertung gefunden hat. Ich glaube, dass so klare Be-
wertungen Voraussetzung für erfolgreiche Politik in der
Sache sind. Ich hoffe, dass es nun auch auf der Ratssit-
zung gelingt, die unter großem diplomatischem Auf-
wand erzielten Vereinbarungen von Minsk entsprechend
zu begleiten und ihre Durchsetzung zu unterstützen. Das
heißt vor allem, dass alle Mitgliedstaaten der Europäi-
schen Union einen unauflösbaren Zusammenhang sehen
zwischen der Aufrechterhaltung der Sanktionen auf der
einen Seite und einer vollständigen Umsetzung des
Minsker Abkommens auf der anderen Seite.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, bei all diesen Dingen, die
wichtig sind – auch bei der Notwendigkeit einer Deeska-
lation der militärischen Konfliktlage –, sollten wir im-
mer wieder betonen, dass die europäische Nachbar-
schaftspolitik und damit auch die Östliche Partnerschaft
ein Instrument der Friedenskonsolidierung ist.

Frau Wagenknecht, ich habe mich nach Ihrer Rede
bemüßigt gefühlt, den Artikel 8 des Vertrages von Lissa-
bon, auf dem unsere Nachbarschaftspolitik beruht, noch
einmal auszudrucken, und ich will ihn hier verlesen:

Die Union entwickelt besondere Beziehungen zu
den Ländern in ihrer Nachbarschaft, um einen
Raum des Wohlstands und der guten Nachbarschaft
zu schaffen, der auf den Werten der Union aufbaut
und sich durch enge, friedliche Beziehungen auf
der Grundlage der Zusammenarbeit auszeichnet.

Frau Wagenknecht, es gehört schon eine große Portion
demagogischer Hemmungslosigkeit dazu, dieses Anlie-
gen in ein Aggressionskonzept des Westens umzudeuten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Aufschreiben und Handeln sind zweierlei!)


Dies sollten wir Frau Wagenknecht nicht durchgehen
lassen, und das sollten wir aber auch Putin nicht durch-
gehen lassen, der mit seiner Politik – es geht um militäri-
sche und sicherheitspolitische Fragen – unserem nach-
barschaftspolitischen Anliegen immer wieder begegnet.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Papier ist geduldig!)


Um das Konzept der Friedenskonsolidierung wirklich
zur Geltung zu bringen, scheinen mir einige Überlegun-
gen wichtig:

Erstens. Wenn wir in der nächsten Woche die Asso-
ziierungsabkommen mit Georgien und der Republik
Moldau ratifiziert haben, dann sollten wir darangehen,
diese Vereinbarungen auch konsequent umzusetzen.
Dies sind wir diesen Völkern und Staaten schuldig, aber
dies ist auch im Interesse unserer eigentlichen Intention.

Zweitens. Wir sollten pragmatisch nach angemessenen
Partnerschaftsformen mit den Programmländern suchen,
die, aus welchen Gründen auch immer, kein Assoziie-
rungsabkommen angestrebt haben: Armenien, Weißruss-





Dr. Christoph Bergner


(A) (C)



(D)(B)


land und Aserbaidschan. Auch das wäre im Sinne des
Artikels 8 des Lissabon-Vertrages.

Drittens. Wir müssen auch deshalb ein besonderes Inte-
resse daran haben, dass das Minsker Abkommen über die
Ukraine erfolgreich umgesetzt wird, weil die Ukraine
dringend die Freiräume braucht, die mit der Reduzierung
der militärischen Konfrontation erst geschaffen werden
können, um die notwendigen staatlichen, wirtschaftli-
chen und finanziellen Konsolidierungen betreiben und
die Reformen mit der Konsequenz angehen zu können,
die notwendig ist, um die enormen Probleme zu lösen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Nein, meine Damen und Herren, wir dürfen nicht ver-
gessen: Die Probleme im Zusammenhang mit der Östli-
chen Partnerschaft mit den ehemaligen Sowjetrepubli-
ken und die Herausforderungen, die damit verbunden
sind, ergeben sich nicht allein, obwohl das schwer genug
ist, aus dem hegemonialen Anspruch Russlands, sondern
auch aus der postkommunistischen Verfasstheit dieser
Staaten, ihrer Ökonomien, ihrer Zivilgesellschaften und
ihrer politischen Kulturen. Die Östliche Partnerschaft ist
eine Transformationshilfe, die diese Länder von uns er-
warten. Es gibt keine einfachen Lösungen, aber wir soll-
ten uns dieser Aufgabe verpflichtet fühlen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Vor diesem Hintergrund sehe ich auch die Debatte um
die Reform und die Überarbeitung der Östlichen Partner-
schaft und der europäischen Nachbarschaftspolitik, die
in den Vorlagen zum Frühjahrsrat deutlich wird. Wir
sollten dabei die friedenskonsolidierende Intention unse-
res Artikels 8 nicht infrage stellen, sondern uns fragen,
wie sie gestärkt werden kann. Dies bedeutet, dass das
Prinzip „More for more“ zukünftig nicht in starren For-
derungskatalogen und abstrakten Pflichtenheften abgear-
beitet wird, sondern dass die Nachbarschaftspolitik statt
allgemeiner Bürokratie mehr länderbezogene Diploma-
tie braucht,


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


und dass auch die Länder, die unterhalb des Assoziie-
rungsabkommens sind, angemessene Lösungsangebote
und angemessene Partnerschaftsangebote bekommen
werden.

Einen letzten Punkt will ich kurz ansprechen, weil in
diesem Zusammenhang ein Stichwort auftaucht, das ich
nicht missverstanden sehen möchte. Es heißt in den Ar-
beitspapieren, wir sollten die Nachbarn der Nachbarn
beachten; Kollege Spinrath sprach von der Einbeziehung
der russischen Interessen. Meine Damen und Herren, es
ist selbstverständlich, dass wir uns bemühen, wieder eine
EU-Russland-Partnerschaft aufzubauen. Aber es wäre
ein Widerspruch zur Schlussakte von Helsinki, wenn wir
die Art unserer Partnerschaft mit Nachbarstaaten Russ-
lands von der vorherigen Zustimmung Russlands abhän-
gig machten. So kann „Nachbarn von Nachbarn“ nicht
verstanden werden. Darüber sollten wir uns klar sein. –

In diesem Sinne wünsche ich der Bundeskanzlerin ein
herzliches Glückauf für die Ratstagung.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1809402400

Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege

Matern von Marschall das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Matern von Marschall von Bieberstein (CDU):
Rede ID: ID1809402500

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Zum Abschluss dieser Debatte darf ich
– darüber freue ich mich auch – darauf hinweisen, dass
die Federführung dieser Debatte im Europaausschuss
liegt. Ich freue mich auch deswegen, das zu sagen, weil
wir in diesem Jahr 25 Jahre deutsche Einheit feiern und
weil letzten Endes der Europaausschuss mit seinen Auf-
gaben eine Folge des Wegfalls des Grundgesetzartikels
zur deutschen Wiedervereinigung ist und dieser Aus-
schuss im Zusammenhang mit dem Maastricht-Vertrag
eingeführt worden ist. Das ist besonders schön. Wir neh-
men diese Aufgabe zur vertieften europäischen Einigung
sehr ernst. Dafür danke ich allen Kolleginnen und Kolle-
gen sehr.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich glaube, trotzdem darauf hinweisen zu müssen
– das betrifft den gestrigen Tag und die zum Teil gewalt-
tätigen Ausschreitungen vor der EZB –, dass es für die
meisten Kollegen im Europaausschuss sehr schmerzhaft
gewesen ist, die absolut unerträglichen Äußerungen von
Abgeordneten der Linken wahrzunehmen, mit denen die
Arbeit der Bundesregierung zur europäischen Einheit,
die besonders die Bundeskanzlerin, der Bundesaußen-
minister und der Bundesfinanzminister seit Jahren uner-
müdlich vorantreiben, diskreditiert und diffamiert wird.
Da muss ich sagen, Herr Dr. Dehm: Die EZB des
„Staatsterrorismus“ zu bezichtigen, ist wirklich unsäg-
lich. Ich muss auch sagen, Herr Ulrich: Wenn Sie den
Bundesfinanzminister – das haben Sie gestern so formu-
liert – „zutiefst antieuropäischer“ Neigungen bezichti-
gen, dann ist das genauso unerträglich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Im Gegenteil: Es ist doch so, dass wir gerade der Bun-
deskanzlerin und gerade dem Bundesfinanzminister zu
tiefem Dank verpflichtet sind, dass sie ihre Arbeit in die-
ser Unermüdlichkeit auch mit Blick auf Russland und
mit Blick auf Griechenland seit vielen Monaten in Situa-
tionen fortsetzen, in denen man kaum noch Hoffnung
haben kann und in denen trotzdem beide, die Kanzlerin
und der Finanzminister, gezeigt haben, dass jede Chance
genutzt werden muss, um auch bei geringer oder sogar
winziger Hoffnung den Gesprächsfaden nicht abreißen
zu lassen und den Partner zum Einlenken und zu deutli-
chen und klaren Verpflichtungen zu bewegen.





Matern von Marschall


(A) (C)



(D)(B)


Mit Blick auf den Europäischen Rat seien hier einige
Anmerkungen gestattet. Eine Anmerkung bezieht sich
auf das Europäische Semester. Das hört sich etwas ko-
misch an, aber es ist im Grunde ein Warnmechanismus,
der nach der europäischen Krise eingeführt worden ist,
um ökonomische Blasenbildungen frühzeitig zu erken-
nen.

Nun hat sich gerade Deutschland für die Einführung
dieses Europäischen Semesters eingesetzt. Es ist trotz-
dem etwas merkwürdig, dass die makroökonomische
Bewertung Deutschlands in einer Situation herabgestuft
worden ist, in der es Deutschland kaum besser gehen
könnte. Ich denke an den Mindestlohn, an steigende Re-
allöhne, an eine hervorragende und übrigens durchaus
wünschenswerte starke Exportquote. Ich glaube, die
Kommission hätte die Herabstufung vielleicht nicht vor-
genommen, wenn sie bereits zum Zeitpunkt der Bericht-
erstattung gewusst hätte, dass aufgrund der starken Wirt-
schaftskraft in Deutschland weitere 10 Milliarden Euro
für öffentliche Investitionen zur Verfügung stehen. Dafür
herzlichen Dank auch dem Herrn Bundesfinanzminister.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1809402600

Herr von Marschall, ich habe darauf gewartet, dass

Sie einen Punkt machen. Es gibt nämlich den Wunsch ei-
ner Zwischenfrage von Dieter Dehm.


(Joachim Poß [SPD]: Das ist eine Einladung für den Krawallmacher da! – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Sind Sie einverstanden?)



Matern von Marschall von Bieberstein (CDU):
Rede ID: ID1809402700

Bitte schön.


Dr. Jörg-Diether Dehm-Desoi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809402800

Es scheint Ihnen nicht übermäßig leicht gefallen zu

sein, aber ich danke trotzdem.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das kann ich aber verstehen!)


Wenn sich Sparauflagen und Auflagen, die den So-
zialstaat kaputtkürzen, in einer erhöhten Kindersterb-
lichkeit, der Zunahme der Suizidrate und einer steigen-
den Anzahl an HIV-Erkrankungen und anderem Schaden
im Gesundheitssystem auswirken,


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wofür die Politik alles verantwortlich ist, ist spektakulär! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Frechheit!)


dann wüsste ich dafür keinen anderen Begriff als Terror.
Es gibt auch den Begriff des Terrors der Ökonomie.
Vielleicht kennen Sie den Bestseller von Frau Forrester,
in dem sie diesen Begriff verwendet.

Aber meine Frage an Sie ist, ob Sie nicht glauben,
dass wir in einer Zeit, in der diese komplizierten Verhält-
nisse in Griechenland bestehen, dem Grexit-Geschwätz

offensiver entgegentreten müssten, statt es wie der Bun-
desfinanzminister zu bedienen,


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist doch in Griechenland und nicht in Deutschland!)


was in der Konsequenz letztlich bedeutet, dass Leute, die
durch dieses unverantwortliche Gerede, das ich für anti-
europäisch halte, glauben, dass ihre Sparguthaben auf
griechischen Konten morgen in eine Weichwährung um-
gewandelt werden könnten, ihr Geld abheben und damit
die Krise noch verschärfen. Glauben Sie, dass diese Kri-
senverschärfung durch deutsches Gerede proeuropäisch
oder antieuropäisch ist oder dass wir uns nicht deutlicher
von diesem Geschwätz distanzieren müssten?


Matern von Marschall von Bieberstein (CDU):
Rede ID: ID1809402900

Herr Dr. Dehm, ich glaube, dass das, was Sie machen,

die europäische Spaltung weiter vorantreibt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich glaube, Herr Dr. Dehm, es wäre angemessen gewe-
sen, Sie hätten sich für den Begriff des Staatsterrorismus
gegenüber einer europäischen Institution entschuldigt,


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Quatsch!)


die zutiefst dem Frieden und der Einheit der Europäi-
schen Union dient.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Nein!)


Aber das kommt Ihnen offensichtlich nicht in den Sinn.

Ich glaube weiterhin, Herr Dr. Dehm, dass vor allen
Dingen Griechenland selbst die Verantwortung dafür
trägt –


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ihre Partei!)


– hören Sie bitte wenigstens zu, wenn ich Ihnen ant-
worte; jetzt bin ich nämlich dran –,


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Sie antworten doch gar nicht!)


und zwar deswegen, weil wir von Griechenland nicht die
mindeste Transparenz über die finanzielle Situation dort
bekommen, und weil wir überhaupt keinen Einblick in
die Lage dieses Landes bekommen und nicht in der Lage
sind, festzustellen, was dort vor sich geht, egal ob man
die Troika in eine Athens Group und eine Brussels
Group splittet, wenn die Leute dann schließlich in einem
Athener Hotel in Verwirrung gestürzt werden.

Wenn Herr Tsipras jetzt das Anliegen verfolgt, die Sa-
che morgen auf dem Brüsseler Gipfel eskalieren zu las-
sen, dann ist das, glaube ich, der falsche Weg. Ich bin
trotzdem ausgesprochen dankbar – auch wenn sicherlich
viele diesbezüglich hätten skeptisch sein können –, dass
die Kanzlerin Herrn Tsipras als Besucher empfangen
wird. Ob er allerdings den nachfolgenden Besuch bei
Herrn Putin als vorlaufende Drohung verstanden wissen
will, weiß ich nicht, aber wir werden uns von dieser Dro-





Matern von Marschall


(A) (C)



(D)(B)


hung jedenfalls sicherlich nicht einschüchtern lassen. So
weit zur Situation Griechenlands und zu dem, was ich im
Zusammenhang mit Griechenland glaube, Herr
Dr. Dehm.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich danke Ihnen für diese Redezeitverlängerung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich will noch einen Aspekt herausgreifen. Herr
Kauder hat es schon angesprochen: Es geht um die Wett-
bewerbsfähigkeit. Das ist klar. Wir haben das Europäi-
sche Semester abgehakt. Der Europaausschuss widmet
sich regelmäßig und ernsthaft der Frage der Subsidiari-
tät. Dabei müssen wir durchaus auch manchmal kritische
Anmerkungen machen. Dafür, dass zum Beispiel die du-
ale Ausbildung – Herr Kauder, Sie haben das im Zusam-
menhang mit dem portugiesischen Botschafter angespro-
chen – ein Erfolgsmodell Deutschlands ist, das viele
Länder wie etwa Spanien gerne auch bei sich einführen
wollen – übrigens durchaus mithilfe der IHKs sowie der
Handwerkskammern und auch mithilfe deutscher Unter-
nehmen, die in diesen Ländern tätig sind –, bin ich sehr
dankbar. Ich meine aber deswegen, dass es besonders
wichtig ist, dass wir nicht etwa den deutschen Meister
dem vermeintlichen Deckmäntelchen des Marktzugangs
opfern. Das ist eine Leistungs-, eine Qualitätsstufe des
dualen Ausbildungssystems Deutschlands und stellt so-
zusagen dessen Krönung dar. Diesen müssen wir also
ganz dringend erhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich komme noch kurz auf die Klimapolitik und auf
die Energieunion zu sprechen und möchte sagen: Dem
Europaausschuss wäre es ein Herzensanliegen, für die-
ses Thema in Zukunft die Federführung zu übernehmen;
denn es handelt sich, wie der Europaausschuss selbst,
um eine Querschnittsaufgabe. Es geht selbstverständlich
um die Klimapolitik, es geht selbstverständlich um den
Weltklimavertrag – die Konferenz in Paris haben wir
noch vor uns –, aber es geht natürlich auch um Außenbe-
ziehungen und um strategische Komponenten.

Frau Göring-Eckardt, Sie haben kritisch angemerkt,
wir bräuchten keine Gaslieferungen etwa aus Aserbaid-
schan. Genau das Gegenteil ist doch richtig: Wir brau-
chen sehr wohl eine Diversifizierung, und zwar um eine
geringere Abhängigkeit von Russland zu erreichen. Das
ist ein maßgeblicher, sicherheitspolitisch relevanter As-
pekt. Das heißt natürlich nicht, dass wir nicht auch Sorge
dafür tragen, bei uns die erneuerbaren Energien voranzu-
bringen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Etwas fehlt mir ein wenig im Papier des Europäischen
Rates: Im Zentrum der Entwicklung der erneuerbaren
Energien muss die Forschung stehen, und zwar aus fol-
gendem Grund: Es ist noch keine hinreichende Antwort
gegeben worden, wie der Wandel von einer Energie der
Großkonzerne hin zu Hunderttausenden von kleinen so-
genannten Prosumern, also Einheiten, die selber Energie

produzieren und sie gleichzeitig konsumieren, überhaupt
gelingen soll. Daran muss die Europäische Union, daran
muss auch die Forschung arbeiten. Das dient vor allen
Dingen der Beantwortung der Frage, wie wir unter die-
sen Bedingungen die Netze stabilisieren können. Das ist
ganz wichtig. Ich glaube deswegen, Forschung muss in
diesem Bereich unbedingt gestärkt werden. Das betrifft
keineswegs nur Speichertechnologie.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Zum Abschluss möchte ich ein wenig in die Mytholo-
gie einsteigen. Morgen gibt es eine Sonnenfinsternis.
Diese Sonnenfinsternis findet erst in Brüssel, später
dann in Berlin statt. Wie Sie wissen, haben die alten
Griechen gedacht, Helios lenke diesen Wagen. Ich hoffe,
dass im Zusammenhang mit dieser Sonnenfinsternis der
Wagenlenker nicht abstürzt. Wir wissen aber, dass die
Sonnenfinsternis nur von kurzer Dauer ist und im Übri-
gen auch, dass sich der Lauf der Sonne an sich davon
nicht beeinflussen lässt.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1809403000

Herzlichen Dank. – Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/4348. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Damit ist dieser Entschließungsantrag mit den
Stimmen der Koalition gegen die Stimmen von Bündnis 90/
Die Grünen bei Enthaltung der Linken abgelehnt.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Lay, Eva Bulling-Schröter, Kerstin Kassner, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Energienetze zurück in die öffentliche Hand –
Rechtssicherheit bei der Rekommunalisie-
rung schaffen

Drucksache 18/4323
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Ener-
gie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord-
neten Caren Lay, Eva Bulling-Schröter, Kerstin
Kassner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Übernahme der Energienetze durch Stadt-
werke erleichtern

Drucksachen 18/3745, 18/4222





Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn


(A) (C)



(D)(B)


Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 96 Minuten vorgesehen. Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Damit ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin in der
Debatte hat Caren Lay von der Fraktion Die Linke das
Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Caren Lay (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809403100

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Es gibt inzwischen gute Beispiele, die zeigen,
wie die Energieversorgung der Zukunft aussehen kann.
Ich empfehle zum Beispiel eine Beschäftigung mit den
Stadtwerken Wolfhagen in Nordhessen: Strom aus der
Region für die Region, inzwischen zu 100 Prozent aus
Erneuerbaren. – Deswegen sagen wir als Linke: Ökolo-
gisch handelnde Stadtwerke mit dezentraler Energiever-
sorgung, so sieht für uns die Energiepolitik der Zukunft
aus.


(Beifall bei der LINKEN)


Auch dort hat es damit begonnen, dass die Energie-
netze zurück in kommunale Hand gekommen sind.
Netze in öffentlicher Hand haben nämlich viele Vorteile:
Die Strompreise können fair gestaltet werden für die
Verbraucherinnen und Verbraucher, und etwaige Ge-
winne können für das Allgemeinwohl investiert werden
und wandern eben nicht in private Taschen. Das ist der
richtige Weg.


(Beifall bei der LINKEN)


Auch für die Verbindung des Strom- und Wärme-
marktes, die wir für die Energiewende dringend brau-
chen, ist es von großem Vorteil, wenn die Netze in einer
Hand sind; denn das ist besser, als dass man gegen den
Widerstand der privaten Netzbetreiber ankämpfen muss.
Deswegen freue ich mich ausdrücklich darüber, dass
viele Kommunen das erkannt haben, übrigens partei-
übergreifend, und ihre Energienetze jetzt zurückhaben
wollen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Chancen dafür stünden eigentlich gut. Bis zum
Jahre 2016 laufen bis zu 2 000 Netzverträge aus. Die
Kommunen könnten also jetzt den Verkauf ihrer Netze
an private Betreiber rückgängig machen. Aber leider
machen sie häufig die Rechnung ohne den Wirt, sprich:
ohne den privaten Netzbetreiber. Sie wehren sich näm-
lich häufig mit Händen und Füßen, weil sie das lukrative
Geschäft lieber für sich behalten wollen.

Es geht dabei nicht um Einzelfälle. Eine Vielzahl von
Beispielen belegt, mit welchen Tricks versucht wird, die
Rekommunalisierung zu verhindern. Vattenfall hat bei-
spielsweise hier in Berlin seine Netze – völlig überzogen –
auf einen Preis von 2,5 Milliarden Euro geschätzt, um
einer Rekommunalisierung möglichst viele Steine in den
Weg zu legen. Auch der Energiekonzern RWE ist an die-
ser Stelle ungeahnt kreativ. In Wachtendonk in Nord-
rhein-Westfalen beispielsweise wurde damit gedroht, das

Stromnetz zu kappen, falls die Gemeinde eine Netzüber-
gabe vornimmt.


(Zuruf von der LINKEN: Unglaublich!)


Ein paar Kilometer weiter in Wesel drohte derselbe
Energiekonzern mit dem Abbau von 500 Arbeitsplätzen,
wenn er die Stromkonzession nicht wiederbekommen
würde. So geht es nicht, meine Damen und Herren. Wir
brauchen hier endlich eine rechtliche Klarstellung.


(Beifall bei der LINKEN)


Es gibt leider viel zu viele Beispiele dieser Art. Es
kommt hinzu, dass die Privaten sehr häufig, wenn eine
Rekommunalisierung ansteht, die Kommunen vor Ge-
richt ziehen. Klar wollen die Privaten die Netze nicht zu-
rückgeben; aber das Problem ist doch, dass die Politik
genau das zulässt, weil wir eine unklare Rechtslage ha-
ben. Das müssen wir endlich ändern.


(Beifall bei der LINKEN)


Für uns Linke hat das Recht auf kommunale Selbstver-
waltung Vorrang; denn so steht es auch im Grundgesetz.
Auch die kommunalen Spitzenverbände sehen es so.

Aber Schwarz-Gelb war da offenbar anderer Mei-
nung; denn sonst hätte Schwarz-Gelb nicht im Jahr 2011
das Energiewirtschaftsgesetz so geändert, dass diese un-
klare Rechtslage überhaupt erst entstehen konnte. Die
unklare Rechtslage schreckt die Kommunen am Ende
davor ab, eine entsprechende Rekommunalisierung vor-
zunehmen. Der Verdacht liegt natürlich nahe, dass das
Ganze vielleicht sogar abschrecken sollte, und das kön-
nen wir so nicht hinnehmen.


(Beifall bei der LINKEN)


Hinzu kommt, dass es einen Leitfaden des Bundes-
kartellamtes und der Bundesnetzagentur gibt, der im Er-
gebnis eher konzern- als kommunenfreundlich ist. Er
wird vor Gericht gerne zurate gezogen. Das führt im Er-
gebnis dazu, dass die Kommunen verlieren.

Ich habe dazu eine schriftliche Anfrage an die Regie-
rung gestellt. Sie antwortete mir doch tatsächlich, es
handele sich lediglich um eine rechtlich unverbindliche
Aussage. Das sei so eine Art Hilfestellung, mit der sie
selber, die Regierung, nichts zu tun habe. Da frage ich
mich aber, ob das nicht im Umkehrschluss heißt, dass
Sie faktisch zuschauen, wie zwei Bundesbehörden ihre
eigene Politik zulasten der Kommunen machen. Das darf
doch wirklich nicht wahr sein.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Offenbar ist dieses Problem SPD und CDU/CSU ir-
gendwo bekannt; denn ansonsten wäre im Koalitionsver-
trag ja nicht ein Satz enthalten, der ebenfalls vorschreibt,
dass dort Rechtssicherheit herzustellen ist.


(Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Genau das machen wir auch!)


Aber auf die praktische Umsetzung warten die Kommu-
nen, die ihre Netze zurückkaufen wollen, doch bis heute.
Für viele, die jetzt vor Gericht stehen, kommt diese No-





Caren Lay


(A) (C)



(D)(B)


velle doch viel zu spät. Insofern sollten Sie nicht auf Ih-
ren Koalitionsvertrag verweisen, sondern ihn hier end-
lich umsetzen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir Linke eröffnen Ihnen jedenfalls die Chance dafür.
Wir könnten diese Entscheidung heute im Bundestag
treffen. Die Regierung sagt zwar auch, dass sie es umset-
zen will; aber der Zeitpunkt verschiebt sich – je nach
dem, wann ich meine schriftliche Anfrage dazu stelle –
komischerweise immer weiter nach hinten. Wenn ich mir
die letzte Debatte, die wir dazu hier im Plenum geführt
haben, vergegenwärtige, dann habe ich, ehrlich gesagt,
doch meine Zweifel, ob Sie in der Koalition sich hier
überhaupt einigen werden. Herr Koeppen von der Union
scheute sich nicht, die Rekommunalisierung mit der
Planwirtschaft zu vergleichen. Er sagte doch tatsächlich:

Rekommunalisierungen müssen immer die Aus-
nahme bleiben.

Da frage ich mich, ehrlich gesagt, wie Sie diese Aussage
den Stadträten und den Bürgermeistern der CDU bei-
bringen wollen, die ihre Netze ebenfalls zurück in kom-
munaler Hand haben wollen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auch von der SPD war leider Abenteuerliches zu hö-
ren. Im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz,
dem ich angehöre, hieß es zum Beispiel, es wäre viel-
leicht auch nicht immer schlecht, wenn das in privater
Hand bliebe; dann blieben die Strompreise wenigstens
bezahlbar. Liebe Genossinnen und Genossen von der
SPD, es ist doch wirklich ein neoliberales Märchen, dass
es billiger wird, wenn die Dienstleistung von Privaten
erbracht wird. Das ist ein Märchen, von dem Sie sich
wirklich schnell verabschieden sollten.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der SPD)


Das ist in der Praxis auch längst widerlegt.

Deswegen sage ich: Nicht Privatisierung ist der Weg
zu mehr Verbraucherfreundlichkeit, sondern mehr De-
mokratie ist der richtige Weg.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Berliner Energietisch beispielsweise hatte beim lei-
der gescheiterten Volksbegehren einen sehr guten Vor-
schlag gemacht, wie mehr Demokratie für Stadtwerke
aussehen könnte.

Ich bin sehr gespannt auf die Debatte, auch darauf,
was die Koalition will. Ich höre nämlich Unterschiedli-
ches in der bisherigen Debatte. Manchmal heißt es, es
gehe um die Klärung der Übergabebestimmungen.
Manchmal heißt es: Vielleicht muss man doch auch an
die Ausschreibungskriterien heran. – Wir als Linke sa-
gen: Was wir brauchen, ist eine Inhousevergabe, also die
Direktvergabe an ein kommunales Unternehmen. Genau
darum muss es uns heute gehen.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Matthias Heider [CDU/CSU]: Sie wissen, dass das europarechtlich gar nicht geht!)


Die kommunalen Spitzenverbände fordern das auch. Der
Bundestag sollte das heute so entscheiden.

Meine Damen und Herren, ich kann mir, wenn wir
heute über Rekommunalisierung sprechen, zum Ab-
schluss natürlich nicht verkneifen, auch noch einen Satz
zu den geplanten Freihandelsabkommen TTIP und
CETA zu sagen.


(Florian Post [SPD]: Das hat damit nichts zu tun!)


Wenn die Klauseln, die darin vorgesehen sind, so
durchkommen, dann kann ein einmal privatisiertes Un-
ternehmen nie wieder rekommunalisiert werden – ganz
egal, was wir im Bundestag entscheiden.


(Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Quatsch! Unsinn! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist so falsch!)


Das ist einer von vielen Gründen, warum wir als Linke
sagen: TTIP muss gestoppt werden.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1809403200

Liebe Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.


Caren Lay (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809403300

Das mache ich.

Meine Damen und Herren, ich hoffe, dass Sie heute
dem Antrag der Linken zustimmen können; denn die
nächste Chance für die Rekommunalisierung ergibt sich
erst wieder in 20 Jahren, wenn die Netzkonzessionen
auslaufen. Wir können nicht länger warten. Lassen Sie
uns heute gemeinsam grünes Licht für die Rekommuna-
lisierung geben!

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1809403400

Als nächster Redner hat der Kollege Thomas Bareiß

von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Thomas Bareiß (CDU):
Rede ID: ID1809403500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Frau Lay, Ihre Rede und vor allen Dingen Ihre Ausfüh-
rungen zum Verhältnis zwischen Staat und Privat hat
mich animiert, doch etwas grundsätzlicher einzusteigen.

Sie sagen im Grundsatz, dass wir mehr Staat und we-
niger Privat brauchen. Aber der Glaube, dass eine Staats-
wirtschaft die beste Grundlage ist,


(Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Nein! – Weitere Zurufe von der LINKEN)






Thomas Bareiß


(A) (C)



(D)(B)


um unsere Versorgung auf ein gutes und günstiges Funda-
ment zu stellen, sollte in unserem Land seit 1989 eigentlich
widerlegt sein, liebe Frau Lay. Aber Sie scheinen immer
noch in einer anderen Welt zu leben.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ja, pflege deine Vorurteile!)


Der Erfolg der sozialen Marktwirtschaft basiert auf
Wettbewerb, auf Gewinnstreben – auch Gewinnstreben ist
wichtig –


(Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Daseinsvorsorge!)


und auf privatem Eigentum, meine sehr verehrten Da-
men und Herren. Das führt letztendlich zu Wachstum, zu
Innovation und langfristig zu Wohlstand für alle. Ich
sage Ihnen, liebe Frau Lay: Haben Sie Mut zur Markt-
wirtschaft! Haben Sie auch Mut zu privatem Eigentum!


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Haben wir doch!)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1809403600

Herr Kollege Bareiß, lassen Sie eine Zwischenfrage

von Frau Lay zu?


Thomas Bareiß (CDU):
Rede ID: ID1809403700

Sehr gern.


(Jens Koeppen [CDU/CSU]: Nach der Begrüßung schon?)



Caren Lay (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809403800

Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischen-

frage zulassen.


Thomas Bareiß (CDU):
Rede ID: ID1809403900

Gern.


Caren Lay (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809404000

Wir müssen uns jetzt, glaube ich, nicht darüber strei-

ten, ob man alte Vorurteile bedienen muss. Ich möchte
Sie einfach nur fragen: Wenn das Ihre Position ist, wie
erklären Sie sich dann, dass die kommunalen Spitzen-
verbände, in denen sehr viele Bürgermeister der Union
vertreten sind – bedauerlicherweise mehr als solche der
Linken –, genau unsere Position und nicht die Position
vertreten, die Sie hier gerade vorgetragen haben?


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Was sagt Frau Reiche dazu?)



Thomas Bareiß (CDU):
Rede ID: ID1809404100

Liebe Frau Lay, alte Vorurteile haben Sie durch Ihre

Rede befeuert. Insofern haben Sie mich angestachelt, da-
rauf einzugehen und noch einmal klarzustellen, dass wir
in Deutschland in einer sozialen Marktwirtschaft leben.


(Zuruf der Abg. Caren Lay [DIE LINKE])


Die kommunalen Spitzenverbände vertreten natür-
lich die kommunalen Interessen. Aber unsere Aufgabe
ist es, die Interessen der Verbraucher zu vertreten.


(Caren Lay [DIE LINKE]: Ich bin verbraucherpolitische Sprecherin! – Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist der Kern des Energiewirtschaftsgesetzes. Die
Verbraucher haben teilweise andere Interessen als die
kommunale Seite. Insofern sollten wir abwägen zwi-
schen dem kommunalen Interesse, dem privaten Inte-
resse von Investoren, gerade was Netze angeht, und den
Interessen der Verbraucher, die letztendlich für uns ent-
scheidend sind; das hat seine Grundlage im Energiewirt-
schaftsgesetz. Darauf werde ich in meiner Rede nachher
gern noch näher eingehen.

Die Stadtwerke – das ist für mich ein ganz wichtiger
Punkt; ich habe neun Jahre in einem Gemeinderat und in
einem Kreistag gesessen – spielen natürlich eine ent-
scheidende Rolle in der deutschen Energiewirtschaft. Es
gibt über 750 Stadtwerke. Davon sind über 300 in der
Energieerzeugung tätig. Die Stadtwerke betreiben einen
Kraftwerkspark mit einer Leistung von über 20 Giga-
watt. Gerade beim Thema Kraft-Wärme-Kopplung, das
für uns eine enorm wichtige Säule der Energiepolitik der
Zukunft ist, sind die Stadtwerke ein entscheidender Fak-
tor. Auch das sollten wir bei dieser Debatte herausstel-
len.


(Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Legen Sie mal ein Gesetz vor!)


Aber beim Thema Verteilnetze, liebe Frau Lay – das
ist ganz entscheidend –, stehen die Interessen der Kun-
den und nicht die kommunalen Interessen im Mittel-
punkt. Ich glaube, das sollte der Maßstab für die Konzes-
sionsvergaben in den nächsten Jahren sein. Deshalb ist
nicht pauschal zu sagen: „Energienetze zurück in die öf-
fentliche Hand“, sondern wir müssen schauen, wo die
Netze am besten aufgehoben sind. Da stellt sich schon
die grundsätzliche Frage, was denn die Kommunen in
den nächsten Jahren mit den Verteilnetzen anfangen wol-
len. Wenn ich mit Bürgermeistern – Sie haben es ange-
sprochen; es gibt auch viele Bürgermeister der CDU und
der CSU – diskutiere, dann lautet ihre Antwort auf die
Frage: „Was wollen Sie mit Ihren Netzen denn anfan-
gen?“ oftmals, sie wollten Energiepolitik gestalten, die
Energiewende vorantreiben oder, wie Sie, Frau Lay, ge-
sagt haben, die Energiekosten für die Verbraucher güns-
tig halten. Aber das können sie gar nicht über die Netze
erreichen; denn wir haben in Deutschland eine Trennung
zwischen Produktion und Vertrieb.


(Barbara Lanzinger [CDU/CSU]: Genau!)


Das ist etwas, was Sie, glaube ich, im Grundsatz einmal
verstehen müssen: Wir haben gar keine Möglichkeit,
über die Verteilnetze Einfluss auf die Energiepolitik zu
nehmen. Es besteht auch überhaupt kein Gestaltungs-
spielraum.





Thomas Bareiß


(A) (C)



(D)(B)



(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum wollen Eon und RWE unbedingt in den Verteilnetzen bleiben?)


Wir stehen in den nächsten Jahren, was die Verteilnetze
angeht, vor riesigen Herausforderungen. Wir müssen
diejenigen heraussuchen, die die besten sind, um diese
Herausforderungen anzupacken.

Wenn wir diese Herausforderungen beschreiben
wollen, dann müssen wir schauen, was in den nächsten
Jahren in den Verteilnetzen passiert. Wir werden in den
nächsten Jahren im Verteilbereich – auf Basis der neu-
esten Studien kann man das noch etwas näher beleuch-
ten – allein über 130 000 Kilometer neue Netze auf-
bauen müssen. Wir brauchen Investitionen im Umfang
von 24 Milliarden Euro. Das wird für eine Kommune
mit 50 000 Einwohnern wie beispielsweise bei mir zu
Hause in den nächsten Jahren Investitionen im Umfang
von bis zu 15 Millionen Euro bedeuten. Davon wird
der Bürger vor Ort, der Wähler der Gemeinderäte
nichts sehen. Er wird auch nichts davon haben. Wir
müssen schauen, ob das überhaupt für die Gemeinden
tragbar ist und ob sie überhaupt ein Interesse daran ha-
ben, in den nächsten Jahren in diese Verteilnetze zu in-
vestieren.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum sollen das nicht die Gemeinden machen?)


Wir brauchen zusätzlich zu neuen Leitungen auch intel-
ligente Netze vor Ort.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat alles nichts mit der Frage zu tun!)


Allein in den letzten 20 Jahren hat es einen enormen Zu-
wachs an neuen Stromproduzenten gegeben.


(Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist doch schön!)


Noch vor 20 Jahren hatten wir 600 Stromproduzenten.
Heute haben wir über 1 Million Produzenten, die Strom
in das Verteilnetz einspeisen. Das ist auf der einen Seite
schön, aber das bedeutet auf der anderen Seite natürlich
auch, dass wir in den nächsten Jahren einen enormen
Koordinationsbedarf haben.


(Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Wettbewerb! Sie finden doch Wettbewerb ganz toll!)


Wir müssen das Ganze stärker zusammenbringen und
vernetzen. Das wird eine riesige Herausforderung sein.
Auch da brauchen wir in den nächsten Jahren – gerade
im Verteilnetzbereich – mehr Professionalisierung. Das
können die Stadtwerke ohne Frage tun, aber die Frage
für uns wird sein, ob es in einem System, in dem der Fli-
ckenteppich der Verteilnetze eher bunter wird, sinnvoll
ist, immer kleinteiligere Systeme zu bekommen, und ob
wir in einem solchen System Dinge wie Smart Grids
oder gemeinsame Plattformen überhaupt hinbekommen.
Auch das muss für unsere Entscheidungsgrundlage eine

wichtige Frage sein, auch das dürfen wir nicht aus dem
Blickfeld verlieren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, trotzdem ist es aber rich-
tig: Wir müssen die Netzvergaben und die Konzessions-
übergaben gesetzlich besser regeln; denn es gibt dort
ohne Frage Probleme.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das haben Sie doch verbrochen!)


In den nächsten Jahren werden über 2 000 Konzessionen
neu vergeben; auch das haben wir gerade gehört. Die
Kommunen müssen die Entscheidung treffen, welcher
Anbieter das Recht zur Nutzung der Leitungen für die
nächsten 20 Jahre bekommt.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum haben Sie das 2011 so gemacht?)


Die Ziele des EnWGs sind dann wiederum die Grund-
lage für die Auswahl des neuen Konzessionärs.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum haben Sie diese Rechtsunsicherheit 2011 gemacht?)


Das beinhaltet ganz einfach eine sichere, verbraucher-
freundliche, effiziente und umweltverträgliche Versor-
gung und keine weiteren Ziele, wie sie vorhin benannt
wurden. Ich glaube, das sollte für unsere Novellierung
der Maßstab sein.

Meine Damen und Herren, wenn es zu einer Neuver-
gabe der Netzkonzessionen kommt, entstehen vor Ort
viele Probleme und Unsicherheiten. Das ist für keine
Seite befriedigend. Deshalb hat sich die Große Koali-
tion, wie schon beschrieben und wie bei vielen vorherge-
henden Debatten schon gesagt, darauf verständigt, dass
wir eine neue gesetzliche Regelung auf den Weg bringen
werden, die Rechtssicherheit schafft. Wir werden noch
vor der Sommerpause hier ein Gesetz vorlegen, das –
oberste Priorität – die Rechtssicherheit garantiert. Da-
rüber hinaus wollen wir im regulierten Netzgeschäft ei-
nen fairen Wettbewerb zwischen allen Beteiligten gestal-
ten. Auch das sollte für uns Maßstab sein. Nur so können
letztendlich die Ziele der Verbraucher Eingang in die
Konzessionsübergabe finden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wenn man den Handlungsbedarf in den nächsten Mona-
ten beschreiben will, dann fallen mir vier Handlungsfel-
der ein, die wir angehen müssen:

Erstens: die Rügepflicht. Diese müssen wir meines
Erachtens angehen. In vielen Fällen besteht nach der
Konzessionsvergabe Streit, ob es Fehler im Verfahren
gegeben hat. Durch eine Rügepflicht muss verhindert
werden, dass Verfahren nach Jahren rechtlich infrage ge-
stellt werden. Deshalb brauchen wir klare Regeln, in
welchem Zeitraum ein Altkonzessionär rügen muss und
darauf aufbauend dann klagen darf. Anderenfalls können
sich Netzübergaben über viele Jahre hinziehen. Das wäre
für alle Seiten keine befriedigende Situation.





Thomas Bareiß


(A) (C)



(D)(B)


Zweitens: Wir haben die Weiterzahlung der Konzessi-
onsabgabe. Das ist ein wichtiger Punkt. Die Übergabe
von Netzen wird oft von Altkonzessionären erschwert
und verzögert. Dabei wird oftmals ein Jahr nach Ablauf
des ursprünglichen Konzessionsvertrages die Zahlung
von Konzessionsabgaben an die Gemeinden eingestellt.
Auch das haben wir schon unterschiedlich erlebt. Aus
unserer Sicht ist es sinnvoll, die Pflicht zur Zahlung der
Konzessionsabgabe bis zur Übertragung des Netzes fort-
bestehen zu lassen. Dieser Punkt ist für die Kommunen
wichtig, damit hier kein Geld verloren geht und keine
Rechtsunsicherheit besteht.

Drittens: die Bestimmung der wirtschaftlich ange-
messenen Vergütung. Hier wird es immer wieder Streit
geben. Wir sollten versuchen, das Handlungsfeld etwas
stärker einzuschränken. Unserer Auffassung nach be-
steht Handlungsbedarf.

Viertens: die Informationspflicht. Wir müssen darauf
aufbauen, dass die Daten an den nächsten Konzessionär
auch übergeben werden, dass die Datenvielfalt klar gere-
gelt wird und dass nicht aufgrund von Rechtsunsicher-
heiten Dinge verhindert werden. Das ist ein ganz wichti-
ger Punkt, der den Kommunen in besonderer Weise in
den nächsten Jahren helfen wird.

Das sind vier zentrale Punkte, die wir vonseiten der
CDU/CSU in der kommenden Novellierung regeln wol-
len.

Die stärkere Gewichtung der kommunalen Interes-
sen – die Linke hat das in ihrem Antrag eingebracht –
werden wir sicherlich prüfen und sehr intensiv disku-
tieren. Ich will aber auch betonen, dass wir die Maß-
gabe des Energiewirtschaftsgesetzes und die klare Re-
gelung, dass die sichere, verbraucherfreundliche,
effiziente und umweltverträgliche Versorgung im Mit-
telpunkt steht, nicht verlassen wollen. Das ist ein ganz
zentraler Punkt unserer zukünftigen Novellierung. Die
Inhousevergabe werden wir ebenfalls prüfen; Frau Lay,
Sie haben es angesprochen. Ich rate, das Urteil des
BGH, das uns vorliegt und das sehr kritisch ist, genau
zu überprüfen. Ich sehe es ebenfalls kritisch, dass wir
im Falle der Kommunen kartellrechtliche Vorschriften
außer Acht lassen. Wir befinden uns hier auf einem
sehr schwierigen Feld und sollten mit Vorsicht vorge-
hen.

Meine Damen und Herren, wir wollen die Konzessi-
onsübergabe rechtssicher und verlässlicher gestalten.
Das wird in der konkreten gesetzlichen Ausgestaltung
nicht einfach werden, aber der jetzige Zustand ist für alle
Beteiligten nicht befriedigend. Stadtwerke werden bei
der Konzessionsvergabe auch künftig eine große Rolle
spielen, jedoch werden sie sich auch dem Wettbewerb
stellen müssen. Die Rekommunalisierung kann kein
Selbstzweck sein.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1809404200

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Oliver

Krischer von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809404300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Bareiß – ich spreche auch Herrn Koeppen an, der
zu diesem Antrag in der ersten Runde gesprochen hat –,
ich finde es, ehrlich gesagt, eine Frechheit, dass Sie sich
hierhinstellen und den kommunalen Entscheidungsträ-
gern, Bürgermeistern aller Parteien Belehrungen ertei-
len, wie sie ihre verfassungsgemäße Verantwortung
beim Betrieb der Verteilnetze auszuüben haben und was
sie tun und lassen sollen. Das sollten Sie den gewählten
Vertretern in den Kommunen überlassen. Das ist deren
Aufgabe. Es ist nicht Ihre Aufgabe, sich hier an das Pult
zu stellen und zu sagen, was für Kommunen richtig und
falsch ist. Das ist deren Job. Machen Sie bitte schön Ihre
Hausaufgaben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, ich gebe offen zu: Ich
habe mit der Kollegin Haßelmann die Berufung von
Frau Reiche als Geschäftsführerin des Verbandes der
kommunalen Unternehmen kritisiert. Ich habe mir dazu
manchen bösen Kommentar aus der Szene der Stadt-
werke eingehandelt.


(Zuruf von der CDU/CSU: Zu Recht!)


Aber wenn diese Berufung bei Ihnen am Ende zu etwas
mehr energiepolitischem Sachverstand führt, was kom-
munale Stadtwerke angeht, dann mache ich mit dieser
Berufung meinen Frieden, dann wäre es das wert gewe-
sen; denn die Union irrlichtert bei dieser Frage ganz im-
mens. Das muss ich Ihnen, Herr Bareiß, schon sagen; Sie
haben es mit Ihrer Rede wieder deutlich gemacht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir Grüne finden, dass eine Kommune selbst frei ent-
scheiden soll, ob sie das örtliche Gasnetz alleine betrei-
ben will oder ob sie einen Privaten damit beauftragen
will.


(Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Es gibt doch europarechtliche Vorschriften!)


– Das ist die Grundlage dessen. Es gibt eigentlich nur
zwei Bedingungen: Es muss technisch funktionieren,
und die Entscheidung muss am Ende transparent sein.

Herr Bareiß, es ist ein absolutes Unding, dass Sie sich
jetzt hierhinstellen und sagen: Ja, es gibt da Probleme
mit dem Energiewirtschaftsgesetz. – Denn es waren ge-
nau Sie von der Union, auch Sie als Person, die dieses
Energiewirtschaftsgesetz im Jahr 2011 geändert haben.
Ich empfehle Ihnen, in die Protokolle der Anhörungen
des damals zuständigen Umweltausschusses zu schauen:
Alle Sachverständigen haben Ihnen genau das vorausge-
sagt, was passiert ist. Wir haben dazu zusammen mit den
Kollegen von der SPD Anträge eingebracht. Jetzt sagen





Oliver Krischer


(A) (C)



(D)(B)


Sie hier: Ach ja, da sind ein paar Probleme aufgetaucht. –
Sie haben das ganz bewusst gemacht, haben es sehenden
Auges getan,


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


weil Sie nämlich nicht wollten, dass die Kommunen frei
entscheiden können. Sie wollten, dass das bei den Kon-
zernen verbleibt; Sie wollten da ein Geschäftsmodell er-
halten. Das ist klar. Es waren damals Pfeiffer, Fuchs und
Bareiß, die energiepolitische Todeszone in der Union,
die genau das wollten, die wollten, dass hier am Ende
Rechtsunklarheit entsteht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich sage Ihnen sehr deutlich: Es ist gut so, wie es in
Deutschland in der Vergangenheit gelaufen ist.


(Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Ist es jetzt gut oder schlecht?)


Nur haben wir seit vier Jahren ein Problem, das Sie ge-
schaffen haben. Wir haben 700 Verteilnetzbetreiber. Es
gibt viele Studien, die zeigen, dass gerade die kleinen,
kommunalen Anbieter die Netze mindestens genauso gut
betreiben können wie die großen. Mehr noch: Es gibt
eine Studie aus Baden-Württemberg, die belegt, dass
kommunale Verteilnetzbetreiber die Netze effizienter be-
treiben als große. Deshalb sollten wir die Entscheidungs-
möglichkeiten der Kommunen an dieser Stelle stärken
und die Rechtsunsicherheit, die Sie geschaffen haben,
beenden, damit die Kommunen frei entscheiden können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Ich will einen ganz entscheidenden Punkt nennen – Sie
haben ihn interessanterweise auch erwähnt –, den wir
2011 und danach rauf und runter diskutiert haben. Da geht
es um die Frage des Kaufpreises: Was muss beim Über-
gang des Netzes gezahlt werden? Ich sage ganz klar: Wir
waren uns mit den Kollegen von der Sozialdemokratie
völlig einig


(Zuruf von der SPD: Wir sind es immer noch!)


– und sind es, wie ich hoffe, immer noch; dazu werden
wir gleich etwas hören –, dass wir an dieser Stelle die
Klarstellung brauchen, dass der Ertragswert die Grund-
lage sein muss, damit nicht jahrelange Prozesse zu der
Frage stattfinden, was gezahlt werden muss. Diese Un-
klarheit im Hinblick auf den Kaufpreis – das wurde von
Ihnen im Gesetz bewusst unklar gelassen – führt dazu,
dass wir jahrelange Gerichtsauseinandersetzungen ha-
ben, dass dieses Gesetz ein Arbeitsbeschaffungspro-
gramm für Juristen, Berater und Gerichte ist, das am
Ende – das ist die Realität – ganz viele Kommunen da-
von abschreckt, sich überhaupt der Frage zu nähern, den
Betreiber ihres Netzes zu wechseln, weil sie vor den
Rechtsabteilungen von Konzernen Angst haben. Da er-
warte ich, dass Sie das klarstellen und in das Gesetz
schreiben, dass der Ertragswert beim Eigentumsüber-

gang zugrunde zu legen ist. Das wäre eine notwendige
und richtige Entscheidung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Caren Lay [DIE LINKE])


Meine Damen und Herren, es ist gut, dass wir das hier
und heute wieder diskutieren und die Kollegen von den
Linken einen neuen Antrag dazu stellen, der etwas andere
Aspekte aufgreift. Das werden wir wieder im Ausschuss
beraten, Sie werden das dann wieder alles ablehnen, und
dann kommt das hier wieder zurück. Ich kündige Ihnen
jetzt schon einmal an: Dann werden wir einen Antrag ein-
bringen, einen Gesetzentwurf vorlegen,


(Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Den machen wir ja schon!)


und dann wird es mit dem Thema weitergehen. Ich hoffe
ja, dass Sie an dieser Stelle das wahrmachen, was Sie
seit anderthalb Jahren ankündigen und was Sie im Koali-
tionsvertrag vereinbart haben. Herr Koeppen – Sie reden
gleich noch –, vor ein paar Wochen haben Sie dazu ge-
sagt: Das ist gar nicht notwendig; man muss am Energie-
wirtschaftsgesetz gar nichts ändern. – Ich bin gespannt,
wann tatsächlich konkret etwas kommt.

Ich habe vor ein paar Tagen eine Stellungnahme des
Städte- und Gemeindebunds und der kommunalen Spit-
zenverbände insgesamt bekommen. Darin werden Sie
aufgefordert, hier endlich aktiv zu werden. Es besteht
eine dringende Notwendigkeit. Herr Bareiß, Sie würden
sich keinen Zacken aus der Krone brechen, wenn Sie
sagten: Wir haben 2011, weil wir in energiepolitischer
Hinsicht etwas anderes wollten und vom Atomausstieg
gebeutelt waren, eine irrsinnige Entscheidung getroffen.
– Es wäre gut, wenn das hier einmal gesagt würde. Dann
könnten wir nämlich eine ehrliche Debatte führen. Das
wäre eine gute Basis.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Unsinn!)


Wir als Grüne werden uns weiter dafür einsetzen,
dass Kommunen, die das wollen, ihre Netze selber über-
nehmen und frei darüber entscheiden können. Wir sind
der Auffassung – das unterscheidet uns wirklich von Ih-
nen –, dass der Netzbetrieb das Rückgrat für ein kommu-
nales Stadtwerk sein kann und dass ausgehend von die-
sem Rückgrat ein Stadtwerk entstehen kann, mit dem
Energie- und Klimapolitik im Sinne der Daseinsvorsorge
für alle Bürger gemacht werden kann und mit dem ein
Mehrwert für die Gemeinde und für die Menschen ge-
schaffen wird.


(Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Sachlich falsch!)


Herr Bareiß, ich bin der Auffassung, dass die Netzent-
gelte eher in die Gemeindekasse gehören, als dass sie in
einer Konzernkasse klingeln. Das ist am Ende die bes-
sere Politik.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1809404400

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Florian Post

von der SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Florian Post (SPD):
Rede ID: ID1809404500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Das Für und Wider der Rekommunalisierung
und der Übernahme von Netzen ist bereits sehr kontro-
vers diskutiert worden. Es gab auch zwei Bürgerent-
scheide in Hamburg und Berlin. Wir müssen mittler-
weile aufpassen, dass dieses Thema nicht zur Kernfrage
stilisiert wird, wenn es um das Gelingen der Energie-
wende geht.

Natürlich stehen viele Gemeinden und Städte vor der
Frage, wie sie sich in Zukunft organisieren: mit eigenen
Gesellschaften bei Netzen, in privaten Netzgesellschaf-
ten, in kommunalen Gesellschaften oder eben in öffentli-
chen Eigenbetrieben. Wir in der SPD sind der Überzeu-
gung, dass eine gut durchgeführte Rekommunalisierung
von Stromnetzen den Wettbewerb belebt und den Städ-
ten und Kommunen und damit letztendlich auch den
Verbraucherinnen und Verbrauchern dient.


(Beifall bei der SPD)


Was die neu gegründeten Stadtwerke angeht, haben
wir seit 2007 eine Gründerzeit erlebt. Es waren 80 an der
Zahl. 200 Gemeinden haben seitdem erfolgreich Kon-
zessionen für Stromnetze übernommen. Dazu gehören
Großstädte wie Stuttgart, Dresden und Hamburg, aber
auch kleinere Gemeinden und kleinere Kommunen.
Auch dem Dorf Putzbrunn in Bayern mit 6 000 Einwoh-
nern ist das beispielsweise gelungen. Allein in Bayern
laufen 2017 200 Konzessionsverträge aus. Ich glaube,
gelesen zu haben, dass es bundesweit so an die 2 000
sein werden.

Um eines klarzustellen: Kommunen sorgen mindes-
tens genauso gut für eine sichere Stromversorgung wie
private Netzbetreiber.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Um was geht es jetzt? Es geht um die rechtlichen
Klarstellungen bei der Übernahme von Konzessionen;
das wurde bereits öfter angesprochen. Diese müssen in
der Tat verbessert werden. Hier bedarf es Klarstellungen
in Bezug auf verschiedene Punkte, auf die ich später
noch eingehen werde. Es muss aber auch klargestellt
werden, dass es eben keine bedingungslose Rekommu-
nalisierung ohne objektive und in diesem Fall nachvoll-
ziehbare Kriterien geben kann.

Wir als Koalition werden den Übergang von einem
Netzbetreiber zum anderen noch in diesem Jahr verein-
fachen. Angestrebt ist – Kollege Bareiß hat das bereits
gesagt –, dass wir hier noch vor der Sommerpause einen
gut durchdachten Vorschlag vorlegen werden. In diesem
werden wir uns natürlich der Frage widmen, wie wir
Schikanen von Altkonzessionären, die sich vor Wettbe-
werb schützen wollen – das Problem ist erkannt –, vor-

beugen, weil sie für uns inakzeptabel sind und von uns
nicht akzeptiert werden, wenn wir einen Vorschlag vor-
legen.


(Beifall bei der SPD)


Diese Schikanen bestehen oftmals darin, dass über
den Kaufpreis gestritten wird, der zu hoch angesetzt ist.
Dann wird darüber gestritten, welcher Wert überhaupt
zugrunde gelegt wird; hier plädieren wir klar für den Er-
tragswert. Dann werden oftmals überzogene Entflech-
tungskosten angesetzt. All das zieht jahrelange Rechts-
streitigkeiten nach sich, vor denen sich natürlich viele
Kommunen zu Recht scheuen. Viele Kommunen sind
auch nicht in der Lage, das finanziell durchzustehen.

Wir wollen rechtliche Klarstellungen und Informa-
tionspflichten, gerade auch was die Herausgabe von
Netznutzungsdaten usw. der Altkonzessionäre anbe-
langt, im neuen Gesetzentwurf verankern. Ich glaube,
dass wir auf einem guten Weg sind und das glattziehen
bzw. den Schikanen vorbeugen können.

Die Kommunen können sich anhand von objektiv
nachprüfbaren Kriterien um solche Konzessionen be-
werben – es bedarf solcher Kriterien –, und sie können
diese Kriterien sogar selbst gewichten. Aber einen be-
dingungslosen kommunalen Vorrang halten wir nicht für
sinnvoll, so wie das im Antrag der Linken gefordert
wird, Frau Lay. Hier unterscheiden wir uns. Vielmehr
muss es so sein: Die Kommune muss die Kriterien, die
zugrunde gelegt werden, genauso gut erfüllen wie ein
privater Mitbieter. Nach meiner Auffassung sollte erst
dann die Kommune den Vorrang haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wenn die Kommune die Kriterien allerdings schlechter
erfüllt als ein privater Mitbewerber, dann ist es weder im
Interesse der Kommune noch im Interesse der Verbrau-
cherinnen und Verbraucher, dass die Kommune den Zu-
schlag erhält. Kommunaler Eigenbetrieb ist eben kein
Selbstzweck. Er muss sich an objektiv nachprüfbaren
Kriterien messen lassen.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1809404600

Herr Kollege Post, lassen Sie eine Zwischenfrage von

Herrn Kühn vom Bündnis 90/Die Grünen zu?


Florian Post (SPD):
Rede ID: ID1809404700

Selbstverständlich.

Christian Kühn (Tübingen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):

Danke, Herr Kollege Post, dass Sie die Zwischen-
frage zulassen. – Sie haben gerade über Kriterien und
über die Erfüllung dieser Kriterien gesprochen. Sie ha-
ben gesagt, dass die Kommunen die Kriterien genauso
gut erfüllen sollen. Nun habe ich die Kolleginnen und
Kollegen der Union immer so verstanden, dass die Kom-
munen die Kriterien besser erfüllen sollen. Was gilt denn
nun in dieser Großen Koalition? Was planen Sie in Ih-
rem Gesetzentwurf?






(A) (C)



(D)(B)



Florian Post (SPD):
Rede ID: ID1809404800

Zunächst möchte ich festhalten: Der Koalitionsver-

trag in dieser Frage ist eindeutig. Wir gehen davon aus,
dass der Koalitionsvertrag für alle an der Koalition betei-
ligten Parteien gilt.

Sie zielen auf eine Bemerkung eines Kollegen im
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ab, auf die ich ge-
nau das Gleiche entgegnet habe, was ich eben in meiner
Rede klargestellt habe. Für uns gilt: Die Kommune muss
die Kriterien genauso gut erfüllen und hat dann den Vor-
rang zu erhalten. Sie darf im Vergleich zu einem privaten
Mitbieter nicht schlechter gestellt werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Stadtwerke sorgen überall in Deutschland für
hohe Versorgungsqualität. Wir wollen Sorge dafür tra-
gen, dass das auch so bleibt. Wir dürfen allerdings nicht
den Fehler begehen, den Bürgerinnen und Bürgern ein-
zureden, dass man durch die Übernahme einer Konzes-
sion Spielräume bei der Gestaltung der Verbraucher-
preise hätte. Wir haben hier in Deutschland die
Trennung von Vertrieb und Erzeugung, das sogenannte
regulatorische Unbundling. Das gilt natürlich in Zukunft
auch für Kommunen und Stadtwerke. Man darf nicht
den Fehler machen, irgendwelche Mythen in die Welt zu
setzen. Das würde später zu Enttäuschungen führen.

Bis Ende 2017 werden fast alle auslaufenden Konzes-
sionen für viele Jahre neu vergeben. Daher ist in der Tat
– das ist auch in Ihrer Begründung durchgedrungen –
schnelles Handeln geboten. Das haben wir in der Großen
Koalition und als SPD-Fraktion erkannt. Deswegen wer-
den wir aufs Tempo drücken. Wir werden vor der Som-
merpause einen wohl durchdachten Vorschlag vorlegen
– ich sehe durchaus Chancen, dass wir uns mit der Op-
position einigen können –, der den Kommunen und den
Verbraucherinnen und Verbrauchern dient. In diesem
Sinne: Wir werden zu einem guten Ergebnis kommen,
das für alle tragbar sein wird.

Danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1809404900

Vielen Dank. Als nächster Redner hat Jens Koeppen

von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Jens Koeppen (CDU):
Rede ID: ID1809405000

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Liebe Kollegin Lay und lieber Kollege
Krischer, ich finde es bemerkenswert: Ich habe noch gar
nichts gesagt, und trotzdem wurde ich schon dreimal er-
wähnt.


(Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da können Sie mal sehen!)


Da kann ich so viel nicht falsch gemacht haben.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe Ihre Rede CDU-Bürgermeistern vorgelegt! Die sind vom Stuhl gefallen!)


Vielen Dank für die Vorschusslorbeeren.

Ich muss Sie enttäuschen: Ich werde nicht so viel an-
deres sagen. Sie haben diese Anträge mittlerweile drei-
mal gestellt, mit gleichem Inhalt und fast gleichem Text.
Wir haben darüber im Plenum und auch im Ausschuss
gesprochen.


(Caren Lay [DIE LINKE]: Und nichts gemacht!)


Die Argumente sind also ausgetauscht. Deswegen
möchte ich meine Redezeit heute darauf verwenden, auf
die Mythen einzugehen, die Sie in Ihrer Argumentation
fortwährend vortragen. Ich möchte darauf eingehen, dass
es schlicht und ergreifend nicht stimmt, was Sie hier er-
zählen.

Der eine Mythos ist: Stadtwerke können keine Netze
übernehmen, bzw. wir würden es den Stadtwerken
schwer machen, Netze zu übernehmen. Außerdem seien
wir per se gegen die Kommunalisierung.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, das haben Sie beim letzten Mal so gesagt!)


Darauf werde ich eingehen. Ich werde auch darauf ein-
gehen, dass Sie immer wieder sagen, die öffentliche
Hand sei per se der bessere Unternehmer und die
Rekommunalisierung habe nur Vorteile und löse alle
Probleme. Sie sagen auch immer – das ist der dritte
Mythos –, dass laut Koalitionsvertrag alles geändert
werde, was jetzt im EnWG, im Energiewirtschaftsgesetz,
steht. Darauf werde ich letztendlich auch eingehen.

Sie haben mittlerweile drei Anträge gestellt, und im-
mer wieder fordern Sie in den Anträgen mehr Staatswirt-
schaft.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich glaube, Sie reden jetzt mehr zur SPD, wenn ich das richtig höre! – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Kommunalwirtschaft!)


– Staatswirtschaft, Kommunalwirtschaft, für mich gibt
es da nicht so viele Unterschiede.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da geht es ja schon los! – Caren Lay [DIE LINKE]: Das ist ja interessant!)


Sie sagen ja auch, dass der Wettbewerb ausgeschaltet
werden soll,


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den haben Sie ausgeschaltet!)


wenn Sie die gesetzliche Festschreibung der Direktver-
gabe ohne ein entsprechendes Auswahlverfahren und
ohne Ausschreibung fordern. Sie wollen quasi zulassen,
dass auf Zuruf der Gemeinden die Netze an die Stadt-
werke über eine Inhousevergabe übergeben werden. Das
wird nicht funktionieren, und das kann auch nicht funk-
tionieren. Deswegen sagen wir natürlich zum Mythos





Jens Koeppen


(A) (C)



(D)(B)


eins: Das kann nicht gut gehen. Staat vor Markt ist kein
Erfolgsmodell. Ich kenne keine einzige Volkswirtschaft,
die so funktioniert hat.

Wir haben uns in Deutschland die soziale Marktwirt-
schaft sehr mühsam, aber sehr erfolgreich aufgebaut.
Wenn Sie nach 25 Jahren immer noch Probleme mit der
sozialen Marktwirtschaft haben,


(Caren Lay [DIE LINKE]: Ich habe nie etwas anderes erlebt! Aber die Privatisierung ist doch falsch!)


dann müssen Sie das mit sich ausmachen, aber nicht mit
uns.

Die Kommunalisierung muss – dabei bleibe ich; da
haben Sie mich richtig zitiert – eine Ausnahme bleiben.
Das ist de facto so.


(Caren Lay [DIE LINKE]: Das ist ja interessant!)


Es gilt: Nicht um jeden Preis kommunalisieren, sondern
da, wo es passt, aber nicht dort, wo es geht. Außerdem
sage ich: Wenn Kommunen es besser machen oder ge-
nauso gut machen. Dieses Bessermachen ist ein Prinzip
der Subsidiarität; diese ist in verschiedenen Kommunal-
verfassungen der Länder eindeutig festgeschrieben. Es
gibt die starke Subsidiarität, und es gibt die schwache
Subsidiarität. Die starke Subsidiarität besagt – so steht es
in einigen Kommunalverfassungen der Länder –, dass
die Kommunen es wirtschaftlich besser machen müssen
als wirtschaftlich arbeitende private Unternehmen. Das
ist gelebte Subsidiarität. Wir wollen sie nicht aushöhlen,
sondern wir wollen die Kommunalverfassungen stärken.
Wer etwas anderes möchte, stellt die Systemfrage. Das
ist mit uns nicht zu machen.


(Lachen des Abg. Bernhard Daldrup [SPD] – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: So einfach ist es, hier die Systemfrage zu stellen!)


– Ja, natürlich.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1809405100

Herr Kollege Koeppen, lassen sie eine Zwischenfrage

zu?


Jens Koeppen (CDU):
Rede ID: ID1809405200

Nein. Wir haben insgesamt 96 Minuten Debattenzeit,

die Fraktionen haben ihre Redezeitkontingente, und wir
haben bereits dreimal darüber geredet.


(Widerspruch bei Abgeordneten der LINKEN – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie reden hier am Thema vorbei!)


Sie sollten einmal zuhören und die Argumente akzeptie-
ren. Parlament besteht aus Rede und aus Gegenrede, aus
Argumenten und Gegenargumenten.


(Zuruf von der LINKEN: Eben!)


Jetzt bin ich mit meinen Gegenargumenten dran.


(Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Elf Minuten haben Sie!)


Akzeptieren Sie das einfach einmal, und hören Sie bitte
zu.

Mythos zwei lautet: Stadtwerke können Netze nicht
übernehmen, oder es wird ihnen sehr schwer gemacht. –
Stadtwerke können sehr wohl Netze übernehmen, und
Stadtwerke übernehmen in zahlreicher Form in Deutsch-
land Netze. Ein Stadtwerk in der Kreisstadt meines
Wahlkreises, in Prenzlau, hat Netze übernommen. Es ist
denen weiß Gott nicht leichtgefallen. Denn dafür muss
ein Stadtwerk leistungsstark sein. Stadtwerke müssen
sich damit ganz klar auseinandersetzen. Natürlich kön-
nen sie sich ein zweites oder drittes Standbein aufbauen
– das kann auch hilfreich sein –, aber sie dürfen den
Wettbewerb nicht scheuen, und sie müssen eine klare Ri-
sikobewertung vornehmen. Diese Risikobewertung ist
aus meiner Sicht sehr wichtig, weil sie auch das
Unbundling-Verfahren des Dritten EU-Energiebinnen-
marktpaketes anwenden müssen. Das machen die meis-
ten Stadtwerke; das wollen sie auch. Deswegen, liebe
Frau Lay, wird es auch keine Änderung des § 1 des
EnWG, des Energiewirtschaftsgesetzes, geben, wie Sie
es ja in der Begründung zu Nummer 2 Ihres jüngsten
Antrags fordern. Ich lese Ihnen vor, was in § 1 EnWG
steht: Ziel „ist eine möglichst sichere, preisgünstige, ver-
braucherfreundliche, effiziente und umweltverträgliche
leitungsgebundene Versorgung … mit Elektrizität und
Gas“. Was bitte davon soll ich ändern? Also wird es da-
bei bleiben.


(Caren Lay [DIE LINKE]: Sie sollen den Verweis aus § 46 wieder herausstreichen!)


Eine Übernahme durch die Stadtwerke kann erfolg-
reich sein; ohne Zweifel, das ist gar keine Frage. Deswe-
gen gibt es ja auch zahlreiche Übernahmen. Aber es gibt
keine Garantie auf Erfolg. Die Stadtwerke sind auch
nicht per se eine Cashcow, ein wie auch immer gearteter
Goldesel. Deswegen braucht es ein gutes Management.
Die Stadtwerke, die das nachvollziehen, haben ein gutes
Management.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch eine Unverschämtheit! Das wissen die Kommunen alle selber! Das können die selber entscheiden!)


Es muss eine klare Risikobewertung geben. Es gibt
einen sehr hohen Investitionsbedarf. Es muss eine
Versorgungsgarantie übernommen werden. Es muss ein
Service übernommen werden.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kann doch jede Kommune für sich selber entscheiden!)


Vor allen Dingen, Herr Krischer, ist es nun einmal so:
Verluste können bei einer so hohen Investition auftreten.
Wenn es sie dann gibt, entstehen Konkurrenzsituationen
zu anderen staatlichen Aufgaben


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie doch mal etwas zum Gesetz!)






Jens Koeppen


(A) (C)



(D)(B)


wie Kitas, Schulen, Sportplätze und Kultur. Solche Ent-
scheidungen müssen die Bürgermeister in den Kommu-
nen dann auch vertreten.


(Caren Lay [DIE LINKE]: Ja, das können die doch dann auch entscheiden!)


Wenn etwas in einem Stadtwerk schiefläuft, entsteht eine
Konkurrenzsituation zwischen Aufwendungen für die
Verluste und Mitteln für andere Aufgaben.

Deswegen sagen wir: Es muss zum Vorteil der Gesell-
schaft sein, es muss zum Vorteil der Kommunen sein, es
muss zum Vorteil der Kunden sein. Preis und Leistung
müssen stimmen. Es muss um Daseinsvorsorge gehen,
und es darf keine Daseinsberechtigung werden. Wenn
ich mir manche Stadtwerke ansehe – ich kann Ihnen
konkrete Beispiele nennen –, komme ich zu dem
Schluss: Es geht teilweise um Daseinsberechtigung,
nicht nur um Daseinsvorsorge. Wir müssen also aufpas-
sen, dass wir das richtig machen.

Jetzt komme ich zum Mythos Nummer drei. Sie sa-
gen, wir wollten jetzt laut Koalitionsvertrag alles ändern.
Der Kollege Bareiß hat schon ziemlich deutlich gesagt
– auch die Kollegen von der SPD haben das schon er-
wähnt bzw. werden es noch tun –, und wir sagen ganz
klar – nicht mehr und nicht weniger steht im Koalitions-
vertrag –: Wir werden das Bewertungsverfahren bei der
Neuvergabe evaluieren und verbessern. Wir werden da-
rüber hinaus die Transparenz verbessern. Es ist doch gar
keine Frage, dass es da Dinge gibt, die zu verbessern
sind. Das werden wir auch tun.


(Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann denn?)


Auch die Rechtssicherheit muss verbessert werden.

Verbessern heißt aber doch, aus etwas Gutem etwas
Besseres zu machen. Wir werden das, was schon da ist,
aber nicht abschaffen. Deswegen: Lassen Sie uns doch
erst einmal Vorschläge machen. Dann sehen wir weiter.
Letztendlich wollen wir sagen können: Wenn Transpa-
renz gewährleistet ist und die Wirtschaftlichkeit da ist,
können die Stadtwerke bei einer Vergabe ganz gezielt
zugreifen. Aber es muss bei einer Ausschreibung blei-
ben.

Verbessern heißt nicht abschaffen. Deswegen: § 1 des
Energiewirtschaftsgesetzes wird definitiv bleiben. Es
wird keine Direktvergabe ohne Auswahlverfahren und
Ausschreibung geben. Das kann es auch gar nicht geben,
weil das europarechtlich gar nicht möglich ist. Auch die
Subsidiarität wird bleiben. Die Kommunalverfassungen
werden nicht angefasst.


(Bernhard Daldrup [SPD]: Das wäre ja wohl noch schöner!)


Vor allen Dingen müssen auch die Unbundling-
Vorschriften eingehalten werden.

Es gibt mit uns keine Gesetzesänderung, die den
Wettbewerb im Netzbereich abschafft. Es wird aller-
dings – ich habe das bereits gesagt – Veränderungen im
Sinne der Transparenz geben. Damit werden wir den
Wettbewerb stärken. Wir werden die Vergabeentschei-

dungen verbessern. Wir werden dadurch natürlich auch
die Ausschreibungen klarer gestalten können. Das alles
ist in Ordnung; lassen Sie uns also darüber nachdenken.
Aber eine Änderung in Richtung irgendeiner wie auch
immer gearteten Staatswirtschaft wird es mit uns nicht
geben.

Schauen Sie – darauf muss ich als Brandenburger
hinweisen –, Berlin und Brandenburg haben einen Flug-
hafen, der ewig nicht fertig wird.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, aber da regieren Sie doch mit! In Berlin und im Bund ist die CDU doch in Verantwortung!)


Ich sage Ihnen: Wir brauchen nicht mehr BER, wir brau-
chen weniger BER.


(Zuruf von der LINKEN: Das ist doch ein absurder Vergleich!)


Deswegen: Lassen Sie uns an guten Bedingungen arbei-
ten, damit die Rahmenbedingungen für den Wettbewerb
stimmen, und gemeinsam dafür sorgen, dass es im Be-
reich des Energiewirtschaftsgesetzes zu Verbesserungen
kommt. Mit uns wird es aber keine Abschaffung geben.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU – Caren Lay [DIE LINKE]: Das ist ja so was von falsch!)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1809405300

Vielen Dank. – Bevor Eva Bulling-Schröter von der

Linken das Wort erhält, erhält Herr Gambke vom Bünd-
nis 90/Die Grünen für eine Kurzintervention das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Vielen Dank. – Herr Koeppen, Sie haben ja meine
Frage nicht zugelassen. Nun haben Sie in Ihrer ganzen
Rede über das Thema Marktwirtschaft gesprochen und
gerade so getan, als habe im Energiebereich immer
Marktwirtschaft geherrscht. Wir hatten aber über Jahre
und Jahrzehnte eine starke Monopolbildung. Jetzt geht
es darum, dieses Monopol aufzubrechen.


(Zuruf von der LINKEN: Richtig!)


Genau dagegen sehe ich Widerstände bei Ihnen.

So ist zum Beispiel das marktwirtschaftliche Prinzip
der Ertragswertbetrachtung ein zentraler Punkt, bei dem
diejenigen, die in den Wettbewerb eintreten wollen,
Rechtssicherheit brauchen. Diesen Wettbewerb, der auf-
grund der Monopolbildung jahrelang verhindert war,
wollen wir ja. Das ist eine Sache, der sich die Stadtwerke
stellen werden und stellen müssen. Dabei sollten aber,
bitte schön, Bedingungen vorherrschen, damit sie auf
gleicher Augenhöhe mit den großen Konzernen stehen.
Genau darum geht es. Aber eben da sehe ich keine Be-
wegung in der Union, sondern eher ein Bremsen. Das
war genau der Punkt, der mich dazu veranlasst, zu glau-
ben, dass Ihr Plädoyer für Markwirtschaft nicht ehrlich
ist.





Dr. Thomas Gambke


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Caren Lay [DIE LINKE]: Ein Plädoyer für Konzerne!)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1809405400

Herr Koeppen, Sie haben Gelegenheit zur Erwide-

rung.


Jens Koeppen (CDU):
Rede ID: ID1809405500

Dass wir, wie Sie gerade gesagt haben, gegen eine

Aufweichung der Monopole seien, ist so nicht richtig.
Wir lassen doch den Wettbewerb zu: Stadtwerke können
logischerweise durch dieses Unbundling-Verfahren jetzt
Netze übernehmen. Nur, das darf auch nicht umgedreht
werden. Es kann natürlich nicht sein, dass wir durch eine
Direktvergabe ohne Ausschreibung, ohne Auswahlver-
fahren


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das will niemand!)


ein Monopol in die andere Richtung bekommen. Deswe-
gen: Das, was jetzt schon möglich ist, nämlich dass
Stadtwerke Netze übernehmen, können wir befördern,
indem wir – Herr Kollege Bareiß hat es ja angedeutet –
die Transparenz verbessern, die Ausschreibungsbedin-
gungen verbessern, alles, was dazugehört. Das ist alles
im Werden und wird demnächst auch vorgelegt. Dann
können sich Stadtwerke melden, können an einer Aus-
schreibung teilnehmen, aber nicht so, wie es die Links-
fraktion fordert, also ohne die ganzen Vorschriften,
Unbundling-Vorschriften usw., die wir jetzt schon haben.
Mit uns wird es keine Umdrehung des Wettbewerbs ge-
ben – eine Verbesserung des Wettbewerbs, ja, aber eine
Umdrehung nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Caren Lay [DIE LINKE]: Kommunale Selbstverwaltung steht im Grundgesetz!)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1809405600

Frau Kollegin Bulling-Schröter, jetzt haben Sie das

Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809405700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die letzte Debatte zu diesem Thema fand ja Ende Januar
an einem Freitagnachmittag statt. Auch da wurde groß
debattiert, vor allem mit der CDU/CSU, die sich da re-
gelrecht aufgeregt hat.

Herr Kollege Koeppen, Sie haben damals gesagt und
jetzt wieder behauptet, die Linke wolle die Systemfrage
stellen, weil sie öffentlichem Eigentum Vorrang vor pri-
vatem geben würde. Da frage ich mich schon, wie Sie
sich das System vorstellen, und für mich zeigt das auch,
wie Sie denken: Da wird Staatswirtschaft kritisiert, wird
behauptet, die Kommunen könnten Aufgaben weniger
gut wahrnehmen als private Dienstleister. Ich werde ein-
mal schauen, wie die Kommunalvertreter auf solche
Vorhaltungen reagieren. Ich komme aus Bayern; da ist
die Mehrheit bei der CSU. Ich weiß nicht, ob Sie diesen

Leuten das so sagen wollten. Aber das muss man denen
einmal sagen, wie die Vertreter hier in Berlin sie ein-
schätzen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir sind ja gewohnt, dass die Union bisweilen so re-
agiert wie ein Stier, wenn er ein rotes Tuch sieht.


(Jens Koeppen [CDU/CSU]: Das hat uns erfolgreich gemacht!)


Ich sage auch nicht, dass Sie von der CDU/CSU keine
Angst vor uns haben brauchen. Aber diesmal geht es um
Stadtwerke und um Kommunen. Wenn das wirklich
schon ein „Systemwechsel“ sein soll, dann muss ich
wirklich sagen: Es geht hier doch um die ureigensten
Rechte der Kommunen. Bei uns sind die Kommunalver-
tretungen alle gewählt, sie sind so zusammengesetzt, wie
die Bevölkerung das will bzw. in der Form, dass ihrer
Meinung nach so ihre Interessen vertreten werden.

Ich glaube, Sie haben da einfach etwas nicht richtig
verstanden oder wollen es nicht richtig verstehen: Es
geht hier um die Vergabe von Konzessionen durch die
Kommunen in der Regel für 20 Jahre. Und man muss
den Leuten sagen: Wenn jetzt nichts passiert, dann
bekommen die großen Energiekonzerne für weitere
20 Jahre die Konzession, dann ist die Gelegenheit für
eine Neuordnung erst mal wieder vorbei. Dieses Verfah-
ren beruht darauf, dass die Kommunen das Wegerecht
besitzen. Wenn Sie nun denken, dass Private Vorrang ha-
ben sollten, hat das mit Subsidiarität nichts zu tun.

Gehen wir einmal zurück! Reden wir einmal über die
Liberalisierung der Energiemärkte damals unter Kohl!
Ich war damals schon im Bundestag. Ich kann mich noch
gut erinnern: Da gab es einen Abgeordneten Rupert
Scholz, von Beruf Rechtsanwalt, der damals darauf spe-
kuliert hat, die Konzessionsabgabe ganz abzuschaffen.
Er wollte den Kommunen also auch die Einnahmemög-
lichkeit nehmen. An so etwas muss man erinnern! Ich
war in einer Enquete-Kommission zu Energiefragen. Da
gab es ein Gesamtvotum – das haben auch CDU/CSU
und FDP damals mitgetragen –, in dem von der Gefahr
von Oligopolen gesprochen worden ist. Das haben Sie
alle unterschrieben. Das sollten Sie in diesen Unterlagen
noch einmal nachlesen, weil das einfach wichtig ist.


(Beifall bei der LINKEN)


Damals war das vorprogrammiert, und damals hat
man uns auch erzählt, es gehe um die Verbraucher. Ich
kann mich noch daran erinnern: Die Verbraucherpreise
wurden um 40 Prozent erhöht, und die Preise für die gro-
ßen Konzerne wurden gesenkt. Schon damals ging es da-
rum, und jetzt ist das wieder so.


(Beifall bei der LINKEN)


Man sieht, welche Interessen Sie vertreten. Wir wol-
len den Kommunen zu ihrem Recht verhelfen. Ich zitiere
jetzt einmal das Grundgesetz. In Artikel 28 des Grund-
gesetzes steht, dass die Gemeinden das Recht haben, die
Angelegenheiten ihrer örtlichen Gemeinschaft in eigener
Verantwortung zu regeln. – Lesen Sie das einmal!





Eva Bulling-Schröter


(A) (C)



(D)(B)


Herr Bareiß, Sie sagen, die Rekommunalisierung
könne kein Selbstzweck sein.


(Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Ja! – Florian Post [SPD]: Das habe ich auch gesagt! Das stimmt! Da hat er recht, der Kollege!)


Was meinen Sie denn damit? Meinen Sie damit, dass al-
les privat werden soll? Es gibt natürlich überall solche
und solche.

Bei der SPD gab es auch etwas Merkwürdiges: In der
letzten Debatte wurde gesagt, dass die Rekommunalisie-
rung der Netze nicht immer besser sei und auch teuer für
die Kommunen sei. Kollege Post hat das jetzt zum Teil
relativiert.


(Florian Post [SPD]: Das habe ich nie gesagt!)


Hier sehe ich also auch ein Umdenken. Wenn man hier
etwas ausbügelt, dann werden wir das natürlich auch un-
terstützen.

Ich möchte jetzt noch einmal ganz klar sagen: Wir
wollen keine Kommune zwingen, ihre Netze zurückzu-
kaufen, wie das hier immer behauptet wird, aber wir
möchten, dass den Kommunen, die ihre Netze zurück-
kaufen wollen, dabei keine Steine mehr in den Weg ge-
legt werden.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Beispiele dafür erleben wir ja ständig. Und es geht um
die Stärkung der Kommunen. Sie haben das bitter nötig.
Tatsache ist doch: Die Städte können nicht einfach da-
rüber entscheiden und die Netze zurückkaufen, sondern
sie müssen oft Klagen fürchten, die häufig gegen sie aus-
gehen.

Ich war in einer Kommune in Nordrhein-Westfalen.
Der dortige Bürgermeister, der sehr schlitzohrig war, hat
mir gesagt: Wissen Sie, Frau Bulling-Schröter, wenn ich
keinen Spezi gehabt hätte, der vor seinem Renteneintritt
zufällig in der Konzernspitze eines Energiekonzerns tä-
tig war, dann hätte ich das nie erreicht. – Diese Kom-
mune wurde jetzt als Klimakommune ausgezeichnet,
und darauf bin ich stolz.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Weil wir wollen, dass es noch viel mehr solcher Kom-
munen gibt, dass sie wirklich die Chance haben, zur
Energiewende beizutragen, und dass die Bürger wieder
mehr zu sagen haben, deshalb wollen wir die Rekommu-
nalisierung.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1809405800

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Johann

Saathoff von der SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Johann Saathoff (SPD):
Rede ID: ID1809405900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die Debatte über die Rekommunalisierung
der Energienetze – es sind übrigens nicht nur Strom-
netze, sondern oft auch wirtschaftlich untrennbar damit
verbundene Gasnetze – ist zunächst einmal keine Preis-
debatte und auch keine Debatte über die Einrichtung von
Möglichkeiten für eine Kommune, eine bestimmte Form
der Stromerzeugung für ihr Netz zu präferieren.

Über diese Fragen diskutieren wir in diesen Tagen
zwar auch sehr viel, aber in einem ganz anderen Kon-
text. Mit einem Grünbuch und einem darauf folgenden
Weißbuch wollen wir ein neues Strommarktdesign ent-
wickeln – und das noch in diesem Jahr. Dort geht es um
die Frage, wie wir die Energieversorgung in Deutschland
zukünftig preisgünstig, umweltfreundlich und sicher ge-
stalten können. Die Netze sind nur ein Teilaspekt dieses
Grünbuchs.

Heute reden wir aber nicht über den Netzausbau
schlechthin, sondern wir reden über das Management
der Verteilnetze. Die Verteilnetzbetreiber haben eine
enorme Verantwortung gegenüber den privaten Haushal-
ten und den Betrieben ihres Netzgebietes. Diese wollen
dauerhaft versorgt werden, und es soll möglichst nicht
zu Netzengpässen kommen. Das ist aus meiner Sicht die
Kernaufgabe eines Verteilnetzbetreibers.

Nach dem vorliegenden Antrag soll die Inhousever-
gabe der Netze ermöglicht werden. Eine Gemeinde soll
sich also beispielsweise bei der Vergabe der Konzession
entscheiden können, ob sie das Netz selber betreibt oder
ob sie das Netz öffentlich und zu besten Bedingungen
ausschreibt.

Über meine Erfahrungen hinsichtlich der Komplexität
bei der Übernahme der Netze habe ich bereits beim letz-
ten Mal berichtet. Die Frage ist doch weniger ob, als
vielmehr wie die Rekommunalisierung durchgeführt
werden soll.


(Jens Koeppen [CDU/CSU]: Ganz genau!)


Darüber werden wir uns in den Fraktionen intensiv zu
unterhalten haben.

Ich persönlich finde es eigentlich richtig, dass sich
Städte und Gemeinden dem Wettbewerb stellen; denn
dadurch müssen sie sich genau mit den voraussichtlichen
Risiken eines Netzbetriebes beschäftigen. Meiner An-
sicht nach liegt das im Interesse der Bürgerinnen und
Bürger.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Unter Umständen müssen die Netzbetreiber nämlich
enorme Summen in das Netz investieren. Erlöse für ihre
Investitionen bekommen sie aber oft erst Jahre später.

Netze müssen ertüchtigt werden. Bei der Erstattung
dieser Investitionen hat man je nach Investitionszeit-
punkt eine Refinanzierungslücke von bis zu sieben Jah-
ren zu überbrücken. Von der Frage, wie wir mit den je-
weiligen Kommunalaufsichten und wie diese mit den





Johann Saathoff


(A) (C)



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jeweiligen Darlehenssummen umgehen sollen, will ich
an dieser Stelle erst einmal gar nicht reden.

Ein Instrument für Investitionsmaßnahmen wie bei
den Übertragungsnetzbetreibern gibt es in den Verteil-
netzen übrigens nicht. Darüber hinaus muss der Ver-
teilnetzbetreiber jedes Jahr seine Effizienzvorgaben
erfüllen.

Beim Personalübergang können enorme Mehrkosten
drohen; denn die Tarifverträge der Netzbetreiber liegen
meist deutlich höher als die der Kommunen – leider, wie
ich als ehemaliger Kommunalbeamter sagen muss. Zum
Teil kommen private Sonderregelungen in der Altersvor-
sorge der zu übernehmenden Mitarbeiter hinzu. Unter
Umständen gibt es dann in der Gemeinde zwei Klassen
von Beschäftigten. Auch das kann keiner wollen.

Mit Blick auf die kommunalen Haushalte und die
Kommunalaufsicht ist also Vorsicht geboten. Erwartun-
gen von Renditen in Höhe von 9,05 Prozent sollten bes-
ser gebremst werden. Zumindest sollte klar sein – das
muss auch bei dieser Debatte herauskommen –, dass sich
diese Renditezahlung ständig verändert, also verringert,
und sich natürlich nur auf 40 Prozent des eingesetzten
Eigenkapitals bezieht. Was genau „kommunales Eigen-
kapital“ eigentlich darstellt, darüber gibt es unterschied-
liche Ansichten.

Die Anreizregulierung ist nun wirklich keine einfache
Materie. Es ist gut, dass sich Städte und Gemeinden in-
tensiv damit beschäftigen müssen. Ich finde aber, es ge-
hört auch zur guten parlamentarischen Debatte, hier ein-
mal die möglichen Fallstricke zu nennen, ohne gleich in
Verdacht zu geraten, den Bürgermeistern die Kompetenz
absprechen zu wollen.


(Barbara Lanzinger [CDU/CSU]: Genau!)


Viele Gemeinden, vor allem die kleinen im ländlichen
Raum, sind am Ende eben doch dazu gekommen, dass
sie zwar das Netz betreiben wollen, aber eben nicht al-
leine, sondern mit einem strategischen Partner aus der
Privatwirtschaft. Dann ist die Rekommunalisierung aber
nur noch ein besseres Beteiligungsgeschäft ohne inhaltli-
chen Anspruch. Zugegeben: Besser als nichts! Aber mit
Rückgewinnung der öffentlichen Daseinsvorsorge hat
das dann ehrlicherweise nicht mehr viel zu tun.

Im Antrag wird auch der Fall der Gemeinden Bunde
und Ostrhauderfehn angesprochen. Diesen Fall kenne
ich zufällig ganz genau, weil diese Gemeinden in meiner
Nachbarschaft liegen. Dass die Übernahme der Netze
hier nicht so funktionierte, wie sich die beteiligten Ge-
meinden das vorgestellt hatten, lag bestenfalls teilweise
an den Ausschreibungskriterien. Zunächst muss hier
klargestellt werden, dass die Gemeinden von Anfang an
vorhatten, das Netz gemeinsam mit einem strategischen
Partner aus der Privatwirtschaft zu betreiben. Es lag also
bestenfalls eine Teilrekommunalisierung vor. Letztlich
haben sich die Gemeinden dann mit dem bisherigen Teil-
netzbetreiber so geeinigt, dass die Versorgungssicherheit
gewährleistet bleibt und die Gemeinde einen angemesse-
nen Anteil am Gewinn bekommen kann.

Diese Lösung zeigt den Kern der Rekommunalisie-
rungsdebatte, meine Damen und Herren: Es geht oft vor-
rangig um die Gewinnbeteiligung der Kommunen, was
ich gar nicht schlechtreden will, und nur in zweiter Linie
um die Sicherung der Daseinsvorsorge.


(Beifall des Abg. Jens Koeppen [CDU/CSU])


Eine solche gemeinsame Netzbetriebsgesellschaft sehe
ich übrigens sehr positiv. Ich denke, auch hier können
Kommunen, insbesondere im ländlichen Raum, den wir
ja nun politisch in vielen Bereichen endlich entdeckt ha-
ben, ihre Ziele sehr gut verfolgen.

In der Debatte im Januar wurde von den Antragstel-
lern der Wunsch geäußert, dass Bürgernähe und ökologi-
scher Anspruch bei den Ausschreibungskriterien berück-
sichtigt werden sollten. Ich kann mir, ehrlich gesagt, nur
schwer vorstellen, wie Bürgernähe im Netzbetrieb ausse-
hen soll, und würde mich freuen, wenn wir dazu in der
weiteren Debatte Beispiele bekommen würden.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann fahren Sie mal nach Saerbeck! – Zuruf von der LINKEN: Berliner Energietisch!)


Viel greifbarer wird das doch, wenn eine Gemeinde zum
Beispiel Strom selbst erzeugt, dadurch kreisumlagefreie
Einnahmen erzielt und die Menschen die Stromerzeu-
gungsanlagen auch noch sehen können.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dazu brauchen sie auch ein Netz!)


Der Anblick von Strommasten wird vermutlich die we-
nigsten Menschen erfreuen.

Ich will damit sagen: Es gibt auch andere Investitions-
möglichkeiten für Kommunen, die mit deutlich weniger
Unsicherheiten belastet sind und mit denen Bürgernähe
und ökologischer Anspruch wesentlich besser verwirk-
licht werden können. Das können alle Kollegen, die in der
Kommunalpolitik Verantwortung getragen haben, bestäti-
gen. Das sei an dieser Stelle allen mit auf den Weg gege-
ben, die in Kommunen noch Verantwortung tragen wol-
len.

Im Falle der kommunalen Verfassungsbeschwerde
von Titisee-Neustadt werden wir irgendwann eine Klar-
stellung erfahren, welchen Stellenwert die kommunale
Selbstverwaltung bei der Netzvergabe nun hat.

Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass wir das tun
werden, was im Koalitionsvertrag steht: Wir werden die
Rechtssicherheit beim Netzübergang herstellen oder
wiederherstellen. Wir werden das Bewertungsverfahren
eindeutig und rechtssicher regeln; denn auch wir wollen
nicht, dass man sich angesichts der vielen Neuvergaben
vor Gericht wiedersieht. Außerdem muss die Konzessi-
onsabgabe bei einer Verzögerung des Netzübergangs
vom Altkonzessionär weitergezahlt werden. Entspre-
chende Arbeiten sind im Gange.

„Doon deiht lehren“, liebe Kolleginnen und Kollegen,
heißt, dass man über Praxiserfahrung klug werden kann.
Wir werden nun die bisherigen Rekommunalisierungs-
verfahren, ob gescheitert oder nicht, zügig analysieren





Johann Saathoff


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und dann entsprechende praxistaugliche Lösungsvor-
schläge vorlegen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1809406000

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Julia

Verlinden von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809406100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Ich muss schon sagen: Die Kollegen
von der Union debattieren irgendwie am Thema vorbei.
Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie konkret auf den An-
trag eingegangen sind, den wir heute beraten.


(Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Auf die Sache sind wir eingegangen! Da stimmt was mit dem Gefühl nicht!)


Es geht doch darum, dass die Kommunen Wahlfrei-
heit bekommen, dass also Rechtssicherheit die Wahlfrei-
heit ermöglicht. Das ist doch genau das, was Sie wollen,
nämlich Wettbewerb. Ich verstehe nicht, wie Sie sich
hier gebärden und wie Sie Äußerungen von sich geben,
die überhaupt nichts mit der konkreten Fragestellung im
Antrag zu tun haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


In den 90er-Jahren haben wir bei den Verteilnetzen
eine große Privatisierungswelle erlebt. Seitdem ist vielen
Menschen bewusst geworden, dass nicht jede Privatisie-
rung automatisch sinnvoll ist.


(Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Auch nicht schlechter!)


Denn klar ist: Für die Privaten zählt vor allem die Ren-
dite. Ob sie automatisch immer genug dafür tun, dass die
Stromnetze auch langfristig für eine Energieversorgung
der Zukunft fit bleiben, kann man zumindest bezweifeln.

Viele Bürgerinnen und Bürger wollen die Netze lieber
wieder bei Ihrer Kommune, in kommunaler Hand sehen.
Denn sie vertrauen den Konzernen nicht, die an zahlrei-
chen Netzen beteiligt sind. Verteilnetze für die Strom-
versorgung, die wieder in kommunalem Besitz sind, ha-
ben zudem den Vorteil, dass die Renditen nicht an die
großen Konzerne abfließen.


(Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Wissen Sie, dass die in kommunaler Hand sind? Die Energieunternehmen gehören den Kommunen!)


– Herr Bareiß, Sie können gerne eine Zwischenfrage
stellen. Okay, dann nicht. – Und Renditen, die nicht an
die großen Konzerne abfließen, sondern bei der Kom-
mune bleiben, können zur regionalen Wertschöpfung
beitragen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Auch im Hinblick auf die regional sehr unterschiedlich
hohen Netzentgelte wäre das aus meiner Sicht für die
Akzeptanz der Menschen wichtig. So bliebe zumindest
ein Teil des Geldes vor Ort.

Außerdem bietet ein Stromnetz in kommunaler Hand
bessere Möglichkeiten, abgestimmte, integrierte Kon-
zepte umzusetzen, also eine Verknüpfung von Stromer-
zeugungsanlagen, Netzen und Speichern zu schaffen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Der Zeitpunkt, um Netze zu rekommunalisieren,
könnte gerade kaum besser sein. Wir haben jetzt ein his-
torisch niedriges Zinsniveau, und selbst eine 100-pro-
zentige Fremdfinanzierung wäre innerhalb von einigen
Jahrzehnten – vielleicht sogar nur 20 Jahren – machbar.

Manche gehen sogar noch einen Schritt weiter und sa-
gen: Wir als Bürgerinnen und Bürger wollen die Netze
selbst betreiben. – In Berlin passiert das zum Beispiel.
Ich finde dieses Engagement richtig und gut; denn die
Demokratisierung der Energieversorgung, die Energie-
wende als großes Bürgerprojekt, hört für mich nicht bei
den Erzeugungsanlagen für erneuerbare Energien auf.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Bürgerenergiewende heißt für mich: Energieerzeugung,
Effizienzprojekte und auch Netze können von Bürgerin-
nen und Bürgern gemeinsam gestaltet und betrieben
werden. So wird es dann auch was mit der Energie-
wende.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Die Menschen in diesem Land wollen die Energie-
wende. Für die Energiewende brauchen wir die richtigen
Netzstrukturen und die richtigen Netzbetreiber.


(Zuruf von der CDU/CSU: Was sind denn die richtigen Netzbetreiber?)


Wir haben in den letzten Monaten Zuschriften von
Betreibern von Erneuerbare-Energien-Anlagen bekom-
men, die sich über eine Diskriminierung durch den Netz-
betreiber beklagen. Eine dezentrale Energiewende
braucht aber Netzbetreiber, die für die Energiewende ar-
beiten und nicht dagegen. Wir brauchen Netzbetreiber,
die Probleme lösen und keine machen.

Sehr geehrte Damen und Herren von der Bundesre-
gierung – Herr Beckmeyer, Sie werden ja gleich noch
sprechen –, wenn ich mir anschaue, wie Sie die Energie-
wende organisieren, dann sehe ich ein Abwenden von
den Akteuren, die in den letzten 30 Jahren die Treiber
der Energiewende waren. Die Bundesregierung wendet
sich ab von den Bürgerinnen und Bürgern. Denn Ener-
giewende heißt eben nicht nur, Atom- und Kohlestrom
durch erneuerbare Energien und Energiesparen zu erset-
zen, sondern sie erfordert auch eine Demokratisierung
des Energieversorgungssystems insgesamt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)






Dr. Julia Verlinden


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Es geht darum, dass die Bürgerinnen und Bürger an einer
Energieversorgung teilhaben und dass sie nicht nur be-
zahlen müssen.

Was Sie aber in den letzten Monaten veranstaltet ha-
ben, geht ganz klar in Richtung Energiewende der Kon-
zerne. Sie führen eine Sonnensteuer ein, mit der sie den
Eigenverbrauch für Bürgerinnen und Bürger unattraktiv
machen. Sie kündigen Ausschreibungen für erneuerbare
Energien an, welche in der Regel die Genossenschaften
und privaten Betreiber von Anlagen benachteiligten und
größere Unternehmen bevorzugten. In diesem Antrag
geht es jetzt darum, dass die aktuell unklare Rechtslage
hinsichtlich der Konzession vor allen Dingen eine Klien-
tel bevorzugt, nämlich die Unternehmen.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1809406200

Frau Dr. Verlinden, lassen Sie eine Zwischenfrage

von Herrn Bareiß zu?


Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809406300

Ja.


Thomas Bareiß (CDU):
Rede ID: ID1809406400

Frau Verlinden, jetzt haben Sie mich, da Sie die „bö-

sen Konzerne“ angesprochen haben, doch herausgefor-
dert. Ist Ihnen bewusst, dass beispielsweise im Land Ba-
den-Württemberg, in dem die Grünen ja mitregieren, die
Stadtwerke bei Konzessionsvergaben oftmals der EnBW
gegenüberstehen? Beide sind aber in kommunaler Hand:
Die Stadtwerke sind in kommunaler Hand, und die
EnBW ist mehrheitlich in kommunaler Hand. Insofern
richte ich die Frage an Sie: Welcher der beiden, die dann
mitbieten, ist aus Ihrer Sicht moralisch besser in der
Lage, – –


(Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darum geht es doch überhaupt nicht!)


– Ja, doch, Sie machen es zu einer moralischen Frage,


(Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, nein!)


wer der Bessere ist für die Konzessionsvergabe. Daher
hätte ich gern von Ihnen gewusst, wer von beiden Ihrer
Ansicht nach besser geeignet ist, ein Netz zu betreiben.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Bareiß, dann haben Sie mir nicht zugehört; es tut
mir leid. Es geht nicht darum, dass ich eine Meinung
dazu habe, wer die besseren Betreiber sind, sondern ich
habe gesagt, dass wir die Rechtssicherheit herstellen
müssen, die im Augenblick nicht gegeben ist, damit die
Kommunen die Wahlfreiheit haben, sich dafür zu ent-
scheiden, die Netze selbst zu betreiben oder sie in die
Hand von Bürgerenergiegenossenschaften zu geben.
Diese Rechtssicherheit muss hergestellt werden. Das ist
das, was uns in dem Antrag hier vorliegt und was wir ge-
rade diskutieren. Diese Wahlfreiheit müssen wir ermög-
lichen, indem das Energiewirtschaftsgesetz entsprechend
geändert wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der Abg. Bettina Hagedorn [SPD] – Zuruf des Abg. Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU])


Wir unterstützen den vorliegenden Antrag der Linken.
Was uns da noch fehlt, ist eine Regelung zur Art und
Weise der Übertragung der Anlagen an den Neukonzes-
sionär und zur Ermittlung der Höhe der Entschädigung
an den bisherigen Netzbetreiber. Außerdem ist der bishe-
rige Netzbetreiber faktisch nicht verpflichtet, relevante
Daten über das Netz und dessen Zustand der Kommune
zur Verfügung zu stellen, sodass die Kommune oder an-
dere interessierte zukünftige Netzbetreiber sich kein
qualifiziertes Bild über den Wert und die wirtschaftliche
Perspektive des Netzes machen können.

Im Ergebnis führt dies dazu, dass praktisch alle Fälle,
in denen Kommunen die Verträge mit dem bisherigen
Netzbetreiber nicht verlängert haben, vor Gericht ent-
schieden werden müssen. Bei vielen, gerade bei den
kleinen Kommunen, bewirkt allein diese Rechtsunsi-
cherheit – darauf habe ich eben hingewiesen, Herr
Bareiß –, dass sie sich doch wieder für den bisherigen
Konzessionsnehmer entscheiden. Auch hier ist deswe-
gen die Neuregelung dringend notwendig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Bettina Hagedorn [SPD])


Meine Damen und Herren, die Energiewende, sei es
bei den erneuerbaren Energien, bei der Energieeffizienz
oder bei den Netzen, geht nur zusammen mit den Bürge-
rinnen und Bürgern und nicht gegen sie.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1809406500

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Barbara

Lanzinger von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Barbara Lanzinger (CSU):
Rede ID: ID1809406600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kol-

legen! Sehr geehrte Damen und Herren! Jetzt werde ich
hier gleich wieder einen Sturm der Entrüstung auslösen,
wenn ich feststelle: Die Fraktion Die Linke hat die Anre-
gungen des Kollegen Krischer vom letzten Mal anschei-
nend sehr ernst genommen. Er hatte ja in seiner letzten
Rede zur Rekommunalisierung angekündigt, die Debatte
immer und immer wieder auf die Tagesordnung zu set-
zen, und zwar so lange, bis er endlich das bekommt, was
er will. So habe ich es zumindest verstanden.


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn die Linken doch nur immer auf die Grünen hören würden!)


Mit Ihrem erneuten Antrag, jetzt die Energienetze in
die öffentliche Hand zu geben, versuchen Sie wieder
einmal – ich sage ganz bewusst: populistisch –, Ihr Ziel
durchzusetzen.





Barbara Lanzinger


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(Zurufe von der LINKEN: Oh! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer sind denn die Populisten?)


Ob dieses Ziel auch wirtschaftlich sinnvoll ist, lassen Sie
dabei vollkommen außer Acht.

Aber auch wir nehmen unsere Worte sehr ernst.
Wir haben es endlich geschafft – das sage ich ganz be-
wusst –, in die jahrzehntelang monopolistisch geprägte
Energiewirtschaft etwas mehr Wettbewerb zu bekom-
men. Wettbewerb ist kein Selbstzweck, sondern dient
einzig und allein dem Ziel, dem Verbraucher die beste
Leistung zum besten Preis zur Verfügung zu stellen. Die-
ses wertvolle Instrument der Marktwirtschaft wollen wir
aufrechterhalten. Deshalb können wir Ihnen auch bei
dieser Debatte nur wieder sagen: Wir unterstützen keine
staatswirtschaftlichen Forderungen und lehnen deshalb
Ihren Antrag ab.

In einer Marktwirtschaft gibt es per se keinen Grund,
private Unternehmen von der wirtschaftlichen Betäti-
gung vollständig auszuschließen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das fordert doch keiner!)


Auch die kommunale Selbstverwaltung, die Ihr Haupt-
argument in Ihren zahlreichen Anträgen zur Rekommu-
nalisierung ist, rechtfertigt keinen Verstoß gegen unsere
verfassungsmäßige Ordnung. Die Kollegen Bareiß und
Koeppen haben es ja bereits formuliert: Kommunale
Selbstverwaltung heißt nicht, dass eine Kommunalisie-
rung automatisch dort erfolgt, wo es nur irgendwie mög-
lich ist. Es darf keinen Freifahrtschein geben, auf dem
steht: Kommunale Unternehmen haben grundsätzlich
Vorrang vor einem Wettbewerb. – Private Unternehmen
sind qualitativ nicht per se schlechter als ein kommuna-
les Unternehmen. Die kommunale Selbstverwaltung, so
richtig und wichtig sie für uns ist, darf kein Mittel zur
Verstaatlichung durch die Hintertür sein.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die kommunale Selbstverwaltung hat nämlich auch
nicht, wie Sie, Frau Lay, in Ihrer Rede Ende Januar aus-
führlich dargestellt haben, Verfassungsvorrang; sie hat
Verfassungsrang. Das ist ein wesentlicher Unterschied.


(Jens Koeppen [CDU/CSU]: Genau so ist es!)


Diesen wesentlichen Unterschied hat auch der BGH in
seinen jüngsten Urteilsbegründungen, auf die im Übri-
gen auch das kürzlich erfolgte Urteil zu den Konzessio-
nen in Berlin verweist, sehr gut erklärt. Ich zitiere wört-
lich:

Als Kernbereich der Selbstverwaltungsgarantie ist
grundsätzlich nur die Möglichkeit der Gemeinde
zur wirtschaftlichen Betätigung als solche ge-
schützt, nicht aber einzelne Ausprägungen wirt-
schaftlicher Tätigkeit.

Vereinfacht gesagt, Artikel 28 Absatz 2 Grundgesetz
schützt die kommunale Selbstverwaltung als solche, nicht
aber einzelne kommunale Aktivitäten, soweit sie nicht
eindeutig hoheitlich sind. Denn das Recht der kommuna-
len Selbstverwaltung besteht nur im Rahmen allgemeiner

Gesetze, zu denen auch das Energiewirtschaftsgesetz
zählt. Der von Ihnen kritisierte § 46 Energiewirtschafts-
gesetz ist daher nicht verfassungswidrig, greift auch in
keiner verfassungswidrigen Weise in den Kernbestand
des kommunalen Selbstverwaltungsrechts ein.

Die aktuelle gesetzliche Regelung beschränkt also die
Gemeinden nicht, sondern stellt sie mit privaten Unter-
nehmen gleich. Jede Kommune kann mit einem eigenen
Unternehmen oder einem Eigenbetrieb am Wettbewerb
teilnehmen und den Netzbetrieb gegebenenfalls selbst
übernehmen.

Die Konzessionsvergabe basiert dabei auf den Grund-
sätzen des Vergaberechts, wonach Aufträge auf der
Grundlage objektiver Kriterien vergeben werden sollten,
die die Einhaltung der Grundsätze der Transparenz, der
Nichtdiskriminierung und der Gleichbehandlung ge-
währleisten, um einen objektiven Vergleich des relativen
Werts der Angebote sicherzustellen und damit unter den
Bedingungen eines effektiven Wettbewerbs das wirt-
schaftlichste Angebot ermitteln zu können.

Der BGH macht in seinen Urteilen auch hierzu deut-
lich, dass Auswahlkriterien immer schriftlich und mit
Gewichtung bekannt zu machen sind, wobei den Ge-
meinden gerade bei der Gewichtung ein eigener, aber
überprüfbarer Beurteilungsspielraum zukommt. Bei die-
ser Gewichtung ist auch darauf zu achten, dass die Ziel-
setzung in § 1 des Energiewirtschaftsgesetzes – nämlich
eine „sichere, preisgünstige, verbraucherfreundliche,
effiziente und umweltverträgliche“ Strom- und Gasver-
sorgung – eingehalten wird. Vor allem darf das Ziel der
Netzsicherheit nicht zu gering gewichtet werden.

Ein ganz wesentlicher Aspekt der Vergabegrundsätze
ist das Kriterium des Diskriminierungsverbots, das zu-
sätzlich auch in § 46 Energiewirtschaftsgesetz für Kon-
zessionen geregelt ist. Ich erkläre Ihnen auch, warum:
Durch die Möglichkeit der Teilnahme aller interessierten
Anbieter wird der Wettbewerb gefördert.

§ 46 Energiewirtschaftsgesetz sorgt zu Recht dafür,
dass Gemeinden in einem 20-Jahres-Rhythmus einen
Wettbewerb um das Netz ermöglichen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er findet aber nicht statt!)


Er dient also dem Zweck, kommunalen Ewigkeitsrech-
ten – dem dauerhaften und unangefochtenen Recht der
Kommunen auf Netzbetrieb – entgegenzuwirken, und
das ist auch gut so!

Es gibt selbstverständlich viele gut geführte und er-
folgreiche Stadtwerke; aber es gibt auch weniger erfolg-
reiche Stadtwerke. Es wurde in den Reden heute auch
schon erwähnt: Haben Sie einmal daran gedacht, was
tatsächlich passiert, wenn eine Kommune ein Netz über-
nimmt und dann scheitert? Wir haben schon öfter erfah-
ren und lernen müssen, dass auch ein Stadtwerk insol-
vent werden kann. Verluste müssen dann von anderen
öffentlichen Institutionen kompensiert und damit vom
Steuerzahler getragen werden. Staatlich ist also nicht
zwingend immer besser als privat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)






Barbara Lanzinger


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Vor diesem Hintergrund kann ich nur noch einmal be-
tonen: Wettbewerb hat in der heutigen entflochtenen
Energielandschaft eine eigenverantwortliche Bedeutung,
und diese wollen und werden wir nicht aushebeln.

Wir wissen, dass manche Regelungen in § 46 des
Energiewirtschaftsgesetzes – viele Kollegen sind darauf
schon eingegangen – und der abgeleiteten Normen noch
nicht ausreichend klar sind. Deshalb haben wir im Koali-
tionsvertrag verankert, dass wir die Rechtssicherheit ver-
bessern wollen. Aber ich sage auch ganz deutlich: Eine
rechtliche Verbesserung ist nicht mit einer rechtlichen
Besserstellung bestimmter Anbieter gleichzusetzen. Das
ist ein Unterschied. – Ich gehe jetzt nicht weiter darauf
ein; wir warten auf den entsprechenden Entwurf aus dem
Wirtschaftsministerium. Staatssekretär Beckmeyer spricht
nach mir; vielleicht hören wir dann auch dazu etwas.

Abschließend möchte ich festhalten: Ihre Begrün-
dung, dass eine Rekommunalisierung zu einer Stärkung
der lokalen Wirtschaft führe, dass nur dadurch entschei-
dende Teile der Energiewende zum Erfolg geführt wer-
den könnten, hält weder einer ökonomischen noch, wie
die BGH-Urteile zeigen, einer juristischen Analyse stand
und ist von Ihnen – das sage ich deutlich – rein politisch
getrieben.

Genauso politisch getrieben – ich möchte auch das
ganz deutlich sagen – und sachlich nicht logisch ist die
Verbindung, die Sie herstellen, nämlich eine Steigerung
des Klimaschutzes durch eine Rekommunalisierung.
Wieso sollte eine Kommune den Klimaschutz besser und
schneller vorantreiben können als ein privates Unterneh-
men?


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie schon mal mit RWE geredet?)


Wollen Sie allen nichtöffentlichen Institutionen unter-
stellen, dass sie nicht an einer Verbesserung des Klima-
schutzes interessiert sind?


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Nicht automatisch!)


Energiewirtschaftliche Synergien sowie örtliche und
regionale Wertschöpfungspotenziale entstehen durch ei-
nen Wettbewerb, an dem jeder teilnehmen kann. Wettbe-
werb hat eine heilsame Wirkung; denn er zwingt zu Effi-
zienz, zu Kostendisziplin und sichert dadurch den
Verbrauchern die beste Leistung zum besten Preis.


(Caren Lay [DIE LINKE]: Das ist ein neoliberales Ammenmärchen!)


Wir müssen daher durch die Konzessionsvergabe
auch weiterhin sicherstellen, dass wettbewerbliche Ele-
mente so umfassend wie möglich berücksichtigt werden.
Erst dadurch werden wir auch energiewirtschaftliche
Wertschöpfungspotenziale für unsere Regionen erlan-
gen.

Ganz zum Schluss meiner Rede vielleicht noch etwas
Positives. Sie haben in Ihrem Antrag erwähnt, dass ge-
rade die KWK und die Speicher wichtig sind. Auch wir
halten das für zentrale Bestandteile. Ich würde mich

freuen, wenn Sie uns bei allen unseren Vorhaben zu die-
sen Themen unterstützen würden.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche denn?)


Ich bedanke mich fürs Zuhören und wünsche allen al-
les Gute. Vor ein paar Jahren hätte ich an diesem Tag
nicht hier gestanden, weil in Bayern an diesem Tag der
Joseftag begangen wird.


(Zuruf des Abg. Florian Post [SPD] – Weitere Zurufe)


– Ja, wir haben das, und trotzdem sind wir so gut.

Danke schön fürs Zuhören.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1809406700

Vielen Dank. – Für die Bundesregierung spricht jetzt

der Parlamentarische Staatssekretär Uwe Beckmeyer.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


U
Uwe Beckmeyer (SPD):
Rede ID: ID1809406800


Frau Präsidentin! Wir haben hier heute keinen Feier-
tag, aber eine ernsthafte Debatte. Meine Bitte ist – die
richtet sich natürlich an uns alle hier, liebe Kolleginnen
und Kollegen –: Diese Diskussion um die Rekommuna-
lisierung sollten wir wirklich möglichst sachlich führen.
Wenn etwas mit Emotionen überdeckt wird, hilft das am
Ende nicht weiter. Vor allen Dingen: Es geht bei diesem
Thema um energiewirtschaftliche Notwendigkeiten;
meine Vorrednerin hat zu Recht darauf hingewiesen.
Diese energiewirtschaftlichen Notwendigkeiten – sicher,
preisgünstig, verbraucherfreundlich, effizient, umwelt-
verträglich – sind die Maßstäbe, an denen wir uns auch
bei diesem aktuellen Thema zu orientieren haben.

Wir werden mit der Novelle des § 46 des Energiewirt-
schaftsgesetzes die Rahmenbedingungen für potenzielle
Netzbewerber verbessern können. Der Kollege Saathoff
hat recht, wenn er darauf hinweist: Es geht natürlich
auch um eine gewisse regulierte Rendite aus dem Netz-
betrieb für entsprechende Wegenutzungsrechte. – Das
wissen wir. Der eine oder andere schaut sich diese regu-
lierten Entgelte und die Rendite an und ist der Meinung,
dass das in der Zukunft vielleicht auch etwas für die
Kommunen sein kann. Ja, das kann es sein, aber – das ist
eben gesagt worden – unter Bedingungen, die da heißen:
energiewirtschaftliche Notwendigkeiten. Die müssen ge-
geben sein. Insofern schließen bessere Rahmenbedin-
gungen für die Rekommunalisierung örtlicher Energie-
versorgungsnetze das ein.

Wenn wir heute über den Wettbewerb beim Betrieb
der örtlichen Strom- und Gasnetze sprechen, geht es
letztlich um zwei zentrale Fragen: die Frage nach dem
Ob und die Frage nach dem Wie. Die Frage nach dem
Ob wird von den Kolleginnen und Kollegen der Fraktion
Die Linke im Grunde verneint. Sie lehnen einen Wettbe-





Parl. Staatssekretär Uwe Beckmeyer


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werb um die örtlichen Verteilernetze ab und fordern eine
direkte Inhousevergabe; so habe ich Ihren Antrag gele-
sen. Dieser Forderung ist schon aus energiewirtschaftli-
chen Gründen nicht zuzustimmen. Der vorgeschriebene
Wettbewerb um das Netz alleine ist kein Selbstzweck. Er
dient dazu, die Ziele des § 1 des Energiewirtschaftsge-
setzes im Interesse des Allgemeinwohls zu erreichen.
Dies gilt insbesondere für die von mir eben schon er-
wähnten herausragenden Ziele der Versorgungssicher-
heit.

Ich will an dieser Stelle allerdings auch sagen: Das
Bashing von großen Konzernen und Monopolen hilft
auch nicht weiter. Die Situation ist nicht mehr so, wie sie
vielleicht einmal vor Jahr und Tag war.


(Dirk Becker [SPD]: So ist es!)


Wir haben es in Deutschland inzwischen mit 900 Netz-
betreibern zu tun. Auch das muss man einmal zur Kennt-
nis nehmen; man darf nicht immer die gleiche alte Platte
auflegen. Das hilft uns nicht weiter.

Selbstverständlich geht es im Verteilnetz hin und wie-
der um natürliche Monopole der Region, und dies zum
Nachteil von Verbraucherinnen und Verbrauchern oder
von Gewerbe und Energie. Das wollen wir nicht. Ein
solches erstarrtes Monopol kann uns nicht weiterhelfen,
gerade angesichts der Bedingungen, unter denen wir uns
die deutsche Energiewende vorgenommen haben. Vor
diesem Hintergrund sind die Herausforderungen, die
sich mit der Energiewende an das Stromnetz ergeben,
von großer Bedeutung.

Wir haben zuletzt auch von der im Auftrag des BMWi
erstellten Studie „Moderne Verteilernetze für Deutsch-
land“ bestätigt bekommen: Der Stromnetzbetrieb steht
vor einem grundlegenden Wandel. Dies betrifft insbe-
sondere den notwendigen Einsatz moderner Netztechno-
logien. Insofern ist der Gesetzeszweck des EnWG mehr
denn je im Rahmen eines wettbewerblichen Verfahrens
zu gestalten, um für das jeweilige Netzgebiet den am
besten geeigneten Netzbetreiber zu ermitteln. Das kann
häufig die Kommune sein – oder auch die in der Kom-
mune Tätigen –, aber es kann auch einmal sein, dass es
in einer kleinen Kommune eben nicht die ökonomische
Kraft gibt, das zu leisten. Was machen wir dann? Dann
muss es, denke ich, auch möglich sein, eine andere Ent-
scheidung zu treffen, um die erforderliche Qualität des
Netzbetriebes in der Zukunft zu gewährleisten.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Barbara Lanzinger [CDU/CSU])


Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich will an
dieser Stelle sagen: Das ist keine Entscheidung nach
dem Motto „Links oder rechts“ bzw. „Pro Kommune
oder kontra Kommune“. Nein, ich glaube, es werden
sehr häufig kommunale Unternehmen sein, die diese
Kraft haben, die diese Expertise haben und die auch bei
der von uns ins Auge gefassten Regelung ihre Chancen
wahren werden. Sie sind dann im Wettbewerb auch der
beste Anbieter.

Es geht in diesem Zusammenhang also nicht um eine
Diskussion, die sich gegen die Kommunen richtet, son-

dern es geht um die Frage nach dem Wie. Da gibt es na-
türlich Altkonzessionäre, bei denen die eine oder andere
Kommune sagt: Mit dem geht es nicht weiter. Der hat
uns in der Vergangenheit zu sehr geärgert. Wie kommt
man weg von dem? – Es muss klare Regelungen für den
Wettbewerb um das Netz geben, ohne die eigentlichen
Ziele, die ich vorhin benannt habe, zu verfehlen.

Es gibt also hier die Notwendigkeit, eine sachgerechte
Entscheidung zu treffen. Ich glaube, auch hier sind eindeu-
tige Regeln im Hinblick auf die aktuellen Rechteinhaber
notwendig, um in einem fairen Verfahren das Zukünftige
regeln zu können. Es ist auch schon vom Kollegen Post ge-
sagt worden – das unterstütze ich ausdrücklich –: Wir müs-
sen, wenn wir uns an die Novelle machen, natürlich auch
darüber nachdenken, welche Daten dann eigentlich auf den
Tisch müssen, damit in der Zukunft in dieser Angelegenheit
ein fairer Wettbewerb zwischen den Bewerbern stattfindet.

Wir wollen und müssen Konfliktpotenziale reduzie-
ren. Wir haben gelernt, dass es in letzter Zeit Konflikte
gegeben hat, die die Gerichte beschäftigt haben. Daher
ist es wichtig, die kommunalen Interessen und die Inte-
ressen im Zusammenhang mit den Netzen so zu gestal-
ten, dass am Ende das Handeln aktueller Rechteinhaber
nicht unbillig erschwert wird, gleichzeitig aber auch
keine Weigerung ausgelöst wird, ganz bestimmte wich-
tige netzbezogene Daten zu liefern.

Es war die Zielsetzung des Koalitionsvertrages, für mehr
Rechtssicherheit bei der Vergabe von Wegenutzungsrechten
für die leistungsgebundene Energieversorgung zu sorgen.
Ich glaube, dass wir mit der geplanten Novelle des § 46 des
Energiewirtschaftsgesetzes Verbesserungen erreichen wer-
den. Insofern gehören die von mir genannten Punkte dazu.

Wir wollen – das ist wichtig – ab Ostern in das Ver-
fahren einsteigen, um in der ersten Jahreshälfte einen
Prozess zum Abschluss zu bringen, den wir uns im Ko-
alitionsvertrag vorgenommen haben. Ich hoffe, dass alle
konstruktiv mitarbeiten.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1809406900

Vielen Dank. – Jetzt hat Herr Krischer zu einer Kurz-

intervention das Wort.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809407000

Herzlichen Dank, Frau Präsidentin, für die Gelegen-

heit, im Rahmen einer Kurzintervention auf meinen Vor-
redner einzugehen.


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Dadurch wird es auch nicht besser!)


– Herr Pfeiffer, ich kenne eigentlich den parlamentari-
schen Brauch, dass die Opposition noch einmal Stellung
nehmen kann, nachdem ein Vertreter der Bundesregie-
rung geredet hat. Das ist durch die von Ihnen gewählte
Reihenfolge jetzt nicht mehr möglich. Deshalb danke ich
für die Möglichkeit der Kurzintervention.





Oliver Krischer


(A) (C)



(D)(B)


Herr Staatssekretär Beckmeyer, ich hätte mich gefreut
– Sie haben hier ein ausführliches Grundsatzreferat über
das Thema Verteilnetze gehalten –, wenn Sie etwas kon-
kreter gesagt hätten, was die Bundesregierung vorhat.
Wir haben von den Kollegen der SPD gehört, dass es
eine Novelle geben soll. Dazu gab es einzelne Aussagen.
Bei der Union gibt es immerhin folgende Entwicklung:
Im ersten Teil der Debatte wurde das Problem nicht an-
erkannt, aber jetzt sagt man: Es gibt eine gewisse Not-
wendigkeit. Man muss etwas beim Kaufpreis tun, man
muss etwas bei der Transparenz tun. Man muss vielleicht
etwas mehr Wettbewerb ermöglichen.

Meine Fragen an Sie wären – darauf hätte ich gerne
eine Antwort –: Was hat die Bundesregierung konkret
vor? Welche Regelungen zur Verbesserung der Transpa-
renz soll es geben? Was ist die Grundlage für eine Kauf-
preisermittlung bei der Übergabe des Netzes? Welche
Regelungen soll es geben, damit der Wettbewerb um das
Netz möglich ist? Herr Homann äußert sich dazu so: Ei-
gentlich wäre es richtig, wenn wir in Deutschland nicht
mehr 900 Verteilnetzbetreiber hätten, sondern nur 30
oder 40. – Ist das die Position der Bundesregierung, oder
ist sie es nicht?

Zu all diesen konkreten Fragen, die im Rahmen einer
Novelle geregelt werden müssen, habe ich von Ihnen
nichts gehört. Das bedauere ich sehr. Wenn Sie dieses
Thema tatsächlich anpacken wollen – wir hören ja stän-
dig, dass es angegangen werden soll –, frage ich Sie:
Warum bestätigen Sie angesichts der Tatsache, dass in
Ihrem Ministerium schon die Rechner glühen, nicht,
dass an dieser Novelle gearbeitet wird? Warum gibt es
dazu keine konkreten Aussagen?

Ich sage Ihnen: Ich befürchte, dass das Spiel wie im-
mer laufen wird. Es wird am Ende eine große Ankündi-
gung sein. Es wird dann auf dem großen Haufen der blo-
ckierten Gesetzesvorhaben dieser Großen Koalition
landen. Wir werden das Problem, das die kommunalen
Stadtwerke und die Kommunen aufgrund der bestehen-
den Rechtsunsicherheit haben, nicht lösen. Ich muss Ih-
nen leider sagen, Herr Beckmeyer, dass Sie meine Be-
fürchtungen nicht ausgeräumt haben. Im Gegenteil: Sie
haben sie bestärkt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1809407100

Herr Staatssekretär.

U
Uwe Beckmeyer (SPD):
Rede ID: ID1809407200


Herr Abgeordneter Krischer, dass Sie immer aufge-
regt fragen und mit Ihrer Aufgeregtheit etwas bezwe-
cken, sei dahingestellt. Nein, wir werden vor Ostern die
Ressortabstimmung beginnen und den Ressorts einen
entsprechenden Entwurf zuleiten. Danach wird es ins
parlamentarische Verfahren gehen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann denn?)


– Vor der Sommerpause. – Dann werden Sie sich viel-
leicht mit weniger Aufgeregtheit diesen Fachfragen wid-
men.

Ich habe eben die Rahmenbedingungen benannt und
darauf hingewiesen, wohin die Reise aus meiner Sicht
gehen kann. Diejenigen, die zuhören wollten, haben es
verstanden. Wenn Ihnen das nicht gelungen ist, tut es mir
leid.


(Beifall der Abg. Lena Strothmann [CDU/ CSU])



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1809407300

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Ingbert

Liebing von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ingbert Liebing (CDU):
Rede ID: ID1809407400

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Staatssekretär

Beckmeyer hat mit dem eben skizzierten Fahrplan deut-
lich gemacht, dass die Bundesregierung an diesem
Thema arbeitet. Die Debatte hat gezeigt, dass die Koali-
tionsfraktionen an diesem Thema arbeiten. Insofern sind
wir auf einem guten Wege, die Probleme, die es bei
Netzübergängen gibt, und die Probleme, die es im Be-
reich des Energiewirtschaftsgesetzes im Zusammen-
hang mit § 46 gibt, zu lösen. Das ist unsere Zielsetzung,
und das ist überhaupt nicht neu.

Herr Kollege Krischer, Sie haben uns eben vorgewor-
fen, wir hätten in der ersten Hälfte der Debatte bestritten,
dass es ein Problem gebe, das es zu lösen gelte. Sie ha-
ben offenkundig nicht zugehört. Denn alle Redner unse-
rer Fraktion haben betont, dass wir Handlungsbedarf ha-
ben; das wissen wir.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, Herr Koeppen hat gesagt, es gibt kein Problem!)


Die Darstellungen von Staatssekretär Beckmeyer ha-
ben deutlich gemacht, dass es um eine Vielzahl von Ein-
zelpunkten geht, die jetzt im Gesetzgebungsverfahren
abzuarbeiten sind. Ich halte es für richtig, dass wir uns
die Zeit nehmen, dies sorgfältig zu tun, damit am Ende
etwas herauskommt, das besser ist als das, was die Frak-
tion der Linken mit ihren Anträgen hier vorgelegt hat.

Die Linken haben innerhalb von acht Wochen zwei
Anträge gestellt, die heute Gegenstand der Debatte sind.
Offensichtlich haben Sie selber gemerkt, dass Ihr erster
Antrag so substanzlos war, dass Sie nachliefern mussten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Caren Lay [DIE LINKE]: Legen Sie doch mal was vor! Sie haben noch nichts vorgelegt!)


Aber der zweite Antrag ist nicht besser, meine Damen
und Herren; er ist ebenfalls substanzlos.

Das Thema selber ist wichtig, gerade auch für die
Kommunen. Ich sage das als jemand, der sich sehr inten-
siv um die Belange der Kommunen kümmert. Aber ich
möchte die Kommunen und auch die kommunalen Ver-





Ingbert Liebing


(A) (C)



(D)(B)


bände davor schützen, dass Sie sie für falsche Positionen
vereinnahmen. Wenn Sie es hier so darstellen, als ob das,
was Sie hier beantragen, unisono die Position der kom-
munalen Verbände wäre, dann wundert mich das schon.

Ich darf einmal aus einer Stellungnahme des Verbands
kommunaler Unternehmen vom 5. März dieses Jahres
zitieren; sie ist also noch recht aktuell. Dort heißt es am
Anfang ausdrücklich:

Der Wettbewerb um Strom- und Gasnetzkonzessio-
nen, der seit den 90er-Jahren im EnWG verankert
ist, hat sich in den letzten Jahren als wichtiges Ele-
ment der Förderung des Wettbewerbs auf den Ener-
giemärkten … etabliert.

Die Notwendigkeit von Wettbewerb wird also anerkannt.
Es gibt dort nicht die Position, den Wettbewerb abzu-
schaffen und stattdessen zu Inhousevergaben überzuge-
hen. Das ist nicht die Position des Verbands.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es geht um ganz konkrete Punkte, die den Kommu-
nen und auch mir persönlich wichtig sind. Deswegen
habe ich mich bei den Koalitionsverhandlungen seiner-
zeit in der Arbeitsgruppe Energie mit dafür eingesetzt,
dass wir dieses Thema adressieren. Es steht nicht ohne
Grund im Koalitionsvertrag. Wir haben uns vorgenom-
men, hier eine Lösung zu erreichen. Der Handlungsbe-
darf ist unstrittig gegeben. Aber neue Regelungen brau-
chen eben eine sorgfältige Vorbereitung.

Ich möchte die Diskussion auch davor schützen, dass
sie um das falsche Ziel geführt wird. Das Ziel der De-
batte ist nicht Rekommunalisierung, sondern die Schaf-
fung von Rechtssicherheit, und zwar unabhängig davon,
wer der Neukonzessionär ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Denn es gibt ja auch die Fälle – es kann sie auch in der
Zukunft noch geben; wir werden bis 2016 noch viele
weitere Fälle von Ausschreibungen erleben –, in denen
der Neukonzessionär keine Kommune, kein kommuna-
les Stadtwerk ist, sondern ein anderes privatwirtschaftli-
ches Unternehmen. Jeder Neukonzessionär hat im Mo-
ment aufgrund der jetzigen Formulierung in § 46 EnWG
Probleme.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die hat Ihre Partei gemacht, Herr Liebing! Da waren Sie schon dabei!)


Insofern geht es nicht darum, ob man nun eine Rekom-
munalisierung will oder nicht, sondern darum, Rechtssi-
cherheit zu schaffen; das ist das Ziel, über das wir spre-
chen. Da geht es um ganz konkrete Punkte.

Es geht auch nicht darum, Herr Kollege Krischer, nun
unisono zu sagen: Es ist generell besser, wenn es die
Kommunen machen. – Sie tun so, als ob das eine Glau-
bensfrage wäre.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe das nicht behauptet! – Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sollen die Möglichkeit erhalten!)


Sie haben die Rekommunalisierung hochgehalten und
sie quasi zum wünschenswerten Prinzip erklärt.

Ich bin nun wahrlich keiner, der irgendetwas dagegen
hätte, wenn Kommunen sich auch in der Energiewirt-
schaft engagieren. Ganz im Gegenteil: Ich halte die
Kommunen für wichtige Partner im Bereich der Energie-
wende. Energiewende heißt, dass wir die Energiewirt-
schaft künftig dezentraler aufstellen. Wir brauchen dafür
starke, engagierte Kommunen.

Aber es muss jeweils vor Ort auch klug abgewogen
werden können, ob dies Sinn macht. Generell zu sagen:
„Wir wollen, dass es staatlich, kommunal gemacht
wird“, das ist jedenfalls auch nicht meine Vorstellung. Es
gibt eben die Fälle, in denen wir in der Vergangenheit
größere regionale Verbünde im Verteilnetz hatten, wo
jetzt einzelne Kommunen innerhalb dieser Region aus-
scheren und sagen: Wir übernehmen das Netz selber. –
Das ist eine freie Entscheidung und legitim, wenn sie
den Nachweis führen, dass sie es effizienter machen
können. Aber es ist dann auch öffentlich und vor Ort die
Diskussion darüber zu führen, welche Auswirkungen
das hat.

Welche Auswirkungen hat es, wenn eine zentrale
Stadt in einer größeren Region ausschert und damit der
Investitionsbedarf im Verteilnetz, den wir durch den
Ausbau der erneuerbaren Energien in der Fläche haben,
nicht mehr solidarisch von einem größeren Verbund ge-
tragen wird? Die Städte haben diese Situation der Ein-
speisung in ihrem eigenen engeren Bereich nicht. Dies
geht aber zulasten der Fläche: Die ländlichen Regionen
zahlen anschließend höhere Netzentgelte. Auch das sind
Folgen, die in diesem Prozess mit zu beachten sind, die
vor Ort öffentlich transparent zu diskutieren sind. Dazu
tragen wettbewerbliche Verfahren bei.

Wenn wir über § 46 EnWG sprechen, über das, was
jetzt konkret im Gesetzgebungsverfahren zu regeln ist,
dann geht es mir vorrangig um vier Punkte:

Das Erste ist, dass wir schneller zu mehr Rechtssi-
cherheit kommen müssen. Das heißt, dass wir im Gesetz
Fristen definieren, innerhalb derer eine Rüge von denje-
nigen vorgenommen werden muss, die Verfahrensmän-
gel zu kritisieren haben. Es kann nicht sein, dass dies
nach Jahren noch der Fall ist, sondern wir müssen mögli-
che Rechtsstreitigkeiten schneller, zügiger abschließen
können. Hier ist es möglich, dies über klare Fristen zu
regeln, die wir in anderen Vergabeverfahren ja auch ken-
nen.

Zweitens wird es auch um die Bewertungsfragen ge-
hen, darum, ob wir über Sachzeitwert oder Ertragswert
sprechen. Das ist nach wie vor oftmals strittig. Ich halte
es für notwendig, dass wir durch eine politische
Entscheidung für mehr Klarheit, Sicherheit und Rechts-
frieden sorgen. Aus meiner Sicht ist der Ertragswert der
angemessenere Wert –


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! Endlich sagt es mal einer von der Union!)






Ingbert Liebing


(A) (C)



(D)(B)


der Wert, der sich in einem regulierten Markt refinanzie-
ren lässt. Darüber werden wir sicherlich im Rahmen des
Gesetzgebungsverfahrens zu sprechen haben.

Drittens wird es auch um die Zahlungsverpflichtung
gehen. Es kann in der Tat nicht sein – das ist in der
Debatte ja auch schon angesprochen worden –, dass ein
Altkonzessionär, der im Vergabeverfahren unterlegen ist,
sich aber durch Klagen weiterhin Besitz am Netz ver-
schafft, die Zahlung der Konzessionsabgabe verweigert.
Wer Netzentgelte einnimmt, muss auch die Konzessions-
abgabe zahlen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie haben das Recht 2012 geschaffen, das das ermöglicht!)


Ich glaube – das hat ja auch der Beifall in der Unions-
fraktion gezeigt –, es ist völlig unstrittig, dass derjenige,
der Besitz am Netz hat, auf welcher Basis auch immer,
dann auch die Pflichten daraus zu tragen und die Kon-
zessionsabgaben an die Kommunen zu bezahlen hat.

Aber man kann umgekehrt auch genauso darüber dis-
kutieren, ob ein Neukonzessionär, der im Vergabeverfah-
ren den Zuschlag bekommen hat, sofort die Netzentgelte
erhält und nicht mehr der Altkonzessionär, auch wenn
das im Verfahren noch strittig ist, vielleicht auch nur
über die Bewertung, über den Preis noch gestritten wird.
In dem Moment, in dem man dem Altkonzessionär die
Netzentgelte entzieht, entzieht man ihm auch das wirt-
schaftliche Interesse an einer Verfahrensverlängerung.


(Beifall der Abg. Bettina Hagedorn [SPD])


Insofern gilt: Wer das eine bekommt – die Netzentgelte –,
muss auch die anderen Verpflichtungen tragen. Diese
Kombination muss klar sein.

Wir werden viertens auch über die Entscheidungskri-
terien zu sprechen haben, darüber, wie wir mit § 1 Ener-
giewirtschaftsgesetz als Kriterium umgehen werden.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist auch nicht so einfach!)


– Ihr Zuruf, Herr Krischer, das sei nicht so einfach, ist
genau richtig: Das ist nicht so einfach zu beantworten.

Deswegen ist auch das, was hier heute als Antrag der
Linken vorliegt, einfach zu pauschal nach dem Motto:
„Die Kommunen müssen frei entscheiden können, ob sie
es denn wollen oder nicht.“ Nein, wir brauchen schon
klare Kriterien für den Wettbewerb. Ich bin sehr dafür,
den Kommunen hier einen stärkeren Spielraum einzu-
räumen, aber dafür müssen klare energiewirtschaftliche
Kriterien gelten, damit diese anschließend im Wett-
bewerb bestehen können. Die Kommunen müssen dann
solche energiewirtschaftlichen Argumente und Aspekte
auch einbringen können. Einfach nur allgemein „Inte-
resse an Steuerungsmöglichkeiten durch die Kommu-
nen“ oder „gemeindliche Belange“ vorzutragen, wie in
den Anträgen der Linken zu lesen ist, das ist zu wenig,
das ist zu dünn.

Zu den von mir genannten vier Aspekten ist in den
Anträgen der Linken nichts zu finden. Deswegen können
die Anträge der Linken keine Grundlage für eine not-
wendige Gesetzgebung in diesem Bereich sein. Ich bin
sicher, dass die Vorlage des Wirtschaftsministers mehr
Substanz bieten wird. Wir werden dann auf der Basis des
Gesetzentwurfes, der uns, wie wir jetzt gehört haben,
zwischen Ostern und der Sommerpause vorliegen wird,
genügend Raum für eine parlamentarische Beratung
haben. Wir können dann über alle strittigen Punkte im
Detail diskutieren, aber dann auf einer vernünftigen,
sachlichen Grundlage und nicht aufgrund dieser nichts-
sagenden, inhaltsleeren Anträge der Linken, die wir ab-
lehnen werden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Caren Lay [DIE LINKE]: Das ist ja unfassbar! Sie können eine andere Meinung haben, aber das können Sie sich sparen!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809407500

Vielen Dank, Kollege Liebing. Ich wünsche Ihnen

und unseren Gästen einen schönen guten Tag. – Der
nächste und letzte Redner in dieser Debatte: Bernhard
Daldrup für die SPD.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Bernhard Daldrup (SPD):
Rede ID: ID1809407600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

In vielen Punkten bin ich mit Herrn Liebing – das weiß
er auch – einer Meinung, aber nicht in allen; das werde
ich gleich noch einmal darstellen. Außerdem bedanke
ich mich bei Staatssekretär Beckmeyer ausdrücklich da-
für, dass er dargestellt hat, wie der Arbeitsplan aussehen
wird.

Zu den Anträgen, die zur Stärkung der Kommunen in
der Energiepolitik führen sollen, kann man sagen: Wir
haben es im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Wir ar-
beiten daran, und zwar relativ zielgerichtet.

Frau Lay, Sie schreiben am Anfang in Ihrem Antrag,
dass wir feststellen und beschließen sollen: „Passiert ist
… bisher nichts.“ Ich bitte um Verständnis, aber so etwas
machen wir nicht. So etwas beschließen wir nicht, weil
das nämlich nicht stimmt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Caren Lay [DIE LINKE]: Ja, was denn? Was ist denn passiert?)


Ich glaube, ohne arrogant wirken zu wollen, dass es
klügere Formulierungen gibt, wenn man Zustimmung zu
einem solchen Thema haben möchte – für das ich inhalt-
lich durchaus Sympathien hege; das will ich festhalten.
Wir kennen die entsprechenden Formulierungen von den
kommunalen Spitzenverbänden, die Sie jetzt zu einem
Antrag erheben.

Ich habe in mehreren Diskussionsbeiträgen ein biss-
chen die Wertschätzung für die kommunale Selbstver-
waltung vermisst; das ist zumindest mein Eindruck.


(Caren Lay [DIE LINKE]: Das stimmt allerdings!)






Bernhard Daldrup


(A) (C)



(D)(B)


Das sage ich deshalb, weil ich mehrfach den Eindruck
gewonnen habe, dass hier entschieden werden soll, wie
sich Kommunen zu verhalten haben, was sie tun sollen,
was sie nicht tun sollen. Aber kommunale Selbstverwal-
tung bedeutet auch, die Angelegenheiten der örtlichen
Gemeinschaft selbst organisieren zu können, Freiheit zu
haben in der Entscheidung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Caren Lay [DIE LINKE])


Lassen Sie mich deshalb einige grundsätzliche Positio-
nierungen vortragen.

Wenn wir über Energieversorgung und Kommunen
sprechen, dann immer aus der Perspektive der Energie-
politik, häufig aus der des Wettbewerbsrechts. Fazit
dieser Positionierung ist: Die kommunale Selbstverwal-
tung wird zu einem unter mehreren Belangen. Das ist
das Dilemma des § 1 des Energiewirtschaftsgesetzes, in
dem das so normiert ist. Das ist aber nicht diskriminie-
rungsfrei, wenn ich das an dieser Stelle einmal sagen
darf.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!)


Denn kommunale Selbstverwaltung ist institutionell,
verfassungsrechtlich normiert und ist nicht einer unter
mehreren Belangen von Rentabilität; ich will das an die-
ser Stelle ausdrücklich sagen. Leider hat sich diese
Haltung in der Rechtsprechung durchgesetzt. Deshalb
hat Heribert Prantl, mit dem ich im Oktober im Berliner
Senat diskutiert habe, recht, wenn er sagt: „Der Bundes-
gerichtshof hat Gewicht und Bedeutung der kommuna-
len Selbstverwaltung verkannt – sie ist von der Verfas-
sung garantiert.“ Ich bin mir sicher, dass das BMWi dies
bei der Novellierung berücksichtigen wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Im Ergebnis bedeutet das nämlich, dass in einem no-
vellierten Energiewirtschaftsgesetz das Vorrecht der
Kommunen, die gemeindlichen Interessen zu berück-
sichtigen – also wenn Sie so wollen: die Prärogative der
kommunalen Selbstverwaltung –, auch umgesetzt wird,
also dass der § 1 Energiewirtschaftsgesetz so novelliert
wird, dass eine Interpretation nach dem Muster „Privat
vor Staat“, wie es zum gegenwärtigen Zeitpunkt im Ge-
setz steht, nicht das einzige Interpretationsmuster ist.

Ich kann Ihnen sagen: Bei der Neuorganisation des
kommunalen Wirtschaftsrechts, des Gemeindewirt-
schaftsrechts aus der schwarz-gelben Zeit in Nordrhein-
Westfalen, haben wir schlimme und schlimmste Erfah-
rungen gemacht.

Ich glaube auch – das muss ich an dieser Stelle sagen
dürfen –: Herr Koeppen, was Sie unter Subsidiarität ver-
stehen, stimmt nicht so ganz; hier gibt es ein kleines
Missverständnis.


(Zuruf des Abg. Jens Koeppen [CDU/CSU])


Subsidiarität heißt Unterstützung, heißt Hilfe, heißt nicht
Privatisierung. Subsidiarität ist zunächst einmal etwas

gänzlich anderes als die Dichotomie von Staat oder Pri-
vat. Außerdem geht es ja um die Kommunen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich kann jetzt schon aus Zeitgründen nicht mehr über
die Energiewende und viele fachliche Fragen, die ange-
sprochen worden sind, reden, aber ich will doch feststel-
len, dass bemerkenswert ist, dass die Bürgerschaft na-
hezu ausnahmslos den Weg zur Rekommunalisierung
unterstützt. Warum eigentlich? Warum machen die Men-
schen das? Weil sie zunächst einmal mit dem Status quo
unzufrieden sind, weil sie andere Erwartungen haben.
Sie verstehen die kommunale Daseinsvorsorge zunächst
als eine Dienstleistung gegenüber Bürgerinnen und Bür-
gern, die Vorrang vor wirtschaftlicher Rentabilität hat,
wenn es in der öffentlichen Verantwortung ist.


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Effizienz ist auch ein Thema! Es ist in der Regel teurer, wenn es der Staat macht!)


Das ist in den meisten Gemeindeordnungen der Bun-
desrepublik Deutschland so geregelt. Es eröffnet auch
die Möglichkeit, zu einer anderen Energiepolitik zu
kommen. Es geht also nicht um die Frage von Privat vor
Staat oder umgekehrt, sondern es geht um Folgendes:
Die rechtmäßige Konzessionsvergabe und die Rekom-
munalisierung sind kein Widerspruch, sondern bedürfen
eines klar abgestimmten Rechtsrahmens, der es der
kommunalen Selbstverwaltung ermöglicht, ihrer verfas-
sungsrechtlich verankerten Verantwortung für die Da-
seinsvorsorge – hier spielen mehrere kartell- und wettbe-
werbsrechtliche sowie energiepolitische Gründe eine
Rolle – tatsächlich gerecht zu werden. Dem entspricht
das Energiewirtschaftsgesetz in § 1 zum gegenwärtigen
Zeitpunkt nicht, und das ist ein Mangel, der behoben
werden muss, wenn man die Kommunen in der Energie-
politik stärken und unterstützen will.

Es geht aber nicht nur um die Gewichtung des § 1 im
Energiewirtschaftsgesetz im Verhältnis zur kommuna-
len Selbstverwaltungsgarantie, sondern auch die Frage
der Nebenleistungsverbote nach der Konzessionsab-
gabenverordnung hinsichtlich der kommunalen und re-
gionalen Klimaschutzkonzepte steht beispielsweise auf
dem Prüfstand. Das ist richtig so. Es geht dabei um die
Herausgabepflicht von Daten, um Bewertungsfragen für
das übertragene Netz – Stichwort: objektivierter Ertrags-
wert –, um Rügepflichten, Zahlungspflichten des Alt-
konzessionärs und ähnliche Gesichtspunkte, die für uns
eine Rolle spielen.

Natürlich wollen wir auch eine rechtssichere Rege-
lung der Frage der Inhousevergabe finden, die den
Kommunen hilft und die sie nicht belastet. Für uns ist es
jedenfalls kein Einfallstor für die Privatisierung von
kommunaler Energieversorgung. Darauf werden wir
schon achten.

Ich glaube, die Novelle des Energiewirtschaftsgeset-
zes ist an dieser Stelle auf dem Weg. Ich weiß, dass Sie
kritisieren, dass es zu langsam geht, aber es wird auch
kritisiert – zu Recht, Herr Krischer –, dass es Ende 2011





Bernhard Daldrup


(A) (C)



(D)(B)


möglicherweise Defizite gab. Deswegen lassen Sie uns
auch hier nach dem Motto arbeiten: Gründlichkeit vor
Schnelligkeit. Das erhöht möglicherweise den Wir-
kungsgrad.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809407700

Vielen Dank, Herr Kollege Daldrup.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4323 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein-
verstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft
und Energie zum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem
Titel „Übernahme der Energienetze durch Stadtwerke er-
leichtern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 18/4222, den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/3745 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist angenommen bei Zustimmung der CDU/
CSU und SPD und bei Gegenstimmen von Linken und
Bündnis 90/Die Grünen.

Wir kommen zum nächsten Tagesordnungspunkt; ich
bitte, die Plätze zu wechseln. – Bitte nehmen Sie Ihre
Plätze ein.


(Unruhe)


Ich darf Sie noch einmal bitten, Platz zu nehmen, dann
können wir weitermachen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:

a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung

Fortschrittsbericht 2014 zum Fachkräftekon-
zept der Bundesregierung

Drucksache 18/4015
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss Digitale Agenda

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung

Fortschrittsbericht 2013 zum Fachkräftekon-
zept der Bundesregierung

Drucksache 18/796
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)


Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss Digitale Agenda

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre eini-
ges, aber keinen Widerspruch dazu. Dann ist das so be-
schlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Die erste Rednerin ist die
Bundesministerin Andrea Nahles für die Bundesregie-
rung.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und
Soziales:

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Die Ziele erreicht, Konzept
erfolgreich, Aufgabe erledigt – das könnte ich heute gu-
ten Gewissens so vortragen.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Aha! Sehr gut!)


Denn der vorliegende Fortschrittsbericht zeigt ein-
drucksvoll, dass wir die für 2020 gesetzten Ziele bereits
2015 erreicht haben.


(Beifall bei der SPD)


Ich will das an einigen Beispielen deutlich machen.

Das zentrale Ziel war, bis zum Jahre 2020 eine Er-
werbstätigenquote von 77 Prozent zu erreichen. Mit 77,3
Prozent haben wir diese Quote bereits im Jahr 2013 erst-
mals übertroffen.

Oder: der Zielwert für die Beschäftigung Älterer. Die
Älteren sind nach wie vor eine Gruppe, in der die Er-
werbstätigenquote noch ein bisschen höher sein könnte.
Aber in der Gruppe der Erwerbstätigen zwischen 55 und
64 Jahren liegen wir mittlerweile bei einer Quote von
63,6 Prozent. Wir hatten uns vorgenommen, 60 Prozent
zu erreichen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist gegenüber 2008
um 38 Prozent gesunken. Das ist wirklich hervorragend
– denn wir hatten uns zum Ziel gesetzt, die Langzeitar-
beitslosenquote um 20 Prozent zu senken –, wenn es uns
auch noch nicht zufriedenstellt.

Auch bei der Qualifikation zeigen sich Fortschritte.
Der Anteil der frühen Schulabgänger sank auf unter
10 Prozent, und – sehr erfreulich – der Wanderungssaldo
hat 2013 mit 429 000 Menschen den höchsten Wert seit
1993 erreicht. Was besonders erfreulich ist: Die Qualifi-
kation der Zugewanderten ist kontinuierlich gestiegen.





Bundesministerin Andrea Nahles


(A) (C)



(D)(B)


Insgesamt ist das also eine wirklich sehr erfreuliche Ent-
wicklung –


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


und das bei einem Rekordwert bei der Beschäftigung.
Wenn man diese Zahlen mit denen des Jahres 2008 ver-
gleicht – auch wenn man sich vergegenwärtigt, in wel-
cher Situation wir damals waren –, dann kann man heute
wirklich sagen: Uns geht in Deutschland nicht die Arbeit
aus, sondern uns gehen eher die Menschen aus, die sie
tun.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Meine Damen und Herren, sicher: Es ist immer schön,
Erfolge zu verkünden. Klar ist aber auch: Um in Zukunft
weiterhin so erfolgreich sein zu können, dürfen wir mit
unseren Anstrengungen nicht nachlassen. Die Herausfor-
derung besteht darin, das hohe Beschäftigungsniveau zu
halten. Denn nur ein hohes Beschäftigungsniveau sichert
den allgemeinen Wohlstand, eröffnet den Menschen die
Chancen, die sie brauchen, und stabilisiert natürlich auch
die soziale Sicherheit in unserem Land. Deswegen hält die
Bundesregierung bei ihren Bemühungen um die Fachkräf-
tesicherung das hohe Niveau, das wir in den letzten Jahren
erreicht haben, aufrecht. Wir können die Fachkräftesiche-
rung allerdings nicht einfach per Gesetz verordnen. Sie
kann nur gelingen, wenn alle mit an Bord sind.

Ich habe deswegen im letzten November die „Partner-
schaft für Fachkräfte in Deutschland“ ins Leben gerufen,
an der sich sowohl die Politik als auch die Sozialpartner
und die Kammern beteiligen. Die erreichten Erfolge zei-
gen, wo wir ansetzen müssen, um noch besser zu wer-
den. Dazu gibt es eine sehr interessante Studie, die „Ar-
beitsmarktstudie 2030“, die ich Anfang Februar dieses
Jahres vorgestellt habe. Hier lassen sich interessante
Entwicklungen ablesen.

Die gute Nachricht ist: Die aktuelle Arbeitsmarktpro-
gnose für 2030 ist besser, als wir noch 2012 gedacht hat-
ten. Wenn wir weiter auf Kurs bleiben, kann es uns ge-
lingen, den Rückgang der Zahl der Erwerbspersonen bis
2030 auf etwa 1 Million zu begrenzen. Ich betone: Es
handelt sich immer noch um einen Rückgang, der aller-
dings nicht so groß ausfällt, wie wir befürchtet hatten; es
ist aber immer noch ein Rückgang um 1 Million Perso-
nen.

Bislang waren die Vorzeichen düsterer. Ein wichtiger
Grund dafür, dass es heute besser aussieht, ist, dass
Deutschland attraktiv geworden ist, und zwar als Ein-
wanderungsland. Wir sind inzwischen das zweitbelieb-
teste Einwanderungsland der Welt, hinter den USA.
Menschen kommen zu uns, um hier zu arbeiten, zu leben
und mit ihrer Familie heimisch zu werden. Im vergange-
nen Jahr waren es fast 430 000. Deutschland zieht an;
darüber können wir wirklich froh sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber es gilt auch, den Menschen, die zu uns kommen, zu
zeigen: Ihr seid uns willkommen, wir brauchen euch.
Kulturelle Vielfalt macht unser Land aus, und sie macht
unser Land lebenswerter.

Zuwanderung ist ein Rezept gegen den drohenden
Fachkräftemangel; aber die Studie zeigt eben auch: Zu-
wanderung allein reicht nicht, um den Fachkräftebedarf
für die Zukunft zu decken. Wir müssen deswegen Türen
aufstoßen, die noch klemmen: Mütter zum Beispiel wer-
den durch Auszeiten oder eine Teilzeitphase ausge-
bremst, stecken in der Teilzeitfalle fest; das ist leider flä-
chendeckend der Fall. Ältere, die noch arbeiten können
und wollen, sind mit überholten Vorstellungen konfron-
tiert: So lässt sich eindeutig nachweisen, dass Ältere, die
arbeitslos werden, wesentlich schlechtere Chancen ha-
ben, wieder Arbeit zu finden, als Jüngere. Das ist weiter-
hin unbefriedigend.


(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Leider ja!)


Das Gleiche gilt für Menschen mit Migrationshinter-
grund, die schon länger hier leben und deren Fähigkeiten
nicht genug gefördert werden. Hier schlummern noch
viele Talente, viel Einsatzwillen, viel Kreativität. Hier
liegen Potenziale, die wir nutzen müssen.

Ich möchte vier Leitgedanken aufzeigen, wie wir
diese Ziele erreichen können:

Der erste Leitgedanke: Wir müssen auf die Menschen
setzen, für Motivation und Gesundheit sorgen. Wir sind
das Land der hochqualifizierten Fachkräfte, der Spitzen-
produkte und der Exportrekorde. Wir wollen auch einen
Spitzenplatz belegen, wenn es um Gesundheit und Zu-
friedenheit unserer Mitarbeiter geht, damit sie länger
motiviert und fit in Arbeit bleiben können. Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeiter fordern mit Recht Kommunika-
tion, Zeit und Freiraum, vor allem aber Wertschätzung.
Mit anderen Worten: Wir brauchen auch eine Debatte
über Führungskultur in unserem Land, nicht nur in den
großen Unternehmen, sondern auch bei den kleineren
und mittelständischen Unternehmen. Bei einer Untersu-
chung aus dem Jahr 2014 haben drei Viertel der Füh-
rungskräfte gesagt, dass an der Führungspraxis sehr viel
hängt, wenn es darum geht, Potenziale zu heben. Wir
brauchen also auch eine neue Führungspraxis.

Zweiter Leitgedanke: Wir brauchen Flexibilität für
die Unternehmen, aber auch Flexibilität, die die Bedürf-
nisse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ernst nimmt.
Ich sage hier nur: Ständige Erreichbarkeit kann nicht der
Preis für Flexibilität sein.

Dritter Leitgedanke: Wir müssen für die Qualifizie-
rung sorgen, damit Fachkräfte auch Fachkräfte bleiben.
Ich persönlich glaube, dass, wenn wir in die Zukunft
schauen, nicht Arbeitsplatzverlust das Problem ist in die-
sem Land, sondern Qualifikationsverlust. Deswegen
freue ich mich, dass in der letzten Tarifauseinanderset-
zung der Metallbranche das Thema Qualifizierung/Bil-
dungsteilzeit genauso wichtig war wie Lohnbestandteile.
Das ist etwas, was in die Zukunft weist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)






Bundesministerin Andrea Nahles


(A) (C)



(D)(B)


Vierter Leitgedanke: Wir brauchen auch eine andere
Haltung. Ob jemand zugewandert ist – oder seine Eltern –,
ob jemand eine Behinderung hat, ob jemand bisher einfach
nicht den geraden Weg genommen hat: Das sagt noch
nichts über Können, Wissen und Einsatzbereitschaft aus. In
der Vielfalt liegt die Zukunft. Deshalb ist ein Einwande-
rungsgesetz aus meiner Sicht sinnvoll, und deshalb brau-
chen wir auch ein modernes Teilhaberecht; dafür müssen
wir uns einsetzen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In diesem Sinne sind wir auf einem guten Weg; aber
wir sind noch nicht am Ziel.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809407800

Vielen Dank, Andrea Nahles. – Nächste Rednerin:

Sabine Zimmermann für die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Sabine Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809407900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Stellen wir die Sache mit dem Fachkräfteman-
gel einfach mal vom Kopf auf die Füße: Es gibt keinen
generellen Fachkräftemangel. Die BA selbst sagt: Wir
haben zwar Fachkräfteengpässe, aber keinen Mangel.

Ja, in manchen Branchen gibt es Engpässe, zum Bei-
spiel in der Pflege, in der Gastronomie und im Metall-
und Elektrobereich. Gutes Personal gibt es eben nicht
zum Nulltarif. Wer Fachkräfte will, der muss sie auch
ausbilden.


(Beifall bei der LINKEN)


Wer das nicht tut, der braucht hier auch nicht zu jam-
mern. Wer gutes Personal will, der muss es auch ordent-
lich bezahlen. Ich hätte mir gewünscht, dass in dem Be-
richt der Bundesregierung dazu etwas gestanden hätte,
aber leider: Fehlanzeige!


(Beifall bei der LINKEN)


Natürlich kenne ich auch Betriebe, die sagen – Herr
Schiewerling, Sie gucken mich so skeptisch an –: Wir be-
kommen nicht die Leute, die wir haben möchten. – Hier be-
darf es natürlich einer gründlichen Analyse. Auf den Punkt
gebracht gibt es zwei Felder, die wir einfach nicht aus den
Augen lassen dürfen:

Erster Punkt. Wir haben ein enormes Arbeitskräfte-
potenzial, das nicht genutzt wird. 1,3 Millionen Erwerbs-
lose haben keine abgeschlossene Berufsausbildung. Jähr-
lich finden aber nur 69 000 Weiterbildungsmaßnahmen mit
dem Ziel eines anerkannten Berufsabschlusses statt.
256 000 Jugendliche – die Tendenz ist steigend – sind nach
der Schule in Überbrückungsmaßnahmen geparkt. Das
müsste Ihnen eigentlich auch zu denken geben.

Frau Nahles, ich kann Ihnen nicht zustimmen, wenn
Sie sagen, dass uns die Menschen für die Arbeit ausge-
hen. Das widerspricht sich. Wir alle hier wissen, dass

Qualifizierung das A und O ist, um auf dem Arbeits-
markt bestehen zu können.


(Beifall bei der LINKEN)


Frau Ministerin Nahles, ich muss Sie schon fragen,
warum Sie an dem arbeitsmarktpolitischen Kahlschlag
der letzten Jahre festhalten, wenn Ihnen die Fachkräfte
so wichtig sind. Sie haben nicht genug Geld für Qualifi-
zierungsmaßnahmen zur Verfügung gestellt und feiern
hier die schwarze Null für Ihren Haushalt,


(Zuruf von der CDU/CSU: Zu Recht!)


sagen aber nicht, dass das auf Kosten der Bildung für die
Zukunft geht. Wir als Linke sagen: Wir sind nicht bereit,
dies zu akzeptieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Viele Frauen in Teilzeit würden unter anderen Rah-
menbedingungen länger arbeiten wollen. Damit würden
sie endlich auch den Teufelskreis aus zu geringen Ver-
diensten und Altersarmut durchbrechen können. Nach
wie vor fehlen aber ausreichende Kinderbetreuungsmög-
lichkeiten, und es gibt viel zu wenig Unterstützung für
die Pflege von Angehörigen.

Die Regierung lamentiert hier, mehr nicht. Das ist für
die Linke nicht akzeptabel. Zu all diesen Punkten stehen
in Ihrem Bericht keine konkreten Maßnahmen, die wirk-
lich wirkungsvoll sind.

Ich kann Ihnen sagen, was die IG Metall zu den bis-
herigen Bestrebungen gesagt hat – ich zitiere –:

Die Konzepte der Bundesregierung zur Fachkräfte-
sicherung verlieren sich im Klein-Klein.

Weiter sagt sie:

Und viele Arbeitgeber können sich dazu nicht von
ewig gleichen Denkweisen loseisen: Länger arbei-
ten, schneller arbeiten, härter arbeiten.

Damit bin ich schon bei Punkt zwei. Wer von Fach-
kräftemangel redet, muss auch von den Arbeitsbedin-
gungen sprechen. Es ist doch kein Zufall, dass es vor al-
len Dingen in den Pflege- und Gesundheitsberufen und
in der Gastronomie Fachkräfteengpässe gibt. Dort wird
oft rund um die Uhr mit enormen Arbeitsbelastungen
und für eine geringe Entlohnung gearbeitet. Es ist also
kein Wunder, dass diese Berufe nicht attraktiv sind und
viele Beschäftigte schnell wieder ausscheiden.

Hier sind einfach auch die Unternehmen in der
Pflicht, etwas zu ändern.


(Beifall bei der LINKEN)


Nach einer Umfrage ist nur jeder fünfte Betrieb mit
Fachkräfteengpässen bereit, die Löhne für die Beschäf-
tigten zu erhöhen, und nur jeder achte Betrieb will die
Arbeitszeiten anders gestalten.

Ich fasse zusammen: Wieder liegt ein Bericht der Re-
gierung vor, wieder geht er aus unserer Sicht am Thema
vorbei. Den hätten Sie sich eigentlich sparen können.
Schade ums Papier!

Danke schön.





Sabine Zimmermann (Zwickau)



(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der LINKEN – Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Schade um unsere Zeit!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809408000

Danke, Frau Kollegin Zimmermann. – Nächster Red-

ner in der Debatte ist Karl Schiewerling für die CDU/
CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Karl Schiewerling (CDU):
Rede ID: ID1809408100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Zimmermann,
Ihre Rede gerade ist ein Beispiel dafür, warum ich im-
mer skeptisch gucke, wenn Sie sprechen.


(Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Das ist die Wahrheit, was ich Ihnen sage!)


Es ist nämlich gut, dass ein guter Bericht vorliegt, und
dieser Bericht dokumentiert, dass wir uns in der Tat auf
einem guten Weg befinden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, hohe Beschäftigung, wirt-
schaftliche Prosperität, demografischer Wandel: Das wa-
ren die Gründe, warum 2011 die damalige Bundesregie-
rung und das Bundesarbeitsministerium unter der
damaligen Bundesarbeitsministerin Ursula von der
Leyen das Fachkräftekonzept auf den Weg gebracht ha-
ben. Wir können heute feststellen, dass 42,7 Millionen
Menschen in Beschäftigung sind, dass es 30,5 Millionen
sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhält-
nisse gibt. Das, was uns zumindest unter dem Gesichts-
punkt des demografischen Wandels umtreibt, ist, dass
2030 mehr als 2 Millionen Menschen weniger in
Deutschland leben werden. Nach der Prognose werden
es nur noch 79 Millionen Einwohner sein. Und es gibt
einen Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials um
6,5 Millionen Menschen.

Das ist der Grund, warum sich der vorliegende Be-
richt an fünf Sicherungspfaden orientiert, die damals auf
den Weg gebracht wurden: Aktivierung und Beschäfti-
gung der Menschen, die bei uns sind: Zunächst einmal
geht es um diejenigen, die bei uns im Land leben, die wir
unterbringen wollen, deren Arbeit wir erhalten oder die
wir in Arbeit bringen wollen. Es geht um die bessere
Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Es geht um bes-
sere Bildungschancen für alle von Anfang an. Es geht
um Qualifizierung über Aus- und Weiterbildung, und es
geht um Integration und qualifizierte Zuwanderung.

Wir haben in der Tat eine Menge erreicht. Zugegeben
– Frau Ministerin Nahles hat das präzise beschrieben –:
Wir sind noch nicht am Ende, aber wir sind auf einem
ordentlichen Weg. Zum Bereich „Aktivierung und Be-
schäftigung“ ist zu sagen: Die Zahl der Erwerbslosen ist
auf 2,9 bzw. 2,8 Millionen gesunken. Wir haben die
niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in Europa. Die Zahl
der Arbeitslosen über 55 Jahren haben wir halbiert. Die

Zahl der Erwerbstätigen zwischen dem 55. und dem
65. Lebensjahr haben wir in den letzten Jahren um
1 Million steigern können.

Wollen wir Fachkräfte so lange wie möglich in Arbeit
halten und wollen wir die Kompetenz der Älteren nut-
zen, dann müssen wir uns als Gesellschaft und als Ge-
setzgeber darauf einstellen. Aber auch die Sozialpartner
und die Betriebe sind gefordert. Es geht um die entspre-
chende Gestaltung der Arbeitsplätze. Es geht um Ab-
läufe im Bereich der Beschäftigung. Es geht um Weiter-
bildung. Es geht um betriebliche Gesundheitsförderung.

Hier hilft der Staat in erheblichem Maße. Das Bun-
desarbeitsministerium hat das Programm INQA auf den
Weg gebracht. Das wird weitergeführt, damit diejenigen,
die in Beschäftigung sind und die Hilfe brauchen, um
länger beschäftigt zu sein, weil sie gesundheitliche Be-
einträchtigungen haben, Unterstützung erhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, wir sind dabei, die Über-
gänge in die Rente zu gestalten und so zu justieren, dass
Menschen länger arbeiten können


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das können sie schon heute!)


oder dass der Renteneinstieg der Situation der Älteren
entsprechend angepasst wird. Aber wir dürfen in der Tat
den Blick nicht davor verschließen, dass uns bestimmte
Bereiche große Sorgen machen, etwa die Langzeitar-
beitslosen.

Heute organisiert die Katholische Jugendfürsorge den
sogenannten Josefstag. In vielen Einrichtungen der so-
zialen Arbeit finden heute Begegnungen und Gespräche
statt. Es geht um die arbeitslosen Jugendlichen, die ohne
fremde Hilfe keine Startchancen auf dem Arbeitsmarkt
haben. Hierzu gibt es viele Initiativen.

Lassen Sie mich in aller Deutlichkeit sagen: Es gibt
im Bereich der Arbeitsmarktpolitik keinen Kahlschlag.
Wir haben sogar im vergangenen Jahr bei dem Pro-
gramm WeGebAU das Problem gehabt, dass 50 Prozent
der Mittel gar nicht abgerufen worden sind. Wir haben
die Aufgabe, die vorhandenen Mittel – zugegebenerma-
ßen – zu justieren und zu optimieren – dabei sind wir ge-
rade –, um sie für die Menschen, die der Hilfe bedürfen,
zielgerichtet einzusetzen.

Uns geht es dabei um die Frage, wie wir insbesondere
denjenigen, die sich auf dem Arbeitsmarkt besonders
schwertun, helfen können. Dazu gehören auch die
300 000 Jugendlichen aus Familien ohne Perspektive.
Ihnen müssen wir helfen, aus diesen sozialen Verhältnis-
sen herauszukommen. Auch hier arbeiten wir an Kon-
zepten.

Meine Damen und Herren, ein anderer Pfad der Fach-
kräftesicherung betrifft natürlich die Vereinbarkeit von
Familie und Beruf oder, wie ich zu sagen pflege, von Fa-
milie und Betrieb, weil das die beiden existenziellen
Orte im Leben eines Menschen sind. Es geht darum, den
Bereich, in dem Leben entsteht und Zusammenleben
stattfindet, und den Bereich, in dem man die wirtschaftli-





Karl Schiewerling


(A) (C)



(D)(B)


chen Grundlagen erwirtschaftet, um zusammenleben zu
können, zusammenzubringen, und sie werden seit vielen
Jahren immer besser zusammengebracht.

Aber es bleibt auch weiterhin einiges zu tun. In der
Tat steht dabei mittlerweile nicht mehr wie noch vor we-
nigen Jahren die Frage der Kinderbetreuung als Problem
im Mittelpunkt. Denn wir haben in der U-3-Betreuung
und in der Begleitung viel gemacht.


(Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Das reicht aber nicht aus!)


Im Mittelpunkt steht mittlerweile die Frage, wie wir den
Beruf mit der Pflege vereinbaren können, weil immer
mehr Ältere im Betrieb vor der Frage stehen, wie sie ihre
pflegebedürftigen Angehörigen unterstützen können.
Dies sind Zukunftsaufgaben, die sehr wohl unter dem
Gesichtspunkt der Sicherung von Fachkräften und des
Fachkräftemangels zu sehen sind.

Lassen Sie mich kurz auf den Bereich der Aus- und
Weiterbildung zu sprechen kommen. Wir haben jetzt die
assistierte Ausbildung auf den Weg gebracht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Damit tragen wir dazu bei, dass Menschen besser in den
Beruf hineinkommen können.

Im Bereich der Berufseinstiegsbegleitung stehen ins-
gesamt 1 Milliarde Euro für die aktuelle Förderperiode
zur Verfügung. Wir werden damit über 115 000 Jugend-
liche erreichen. Und: Es geht um die jungen Menschen
und Menschen mit Migrationshintergrund. Wir wissen,
dass auch weiterhin viel zu tun ist. Aber mit den
628 Millionen Euro, die jetzt für berufsbezogene
Sprachkurse und die berufliche Weiterbildung zur Aner-
kennung von ausländischen Abschlüssen zur Verfügung
stehen, bringt die Bundesregierung ebenfalls eine große
Leistung auf den Weg.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zusam-
menfassend sagen: Dieser Ansatz der Fachkräftesiche-
rung hat sich bewährt. Wir müssen diesen Weg weiterge-
hen. Unsere Grundsätze sind: Wir brauchen diejenigen,
die in unserem Land leben. Wir brauchen auch Zuwan-
derung, aber wir brauchen Fachkräfte, keine Zuwande-
rung in die Sozialsysteme. Alle sind gefordert: Bund,
Länder und Kommunen, aber auch die Sozialpartner und
die Betriebe.

Lassen Sie mich mit Konrad Adenauer sagen: Sie
müssen die Menschen nehmen, wie sie sind; es gibt
keine anderen. – Aber ich füge hinzu: Wenn wir alle Be-
gabungen und Fähigkeiten, die wir haben, aktivieren und
stärken, dann ist mir um die Zukunft unseres Landes
nicht mehr bange.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809408200

Vielen Dank, Kollege Schiewerling. – Nächste Red-

nerin: Brigitte Pothmer für Bündnis 90/Die Grünen.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809408300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau

Nahles, Sie haben gerade ganz stolz gesagt, dass Sie die
Ziele, die Sie für 2020 anpeilen, im Grunde schon heute
erreicht haben. Die Frage, die sich aus meiner Sicht dazu
stellt, ist, ob die Bilanz auch 2020 überhaupt noch so
positiv sein wird. Weiter stellt sich die Frage, ob die Pro-
gnose, die Sie in Ihrem Bericht für 2030 angeben, näm-
lich dass sich die Zahl der Erwerbstätigen nur um
1 Million reduziert, zutrifft. Ich bin sehr skeptisch. Mit
dieser Prognose ist die Bundesregierung relativ allein
auf weiter Flur. Alle seriösen Arbeitsmarktforscher, wie
erst letzte Woche das IAB, gehen davon aus, dass die
Zahl der Erwerbstätigen um mindestens 3 Millionen zu-
rückgehen wird.

Ich habe Ihren Fortschrittsbericht genau gelesen, und
ich habe keine substanziellen Gründe dafür gefunden,
dass nicht die Forscher recht haben sollten, sondern die
Bundesregierung. Ich finde, da müssten Sie noch einmal
nachlegen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ja, es ist richtig: Die Erwerbsbeteiligung der Frauen
hat deutlich zugenommen, nämlich um satte 21 Prozent
seit den 90er-Jahren. Das ist die gute Nachricht. Die
schlechte Nachricht ist aber: Das Erwerbsarbeitsvolu-
men von Frauen ist nur um magere 4 Prozent gestiegen.
Mit anderen Worten: Im Prinzip teilen sich immer mehr
Frauen das gleiche Arbeitsvolumen. Das hilft aber bei
der Bekämpfung des Fachkräftemangels nicht weiter. Es
hilft im Übrigen auch den Frauen nicht weiter. Ich nenne
nur das Stichwort Altersarmut.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich sage Ihnen: Ihr viel beschworenes Jobwunder ist
vor allen Dingen ein Teilzeiteffekt. Dies entspricht nicht
den Wünschen der Frauen. Die allermeisten Frauen wol-
len mehr arbeiten, als sie aktuell tatsächlich arbeiten.
Das kann auch nicht Ihr Ziel sein, wenn Sie den Fach-
kräftemangel bekämpfen wollen. Wenn Sie dieses Er-
werbspotenzial – das ist das größte Erwerbspotenzial,
das wir hier im eigenen Land haben: gut ausgebildete
Frauen, hochmotivierte Frauen – wirklich heben wollen,
dann müssen Sie den Frauen helfen, aus der Sackgasse
von Ehegattensplitting und Minijobs herauszukommen,
dann müssen Sie an diesen strukturellen Bedingungen
etwas ändern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ja, Frau Nahles, Sie haben recht: Der Anteil der Älte-
ren unter den Beschäftigten hat zugenommen, insbeson-
dere bei der Gruppe der 60- bis 64-Jährigen. Ich fürchte
nur, das ist ein kurzes Glück. Uns droht nämlich der
Nahles-Knick:





Brigitte Pothmer


(A) (C)



(D)(B)



(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Sie haben einen Knick in der Optik! Das Einzige, was hier knickt, ist Ihre Optik!)


– Ja, Ehre, wem Ehre gebührt, Frau Nahles. – Bereits im
ersten halben Jahr seit Einführung der Rente mit 63 ha-
ben 60 000 Ältere ihre Arbeit aufgegeben.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nach 45 Beitragsjahren! Dann haben die das verdient!)


Ich spreche hier ausdrücklich nur von denjenigen, die
wir „Vorzieher“ nennen, also von denen, von denen wir
wissen, dass sie ohne dieses Angebot länger gearbeitet
hätten. Das sind 16 Prozent der Beschäftigten dieser Al-
tersgruppe. Auf der einen Seite wollen Sie die Erwerbs-
beteiligung Älterer erhöhen, und auf der anderen Seite
setzen Sie Anreize, aus dem Erwerbsleben auszuschei-
den.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wollen Sie, dass sie malochen bis zum Tode, oder was? 45 Jahre reichen doch wohl!)


Ich will das mal mit einem niedersächsischen Spruch
kommentieren: Sie stoßen mit dem Hintern um, was Sie
mit den Händen aufgebaut haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)


Ja, die Zuwanderung hat sich erfreulich entwickelt.
Aber das ist eine Zuwanderung vor allen Dingen aus den
EU-Krisenstaaten. Wir hoffen doch wahrscheinlich alle
gemeinsam, dass diese Länder die Krise so schnell wie
möglich überwinden. Aber dann wird ein erheblicher
Teil derjenigen, die aus diesen Krisenländern kommen,
in ihre Heimat zurückgehen.

Ich sage Ihnen: Wenn Sie Zuwanderung wirklich
nachhaltig gestalten wollen, dann müssen Sie sich auf
die Zuwanderung aus Drittstaaten konzentrieren. Aber,
meine Damen und Herren, dies setzt natürlich voraus
– jetzt richte ich mich vor allen Dingen an die rechte
Seite des Hauses –, dass Sie die Ressentiments in Ihren
eigenen Reihen zunächst einmal bekämpfen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das setzt auch voraus, dass Sie tatsächlich ein modernes
Einwanderungsgesetz auf den Tisch legen und eine echte
Willkommenskultur gestalten.

Lassen Sie mich noch kurz etwas zu den Arbeitslosen
sagen.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809408400

Kurz.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809408500

Kurz, ja. – Auch da liegt ein riesiges Potenzial. Aber

um das zu heben, müssten Sie zunächst einmal in die Ar-
beitslosen investieren, damit sie zu Fachkräften werden.
Dann haben diese Menschen auch eine Chance. Das ist

nicht nur ein Projekt, das diesen Menschen konkret hilft,
das ist auch aus ökonomischen Gründen richtig und not-
wendig und sinnvoll, weil der Fachkräftemangel das
größte Wachstumsrisiko werden könnte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich sage Ihnen: Wenn Sie diese Widersprüche, die Sie
in Ihrer Politik haben, nicht auflösen – bei den Frauen,
bei den Älteren, bei der Zuwanderung –, dann werden
Sie Ihr Ziel der Bekämpfung des Fachkräftemangels je-
denfalls nicht erreichen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809408600

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Diesen niedersächsi-

schen Spruch kenne ich aus Bayern auch; aber wir drü-
cken es ein bisschen drastischer aus.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollte es halt aus dem Inland bringen!)


Nächste Rednerin in der Debatte: Katja Mast für die
SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Katja Mast (SPD):
Rede ID: ID1809408700

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Wir reden über den Fachkräftefortschrittsbericht der
Bundesregierung, und in diesem Fachkräftefortschritts-
bericht steht genau das, was unsere Bundesarbeitsminis-
terin gerade gesagt hat: Erstens. Es gibt keinen flächen-
deckenden Fachkräftemangel, aber Engpässe. Zweitens.
Wir sind bei allen Punkten, die wir uns vorgenommen
haben, heute schon besser, als wir 2020 sein wollen.Ich
finde, da kann man schon mit Selbstbewusstsein sagen:
Wir gehen das Thema „Fachkräftesicherung der Zu-
kunft“ mit Herz, Energie und auch Finanzen richtig gut
an.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es gibt eine Gruppe, bei der das Ziel noch nicht ganz
erreicht ist – das will ich an dieser Stelle nicht ver-
schweigen –: Das ist bei der Erwerbsbeteiligung von
Frauen der Fall. In Zukunft soll der entsprechende Pro-
zentwert bei 73 Prozent liegen. So weit sind wir leider
noch nicht; denn wir liegen bei 72,5 Prozent. Auch das
soll der Wahrheit zuliebe hier ausgesprochen werden.

Warum beschäftigen wir uns heute mit dem Thema
„Fachkräftesicherung der Zukunft“? Es geht darum, dass
wir durch den demografischen Wandel in Zukunft weni-
ger Erwerbstätige haben werden. Da ist es müßig, sich
darüber zu streiten, ob 1 Million, 2 Millionen, 3 Millio-
nen oder andere Zahlen richtig sind; vielmehr ist eindeu-
tig erwiesen: Wir müssen zur Fachkräftesicherung der
Zukunft etwas tun.





Katja Mast


(A) (C)



(D)(B)


Auf der einen Seite müssen wir das bestehende Poten-
zial, also die Menschen, die in Deutschland leben, für
den Arbeitsmarkt besser aktivieren und vor allen Dingen
auch besser qualifizieren. Auf der anderen Seite müssen
wir Zuwanderung gestalten, weil wir zur Sicherung
unserer Wirtschaftskraft in Zukunft mehr Fachkräfte aus
anderen Ländern brauchen werden. Deshalb bin ich
meinem Fraktionsvorsitzenden Thomas Oppermann
dankbar, der eine Initiative ergriffen hat, um über die
Einwanderungsgesetzgebung, aber vor allen Dingen
auch über das Thema „Einwanderungsland Deutsch-
land“ einmal ordentlich zu diskutieren.


(Beifall bei der SPD)


Ich will einen Punkt in den Mittelpunkt meiner kur-
zen Redezeit rücken: Was tun wir für junge Menschen,
damit sie als qualifizierte Fachkraft durchs Leben gehen
können und in ihrer Erwerbsbiografie nicht ohne Ausbil-
dung bleiben, sodass sie nicht irgendwann arbeitslos
oder sogar langzeitarbeitslos werden? Es ist klar:
Deutschland ist ein Hochlohnland, und die Arbeitskräfte
brauchen eine hohe Qualifizierung.

In den letzten Wochen und Monaten hat diese Regie-
rung die assistierte Ausbildung beraten und beschlossen.
Das heißt, wir sorgen dafür, dass junge Menschen eine
duale Ausbildung im Betrieb machen können, dass ihre
Chancen am Arbeitsmarkt steigen. Wir haben dafür ge-
sorgt, dass die ausbildungsbegleitenden Hilfen, also
auch die Begleitung von anderen Auszubildenden, deut-
lich ausgeweitet werden. Wir haben in der Allianz für
Aus- und Weiterbildung dafür gesorgt, dass 20 000 zu-
sätzliche betriebliche Ausbildungsplätze zur Verfügung
gestellt werden.


(Beifall der Abg. Kerstin Griese [SPD])


Wir haben die Berufseinstiegsbegleitung wie noch keine
Vorgängerregierung ausgebaut. Diese Begleitung ist der
zentrale Förderschwerpunkt dieser ESF-Förderperiode,
und das ist auch gut so. Außerdem stärken wir die
Jugendberufsagenturen. Das sind nur wenige Instru-
mente, mit denen ich deutlich machen will: Wenn man
sich einer Gruppe zuwendet, dann kann man für sie auch
etwas tun.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Heinz Wiese [Ehingen] [CDU/CSU])


Für uns von der SPD haben Bildung und Qualifizie-
rung natürlich etwas mit Wirtschaft, Erwerbstätigkeit
und besseren Verdienstmöglichkeiten zu tun; aber sie ha-
ben für uns vor allen Dingen auch damit zu tun, dass
Menschen aufsteigen können und dass sie durch Bildung
ein anderes Leben als die Elterngeneration führen kön-
nen. Das ist für uns ein ganz wichtiger Punkt.


(Beifall bei der SPD)


In der heutigen Diskussion ist auf Folgendes noch gar
nicht hingewiesen worden: Wir entwickeln uns von der
Wissensgesellschaft hin zur digitalen Gesellschaft. Das
heißt, dass die Halbwertszeit von Wissen immer geringer
sein wird. Daher wird es nicht reichen, den Jungen am
Anfang eine gute Ausbildung zu ermöglichen; vielmehr
müssen wir uns noch mehr darüber unterhalten, wie wir

lebensbegleitendes Lernen gut organisieren und wie wir
weit über das hinausgehen können, was heute möglich
ist, auch weit über das hinaus, was die IG Metall zum
Glück in das Zentrum ihrer Tarifverhandlungen gestellt
hat. Aber da muss, auch von staatlicher Seite, noch mehr
kommen.


(Beifall bei der SPD)


Deshalb sagen wir: Wir müssen über die Zukunft
nachdenken, nicht kurzfristig, sondern mittel- bis lang-
fristig: Wie sieht es eigentlich im Erwerbsleben aus?
Man denke an eine Person, die im Erwerbsleben steht
und überlegt: Na ja, angesichts meiner Qualifizierung
weiß ich nicht so richtig, was mit mir geschieht, wenn
ich meinen Job verliere. Wer berät mich da eigentlich? –
Brauchen wir nicht eine Bildungsinfrastruktur in der Flä-
che durch Bildungsstützpunkte, durch die entsprechende
Maßnahmen organisiert werden? Müssen wir nicht die
Arbeitslosenversicherung zu einer Versicherung weiter-
entwickeln, die frühzeitig agiert, die langfristig und
lebensbegleitend orientiert ist und nicht nur am Verlust
der Arbeit und dann erst berät? Wir finden, wir sollten
eine Debatte über eine Weiterentwicklung hin zu einer
Arbeitsversicherung führen.


(Beifall bei der SPD)


Ich will zum Schluss kommen und sagen: Willy
Brandt hat uns mit auf den Weg gegeben, dass wir in je-
der Zeit eigene Antworten brauchen und dass wir auf der
Höhe der Zeit zu sein haben, wenn wir Gutes bewirken
wollen. Das gilt für das Thema „Sicherung des Fachkräf-
tebedarfs“ so stark wie für fast kein anderes Thema. Ich
freue mich auf die Debatten der Zukunft.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809408800

Vielen Dank, Frau Kollegin Mast. – Nächste Redne-

rin in der Debatte: Jutta Krellmann für die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jutta Krellmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809408900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Fachkräftemangel herrscht nur in den Unter-
nehmen, wo es verantwortungslose Arbeitgeber gibt.


(Beifall bei der LINKEN – Kai Whittaker [CDU/CSU]: Unverantwortlich! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Das stimmt doch nicht!)


– „Verantwortungslose Arbeitgeber.“ Hören Sie doch
mal genau zu!


(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Das haben wir schon verstanden! Deswegen wird das nicht besser!)


Die Gewerkschaften haben dazu eine eindeutige Mei-
nung. Die IG Metall beispielsweise kritisiert nicht nur,
sondern hat auch Vorschläge, was für die Zukunft der
Fachkräfte zu tun ist.





Jutta Krellmann


(A) (C)



(D)(B)


Gute Bildung, gute Qualifikation: Die Aufgabe der
Regierung ist hier, die Rahmenbedingungen zu schaffen,
zum Beispiel durch gute Kitabetreuung, aber auch durch
Ganztagsangebote, insbesondere an Hauptschulen.


(Beifall bei der LINKEN)


Staatliche Aufgabe ist ebenfalls, die Rahmenbedin-
gungen für gute Arbeit zu schaffen. Dazu gehört poli-
tisch insbesondere die Abschaffung der sachgrundlosen
Befristungen.


(Beifall bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809409000

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder

-bemerkung vom Kollegen Weiler von der CDU/CSU-
Fraktion?


Jutta Krellmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809409100

Gerne.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809409200

Gut. – Herr Weiler.


Albert Weiler (CDU):
Rede ID: ID1809409300

Frau Kollegin Krellmann, wir sind zusammen in ei-

nem Ausschuss. Ich arbeite mit Unternehmern zusam-
men; das habe ich schon getan, bevor ich im Bundestag
war. Wir versuchen, durch Eigeninitiative der Unterneh-
men viele Fachkräfte heranzubilden. Das heißt, die
Unternehmen investieren viel Geld in die Fachkräf-
tenachwuchsgewinnung.

Sie sagen jetzt: Wenn in Unternehmen Fachkräfte-
mangel ist, zeigt das, dass die Unternehmer verantwor-
tungslos sind. – Im Umkehrschluss sagen Sie damit –
wenn Sie das vielleicht richtigstellen! –, dass alle Unter-
nehmer in meinem Wahlkreis, Mittelständler, die, ich
sage mal, zu 80 Prozent Fachkräftemangel haben, keinen
Nachwuchs kriegen, die gern 5, 10 oder 20 Auszubil-
dende nehmen wollen, aber nicht kriegen – sie tun viel
dafür; die Handwerkerschaft, die Innungen, die IHK tun
auch viel dafür –, verantwortungslos sind. Ich glaube,
das geht einfach zu weit.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Jutta Krellmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809409400

Vielen Dank für die Frage. Ich darf Ihnen darauf ant-

worten.

Ich habe gesagt: verantwortungslose Arbeitgeber.
80 Prozent der Betriebe bilden gar nicht aus.


(Katja Mast [SPD]: Die sind alle verantwortungslos?)


– Wie bitte? Auch Sie dürfen mir gleich eine Frage stel-
len.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809409500

Das entscheiden nicht Sie.


Jutta Krellmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809409600

Ich kann mich an die Zeit erinnern, wo die Jugendar-

beitslosigkeit in Deutschland begonnen hat. Genau da
haben wir zu diskutieren begonnen.

Wenn ich von verantwortungslosen Arbeitgebern
rede, dann meine ich nicht die, die ausbilden und dafür
sorgen, dass sie Facharbeiter kriegen, sondern ich meine
die 80 Prozent, die davon profitieren, dass andere ausbil-
den. Sie müssen doch ganz genau wissen, wie das im
Betrieb ist.


(Beifall bei der LINKEN – Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Das haben Sie aber gerade anders gesagt!)


Als Gewerkschaftssekretärin habe ich das erlebt; ich
weiß, wie das geht. Die Forderung, die wir als Antwort
darauf erhoben haben, ist: Wir brauchen eine Umlage-
finanzierung der Ausbildungsplätze, damit endlich auch
die Arbeitgeber, die von der Leistung anderer profitie-
ren, dafür zahlen, dass sie Fachkräfte kriegen. Das, finde
ich, hat System, wenn man die Frage stellt: Was kann
man gegen Fachkräftemangel machen?


(Beifall bei der LINKEN)


Darf ich weitermachen? Ja, oder?


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809409700

Machen Sie weiter. Ihre Redezeit läuft.


Jutta Krellmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809409800

Ich war bei dem Thema: Abschaffung der sachgrund-

losen Befristungen. Das ist aus unserer Sicht eine klare
Aufgabe für die Bundesregierung.

Parallel ist es die Aufgabe von Unternehmen, sich an
Tarifverträge zu halten und dafür zu sorgen, dass in den
Betrieben entsprechende Bedingungen geschaffen wer-
den. In Sachsen-Anhalt werben Unternehmen mit dem
Bestehen von Tarifverträgen um Fachkräfte. Diese ga-
rantieren den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern si-
cheres Geld, geregelte Arbeitszeiten, Urlaubs- und
Weihnachtsgeld. In Niedersachsen machten die Metall-
unternehmen ihre Beschäftigten wuschig, weil sie sich
zierten, die entsprechenden Tarifabschlüsse, die alle an-
deren Beschäftigten in der Branche bekommen haben,
zu übernehmen. Inzwischen war der Druck so groß, dass
auch niedersächsische Unternehmen ihren Fachkräften
diese Tariflöhne zahlen müssen. „Ohne Tarifvertrag“ be-
deutet immer: niedrigere Löhne bis hin zu Mindestlöh-
nen, keine Lohnerhöhungen mehr, weniger Urlaub usw.
Tariflöhne sind ein wichtiges Kriterium, wenn man aus-
reichend Fachkräfte haben will.


(Beifall bei der LINKEN)


Unternehmen, die gute Rahmenbedingungen schaf-
fen, haben in der Regel auch keine Probleme, Fachkräfte
zu finden. Fachkräftesicherung braucht aber auch gute
Arbeitsbeziehungen: zwischen Betriebsrat und Arbeitge-
ber, zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbän-
den. Nur so lassen sich Regelungen über altersgerechte
Arbeitsplätze auf der Basis von Betriebsvereinbarungen
oder über eine neue Arbeitszeitpolitik auf der Basis von





Jutta Krellmann


(A) (C)



(D)(B)


Tarifverträgen treffen. Das ist mit den genannten Akteu-
ren möglich, wenn sie denn wollen. Mit solchen Maß-
nahmen schafft man Fachkräftesicherung.


(Beifall bei der LINKEN)


Was aber machen viele Arbeitgeber stattdessen? Sie
übernehmen keine Verantwortung. Sie sind oftmals nicht
bereit, in ihr Personal zu investieren. Sie wälzen alles auf
den Staat ab und schreien laut im Chor: Alarm, Fach-
kräftemangel!


(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Karneval ist vorbei!)


Diesen Arbeitgebern sage ich: Hören Sie auf, zu jam-
mern, und überlegen Sie, wo Sie selbst ansetzen können,
um Fachkräfte an Ihren Betrieb zu binden, zum Beispiel
indem Sie gute Löhne zahlen, sichere Arbeitsplätze
schaffen, Ihren Beschäftigten eine Perspektive für die
Zukunft geben,


(Beifall bei der LINKEN)


betriebliche Ausbildung anbieten und auch stärken so-
wie junge Fachkräfte unbefristet übernehmen. Das
müsste in allen Branchen gelten.

Als Gewerkschafterin wünsche ich in der aktuellen
Tarifrunde insbesondere den Beschäftigten im Sozial-
und Erziehungsdienst viel Erfolg im Kampf für ihre Ta-
rifverträge und für die Anerkennung ihrer Arbeit. Dafür
braucht es starke Gewerkschaften. Dafür tritt die Linke
ein.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809409900

Vielen Dank, Frau Kollegin Krellmann. – Nächster

Redner in der Debatte: Tobias Zech für die CDU/CSU-
Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Tobias Zech (CSU):
Rede ID: ID1809410000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin

froh, dass wir über das Thema Fachkräftemangel spre-
chen und nicht, wie in anderen Ländern, darüber, dass
wir ganzen Generationen von Jugendlichen keine Arbeit
anbieten können, die somit in der Arbeitslosigkeit blei-
ben. Das ist schon einmal positiv.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Frau Ministerin, wir können auch noch aus einem an-
deren Grund froh sein. Das Thema wird herausfordernd
für uns sein – es ist ein schwieriges und wichtiges
Thema –, aber der Bericht zeigt: Wir sind nicht nur gut
im Zeitplan, nein, wir sind ihm sogar voraus. Die Maß-
nahmen, die wir vor vier Jahren beschlossen haben, wir-
ken. Würden manche Infrastrukturmaßnahmen, auch
hier in der Hauptstadt, in vier Jahren erfolgreich sein,
hätten wir weniger Probleme in diesem Land.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich möchte einmal einordnen, über was wir überhaupt
sprechen. Wir haben einen Fachkräftemangel in be-
stimmten Branchen, in bestimmten Regionen. Aber ei-
nes gehört auch zur Wahrheit: Wir haben in Deutschland
wesentlich mehr Menschen, die dem Erwerbsleben zur
Verfügung stehen würden, als wir in das Erwerbsleben
integrieren können. Somit haben wir vor allem eine
Lücke hinsichtlich der Qualifizierung und nicht hinsicht-
lich der Anzahl. Hier müssen wir ansetzen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Dagmar Schmidt [Wetzlar] [SPD])


2011 wurden für den Ausgleich dieses Engpasses
mehrere Pfade entwickelt. Drei möchte ich nennen: die
Ausbildung der Jungen, die bessere Integration der
Eltern sowie offenere Zuwanderungsmöglichkeiten.
Schaut man sich diese Bereiche an, so kann man feststel-
len, dass in den letzten Jahren viele strukturelle Verände-
rungen geschaffen wurden und der Weg für noch mehr
Prosperität in diesem Bereich geebnet wurde. Das ist ein
großer Fortschritt. Die Ministerin hat es angesprochen:
Auch in den Unternehmen – ich selber war neun Jahre
lang Personaler – hat sich ein Kulturwandel vollzogen.
War die Personalabteilung früher eine kleine Verwal-
tungseinheit – ich habe immer gesagt: P kann jeder –, die
sich um Verträge gekümmert hat und um Abläufe und
Standards, ist jetzt der Personalmanager im Unterneh-
men jemand, der sich um einen der wichtigsten Produk-
tionsfaktoren, nämlich den Faktor Arbeit, den Faktor
Mensch, kümmert. Unsere Unternehmen in Deutschland
haben diesen Schritt schon getan. Ich denke, man hat
schon viel getan. Man hat in den Unternehmen schon
sehr gute Initiativen ergriffen, um den Fachkräftemangel
zu beheben.

Die Personaler haben hier genau drei Möglichkeiten:
Recruitment, Retention und Retirement. Oder besser ge-
sagt: Wie bekomme ich das richtige Personal? Wie setze
ich es im Betrieb richtig ein? Auch wichtig: Wie gestalte
ich den Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand?
Hier gilt es, für uns, die richtigen Rahmenbedingungen
zu setzen. Dabei müssen wir uns aber auch bewusst ma-
chen, dass wir alle Phasen des Lebenszyklus eines Ar-
beitnehmers mit entscheidenden Hilfestellungen beglei-
ten müssen.

Ich möchte bei der Ausbildung anfangen. Zu viele
junge Menschen werden ohne abgeschlossene Ausbil-
dung ins Leben entlassen. 2011 waren noch 17 Prozent
der 20- bis 29-Jährigen ohne Ausbildung. Das größte Ri-
siko für Armut ist die fehlende Ausbildung. 2013 haben
wir es geschafft, unter 10 Prozent zu kommen. Das ist
ein unglaublich guter Fortschritt, vor allem, wenn man
weiß, dass allein eine 10-prozentige Abbrecherquote
rund 600 000 Fachkräfte kostet. Bei den 30- bis 34-Jäh-
rigen mit Hochschul- oder Fachhochschulabschluss sind
wir bei 44,5 Prozent angelangt. Wir befinden uns in ei-
ner guten Situation, es lohnt sich, darauf aufzubauen.

Wir müssen aber weiter den Fokus auf die Ausbil-
dung legen. Ich teile nicht die Einschätzung, die im Be-
richt durchklingt, dass man bei der Durchlässigkeit des
Bildungssystems ansetzen muss. Ich bin über Haupt-
schule, mittlere Reife, Berufsoberschule und Fachhoch-





Tobias Zech


(A) (C)



(D)(B)


schule jetzt zu Ihnen gekommen. Also, die Durchlässig-
keit ist es wohl nicht. Man müsste aber den Schwerpunkt
auf die Ausbildungsreife setzen. Jeder, der in die Berufs-
schule kommt, sollte den Dreisatz können. Jeder, der die
Berufsschule verlässt, sollte wissen, was auf ihn zu-
kommt. Es sollte nicht so sein, dass der Metzgerlehrling
am ersten Tag erschreckend feststellt, wo die Wurst
wirklich gemacht wird und wie es dort aussieht, und
dann das Unternehmen schreiend verlässt. Im Bereich
der Ausbildungsreife, der Aufklärung und der Informa-
tion über Berufsbilder müssen wir noch mehr machen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Hier lohnt sich auch das Engagement, das Investment.
Die Ministerin hat die Allianz für Aus- und Weiterbil-
dung angesprochen. Es geht nämlich nur miteinander.
Nicht die Politik kann den Fachkräftemangel beheben,
sondern nur die Unternehmen und die Menschen in un-
serem Land.

Wie können wir die Arbeitnehmer länger in den Be-
trieben halten? Wie können wir Erziehungszeiten besser
koordinieren? Wie können wir das kurzfristige Aus-
scheiden aus dem Unternehmen sicherstellen? Das sind
wichtige Fragestellungen. Man hat über Wertkontensys-
teme, Lebensarbeitszeitkonten oder mit dem TV FlexÜ
erste Möglichkeiten geschaffen. Einige Unternehmen
sind schon bei der Umsetzung. Das kann noch weiter
ausgebaut werden.

Ich möchte noch die Chemiebranche erwähnen, die
schon vor Jahren mit ihrem Tarifvertrag „Lebensarbeits-
zeit und Demografie“ einen Meilenstein bezüglich der
Tariflandschaft in Deutschland gesetzt hat und bewusst
das Thema „Fachkräftemangel“ und das Thema „Älter
werden im Betrieb“ in den Fokus gestellt hat. Das ist
mehr als beispielgebend und sollte von allen als Beispiel
genommen werden.

Ein Punkt liegt mir noch am Herzen. Wir sprechen da-
rüber – auch die Ministerin hat es angesprochen –, dass
wir in Zukunft Älteren ermöglichen wollen, wenn sie es
selber wollen und können, länger im Betrieb zu bleiben.
Das ist zum einen die Flexirente. Frau Pothmer, ich muss
dazu sagen, dass es für uns nicht heißt, dass wir die Rente
mit 63 bzw. die Altersrente nach 45 Beitragsjahren infrage
stellen. Denn wer 45 Jahre in diesem Land gearbeitet hat,
hat es in einer Solidargemeinschaft auch verdient, dass er
in den Ruhestand gehen kann.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


– Herr Birkwald, Sie erschrecken mich. – Für mich ist
wichtig, dass wir beim Thema Flexirente weiterkom-
men. Das heißt aber auch, dass wir in den Betrieben im
kulturellen Wandel noch weiter fortschreiten müssen. Es
geht hier um das Thema „betriebliches Gesundheitsma-
nagement“. Wir müssen wieder Arbeitsplätze für Ältere
oder für Mitarbeiter schaffen, die nicht so leistungsfähig
sind oder körperlich nicht so leistungsfähig sind, damit
auch sie ihren Beitrag im Unternehmen leisten können.
Deswegen finde ich es gut, dass wir mit dem Präventi-
onsgesetz die Mittel der Krankenkassen für die Umset-

zung des betrieblichen Gesundheitsmanagements erhöht
haben.

Ich möchte zum Schluss kommen. Die Arbeitgeber in
Deutschland – damit meine ich auch den Staat – sind an-
gehalten, weiterhin jeweils für ihren Bedarf praktikable
und effektive Lösungsansätze zu finden. Ich denke, wir
als Politik müssen sie effektiv und intensiv dabei beglei-
ten. Ich freue mich auf die weitere Diskussion.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809410100

Vielen Dank, Herr Kollege Zech. – Nächster Redner

in der Debatte: Volker Beck für Bündnis 90/Die Grünen.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809410200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn

wir hier über die Zukunft der Fachkräfteentwicklung dis-
kutieren, müssen wir sagen: Wir können es uns nicht
leisten, einen Teil der jungen Generation zurückzulas-
sen. Der Bericht gibt darüber Auskunft, dass 72,3 Pro-
zent der Menschen mit Migrationshintergrund, die ar-
beitslos sind, keinen Berufsabschluss haben. Das
zeigt: Es darf bei uns in der Bildungspolitik kein end-
gültiges Scheitern geben, sondern jeder muss erneut
eine Chance bekommen, sich auf dem Arbeitsmarkt
zu bewähren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Es geht darum, dass wir schlichtweg alle Potenziale,
die wir im Land haben, heben, dass wir die Menschen
fördern. Das heißt für mich: Man muss auch bei den
Flüchtlingen, die hierherkommen, von Anfang an mit In-
tegrationskursen die Voraussetzungen dafür schaffen,
dass sie hier, auf dem deutschen Arbeitsmarkt, ihren
Qualifikationen entsprechend eine Chance bekommen
und auch Qualifikationen erwerben können, und das
nicht erst nach ein, zwei Jahren Asylverfahren, sondern
vom ersten Tag an, wenn sie hier ankommen. Das heißt
Willkommenskultur.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir dürfen uns auf der jetzigen wirtschaftlichen Si-
tuation und der Situation auf dem Arbeitsmarkt nicht
ausruhen. Wir wissen doch – da hatte die Frau Ministe-
rin, die allerdings nicht zuhört, vorhin durchaus recht –,
dass uns in Zukunft nicht die Arbeit ausgehen wird, son-
dern die Menschen, die sie leisten können. Wir haben
aus demografischen Gründen einen jährlichen Bedarf bei
der Zuwanderung von Arbeitskräften von 300 000 Men-
schen. Den können wir gegenwärtig decken, weil Men-
schen aus den südeuropäischen Ländern aufgrund der
wirtschaftlichen Situation zu uns kommen. Das wird
sich aber ändern, wenn sich die Wirtschaftslage in der
Europäischen Union – hoffentlich bald – verbessert.
Dann werden wir einen negativen Wanderungssaldo ha-
ben. Das haben wir gegenüber der Türkei heute schon:





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)


Wir haben in den letzten Jahren mehr Menschen an die
Türkei abgegeben, als in der gleichen Zeit zu uns ge-
kommen sind. Eine solche Entwicklung steht uns bevor.
Wenn wir uns darauf nicht vorbereiten, dann verspielen
wir die Zukunft unseres Landes.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Nahles, vielleicht haben Sie bei der Redevorbe-
reitung Ihren eigenen Bericht nicht ganz genau studiert.
Ich finde es selbstgefällig und schlicht falsch, wenn da
steht:

Mit den Rechtsänderungen zur Zuwanderung von
Hochqualifizierten und Fachkräften, die seit
Sommer 2012 in Kraft traten, wurde der deutsche
Arbeitsmarkt weitestgehend geöffnet und entbüro-
kratisiert.

Das ist einfach unwahr.

Wir haben fast keine Möglichkeit der angebotsorien-
tierten Zuwanderung von Menschen, die sagen: Ich habe
eine Qualifikation, ich möchte nach Deutschland kom-
men, aber ich habe noch keinen konkreten Arbeitgeber,
der mir einen Arbeitsvertrag zur Verfügung stellt. – Da-
für brauchen wir eine Möglichkeit. Wir haben dafür seit
2012 eine Regelung, die aber an Bürokratie und Absur-
dität schwer zu toppen ist. Es geht um § 18 c des Aufent-
haltsgesetzes. Danach dürfen Menschen mit einem
Hochschulabschluss für sechs Monate zur Arbeitssuche
nach Deutschland kommen. Ihr Lebensunterhalt muss
aber gesichert sein, und sie dürfen während der Zeit der
Arbeitssuche absurderweise nicht arbeiten. Sie müssen
also ihr Vermögen aufzehren, wenn sie hier nach
Deutschland kommen. Ja, wer macht denn so etwas? Im
letzten Jahr waren es 900 Menschen, die davon Ge-
brauch gemacht haben, im Jahr davor 400. Damit wer-
den wir unseren Fachkräftemangel der Zukunft nicht be-
kämpfen können. Da brauchen wir flexiblere Lösungen.
Warum soll ein Ingenieur, der hierherkommt, nicht sa-
gen: „Bis ich einen richtigen Arbeitsplatz gefunden
habe, kellnere ich auch mal, damit ich nicht das Geld,
das ich habe, aufzehren muss“? Das wäre zukunftsfähi-
ger. Wir brauchen am Ende eine viel flexiblere Regelung
als dieses Gestrüpp im Aufenthaltsgesetz.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809410300

Kommen Sie bitte zum Ende, Herr Beck?


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809410400

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Ich habe

mir heute die wunderbare Initiative „Make it in Ger-
many“ angeschaut, diese Website, die angeblich ja alle
Probleme lösen soll. Also, säße ich jetzt in Indien oder in
Afrika oder in Lateinamerika vor meinem Computer und
würde mir das anschauen, ich würde echt nicht verste-
hen, wie ich hierherkomme, obwohl da Arbeitsplätze an-
geboten werden. Da muss ich mich bewerben, dann
muss ich zur Visastelle, die mir nach Auskunft des Por-
tals sagen wird, wie es denn mit dem Visum geht. Dann
dauert das Verfahren zur Aufnahme vielleicht ein Jahr, –


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809410500

Redezeit, Herr Beck!


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809410600

– wenn ich Glück habe. Das wird nur diejenigen, die

wirklich in Not sind, motivieren, hierherzukommen. Wir
müssen uns auf den zukünftigen Zuwanderungsbedarf
vorbereiten, und damit werden wir es so nicht schaffen.

Vielen Dank, Frau Präsidentin.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809410700

Nächster Redner in der Debatte ist Swen Schulz für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Swen Schulz (SPD):
Rede ID: ID1809410800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Volker
Beck! Bei allen offenen Fragen, die wir zu diskutieren
haben: Wir haben tatsächlich viel erreicht. Lassen Sie
mich konkret aus bildungspolitischer Perspektive nur
kurz die Stichworte nennen. Das Kitaangebot ist deutlich
ausgeweitet. Die Schulabbrecherquote ist gesunken.
Ebenso gesunken ist die Quote der jungen Menschen
ohne Berufsabschluss; zugleich ist die Studienanfänger-
quote gestiegen.

Das kommt nicht von ungefähr. Wir machen politisch
ja auch wirklich eine Menge, vom Kitaausbau über Pro-
gramme für berufliche Bildung bis hin zu Hochschul-
pakt, BAföG, Anerkennungsgesetz usw. usf. Das sind
wichtige Maßnahmen, die wir hier auf den Weg gebracht
und finanziert haben, meine sehr verehrten Damen und
Herren.


(Beifall bei der SPD)


Ich sage ausdrücklich, dass das nicht nur das Ver-
dienst dieser Koalition ist, sondern dass es auf den Leis-
tungen der vergangenen Koalitionen aufbaut: seit 1998
Rot-Grün bis heute. Das sind gemeinsame Erfolge von
vielen, die mitgeholfen haben und bei denen ich mich an
dieser Stelle auch einmal herzlich bedanken möchte.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Aber es ist richtig: Wir können uns nicht ausruhen, es
ist nicht alles im Lot, es sind noch nicht alle Ziele der
Bildungsrepublik Deutschland erreicht. Ich kann das
jetzt nicht alles aufblättern; deshalb nur ein paar Stich-
worte.

Fachkräfte aus dem Ausland: Wir müssen – da hat der
Kollege Beck ja recht – viel schneller als bislang Flücht-
linge und Asylbewerber in Sprach- und Integrations-
kurse bringen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Sicherlich werden dann einige auch bald wieder weg
sein; dann haben sie ein wenig Deutsch gelernt, und das
ist ja auch nicht verkehrt. Aber viele werden lange blei-





Swen Schulz (Spandau)



(A) (C)



(D)(B)


ben. Da dürfen wir nicht Monate vertrödeln, bis sie An-
gebote bekommen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Dann das Anerkennungsgesetz: Das ist ein guter, ein
überfälliger Schritt gewesen, der dann doch etwas zag-
haft ausgefallen ist. Das sehen wir an den insgesamt
niedrigen Zahlen, jedenfalls gemessen an den Erwartun-
gen. Wir brauchen einen Rechtsanspruch auf Beratung,
niedrigere Verfahrensgebühren und Hilfe bei den Anpas-
sungsqualifizierungen.


(Beifall bei der SPD)


Wir wollen das Anerkennungsgesetz zu einem vollen Er-
folg machen; aber das gelingt nur, wenn wir die Men-
schen stärker unterstützen.

Weiter brauchen wir tatsächlich endlich ein Zuwande-
rungsgesetz,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


schon um ein Zeichen zu setzen, dass wir Menschen aus
dem Ausland willkommen heißen.

Aber es geht natürlich nicht nur um Zuwanderung,
sondern mindestens genauso dringend um die Men-
schen, die schon hier leben. Die berufliche Bildung muss
weiter unterstützt werden. Sie ist nicht weniger wichtig
als akademische Bildung, meine sehr verehrten Damen
und Herren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Darum sage ich: Es war richtig, das BAföG zu erhöhen.
Aber es gehört dazu, dann im Gleichschritt auch das
Meister-BAföG für die berufliche Qualifizierung zu stär-
ken.


(Beifall bei der SPD)


Das ist leider in der Finanzplanung der Bundesregierung
noch nicht enthalten. Wir werden dazu mit dem Finanz-
minister reden und eine Lösung finden. Wir wollen die
berufliche Bildung nicht schlechter behandeln als die
akademische.


(Beifall bei der SPD)


Eine der wichtigsten Maßnahmen zur Gewinnung von
Fachkräften überhaupt ist die Investition in die vorschu-
lische Bildung und Betreuung; das sagen alle wissen-
schaftlichen Studien. Angebot und Qualität der Kitas
müssen stimmen, damit erstens Familie und Beruf ver-
einbar sind und zweitens die Kinder gefördert werden
und von Anfang an Chancen erhalten. Wir machen da
viel; aber auch hier geht mehr, trotz der 100 Millionen
zusätzlich im Nachtragshaushalt. So gibt es, wie ich aus
vielen Gesprächen mit Eltern weiß, zu wenig Angebote
der Kinderbetreuung zu ungewöhnlichen Zeiten, auch
die Qualität der vorschulischen Bildung kann weiterhin
deutlich verbessert werden. In den Kitas werden die
Grundlagen gelegt, und wir behandeln sie trotzdem ein
Stück weit stiefmütterlich. Das müssen wir ändern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ein letztes Wort zu den Schulen. Wir haben bislang
leider nicht die nötige Mehrheit gefunden, um das
Kooperationsverbot von Bund und Ländern aus dem
Grundgesetz zu streichen. Dabei würde genau das hel-
fen, alle Kräfte zur Verbesserung der Schulen zu bün-
deln. Aber auch das wird kommen. Auf diesen Tag freue
ich mich heute schon.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Wir alle!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809410900

Vielen Dank, Kollege Schulz. – Nächster Redner in

der Debatte: Dr. Carsten Linnemann für die CDU/CSU-
Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Carsten Linnemann (CDU):
Rede ID: ID1809411000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man
sich die Zahlen für das Jahr 2015 und die Prognostika
anschaut, dann stellt man fest, dass die Prognosen sehr
unterschiedlich sind. Die Werte sind sehr volatil, man
denke an den Ölpreis und an den Wechselkurs. Aber in
dem Moment, in dem wir über Demografie reden, auch
in Bezug auf die nächsten 10, 15 Jahre, stellen wir fest:
Die Zahlen sind sehr viel plausibler, die Prognosen sind
sehr viel genauer, weil wir beispielsweise heute schon
wissen, wer in 15 Jahren in die Ausbildung geht.
Deshalb ist es richtig, dass wir uns jetzt und in den
folgenden Jahren mit dem Thema Demografie beschäfti-
gen; denn uns werden im Jahre 2030 allein aus demogra-
fischen Gründen 4, 5 oder 6 Millionen Erwerbstätige
fehlen.

Es ist richtig: Wir haben keinen akuten, flächende-
ckenden Fachkräftemangel. In der im Fortschrittsbericht
genannten Studie sind 19 Branchen identifiziert worden,
in denen es jetzt Engpässe gibt: Gesundheitsbereich,
Pflegebereich, Ingenieurwesen, Maschinenbau, Anla-
genbau usw. Wir haben viel über Zuwanderung gehört
und über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Aber
lassen Sie mich auf zwei Themen eingehen, die viel-
leicht ein bisschen zu kurz gekommen sind, Frau
Krellmann: Das sind zum einen die Jüngeren, und viel-
leicht sollte man auch noch einmal über die Älteren re-
den.

Erstens. Ich glaube nicht, dass die Mittelständler oder
die Unternehmer verantwortungslos sind, wenn sie nach
Fachkräften oder nach Auszubildenden suchen. Viel-
mehr stehen wir in der Verantwortung, die jungen
Menschen ausbildungsfähig zu machen und mitzuhelfen,
dass sie ausbildungsfähig sind. Nur so wird meiner Mei-
nung nach ein Schuh daraus und nicht andersherum.


(Beifall bei der CDU/CSU)






Dr. Carsten Linnemann


(A) (C)



(D)(B)


Zweitens. Es bereitet uns allen Sorgen, dass die duale
Ausbildung seit Monaten, seit Jahren abnimmt. Ich bin
sogar der Meinung, man sollte nicht nur darüber reden,
dass wir am Meisterbrief festhalten – auch das ist ein
Thema, das noch nicht angesprochen wurde –, sondern
wir sollten vielleicht auch darüber reden, dass wir in
dem einen oder anderen Gewerk den Meisterbrief wieder
einführen;


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


denn der Meisterbrief hängt unmittelbar mit der dualen
Ausbildung zusammen. Genau in den Bereichen, in de-
nen wir den Meisterbrief abgeschafft haben, gibt es
kaum noch duale Ausbildung, sie geht zurück. Klar, der
Meisterbrief sichert die Qualität im Betrieb. Aber es ist
wichtig, dass jungen Menschen durch den dualen Aus-
bildungszweig ein Karriereweg eröffnet wird. Wir brau-
chen Auszubildende und Akademiker und nicht nur
Akademiker.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Apropos Akademiker. Ich habe gerade mit einer
Kollegin gesprochen, die im Forschungsministerium
arbeitet. 28 Prozent der Studierenden, die heute ein
Studium beginnen, brechen dieses Studium ab. Das muss
uns zu denken geben.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Bologna lässt grüßen!)


Deshalb freue ich mich, dass die Bundesregierung mit
gutem Beispiel vorangeht und sagt: Wir bringen Projekte
auf den Weg, dass wir es schaffen, einfach, schnell,
zielgerichtet und unbürokratisch den Weg für Studie-
rende, die ihr Studium abgebrochen haben, in die duale
Ausbildung zu ebnen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Zum Schluss noch kurz zu den Älteren. Die Erwerbs-
tätigenquote steigt, ja, aber ein Punkt fehlt in diesem
Fortschrittsbericht – wir werden in wenigen Jahren
sowieso über diesen Punkt reden; ich glaube, wir müssen
jetzt schon über diesen Punkt reden –, und das sind
diejenigen, die das gesetzliche Rentenalter erreichen,
aber freiwillig weiterarbeiten möchten. Das sind in
Deutschland 8 Prozent, in der Regel Selbstständige oder
450-Euro-Jobber. Es gibt aber viele, die gern sozialversi-
cherungspflichtig weiterarbeiten wollen. In anderen
Ländern ist der Prozentsatz höher: In der Schweiz bei-
spielsweise macht das jeder Fünfte, in Norwegen sogar
jeder Vierte. Bei uns sind es nur 8 Prozent. Deswegen
glaube ich – das ist meine feste Überzeugung –: Wir
werden den demografischen Wandel nur meistern kön-
nen, wenn wir nicht nur den Umstand im Blick haben,
dass die Menschen älter werden, sondern wenn wir auch
den Umstand im Blick haben, dass die Menschen im Al-
ter – zumindest viele – fit bleiben. Deshalb, glaube ich,
ist die Debatte um die Flexirente richtig. Wir wollen die-
sen Mentalitätswandel selbst gestalten. Es ist richtig,
dass in Zukunft befristete Arbeitsverträge erlaubt sind,
wenn man freiwillig länger arbeitet.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Warum befristet?)


Deshalb glaube ich, dass das der richtige Weg ist. Diesen
Mentalitätswandel brauchen wir. Die Brechstangenpoli-
tik funktioniert nicht. Wir müssen jetzt die Türen und
Tore für diejenigen öffnen, die länger arbeiten können
und die es auch wollen. Diese Debatte brauchen wir jetzt
und nicht erst in 5, 10 oder 15 Jahren.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809411100

Vielen herzlichen Dank, Herr Dr. Linnemann. –

Letzter Redner in dieser Debatte: Uwe Lagosky für die
CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Uwe Lagosky (CDU):
Rede ID: ID1809411200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Branchen- und regionalspezifisch besteht
Fachkräftebedarf. 2011 verabschiedete die Bundesregie-
rung – das haben wir hier heute schon gehört – das Fach-
kräftesicherungskonzept, damals noch unter Ursula von
der Leyen. Hierzu wird auch der Fortschrittsbericht er-
stellt. Das Konzept wird sicherlich auch mit der aktuel-
len Besetzung im Arbeitsministerium in den nächsten
Jahren weiterentwickelt, weil es eine Grundlage für die
Bundesrepublik Deutschland und die Fachkräfte hier im
Lande bietet.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD])


Es besteht aus fünf Schwerpunkten – wir haben sie
schon einmal gehört; aber zwischenzeitlich gab es hier
einen Besucherwechsel, insofern kann man sie hier noch
einmal nennen –: Aktivierung der Beschäftigungssiche-
rung, bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Bil-
dungschancen für alle von Anfang an, Qualifizierung in
der Aus- und Weiterbildung sowie Integration und quali-
fizierte Zuwanderung. Der aktuelle Fortschrittsbericht
weist in diesen Schwerpunkten in Gänze erneut Verbes-
serungen auf.

Da die Bundesagentur für Arbeit diese Woche zur
Woche der Ausbildung 2015 gemacht hat, konzentriere
ich mich auf drei Beispiele aus diesem Bereich. Seit
2007 sank die Zahl junger Menschen ohne einen Schul-
abschluss von 8,2 Prozent auf 5,7 Prozent in 2013. Das
Ziel einer Weiterbildungsquote von 50 Prozent in den
Betrieben wird 2015 mit 49 Prozent nahezu erreicht. Der
Anteil von Erwachsenen mit Migrationshintergrund im
Alter von 20 bis 29 Jahren ohne qualifizierten Berufs-
abschluss, die sich nicht in einer Ausbildung befinden,
liegt mit 25,4 Prozent immer noch viel zu hoch, ist aber
im Vergleich zu den Vorjahren deutlich niedriger.

Qualifizierte Nachwuchskräfte haben für die wirt-
schaftliche Entwicklung unseres Landes enorme Bedeu-
tung. Darum entfällt auf das Fachkräftekonzept eine





Uwe Lagosky


(A) (C)



(D)(B)


Reihe von Projekten in der Aus- und Weiterbildung. Wir
haben alle Menschen im Blick und wollen auch denjeni-
gen Chancen am Arbeitsmarkt ermöglichen, die bislang
nur geringe Chancen haben, sei es durch die Berufsein-
stiegsbegleitung, die Leistungsschwächeren beim Über-
gang von der Schule in den Beruf helfen soll, oder sei es
mit der Initiative Spätstarter für arbeitslose junge Er-
wachsene ohne Berufsabschluss. Diese wollen wir für
eine abschlussorientierte Qualifizierung gewinnen.

Darüber hinaus übernehmen wir als Bund – auch das
wurde hier schon angesprochen – die BAföG-Kosten
komplett, und zwar mit dem Ziel, dass die Länder diese
Entlastung in Höhe von 1,17 Milliarden Euro in den Bil-
dungsbereich und in die Hochschulen investieren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD])


Für die Union sind berufliche und akademische Bil-
dung gleichwertig. Darum sind wir gut beraten, Jugend-
liche auch über die Vorteile der dualen Ausbildung auf-
zuklären. Von der politischen zur wirtschaftlichen
Perspektive. Laut der DIHK-Befragung Anfang 2014
kann jedes vierte Unternehmen offene Stellen für mehr
als zwei Monate nicht besetzen. Besonders akut sind
diese Probleme in Westdeutschland, vergleichsweise am
geringsten in Ostdeutschland. 37 Prozent der Unterneh-
men sehen ihren wirtschaftlichen Erfolg mangels Fach-
kräften gefährdet – kein Wunder, dass die Personalver-
antwortlichen der Fachkräftesicherung große Priorität
einräumen.

Durch meine Zeit als Betriebsrat kann ich sagen: Hier
gab und gibt es noch eine Menge Potenzial, das
man heben kann: bei der Personalplanung, -beschaffung
und -bindung, der Gestaltung der Arbeitsbedingungen,
der Mitarbeiterqualifikation, der Sicherung betrieblicher
Innovationsfähigkeit und der stetigen Fortentwicklung
der Unternehmensattraktivität. Gerade die Rahmen-
bedingungen, unter denen gearbeitet wird, sind ein
wesentlicher Faktor beim Werben um Personal gewor-
den. Vereinbarkeit von Familie und Beruf, betriebliche
Altersvorsorge, Arbeitsbedingungen, Mitarbeiterzufrie-
denheit, Gesundheitsförderung, Weiterbildungsmöglich-
keiten und Aufstiegschancen spielen für die Beschäftig-
ten heute eine immer größere Rolle. Auf diesen Feldern
können Unternehmen und Firmen durchaus punkten –
prinzipiell. Denn natürlich spielen auch die Mobilität der
Arbeitnehmer und die Frage eine Rolle, was die Region,
in die sie ziehen wollen und in der die Arbeitsplätze
sind, zu bieten hat.

In meinem Wahlkreis, in Salzgitter-Wolfenbüttel, gibt
es neben der Stahl- und Chemieindustrie, der Herstel-
lung von Fahrzeugen für den Lkw- und Schienenver-
kehr, dem Motorenbau und einem die Region prägenden
Automobilhersteller mit Sitz in Wolfsburg zahlreiche
kleine und mittelständische Unternehmen. Zudem weist
die Region deutschlandweit den höchsten Beschäfti-
gungsanteil in Forschung und Entwicklung auf. Um
langfristig zukunftsfähig zu werden und zu bleiben,
schlossen sich verschiedene Akteure zur „Allianz für die
Region“ zusammen. Sie haben erkannt, wie bedeutsam

es ist, regionale Entwicklungen insgesamt am Arbeits-
markt aktiv zu gestalten.

Ich komme zum Schluss. Zusammenfassend gesagt
trägt die Fachkräftesicherung Früchte. Entscheidend ist
sie für die Entwicklung unseres Landes. Packen wir es
an, sie weiterhin voranzutreiben!

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809411300

Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich schließe damit die

Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/4015 und 18/796 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –
Sie sind damit einverstanden. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.

Ich würde Sie bitten, Platz zu nehmen, damit ich den
nächsten Tagesordnungspunkt aufrufen kann.

Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:

Vereinbarte Debatte

zu den Vorkommnissen in Frankfurt anläss-
lich der Einweihung der EZB-Zentrale

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre und
sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Bundesminister Dr. Thomas de Maizière.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
nern:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Am 18. März 2015 fand von 11 bis 14 Uhr die Feier zur
Eröffnung des Neubaus der EZB statt. In diesem Zusam-
menhang waren zahlreiche Demonstrationen angemeldet
worden. Bereits im Vorfeld konnten an den Grenzen
zahlreiche Veranstaltungsteilnehmer festgestellt wer-
den, welche aus der Schweiz, den Niederlanden, Däne-
mark, Griechenland und Italien anreisten. In einem Rei-
sebus aus den Niederlanden wurden Gegenstände, die
als Wurfgeschosse genutzt werden können, sowie
Schlagwerkzeuge beschlagnahmt. Bereits in der Anrei-
sephase am frühen Morgen stellte die Bundespolizei
massive Gleisüberschreitungen von bis zu 400 Personen
fest, welche durch Einsatzkräfte unterbunden wurden.

Im Zusammenhang mit den angemeldeten Versamm-
lungen und Aufzügen kam es im Stadtgebiet zu massi-
ven Ausschreitungen. Seit 5.30 Uhr waren mehrere grö-
ßere gewalttätige Gruppen im Stadtgebiet unterwegs.
Mehrere Straßen und Brücken wurden zeitweise blo-
ckiert und Barrikaden errichtet, die teilweise in Brand
gesetzt wurden. Es kam zu massiven Angriffen auf Poli-
zeibeamte, mit Steinen und Pyrotechnik. Darüber hinaus
erfolgten zahlreiche Inbrandsetzungen von Fahrzeugen,
darunter auch Einsatzfahrzeuge der Polizei.





Bundesminister Dr. Thomas de Maizière


(A) (C)



(D)(B)


Teilweise verfügten die gewalttätigen Demonstranten
über Schutzbewaffnung. Etwa 80 Einsatzkräfte wurden
durch die Freisetzung von ätzenden Flüssigkeiten bzw.
Reizgasen verletzt. Die Störer setzten in der Folge
Schutzmasken auf und schützten sich vor den Gasen. Es
erfolgte auch ein Angriff auf die Polizeistation. Die Poli-
zei setzte mehrfach Wasserwerfer und Pfefferspray zur
Lageberuhigung ein. Einsatzkräfte der Feuerwehr wur-
den bei den Löscharbeiten durch Störer massiv behindert
und mit Steinen attackiert.

Meine Damen und Herren, das ist die nüchterne Spra-
che eines Polizeiberichts. Faktisch war es viel schlim-
mer. Die Gewalttäter haben gestern eine Schneise der
Verwüstung durch die Frankfurter Innenstadt gezogen:
Autos brannten, Blockaden wurden errichtet, dunkle
Rauchsäulen stiegen in den Himmel. Am 1. Polizeirevier
zündeten Vermummte drei Streifenwagen an und warfen
Pflastersteine auf das Polizeigebäude. Pflastersteine
wurden gezielt auf Polizisten geworfen. Die Gewalt hat
gestern ein Ausmaß erreicht, wie es zumindest Frankfurt
noch nie erlebt hat.

Mich hat vor allem das Ausmaß der Verrohung, die
wir gestern erlebt haben, tief erschüttert. Die vorläufige
Bilanz ist verheerend: 150 Polizeibeamte wurden ver-
letzt, einige davon schwer; 55 beschädigte Dienstfahr-
zeuge, 7 weitere in Brand gesetzt; eine Polizeistation
wurde angegriffen; mehrere U-Bahnen wurden „ent-
glast“ – das ist so ein Ausdruck aus der Szene, den ich
schon empörend finde. 293 Platzverweise wurden erteilt.
Gegen 26 Personen wurden Strafverfahren eingeleitet.

Die Gewalttäter machten auch vor gänzlich Unbetei-
ligten nicht Halt: Zahlreiche Ladengeschäfte, Arztpra-
xen, Wohnhäuser wurden demoliert. Der öffentliche
Nahverkehr musste komplett eingestellt werden. Selbst
vor einer Unterkunft für minderjährige Flüchtlinge – ei-
nem Kolpinghaus – hat die blinde Zerstörungswut der
Randalierer nicht haltgemacht. Hier findet Gewalt nur
noch um der Gewalt willen statt, von politischer Aus-
einandersetzung kann da überhaupt nicht mehr die Rede
sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Gezielte Stein- und Flaschenwürfe auf Polizeibeamte,
brennende Fahrzeuge und Straßenbarrikaden haben mit
Demonstrationsfreiheit nichts mehr zu tun.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Diesen Gewalttätern fehlt jeder Respekt vor Leben oder
Gesundheit. Polizistinnen und Polizisten werden von ih-
nen entmenschlicht, zu Hassobjekten gemacht. Wer so
handelt, missbraucht seine Freiheitsrechte und über-
schreitet ganz klar die Grenze, die wir im Rechtsstaat be-
reit sind zu tolerieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber damit nicht genug: Das katastrophale Gesche-
hen ist gestern auch noch öffentlich gerechtfertigt und
verharmlost worden.


(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Ungeheuerlich!)


Ein junger Gewerkschafter aus dem Südwesten relati-
viert das Geschehen – ich zitiere –: Die symbolische Ge-
walt – „symbolische“ Gewalt! –, für die ein Auto in
Flammen steht, ist doch nichts verglichen mit der struk-
turellen Gewalt unseres Wirtschaftssystems.


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das ist ein Skandal! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Ungeheuerlich!)


Ich kenne diese Sprache, aus den 70er-Jahren; sie
kommt mir sehr bekannt vor.

Selbst Verständnis für die Randalierer wurde einge-
fordert. Der Blockupy-Sprecher Christoph Kleine kriti-
sierte den – ich zitiere – massiven Polizeieinsatz, den
Einsatz von Schlagstöcken und Tränengas. – Selbst das
ist nicht alles: Man müsse, so sagt er, eine andere Ge-
schichte erzählen: die Geschichte der Menschen, die den
Mut gehabt hätten, sich diesem Gewaltapparat auszuset-
zen. – Das ist absolut inakzeptabel, meine Damen und
Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Frechheit!)


Solche Äußerungen kommen auch aus dem politi-
schen Bereich. Wenn da etwa eine Politikerin der Partei
Die Linke die gestrigen Krawalle mit dem Maidan in
Kiew vergleicht, macht mich das fassungslos. Solidarität
ist hier wirklich fehl am Platz.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das ist eine Schande! Sie sollten sich schämen dafür!)


Ich erwarte von den Linken hier und heute – Frau
Kipping hat auch eine, wie ich finde, problematische
Äußerung getätigt, die vielleicht aus dem Zusammen-
hang gerissen war – eine klare und unmissverständliche
Distanzierung von dieser Gewalt und jeder Art von Ver-
harmlosung – ohne jede Hintertür.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Das gilt auch für die Organisatoren des Blockupy-Bünd-
nisses. Auch sie sind mitverantwortlich für das, was ges-
tern geschehen ist. Diese Verantwortung muss hier klar
benannt werden.

Das Blockupy-Bündnis beruft sich nun offiziell da-
rauf, dass die gewalttätigen Ausschreitungen nicht Teil
der Planung waren. Ulrich Wilken, hessischer Landtags-
abgeordneter der Linkspartei und Anmelder der Proteste,
sagte, er sei betrübt, er habe sich den Mittwochvormittag
anders gewünscht. Andererseits habe er aber auch gro-
ßes Verständnis für die Wut der Menschen, die von der





Bundesminister Dr. Thomas de Maizière


(A) (C)



(D)(B)


Verelendungspolitik der EZB betroffen seien. – Ich sage
Ihnen: Das war keine spontane Wut, das war seit Mona-
ten geplante, kühl kalkulierte Gewalt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Linker Gewalttourismus ist das!)


Wir haben aus Lautsprecherwagen vor Demonstran-
ten Musik mit folgendem Textteil gehört – die hat man
nicht spontan dabei, sondern die wird mitgebracht – ich
zitiere –: „Wir sind kampfbereit, bis an die Zähne be-
waffnet.“ Wenn man so Demonstranten beschallt, dann
muss man sich über die Reaktionen nicht wundern.

Auch die Beschwichtigungsversuche der Blockupy-
Organisatoren vor Ort sprechen ihre eigene Sprache. Ich
zitiere einen Lautsprecherspruch:

Hört auf, mit Gegenständen zu werfen, das trifft un-
ter Umständen die eigenen Leute in den vorderen
Reihen.

Das verschlägt mir die Sprache.


(Erika Steinbach [CDU/CSU]: Ja!)


Der gestrige Gewaltexzess kam nicht aus heiterem
Himmel. Die Sicherheitsbehörden hatten seit langem
Hinweise darauf, dass die linke Szene diesen Anlass nut-
zen will, um Gewalt auszuüben.


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Warum haben Sie es dann nicht verhindert?)


Auch das Ausmaß der Gewalt spricht dafür, dass solche
Aktionen seit langem geplant waren. Deswegen können
die Veranstalter heute auch nicht so tun, als hätten sie
das überhaupt nicht gewusst.

Schon der Name „Blockupy“ verheißt nichts Friedli-
ches. Das ist eine Kombination eines deutschen und ei-
nes englischen Wortes, eine Kombination aus „Blockie-
ren“ und „Besetzen“. Ich finde, das hat mit friedlicher
Demonstration ziemlich wenig zu tun.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, wir leben in einer wehr-
haften Demokratie. Das heißt, dass sich unser Staat ver-
teidigen darf und verteidigen muss, wenn er und seine
Bürger angegriffen werden. Wenn ein Auto angezündet
wird, in dem zwei Polizisten sitzen, dann reden wir nicht
über Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte oder über
Wutbürger,


(Ulli Nissen [SPD]: Das ist ein Mordversuch!)


sondern vielmehr mindestens von versuchtem Totschlag.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Tod von Polizisten wird hier billigend in Kauf ge-
nommen.

Jeder dieser Angriffe war ein Angriff auf unseren
Rechtsstaat, auf jeden Bürger dieses Landes.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Alle, die sich dabei missbräuchlich auf Freiheitsrechte
berufen, müssen mit der vollen Härte des Rechtsstaates
rechnen. Als Mitglieder des Deutschen Bundestages
– das sind wir alle hier – ist es heute an uns, jedem Ver-
such der Rechtfertigung von allen Fraktionen eine klare
und unmissverständliche Absage zu erteilen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das sollte uns eine Lehre für zukünftige Ereignisse, wie
G-7-Treffen oder anderes, sein.

Wehret den Anfängen! Verharmlost nicht Gewalt!
Macht nicht gemeinsame Sache mit Gewalttätern! Bietet
ihnen keinen Schutz! Rechtfertigt es nicht! Es gibt in un-
serer Demokratie, aus welchem sozialen Protest heraus
und aus welchem Grund auch immer, keinen einzigen
Grund, Gewalt anzuwenden – gegen nichts und nieman-
den. Das muss Konsens in diesem Hause sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich will mit einem Dank und anerkennenden Worten
an alle eingesetzten Polizisten, Feuerwehrleute, THW-
Helfer und anderen Rettungskräfte schließen. Die
Bundespolizei hat allein im Bereich der Bahnpolizei
1 000 Polizeibeamte eingesetzt. Die Polizei des Landes
Hessen wurde von insgesamt über 5 000 Polizisten aus
nahezu allen Bundesländern unterstützt. Hinzu kamen
700 Kräfte der Bundespolizei. Noch während des Einsat-
zes wurden weitere Unterstützungskräfte aus dem ge-
samten Bundesgebiet mobilisiert.

Meine Gedanken sind bei den Polizisten von Bund
und Ländern, die unter Einsatz von Leib und Leben nicht
nur die EZB, sondern vor allem auch die Bürgerinnen
und Bürger in Frankfurt geschützt haben. Meine beson-
dere Anteilnahme gilt den zahlreichen verletzten Polizis-
ten und ihren Angehörigen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir alle haben die Bilder von gestern im Kopf. Wir
sind uns hoffentlich parteiübergreifend einig: Wir ver-
langen verdammt viel von unseren Polizistinnen und
Polizisten. Sie verdienen unseren Respekt und unsere
Anerkennung für die Arbeit, die sie für uns alle und un-
seren Rechtsstaat leisten.

Vielen Dank.


(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809411400

Vielen Dank, Dr. de Maizière. – Das Wort zu einer

Kurzintervention hat die Abgeordnete Heike Hänsel.


(Johannes Kahrs [SPD]: Oh, die brauchen wir jetzt! Will sie sich jetzt entschuldigen? – Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Sie sollte besser nichts sagen oder sich entschuldigen!)







(A) (C)



(D)(B)



Heike Hänsel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809411500

Danke, Frau Präsidentin! – Herr Innenminister, Sie

haben indirekt meinen gestrigen Tweet erwähnt und
eben nicht im Original zitiert. Deshalb möchte ich das
tun, weil Sie ihn interpretiert haben, wie so viele in der
Presse.

Ich habe wortwörtlich geschrieben:

Stimmungsmache der Presse gegen #Blockupy#.
Auf dem Maidan in Kiew waren Rauchschwaden
für die Presse Zeichen der Freiheitsbewegung!


(Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister: Das macht es nicht besser! – Burkhard Lischka [SPD]: Was soll das denn heißen? – Johannes Kahrs [SPD]: Das macht es nicht besser!)


Hier kommen wir nämlich zu einer grundsätzlichen
Diskussion.


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das wird ja noch schlimmer!)


– Könnten Sie bitte zur Ruhe kommen?


(Zurufe von der CDU/CSU: Nein! – Johannes Kahrs [SPD]: Bei so viel Unsinn geht das nicht!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809411600

Liebe Kollegen, lassen Sie doch Frau Hänsel ihre

Rede beenden.


Heike Hänsel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809411700

Das ist sehr bezeichnend für Ihr demokratisches

Grundverständnis.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie kann sich ja zu Wort melden und reden!)


Ich habe die Berichterstattung über Gewaltanwendung
verglichen. Hier gibt es eben Doppelstandards.


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Es ist eine Schande, den Maidan mit Frankfurt zu vergleichen!)


Sie erinnern sich alle: Auf dem Maidan in Kiew wur-
den brennende Barrikaden gebaut.


(Ulli Nissen [SPD]: Was ist das denn für ein Vergleich? – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da wurden aber keine Polizisten angezündet!)


Es gab Schlägertrupps des rechten Sektors, die mit Stö-
cken gegen die Polizei vorgingen. Häuser wurden in
Brand gesetzt. Politiker der CDU und der Grünen sind
dort hingefahren. Die Presse hat darüber berichtet und
diese Gewalt verharmlost.


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die haben keine Polizeiautos mit Polizisten drin angezündet, Frau Hänsel!)


Das sind Doppelstandards in der Berichterstattung über
Gewalt.


(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Das ist ja völliger Blödsinn!)


Das geht nicht. Die Empörung, die Sie hier äußern, ist
nicht glaubwürdig, weil Sie selbst diese Doppelstan-
dards haben.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist nur noch widerlich!)


Ich kann nur sagen: Ich lehne die Gewalt in Frankfurt
ab,


(Ulli Nissen [SPD]: Das ist ja toll! Danke schön!)


wenn sie von Demonstranten und Demonstrantinnen
ausgeht, ich lehne sie in Kiew ab.


(Ulli Nissen [SPD]: Ich bin Abgeordnete! Ich habe gesehen, was in Frankfurt passiert ist!)


Ich lehne auch die Gewalt von Polizisten gegenüber De-
monstranten ab. Über 200 Demonstrantinnen und De-
monstranten sind verletzt.


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Unerhört! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt ist aber Schluss! Sie sollen einen Redebeitrag machen!)


– Lieber Herr Kauder, ich an Ihrer Stelle würde ruhig
sein. Im Rahmen von Stuttgart 21 wurde der ehemalige
Polizeipräsident zu einer Geldstrafe verurteilt,


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Jetzt ist aber gut!)


weil er für den Einsatz von Gewalt verantwortlich war.


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das ist unerträglich!)


Also müssen wir generell über Gewalt sprechen und sie
ablehnen,


(Ulli Nissen [SPD]: Angriff auf Kinder im Flüchtlingsheim: Was ist das?)


nicht nur Gewalt von einer Seite. Wir müssen jede Form
von Gewalt verurteilen, nicht nur die von einer Seite.


(Beifall bei der LINKEN – Johannes Kahrs [SPD]: So viel Schwachsinn habe ich selten gehört!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809411800

Herr Dr. de Maizière, Sie haben die Möglichkeit, da-

rauf drei Minuten lang zu antworten.

Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
nern:

Frau Abgeordnete, Sie selbst haben mit Ihrer Kurz-
intervention sämtliche Vorwürfe, die ich vorgetragen
habe, bestätigt.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das spricht für sich. Ich muss mich hier nicht wiederho-
len.





Bundesminister Dr. Thomas de Maizière


(A) (C)



(D)(B)


Aber eins muss ich als Bundesinnenminister und si-
cher auch im Namen aller Innenminister der Länder
wirklich sagen: Dass Sie hier so tun, als würden Polizei-
beamte, wenn sie die Demonstrationsfreiheit sichern, un-
gerechtfertigt Gewalt anwenden, weise ich für alle
Polizistinnen und Polizisten dieses Landes zurück.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was? Das habe ich selbst erlebt! Unglaublich!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809411900

Letzte Rednerin in der Debatte: Katja Kipping für die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN – Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Sie kann sich erst mal entschuldigen für die Kollegin! Sie kann sich mal für die Kurzintervention entschuldigen! – Gegenruf des Abg. Johannes Kahrs [SPD]: Sie ist doch selber mitgelaufen gestern!)



Katja Kipping (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809412000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich

denke, es ist gut, dass wir uns heute die Zeit nehmen, um
über die gestrigen Ereignisse zu reden, und ich möchte
aus Sicht der Linken dazu Folgendes sagen: Jeder Ver-
letzte – und das gilt gleichermaßen für Verletzte aufsei-
ten der Polizei wie für Verletzte aufseiten des Protestes –
ist ein Verletzter zu viel. Unsere Anteilnahme gilt allen
Verletzten.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das Aktionsbündnis Blockupy hatte sich auf einen
Aktionskonsens verständigt. Dieser sah ausdrücklich
vor, dass von den Massenblockaden keine Eskalation
ausgeht. Leider haben sich nicht alle, die gestern nach
Frankfurt kamen, an diesen Konsens gehalten. Wenn
Autos angezündet und Wartehäuschen demoliert werden,
fehlt mir dafür jedes Verständnis, und das war auch nicht
Teil der Massenblockaden, zu denen Blockupy aufgeru-
fen hat.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Diese Demonstranten – das bewerte ich im Ansatz an-
ders als Sie, Herr de Maizière – sollten vielmehr mit
Mitteln des zivilen Ungehorsams, aber gewaltfrei die Er-
öffnung der EZB symbolisch blockieren, auch in dem
Bewusstsein, dass die Blockierer wahrscheinlich wegge-
tragen werden oder man rechtlich gegen sie vorgeht.
Solche Blockaden haben in diesem Land eine längere
Tradition.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Denken wir nur an Heinrich Böll, der 1983 in Mutlangen
auf einem Hocker saß und weggetragen wurde, als er
sich an einer Sitzblockade gegen die Stationierung der
Pershing-II-Raketen beteiligte.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Oder denken wir an die Blockaden anlässlich von
Castortransporten, an denen beispielhaft bei einzelnen
Atommülltransporten für den Ausstieg aus der Atom-
energie geworben wurde. Am Ende hat der Bundestag
sich diesem Ziel angeschlossen. Ohne die mutige Anti-
atombewegung wären wir vielleicht nicht so schnell zu
dieser Erkenntnis gekommen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ulli Nissen [SPD]: Gestern war das aber nicht friedlich!)


Gemeinsam mit vielen Kolleginnen und Kollegen war
ich gestern als parlamentarische Beobachterin bei den
Blockupy-Protesten dabei. Wir haben uns vielerorts für
Deeskalation eingesetzt.


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Trau, schau, wem! Schau dir die Leute an, mit denen du auf die Straße gehst!)


– Wissen Sie, natürlich war die Linke dabei, und glauben
Sie nur eine Minute lang, es wäre besser gewesen, wenn
wir uns nicht für Deeskalation eingesetzt hätten?


(Beifall bei der LINKEN – Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Der Friedensengel von Frankfurt!)


Wir haben außerdem gestern über den gesamten Tag
einen deutlich anderen Eindruck von den Protesten ge-
winnen können. Der übergroße Teil der Menschen, die
gestern nach Frankfurt kamen, wollte entschieden, aber
gewaltfrei gegen Austerität und für ein anderes Europa
demonstrieren. Davon zeugten viele selbst gemalte in-
haltliche Schilder, Reden auf Kundgebungen, Straßen-
theateraktionen und ja, am Ende eine friedliche Demon-
stration von 20 000 Menschen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ziel war, angesichts der EZB deutlich zu machen,
dass die Eröffnung des Luxusbaus kein Grund zum Fei-
ern, sondern zum Protestieren ist. Für diesen Protest gibt
es gute inhaltliche Gründe, und über diese Gründe ge-
hört gesprochen; denn sie waren das Verbindende bei
den Blockupy-Protesten.

Die EZB steht als ein Teil der Troika für die bisherige
Krisenpolitik. Gestern berichteten viele junge Menschen
aus Krisenländern von den verheerenden Folgen der
Troika-Politik. So erzählte ein Podemos-Mitglied davon,
dass es infolge der Krisenpolitik in Spanien zu 1 Million
Zwangsräumungen gekommen ist. Das heißt, 1 Million
Familien, darunter viele Familien mit Kindern, müssen
sich jetzt ohne eine sichere Bleibe durchs Leben schla-
gen.

Ja, Austerität heißt für viele Menschen in den Krisen-
ländern unsoziale Verarmungspolitik und wird somit zur
materiellen Gewalt.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Ulli Nissen [SPD]: Aber die Gewalt hat davon abgelenkt! Das ist doch das Schlimme!)







(A) (C)



(D)(B)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809412100

Frau Kipping, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder

-bemerkung des Kollegen Weiler von der CDU/CSU-
Fraktion?


Katja Kipping (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809412200

Gerne.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809412300

Herr Weiler, bitte.


Albert Weiler (CDU):
Rede ID: ID1809412400

Frau Kipping, eine „parlamentarische Beobachtungs-

gruppe“ – das gibt mir jetzt ein bisschen zu denken. Eine
parlamentarische Beobachtungsgruppe hat für mich ei-
nen offiziellen Anschein. Können Sie mir die Frage be-
antworten, ob der Parlamentspräsident oder einer seiner
Stellvertreter Sie als parlamentarische Beobachtungs-
gruppe beauftragt hat, diese Demonstration zu beobach-
ten?

Wir hatten gestern Plenartag. Das heißt, der Abgeord-
nete ist eigentlich verpflichtet, dem Plenum beizuwoh-
nen. Sie aber fahren nach Frankfurt und schauen dort
während eines Plenartages den Demonstrationen zu.

Ich gehe davon aus, dass Sie dem Plenum nicht bei-
wohnen konnten, weil Sie in Frankfurt den Demonstra-
tionen zugeschaut haben. Jetzt noch einmal die Frage:
War das von einem der Parlamentspräsidenten geneh-
migt? Ich möchte nicht haben, dass so etwas einen öf-
fentlichen Anstrich hat, wenn es eigentlich doch nicht
öffentlich ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809412500

Frau Kipping, bitte zur Antwort.


Katja Kipping (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809412600

Schon Ihre Frage ist bezeichnend, wie viele Aussa-

gen, die wir getroffen haben, von Ihnen auch vollkom-
men verzerrt wiedergegeben werden. Wir sind nicht als
eine parlamentarische Gruppe hingegangen, sondern wir
haben uns als gewählte Parlamentarier – –


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: So haben Sie es doch gesagt!)


Ich habe gesagt – hören Sie mir doch mal zu –, wir wa-
ren als parlamentarische Beobachterinnen unterwegs,
und als gewählte Parlamentarier ist es unser Recht, das
Gespräch mit Menschen zu suchen. Ich weiß, dass ges-
tern viele Leute auf uns zugekommen sind, wenn sie uns
in den Westen erkannt haben; sie waren froh, dass sie In-
formationen loswerden konnten, wo es Probleme gab,
etc. Wir haben natürlich versucht, in Situationen, in de-
nen es eskalierte, zu vermitteln, um weitere Verletzte zu
vermeiden.


(Beifall bei der LINKEN – Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das ist aber gewaltig schiefgegangen, Frau Kipping!)


Auf jeden Fall haben wir uns über den gesamten Tag
direkt vor Ort einen Eindruck gemacht und sprechen hier
nicht nur unter dem Eindruck von einigen sehr schreckli-
chen Bildern. Ein Plakat mit dem Slogan „Austerität tö-
tet“, wie man es gestern zu sehen bekam, das mag jetzt
nicht jedermanns Geschmack sein. Aber wer einmal ge-
hört hat, wie sehr die Selbstmordversuche von Jugendli-
chen in Griechenland im Zuge der Kürzungsauflagen
zugenommen haben, der versteht vielleicht die Ver-
zweiflung hinter diesen Worten.

Die Frage ist nun: Wie gehen wir mit den Blockupy-
Protesten um? Sicherlich kann man die Gewaltübergriffe
einiger nutzen, um die gesamten Proteste zu delegitimie-
ren. Aber wollen wir wirklich einer kleinen Gruppe von
gewalttätigen Trittbrettfahrern die Definitionshoheit
über den Protest von 20 000 Menschen überlassen?


(Beifall bei der LINKEN)


Es gäbe auch die Möglichkeit, sich für einen anderen
Umgang zu entscheiden. Wie wäre es damit, hinzuhören,
was junge Menschen aus den Krisenländern zu berichten
haben? Vielleicht könnte man beim Hinschauen wahr-
nehmen, dass sich diese Proteste eben nicht auf einige
schreckliche Bilder reduzieren lassen, sondern dass eine
neue Generation in Europa auftritt, die sich klar gegen
Rassismus und gegen Nationalismus ausspricht, und
dass da eine neue Generation heranwächst, die aus tiefs-
ter innerer Überzeugung Europa als grenzüberschreiten-
des Projekt leben möchte, die aber unter den Auswirkun-
gen der herrschenden Europapolitik leidet.

Sie müssen das heute nicht eingestehen. Ich glaube,
Sie haben für die heutige Debatte ein anderes Drehbuch
im Kopf. Aber vielleicht könnte, wenn man bei den Be-
richten aus den Krisenländern hinhört, bei dem einen
oder anderen ja doch die Erkenntnis wachsen, dass sich
ein Weiter-so in Europa verbietet. Vielleicht könnte die
Erkenntnis wachsen, dass Europa nur eine Chance hat,
wenn es wirklich sozial und demokratisch wird.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809412700

Danke, Frau Kollegin Kipping. – Nächster Redner in

der Debatte ist Johannes Kahrs für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Johannes Kahrs (SPD):
Rede ID: ID1809412800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich glaube, dass der Bundesinnenminister hier
eben ganz klar gesagt hat, was man von dem gewalttäti-
gen Teil der Demonstration zu halten hat. Gewalt ist kein
Mittel der politischen Auseinandersetzung. Das, was da
gestern in Frankfurt gelaufen ist, war inakzeptabel. Ir-
gendwelche irren Vollpfosten, die Gewalt gegen Polizis-
ten, gegen Sanitäter, gegen das THW und andere
ausüben, sind nicht diejenigen, die wir inhaltlich und
politisch ernst nehmen müssen. Das sind schlicht und
einfach Zustände, die wir nicht akzeptieren. Diese Men-





Johannes Kahrs


(A) (C)



(D)(B)


schen sind ein Fall für die Justiz. Ich meine, dass sie ent-
sprechend der Justiz zugeführt werden sollten.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Selbstverständlich gebührt unser Dank auch all denje-
nigen, die da gestanden und dafür gesorgt haben, dass
diese wehrhafte Demokratie auch wirklich wehrhaft ist
und dass die Menschen, die dort waren, die Anwohner
und andere, geschützt worden sind.

Ich halte das alles für inakzeptabel. Wer das gestern
verfolgt hat, weiß, dass man so etwas in Deutschland
weder dulden noch unterstützen sollte. Deswegen ist das,
was die Linke in den letzten Tagen zu diesem Thema
zum Besten gegeben hat – heute konnten wir das teil-
weise auch wieder hören, obwohl man merkt, dass ihre
Abgeordneten zurückrudern –, einfach nur peinlich. Ich
glaube, dass wir alle wissen, wie ihr Verhältnis zur Ge-
walt ist. Man weiß ja, mit wem sie ansonsten demon-
strieren.


(Katja Kipping [DIE LINKE]: Mit der Gewerkschaft!)


Deswegen ist das für uns kein Anlass, darüber nachzu-
denken, ob die Politik falsch ist. Vielmehr ist es schlicht
und einfach so, dass wir alle wissen, dass das, was ges-
tern Vormittag gelaufen ist, in einem demokratischen
Rechtsstaat schlichtweg nicht akzeptabel ist.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Gleichzeitig ist es natürlich so, dass es vollkommen in
Ordnung ist, wenn Zehntausende von Menschen fried-
lich demonstrieren wollen. Man kann, was die EZB an-
geht, was die Politik in Europa angeht, durchaus geteilter
Meinung sein; das ist vollkommen in Ordnung. Jeder-
mann kann dazu aufrufen, zu demonstrieren. Jeder kann
demonstrieren.

Wenn Blockupy so eine Demonstration organisiert,
dann ist diese Organisation auch mit dafür verantwort-
lich, wie sie abläuft. Dann sind natürlich auch diejeni-
gen, die dazu aufgerufen haben, mit dafür verantwort-
lich, wie es abläuft. Deswegen kann man diesem Verein
eigentlich nur noch empfehlen, sich aufzulösen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Im Ergebnis ist es so, dass dort gegen eine Politik de-
monstriert worden ist, gegen die man demonstrieren
kann. Aber man muss auch dazusagen, dass die EZB
vielleicht der falsche Buhmann ist. Vielleicht kann man
einmal kurz auf die Sachebene gehen. Es ist so, dass die
Zinsen im Euro-Raum auf einem historischen Tiefst-
stand sind. Die Renditen für Staatsanleihen der Euro-
Staaten sind wieder gesunken. Das kann man differen-
ziert bewerten; aber eins ist klar: Der Spardruck in den
Krisenländern wäre noch viel höher gewesen, wenn die
EZB nicht für niedrige Zinsen gesorgt hätte. Länder wie
Portugal, Spanien, Italien und auch Griechenland hätten
viel mehr in ihren Haushalten einsparen müssen, die So-
zialleistungen wären deutlich mehr unter Druck gekom-
men, wenn die Zinsen nicht so niedrig wären.

Wir Deutsche haben immer gewollt, dass die Europäi-
sche Zentralbank so ist, wie sie ist: eine starke Zentral-
bank nach dem Vorbild der Bundesbank, politisch unab-
hängig und mit dem klaren Auftrag, für Preisstabilität zu
sorgen und die Inflationsrate niedrig zu halten. Das wa-
ren die Bedingungen, unter denen wir alle angetreten
sind; das wollen wir. Wenn man eine Europäische Zen-
tralbank haben möchte, die unabhängig ist, dann muss
man auch damit leben, dass sie unabhängige Entschei-
dungen trifft. Sie können einem gefallen oder eben auch
nicht, dagegen kann man gerne auch demonstrieren –
aber eben nicht so. Das muss man, glaube ich, unter-
scheiden. Da ist ein Hauch geistige Trennschärfe ge-
fragt.

Das, was gestern Vormittag stattgefunden hat, die un-
akzeptable Gewalt, die stattgefunden hat, das, was da
auch mit Unterstützung von Blockupy und den Linken
gelaufen ist, das geht alles nicht. Das wissen wir. Das ha-
ben wir alle mitbekommen. Das ist klar. Dass andere da-
gegen demonstrieren, das ist in Ordnung. Jeder hat ir-
gendwann einmal gegen irgendetwas demonstriert.
Meine erste Demonstration war gegen die Scientologen,
die sich in Hamburg breitgemacht haben. Es war eine
gute Geschichte; das kann man immer machen; es lohnt
sich.

Trotzdem ist es so, dass die Europäische Zentralbank
einen Auftrag hat. Jetzt gegen die Europäische Zentral-
bank zu demonstrieren, wenn man gegen die herr-
schende Europapolitik vorgehen will, ist völlig absurd.
Da gibt es ganz andere, gegen die man demonstrieren
könnte. Man könnte sich zum Beispiel einmal mit der
Politik in den Krisenländern selber auseinandersetzen.
Wie ist es zu der Immobilienblase in Spanien gekom-
men? Warum sind die Zustände in Griechenland so? Was
haben die griechischen Regierungen in den letzten
20 Jahren denn veranstaltet? Was haben sie gemacht, da-
mit Griechenland in den Euro-Raum kommt? Wie ist es
zu der Verschuldung gekommen? Das ist doch nicht die
Schuld der Europäischen Zentralbank oder der Troika.
Vielmehr diskutieren wir hier im Deutschen Bundestag,
und wir helfen, damit die Folgen dieser Politik geheilt
werden können. Wir helfen solidarisch den anderen
Staaten in Europa.

Wenn man anderer Meinung ist, ist das vollkommen
in Ordnung. Aber das, was die Linke hier veranstaltet,
was Blockupy abgezogen hat, was da gestern in Frank-
furt gelaufen ist – Gewalt gegen Polizisten, Sanitäter,
THW und andere, brennende Polizeiwagen –, das geht
nicht. Solche Vollpfosten gehören nicht auf die Straße;
sie gehören vor Gericht.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809412900

Vielen Dank, Herr Kollege Kahrs. – Nächste Redne-

rin in der Debatte: Irene Mihalic für Bündnis 90/Die
Grünen.






(A) (C)



(D)(B)



Dr. Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809413000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Uns alle macht es natürlich fassungslos, dass
Menschen, die von sich behaupten, sich für eine bessere
Welt einzusetzen, den simplen und stumpfen Weg der
Gewalt gehen; denn das, was am Ende bleibt, konnten
wir eindrucksvoll sehen: Das sind brennende Einsatz-
fahrzeuge, zerstörte öffentliche Einrichtungen, viele ver-
letzte Menschen in Zivil und in Uniform. Das ist nicht
die Welt, für die wir uns einsetzen. In so einer Welt
möchte ich nicht leben, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Unerträglich ist für mich auch der Zynismus, der zum
Teil aufseiten der Veranstalter geäußert wurde:


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: „Zynismus“ ist das richtige Wort!)


Man habe das anders geplant, man sei entsetzt und be-
stürzt, man habe – jetzt kommt das große Aber – aber
auch Verständnis für die Wut und für die Empörung;
viele Leute hätten den Polizeieinsatz eben als Provo-
kation und als Herausforderung begriffen. Ja, Entschul-
digung! Jemandem, der sich so erklärt, kann ich das Be-
dauern nicht abnehmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)


Dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Linken, den Aufruf von Blockupy mit unterschrieben
haben,


(Zuruf der Abg. Katja Kipping [DIE LINKE])


zeigt einfach noch einmal sehr eindrucksvoll, welches
Verhältnis Sie zu Europa haben. Die Europäische Union
als größtes Friedens- und Freiheitsprojekt der letzten
70 Jahre


(Zurufe von der LINKEN)


hat sicherlich ganz viele Fehler – da sind wir uns auch in
Teilen einig –, sie aber als „autoritäres Regime“ und
Deutschland als „Herz der Bestie“ zu bezeichnen, wie in
diesem Aufruf geschehen, geht gar nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)


Was haben denn bitte die Einsatzkräfte mit der Euro-
päischen Zentralbank und der Austeritätspolitik zu tun?
Sie sind nicht die Wachhunde des Finanzkapitalismus,
sondern sie sind Teil unserer Gesellschaft. Polizeibeam-
tinnen und Polizeibeamte schützen Menschen, Sachen
und Grundrechte wie das hohe Gut der Versammlungs-
freiheit. Ihnen gelten unser Dank und unser Respekt,
dass sie sich dafür einsetzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wer die Polizei zur Projektionsfläche seines Hasses
macht, bricht dem Finanzmarktkapitalismus im Übrigen

nicht den geringsten Zacken aus der Krone, trägt aber
zerstörerische Gewalt mitten in diese Gesellschaft, liebe
Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)


Natürlich müssen wir uns auch genau ansehen, wie
der Polizeieinsatz gelaufen ist, ob das Einsatzkonzept
das richtige war, ob es auch Fehlverhalten aufseiten der
Beamten gegeben hat. Diese Nachbereitung wird statt-
finden. Wir müssen auch die Debatte über Ausstattung
und Personal bei der Polizei führen – und das auch nicht
erst seit gestern.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das machen wir auch nicht erst seit gestern!)


Aber heute geht es darum, scharf und unmissverständ-
lich die gewaltsamen Ausschreitungen in Frankfurt zu
thematisieren.


(Ulli Nissen [SPD]: Völlig richtig!)


Die richtige Botschaft, die von diesen Protesten eigent-
lich ausgehen sollte, ist dabei völlig untergegangen, und
das tut mir in der Seele weh;


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


denn wir brauchen eine friedliche Bewegung, die auch
den Mut hat, die verheerende Sparpolitik in Europa
scharf zu kritisieren, die immer wieder daran erinnert,
dass jedes Wirtschaftssystem sich daran messen lassen
muss, ob es den Menschen nützt und nicht umgekehrt,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulli Nissen [SPD])


die dringend darauf pocht, dass in einer Demokratie
nicht nur Machthaber, sondern vor allem politische
Inhalte wählbar bleiben müssen. Weder Banken noch
Sparzwänge sind der Souverän, sondern es sind die Bür-
gerinnen und Bürger, und damit muss sich auch diese
Bundesregierung auseinandersetzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Diesen wichtigen Zielen wurde durch die gewalttäti-
gen Ausschreitungen gestern ein Bärendienst erwiesen.
Die Sprecher von Blockupy sollten sich daher nicht nur
in lauen Worten von der Gewalt distanzieren, sondern
vor allem wirksam dafür sorgen, dass Gruppen, die Ge-
walt als legitimes Mittel des Protestes ansehen, nicht
Teil eines solchen Bündnisses werden können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD – Zuruf der Abg. Katja Kipping [DIE LINKE])


Hier muss ganz klar differenziert werden. Diese Diffe-
renzierung müssen wir einfordern.

Ich finde, diese Differenzierung kann man aber auch
von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/





Irene Mihalic


(A) (C)



(D)(B)


CSU, erwarten. Ich kann mich noch sehr gut an die Ho-
gesa-Debatte erinnern – es ist noch nicht so lange her –,
die wir im Innenausschuss geführt haben. Da konnten
Sie gar nicht genug differenzieren. Sie konnten nicht ge-
nug differenzieren zwischen den ehrbaren Bürgerinnen
und Bürgern, die nur Angst vor dem Salafismus haben,


(Beifall des Abg. Gerold Reichenbach [SPD])


und den aus Ihrer Sicht einigen wenigen gewaltbereiten
Hooligans und wenigen Neonazis, die da unterwegs wa-
ren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das ist für mich jetzt eine ziemliche Verdrehung!)


Und was tun Sie jetzt? Jetzt versuchen Sie, die ge-
samte Protestbewegung zu diskreditieren: den Deut-
schen Gewerkschaftsbund, Attac und alle demokrati-
schen Parteien, die in Frankfurt waren.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Die Jugend!)


Für Sie sind das alles jetzt offenbar gewaltbereite Chao-
ten, die das Versammlungsrecht missbrauchen.


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Wenn aber die Gewerkschaften zynische Äußerungen machen!)


– Das erzählen Sie mal den Tausenden Demonstrantin-
nen und Demonstranten, die gestern vollkommen fried-
lich am Frankfurter Römer an der Kundgebung teilge-
nommen haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Ulli Nissen [SPD]: Mein Sohn war dabei!)


Da kann ich nur sagen: Ganz dünnes Eis, liebe Kollegin-
nen und Kollegen.

Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Das staatliche
Gewaltmonopol – da komme ich auf den Polizeieinsatz
zu sprechen – ist eine wichtige Errungenschaft im demo-
kratischen Rechtsstaat. Deswegen können Gewalt und
mutwillige Zerstörung von Sachen auch nie legitime
Mittel von politischen Auseinandersetzungen sein.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809413100

Das Wort hat der Kollege Stephan Mayer für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1809413200

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-

ginnen! Sehr geehrte Kollegen! Wir von der CDU/CSU-

Bundestagsfraktion sind entsetzt über das Ausmaß der
Gewalt und insbesondere über den hohen Grad an Pro-
fessionalität und die kriminelle Energie, die wir gestern
anlässlich der Eröffnung des Neubaus der EZB in Frank-
furt am Main erlebt haben. Mittlerweile wird das Aus-
maß dieser Gewaltexzesse immer deutlicher. Es gab
schon lange vor dem gestrigen Tag im Raum Frankfurt
eine deutliche Zunahme an Straftaten, die offensichtlich
im Zusammenhang mit den Blockupy-Protesten standen,
wie etwa eine Brandstiftung mit einem erheblichen
Sachschaden. Es stimmt also nicht, wie manche behaup-
ten, dass sich diese Ausschreitungen gestern zufällig
oder aus einer Laune heraus entwickelt haben. Sie waren
vielmehr von langer Hand geplant.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809413300

Kollege Mayer, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-

kung der Kollegin Leidig?


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1809413400

Selbstverständlich. Sehr gerne.


Sabine Leidig (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809413500

Kollege Mayer, ich möchte Sie fragen, warum dieser

auch aus meiner Sicht völlig inakzeptable Einsatz von
Gewalt, diese Zerstörung, diese Randale, aus Ihrer Sicht
eine so viel größere Bedeutung haben als die vergleich-
bare Gewalt bei anderen Ereignissen. Ich komme des-
halb darauf, weil ich gestern neben zwei Polizeibeamten
stand und der eine zum anderen sagte: Das hier ist ei-
gentlich gar nichts gegen die Hooligans in Berlin. – Das
habe ich überhaupt nicht verstanden, habe jetzt aber
nachgeschaut: Vor drei Tagen gab es in Berlin bei einem
regionalen Fußballspiel wohl mächtige Randale, bei der
143 Polizeibeamte teils schwer verletzt worden sind.


(Charles M. Huber [CDU/CSU]: Ich verstehe den Zusammenhang nicht!)


Ich verstehe einfach nicht, warum diese Gewalt gegen
Polizisten hier überhaupt keine Rolle spielt


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Doch! Das spielt für uns auch eine Rolle!)


und warum Sie die Gewalt gegen Polizisten, die in
Frankfurt stattgefunden hat und die ich genauso ablehne
wie Sie, hier sozusagen zum Politikum machen. Das ist
mir nicht klar.


(Beifall bei der LINKEN)



Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1809413600

Sehr verehrte Frau Kollegin Leidig, ich weiß gar

nicht, wie Sie darauf kommen, dass wir die Gewalt ge-
gen Polizeibeamte an anderer Stelle relativieren.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Es gibt keine Vereinbarte Debatte dazu!)


Das tun wir in keiner Weise. Die CDU/CSU ist die ein-
zige Fraktion, die sich überall und vollumfänglich klar
gegen jegliche Gewalt gegen Polizeibeamte ausspricht
und diese in aller Deutlichkeit verurteilt.


(Beifall bei der CDU/CSU)






Stephan Mayer (Altötting)



(A) (C)



(D)(B)


Ich weiß gar nicht, wie Sie darauf kommen, dass hier die
eine oder andere Gewalttat gegen Polizeibeamte relati-
viert wird oder als eher akzeptabel befunden wird als die
Gewalttaten, die gestern stattgefunden haben. Wir sind
eine wehrhafte Demokratie. Ich möchte Sie fragen, sehr
verehrte Frau Kollegin – Sie waren wahrscheinlich ges-
tern „parlamentarische Beobachterin“; das ist offenbar
ein neuer Terminus technicus, der Eingang in unsere Ge-
schäftsordnung finden sollte –,


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)


wie Sie überhaupt darauf kommen, dass wir in irgendei-
ner Weise Gewalt gegen Polizeibeamte relativieren. Das
eine ist nicht besser als das andere.

Ich darf bei dieser Gelegenheit auch Ihnen, werte
Kollegin Mihalic, klar sagen: Ich weiß nicht, wie Sie
darauf kommen, dass bei der Befassung des Innenaus-
schusses des Deutschen Bundestages mit den Hogesa-
Krawallen ein Vertreter der Unionsfraktion zur Differen-
zierung aufgerufen hat. Das trifft einfach nicht zu, Frau
Kollegin Mihalic, in keiner Weise.


(Beifall bei der CDU/CSU – Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das können wir ja noch einmal erörtern!)


Sie verwechseln hier vielleicht Hogesa mit Pegida; das
ist meine Mutmaßung.


(Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!)


Im Zusammenhang mit Pegida haben auch Unionskolle-
gen immer wieder zu Recht darauf hingewiesen, dass
man sehr wohl differenzieren muss. Aber um das noch
einmal klarzumachen: Was Hogesa in Köln veranstaltet
hat, das war brutale Gewalt, das stand in keiner Weise
in Einklang mit unserem Rechtsstaat, das war eine
Verrohung ungeahnten Ausmaßes. Das ist in vollem
Umfang – hier gibt es in keiner Weise irgendetwas zu re-
lativieren – zu verurteilen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, zu
den gestrigen Ausschreitungen: Es gab die Errichtung
von Barrikaden. Es sind zahlreiche Mülltonnen und
Autoreifen in Brand gesetzt worden. Insgesamt sind
150 Polizeibeamte verletzt worden, zwei davon schwer,
die nach wie vor dienstunfähig sind. Es sind insgesamt
65 Polizeifahrzeuge beschädigt worden, 7 davon in
Brand gesetzt worden. Es kam zu Beschädigungen zahl-
reicher Ausrüstungsgegenstände und weiterer Einsatz-
mittel. Es gibt also einen immensen Sachschaden, der zu
verzeichnen ist. In der Dunkelheit wurden auch noch die
Piloten eines Polizeihubschraubers mit Laserpointern
attackiert. Es kamen viele weitere Rettungskräfte,
Feuerwehrmitarbeiter, aber auch Einsatzkräfte des Tech-
nischen Hilfswerks in Bedrängnis. Es gab viele Unbetei-
ligte, die schwer verunsichert waren, die bespuckt und
beleidigt wurden. Bei den Polizeibeamten kam es zu
zahlreichen Schnittverletzungen und Knöchelverletzun-
gen.

Das, was sich gestern in Frankfurt ereignet hat, ist für
unsere Demokratie beschämend. Das ist eines modernen
Rechtsstaates wie Deutschland nicht würdig. Es gilt, in
ganz deutlicher und unumschränkter Art und Weise klar-
zumachen: Wir lassen dies mit uns nicht machen. Wir
lassen die Gewalt, die Verrohung und die zunehmende
Brutalität nicht zu. Dem gilt es deutlich Einhalt zu gebie-
ten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, es
ist das gute Recht von jedermann, sich nach unserem
Grundgesetz friedlich und ohne Waffen zu versammeln.
Natürlich ist das Versammlungs- und Demonstrations-
recht ein zentrales Grundrecht in unserer Demokratie.
Aber wenn wir uns die Bilder von Frankfurt vor Augen
führen, dann stellt sich die Frage, ob das noch mit den
Vorstellungen in Einklang zu bringen ist, die die Väter
unseres Grundgesetzes von dem Grundrecht auf
Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit hatten. Wir
erkennen, dass dies gestern bedauerlicherweise kein Ein-
zelfall war.


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Es gibt eine zunehmende Verrohung und eine zuneh-
mende Brutalität insbesondere in der Auseinanderset-
zung mit Polizeibeamten: gestern in Frankfurt, häufiger
aber auch hier in Berlin und andernorts in Deutschland.


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Am 1. Mai ist es wieder in Berlin!)


Wir sehen, dass dies in keiner Weise zu relativieren und
zu erklären ist mit berechtigter Kritik an der EZB, Herr
Kollege Kahrs, die man durchaus vornehmen kann. Ich
warne davor – um dies klar zu sagen –, dass man mit ei-
nem zu starken Strapazieren dieser durchaus möglichen
Kritik an der EZB oder, wie es die Kollegin Kipping ge-
sagt hat, mit dem deutlichen und berechtigten Hinweis
darauf, dass es soziale Missstände in Südeuropa gibt, die
Gewalttaten und Gewaltexzesse, die gestern stattgefun-
den haben, relativiert. Dem gilt es deutlich entgegen-
zutreten. Ich zitiere hier den Sprecher der Blockupy-
Bewegung, Frederic Wester, der gestern gesagt hat: Man
muss auch feststellen, dass offensichtlich das Bürger-
kriegsszenario, das die Polizei aufgemacht hat, von
vielen Leuten als Herausforderung und Provokation
empfunden wurde. – Die große Gefahr besteht darin,
dass diese Gewaltexzesse, diese Brutalität, der Gewalt-
tourismus, der mittlerweile stattfindet, relativiert werden
und wegen der berechtigten Kritik an anderen Zuständen
als durchaus verständlich erachtet werden. Diesem ge-
sellschaftlichen Phänomen in Deutschland gilt es entge-
genzutreten.

Wir stellen in Deutschland fest, dass insbesondere die
Akzeptanz von Polizeibeamten bedauerlicherweise ab-
nimmt, dass die Aggression gegenüber Polizeibeamten
zunimmt und der Respekt und die Anerkennung deutlich
zurückgehen. Deswegen sind wir als Vertreter des
deutschen Volkes aufgerufen, klarzumachen, dass Poli-
zeibeamte, egal ob sie gestern in Frankfurt zum Einsatz
kamen oder ob sie anderswo zum Einsatz kommen,





Stephan Mayer (Altötting)



(A) (C)



(D)(B)


Repräsentanten unseres Staates, Repräsentanten von uns
allen sind. Ich möchte an dieser Stelle allen Einsatzkräf-
ten, die gestern in Frankfurt waren, in aller Deutlichkeit
namens der Bundestagsfraktion der Union für ihren Ein-
satz danken.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie standen letzten Endes für uns.

Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, die
Frage ist jetzt, wie wir mit den Erscheinungen von ges-
tern umgehen und welche Schlüsse wir als Politiker da-
raus ziehen. Zum einen bin ich der festen Überzeugung,
dass es – neben einem klaren Bekenntnis zur Arbeit der
Polizeikräfte und der sonstigen Rettungskräfte – einer
besseren Ausstattung unserer Polizeibeamtinnen und
Polizeibeamten bedarf. Ich bin der Bundesregierung sehr
dankbar, dass sie gestern im Bundeskabinett auf Betrei-
ben unseres Bundesinnenministers und des Bundes-
finanzministers ein Eckwertepapier mit dem Ergebnis
verabschiedet hat, dass es in den nächsten vier Jahren ei-
nen deutlichen Aufwuchs bei den Mitteln für die Aus-
stattung unserer Sicherheitskräfte auf Bundesebene ge-
ben wird: insgesamt 328 Millionen Euro, davon
200 Millionen Euro für eine bessere Sachausstattung,
etwa für eine bessere persönliche Schutzausstattung, für
Sicherheits- und Schutzwesten, aber auch für eine bes-
sere Ausstattung der Polizeiwagen. Dies ist ein klares,
ein deutliches und erfreuliches Signal der Bundesregie-
rung, für das wir sehr dankbar sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir müssen uns auch darüber Gedanken machen, wo
wir gesetzgeberisch nachbessern müssen. Ich bin der
festen Überzeugung, dass es auch einer Evaluierung des
Straftatbestands des Widerstands gegen Vollstreckungs-
beamte, gegen Polizeibeamte und sonstige Rettungs-
kräfte, bedarf. Der Strafrahmen ist dabei sicherlich nicht
allein das Entscheidende. Wir müssen, sowohl, was den
Strafrahmen anbelangt, als auch, was das Unwerturteil
anbelangt, im Strafgesetzbuch deutlich machen, dass der
Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Feuerwehr-
kräfte und THW-Helfer keine Bagatelle, kein Kavaliers-
delikt ist, sondern mit der vollen Härte des Strafrechts zu
ahnden ist.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich darf deshalb mit dem klaren Bekenntnis abschlie-
ßen, dass es in Deutschland natürlich ein sehr hohes und
schützenswertes Grundrecht für jedermann ist, sich
friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Aber unsere
Antwort auf solche Gewaltexzesse, auf eine derartige
Verrohung und Brutalität, wie wir sie gestern in Frank-
furt erlebt haben, ist die volle Härte des Rechtsstaats.
Dafür sollten wir uns als Deutscher Bundestag in aller
Deutlichkeit aussprechen.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809413700

Das Wort hat der Kollege Burkhard Lischka für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Burkhard Lischka (SPD):
Rede ID: ID1809413800

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bunt

und laut sollten die Proteste gestern in Frankfurt sein.
Ich sage bewusst am Anfang: Ja, wir können in einer De-
mokratie stolz sein, wenn sich Menschen einmischen
wollen, und zwar auch bunt und laut, wenn sie sich en-
gagieren, wenn sie für ihre Anliegen auf die Straße ge-
hen. Die Demokratie ist übrigens die einzige Staatsform,
in der man auf den Staat und seine Institutionen schimp-
fen darf. Es zeichnet eben eine Demokratie aus, dass sie
sich auch beschimpfen lässt. Auch harte Kritik an Ban-
ken ist nichts Unanständiges. All das ist selbstverständ-
lich.

Genauso selbstverständlich ist aber auch, dass eine
Demokratie nur mit einem Wettbewerb der Argumente
funktionieren kann, dass man sich in der Sache hart, aber
friedlich auseinandersetzt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wer diese Grundregel missachtet, zerstört die Grundlage
einer freien Gesellschaft. Gewalt zur Durchsetzung poli-
tischer Ziele und demokratischer Diskurs schließen sich
aus.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wer wahllos Müllcontainer und Autos anzündet und auf
Polizisten einprügelt, nur weil sie Polizisten sind, verrät
deshalb die Demokratie; er verachtet sie.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Genau so ist es!)


Er ist kein Demokrat, sondern er ist ein Krimineller.
Deshalb: Diejenigen Polizisten, Feuerwehrleute und Sa-
nitäter, die gestern ihren Kopf hingehalten haben, haben
wahrlich nicht nur ihren Job getan; sie haben uns alle
und unsere Werte verteidigt, und dafür verdienen sie un-
seren Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Jetzt geht es zunächst einmal darum, gegen die gestri-
gen Gewalttäter entschieden vorzugehen; das ist die
Aufgabe von Polizei und Justiz. Helmut Schmidt, unser
Altkanzler, wurde einmal gefragt, was er einem zornigen
jungen Mann sagen würde, der mit einem Pflasterstein in
der Hand vor ihm stehe. „Nichts“, hat er gesagt; so einer
gehöre erst einmal hinter Schloss und Riegel. Recht hat
er, unser Altkanzler.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Nun ist das entschiedene Vorgehen unseres Rechts-
staates das eine, und unsere Gesetze, um mit Situationen
wie gestern umzugehen, sind dabei wirksam genug. Ge-
nauso wichtig ist es aber auch, dass nach solchen Ereig-





Burkhard Lischka


(A) (C)



(D)(B)


nissen alle – ich sage: alle – Demokraten zusammenste-
hen und sagen: Es reicht. Rasende Gewaltlust gehört
nicht in unsere freiheitliche Gesellschaft.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Das wirft in der Tat heute, am Tag danach, noch viele
Fragen auf. Wenn einige Demonstrationsveranstalter
auch heute noch von einer – so wörtlich – „großartigen
Mobilisierung“ sprechen, dann ist das entlarvend, meine
Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Frau Hänsel, Ihr Vergleich der Verwüstungen in
Frankfurt mit dem Freiheitskampf in Kiew ist angespro-
chen worden. Sie hatten heute die Chance, sich davon zu
distanzieren. Sie haben diese Chance vertan, und das
finde ich unwürdig und beschämend. Als Demokrat sage
ich Ihnen: Auch das, was Sie heute gesagt haben, finde
ich vollkommen inakzeptabel.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Eine Schande!)


Schließlich sage ich auch all denen, die gestern fried-
lich, bunt und laut im weltoffenen Frankfurt demonstrie-
ren wollten: Ich achte eure Anliegen, auch wenn ich
nicht jedes Anliegen teile. Aber auch ihr habt eine Ver-
antwortung dafür, genau hinzuschauen, dass ihr euch
nicht vor den Karren von Brandstiftern spannen lasst;


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: So ist das!)


denn diese Brandstifter von gestern haben eurem Anlie-
gen einen Bärendienst erwiesen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809413900

Ich schließe die Aussprache.

Da dies eine Vereinbarte Debatte war, haben wir jetzt
über nichts abzustimmen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a bis 21 c auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Inter-
nationalen Erbrecht und zur Änderung von
Vorschriften zum Erbschein sowie zur Ände-
rung sonstiger Vorschriften

Drucksache 18/4201
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung der Verfolgung der Vorbereitung von
schweren staatsgefährdenden Gewalttaten

(GVVG-Änderungsgesetz – GVVG-ÄndG)


Drucksache 18/4279

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss Digitale Agenda

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Personalausweisgesetzes zur Einfüh-
rung eines Ersatz-Personalausweises und zur
Änderung des Passgesetzes

Drucksache 18/4280
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 g auf.
Es handelt sich um Beschlussempfehlungen des Peti-
tionsausschusses, zu denen keine Aussprache vorgese-
hen ist.

Ich warte noch einen kleinen Moment, um Ihnen allen
zu ermöglichen, dieser anspruchsvollen Aufgabe nach-
kommen zu können, und vor allen Dingen, um Abstim-
mungsergebnisse dann zweifelsfrei feststellen zu kön-
nen.

Tagesordnungspunkt 22 a:

Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 157 zu Petitionen

Drucksache 18/4207

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Sammelübersicht 157 ist einstimmig an-
genommen.

Tagesordnungspunkt 22 b:

Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 158 zu Petitionen

Drucksache 18/4208

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Auch die Sammelübersicht 158 ist einstim-
mig angenommen.

Tagesordnungspunkt 22 c:

Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 159 zu Petitionen

Drucksache 18/4209

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Auch die Sammelübersicht 159 ist mit den





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)


Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Fraktion
Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 22 d:

Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 160 zu Petitionen

Drucksache 18/4210

Bevor wir zur Abstimmung über diese Sammelüber-
sicht kommen, erteile ich der Vorsitzenden des Petitions-
ausschusses, der Kollegin Kersten Steinke, zu einer er-
gänzenden Berichterstattung das Wort.


Kersten Naumann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809414000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Berichterstatter haben mich als Vorsitzende gebeten,
eine Erklärung für den Petitionsausschuss abzugeben.

Die Sammelübersicht 160 enthält unter der Num-
mer 2 eine Beschlussempfehlung, die ich Sie zu unter-
stützen bitte. Sie betrifft ehemalige Heimkinder, die in
den 50er- und 60er-Jahren in Einrichtungen der Kinder-
und Jugendpsychiatrie sowie in Heimen der Behinder-
tenhilfe in Westdeutschland untergebracht waren und
dort Gewalt und Unrecht erfahren haben.

Wie mancher von Ihnen noch wissen wird, hat der
Deutsche Bundestag auf Betreiben des Petitionsaus-
schusses vor Jahren in einem sehr aufwendigen Verfah-
ren den „Runden Tisch Heimerziehung“ auf den Weg ge-
bracht. In dessen Folge wurde ein Fonds aufgelegt, aus
dessen Mitteln ehemalige Heimkinder für zugefügtes
Unrecht entschädigt wurden.

Die jetzige Petition hat zum Ziel, auch die in Kinder-
und Jugendpsychiatrien sowie in Heimen der Behinder-
tenhilfe Untergebrachten, die von dem bereits existieren-
den Fonds nicht erfasst werden, zu entschädigen. In ei-
ner Entschließung des Deutschen Bundestages vom
7. Juli 2011 wurden ausdrücklich auch Einrichtungen
der Behindertenhilfe sowie deren Kinder- und Jugend-
psychiatrien als Orte genannt, in denen Kinder und Ju-
gendliche Leid und Unrecht erlitten haben. Die Bundes-
regierung wurde aufgefordert, im Einvernehmen mit den
Ländern auch für diese Personengruppen Regelungen für
Hilfen zu finden. Hier muss allerdings erneut Geld in die
Hand genommen werden.


(Beifall der Abg. Stefan Schwartze [SPD] und Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Zur Umsetzung der Entschließung prüfen die Bundes-
ministerien für Gesundheit und für Arbeit und Soziales
Lösungsmöglichkeiten, zum Beispiel in Form einer Zu-
stiftung zu dem „Fonds Heimerziehung“, und sind be-
reits an die Länder herangetreten, die sich mit der The-
matik im Rahmen der 90. und 91. Arbeits- und
Sozialministerkonferenz befasst haben. Allerdings wur-
den hierbei auch Zweifel geäußert, ob dieser Weg geeig-
net ist, das erfahrene Leid und Unrecht auszugleichen.
Der Petitionsausschuss hat sich daher schriftlich an die

Arbeits- und Sozialminister der Bundesländer und die
großen Kirchen mit der Bitte gewandt, im Interesse der
Betroffenen an einer angemessenen kurzfristigen Hilfe
für den genannten Personenkreis aktiv mitzuwirken.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ziel unseres Überweisungsvorschlages ist es deshalb,
in einer gemeinsamen Kraftanstrengung von Bundesre-
gierung und Parlament alle weiteren Beteiligten davon
zu überzeugen, dass die entsprechenden Finanzmittel
schnellstmöglich zur Verfügung stehen und an die Be-
troffenen ausgezahlt werden können. In diesem Sinne
appelliere ich an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen,
unserem einstimmigen Erwägungsvotum, welches die
Bundesregierung und die Landesvolksvertretung auffor-
dert, das Anliegen noch einmal zu prüfen und nach Mög-
lichkeiten der Abhilfe zu suchen, Ihre Zustimmung zu
geben.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809414100

Wir kommen nun zur Abstimmung über Sammelüber-

sicht 160 auf Drucksache 18/4210. Wer stimmt dafür? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sam-
melübersicht 160 ist damit einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 22 e:

Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 161 zu Petitionen
Drucksache 18/4211

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Sammelübersicht 161 ist mit den Stim-
men der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke angenommen.

Tagesordnungspunkt 22 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 162 zu Petitionen
Drucksache 18/4212

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Sammelübersicht 162 ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke ange-
nommen.

Tagesordnungspunkt 22 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 163 zu Petitionen

Drucksache 18/4213





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)


Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Sammelübersicht 163 ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Oppositionsfraktionen angenommen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:

Aktuelle Stunde

auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE

Reiches Land – Arme Kinder

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Jörn Wunderlich für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809414200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Nun liegt wieder eine Studie vor, diesmal von der Ber-
telsmann-Stiftung, zu den Auswirkungen von Armut auf
Kinder. In dieser wird festgestellt, dass armutsgefährdete
Kinder bei Schuleingangsuntersuchungen deutlich hinter
anderen Kindern zurückliegen: 43 Prozent – ich runde
jetzt einmal die Zahlen – sprechen mangelhaftes Deutsch,
dreimal so viel wie bei anderen Kindern; 25 Prozent der
Kinder aus Hartz IV haben Probleme mit der Körperko-
ordination, zweimal so viel wie üblich; 25 Prozent haben
Probleme bei der Visuomotorik – das ist die Koordina-
tion von Auge und Hand –, zweimal so viel wie üblich;
28 Prozent haben Probleme beim Zählen, zweieinhalb-
mal so viel wie sonst; und 8,8 Prozent haben Überge-
wicht, zweimal so viel wie sonst. Es heißt in der Studie:
Kinderarmut ist kein Randphänomen, sondern betrifft je-
des fünfte Kind in Nordrhein-Westfalen, bundesweit je-
des sechste, im Ruhrgebiet sogar jedes vierte. Die Ten-
denz ist steigend.

Ich möchte einmal zitieren:

Dauerhafte Armut zeitigt hierbei besonders schwer-
wiegende Folgen und gefährdet die positive Ent-
wicklung von Kindern langfristig. Kinder, welche
in Armut leben, zeigen häufiger Auffälligkeiten in
ihrem Verhalten.

Weiter heißt es:

Ebenso sind Benachteiligungen hinsichtlich sozia-
ler Kontakte zu beobachten. Armut gefährdet nicht
nur die Grundversorgung und Gesundheit von Kin-
dern auf gefährliche Art und Weise, sondern beein-
flusst ebenso in hohem Maße die Entwicklung so-
zialer Kompetenzen von Kindern negativ.

Warum bin ich jetzt nicht überrascht? Dieses Zitat
stammt nicht aus der aktuellen Studie, aus der es aller-
dings stammen könnte, es stammt aus einer Großen An-
frage meiner Fraktion aus dem Jahr 2007. Es ist also
nichts Neues. Und schon 1989 gab es eine Studie der
AWO zur Kinderarmut in Deutschland. Aber was hat
sich in der Zeit getan? Trotz aller Bemühungen meiner
Fraktion, Instrumente gegen Kinderarmut anzuwenden,
hat sich nicht viel getan.

Als Frau von der Leyen als Arbeitsministerin im Ja-
nuar 2012 verkündete, dass die Zahl der Kinder im

Hartz-IV-Bezug im Jahr 2011 im Vergleich zu 2006 um
257 000 gesunken sei und triumphierend schon fast mit
tränenverschleiertem Blick von „sinkender Kinder-
armut“ und der „Ernte der Kraftanstrengungen der letz-
ten Jahre“ sprach, hat sie schlicht unterschlagen, dass in
dem gleichen Zeitraum die Zahl der Kinder insgesamt
um 750 000 gesunken ist. Das war also ein rein demo-
grafischer Effekt. Vier Monate nach diesen Äußerungen
veröffentlichte UNICEF ein Ranking über Kinderarmut
in den reichsten Ländern der Welt. Dabei wurden 29 Na-
tionen verglichen. Deutschland landete auf Platz 15, also
im Mittelfeld.

Nach dem Index der Entbehrungen von UNICEF gilt
es als besondere Mangelsituation, wenn ein Kind zwei
der folgenden Dinge nicht hat: drei Mahlzeiten am Tag,
eine warme Mahlzeit täglich, altersgerechte Bücher,
Spielzeug für Aktivität im Freien, regelmäßige Freizeit-
aktivitäten – das heißt Sportvereine oder das Erlernen ei-
nes Musikinstruments –, Geld, um an Schulausflügen
teilzunehmen, einen ruhigen Platz für Hausaufgaben, ei-
nige neue Kleidungsstücke, zwei Paar Schuhe, Möglich-
keiten, Freunde zum Spielen und zum Essen nach Hause
einzuladen. Laut UNICEF trifft diese Mangelsituation
auf knapp 9 Prozent aller Kinder in Deutschland zu:
5 Prozent müssen auf eine warme Mahlzeit verzichten,
4,4 Prozent haben keinen Platz für ihre Hausaufgaben,
3 Prozent erhalten nie neue Kleidung, sondern nur getra-
gene Sachen, und knapp 4 Prozent besitzen höchstens
ein Paar Schuhe. Jetzt sollen das Kindergeld erhöht und
der steuerliche Freibetrag angehoben werden. Ein Paar
Schuhe – und dann kommt unser Finanzminister
Schäuble daher und sagt: Hier hast du 4 Euro, kauf dir
ein zweites Paar Schuhe. – Der leidet an völligem Reali-
tätsverlust.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber das hat auch sein Staatssekretär erkannt – Herr
Kampeter ist heute ja auch da – und in der taz erklärt:
„Die Null ist das Leitmotiv“. Wen oder was er damit
meint, kann jeder für sich ausmachen.

In der Pressemitteilung zur aktuellen Studie heißt es,
„ein früher Kita-Besuch kann negative Folgen von Kin-
derarmut verringern“. Dann müssen aber auch die Zahl
der Plätze und die Qualität stimmen. Außenminister
Steinmeier hat sich letzte Sitzungswoche bei der Regie-
rungsbefragung hierhingestellt und uns allen hier im Ple-
num ins Gesicht gesagt, dass sich seit dem Ausbau der
Kitas die Qualität nicht verschlechtert hat. Abends in
den Nachrichten der ARD wurde er dann allerdings der
Falschaussage überführt. Denn dort wurde festgestellt,
dass jede vierte Erzieherin entweder keine pädagogische
Ausbildung oder nur einen Crashkurs erhalten hat. So
viel zur Wahrnehmung der real existierenden Umstände
durch die Regierung.

Konkrete Maßnahmen werden von der Linken seit
Jahren immer wieder gefordert; dazu wird noch ausge-
führt. Wir brauchen keine neuen Studien, wir brauchen
keine Anhörungen und keine weiteren Expertisen. Wir
müssen endlich die Dinge angehen.





Jörn Wunderlich


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Kein Kind auf der Schattenseite des Lebens lassen, wie
es von der Leyen als Familienministerin 2006 so groß-
spurig und großartig verkündete: Wann, frage ich Sie,
fangen wir damit an? Handeln statt weiterer Studien und
den Finanzminister auswechseln – das wäre eine schöne
Sofortmaßnahme.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809414300

Das Wort hat die Kollegin Jutta Eckenbach für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Jutta Eckenbach (CDU):
Rede ID: ID1809414400

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Jedes

Kind, das in seinen Möglichkeiten und Chancen einge-
engt oder an einer guten Entwicklung gehindert wird, ist
eines zu viel. Ich glaube, darüber sind wir uns alle einig.
Das Bild allerdings, das die Linke immer wieder zeich-
net – wir haben es gerade wieder gehört –, ist meines Er-
achtens in Gänze falsch – und das ist noch sehr vorsich-
tig ausgedrückt.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das ist das, was ich mit verzerrter Wahrnehmung meine! Sie wollen es nicht wahrhaben! – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso? Herr Wunderlich hat doch nur die Ergebnisse von Studien dargestellt!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei der sogenannten
Kinderarmut störe ich mich seit vielen Jahren daran,


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Oh, so lange schon?)


dass sie auf rein finanzielle Aspekte reduziert und immer
wieder allein auf den Bereich des SGB II bezogen wird.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Stimmt doch gar nicht!)


Erstens. Hartz IV verursacht keine Armut, sondern
verhindert Armut.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 9 Prozent können sich bestimmte Dinge nicht leisten! Sie haben wohl nicht zugehört!)


Es ist nämlich eine Sozialleistung. Ich glaube, wir wer-
den in der Welt von vielen Seiten dafür gelobt, diese So-
zialleistung in Deutschland eingeführt zu haben.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Nicht bei der Kinderarmut! Dafür werden wir ja dauernd kritisiert!)


Zum Zweiten. Auch die Menschen, deren Einkom-
men knapp über der SGB-II-Grenze liegt, sind nicht in

der Lage, große Sprünge zu machen. Diese Menschen
werden zu oft vergessen, wenn Sie immer nur über Men-
schen in SGB-II-Bezug reden.

Drittens. Kinderarmut ist zudem viel mehr als fi-
nanzielle Knappheit; ich sprach davon schon. Auch
Bildungsarmut, Sprachdefizite, Vernachlässigung
oder schwere Krankheiten der Eltern, insbesondere
bei langzeitarbeitslosen Eltern mit zunehmend psychi-
schen Problemen, gehören für mich mit zu einer Defi-
nition von Kinderarmut. Das sehe nicht ich alleine so,
sondern die AWO und das Institut für Sozialarbeit
sind in einer Studie zu gleichen Ergebnissen gekom-
men; auch sie differenzieren.

Aber Fakt ist natürlich – das sehen wir auch –, dass
viel zu viele Kinder in armen Verhältnissen aufwachsen
und wir dies ändern müssen.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie tun ja nichts!)


Es gibt zahlreiche Maßnahmen und Hilfen, die bereits
ergriffen und angeboten wurden, die aber nicht ausrei-
chend sind, auch nicht in Nordrhein-Westfalen. Heute
reden wir ja auch über die Bertelsmann-Studie zu NRW.
Hierzu nur drei Zahlen: Deutschlandweit wird die Kin-
derarmut mit 17,1 Prozent beziffert, in Nordrhein-West-
falen liegt sie bei 20,3 Prozent, in Mühlheim sind es
24,2 Prozent, und wir haben eine Ministerpräsidentin,
die unter dem Motto „Kein Kind zurücklassen“ ein Rie-
senprogramm fährt. Frau Kraft hat die Kinder in Nord-
rhein-Westfalen zurückgelassen – ganz klar.


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei Abgeordneten der SPD – Stefan Schwartze [SPD]: Wie bitte? Also, so geht die Nummer aber nicht weiter!)


Was wird bereits getan für Kinder und Familien? Kin-
derfreibeträge, Kinderzuschläge, Kitaausbau – ich will
hier nur einige Stichworte nennen.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Kinderfreibeträge sind ja für uns und nicht für die Armen! Es sind doch die Reichen, die davon profitieren!)


Übrigens: Das Bildungs- und Teilhabepaket der Bundes-
republik wird in dieser Studie als hervorragendes Instru-
ment bewertet. Auch darauf will ich nur der Form halber
hinweisen.


(Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Da müssen Sie ja selber lachen!)


Gestatten Sie mir an dieser Stelle, auch auf die jüngsten
Entscheidungen der Bundesregierung hinzuweisen: Ver-
stärkung der frühkindlichen Infrastruktur, Bundespro-
gramm Kita Plus, 3,5 Milliarden Euro aus dem aktuellen
kommunalen Investitionspaket gerade für struktur-
schwache Kommunen, die dort – hoffentlich – in struk-
turschwache Quartiere fließen, 1,5 Milliarden Euro zu-
sätzlich im Jahr 2017.





Jutta Eckenbach


(A) (C)



(D)(B)


Aber ich denke – das ist das Wichtige, worüber wir
heute reden müssen –, dass wir auch andere Ansätze hier
diskutieren sollten. Dazu gehören fünf Punkte, die mir
besonders wichtig sind und die auch die Bertelsmann-
Stiftung in ihrer Studie deutlich gemacht hat.

Erstens – ich sprach ja davon – geht es nicht nur um
eine allgemeine und finanzielle Sicherheit gerade für Al-
leinerziehende, Eltern und Familien, sondern es geht
auch und vor allem um deren eigenständige soziale und
wirtschaftliche Sicherung. Diese funktioniert immer
noch am besten über einen Arbeitsplatz. Arbeitsplätze
werden aber in der Regel nicht hauptsächlich durch un-
sere Programme geschaffen, sondern von Betrieben und
Unternehmen in Deutschland. Ohne eine geeignete Wirt-
schaftspolitik, mit der wir für Menschen, für Jugendliche
Arbeitsplätze schaffen, wird man durch kein einziges
Programm Lösungen finden können; das haben wir auch
heute Morgen schon in der Debatte zum Fachkräfteman-
gel gehört. Wir brauchen also mehr Betriebe, die aus
Überzeugung und in eigenem Interesse langfristige und
gesicherte Arbeitsplätze anbieten, zum Beispiel auch für
Alleinerziehende. Wir müssen die Betriebe dabei aber
unterstützen und sie auch entlasten, das heißt, auch ein-
mal die Frage stellen: Was benötigen Betriebe eigentlich
dazu, um auch langjährig arbeitslos gewesene Menschen
einzustellen?

Zweitens. In der Studie wird von Quartieren gespro-
chen. Auf dieser Ebene muss viel stärker verzahnt und
vernetzt gedacht werden. Wir alle kennen die Ghettoisie-
rung in den Gemeinden, ob in Groß- oder Kleinstädten.
Diese kann nur verhindert werden, wo die Mischung
zwischen preiswertem und teurem Wohnraum erhalten
bleibt, wo Arbeitsplätze bleiben und neue entstehen und
die Jugend Anlaufstellen hat. Das heißt, wir brauchen
komplexere Konzepte unter Einbeziehung von Wirt-
schaftsförderung, Städtebauförderung, Jugendhilfe, Ge-
sundheitsvorsorge und sozialen Diensten.

Drittens. Für Menschen, die Hilfe brauchen, gibt es
unzählige Möglichkeiten der Beratung. Wir müssen
diese aber auch bündeln, und wir müssen nicht nur
über Jugendhilfemaßnahmen nachdenken, sondern
auch über die Schnittstellen zwischen Jugendhilfe und
Jugendpsychiatrie.

Viertens – das will ich abschließend sagen – ist für
mich ein ganz wichtiger Punkt, dass wir Eltern auch im-
mer befähigen, Verantwortung zu übernehmen: in den
eigenen vier Wänden und dort, wo sie mit den Kindern
zusammen sind. Das fehlt mir immer dann, wenn wir
über staatliche Maßnahmen reden. Kein Kind – –


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809414500

Kollegin Eckenbach, die Ankündigung des Abschlus-

ses der Rede ersetzt diesen bitte nicht.


Jutta Eckenbach (CDU):
Rede ID: ID1809414600

Nein. Lassen Sie mich nur noch einen Satz darauf

verwenden. – Wir werden Eltern nie – bei allen Möglich-
keiten, die wir gesetzlich vorhalten – aus ihrer Verant-
wortung entlassen. Unser Ziel ist es, die Stärken der Kin-
der auch wirklich zu stärken.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809414700

Das Wort hat die Kollegin Katja Dörner für die Frak-

tion Bündnis 90/Die Grünen.


Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809414800

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe

Kollegen! Rund ein Fünftel aller Kinder in Deutschland
sind arm, und an dieser katastrophalen Situation hat sich
in den letzten Jahren auch nichts verbessert. Sie, Frau
Eckenbach, stellen sich hierhin und relativieren statisti-
sche Zahlen, Sie beschwichtigen, Sie starten mit einer
Lobhudelei auf die Arbeit der Bundesregierung. Ich
muss wirklich sagen: Ich finde das angesichts von
2,8 Millionen armen Kindern in Deutschland regelrecht
unverfroren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Rund ein Fünftel der Kinder in Deutschland sind arm;
trotzdem wird Kinderarmut im Koalitionsvertrag der
Großen Koalition totgeschwiegen. Sie kommt einfach
gar nicht vor. So bitter das ist, es wundert mich dann
doch nicht; denn diese Bundesregierung hat offensicht-
lich nicht vor, mit ganz konkreten Maßnahmen gegen
Kinderarmut vorzugehen und Kinderarmut konkret zu
bekämpfen. Ich finde, das ist eine Katastrophe für jedes
einzelne Kind, aber es ist auch eine Katastrophe für un-
sere ganze Gesellschaft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Ich finde es sehr gut, dass wir auch heute über Kin-
derarmut und die Absicherung von Familien sprechen,
weil, wie wir alle wissen, aktuell sehr heiße Verhandlun-
gen zwischen dem Finanzminister und der Familienmi-
nisterin laufen. Leider läuft es beim Thema Kindergeld
wohl auf die minimalst mögliche Lösung hinaus:
Schäuble wird wohl nicht mehr machen, als er unbedingt
machen muss. Der Freibetrag, von dem aber nur Fami-
lien mit einem hohen Einkommen profitieren, wird sehr
deutlich angehoben. Aber Familien mit einem ganz nor-
malen Einkommen werden mit 6 Euro Kindergelderhö-
hung abgespeist. Und arme Kinder bekommen eben gar
nichts, weil die Kindergelderhöhung auf den Regelsatz
angerechnet wird.


(Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Das könnten wir sofort ändern!)


Die Förderung von Kindern und Familien in Deutsch-
land läuft leider nach dem Matthäus-Prinzip: Wer hat,
dem wird gegeben. – Familien mit hohem Einkommen
profitieren am meisten, arme Familien gehen leer aus.
Ich finde, das muss ein Ende haben. Wir müssen die
Kinder- und Familienförderung vom Kopf auf die Füße
stellen! Wir müssen die besonders unterstützen, die es
auch besonders nötig haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)






Katja Dörner


(A) (C)



(D)(B)


Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, was wir aus den
Verhandlungen zu den Alleinerziehenden hören, ist für
mich eigentlich das größte Trauerspiel. Ob der Entlas-
tungsbetrag angehoben wird, wie es im Koalitionsver-
trag zugesagt wird und wie es auch die Ergebnisse der
Evaluation der ehe- und familienbezogenen Leistungen
ganz ausdrücklich nahelegen, steht in den Sternen. Der
Finanzminister will davon wohl nichts wissen. Diese
Koalition kann den Verteidigungsetat mir nichts, dir
nichts in unermessliche Höhen steigen lassen – ein Etat,
in dem in den letzten Jahren übrigens wie in keinem an-
deren Geld verplempert und verpulvert wurde –, aber bei
den Alleinerziehenden wird hier so knauserig reagiert.
Ich muss wirklich sagen: Angesichts der Tatsache, dass
Alleinerziehende mit das höchste Armutsrisiko tragen,
finde ich das wirklich schäbig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie der Abg. Angelika Glöckner [SPD])


Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die materielle Ab-
sicherung ist wichtig, aber sie ist natürlich nur eine Seite
der Medaille. In der aktuellen Studie der Bertelsmann
Stiftung wird ganz konkret auf die Möglichkeit hinge-
wiesen, über gute Kitas bessere Chancen und eine gute
Förderung gerade für arme Kinder zu erreichen. Frühe
Förderung, frühe Bildung – ich denke, darin sind wir uns
alle einig – sind gerade auch für arme Kinder der Schlüs-
sel zu einem besseren Leben. Ich muss da aber wirklich
fragen: Warum tut diese Bundesregierung dann so wenig
für die Kitas und insbesondere für die Qualität in den Ki-
tas?

Gestern ist unser Antrag, mit dem wir eine Qualitäts-
offensive für die Kitas gefordert haben und eine Fach-
kraft-Kind-Relation festschreiben wollten, um die Quali-
tät in den Kitas zu verbessern, im Familienausschuss
einfach schnöde abgelehnt worden. Daran können wir
sehen: In dieser Legislaturperiode wird nichts passieren.
– Ich halte das für eine ganz eklatante Fehlentscheidung.
Wir dürfen keine weiteren Jahre verlieren, um mehr Teil-
habe für Kinder, insbesondere für arme Kinder, zu errei-
chen.

Frau Eckenbach, Sie haben eben Nordrhein-Westfa-
len angesprochen. In der zum Glück ja nur sehr kurzen
Regierungszeit von Schwarz-Gelb in Nordrhein-Westfa-
len ist unter Armin Laschet von den damals hohen Sum-
men, die vom Bund zusätzlich in die Kitas investiert
worden sind, kein einziger Cent bei den Kitas zusätzlich
angekommen. Er hat das Geld genutzt, um den Haushalt
in Nordrhein-Westfalen zu sanieren. Deshalb würde ich,
wenn ich von der CDU käme, mit Blick auf Nordrhein-
Westfalen ganz, ganz kleine Brötchen backen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, heute geht rund
die Hälfte der Kinder aus gutsituierten Verhältnissen vor
dem dritten Geburtstag in eine Kita. Von den armutsge-
fährdeten Kindern ist es weniger als ein Drittel. Man
muss keine Prophetin sein, um zu vermuten, dass das mit

dem Betreuungsgeld nicht besser wird. Das Betreuungs-
geld ist und bleibt eine bildungspolitische Katastrophe.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es leistet gerade den armen Familien und den armen
Kindern einen Bärendienst. Es sollte aus unserer Sicht
schnellstmöglich wieder abgeschafft werden. Ich frage
mich wirklich: Wie viele Studien sind noch notwendig,
bis die CSU das endlich auch versteht?

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Bei den Grünen haben die Abgeordneten keine Ahnung!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809414900

Die Kollegin Susann Rüthrich hat für die SPD-Frak-

tion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Susann Rüthrich (SPD):
Rede ID: ID1809415000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich fange einmal mit einer Frage an: Wie fühlt
es sich eigentlich an, als Kind in Deutschland arm zu
sein? Vielleicht wie in der Szene, die mir die Direktorin
einer Grundschule beschrieben hat und die sich dort je-
den Tag abspielt.

Diese Grundschule hat 280 Schüler, und es gibt einen
Hort mit 220 Plätzen. Ich sage mir, es fehlen ja
60 Plätze, und frage mich, wie ausgesucht wird, wer ei-
nen Hortplatz bekommt und wer nicht. Nun, es gibt Aus-
wahlkriterien, die der Stadtrat und der im Übrigen von
den Linken getragene Bürgermeister mit festlegen: Vor-
rang haben die Kinder, deren Eltern beide arbeiten.
Okay, was heißt denn das praktisch? Praktisch heißt das:
Kurz vor dem kostenpflichtigen Mittagessen kommt ein
Bus, der 60 Kinder abholt und zur Kinderarche bringt.
Dort gibt es kostenloses Mittagessen. Wenn die Kinder
einmal in der Kinderarche sind, kommen sie nicht mehr
zum Schulhort zurück. Und siehe da: Die Hortplätze rei-
chen, weil die armen Kinder woanders hingefahren wur-
den. Diese Kinder bekommen weder die Nachhilfe noch
die Hausaufgabenbetreuung noch die Musikangebote,
die die anderen Kinder im Hort erhalten.

Klar, ich könnte mich jetzt empören. Ich kann aber
auch fragen: Was tun wir jetzt, um genau diesen Kindern
zu helfen? Jedes Kind muss die Chance auf einen Hort-
platz, auf einen Kitaplatz und auf eine Ganztagsbetreu-
ung haben. Da darf nicht selektiert werden, wer die
Plätze bekommt. Da, wo die meisten armen Familien
wohnen, da müssen die besten Schulen, die besten Kitas,
die besten Jugendclubs, die aktivsten Vereine und Ver-
bände hin, weil sie genau dort für die Kinder am wich-
tigsten sind, deren Eltern sich privaten Musikunterricht
und private Nachhilfe nicht leisten können.


(Beifall bei der SPD)






Susann Rüthrich


(A) (C)



(D)(B)


Genau dann – davon bin ich überzeugt – werden die von
Ihnen benannten und in der Bertelsmann-Studie aufge-
zeigten Entwicklungsnachteile, unter denen viele arme
Kinder leiden, ausgeglichen werden; zumindest ist es ein
Baustein dazu.

Die Kriterien für Aufnahme in den Hort oder in die
Kita sind Sache der Kommunen. 5 Milliarden Euro zu-
sätzlich stellen wir den Kommunen zur Verfügung, da-
mit sie überhaupt in der Lage sind, jedem Kind eine
Chance zu geben. Wir fördern außerdem den Ausbau der
Kinderbetreuung. Wir entlasten die Länder. Das alles
sind Maßnahmen, um Luft dafür zu schaffen, Infrastruk-
tur um die Kinder herum aufzubauen. Diese Mittel müs-
sen die Kolleginnen und Kollegen in den Ländern und in
den Kommunen natürlich auch nutzen. Das sage ich
nicht nur meinen Genossinnen und Genossen, sondern
da bitte ich einfach alle Fraktionen, auch die von der Op-
position, auf ihre Kolleginnen und Kollegen, die vor Ort
die Entscheidungen zu treffen haben, wie die Infrastruk-
tur für die Kinder gestaltet wird, entsprechenden Ein-
fluss zu nehmen.

Eine sehr gute Infrastruktur vor Ort ist aber nur das
eine. Das allein wird nicht reichen. Leider ist es tatsäch-
lich so, dass Kinderarmut von den Eltern vererbt wird.
Deswegen müssen wir an dem Einkommen der Eltern
bzw. der Familien etwas machen. Wir haben den Min-
destlohn eingeführt – dadurch haben wir die Tariflöhne
gestärkt – und damit das Einkommen von vielen Fami-
lien verbessert. Mit dem Entgeltgleichheitsgesetz, das
wir wollen und das wir einführen werden, werden wir
dafür sorgen, dass eine Mama an ihrem Arbeitsplatz in
der Stunde genau dasselbe wie der Papa bekommt, der
die gleiche Arbeit macht.


(Beifall bei der SPD)


Wir als SPD-Fraktion kämpfen für eine spürbare Kin-
dergelderhöhung. Alleinerziehende wollen wir stärker
unterstützen. Ich könnte hier noch weitere Maßnahmen
aufzählen. Wenn Sie nun sagen: „Das alles reicht noch
nicht“, gebe ich Ihnen sogar recht. Auch wir sind ja für
kostenlose Bildung, und zwar von Anfang an. Das heißt
dann auch, dass das Mittagessen, der Schülertransport
und die Schulmaterialien kostenfrei sind. Auch über die
Kindergrundsicherung kann man mit mir gerne diskutie-
ren. Diese Diskussion werden wir auch in der Kinder-
kommission im dritten Drittel dieses Jahres führen.

Ganz nebenbei: Mein SPD-Landesverband hat die
Kindergrundsicherung bereits beschlossen. Wir gehen
nämlich davon aus, dass jedem Kind das beste Umfeld
vor Ort garantiert werden muss. Das hat zum einen et-
was mit der persönlichen materiellen Ausstattung zu tun.
Am Ende des Monats soll es eben nicht nur noch Toast-
brot geben. Das hat zum anderen etwas damit zu tun, wie
die Infrastruktur vor Ort aussieht, die jedes Kind vorfin-
det.

Eine Vision zu haben, ist gut. Das bedeutet aber,
heute mit praktischer Politik Schritte in die richtige
Richtung zu machen, um diese Vision umzusetzen. Das
hilft den Kindern heute unmittelbar. Alle Kinder, egal ob

arm, ob reich oder weder noch, können sich dabei auf
unsere Unterstützung verlassen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809415100

Der Kollege Norbert Müller hat für die Fraktion Die

Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Norbert Müller (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809415200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen

und Kollegen! Mich ärgert die Debatte, wie wir sie ge-
rade geführt haben – da kann ich mich an ganz vielen
Punkten Katja Dörner anschließen –, maßlos. Sie ärgert
mich maßlos, weil von vornherein klar war: Ab dem
Moment, zu dem wir die Aktuelle Stunde beantragt ha-
ben, wird beschwichtigt und wird vor allen Dingen er-
klärt werden, die Koalition tue schon alles, die Situation
sei nicht so schlimm, das Problem bekomme man in den
Griff und man müsse jetzt abwarten, wie diverse Maß-
nahmen wirkten.

Jörn Wunderlich hat die Geschichte der Kinderarmut
seit einer Studie der AWO von 1989 präsentiert. Ein
Blick auf diese Dokumente zeigt: Die Kinderarmut hat
sich seit dieser Zeit nicht reduziert. Sie ist vererbt wor-
den. Sie ist wie einbetoniert. Egal welche empirischen
Erhebungen dazu gemacht worden sind: Wir kommen
immer zu den gleichen Ergebnissen.

Fast alle Bundesregierungen seit der Wende haben er-
klärt, sie hätten das Problem erkannt, sie würden am Pro-
blem arbeiten, sie wollten Kinderarmut reduzieren. Doch
praktisch ist dies niemandem gelungen. Was bedeutet
das in der Praxis? Wozu hat das geführt? Es bleibt bei
Sonntagsreden, die mit belegter Stimme vorgetragen
werden und hinter denen man sich dann versteckt, statt
Taten zu präsentieren.

Ich möchte das mit Beispielen unterlegen. Die Bun-
desfamilienministerin Schwesig hat 2009 noch als Lan-
despolitikerin in einem Interview erklärt – ich zitiere –:

Zwar kündigt Frau von der Leyen nun in jedem In-
terview an, sie wolle gegen Kinderarmut vorgehen.
Doch ihr Handeln widerlegt ihre Versprechen.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Da hat sie recht!)


– Da hat sie recht gehabt. – Fünf Jahre später erklärt
Frau Schwesig, nun als Bundesfamilienministerin:

Für mich ist die Bekämpfung von Kinderarmut ein
sehr wichtiger Punkt.

Dazwischen steht der Koalitionsvertrag, den Sie unter-
schrieben haben, dieses Dokument des politischen Voll-
versagens. Auf 130 Seiten kein Wort zur Kinderarmut
und kein Konzept, Kinderarmut wirksam zu beseitigen.
Aber Sie kündigen es permanent an.





Norbert Müller (Potsdam)



(A) (C)



(D)(B)


Das Ergebnis kann man heute in einer Presseerklä-
rung des Deutschen Kinderhilfswerks – darauf komme
ich noch zurück – nachlesen. In einer Studie, die von
diesem 2014 erstellt wurde, haben 72 Prozent der Befrag-
ten gesagt, dass gesellschaftliche und politische Verant-
wortungsträger – damit meinen sie uns, aber vor allem
auch die Bundesregierung, weil sie zunächst an diese
denken – sehr wenig oder zu wenig tun, um Kinderarmut
wirksam zu bekämpfen. Denn was sie in den letzten
25 Jahren erlebt haben, sind Sonntagsreden, und letzten
Endes hat sich nichts getan.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: So ist es! Leider!)


Ich kann mich Katja Dörner anschließen und fordere
Sie auf: Ergreifen Sie Maßnahmen! Ich glaube, wir sind
uns in vielen Punkten einig gewesen; das war auch diese
Woche im Familienausschuss der Fall. Ergreifen Sie also
konkrete Maßnahmen, um Kinderarmut zu beseitigen!


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn Sie als Koalition auf die Grünen oder uns nicht
hören wollen – das kann ich nachvollziehen –, dann hö-
ren Sie doch auf unabhängige Sachverständige und auf
das Deutsche Kinderhilfswerk. Ich zitiere aus der schon
erwähnten Presseerklärung:

Um die Kinderarmut in Deutschland zu bekämpfen,
brauchen wir eine Beschäftigungspolitik, die Eltern
in die Lage versetzt, durch eigene Erwerbstätigkeit
sich und ihren Kindern eine ausreichende finan-
zielle Lebensgrundlage zu bieten. Zudem haben
Bund, Länder und Kommunen gemeinsam dafür zu
sorgen, dass Einrichtungen für Kinder und Jugend-
liche so ausgestattet werden, dass sie deren Ent-
wicklung zu eigenständigen Persönlichkeiten best-
möglich fördern können. Ein gesundes Aufwachsen
sollte für alle Kinder, unabhängig vom Geldbeutel
ihrer Eltern, ebenso eine Selbstverständlichkeit
sein.

Jetzt werden alle sagen: „Das können wir unterzeich-
nen“, und die Koalition wird in den folgenden Reden sa-
gen: Das tun wir übrigens schon mit allen unseren Maß-
nahmen.

Aber warum um Himmels willen kommen wir dann
immer wieder wie auch in der Bertelsmann-Studie zu
denselben Ergebnissen? Warum hat sich in den letzten
Jahren nichts getan? Weil Ihre Maßnahmen nicht wirken,
weil sie wirkungslos sind und weil Sie im besten Fall,
wenn Sie über Kinderarmut reden und Entlastungen an-
kündigen, am Ende an die Besserverdienenden denken,
aber bei denjenigen, bei denen die Kinderarmut sozusa-
gen einbetoniert ist und die schon mit der Geburt sozial
deklassiert werden, davon nichts ankommt. Warum ist
das Kindergeld immer noch auf Leistungen nach dem
SGB II anzurechnen? Warum ist das Elterngeld immer
noch anzurechnen? Schaffen Sie das ab! Das sind ganz
einfache Maßnahmen. Sie wirken unmittelbar und be-
grenzen Kinderarmut.


(Beifall bei der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, dass das
Thema viel zu ernst ist, um hier weitere Sonntagsreden
zuzulassen, uns weiter darüber auszutauschen, welch
dramatische Kinderarmut wir in den Wahlkreisen erle-
ben, und hier entsprechende Beispiele zu präsentieren.
Die kennen wir alle. Lassen Sie uns zu dem Punkt kom-
men, erste, auch monetäre, Maßnahmen zu ergreifen,
und zwar mehr als 4 oder 6 Euro Kindergelderhöhung,
um Kinderarmut wirksam zu beseitigen. Das muss um-
gehend geschehen. Die Lage ist mit über 2,5 Millionen
betroffenen Kindern viel zu ernst.

Die Linke wird nicht die Fraktion sein, die sich im
Deutschen Bundestag gegen Maßnahmen stellt, wenn es
ernsthaft darum geht, Kinderarmut zu beseitigen. Wenn
die Koalition und die Bundesregierung ernsthaft bereit
sind, solche kleinen Schritte zu gehen, wie zum Beispiel
das Kindergeld anrechnungsfrei zu stellen, werden wir
uns Ihnen nicht in den Weg stellen, sondern Sie kon-
struktiv begleiten. Aber wir werden Sie auch weiter trei-
ben, wenn es bei den Sonntagsreden über Kinderarmut
bleibt und Sie letztlich keinerlei Ergebnisse vorlegen au-
ßer einer weiteren Studie in fünf Jahren, in der dann wie-
der festgestellt wird, dass Kinderarmut ein ernstes Pro-
blem ist und sich nach wie vor nichts getan hat.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809415300

Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Kai

Whittaker das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Kai Whittaker (CDU):
Rede ID: ID1809415400

Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Kinderarmut ist

ein ernstes Thema. Wir sind uns sicherlich darin einig,
dass es uns traurig macht, wenn 1,5 Millionen Kinder in
diesem Land von Hartz IV leben müssen und damit ei-
nen besonders schweren Start ins Leben haben. Diese
Kinder sind Teil der Zukunft unseres Landes, und weil
es in Deutschland so wenige Kinder gibt, müssen sie uns
noch viel mehr wert sein.


(Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Was ist denn das für eine Argumentation?)


Vor diesem Hintergrund finde ich es umso verwerfli-
cher, wenn die Kollegen der Linken Kinderarmut für
parteipolitische Zwecke missbrauchen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ach? Wir benennen einfach die Missstände!)


Sie tun so, als ob sich nur Ihre Fraktion für dieses Thema
interessiert. Sie tun so, als ob wir in unseren Wahlkreisen
von schönen Terrassen und feudalen Vorstadtvillen aus
auf die Welt blickten und über das Thema Kinderarmut
allenfalls in der Zeitung lesen würden. Anstatt sich die-
ser Klischees zu bedienen und sich an ihnen abzuarbei-
ten, wäre es schon ein Fortschritt in dieser Debatte, wenn
wir sachlich und ernsthaft darüber reden könnten.





Kai Whittaker


(A) (C)



(D)(B)



(Max Straubinger [CDU/CSU]: Dazu sind die nicht fähig, Herr Kollege! – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Was haben Sie in den letzten Jahren getan?)


Wie ist man bei der Studie der Bertelsmann Stiftung
verfahren? Es wurden 5 000 Kinder im Übergang vom
Kindergarten zur Grundschule in Mülheim an der Ruhr
untersucht. Nun kann man darüber debattieren, ob Mül-
heim an der Ruhr repräsentativ für Deutschland ist. Ge-
nau das ist die Schwäche dieser Studie – das wird auch
von den Autoren der Studie selber zugegeben –, nämlich
dass Kinderarmut regional ungleich verteilt ist. Deshalb
braucht man hier im Deutschen Bundestag nicht so zu
tun, als ob quasi über Nacht Kinderarmut als Massen-
phänomen über dieses Land hereingebrochen wäre.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Spätestens seit 1989!)


Die einzig bemerkenswerte Aussage in dieser Studie ist:
Je stärker eine Kita sozial durchmischt ist, desto besser
entwickeln sich die ärmeren Kinder.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Sonst hat diese Studie nichts Neues zutage gebracht. Sie
bestätigt lediglich alte Forschungsergebnisse.


(Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Das ist ja das Schlimme!)


Kinderarmut hängt von der Situation der Eltern ab.
Eltern sind deshalb arm, weil sie keinen Arbeitsplatz ha-
ben, weil sie keine Berufsausbildung haben, weil sie
schlecht deutsch sprechen oder weil sie alleinerziehend
sind. Weil diese Erkenntnisse nicht neu sind, hat bereits
die letzte unionsgeführte Bundesregierung ein ganzes
Bündel an Maßnahmen auf den Weg gebracht. Darüber
möchte ich sprechen.

Seitdem Angela Merkel Bundeskanzlerin ist, haben
wir die Zahl der Betreuungsplätze für unter Dreijährige
verdoppelt. Wir haben in den letzten Jahren 400 Millio-
nen Euro in die Hand genommen, um Sprach- und Inte-
grationsförderkurse in 4 000 Kitas in ganz Deutschland
zu unterstützen. Wir haben 2,5 Millionen Kindern das
Bildungs- und Teilhabepaket ermöglicht. Da wir gerade
von Kitas sprechen: Wir haben 2,7 Milliarden Euro in
die Hand genommen, um die Betreuungsplätze bei den
Gemeinden auszubauen. Wir haben sehr wohl etwas ge-
gen Kinderarmut getan und werden das weiterhin tun.
Frau Kollegin Dörner, wir werden bis zum Jahr 2016 den
Etat des Familienministeriums um über 2 Milliarden
Euro erhöhen.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kinderarmut steigt trotzdem!)


Das ist der stärkste Aufwuchs, den es jemals gegeben
hat. Das hängt auch mit der soliden Finanzpolitik unse-
res Bundesfinanzministers zusammen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich war – genauso wie viele andere Kollegen hier –
Gemeinderat in meiner Heimatstadt. Deshalb wissen

wir, dass Kitas Sache der Kommunen sind. Dorthin ge-
hört es auch zu Recht; denn die Kommunen wissen am
besten, wo der Schuh drückt. Nur weil Sie Ihre Kommu-
nen nicht im Griff haben, heißt das noch lange nicht,
dass wir Ihre Probleme hier im Deutschen Bundestag in
Berlin lösen müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das ist genau das, was die Studie der Bertelsmann Stif-
tung betont: Kinderarmut ist regional unterschiedlich
ausgeprägt. Deshalb müssen wir die Probleme vor Ort
lösen.

Unser Auftrag hier in Berlin ist, die Kommunen in die
Lage zu versetzen, diese Aufgabe wahrzunehmen. Wir
tun das beispiellos. Bis zum Jahr 2017 werden wir die
Kommunen um fast 10 Milliarden Euro entlasten. Das
ist die größte Summe, die es jemals in einer Legislatur-
periode gegeben hat. Wir eröffnen damit einen großen
Spielraum, der aber auch genutzt werden muss.


(Beifall bei der CDU/CSU – Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Was hat das mit Kinderarmut zu tun?)


Kommen wir zu den selbsternannten Bildungsspezia-
listen der Linken zurück. Da Sie sich so gerne auf Bil-
dungsstudien berufen, wissen Sie sicherlich – alle Bil-
dungsökonomen sagen uns das schon seit über zehn
Jahren –: Wenn wir die sozialen Probleme in diesem
Land wirklich bekämpfen wollen, dann müssen wir
möglichst viel Geld für die frühkindliche Bildung und
weniger Geld für die spätere Ausbildung in die Hand
nehmen. In Deutschland machen die Länder noch immer
das Gegenteil. Viele glauben, dass man soziale Gerech-
tigkeit an der Universität herstellen kann. Ich sage Ih-
nen: Bis dahin ist der Zug längst abgefahren. Die Abge-
hängten kommen gar nicht bis zur Universität.


(Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Weswegen haben Sie das Betreuungsgeld eingeführt?)


Deshalb wäre den armen Kindern in Mülheim an der
Ruhr und anderswo in Deutschland mehr geholfen, wenn
Sie als Besserverdiener Studiengebühren für Ihre Kinder
zahlen würden. Dann hätten die Länder mehr Geld für
die Kitas. Aber so weit reicht Ihre soziale Kompetenz
nicht.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809415500

Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Kinder sind unsere Zukunft, und es darf uns nicht in
Ruhe schlafen lassen, dass seit Jahren, vielleicht sogar
seit Jahrzehnten die Kinderarmut in diesem Land skan-
dalös hoch ist. Das müssen wir dringend ändern,





Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE])


und zwar alle zusammen.

Sie, Herr Whittaker, sagen, dass auch die Bundesre-
gierung an die Lösung dieses Problems herangehen will.
Im Koalitionsvertrag steht dazu aber nichts. Das Wort
„Armut“ taucht überhaupt nicht auf. Das Wort „Kinder-
armut“ taucht nicht auf. Armutsbekämpfung ist für diese
Große Koalition überhaupt kein Thema. Das ist bei der
Altersarmut so. Das ist bei Armut von Erwerbstätigen
so, und das ist skandalöserweise auch bei der Kinderar-
mut so.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Eine Schweinerei ist das!)


Was Sie machen, ist: Sie verschieben die Verantwor-
tung auf die Kommunen und auf die Länder.


(Kai Whittaker [CDU/CSU]: Wir nehmen sie in die Verantwortung!)


Auch das ist etwas, was sehr verantwortungslos ist. Wir
müssen uns unserer eigenen Verantwortung stellen, der
Verantwortung des Bundes. Der Bund ist insbesondere
dafür zuständig, die finanzielle Absicherung von Kin-
dern und Familien zu gewährleisten. Dafür sind nämlich
nicht die Kommunen und auch nicht die Länder zustän-
dig, sondern wir. Da müssen wir herangehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auch wenn es natürlich völlig richtig ist, dass Armut
viele Dimensionen hat, ist klar: Die finanzielle Dimen-
sion ist zwar keine hinreichende, aber eine notwendige
Bedingung dafür, dass die Existenz gesichert ist und dass
Armut insgesamt bekämpft wird. Die anderen Dimensio-
nen kommen dann dazu. Ich wiederhole: Die finanzielle
Existenzsicherung muss erst einmal gewährleistet sein.

Es ist so: Wenn Kinder ohne Frühstück zur Schule ge-
hen, dann lernen sie einfach nicht gut. Wenn sie zu
Hause kein warmes Mittagessen bekommen, dann kön-
nen sie nicht gut lernen. Es gibt genügend Kinder in
Deutschland, denen es so geht, und das müssen wir än-
dern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE])


Dazu brauchen wir eine finanzielle Mindestabsicherung
für Kinder. Das ist ein erster wichtiger Schritt.

Der Verweis darauf, dass die Armut der Kinder da-
durch zustande kommt, dass deren Eltern arm sind, ist
auch empirisch schlicht und einfach nicht richtig; denn
es gibt genügend Eltern, deren Existenzsicherung ge-
währleistet ist. Weil aber das Kindergeld und auch der
Kinderzuschlag nicht ausreichen, um die Existenz der
ganzen Familie zu sichern, sind sie trotzdem arm – ob-
wohl sie selber arbeiten und selber genug zum Leben ha-
ben. Das müssen wir ebenfalls ändern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es wurde darauf hingewiesen, der Mindestlohn sei
eingeführt worden. Das reicht nicht aus. Für vollzeittä-
tige Alleinstehende, die keine Kinder haben, reicht der
Mindestlohn aus, um die Existenz zu sichern. Aber bei
einer vollzeittätigen alleinerziehenden Person reicht
Mindestlohn plus Kindergeld nicht aus. Sie ist trotzdem
auf Hartz IV angewiesen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809415600

Kollege Strengmann-Kuhn, gestatten Sie eine Frage

oder Bemerkung des Kollegen Patzelt?


(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sehr gerne.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Geht leider in der Aktuellen Stunde nicht!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809415700

Entschuldigung! Das war ein Fehler der Präsidentin.

In der Aktuellen Stunde dürfen keine Zwischenfragen
gestellt werden. Das war jetzt mein Fehler, der zustande
gekommen ist, nachdem Herr Patzelt sich so hartnäckig
gemeldet hatte. – Ich habe aber die Uhr angehalten. Des-
wegen ist nichts von Ihrer Redezeit, Herr Strengmann-
Kuhn, verloren gegangen.


(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich war bei dem Punkt Mindestlohn. Er hilft Alleinste-
henden ohne Kinder; aber für Alleinstehende mit Kindern
reicht es halt nicht. Da braucht es zusätzliche Maßnahmen,
um deren Existenz zu sichern, um zu ermöglichen, dass
Menschen nicht in Hartz IV fallen, obwohl sie vollzeiter-
werbstätig sind.

Die meisten Kinder haben Eltern, die erwerbstätig
sind. Auch die meisten armen Kinder haben mindestens
einen Elternteil, der erwerbstätig ist. Das zeigen viele
empirische Studien, und auch das ist etwas, was Sie end-
lich einmal zur Kenntnis nehmen sollten. Es geht nicht
nur um die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit; vielmehr
sollten wir dafür sorgen, dass auch die Armut von Er-
werbstätigen, die Kinder haben, endlich nachhaltig be-
kämpft wird.


(Beifall der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir müssen natürlich auch weiterhin an die Ursachen
herangehen. Häufig ist in einem Haushalt nur eine Per-
son erwerbstätig; bei Alleinerziehenden ist es immer
eine Person. Wie ich eben schon beschrieben habe, rei-
chen deren finanzielle Mittel selbst bei Vollzeittätigkeit
nicht aus. Wenn von zwei Elternteilen nur einer vollzeit-
erwerbstätig ist, reicht das Geld in vielen Fällen eben-
falls nicht aus, und dann ist auch das Armutsrisiko deut-
lich erhöht.

Damit sind wir bei Punkten wie geschlechtsspezifi-
sche Arbeitsteilung als eine wesentliche Ursache von
Kinderarmut, die wir ebenfalls endlich bekämpfen müs-
sen. Morgen ist Equal Pay Day. Das ist eine Ursache da-





Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn


(A) (C)



(D)(B)


für, dass wenn nur der Mann arbeitet und die Frau für die
Kindererziehung zu Hause bleibt. Dann reicht das Ein-
kommen häufig nicht aus. Das heißt: „Gleicher Lohn für
gleiche Arbeit“ ist ein wichtiger Punkt. Da müssen wir
etwas ändern, um Kinderarmut zu beseitigen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aber es gibt noch viel mehr strukturelle Ursachen für
diese geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die wir
überwinden müssen: das Ehegattensplitting, die kosten-
freie Mitversicherung in der Krankenversicherung. Ins-
besondere an die Minijobs müssen wir ran. Wenn die
Frauen in der Teilzeit- oder Minijobfalle gefangen sind,
dann führt das dazu, dass das Erwerbseinkommen der
Eltern insgesamt nicht reicht. Deswegen müssen wir, um
die Kinderarmut zu bekämpfen, auch endlich die Sub-
ventionierung der Minijobs abschaffen und existenzsi-
chernde Erwerbstätigkeit für Frauen ermöglichen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie sehen also: Es gibt viele Punkte, bei denen wir als
Bund ansetzen können, um Kinderarmut tatsächlich zu
verringern.

Ich würde sogar noch weiter gehen: Eigentlich sollte
unser Ziel sein, Kinderarmut völlig zu beseitigen. Aber
dies schrittweise zu tun, wäre ja auch schon mal nicht
schlecht. Es ist unser aller Verantwortung, Kinderarmut
zu verringern. Darum geht es jetzt. Die Große Koalition
sollte endlich allen Mut zusammennehmen und tätig
werden. Es ist unser aller Verantwortung, die Armut von
Kindern zu beseitigen; denn Kinder sind unsere Zukunft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809415800

Das Wort hat die Kollegin Bärbel Bas, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Bärbel Bas (SPD):
Rede ID: ID1809415900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bekann-

termaßen komme ich aus einer Stadt, die man durchaus
als finanzschwach bezeichnen kann. Auch wenn der
Kollege Whittaker sagt, Mülheim sei nicht repräsentativ:
Es ist schon repräsentativ für eine Region – Duisburg ge-
hört auch dazu –, wo man etwas tun muss.

Der Arbeitsmarkt ist schon ein wichtiger Punkt. Da
besteht eine Verbindung. Wenn Eltern keine Arbeit ha-
ben oder nur im geringfügigen Bereich beschäftigt sind,
hat das Auswirkungen auf die Kinder; das kann ich jeden
Tag sehen. Deshalb müssen wir auch in diesem Bereich
etwas tun. Die Bundesregierung tut das, insbesondere
die Arbeitsministerin.

Ich will auch das hier ansprechen: In Duisburg ste-
cken 43 Prozent der als arbeitslos gemeldeten Menschen
in der Langzeitarbeitslosigkeit. 43 Prozent! Sie kommen
aus diesem Teufelskreis nicht mehr heraus. Daran hän-

gen ganz viele Kinder. Andrea Nahles hat ein Konzept,
ein Programm entwickelt, mit dem wir uns genau um
diese Zielgruppe kümmern wollen. Menschen, die mit
Kindern im Haushalt leben, sollen besonders gefördert
werden. Das ist genau der richtige Schritt. Jetzt mag man
kritisieren, dass das nicht ausreicht. Aber das ist ein gro-
ßer Schritt für die Menschen, die aus dieser Schleife
ohne Hilfe nicht herauskommen.

Die Schleife beginnt da, wo Kommunen unterfinan-
ziert sind. Es war ein großer Schritt, dass wir die Kommu-
nen jetzt mit einem großen Batzen Geld entlasten, sodass
sie investieren können. In Duisburg fehlen klassischer-
weise Arbeitsplätze. Wenn die Arbeitslosigkeit 12 Prozent
beträgt, dann fehlen einfach Arbeitsplätze für die vielen
Menschen, die wieder in den Arbeitsmarkt wollen. Wir
brauchen solche Programme, um die Menschen aus die-
sem Teufelskreis herauszuholen.


(Beifall bei der SPD)


Frau Eckenbach, eines muss ich noch sagen – viel-
leicht haben Sie das Prinzip der Bertelsmann-Studie
noch nicht ganz verstanden –: Der präventive Ansatz ist
schon wichtig. Wenn man wartet, dass das Kind in den
Brunnen fällt und dann ganz viel Geld hinterherschüttet,
ist das, finde ich, der falsche Ansatz. Der richtige Ansatz
ist, vorher einen Deckel auf den Brunnen zu machen, da-
mit erst gar kein Kind hineinfällt.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU])


Das ist der Ansatz der Prävention. „Kein Kind zurück-
lassen!“, das läuft seit drei Jahren. Vielleicht sind die Er-
folge noch nicht sehr groß, aber es gibt schon erste Er-
folge, und die sind auch nachgewiesen. Das sollte man
einmal anerkennen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Gute Bildung, starke Prävention und die frühe Förde-
rung sind wichtig. Da hilft kein Betreuungsgeld – das ha-
ben wir ja jetzt –; gerade den Duisburger Kindern hilft es,
wenn sie früh in gute und qualitätsorientierte Kindertages-
einrichtungen kommen.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das hilft von klein auf. Das verhindert Armut schon
ganz früh. Deshalb sollten wir uns darauf konzentrieren.

Wir haben auch in einem anderen Bereich große
Schwierigkeiten – nicht nur in Duisburg, sondern auch
in anderen Städten im Ruhrgebiet –: Es gibt Auszubil-
dende, die eine Ausbildung beginnen, die aber Defizite
mitbringen und deshalb Unterstützung brauchen, damit
sie ihre Ausbildung bis zum Ende, bis zum Abschluss
durchziehen. Auch das verhindert Armut. Das ESF-
Konzept, das Andrea Nahles vorgestellt hat, ist deshalb
so wichtig, weil es vorsieht, dass man sich im Rahmen
einer assistierten Ausbildung genau um diese Jugend-
lichen kümmert, also direkt in der Ausbildung eine
Begleitung vorsieht, damit die Jugendlichen ihre Ausbil-





Bärbel Bas


(A) (C)



(D)(B)


dung durchstehen. Auch das verhindert Armut bei jun-
gen Menschen. Das ist ein wichtiger Ansatz.


(Beifall bei der SPD)


Zum Abschluss will ich noch einmal ganz deutlich sa-
gen: Den Ansatz „Kein Kind zurücklassen!“ mögen
manche Kolleginnen und Kollegen hier im Hause belä-
cheln, aber er zeigt Erfolge. Er ist wichtig; denn auch in
der Bertelsmann-Studie, ob man die Zahlen jetzt anzwei-
felt oder nicht, wurde festgestellt: Gute Bildung – für die
tun diese Bundesregierung und auch wir als Sozialdemo-
kraten eine ganze Menge –, starke Prävention und vor
allen Dingen eine ganz frühe Förderung der Kinder so-
wie eine Verbesserung der finanziellen Situation helfen
immer.

Was die Alleinerziehenden angeht – meine Kollegin
hat es gesagt – muss man sagen: Diese sind eine ganz
spezielle Gruppe, die wir uns anschauen müssen, weil
sie aufgrund der fehlenden Betreuung oft gar nicht in
den Arbeitsmarkt können. Deshalb müssen wir uns das
Ganze, auch was die finanzielle Situation bei den Allein-
erziehenden angeht, noch einmal ganz genau ansehen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809416000

Das Wort hat der Kollege Dr. Martin Pätzold für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Martin Pätzold (CDU):
Rede ID: ID1809416100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Die Kinderarmut ist ein wichtiges Thema.
Deswegen ist es gut und richtig, dass heute in der
Aktuellen Stunde auf Verlangen der Linken auch die
Bertelsmann-Studie diskutiert wird. Sie werden wenig
überrascht sein, dass ich im Verlauf meiner Rede zu an-
deren Schlussfolgerungen kommen werde als Sie, die
Sie bisher dargestellt haben, wie Kinderarmut bekämpft
werden soll. Aber das, was in der sozialen Marktwirt-
schaft klar ist, ist, dass es das Versprechen gibt, dass
jedes Kind, das sich anstrengt, die gleichen Chancen ha-
ben muss, aus sich etwas zu machen.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jedes Kind!)


Bei uns sollen Zukunftschancen für alle gelten, unabhän-
gig von der Herkunft. Dafür haben wir uns in der sozia-
len Marktwirtschaft immer eingesetzt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit bedeu-
ten aber nicht – da unterscheiden wir uns ganz deutlich –,
dass es Ergebnisgleichheit gibt. Das heißt, wir werden
nie Ergebnisgleichheit herstellen können, sondern
nur Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit. Der
Grund für Kinderarmut ist laut der Bertelsmann-Studie
immer noch, dass die Eltern dieser Kinder keine Arbeit
haben oder eine Arbeit, bei der sie schlecht bezahlt wer-
den. Deswegen müssen wir bei den Ursachen für die
Entstehung von Kinderarmut ansetzen.

Die Studie der Bertelsmann Stiftung zeigt, dass
deutschlandweit 17 Prozent der Kinder von Kinderarmut
betroffen sind. Es gibt enorme regionale Unterschiede.
Es gibt Regionen mit knapp 2 Prozent Kinderarmut, also
einem vermeintlich guten Wert, und es gibt Regionen
wie Bremerhaven an der Spitze mit bis zu 40 Prozent.
Da müssen wir ansetzen. Wir müssen schauen, dass der
Arbeitsmarkt weiter gestärkt wird und dass sich die
Bedingungen so verbessern, dass Menschen in Arbeit
kommen.

Dafür hat gerade diese Bundesregierung in den ersten
Monaten sehr viel getan. Wir wollen mit dem Mindest-
lohn die Binnenkonjunktur stärken, und wir setzen Pro-
gramme zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit
auf, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass
mehr Menschen in Arbeit kommen. Wir haben heute mit
43 Millionen Erwerbstätigen eine Rekordbeschäftigung.
Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, die ja
auch nach Ihrer Definition eine gute Form der Arbeit ist,
ist deutlich gestiegen. Das, was wir in den letzten Jahren
gemacht haben, um Kinderarmut und die Armut an ge-
sellschaftlicher Teilhabe abzubauen, ist, dass wir in vier
Bereichen die Teilhabemöglichkeiten von Kindern ge-
stärkt haben:

Erstens. Es wurde schon angesprochen: Wir haben die
Möglichkeiten der frühkindlichen Bildung, der Kinder-
betreuung ausgebaut. Heute besuchen 96 Prozent der
vierjährigen Kinder eine Kindertagesstätte. Zweitens.
Wir haben im Bereich der Schwerpunktkitas Regionen,
die besonders stark von sozialen Problemen betroffen
sind, in den Jahren 2011 bis 2014 mit 400 Millionen
Euro unterstützt.

Drittens. Wir haben den Ausbau der Ganztagsschulen
mit einem großen Programm gefördert. 8 200 Ganztags-
schulen wurden mit über 4 Milliarden Euro unterstützt.

Viertens. Wir haben die Leistungen des Bildungs- und
Teilhabepaketes eingeführt, die die Integration und
Teilhabe von Kindern ermöglichen sollen, die von Kin-
derarmut betroffen sind.


(Zuruf des Abg. Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE])


Das sind vier Punkte, mit denen wir versuchen, Teil-
habemöglichkeiten zu erhöhen. Ich bin auch fest davon
überzeugt, dass es uns gerade in der sozialen Marktwirt-
schaft – die gekennzeichnet ist durch eine Tarifpartner-
schaft und durch Unternehmen, die sich engagieren – ge-
lingen muss, diese Kinder zu fördern.

Hier komme ich auf ein Berliner Projekt der Deut-
schen Bank zu sprechen, von dem ich weiß, dass sich
drei engagierte Manager, Herbert Schaub, Christian von
Drigalski und Volker Wieczorek, um benachteiligte
Jugendliche kümmern und versuchen, ihnen eine Per-
spektive aufzuzeigen, wie man mit Engagement und
Leistung aus diesem Loch herauskommen kann und eine
gute Zukunft hat. Wir werden uns in der sozialen Markt-
wirtschaft weiter dafür einsetzen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809416200

Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Frank Junge

das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Frank Junge (SPD):
Rede ID: ID1809416300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Damen und Herren! Eltern und Familien zu
stärken, Müttern und Vätern ein Umfeld zu bieten, in
dem sie einer auskömmlichen Erwerbstätigkeit nach-
gehen können, und den Lütten schon frühzeitig das
Rüstzeug für eine eigenständige, selbstbestimmte und
selbstbewusste Persönlichkeit zu geben, sind die Grund-
lagen und der richtige Weg, um Kinderarmut richtig und
wirksam zu bekämpfen.

Da wir uns da hoffentlich alle einig sind, frage ich
mich: Warum treten hier solche Misstöne auf, wenn wir
über das reden, was wir in den letzten 15 Monaten be-
schlossen haben? Wir haben einen gesetzlichen Mindest-
lohn beschlossen, der die Einkommenssituation von vie-
len Menschen in unserem Land erheblich verbessern
wird. Wir haben das Elterngeld Plus auf den Weg ge-
bracht, um Freiräume und Möglichkeiten für Eltern zu
schaffen, Familie und Beruf besser unter einen Hut zu
bekommen. Wir haben den bundesweiten Kitaausbau
mit erheblichen Beträgen gefördert, der wiederum not-
wendig ist, damit Eltern überhaupt beruflich tätig sein
können.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben massive Investitionen in frühkindliche Bil-
dung auf den Weg gebracht, die dazu führen, dass die
Lütten schon frühzeitig richtig Deutsch lernen bzw. sich
andere Fähigkeiten aneignen, die sie für ihr späteres Le-
ben brauchen.

Warum sage ich das? Ich sage das deshalb, weil die
Bertelsmann-Studie – mit Blick auf die Fraktion Die
Linke sage ich: Sie sollten sich aus dieser Studie nicht
nur die Argumente herauspicken, die Sie hören wollen –
ganz klar aufzeigt, welche Problemfelder angegangen
werden müssen, damit am Ende Kinderarmut verhindert
werden kann. Genau die Dinge, die wir mit den von mir
genannten Beispielen auf den Weg gebracht haben, sor-
gen dafür, dass wir am Ende erfolgreich sind.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wenn Sie von der Fraktion Die Linke – das muss ich
auch noch einmal sagen – öffentlich verlautbaren lassen,
dass Armut bei uns durch Regierungspolitik zur Erb-
krankheit geworden ist, dann können Sie damit die Poli-
tik dieser Koalition nicht meinen; denn in dieser Regie-
rungskoalition steht die SPD mit in der Verantwortung
und prägt maßgeblich die Themen. Das muss man ein-
mal zur Kenntnis nehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


Wir können zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal
nachschauen, was aus unseren Vorhaben geworden ist.

Zum aktuellen Zeitpunkt zumindest ist das nicht mög-
lich.


(Beifall bei der SPD)


Dennoch – das möchte ich auch sagen –: Jedes Kind,
das in Armut aufwachsen muss, ist eines zu viel. Darin
sind wir uns alle einig. Als nächster Schritt muss – jetzt
komme ich auf finanzpolitische Dinge zu sprechen, die
ebenfalls kurz angerissen worden sind – nach meinem
Dafürhalten eine spürbare finanzielle Entlastung für alle
Familien auf den Weg gebracht werden, und zwar so,
dass ein Gesamtpaket aus dem Grundfreibetrag, dem
Kinderfreibetrag, dem Kindergeld und dem Kinder-
zuschlag entsteht. Dabei muss die finanzielle Entlastung
so stark sein, dass sie sich im Portemonnaie deutlich nie-
derschlägt.


(Beifall bei der SPD)


Der vorliegende Referentenentwurf unseres Bundes-
finanzministers Schäuble – ich sage das mit allem gebo-
tenen Respekt, aber auch in aller Sachlichkeit – ist weit
von einem solchen Anspruch entfernt. Das muss man
einmal ganz klar so formulieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Denn neben der pflichtgemäßen und verfassungsrecht-
lich gebotenen Anpassung des Grundfreibetrags und des
Kinderfreibetrags für 2015 und 2016 auf Basis des ak-
tuellen Existenzminimumberichts, neben der Kür, dass
das Kindergeld 2015 um 4 Euro pro Monat und 2016 um
weitere 2 Euro pro Monat aufgestockt werden soll und
der Kinderzuschlag ab Juli 2016 um 20 Euro erhöht wer-
den soll, findet sich dort nichts wieder. Das ist aus mei-
ner Sicht eine Enttäuschung.

Ich möchte das an zwei Punkten deutlich machen:

Erstens. Im Koalitionsvertrag findet sich die klare
Formulierung, dass der steuerliche Entlastungsbetrag für
Alleinerziehende angehoben werden soll. Weiter heißt
es, dass er nach der Zahl der Kinder gestaffelt werden
soll. Das findet im Gesetzentwurf von Herrn Schäuble
überhaupt nicht statt. Damit werden wieder einmal dieje-
nigen alleingelassen, die am dringendsten Unterstützung
brauchen. Führt man sich die Situation von Alleinerzie-
henden vor Augen, erkennt man, dass sie im Vergleich
zu den Familien, in denen zwei Ehepartner Kinder erzie-
hen, erheblich höhere finanzielle Lasten zu tragen haben.
An diesem Punkt erkennt man wiederum – das haben
auch schon einige Vorredner gesagt –, warum Kinder-
armut insbesondere in Familien von Alleinerziehenden
vorkommt. Darum ist es aus meiner Sicht nicht nur eine
Frage der Gerechtigkeit, hier nachzusteuern; es ist auch
ein Punkt, an dem man Kinderarmut an der Wurzel be-
kämpfen kann.


(Beifall des Abg. Dr. Wolfgang StrengmannKuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Der Gesetzentwurf von Bundesfinanzminister
Schäuble enthält einen zweiten Punkt, der mir auf den





Frank Junge


(A) (C)



(D)(B)


Nägeln brennt: Es wird keine rückwirkende Anhebung
des Kinderfreibetrags und des Kindergeldes für 2014
geben. Wir werden nicht lange warten müssen, bis es
wegen genau dieser ausbleibenden Leistungen, die unse-
ren Familien zugutekommen würden, zu Klagen kommt;
der Bund der Steuerzahler hat das schon angekündigt. In
der Folge würde das Gericht anordnen, hier nachzusteu-
ern. Diese Peinlichkeit können wir uns ersparen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum
Schluss. Der Entwurf von Finanzminister Schäuble zu
familienpolitischen Leistungen wird sich mit Sicherheit
vor der Kabinettssitzung nicht mehr ändern lassen. Ich
bedaure das. Wir von der SPD haben an vielen Stellen
weiter reichende Vorstellungen; im Koalitionsvertrag
gibt es entsprechende Vereinbarungen. Ich lade Sie alle
ein, im parlamentarischen Verfahren dafür Sorge zu
tragen – wir werden das tun –, dass die Dinge, die uns
diesbezüglich auf den Nägeln brennen, Einzug in den
Gesetzentwurf finden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809416400

Das Wort hat die Kollegin Gabriele Schmidt für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Gabriele Schmidt (CDU):
Rede ID: ID1809416500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Gäste im Bun-

destag! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte
zeigt ganz eindeutig, dass Armut das Lebensrisiko im
Leben eines kleinen Kindes ist. Wir alle wohnen in ei-
nem reichen Land, ich in Baden-Württemberg, einem
der reichsten Bundesländer. Da fragt man sich: Kann es
sein, dass so viele Kinder so wenig Zugang zu Wohl-
stand haben und so früh so stark beeinträchtigt sind? Ja,
sagt die Bertelsmann-Studie. Die Studie ist tatsächlich
sehr differenziert zu betrachten; dazu haben wir heute
schon sehr viel gehört.

In den ersten Lebensjahren ist die Situation besonders
kritisch, weil in dieser sensiblen Lebensphase die
Grundlagen für die Zukunft gelegt werden und damit
alle elementaren Voraussetzungen wie Sprache, Feinmo-
torik und soziale Fähigkeiten geschaffen werden.

Was müssen wir tun, was sollen wir aus dieser Studie
lernen? Wir müssen zwei Dinge gleichzeitig tun: Wir
müssen uns um die Eltern kümmern, und wir müssen uns
um die Kinder kümmern. Was wir brauchen, sind
Arbeitsplätze in ausreichender Zahl. Außerdem müssen
die Eltern genug verdienen, damit sie sich und ihren
Familien ein auskömmliches Leben ermöglichen kön-
nen. Mit dem Mindestlohn sind wir hier – das mögen Sie
bestreiten – in die richtige Richtung gegangen. Mit dem
Elterngeld Plus wollen wir erreichen, dass sich Mütter
und Väter verstärkt um ihre Kinder kümmern können,
ohne im Beruf den Anschluss zu verlieren, sodass Armut
erst gar nicht entstehen kann.

Gut bezahlte Arbeit für die Eltern zu schaffen, heißt
im Klartext natürlich: Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
und der Langzeitarbeitslosigkeit. Wir brauchen eine bes-
sere Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch Schaf-
fung von Flexibilität, oftmals auch nur durch den guten
Willen von Arbeitgebern, Behörden und allen Beteilig-
ten. Wir brauchen mehr und bessere langfristige Betreu-
ungsangebote für Kinder von alleinerziehenden Müttern
und Vätern. 50 Prozent – die Zahl wurde genannt – der
Haushalte im SGB-II-Bezug mit Kindern sind Alleiner-
ziehendenhaushalte.

Wie ich schon sagte, müssen wir uns um die Kinder
direkt kümmern. Dazu gehört ganz besonders der Zu-
gang von Kindern zu Kitas und anderen Fördereinrich-
tungen, und das unabhängig vom Geldbeutel der Eltern.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Seit dem 1. August 2013 hat jedes Kind Anspruch auf
einen Kitaplatz. Seitdem ist wirklich viel passiert. Das
können Sie – Herr Müller, Frau Dörner, liebe Opposi-
tion – bestreiten, wie Sie wollen: Es ist enorm viel pas-
siert in dieser Zeit. Einige meiner Vorredner haben über
die finanziellen Anstrengungen des Bundes für die Kin-
dertagesbetreuung in den letzten Jahren gesprochen – bis
hin zum gestern vom Kabinett beschlossenen Nachtrags-
haushalt für den Kitaausbau: plus 100 Millionen Euro.
Das ist alles gut; aber ich weiß auch, wir sind noch nicht
am Ziel. Darin sind wir uns wenigstens einig: Wir sind
auf dem Weg.


(Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Ganz am Anfang des Weges!)


Wir brauchen noch mehr Plätze, weil immer noch in vie-
len Bundesländern Plätze fehlen, zum Beispiel in Baden-
Württemberg. Das Land wird grün-rot regiert.

Mein Berliner Kollege Martin Pätzold hat schon von
den wichtigen Schwerpunktkitas gesprochen. Von diesen
rund 4 000 Schwerpunktkitas ist eine in meinem Wahl-
kreis, im Ort Albbruck am Rhein. Ich habe mich im
Oktober vom Erfolg der Sprachförderung in dieser Ein-
richtung überzeugen können. Sowohl der dortige Bür-
germeister Stefan Kaiser als auch die Kinderhausleite-
rin Iris Vogt haben mir versichert, wie wichtig der
jährliche, vergleichsweise kleine Förderbetrag in Höhe
von 25 000 Euro ist, damit dort Sprachunterricht von ei-
ner Fachkraft gegeben werden kann und somit jedes
Kind von Anfang an faire Chancen hat. Spracherwerb ist
der Grundstein für den späteren Erfolg in Bildung und
Beruf; ohne Sprache kein Beruf, ohne Beruf keine Per-
spektive.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Bärbel Bas [SPD])


Baden-Württemberg ist nicht der Hotspot sozialer
Probleme, jedenfalls nicht in der Fläche; aber auch bei
uns sind sozial benachteiligte Familien und natürlich
Kinder mit Migrationshintergrund betroffen. Ich begrüße
deswegen, dass der Bund auch über das Jahr 2015 hinaus
eine weitere Initiative zur sprachlichen Bildung plant.

Der Staat ist natürlich wichtig. Darüber hinaus gibt es
aber im ganzen Land viele positive, ermutigende Pro-





Gabriele Schmidt (Ühlingen)



(A) (C)



(D)(B)


jekte von unterschiedlichsten Initiativen und Anbietern,
die Kinder und ihre Eltern stärken und den Kindern das
Kindsein ermöglichen. Ich denke an die Frühen Hilfen in
Bayern oder Rock Your Life! für größere Kinder in mei-
ner Heimat. Ich denke an die kommunalen Einrichtun-
gen wie das Familienzentrum in meiner Nachbarschaft
Lauchringen, das ich öfter besuche. Hier können wir uns
alle als Mitbürger, als Miteltern, hier kann sich die ganze
Gesellschaft zum Wohl von Kindern, für bessere Startbe-
dingungen und für Chancengleichheit einbringen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809416600

Der Kollege Paul Lehrieder hat abschließend für die

CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1809416700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen,

liebe Kollegen! Ich freue mich, dass auch die Regie-
rungsbank heute gut besetzt ist. Es freut mich ganz be-
sonders, dass neben den Fachpolitikern, insbesondere
der Kollegin Ferner, auch der Staatssekretär im Finanz-
ministerium, Herr Steffen Kampeter, unter uns weilt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das kann zwei Gründe haben: zum einen, dass wir nicht
zu viel versprechen, was er halten muss; zum anderen
kann es aber auch sein – ich hoffe, dass dies der Fall
ist –, dass er sich die sinngebenden Ausführungen zur
Bekämpfung der Kinderarmut auch aus fiskalischen
Gründen hier anhört und guckt, wo wir da in den nächs-
ten Wochen noch etwas verbessern können.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


– Der Applaus gebührt Ihnen, Herr Kampeter.


(Heiterkeit)


Herr Kollege Müller – danke für die Aktuelle Stunde
auch an die Linken; das ist damit auch erledigt –,


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Sie haben das Deutsche Kinderhilfswerk zitiert. Die
Mail, die Sie zitiert haben, ging nicht nur den Linken zu,
sondern zum Glück auch der CSU. Sie haben allerdings
bei Ihrem Zitat einen Satz zu bald aufgehört; da können
Sie sich Ihr Skript noch einmal vornehmen. Sie haben
gesagt:

Ein gesundes Aufwachsen sollte für alle Kinder,
unabhängig vom Geldbeutel ihrer Eltern, ebenso
eine Selbstverständlichkeit sein.

Dann ging es in der Mail aber weiter:

Mit Bildung stärken wir die Kinder als Subjekte
und ermöglichen es ihnen, ihr Leben in die Hand zu
nehmen und nicht in Resignation zu versinken. Hier
sind gute Kitas mit sozial gemischten Gruppen

– darauf hat die Kollegin gerade hingewiesen –

ein wichtiger Ansatzpunkt für mehr Chancenge-
rechtigkeit, betont Thomas Krüger, der Präsident
des Deutschen Kinderhilfswerks.

Das war der Werbeblock für das Kinderhilfswerk.

Bei der Bekämpfung von Kinderarmut – ich habe die
Mail deswegen extra noch einmal zitiert – spielen der
Zugang zu Bildung und Ausbildung sowie die soziale
und kulturelle Teilhabe eine besondere Rolle. Beste-
hende Kinderarmut verschärft sich langfristig dadurch,
dass Kinder zunehmend in bildungsschwachen Haus-
halten aufwachsen. Zur Bekämpfung von Kinderarmut
reicht es deshalb nicht aus, den Familien ausschließlich
mehr Geld in die Hand zu geben


(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Richtig!)


– Geld löst nicht alle Probleme. Geld ist nicht alles, aber
ohne Geld ist alles nichts, das stimmt schon.


(Beifall der Abg. Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE] und Dr. Wolfgang StrengmannKuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Vielmehr kommt es darauf an, alle Kinder gleicherma-
ßen zu fördern. Daher haben wir im Jahr 2011 – darauf
wurde von einigen Vorrednern schon hingewiesen – das
Bildungs- und Teilhabepaket auf den Weg gebracht.
Seither kann beispielsweise im Rahmen der Grundsiche-
rung für Arbeitsuchende die Teilnahme von Kindern und
Jugendlichen an Angeboten wie Nachhilfe, Musikschule,
Mittagessen in Hort und Schule und Klassenausflügen
beantragt werden. Lieber Kollege Wunderlich, in diesem
Bereich haben wir schon viel gemacht; ich sage das, weil
Sie das in Ihrer Eingangsrede so despektierlich ausge-
führt haben.


(Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Mit dem „viel“ wäre ich vorsichtig!)


In Bezug auf die Kitaqualität, liebe Frau Kollegin
Dörner – nun möchte ich auch Steffen Kampeter anspre-
chen; denn wir beraten am nächsten Mittwoch unser In-
vestitionsprogramm im Ausschuss –, gibt es die berech-
tigte Hoffnung, dass uns in den nächsten Jahren neues
Geld für die Verbesserung der Kitaqualität zur Verfü-
gung gestellt wird, damit wir die Kitaqualität fördern
und stärken können.

Richtig ist – das kann man gar nicht oft genug beto-
nen –: In den letzten sechs, sieben, acht Jahren haben wir
den Ausbau der Kitas so vorangetrieben wie keine Gene-
ration vor uns. Die Möglichkeit, das Kind in eine Kita zu
geben, ermöglicht den Eltern, eine Berufstätigkeit, sei es
Teilzeit oder Vollzeit, auszuüben. Das ist eine der wich-
tigsten Säulen gegen die Kinderarmut, die natürlich oft
aus Elternarmut resultiert. Man sieht: Die Große Koali-





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)


tion – die erste Große Koalition, wir mit der FDP, und
auch die zweite Große Koalition – hat in diesem Bereich
sehr viel getan. Wir brauchen uns nicht zu verstecken.
Wir brauchen auch keine Belehrungen von den Linken.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Bärbel Bas [SPD])


Kinder können dann am besten aus der Armut heraus-
geholt werden, wenn ihre Eltern einer Erwerbstätigkeit
nachgehen. Um dies zu erleichtern, haben wir vor ein-
einhalb Jahren den Rechtsanspruch auf einen Betreu-
ungsplatz für unter Dreijährige eingeführt. Dieser gilt
seit dem 1. August 2013. Wir setzen uns für eine gute
Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein, indem wir die
Kinderbetreuung weiter ausbauen, flexible Arbeits- und
Teilzeitmodelle fördern und den Wiedereinstieg nach ei-
ner familienbedingten Pause erleichtern.

Mit dem Freibetrag für Betreuung und Erziehung
oder Ausbildung sowie den bereits genannten zusätzli-
chen Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket
garantieren wir für jedes Kind Bildung und Teilhabe.
Durch die Einführung des Elterngeld Plus – auch darauf
haben meine Vorredner bereits hingewiesen; darauf kann
man als letzter Redner immer Bezug nehmen – soll El-
tern die bestmögliche Inanspruchnahme des Elterngeldes
in Kombination mit einer nicht geringfügigen Teilzeittä-
tigkeit ermöglicht und damit der Wiedereinstieg vor al-
lem für Alleinerziehende erleichtert werden.

Den wichtigsten Beitrag zu einer modernen Familien-
politik leistet jedoch der weitere Ausbau der Kinderta-
gesbetreuung. Ich möchte an dieser Stelle ganz bewusst
den Ländern, die ihre Hausaufgaben gemacht haben – es
waren nicht alle gleichmäßig aktiv, aber die meisten wa-
ren aktiv, insbesondere Bayern –, und auch den Kommu-
nen, den Bürgermeistern und Gemeinderäten ein herzli-
ches Wort des Dankes sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


– Bitte schön. Da kann man schon einmal klatschen. –
Als wir vor sieben, acht Jahren das Projekt angegangen
sind, hätte ich mir nicht vorstellen können, dass der
Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz zum 1. August 2013
relativ reibungslos – es hat ein paar wenige Probleme ge-
geben, aber im Großen und Ganzen hat es reibungslos
geklappt – eingeführt wird. Ein herzliches Dankeschön
an die Kommunalpolitiker; das gehört sich an dieser
Stelle.

Nach meinem Dank an die Kommunalpolitiker jetzt
meine Bitte an die Finanzpolitiker: Wir diskutieren über
die vernünftige Ausstattung für Kinder, in den nächsten
Wochen und Monaten über die Kindergelderhöhung.
Bitte, lieber Steffen Kampeter, du hast gehört, wie wich-
tig die Kinder und die Familien sind. Die Kinder von
heute sind die Steuerzahler von morgen. Ihnen ein gutes
Aufwachsen zu ermöglichen, das sollte jedem Finanz-
politiker ein ganz großes Anliegen sein.

Herzlichen Dank.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809416800

Die Aktuelle Stunde ist beendet.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:

a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Umsetzung von Empfehlungen des
NSU-Untersuchungsausschusses des Deutschen
Bundestages

Drucksache 18/3007

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Recht und Verbraucherschutz

(6. Ausschuss)


Drucksache 18/4357

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Recht und Verbrau-
cherschutz (6. Ausschuss) zu dem Antrag der
Abgeordneten Volker Beck (Köln), Luise
Amtsberg, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Hasskriminalität wirkungsvoll statt symbo-
lisch verfolgen

Drucksachen 18/3150, 18/4357

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Johannes Fechner für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Johannes Fechner (SPD):
Rede ID: ID1809416900

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer!
14 Jahre lang konnten die Mitglieder des NSU unter-
stützt von einem Netzwerk von Gleichgesinnten brutale
Verbrechen begehen. Diese rechtsextremistischen Terro-
risten verübten zehn Morde, einen Mordversuch, einen
Sprengstoffanschlag mit lebensgefährlich verletzten
Menschen in Köln und brutale Raubüberfälle. Dass diese
brutale Mordserie nicht gestoppt werden konnte, hängt
auch damit zusammen, dass aufseiten der Sicherheitsbe-
hörden massive Fehler passiert sind. Der NSU-Untersu-
chungsausschuss hat mangelnden Informationsaustausch
der Ermittlungsbehörden, Kompetenzstreitigkeiten und
auch direkte Fehleinschätzungen klar festgestellt.

Wenn man aus Baden-Württemberg die Nachricht
hört, dass bei einer kriminaltechnischen Untersuchung
eines Autos übersehen wurde, dass dort eine Waffe, eine
Machete und Autoschlüssel lagen, dann hofft man doch,
falls diese Medienberichte stimmen, dass diese seltsa-
men Ermittlungspannen endlich zu Ende sind. Aber das
nur am Rande.

Parteiübergreifend wurden im Untersuchungsaus-
schuss nicht nur sehr sorgfältig die Fehler und Versäum-
nisse analysiert. Vielmehr wurde eine detaillierte Liste
erstellt, welche Konsequenzen von der Politik zu ziehen





Dr. Johannes Fechner


(A) (C)



(D)(B)


sind, um solche schrecklichen Verbrechen zukünftig zu
verhindern. Genau diese Empfehlungen gehen wir mit
diesem Gesetzesentwurf an.

Eine wichtige Empfehlung war, die Zuständigkeiten
des Generalbundesanwaltes klarer zu gestalten und aus-
zuweiten. So kann der Generalbundesanwalt nach dem
Gesetzentwurf, den wir vorlegen, bereits bei objektiv
staatsfeindlichem Charakter einer Tat die Verfolgung
übernehmen. Eine entsprechende Zielsetzung der Tat
selbst ist für die Aufnahme von Ermittlungen durch den
Generalbundesanwalt nicht mehr erforderlich. Die Zu-
ständigkeit des Generalbundesanwaltes kann zukünftig
auch durch den länderübergreifenden Charakter der Tat
begründet werden.

Schließlich hat der Untersuchungsausschuss festge-
stellt, dass die Staatsanwaltschaften, die mit den Ermitt-
lungen betraut waren, dem Generalbundesanwalt eben
nicht Informationen und Akten übersandt hatten, anhand
derer er seine Zuständigkeit hätte überprüfen können.
Deshalb wird nun ausdrücklich geregelt, dass die Staats-
anwaltschaften Vorgänge, die Anlass zur Prüfung einer
Übernahme durch den Generalbundesanwalt geben, an
diesen unverzüglich übersenden müssen. Das alles sind
wichtige Änderungen, die wir umsetzen müssen, wenn
wir verhindern wollen, dass solche Terrorserien in
Deutschland möglich sind.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Untersuchungsausschuss hat ferner einstimmig
festgehalten, dass in allen Fällen von Gewaltkriminalität,
die einen rassistisch oder politisch motivierten Hinter-
grund haben können, dies nachvollziehbar dokumentiert
werden muss. Polizei und Staatsanwaltschaft seien zu
verpflichten, ein solches Motiv für die Tat angemessen
zu berücksichtigen. Diese einstimmige Forderung, die
Prüfung und Ahndung von rassistisch motivierter Ge-
waltkriminalität zu verbessern, ist Ziel dieses Gesetzent-
wurfs. Wir wollen in § 46 des Strafgesetzbuchs aus-
drücklich regeln, dass rassistische, fremdenfeindliche
oder sonstige menschenverachtende Tatmotivationen
schärfer bestraft werden können. Das ist ein klares Zei-
chen gegenüber all jenen Gewalttätern, die meinen, Min-
derheiten oder Menschen anderen Glaubens, anderer
Hautfarbe oder anderer Herkunft Gewalt antun zu kön-
nen. Das können wir nicht dulden. Dieses Gesetz ist ein
ganz klares Zeichen dagegen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Begeisterung hält sich in Grenzen!)


Sicher, schon bisher konnten Richter und Staatsan-
wälte rassistische Tatmotivationen in die Bemessung des
Strafmaßes strafschärfend einbeziehen. Aber die aus-
drückliche Nennung verdeutlicht nun die Rechtslage.
Deswegen ist es sinnvoll, dass wir diese Motivation
ausdrücklich ins Gesetz schreiben. So haben es in der
Sachverständigenanhörung auch Herr Wehowsky, Bun-
desanwalt beim BGH, und Generalstaatsanwalt Konrad
gesagt.

Ausdrücklich erwähnen möchte ich in diesem Zusam-
menhang, auch wenn es nicht direkt mit dem Gesetzent-
wurf zu tun hat, dass jüngst der RiStBV-Ausschuss Än-
derungen genau in diesem Sinne beschlossen hat.
Ermittlungen sollen sich auch auf rassistische, fremden-
feindliche oder menschenverachtende Beweggründe
erstrecken. Zudem wird es zukünftig in der entsprechen-
den Regelung heißen, dass ein öffentliches Interesse an
der Strafverfolgung dann vorliegt, wenn ein Täter mit
rassistischen, fremdenfeindlichen oder sonstigen men-
schenverachtenden Beweggründen handelt.

Ich glaube, meine lieben Kolleginnen und Kollegen,
mit diesem Gesetzentwurf ziehen wir die richtigen Kon-
sequenzen aus der brutalen Mordserie des NSU und zei-
gen, dass wir rassistische Gewalttaten nicht dulden und
alle rassistisch motivierten Gewalttäter eine harte Strafe
erwartet. Das ist erforderlich. Deswegen verabschieden
wir diesen Gesetzentwurf.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809417000

Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Halina

Wawzyniak das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Halina Wawzyniak (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809417100

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen

und Kollegen! Der Gesetzentwurf soll Empfehlungen
des NSU-Untersuchungsausschusses umsetzen. Der
NSU-Untersuchungsausschuss hat 47 Handlungsemp-
fehlungen oder Schlussfolgerungen aufgeschrieben. Wir
setzen hier nur einen sehr geringen Teil um. Der NSU
– ich glaube, das muss man an dieser Stelle noch einmal
sagen – waren Nazis, Nazis, die mehr als ein Jahrzehnt
mordend durch das Land gezogen sind. Ich glaube, an
diesen Fakt muss man in dieser Debatte immer wieder
erinnern.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die in dem Gesetzentwurf vorgeschlagenen Änderun-
gen im Hinblick auf den Generalbundesanwalt sind un-
streitig. Ich will an dieser Stelle nicht darauf eingehen.

Ich will auch nur kurz etwas zur Änderung des § 46
Absatz 2 des Strafgesetzbuches sagen. Die erste Hand-
lungsempfehlung des NSU-Untersuchungsausschusses
sah vor, dass das in den RiStBV geregelt werden soll.
Sie haben jetzt gesagt, dass das angestoßen wird. Aber
wir diskutieren über den § 46 Absatz 2 des Strafgesetz-
buches – das werden wir nachher noch erleben – unter
dem Gesichtspunkt „Empfehlungen des NSU-Untersu-
chungsausschusses“. Dieser hat aber die Änderung des
§ 46 Absatz 2 des Strafgesetzbuches überhaupt nicht ge-
fordert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)






Halina Wawzyniak


(A) (C)



(D)(B)


Und: Schon jetzt können die Ziele und Beweggründe so-
wie die Gesinnung des Täters bei der Strafzumessung
berücksichtigt werden, und zwar bei allen Tätern.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Regelung ist mithin einfach überflüssig. Sie ist
gut gemeint; aber gut gemeint ist nicht immer gut ge-
macht. Insbesondere das Wort „menschenverachtend“
steht ja zu Recht in der Debatte. Ich zum Beispiel finde,
Motivationen, die homophob begründet sind, sind men-
schenverachtend.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Jan-Marco Luczak Aber dann hätten Sie das auch so hineinschreiben müssen. (Dr. Johannes Fechner [SPD]: Das ist doch davon erfasst!)


Insofern hat das Bündnis 90/Die Grünen im Übrigen
mit seinem Antrag recht, wenn dort erklärt wird, dass es
keines neuen Sonderrechts, keiner neuen Straftat-
bestände und keiner Erhöhung von Strafrahmen bedarf.
Wir werden diesem Antrag zustimmen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich will auf die Anhörung eingehen. Dort hat der
Sachverständige Sebastian Scharmer die erste Hand-
lungsempfehlung des NSU-Untersuchungsausschusses
aufgegriffen und gefordert:

Bei jeder Gewalttat müsste ein Vermerk zumindest
darüber gefasst werden, ob neonazistische oder
rassistische Motive ausgeschlossen werden können.
Das würde zumindest eine entsprechende Signal-
wirkung schon für die Polizei, die Staatsanwalt-
schaft und letztlich dann auch für ein Gerichtsver-
fahren haben.

Sie haben ja gesagt, das finde jetzt in den RiStBV
statt. Dann ist das ein Anfang.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist trotzdem eine komische Formulierung!)


Aber: Wenn wir uns mit den Empfehlungen des NSU-
Untersuchungsausschusses auseinandersetzen, dann
müssen wir über mehr reden, und dann ist dies mehr als
eine rechtspolitische Debatte. Im Sondervotum meiner
Fraktion hieß es damals:

Institutioneller Rassismus ist nach Überzeugung
der Fraktion DIE LINKE. jenseits individueller
Einstellungen und Überzeugungen der einzelnen
Ermittler als ein strukturelles Merkmal der Polizei-
arbeit bei den Ermittlungen zur rassistischen Mord-
serie erkennbar.

Ja, und ich finde, wir müssen über diesen institutiona-
lisierten Rassismus reden, auch in einer solchen Debatte,
die nur vordergründig eine rechtspolitische Debatte ist.


(Beifall bei der LINKEN)


Institutioneller Rassismus geht von Institutionen der
Gesellschaft, Verfahren und Normen aus. Er führt tag-
täglich zu Benachteiligung und Diskriminierung. Wir
müssen in einer solchen Debatte, wie sie hier stattfindet,
darüber reden, was wir gegen Rassismus tun können.
Wir müssen darüber reden, warum, weshalb und wieso
Rassismus immer und immer wieder entsteht, warum er
partiell sogar Menschen in Massen auf die Straße treibt.
Ich finde, gerade in Zeiten von Pegida müssen wir deut-
lich sagen: Alle Rassisten sind Arschlöcher – überall.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Wir sind doch hier nicht auf dem Bolzplatz! – Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Was für eine Verrohung! Unmöglich ist das! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Na, na! – Was soll denn das?)


Wenn wir gemeinsam etwas gegen Rassismus tun
wollen, dann sollten wir das aufgreifen, was im Ab-
schlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses im
Hinblick auf zivilgesellschaftliche Initiativen steht:

Zahllose zivilgesellschaftliche Initiativen … leisten
seit vielen Jahren einen unverzichtbaren Beitrag bei
der gesellschaftlichen und politischen Auseinander-
setzung mit Rassismus, Antisemitismus, Rechts-
extremismus und anderen Formen des Phänomens
der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“.
… Zivilgesellschaftliche Initiativen sind unver-
zichtbar, nicht nur als Frühwarnsystem. … Dieses
Engagement muss unterstützt, ausreichend geför-
dert, ausgebaut und verstetigt werden.


(Beifall der Abg. Susann Rüthrich [SPD])


Ja, das muss es. Da ist ein Anfang gemacht worden: Die
Projektlaufzeiten sind von drei auf fünf Jahre verlängert
worden. Aber ich glaube, gerade diese zivilgesellschaft-
lichen Initiativen brauchen Sicherheit: Sicherheit in ihrer
Arbeit, Sicherheit in ihrer Finanzierung.

Mein letzter Satz – weil hier gerade von „Verrohung“
gesprochen wurde –: Ich weiß gar nicht, warum Sie sich
aufregen. Finden Sie den Satz „Alle Rassisten sind
Arschlöcher – überall“ etwa falsch? Ich nicht.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Max Straubinger [CDU/CSU]: Wir haben hier eine andere Ausdrucksweise! Es geht um die Ausdrucksweise, Frau Kollegin!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809417200

Bei aller Emotionalität und – sicherlich auch noch in

der folgenden Debatte – bei allem Austausch von Argu-
menten und Vorhaben zur Umsetzung der Empfehlungen
des NSU-Untersuchungsausschusses bitte ich Sie trotz-
dem, sich hier im Plenum einer parlamentarischen Aus-
drucksweise zu befleißigen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es war ja niemand im Plenum angesprochen!)






Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)


– Ja. Kollege Beck, Sie müssen sich jetzt nicht zum An-
walt machen, im Moment spricht die Präsidentin. Ich
habe Sie gar nicht angesprochen,


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Wenn sich einer angesprochen fühlte!)


zurzeit befasse ich mich mit der Kollegin Wawzyniak.

Wir fahren fort in der Debatte. Das Wort hat der Kol-
lege Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Volker Ullrich (CSU):
Rede ID: ID1809417300

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Der Gesetzentwurf gibt Antworten auf eine
wichtige Frage, die uns als Gesetzgeber gestellt worden
ist: Wie können wir aus Fehlern, Versäumnissen und
unklaren Zuständigkeiten bei der Aufklärung der NSU-
Mordserie lernen und Strukturen im Bereich der Straf-
rechtspflege verbessern? Der wehrhafte Rechtsstaat ist
stets auch ein lernender, der seine gesetzlichen Regelun-
gen zum Schutz des friedlichen Zusammenlebens und
der freiheitlich-demokratischen Grundordnung überprüft
und notfalls anpasst; das ist der Kern gesetzgeberischer
Arbeit.

Der erste Teil des Gesetzes betrifft die Kompetenzen
und Zuständigkeiten des Generalbundesanwalts. Diese
sollen klargestellt und erweitert werden. Das betrifft das
Verhältnis des Bundes zu den Ländern und hat verfas-
sungsrechtlich unbedenklich zu sein. Die Justizhoheit
der Länder ist ein wesentliches und wichtiges Ordnungs-
prinzip unseres föderalen Staatswesens. Der Bund hat
daher im Bereich der Strafjustiz so zurückhaltend zu
handeln, dass diese grundsätzliche Kompetenzverteilung
zwischen Bund und Ländern nicht infrage gestellt wird.

Die vorgeschlagene Erweiterung und Klarstellung der
Aufgaben des Generalbundesanwalts wird diesen verfas-
sungsrechtlichen Vorgaben im Ergebnis gerecht, weil er
nicht in die Kompetenzen eingreift, sondern bestehende
Rechte geschärft und klargestellt werden.

Sie ist auch aus sachlichen Gründen geboten: Nach
der geltenden Rechtslage muss die staatsschutzfeind-
liche Tat bestimmt und geeignet sein, das friedliche
Zusammenleben zu stören. Das bedeutet, dass zur Be-
gründung der Zuständigkeit des Generalbundesanwalts
bislang stets die Motivlage des Täters geprüft und im Er-
gebnis ein staatsschutzfeindlicher Vorsatz bejaht werden
musste, um eine Ermittlungskompetenz zu begründen.
Das hat gerade in den Fällen zu einer unklaren Situation
geführt, in der zwar dem Grunde nach ein staatsschutz-
gefährdender Charakter der Tat vorlag, der Vorsatz des
Täters aber nicht deutlich zutage trat oder nicht ermittelt
werden konnte. Deswegen soll zukünftig richtigerweise
nur noch die objektive Eignung der Tat notwendig sein;
das ist die richtige Klarstellung.

Die Staatsanwaltschaften der Länder haben zudem
dem Generalbundesanwalt künftig auch zwingend Vor-
gänge vorzulegen, aus denen sich Anhaltspunkte für eine
Staatsschutztat ergeben. Damit wird der Generalbundes-
anwalt frühzeitig eingebunden und kann notwendige

Ermittlungen bündeln. Meine Damen und Herren, wir
haben gemeinsam dafür Sorge zu tragen, dass sich die
erweiterten Zuständigkeiten des Generalbundesanwalts
auch in einer entsprechenden Sach- und Personalausstat-
tung widerspiegeln; denn anders geht es nicht. Kompe-
tenzen müssen Mittel nach sich ziehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir ändern auch die Vorschrift über die Strafzumes-
sung, den § 46 StGB. Durch die Einfügung der Worte
„rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige men-
schenverachtende“ werden diese Motive ausdrücklich zu
einer Grundlage der Strafzumessung. Dies stellt einen
Paradigmenwechsel im Bereich der Strafzumessung dar.
Die bislang bewusst abstrakt gehaltenen Merkmale wer-
den jetzt durch Regelbeispiele ersetzt.

Ausdrücklich sei festgehalten: Wir schließen damit
keine Regelungslücke. Auch nach der bisherigen
Rechtslage können – und ich füge hinzu: müssen – die
Tatgerichte rassistische, fremdenfeindliche und sonstige
menschenverachtende Motive bei der Strafzumessung
strafverschärfend berücksichtigen.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Eben!)


Dass diese Motive jetzt zusätzlich und ausdrücklich im
Gesetzestext erwähnt werden, geschieht zur Erhöhung
der Sensibilität der Justiz und ist eine gesetzgeberische
Wertentscheidung, die besagt: Wir verurteilen Hasskri-
minalität in einem besonderen Maße.

Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass diese Regelung
in der Anhörung wegen der fehlenden zwingenden
Notwendigkeit von einigen Sachverständigen kritisch
beurteilt und in dieser konkreten Form auch nicht vom
NSU-Untersuchungsausschuss vorgeschlagen wurde.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In keiner Weise!)


Wir werden sie dennoch verabschieden, weil das ein
klares Zeichen des wehrhaften Rechtsstaates gegen
Hass, Fremdenfeindlichkeit und Extremismus ist. Das ist
in diesen Zeiten sehr wichtig.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift ist ohne
jede Frage eng mit der notwendigen Bekämpfung des
Rechtsextremismus verknüpft. Das ist und bleibt ein
sehr wichtiges Ziel.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Diese Vorschrift richtet sich aber selbstverständlich ge-
gen jede Form der Menschenverachtung, natürlich auch
gegen Linksextremismus, gegen Islamismus, gegen alle
Feinde unserer Freiheit. Der wehrhafte Rechtsstaat ver-
urteilt Extremismus jedweder Couleur.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809417400

Kollege Ullrich, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-

kung der Kollegin Wawzyniak?






(A) (C)



(D)(B)



Dr. Volker Ullrich (CSU):
Rede ID: ID1809417500

Nein.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Dasselbe wie im Ausschuss! Deplatziert!)


Es bleibt unsere gemeinsame Aufgabe, die weiteren
Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses um-
zusetzen und weiter Aufklärung zu fordern, wo noch
Fragen offen sind.

Insgesamt ist aber auch weiterhin ein klares Bekennt-
nis dieser Zivilgesellschaft zur Freiheit, zur Würde des
Menschen und zum Rechtsstaat erforderlich. Deswegen
kann ich Ihnen die Annahme dieses Gesetzentwurfes gu-
ten Gewissens empfehlen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809417600

Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin

Wawzyniak das Wort.


Halina Wawzyniak (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809417700

Da müssen Sie jetzt durch. Wir haben das im

Ausschuss schon einmal diskutiert, und ich werde jetzt
dasselbe sagen, was ich bereits im Ausschuss gesagt
habe.

In § 46 Absatz 2 Strafgesetzbuch, den Sie jetzt än-
dern, werden alle Motive der Straftäterinnen und Straftä-
ter bei der Strafzumessung berücksichtigt. Ich finde es
aber deplatziert und völlig unsensibel, dass Sie an dieser
Stelle, an der wir jetzt über die Empfehlungen des NSU-
Untersuchungsausschusses reden – es geht hier um eine
Nazibande, die mordend durchs Land gezogen ist –,
darauf eingehen, welche anderen Gewalttaten mögli-
cherweise noch stattfinden. Ich sage Ihnen einfach: Ich
finde das echt deplatziert.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1809417800

Herr Kollege Ullrich, möchten Sie antworten? – Nein.

Dann hat jetzt der Kollege Beck das Wort. Bitte
schön.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809417900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir set-

zen heute eine von 47 Empfehlungen des NSU-Untersu-
chungsausschusses um. Das ist gut und richtig. Wir soll-
ten darüber bloß die anderen 46 Empfehlungen auf
keinen Fall vergessen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es wurde schon von Ihnen von der Linken angespro-
chen: Es geht natürlich auch um institutionalisierten
Rassismus. Es geht um die Frage: Wie konnten Polizis-
ten und Staatsanwaltschaften in mehreren Mordfällen

systematisch in die gleiche falsche Richtung ermitteln,
die Angehörigen der Opfer zu potenziellen Verdächtigen
machen und die tatsächlichen Täter aus dem Blick ver-
lieren, weil sie rassistische Übergriffe von Rechtsextre-
misten an diesem Punkt ausgeschlossen haben?

Diese Frage nagt an uns allen. Dieser Frage müssen
wir uns auch nach Abschluss dieses Gesetzgebungsver-
fahrens stellen. Genauso müssen wir uns den noch offe-
nen Fragen stellen, die im NSU-Verfahren in München
und in den Untersuchungsausschüssen der Landtage auf-
geworfen werden. Auch folgende Frage bleibt weiter im
Raum: Müssen wir als Bundestag in einem entsprechen-
den Untersuchungsverfahren noch einmal näher hin-
schauen, oder kommt alles ans Licht? Es darf auf jeden
Fall in der Debatte nicht stehen bleiben, dass irgendet-
was, was hätte aufgeklärt werden können, nicht aufge-
klärt wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der Abg. Dr. Karl-Heinz Brunner [SPD] und Michelle Müntefering [SPD])


Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf enthält
zwei Aspekte. Zum einen geht es um die Erweiterung
der Zuständigkeiten des Generalbundesanwaltes. Das
begrüßen wir ausdrücklich, auch wenn man sich überle-
gen kann, ob es in der Sache weit genug geht. Es bleibt
weiterhin davon abhängig, dass entweder die zuständige
Staatsanwaltschaft erkennt, dass Anhaltspunkte vorlie-
gen, die dazu führen, dass vorgelegt werden muss, oder
es Uneinigkeit zwischen den Staatsanwaltschaften der
Länder darüber gibt, wer zuständig ist. In allen anderen
Fällen kann die Generalbundesanwaltschaft nicht von
selber sagen: Es weist etwas darauf hin, dass wir hier zu-
ständig sind. Wir prüfen und ermitteln in dieser Frage
zunächst einmal selbst, um dies zu klären. – Da hätte
man weitergehen können, aber es ist unbenommen ein
richtiger Schritt.

Bei dem zweiten Punkt, der Änderung des § 46 Ab-
satz 2 StGB – das muss ich sagen –, kann ich Ihnen nicht
folgen. Einer gesetzlichen Ergänzung des § 46 Absatz 2
StGB bedarf es nicht.

Das geltende Recht gebietet und gestattet es dabei
jetzt schon, derartige Hassmotivationslagen und
Zielsetzungen bei der Strafzumessung zu berück-
sichtigen. … Das geltende Recht gibt also bereits
jetzt die Möglichkeit, die in den Gesetzentwürfen
als Regelbeispiel ausgestalteten Strafzumessungs-
gründe bei der Strafzumessung zu berücksichtigen,
ohne dass diese ausdrücklich festgeschrieben
sind. … Das, was durch den Gesetzentwurf geregelt
werden soll, ist bereits geltendes Recht. Damit
käme der Regelung nur eines zu: Symbolcharakter.

Ich hatte eigentlich auf Applaus von der Union ge-
wartet. Das war die Rede eines CDU/CSU-Abgeordne-
ten zum gleichen Thema aus dem Jahre 2012. Ich finde,
sie war richtiger als die heute von Ihnen, Herr Ullrich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)






Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)


Das ist nicht nur Symbolpolitik, sondern auch eine
verfehlte Symbolpolitik. Der Gesetzentwurf benennt
drei Kriterien: rassistische, fremdenfeindliche und sons-
tige menschenverachtende Motive. Da fragt man sich,
wenn es um Hasskriminalität geht, warum ausgerechnet
diese drei Kriterien genannt werden und nicht andere.


(Dr. Johannes Fechner [SPD]: Das steht in der Begründung!)


– Damit setze ich mich gleich auseinander. Vielen Dank
für den Hinweis.

In der Begründung wird der Rahmenbeschluss der EU
zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen
und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremden-
feindlichkeit herangezogen. In diesem Rahmenbeschluss
wird in Artikel 1definiert, was rassistische und fremden-
feindliche Straftaten sind, nämlich solche, die Rasse,
Hautfarbe, Religion, Abstammung und nationale und
ethnische Herkunft betreffen. Das haben Sie schon ein-
mal als Gesetzgeber – da waren Sie mit Frau
Leutheusser-Schnarrenberger dabei – in § 130 Absatz 1
StGB umgesetzt. Da heißt es nämlich, dass „gegen eine
nationale, rassische, religiöse oder durch ihre ethnische
Herkunft bestimmte Gruppe“ wie gegen andere Teile der
Bevölkerung nicht gehetzt werden dürfe und dass dies
strafbar sei. Warum fehlt dann auf einmal jetzt das Tat-
bestandsmerkmal der Religion oder der Nationalität?

Vor kurzem gab es die Pegida-Demonstrationen, isla-
mophobe Veranstaltungen, die sich gegen Muslimas und
Muslime wegen ihrer Religion richten. Unweit meines
Wahlkreises gab es in Wuppertal einen Anschlag auf
eine Synagoge, bei dem absurderweise das Amtsgericht
antisemitische Beweggründe verneint hat, obwohl die
Täter den Anschlag im Zusammenhang mit dem Nahost-
konflikt verübt hatten.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Da haben Sie recht!)


Wird diese Art von Gesetzgebung dazu führen, dass
die Polizei und die Justiz präziser hinschauen? Und wa-
rum fehlen andere Merkmale – die hier jetzt nicht er-
wähnt sind –, wenn es um Hasskriminalität geht, wie die
sexuelle Identität oder eine Behinderung? Das sind häu-
fig Merkmale der Opfer von Straftaten, die aus Hass be-
gangen werden. Insofern ist Ihr Gesetzentwurf vollstän-
dig verfehlt. Es wäre richtiger gewesen, diese Fragen in
der RiStBV bei öffentlichem Interesse, wie es angedeu-
tet wurde, niederzulegen, dann aber mit dem vollständi-
gen Kriterienkatalog zu den am häufigsten angegriffenen
Gruppen in der Gesellschaft, statt mit einer beliebigen
Auswahl.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Nicht nur, dass Sie Merkmale und damit Gruppen
weglassen, Sie haben auch einen völlig verfehlten Be-
griff in die Gesetzgebung des Bundes eingeführt, näm-
lich den Begriff der Fremdenfeindlichkeit. Dazu sagt das
Deutsche Institut für Menschenrechte, ein Institut, das
die Politikberatung der Bundesregierung in Menschen-
rechtsfragen zur Aufgabe hat, Folgendes:


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1809418000

Herr Kollege Beck.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809418100

Ein letzter Satz.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1809418200

Das letzte Zitat, bitte.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809418300

„Mit der Zuschreibung von ,Fremdheit‘ grenzt der

Begriff Menschen – mit und ohne Zuwanderungsge-
schichte – aus der vielfältigen deutschen Gesellschaft
aus.“

Das ist richtig. Dieser Begriff gehört nicht ins Gesetz;
denn damit wird in der Gesetzgebung die Täterperspek-
tive übernommen. Das ist ein völlig verunglücktes Si-
gnal. Deshalb: Symbolpolitik, aber schlechte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1809418400

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege

Dr. Karl-Heinz Brunner, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD):
Rede ID: ID1809418500

Verehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Nein, die öffentliche Debatte um die Folgerungen aus
den NSU-Morden darf hier und heute noch nicht enden,
weil es immer noch das Warum der Angehörigen gibt
und weil diese Menschen erst zur Ruhe kommen kön-
nen, wenn sie Antworten bekommen: Warum hat mein
Vater, warum hat mein Bruder, warum hat meine Tochter
ihr Leben lassen müssen? Warum wurden sie getötet von
Nazis?

Wir kennen nur einen Teil der Antwort: Wie wurde
aus Angst und Unverständnis gegenüber anderen, gegen
das Fremde schleichend und unbemerkt Hass, blanker
Hass auf alles, was nicht so ist, wie man selbst? Es ist
unsere Pflicht, dafür zu sorgen, dass sich dieses men-
schenverachtende Tun nicht wiederholt. Schluss mit
Wegschauen, Schluss mit Verniedlichen,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


in der Gesellschaft und schon gar nicht bei Polizei und
Gerichten und im Gestrüpp der Eitelkeiten von Ländern
und Bund, wenn es um Zuständigkeiten geht. Um dies
zu beseitigen, wird nun gehandelt und die Zuständigkeit
des Generalbundesanwalts gestärkt. Das ist gut, das ist
richtig so.

Im Gesetzentwurf wird auch etwas klargestellt, was
jedem klar denkenden Menschen – Juristen allemal – be-
kannt sein müsste: Hass als Motiv muss strafverschär-
fend sein. Das gilt heute wie auch künftig, weil manche





Dr. Karl-Heinz Brunner


(A) (C)



(D)(B)


– auch Staatsanwälte und Richter – erst mit der Nase da-
rauf gestoßen werden müssen, nun eben mit Ergänzung
des § 46 Absatz 2 StGB und mit einer Überarbeitung der
RiStBV.

Zugleich aber sage ich Ihnen ganz ehrlich: Wir brau-
chen nicht mehr Dienstanweisungen, nicht mehr Richtli-
nien. Was wir brauchen, ist mehr Sinn und Gefühl, übri-
gens auch mehr Lust, wirklich ermitteln zu lassen. Es
geht hierbei nicht nur um rechts- oder linksradikales
Handeln. Es geht auch um Homophobie; der Kollege
Beck hat es angesprochen. Ich sage dies ganz bewusst
und nicht nur an die Teile dieses Hohen Hauses gerich-
tet, die immer noch die Augen verschließen. Denn es
gibt auch heute noch Gerichtsurteile, die den Opfern von
Homophobie selbst einen Teil der Schuld zuschieben.

Deshalb ist der Ansatz des LSVD grundsätzlich rich-
tig. Eine explizite Nennung weiterer Gründe für Hasskri-
minalität würde keine Ausrede mehr erlauben. Der Ha-
ken daran ist aber: Die Bundesregierung versteht bereits
seit vielen Jahren unter Hasskriminalität auch explizit
Straftaten gegen eine Person aufgrund ihrer sexuellen
Identität. Eine andere Wortwahl allein hilft also kaum
weiter. Und wo beginnen wir mit der Aufzählung der
entsprechenden Definitionen?

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, das eigentliche Problem ist die alltägliche Ge-
walt gegen Menschen, gegen unsere Mitbürgerinnen und
Mitbürger. Jeder Mensch verdient Respekt, und jeder hat
Anspruch auf seine Rechte – egal ob aus dem Senegal
oder dem Allgäu, ob hetero, homo, obdachlos, arm,
reich, behindert, Punk oder Politiker.

Gewalt ist immer schlimm. Aber bei homophoben
Gewalttaten wird das Opfer in der Regel nicht als Indivi-
duum angegriffen, sondern als Stellvertreter einer
Gruppe, die der Täter hasst und abwertet. Die Folgen
spürt nicht nur das Opfer. Auch andere Mitglieder der
Gruppe werden verunsichert. Sie hätte es auch treffen
können. Täter, die aus Hass auf Schwule und Lesben
oder Transgender zuschlagen, zielen darauf, diese aus
dem öffentlichen Leben und dem öffentlichen Raum in
die Unsichtbarkeit zu treiben. Das dürfen wir nicht zu-
lassen. Dazu bedarf es aber nicht explizit der Nennung
im StGB; dazu bedarf es eines umfassenden nationalen
Aktionsplans gegen Homophobie. Dazu brauchen wir
jetzt in dem vorliegenden Gesetzentwurf nichts zu re-
geln. Das ist es, was ich will: den nationalen Aktions-
plan. Das ist es, was wir im Koalitionsvertrag vereinbart
haben. Und das ist es, was wir in den nächsten Wochen
und Monaten tun müssen. Das gebietet der Anstand, der
Anstand dieses Hauses und aller Deutschen. Der An-
stand und die bitteren Erfahrungen aus den NSU-Mor-
den gebieten es, heute dem Gesetzentwurf zuzustimmen.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1809418600

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege

Reinhard Grindel, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Reinhard Grindel (CDU):
Rede ID: ID1809418700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Wawzyniak, das Thema „Konsequenzen aus der
NSU-Mordserie“ ist so ernst, dass man darüber auch
ernsthaft diskutieren sollte. Dazu gehört für mich eine
angemessene Sprache. Sie sollten einmal darüber nach-
denken, ob die Art und Weise, wie Sie Ihre Punkte vor-
getragen haben, angemessen war. Deswegen haben wir
bei Ihrer Rede ein bisschen unruhig reagiert.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es ist richtig: Wir wollen die Konzentration beim Ge-
neralbundesanwalt. Denn eine frühzeitige Zusammen-
führung von Ermittlungen, bezogen auf Straftaten mit
fremdenfeindlichem oder gar rassistischem Hintergrund,
kann dazu beitragen, dass Zusammenhänge zwischen
Taten, vergleichbare Begehungsformen und deren Ver-
knüpfung mit Rechtsextremismus oder Rechtsterroris-
mus schneller erkannt werden. Eines muss neben den
vielen Lehren, die wir aus den Taten des NSU ziehen,
klar sein: Der Wechsel in der Zuständigkeit zwischen
Bundesländern darf nicht dazu führen, dass sich Täter ei-
ner angemessenen Strafverfolgung entziehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich will ergänzen: Es muss auf der Ebene der Straf-
verfolgungsbehörden auch mehr Bereitschaft zur Koope-
ration geben. Das Motto „Meine Tat, meine Quelle, mein
Fall“ darf nicht die beherrschende Richtschnur von Er-
mittlungen sein. Insofern ist es gut, dass wir nun ein ge-
meinsames Terrorabwehrzentrum haben. Die Zusam-
menarbeit der Ermittler verschiedener Behörden der
Länder trägt auch dazu bei, dass das Vertrauen wächst,
dass mit Ermittlungsergebnissen oder Quellen verant-
wortlich umgegangen wird. Wir brauchen mehr Koordi-
nation, mehr Informationsaustausch, aber auch, wenn es
geboten ist, mehr Konzentration bei der Strafverfolgung.
Das ist eine der entscheidenden Lehren aus dem NSU-
Komplex.

Herr Fechner hat schon zu Recht darauf hingewiesen:
Damit der Generalbundesanwalt seine Zuständigkeit
überhaupt ausüben kann, muss er von bestimmten Sach-
verhalten Kenntnis erlangen. In der öffentlichen Anhö-
rung wurde bestätigt, dass der Generalbundesanwalt
trotz bestehender Regelungen in der RiStBV zu selten
von wichtigen Vorgängen überhaupt erfährt. Die Einfüh-
rung einer gesetzlichen Regelung, die zur sorgfältigen
Beobachtung der Vorlagepflicht führen soll, ist daher
richtig und zwingend nötig. Diese Vorlagepflicht ist
– das ist der entscheidende Punkt – so ausgestaltet, dass
nicht die Staatsanwaltschaften in den Ländern beurtei-
len, ob es zureichende Anhaltspunkte für eine Vorlage-
pflicht gibt, sondern dass bereits bei einem Anlass zur
Prüfung der Übernahme durch den Generalbundesanwalt
eine Übersendung der Vorlagen erfolgt. Es geht also um
objektive Gesichtspunkte, die dann zur Vorlagepflicht
führen, und nicht um subjektive Erwägungen der Staats-
anwaltschaften.

Trotz zahlreicher fachlicher Bedenken – Kollege
Ullrich hat das zu Recht erwähnt – werden wir als CDU/





Reinhard Grindel


(A) (C)



(D)(B)


CSU-Fraktion die Ergänzung der Strafzumessungsregeln
nach § 46 Absatz 2 StGB mittragen, und zwar deshalb,
weil ich glaube, dass der Kollege Volker Beck recht hat.
Es ist nicht in jedem Fall so, dass rassistische, fremden-
feindliche oder sonstige menschenverachtende Ziele der
Täter in angemessener Form berücksichtigt werden.
Deswegen ist es richtig und vertretbar, dass wir als Ge-
setzgeber ein doppeltes Signal senden: an potenzielle
Täter, denen wir sagen: „Eure Taten werden angemesse-
ner bestraft werden als in der Vergangenheit“, und an die
Justiz und die Strafverfolgungsbehörde, indem wir deut-
lich machen: Wir wollen, dass genauer und schneller
hingesehen wird, und wir wollen tatangemessene Ur-
teile. – Das ist der Zweck dieser Gesetzesänderung.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1809418800

Kollege Grindel, gestatten Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Beck?


Reinhard Grindel (CDU):
Rede ID: ID1809418900

Von Herrn Beck immer. – Es wäre aber schön, wenn

Sie, Frau Präsidentin, meine Redezeit anhalten würden.
So weit geht es nicht, dass ich Herrn Beck davon etwas
schenke.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1809419000

Nein, Sie brauchen da gar keine Furcht zu haben.

Dass die Redezeit angehalten wird bei einer Zwischen-
frage, das passiert immer. Aber der Herr Kollege Beck
hat noch nicht begonnen.

Bitte schön, Herr Kollege Beck.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809419100

Das gebietet die Fairness. Da sind wir uns sicher ei-

nig. – Herr Grindel, wenn es Ihnen um Genauigkeit und
um Hinweise durch den Gesetzgeber geht, dann stellt
sich doch die Frage, warum wir bei diesen drei Kriterien
stehen bleiben und warum wir Gruppen, von denen wir
wissen, dass sie regelmäßig Opfer von rechter, auch von
islamistischer Gewalt werden, wie Homosexuelle, Be-
hinderte oder Juden, anhand von Kriterien, die beschrie-
ben werden müssten, in den Gesetzentwurf nicht mit
aufnehmen. Da besteht doch die Gefahr, dass der Ge-
setzgeber von manchen bei Polizei und Justiz dahin ge-
hend missverstanden werden könnte: Es gibt Gruppen,
wo man besonders genau hinschauen muss, und es gibt
Gruppen, wo man hinschauen kann oder es auch bleiben
lassen kann.

Das ist übrigens eine Erfahrung, die in Opferbera-
tungsstellen, die Gewaltopfer aus diesen Gruppen be-
treuen, häufig so gemacht wird. Mit diesem Vorschlag
bewirken wir doch eine selektive Aufarbeitung des The-
mas Gewaltkriminalität.


Reinhard Grindel (CDU):
Rede ID: ID1809419200

Herr Kollege Beck, ich bin Ihnen für die Frage dank-

bar, weil auch Reden im Parlament von den Strafrichtern
zur Auslegung des Gesetzes mit heranzuziehen sind.
Wenn Sie sich die Neuformulierung von § 46 Absatz 2
Strafgesetzbuch vornehmen, dann stellen Sie fest, dass

es dort „besonders auch rassistische, fremdenfeindliche
oder sonstige menschenverachtende“ Ziele des Täters
heißt. Für mich ist es gar keine Frage, dass eine Straftat
aus homophoben Gründen – natürlich auch dann, wenn
sie religiös motiviert ist; ich komme noch an anderer
Stelle dazu –, unter genau diese Formulierung fällt. Wer
Schwule angreift, wer Juden angreift, der handelt men-
schenverachtend. Das ist doch wohl völlig eindeutig,
und das deckt dieser Paragraf für mich ab.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hoffentlich sehen das alle so!)


Frau Wawzyniak, Sie haben zu Recht erwähnt: Hier-
bei handelt es sich um keine Empfehlung des NSU-Un-
tersuchungsausschusses; vielmehr hat man diese Rege-
lung bei der Gelegenheit der Beratung dieses
Gesetzentwurfs mit aufgenommen, weil es hier um
Straftaten geht, die sich eben nicht nur gegen schutzwür-
dige Opfer richten, sondern die sich in Wahrheit gegen
unseren Rechtsstaat, unsere Werteordnung richten. Dann
ist es aber zulässig, deutlich zu machen: Natürlich greift
der Rechtsterrorismus unseren Rechtsstaat an, aber eben
nicht nur er, sondern auch der Linksextremismus, der
terroristische Islamismus. Deshalb ist es völlig in Ord-
nung – wie es Herr Kollege Ullrich gesagt hat –, dass
auch diese Punkte Gegenstand des neuen § 46 Absatz 2
Strafgesetzbuch werden; denn es geht hier um Straftaten
gegen den Rechtsstaat als solchen, die wir tatangemes-
sen bestraft sehen wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Nicht in der Debatte hier! In der Sache haben wir keinen Dissens, aber nicht in der Debatte!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich aus
der Sicht der Union noch eine Anmerkung dazu machen:
Der Rechtsstaat darf nicht erst dann reagieren, wenn es
konkrete menschenverachtende Taten gibt, sondern der
Rechtsstaat muss bereits da einschreiten, wo der geistige
Nährboden von Terrorismus bereitet wird. Es muss dort
ein Einschreiten geben, wo ein Klima des Hasses und
der Intoleranz gegen Andersdenkende oder Andersgläu-
bige Einzug hält. Deshalb ist es aus meiner Sicht nicht
einzusehen, weshalb wir heute nicht auch die Sympa-
thiewerbung für terroristische Vereinigungen unter
Strafe stellen. Gerade angesichts wachsender Radikali-
sierungstendenzen, zum Beispiel im Internet, muss der
Staat doch konsequent auch hier gegen die Verbreitung
von Hass und Rassismus, von terroristischem Gedanken-
gut vorgehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Karl-Heinz Brunner [SPD])


Vielleicht, liebe Kolleginnen und Kollegen, gelingt es
uns zu einem späteren Zeitpunkt in dieser Legislaturpe-
riode.

Herzlichen Dank fürs Zuhören.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Karl-Heinz Brunner [SPD] – Dr. Johannes Fechner [SPD]: Sicher nicht!)







(A) (C)



(D)(B)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1809419300

Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die

Kollegin Michelle Müntefering.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Michelle Müntefering (SPD):
Rede ID: ID1809419400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im
Grundgesetz steht: „Die Würde des Menschen ist unan-
tastbar.“ Da steht nicht, die Würde des deutschen Men-
schen, da steht nicht, die Würde des weißen Menschen,
und da steht nicht, die Würde des heterosexuellen Men-
schen. – So habe ich noch die Worte von Johannes Rau
im Ohr. Das ist die inklusive Gesellschaft in diesen Wor-
ten kurz beschrieben. Ich finde, das ist ein wunderbarer
Gedanke.

Demgegenüber mögen in der Tat die Maßnahmen, die
wir heute beschließen, vielleicht ein bisschen unspekta-
kulär erscheinen; aber sie sind nicht weniger wichtig.
Vielmehr sind sie sinnvoll und notwendig. Denn auch
wenn die deutsche Demokratie 70 Jahre nach der Befrei-
ung von der Hitler-Herrschaft endlich stark geworden
ist: Ungefährdet ist sie nie. Rassismus und Fremden-
feindlichkeit – das haben die Kolleginnen und Kollegen
gerade schon gesagt – sind immer noch nicht besiegt.
Noch immer gibt es Neonazis in unserem Land, in unse-
rer Nachbarschaft sowie Antisemitismus und Judenhass.
Leider ist auch, bei Teilen der Bevölkerung, auch in ihrer
Mitte, die Ablehnung von Andersdenkenden, fremden
Religionen und Menschen ausländischer Herkunft trauri-
ger Teil des Alltags in Deutschland.

Der grausame Höhepunkt dieser menschenverachten-
den Geisteshaltung waren die Hinrichtungen des Natio-
nalsozialistischen Untergrunds. Niemand wird bestreiten
können, dass die Terroristen aus der Ideologie der Neo-
nazis und des Rassenwahns heraus mordeten: Menschen
aus der Mitte unserer Gesellschaft, deutsche Mitbürger
– das will ich hier ausdrücklich betonen –, neun von ih-
nen türkischer bzw. griechischer Herkunft und eine Poli-
zistin deutscher Herkunft. Das ist die erschütternde und
traurige Bilanz dieser Ewiggestrigen. Diese Taten lassen
uns mit Fassungslosigkeit und mit Trauer zurück. Sie
schaffen es aber nicht, unser demokratisches Rückgrat
zu brechen; im Gegenteil.

Bedrohung, Gewalt, Mord, das alles ist verboten. Da-
für brauchen wir keine neuen Gesetze. Aber diese zu
präzisieren und die Vergehen beim Namen zu nennen,
das ist ein wichtiges Signal, insbesondere für die Opfer
der Übergriffe.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE])


Aus meiner Arbeit als Vorsitzende der Deutsch-Türki-
schen Parlamentariergruppe des Deutschen Bundestages,
aus vielen Gesprächen mit Menschen im Wahlkreis, in
der Türkei und bei Diskussionsrunden weiß ich, wie tief
sich die NSU-Morde in die Seele der Migrantinnen und
Migranten in Deutschland gebrannt haben, welch tiefes

individuelles, aber auch kollektives Leid sie gebracht ha-
ben und wie sehr sie das Ansehen unseres Landes im
Ausland beschädigt haben.

Auch deshalb ist es wichtig, wie wir mit diesen
schrecklichen Erfahrungen umgehen, welche Lehren wir
aus den Erkenntnissen ziehen, die der NSU-Untersu-
chungsausschuss uns gegeben hat. Das ist unsere demo-
kratische Pflicht. Zu dieser gehört immer auch Selbster-
kenntnis: lernen, dass Unfassbares auch heute möglich
ist. Deswegen sind wir heute noch nicht am Ende. Aber
wir gehen einen Schritt voran, und wir setzen ein deutli-
ches Zeichen: für die Demokratie, für alle Menschen –
nicht nur in Deutschland.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1809419500

Vielen Dank. – Letzter Redner zu diesem Tagesord-

nungspunkt ist der Kollege Dietrich Monstadt, CDU/
CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dietrich Monstadt (CDU):
Rede ID: ID1809419600

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Meine Damen und Herren! Die schrecklichen
Verbrechen des sogenannten NSU sind nach wie vor tief
in unserem Bewusstsein. Genau deshalb wissen wir alle,
wie wichtig die schnelle und gründliche Arbeit des
NSU-Untersuchungsausschusses war und ist. In diesem
Sinne diskutieren wir heute in zweiter und dritter Lesung
das Gesetz zur Umsetzung von Empfehlungen des NSU-
Untersuchungsausschusses. Dies, meine Damen und
Herren, geschieht nicht nur im Rahmen der Aufarbei-
tung, sondern auch mit Blick auf die insgesamt 47 Emp-
fehlungen, auf die sich die Ausschussmitglieder frak-
tionsübergreifend geeinigt haben.

Herzlichen Dank an alle beteiligten Kolleginnen und
Kollegen für ihr intensives Engagement in diesem Aus-
schuss! Dies darf am Schluss dieser Debatte nochmals
ausdrücklich hervorgehoben werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Jetzt, meine Damen und Herren, ist es unsere Auf-
gabe und Verpflichtung, die Aufgabe und Verpflichtung
dieses Parlaments, dafür zu sorgen, dass durch richtig
gezogene Konsequenzen und deren Umsetzung das Ver-
trauen in Rechtsstaatlichkeit und Justiz nicht verloren
geht.

Im Bereich der Justiz betrifft dies auf Bundesebene
verschiedene Aspekte, die wir heute gesetzgeberisch
umsetzen werden. Durch die vorgesehenen Änderungen
im Gerichtsverfassungsgesetz wird die Begründung der
Zuständigkeit des Generalbundesanwalts in diesen Fäl-
len künftig schneller möglich sein. Der Generalbundes-
anwalt wird gerade im Fall länderübergreifender Strafta-
ten und in Fällen der Uneinigkeit zwischen mehreren
beteiligten Staatsanwaltschaften ein solches Ermitt-
lungsverfahren an sich ziehen können. Außerdem stellen





Dietrich Monstadt


(A) (C)



(D)(B)


wir sicher, dass der Generalbundesanwalt frühestmög-
lich in die Ermittlungen einbezogen werden kann, näm-
lich immer schon dann, wenn es erste Anhaltspunkte für
seine Zuständigkeit gibt. Er wird nun auch dann die Er-
mittlungen führen, wenn objektiv ein besonderes Staats-
schutzdelikt vorliegt. Wir alle wissen, dass mögliche Er-
messensentscheidungen und Kompetenzwirrwarr in der
Vergangenheit verheerende Folgen hatten. Genau hier
setzt der neue Satz 3 im § 142 a Absatz 1 GVG im Ent-
wurf der Bundesregierung an. Bisher regelte die RiStBV,
eine Verwaltungsvorschrift, die Pflicht der Staatsanwalt-
schaften, Vorgänge, aus denen sich die Möglichkeit einer
Zuständigkeit des Generalbundesanwalts ergibt, sofort
an diese abzugeben. Diesen Ansatz überführt der vorlie-
gende Entwurf der Bundesregierung nun in ein Gesetz.
Das ist richtig; denn so werden in besonderer Art und
Weise die herausragende Bedeutung und die Notwendig-
keit dieser Regelung unterstrichen.

Meine Damen und Herren, der zweite wesentliche
Bestandteil des vorliegenden Regierungsentwurfs zielt
auf eine Änderung im § 46 StGB. Hiermit gehen wir
über die Empfehlungen des NSU-Ausschusses hinaus
und setzen so ein deutliches Zeichen. In § 46 Absatz 2
Satz 2 des Strafgesetzbuchs sind nunmehr als strafschär-
fend besonders auch rassistische, fremdenfeindliche
oder auch sonstige menschenverachtende Ziele des Tä-
ters zu berücksichtigen. Wir stellen damit unmissver-
ständlich im Allgemeinen Teil des StGB klar, dass derar-
tige Motivationen auch bei der Strafzumessung
einbezogen werden müssen. Sie gelten damit – das finde
ich ausdrücklich richtig – für alle Tatbestände des Be-
sonderen Teils des StGB.

Doch neben der rechtspraktischen haben wir auch
eine politische Verantwortung wahrzunehmen. Hier geht
es eben gerade darum, sich mit aller Schärfe gegen men-
schenverachtende Straftaten zu stemmen. Dies gilt jetzt
im Besonderen auch durch die erweiterten Strafzumes-
sungsregeln. Sie, meine Damen und Herren von der Op-
position, werfen uns hier Symbolpolitik vor. Ich sage Ih-
nen: Gerade hier sind deutliche Symbole wichtig und
geboten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Meine Damen und Herren, lassen Sie mich am Ende
der Debatte eines klar sagen: Egal ob Dschihadisten,
Salafisten, linke oder rechte Extremisten – wir wehren
uns entschieden gegen alle Feinde unseres Rechtsstaats.
Diese Botschaft soll und muss das Signal dieser Debatte
sein. Fast täglich hören wir von jungen Menschen, die
sich zumeist über das Internet radikalisieren lassen. Da-
bei spielt es keine Rolle, ob dies linksextrem, rechts-
extrem oder glaubensbedingt geschieht. Wichtig ist, dass
wir gerade bei den jungen Menschen ansetzen und klar-
machen, dass wir unseren Rechtsstaat mit allen Mitteln
verteidigen werden. Hier brauchen wir klare Worte und
eine deutliche Ansprache. Lassen Sie uns ein Zeichen
setzen und mit breiter Mehrheit den Entwurf der Bun-
desregierung auf den Weg bringen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1809419700

Vielen Dank. – Damit ist die Aussprache beendet.

Wir kommen unter Tagesordnungspunkt 7 a zur Ab-
stimmung über den von der Bundesregierung einge-
brachten Gesetzentwurf zur Umsetzung von Empfehlun-
gen des NSU-Untersuchungsausschusses des Deutschen
Bundestages.

Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/4357, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 18/3007 anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zwei-
ter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU- und
SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktionen Die Linke
und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist in dritter Lesung mit dem gleichen Stimmen-
verhältnis wie zuvor angenommen.

Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 7 b und setzen
die Abstimmung über die Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz auf
Drucksache 18/4357 fort.

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3150
mit dem Titel „Hasskriminalität wirkungsvoll statt sym-
bolisch verfolgen“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von
CDU/CSU- und SPD-Fraktion gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen ange-
nommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Franziska Brantner, Katja Dörner,
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Alleinerziehende stärken – Teilhabe von Kin-
dern sichern

Drucksache 18/4307
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss





Vizepräsidentin Ulla Schmidt


(A) (C)



(D)(B)


Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre hier
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Dr. Franziska Brantner, Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Damen und Herren auf den Tribünen!
Wir haben heute schon einmal über Kinderarmut disku-
tiert. Diese Debatte schließt zu einem gewissen Grad da-
ran an.

In Deutschland leben 1,6 Millionen Alleinerziehende
mit Kindern unter 18 Jahren. Sie bringen sie morgens
zur Kita oder Schule, sie arbeiten, meist Vollzeit, holen
Tochter oder Sohn wieder ab, gehen einkaufen, bereiten
das Abendessen zu und kümmern sich dann noch um den
Haushalt oder versuchen, noch etwas freie Zeit zu haben,
wenn die Kinder schlafen. Enorm, was sie leisten. Trotz-
dem: Vier von zehn Alleinerziehenden und ihre Kinder
sind bei uns in Deutschland arm. Ein Drittel der Allein-
erziehenden im SGB-II-Bezug ist gleichzeitig berufstä-
tig und stockt auf, und das, obwohl Alleinerziehende im
Durchschnitt fünf Stunden mehr als Frauen in Paarfami-
lien arbeiten. Das ist eine Schräglage in unserem Land,
die eigentlich nur noch als beschämend bezeichnet wer-
den kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was ist die Konsequenz? Fast jedes zweite Kind im
ALG-II-Bezug wächst in einem Alleinerziehendenhaus-
halt auf. Das heißt, wenn man etwas gegen Kinderarmut
machen möchte, dann muss man bei den Alleinerziehen-
den ansetzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Unser Antrag zeigt, was nötig ist, damit Alleinerziehende
nicht in die Armutsfalle tappen und Alleinerziehende ge-
stärkt werden. Das ist mehr als nur eine Debatte um Steu-
erfreibeträge, liebe Koalition.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir wollen, dass Alleinerziehende arbeiten können,
wenn sie es möchten. Das ist immer noch die beste Ar-
mutsprävention. Wir brauchen zum Beispiel Teilzeitaus-
bildungen, vor allen Dingen solche, die auch mit kleinen
Kindern zu stemmen sind, und während dieser Zeit eine
Existenzsicherung, die auch mit Kindern möglich ist.
Das ist für uns eine ganz wichtige Forderung, die wir vo-
ranbringen möchten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auch die Arbeitskultur muss sich verändern. Eltern
müssen mehr mitbestimmen können, wann sie arbeiten.
Gerade für Alleinerziehende steht nicht häufig das „Wie
viel wird gearbeitet?“, sondern das „Wann wird gearbei-
tet?“ im Vordergrund. Hier müssen wir wirklich einen
Schritt nach vorne machen. Wir alle wissen: Man kann
nur beruhigt bei der Arbeit sein, wenn man weiß, dass
seine Kinder gut aufgehoben sind. Deswegen brauchen

wir eine Initiative und Offensive für die Kitaqualität. Da
versagen Sie leider, liebe Koalition.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir hatten die Debatte. Sie bringen kein Kitaqualitätsge-
setz voran. Dabei wissen wir, wie dringend notwendig es
ist. Die Bertelsmann-Studie zeigt, dass das für Kinder
zählt. Hier kommen wir leider nicht weiter.

Wir müssen aber auch über das Geld reden. Am Ende
geht es auch darum. Die Gesamtevaluation der familien-
politischen Leistungen hat gezeigt: Der Unterhaltsvor-
schuss hat einen deutlichen Einfluss auf das Armutsri-
siko von Kindern. Das ist die Leistung, mit der der Staat
einspringt, wenn ein Elternteil, der eigentlich Unterhalt
zu zahlen hat, dieser Pflicht nicht nachkommt. Aber an-
ders als im Unterhaltsrecht endet der Unterhaltsvor-
schuss mit dem 13. Geburtstag. Das geht an der Realität
total vorbei. Das Gleiche gilt für die Bezugsdauer von
sechs Jahren. Wenn sich die Eltern trennen, wenn das
Kind drei Jahre alt ist, gibt es nach dem neunten Ge-
burtstag nichts mehr. Das hat doch mit der Realität
nichts zu tun. Deswegen fordern wir eindeutig: Bezugs-
dauer aufheben und eine Altersgrenze von 18.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Evaluation der familienpolitischen Leistungen
hat auch gezeigt, dass der Entlastungsbetrag für Allein-
erziehende – jetzt zitiere ich –

… im Verhältnis zu seiner Höhe eine der effektivs-
ten Leistungen zur Unterstützung der Erwerbstätig-
keit ist.

Er bewirkt, dass fast 20 000 Alleinerziehende unabhän-
gig von Sozialleistungen leben.

Im Koalitionsvertrag heißt es – auch hier zitiere ich –:

Der steuerliche Entlastungsbetrag für Alleinerzie-
hende beträgt seit seiner Einführung zum 1. Januar
2004 unverändert 1 308 Euro, er soll angehoben
werden.

Für Herrn Schäuble gilt dieser Vertrag offensichtlich
nicht.

Zusätzlich müsste – das ist unsere Position – ein Aus-
gleich für jene her, die wenig verdienen; denn gerade al-
leinerziehende Eltern haben oft ein geringeres Einkom-
men. Wir fordern deswegen eine Steuergutschrift für
Geringverdienende, damit auch sie profitieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aber so weit sind Sie von der Koalition in der Debatte
gar nicht gekommen.

Wir fordern zumindest eine Erhöhung des Entlas-
tungsbetrages, die sich am Verbraucherindex orientiert.
Das wären dann rund 250 Euro mehr. Das würde zu
Steuermindereinnahmen von 67 Millionen Euro führen.
Lieber Herr Schäuble – er ist jetzt nicht da, aber ich sage
es einmal so –,


(Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: Der Mann ist beschäftigt!)






Dr. Franziska Brantner


(A) (C)



(D)(B)


67 Millionen Euro, das ist doch wirklich nicht so ein
wahnsinniger Betrag, aber für Alleinerziehende ist es
eine Hilfe und ein wichtiges Zeichen der Anerkennung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich verstehe auch nicht, warum Sie dagegen sind. Was
sind denn Ihre Gründe dagegen?

Ist hier eigentlich irgendjemand von uns dagegen?


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Schäuble ist dagegen!)


Soweit ich weiß, ist niemand dagegen. Sie von der CSU
sind ja dafür; das haben wir jetzt gehört. Bei der CDU
weiß ich nicht, wie die Lage ist. Nadine Schön, Sie ha-
ben ja getwittert, Sie sind dafür. Ich kann mir auch nicht
vorstellen, dass Sie von der CDU, zum Beispiel Herr
Weinberg, die Position teilen würden, dass Alleinerzie-
hende irgendwie bestraft werden müssen, weil es mit der
Ehe nicht geklappt hat; das kann ich mir überhaupt nicht
vorstellen, das kann ich mir nicht einmal bei Herrn
Kauder vorstellen.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deswegen stellt sich mir wirklich die Frage: Sollten wir
nicht den Familienkrach in der Regierung einfach Fami-
lienkrach sein lassen und hier im Parlament vernünftig
zusammenarbeiten und sagen: „Hier ist keiner dagegen;


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


wir als Parlament setzen das im Haushaltsverfahren ge-
meinsam um und entlasten die Alleinerziehenden“? Ich
kann Ihnen sagen: Alleinerziehende stärken heißt Kinder
stärken. Lassen Sie uns das gemeinsam angehen!

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1809419800

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege

Marcus Weinberg, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Marcus Weinberg (CDU):
Rede ID: ID1809419900

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Vielen Dank, Frau

Brantner, für den Aufschlag und den Impuls. Ich werde
nachher auf das eine oder andere von Ihnen genannte
Thema eingehen. Ich glaube, dass wir bei einer grund-
sätzlichen Fragestellung tatsächlich einer Meinung sind:
bei der Frage, wer in unserer Gesellschaft Leistungsträ-
ger ist. Das sind nämlich nicht nur die Unternehmer, die
Geld investieren und Arbeitsplätze schaffen, nicht nur
die Mittelständler, die Familienunternehmer; die Leis-
tungsträger unserer Gesellschaft sind auch die Alleiner-
ziehenden, die es schaffen, Beruf und Familie zusam-
menzubringen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Da haben Sie komplett recht.

Sie haben die Zahlen genannt: 1,6 Millionen Men-
schen – Tendenz steigend – sind alleinerziehend, insbe-
sondere Mütter. Sie haben auch Zahlen genannt, die Un-
terschiede bei der finanziellen Absicherung von
Paarfamilien und Alleinerziehenden aufzeigen. 67 Pro-
zent der alleinerziehenden Mütter mit Kindern unter 18
Jahren sind erwerbstätig. Man sieht bei der Erwerbstä-
tigkeit schon deutliche Unterschiede zwischen Paarfami-
lien und Alleinerziehenden, die arbeiten wollen. Beson-
ders gravierend ist – auch diese Zahl sei genannt –, dass
tatsächlich 39 Prozent aller Haushalte von Alleinerzie-
henden auf SGB-II-Leistungen angewiesen sind, wäh-
rend das nur für 7 Prozent der sogenannten Paarfamilien
gilt. Wenn die Lage so ist, ist es unsere Aufgabe – insbe-
sondere als Familienpolitiker, aber auch als Politiker ins-
gesamt –, diese Dinge anzugehen.

Bei der Bewertung der Situation kommt es auf drei
Dinge an. Das eine ist die finanzielle Absicherung. Das
andere ist die Frage der Infrastruktur. Das Dritte ist et-
was, das auch für Alleinerziehende in besonderem Maße
gilt; denn auch sie haben Anspruch darauf: Zeit mit ihren
Kindern, Zeit mit ihrer Familie zu verbringen. Ich
glaube, auch das müssen wir bei der Betrachtung mit in
den Blick nehmen.

Nun haben Sie das Thema der finanziellen Unterstüt-
zungsleistungen angesprochen. Sie stabilisieren die wirt-
schaftliche Situation der Alleinerziehenden, sie schützen
auch vor Armut oder verringern zumindest das Armuts-
risiko und steigern das Wohlergehen der Familie.

Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wir haben uns in der
Koalitionsvereinbarung auf etwas verständigt. Wir wol-
len nämlich den seit elf Jahren feststehenden Entlas-
tungsbetrag von 1 308 Euro für Alleinerziehende erhö-
hen. Wir wollen ihn nach der Anzahl der Kinder staffeln,
und wir werden in dieser Koalition zu einem gemeinsa-
men Ergebnis in diese Richtung kommen. Darauf kön-
nen Sie sich verlassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Uns haben Sie da an Ihrer Seite und die Kollegen der
SPD genauso. Man muss dann halt einmal diskutieren,
wie man dahin kommt. Es gab schon nette Appelle. Paul
Lehrieder hat ja unserem Finanzstaatssekretär schon so-
zusagen etwas mit auf den Weg gegeben; das machen
wir. Aber ich sage auch mit Blick auf die Forderung ei-
nes Kollegen der SPD von vor 37 Minuten: Vorstellun-
gen haben wir alle, Vorschläge sind dann immer besser.
– Aber das bringen wir, glaube ich, gemeinsam auf den
Weg; davon bin ich fest überzeugt.

Viel zielführender ist allerdings ein anderer Punkt.
Jetzt komme ich schon zur Analyse: Was tut man eigent-
lich, um die finanzielle Situation der Alleinerziehenden
zu verbessern? Viel zielführender ist die Erhöhung der
Erwerbsbeteiligung; denn das senkt Armut. Ich habe es
bereits gesagt: Wir wissen, dass die Erwerbsbereitschaft
der alleinerziehenden Mütter und Väter besonders hoch
ist. Was sie sich wünschen, sind bessere Rahmenbedin-
gungen. Deswegen müssen wir ein bisschen zurück-
schauen: Was haben wir denn getan, und was hat eigent-





Marcus Weinberg (Hamburg)



(A) (C)



(D)(B)


lich die Rahmenbedingungen in den letzten Jahren
verändert?

Da komme ich dann – Sie mögen es vielleicht nicht
mehr hören – wieder auf ein Kernanliegen oder einen
Kernpunkt der Großen Koalition und der Jahre zuvor
auch in anderen Konstellationen. Das war der Ausbau
der Kindertagesbetreuung mit der Schaffung eines
Rechtsanspruches auf einen Krippenplatz für Erwerbstä-
tige. Dann muss ich die Zahl aber noch einmal nennen,
dass wir über 5 Milliarden Euro investiert haben und
auch bei den Betriebskosten die 845 Millionen Euro auf
945 Millionen Euro erhöhen.

Das heißt, hier schaffen wir Bedingungen zur Verein-
barkeit von Familie und Beruf, was besonders bei den
Alleinerziehenden wirkt; denn besonders Alleinerzie-
hende sind darauf angewiesen, dass sie eine Kinderta-
gesbetreuung haben, und sie sind übrigens insbesondere
darauf angewiesen, dass diese Kindertagesbetreuung ge-
wisse Flexibilisierungsmöglichkeiten schafft. Gestern,
geschätzt um 12.07 Uhr, gab es im Kabinett die Vorlage
des Nachtragshaushaltes des Bundesfinanzministers,
und 100 Millionen werden noch einmal zusätzlich inves-
tiert, Kita Plus, um dies zu schaffen. Ich glaube, das ist
eine gute Maßnahme für die Alleinerziehenden, insbe-
sondere wenn wir hiermit den Ausbau der Kindertages-
betreuung weiter voranbringen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich will es nur an drei Zahlen verdeutlichen. Dieser
Kitaausbau hat tatsächlich auch sehr konkret und direkt
bei den Alleinerziehenden gewirkt. Erstens. Ohne die
Subventionierung der Kosten der Kinderbetreuung wä-
ren 25 000 Alleinerziehende mit Kindern unter zwölf
Jahren weniger erwerbstätig. Zweitens. Das Armutsri-
siko wird deutlich um ein Fünftel gesenkt. Drittens. Über
10 000 Haushalte von Alleinerziehenden werden unab-
hängig von SGB II. Das ist ja die Gesamtevaluation, die
wir jetzt immer wieder sozusagen vor uns halten, wenn
wir über die Alleinerziehenden sprechen.

Das eine war der Bereich Ausbau Kindertagesbetreu-
ung, der insbesondere den Alleinerziehenden zugute-
kam. Das andere ist aber auch die Fragestellung Eltern-
geld und Elterngeld Plus; denn auch Alleinerziehende
müssen im ersten Jahr nach der Geburt des Kindes die
Freiheit haben, sich um das Kind zu kümmern, auch un-
ter Bindungsgesichtspunkten.

Ich weiß ja, dass viele Kollegen immer wieder dieses
Betreuungsgeld zur Sprache bringen. Ich sage ganz deut-
lich: Ich finde es richtig und gut und wichtig, wenn eine
Mutter mit ihrem Kind die ersten Jahre zusammen sein
kann, auch bei Alleinerziehenden. Da kann man nicht
differenzieren zwischen Paaren und Nichtpaaren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Noch etwas haben wir in der Koalition hinbekommen.
Da muss man sagen: Da haben die Parlamentarier das
umgesetzt, was unser Auftrag ist. Wir haben nämlich ge-
rade bei der Fragestellung der Partnermonate dafür ge-
sorgt, dass der Gesetzentwurf noch einmal in dem Sinne

optimiert wurde, dass auch die Alleinerziehenden selbst-
verständlich einen Anspruch auf diese Partnermonate
haben. Dies war meines Erachtens ein gutes Zusammen-
spiel zwischen SPD, CDU und CSU und insgesamt dann
ein Erfolg für die Alleinerziehenden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Insoweit will ich einen zweiten Punkt der Verände-
rung noch einmal skizzieren, Stichwort Erwerbstätigkeit
und Zunahme der Erwerbstätigkeit. Laut Prognos-Gut-
achten wurde bei der Erwerbstätigkeit von Alleinerzie-
henden mit kleinen Kindern im Alter von ein und zwei
Jahren ein Plus von 9 Prozent und bei Müttern mit zwei-
bis dreijährigen Kindern ein Plus von 6 Prozent festge-
stellt. Sie sehen also: Die Erwerbstätigkeit hat zugenom-
men, und das ist auch gut so.

Trotzdem – das konstatiere ich – wird das ganze
Thema Alleinerziehende, also die Unterstützung dieser
Leistungsbereiten, dieser Leistungswilligen, für uns in
den nächsten Monaten ein besonderer Punkt werden;
denn wir erkennen hier, dass Menschen Verantwortung
nicht nur für die Erziehung ihrer Kinder übernehmen,
sondern dass sie ebenfalls hochmotiviert sagen: Ich
möchte auch arbeiten. – Deswegen wird das für uns ein
Auftrag sein, jetzt die anstehenden Punkte zu diskutieren
und in klugen Vorschlägen in der Koalition umzusetzen;
denn – auch das ist für Alleinerziehende nicht unwichtig –
wir haben einen Gesamthaushalt, auf den wir schauen
müssen, und eine Neuverschuldung von null ist gut für
alle, auch für die Alleinerziehenden, und daran werden
wir weiter arbeiten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1809420000

Vielen Dank. – Für die Fraktion Die Linke spricht

jetzt der Kollege Jörn Wunderlich.


(Beifall bei der LINKEN)



Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809420100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Jetzt diskutieren wir einen Antrag der Grünen mit dem
Titel „Alleinerziehende stärken – Teilhabe von Kindern
sichern“. Ein schöner Titel, man könnte etwas daraus
machen. Aber was machen die Grünen? Sie formulieren
allgemeine Forderungen zur Vereinbarkeit von Beruf
und Familie,


(Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, nein, nein! Keine allgemeinen!)


zum Ausbau von Kitas, mit allem, was dazugehört, sie
wollen die Unterhaltsreform evaluieren, den Familien-
ausgleich zur Kindergrundsicherung weiterentwickeln
und den Unterhaltsvorschuss ausbauen. Ich muss sagen:
Das alles sind Forderungen der Linken.





Jörn Wunderlich


(A) (C)



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(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe den Eindruck, die Grünen dachten: Jetzt wollen
wir auch einmal etwas zu den Alleinerziehenden brin-
gen. Ja, und was macht man dann, wenn man etwas zu den
Alleinerziehenden bringen will? Richtig, man schreibt bei
den Linken ab. Man greift die Forderungen der Linken
auf und schreibt sie ab.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Überschätzt euch nicht, Jörn! Nicht übertreiben!)


Das haben die Grünen diesmal gemacht, na ja, zugege-
ben, nicht ganz richtig; einiges habt ihr offensichtlich
übersehen.

Die Forderung der Linken nach flexibler Arbeitszeit
ist so alt, sie geht inzwischen schon auf eine weiterfüh-
rende Schule. Forderungen hinsichtlich Unterhaltsvor-
schuss sind auch schon zehn Jahre alt. Man muss darauf
hinweisen: Das wurde damals von den Grünen allerdings
nicht unterstützt. Ich zitiere aus dem Ausschuss – das ist
der Vorteil, wenn man schon ein bisschen länger dabei
ist – aus dem Jahr 2007 – damals hat meine Fraktion ei-
nen entsprechenden Antrag eingebracht –:

Einer Ausweitung des Anspruchs bis zum 18. Le-
bensjahr könne nicht ohne weiteres zugestimmt
werden, da dies Kosten beim Bund und bei den
Kommunen verursachen würde, zu deren Gegenfi-
nanzierung in dem Antrag jedoch Vorschläge fehl-
ten. Aus diesem Grund könnte die Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN diesen Änderungsantrag so
nicht mittragen.

Das war eure Argumentation zu dem Antrag, den ihr jetzt
selber stellt. Angesichts dieser Argumentation müsstet ihr
euren Antrag eigentlich selber ablehnen. Na gut, Schwamm
drüber! Jetzt wollt ihr es.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD)


Nach Meinung der Grünen soll das Kindergeld beim
Unterhaltsvorschuss nach wie vor voll angerechnet wer-
den. Warum, frage ich euch? Warum soll das Kindergeld
nicht, so wie wir das fordern, nur hälftig angerechnet
werden, wie bei den übrigen Unterhaltszahlungen auch?
Warum sollen gerade in diesem Punkt die Alleinerzie-
henden benachteiligt werden? Hier hätte man etwas ma-
chen können; denn was kann ein Kind dafür, wenn ein
Elternteil keinen Unterhalt zahlt?


(Beifall bei der LINKEN)


Zum verbesserten Berufseinstieg möchten die Grünen
lediglich einen Prüfauftrag erteilen. Ich habe es heute
schon gesagt: Wir brauchen keine weiteren Gutachten
und Sachverständigenanhörungen. Wir wissen, wo die
Probleme liegen. Wir müssen sie angehen. Prüfaufträge
braucht diese Regierung nicht. Vielleicht sollte man in
diesem Zusammenhang auch einmal darüber nachden-
ken, wie die Sorgen und Nöte von Eltern, ob alleinerzie-

hend oder nicht, an der Wurzel angepackt werden kön-
nen.

Ich möchte daran erinnern: Hartz IV wurde unter Re-
gierungsbeteiligung der Grünen eingeführt. Wir haben
heute früh gehört, was das für Folgen hat.


(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist schon traurig, dass ihr keinen eigenen Antrag habt! Bitter, bitter!)


Welche Auswirkungen das auf Kinder hat, wird ständig
von Studien belegt, zuletzt durch die von der
Bertelsmann Stiftung. Wir haben ständig Anträge in der
Pipeline, wir haben immer wieder Anträge eingebracht,
und immer wieder haben die Grünen gesagt: Das wollen
wir nicht. – Jetzt schreibt ihr von uns ab und wollt sie als
eigene verkaufen. Peinlich!


(Beifall bei der LINKEN)


Letztes Jahr forderte der DGB ein Sofortprogramm
für Eltern, die mit ihren Kindern schon länger im Hartz-
IV-Bezug sind. Ich möchte Annelie Buntenbach aus der
Süddeutschen zitieren, die gesagt hat – Zitat –:

Es passt nicht zusammen, über Fachkräftemangel
zu diskutieren und zugleich zuzulassen, dass etwa
1,9 Millionen Kinder unter 18 im Hinterhof unserer
Wohlstandsgesellschaft in Hartz-IV-Armut leben
müssen.

Dieser Fachkräftemangel bezieht sich auch auf die
Betreuerinnen in den Kitas. Dazu wird im Antrag der
Grünen nichts gesagt. Schon 2006 hat die Linke gemein-
sam mit der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft
unter Hinweis auf den drohenden Mangel darauf ge-
drängt, die erforderlichen Fachkräfte für die Kindergär-
ten auszubilden. Die damalige Familienministerin Frau
von der Leyen hat das alles allerdings abgetan. Sie hat
gesagt: Ach, ihr Linken! Die Kommunisten reden eh al-
les schlecht. Quatsch! Der Markt wird es schon richten.
– Jetzt wissen wir, dass jede vierte Erzieherin keine pä-
dagogische Ausbildung hat oder nur einen Crashkurs ab-
solviert hat. Das ist das Ergebnis der verfehlten Fami-
lienpolitik in diesem Punkt. Das muss man so feststellen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Jetzt soll der Betreuungsschlüssel zwar geändert werden,
aber woher das Personal kommen soll und wie das finan-
ziert wird, dazu wird im Antrag nichts gesagt.


(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch! Doch! – Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch!)


– Nein, da müsst ihr euren Antrag einmal richtig durch-
lesen. Wahrscheinlich schreibt ihr nicht nur ab, sondern
lest auch nicht richtig.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Kein Kind auf der Schattenseite des Lebens zurück-
lassen – das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe
und muss deswegen auch vom Bund finanziert werden.
Dazu steht nichts drin. Auch hier müssten sich die Grü-
nen im Grunde mit ihrer Argumentation aus dem Jahr
2007 selbst ablehnen. Vielleicht sagen die Grünen aber





Jörn Wunderlich


(A) (C)



(D)(B)


auch nichts zur Finanzierung, weil sie ahnen, wie das
ausgeht. Der Staatssekretär ist nicht mehr da, Herr
Schäuble auch nicht. Aber wie Herr Schäuble zur Finan-
zierung von Familien und sozial Schwachen steht, wis-
sen wir ja.


(Nadine Schön [St. Wendel] [CDU/CSU]: Was für ein Blödsinn!)


Beim Thema Kinder und Familien verzieht er das Ge-
sicht und dreht den Geldhahn zu.

Auf die Beratung im Ausschuss bin ich jedenfalls ge-
spannt. Wir als Linke werden uns wie auch sonst immer
positiv und korrigierend einbringen.


(Beifall bei der LINKEN – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Keine Drohungen! – Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit Finanzierungsvorschlägen, wie man euch kennt!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1809420200

Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion hat jetzt

Dr. Fritz Felgentreu das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Fritz Felgentreu (SPD):
Rede ID: ID1809420300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn

wir das Wort „Familie“ sagen, dann steht meistens un-
willkürlich das alte schöne Bild vor unseren Augen: Va-
ter, Mutter, Kinder. Dabei wissen wir genau: Draußen im
richtigen Leben sind neben dieses Bild, mit dem wir
großgeworden sind, längst andere Formen von Familien
getreten, denen die gleiche Wertschätzung und die glei-
che Anerkennung durch das Gemeinwesen gebührt. Ob
es also weiterhin Vater, Mutter, Kinder oder nur Vater,
nur Mutter und Kind oder sogar zwei Väter oder zwei
Mütter sind, sie alle sind verbunden durch die Liebe, die
die Familie zusammenhält, und durch die Bereitschaft,
fürsorgliche Verantwortung füreinander zu übernehmen.
Sie alle verdienen unseren Respekt und unsere Unter-
stützung.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Besondere Beachtung verdienen dabei die Eltern, die
heute im Mittelpunkt unserer Debatte stehen: die Allein-
erziehenden. In ihren Familien – das ist heutzutage jede
fünfte – fehlt der zweite Erwachsene, um die Lasten des
Arbeits- und Familienlebens zu teilen. Das heißt, sie
müssen alles irgendwie alleine hinbekommen: Geld ver-
dienen, einkaufen, vorlesen, trösten, Wäsche waschen,
Staub saugen, aufräumen, kuscheln, toben, anleiten,
schimpfen, den Abwasch machen, bei den Hausaufgaben
helfen, spielen, singen, hinbringen, abholen – die Liste
ist uferlos. Irgendwann müssen sie auch einmal schlafen.
Alleinerziehende sind Helden unseres Alltags.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Mit Recht erwarten sie von uns, dass wir zur Kenntnis
nehmen, was sie leisten, und dass wir ihnen mit den Mit-
teln der Politik dabei helfen. Herr Weinberg – gerade
kann ich nur Ihren Rücken bewundern –, Sie haben in
diesem Punkt recht. Deshalb begrüßt die SPD-Fraktion
den Vorstoß der Grünen, über den wir heute reden. Die
Grünen haben in ihrem breit angelegten Antrag noch
einmal all das zusammengetragen, über das in diesem
Haus zum Thema Alleinerziehende diskutiert wird. Da
braucht die Linke auch nicht mit den Zähnen zu knir-
schen, wenn ein paar linke Ideen dabei sind. Ich meine,
expropriiert die Expropriateure, das war doch Ihre For-
derung, oder? Wenn die Grünen diese Idee auch haben,
sollte das doch kein Problem sein.

Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen, bildet
der Natur der Sache nach vor allen Dingen zwei Schwer-
punkte: Geld und Betreuung. Das ist übrigens nicht so
selbstverständlich, wie es im ersten Moment erscheinen
mag. Denn es ist zwar allgemein bekannt, dass Alleiner-
ziehende besonders oft von Armut bedroht sind, weniger
bekannt ist, dass zwei von drei Alleinerziehenden trotz-
dem Arbeit haben; weil sie Zeit für die Kinder brauchen,
allerdings oft nur in Form von Minijobs oder in Teilzeit.
Nicht allein das Geld ist deshalb Thema. Auch die Frage,
wo ihr Kind in guten Händen ist, wenn sie selbst arbeiten
gehen, ist für Alleinerziehende von existenzieller Wich-
tigkeit.

Die berufstätige Frau ist unter den Alleinerziehenden
der Normalfall. Das müssen wir bedenken, wenn wir da-
rüber diskutieren, wie wir Alleinerziehenden das Leben
ein bisschen leichter machen. Das ist auch der Grund,
warum der SPD die überfällige Erhöhung des Entlas-
tungsbetrags so wichtig ist. Der Entlastungsbetrag ist ein
eigener Steuerfreibetrag nur für Alleinerziehende. Er soll
zumindest teilweise die Nachteile ausgleichen, die Al-
leinerziehende haben, weil sie nicht vom Ehegattensplit-
ting profitieren können. Der Entlastungsbetrag belohnt
also die Anstrengung, weil er sich als Steuerersparnis
umso stärker auswirkt, je höher das Einkommen einer
Alleinerziehenden ist. Aber er ist seit elf Jahren nicht
mehr angehoben worden. Deshalb war es uns in der SPD
sehr wichtig, die Anhebung des Entlastungsbetrages im
Koalitionsvertrag zu verankern.

Es hat mich gefreut, zu hören, dass die Union das
ganz genauso sieht. Herr Weinberg, wir sind nicht in al-
len Punkten einer Meinung. Sie werden mich in diesem
Leben nicht mehr davon überzeugen, dass es eine gute
Idee ist, Eltern Geld dafür zu geben, dass sie ihr Kind
nicht in die Kita schicken. Aber in diesem Punkt sind wir
einer Meinung, und das wird auch so bleiben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)


Wenn wir ein Paket zur Anpassung familienpolitischer
Leistungen schnüren, dann muss der Entlastungsbetrag
mit dabei sein. Wir dürfen die berechtigten Erwartungen
an uns nicht enttäuschen. Genauso wichtig ist uns aber,
was die Große Koalition schon jetzt im Bereich des Aus-
baus der Kitabetreuung voranbringt.





Dr. Fritz Felgentreu


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Neben der allgemeinen Entlastung der Länder um
6 Milliarden Euro für Bildung und Betreuung wenden
wir eine weitere knappe Milliarde Euro jährlich als Bun-
desbeitrag zu den Betriebskosten von Kitas auf. Die Mit-
tel für das Sondervermögen „Kinderbetreuungsfinanzie-
rung“ haben wir zum 1. Januar dieses Jahres um 1
Milliarde Euro erhöht. Damit war die Koalition, liebe
Kollegin Brantner, schneller, als es die Grünen fordern
konnten. Denn eines ist völlig klar: Kinder und Familien
fördern wir am besten und am gerechtesten durch erst-
klassige Kitas und Schulen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Niemand weiß es mehr zu schätzen als Alleinerzie-
hende, wenn sie einen Platz haben, an dem es ihrem
Kind gut geht, während sie selbst arbeiten müssen. Dass
wir dabei perspektivisch noch besser werden können,
gebe ich gerne zu. Ich rege zum Beispiel an, zu prüfen,
ob wir Eltern, die Elterngeld Plus beziehen, nicht auto-
matisch auch einen Rechtsanspruch auf einen Krippen-
platz für Kinder unter einem Jahr gewähren sollten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das liegt in der Logik der Leistungen und käme beson-
ders den berufstätigen Alleinerziehenden entgegen. Der
DGB hat ja schon entsprechende Vorschläge gemacht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein bisschen zu
kurz kommt mir in dem Antrag der Grünen das Thema
Zeit. Mit dem Elterngeld Plus hat die Koalition bereits
einen großen Fortschritt erzielt, damit berufstätige Eltern
neben der Arbeit die nötige Zeit für ihre ganz kleinen
Kinder haben. Für die SPD-Fraktion ist das Elterngeld
Plus deshalb ein großer Schritt auf dem richtigen Weg.
Das Ziel dieses Weges bleibt für uns aber die Familien-
arbeitszeit, also für junge Eltern die 32-Stunden-Woche
mit Lohnausgleich.


(Beifall bei Abgeordneten SPD)


Der Verband alleinerziehender Mütter und Väter sieht in
diesem Modell gerade für Alleinerziehende eine gute
Zukunftsvision. Das tun auch wir.

Lassen Sie uns in diesem Sinne den Antrag der Grü-
nen zum Anlass nehmen, um weiter darüber nachzuden-
ken, wie wir Alleinerziehenden zur Seite stehen können.
Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss und be-
danke mich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1809420400

Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt die Kollegin

Gudrun Zollner, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Gute Frau!)



Gudrun Zollner (CSU):
Rede ID: ID1809420500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Besucher auf der Tribüne! In die
meisten Themen, über die wir Abgeordnete hier im Ple-
num reden, müssen wir uns einarbeiten, Informationen
sammeln, abwägen und uns eine Meinung bilden. Beim
Thema Alleinerziehende brauche ich das nicht zu tun;
denn ich bin Alleinerziehende. Ich spreche aus eigener
Erfahrung. Ich habe die Höhen und Tiefen selbst durch-
lebt. Ich kenne die Sorgen, Nöte und Ängste, die man
hat, wenn man zwei Kinder ab einem Alter von sechs
und sieben Jahren ohne Partner großziehen muss. Heute
sind meine Söhne 23 und 24 Jahre alt, und ich bin stolz
auf sie.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ein bisschen stolz bin ich dabei auch auf mich; denn
es war für mich wirklich alles andere als leicht, zwei
kleine Jungs großzuziehen. Zur eigenen ersten Ohn-
macht, auf einmal wieder allein zu sein, kommt der
Druck, alles richtig machen zu wollen; denn die Kinder
sollen nicht auch unter der Situation leiden müssen. Da-
mit aber nicht genug: Auch finanziell ändert sich im Le-
ben alles schlagartig. Während man vorher noch zu
zweit für den Lebensunterhalt gesorgt hat, fällt dann
meist das größere Einkommen weg. Die Kosten für
Miete, Versicherung und Auto bleiben aber gleich. Man
muss nicht BWL studiert haben, um zu wissen, dass es
eng wird.

Die nächste Herausforderung ist, einen gut bezahlten
Job zu finden – eine fast unlösbare Aufgabe. In jedem
Vorstellungsgespräch hört man die Frage: Was machen
Sie, wenn Ihre Kinder mal krank sind? – Meist bleibt nur
eine Teilzeitbeschäftigung, von der man seine kleine Fa-
milie nur schwer über Wasser halten kann. Enorm hilft
hier der Rechtsanspruch auf einen Kinderbetreuungs-
platz – den wir jetzt Gott sei Dank haben – ab dem ersten
Lebensjahr. Auch die rund 100 Millionen Euro extra, die
im Nachtragshaushalt 2015 für die Kindertagesstätten
vorgesehen sind und mit denen ganz besonders die län-
geren Öffnungszeiten abgedeckt werden sollen, ist spe-
ziell für die berufstätigen Alleinerziehenden eine große
Unterstützung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Das ist ein Schritt – von vielen – in die richtige Richtung
für Väter und Mütter, die ihre Kinder allein erziehen, auf
dem Weg zu einem selbstbestimmten Leben. 70 Prozent
von ihnen sind erwerbstätig, 45 Prozent in Vollzeit.
Trotzdem sind sie immer an der Schwelle zum Existenz-
minimum. Jedes zweite Kind ist auf Grundsicherung an-
gewiesen. Ich spreche hier und heute für die 1,6 Millio-
nen Einelternfamilien in Deutschland. Ich spreche ganz
bewusst von Einelternfamilien; denn auch Alleinerzie-
hende mit ihren 2,2 Millionen minderjährigen Kindern
sind Familie,


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Beate Walter-Rosenheimer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])






Gudrun Zollner


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(D)(B)


ein Familienmodell übrigens, das in unserer Gesellschaft
zunehmend häufiger wird: Jede fünfte Familie ist heute
eine Einelternfamilie, Tendenz steigend.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, mehr Hilfen
für Alleinerziehende hat die CSU bereits vor der Bundes-
tagswahl 2013 gefordert. Dies ist eine Herzensangelegen-
heit von mir und meiner Partei. Ich danke besonders mei-
ner Landesgruppenvorsitzenden Gerda Hasselfeldt, dass
sie sich dafür einsetzt. Im Koalitionsvertrag haben wir
deshalb auch eine Entlastung vereinbart. Die steuerliche
Entlastung für Alleinerziehende beträgt seit der Einfüh-
rung zum 1. Januar 2004, also vor elf Jahren, unverän-
dert 1 308 Euro. Gerade dieser Entlastungsbetrag in der
Steuerklasse II kommt direkt bei den alleinerziehenden
Vätern und Müttern an.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir müssen
jetzt ohne Schaum vor dem Mund, ruhig und kollegial
über die Differenzen sprechen – und bitte keine ideologi-
schen Attacken, welche Partei welches Familienmodell
angeblich favorisiert.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir wissen alle, dass Alleinerziehende Enormes leisten
und dass sie unsere besondere Unterstützung und Wert-
schätzung brauchen. Denken wir auch an die 2,2 Millio-
nen minderjährigen Kinder, die es verdient haben, ein
unbeschwertes Leben führen zu dürfen, und denen wir
einen guten Start ins Leben sichern müssen. Deshalb
werden die Koalitionspartner in ihren zuständigen
Ministerien die Haushaltspläne nochmals sichten und
gemeinsam weitere Gespräche führen. Ich bin mir si-
cher, dass wir eine gute Lösung finden werden.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1809420600

Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Stefan Schwartze,

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Stefan Schwartze (SPD):
Rede ID: ID1809420700

Danke schön. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Unsere Bundesfamilien-
ministerin hat bei der Verabschiedung des Quotengeset-
zes von einem Kulturwandel gesprochen, einem Kultur-
wandel, der das gesamte Arbeitsleben erfasst und
aufbaut auf einem modernen Begriff der Familie; denn
das traditionelle Familienmodell mit Vater, Mutter, Kind
ist seltener geworden: Von den 8,1 Millionen Familien
sind aktuell knapp 20 Prozent Einelternfamilien. Im Jahr
2012 waren 1,6 Millionen Menschen allein für ihre Kin-
der verantwortlich. In neun von zehn Fällen tragen diese
Verantwortung Frauen.

Mit diesen Zahlen im Hinterkopf können wir fragen:
Wie muss der eingangs erwähnte Kulturwandel ausse-
hen? Ich möchte hier einen konkreten Blick auf das Ar-
beitsleben richten. Gerade in diesem Lebensbereich of-
fenbaren sich immer wieder alte Rollenbilder – in den
Köpfen der Arbeitgeber, aber auch bei manchen Kolle-

ginnen und Kollegen. Immer noch kämpfen Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer, die allein für ihre Kinder
sorgen, gegen Vorurteile, bekommen nicht die Anerken-
nung und Wertschätzung, die sie verdienen.

Wir müssen endlich hin zu einem flexibleren Arbeits-
leben, in dem Kinder mitgedacht werden, einem Arbeits-
leben, in dem Menschen, die um 16 Uhr ihr Kind von
der Schule oder der Kita abholen, nicht mehr schräg an-
geschaut werden, einem Arbeitsleben, in dem wichtige
Meetings nicht exakt auf die Schließzeiten der Kitas ge-
legt werden, einem Arbeitsleben, in dem es keinen
Nachteil darstellt, in Personalgesprächen nach flexiblen
Arbeitszeitmodellen und Heimarbeit zu fragen, einem
Arbeitsleben, in dem die Betreuungszeiten der Kinder
bei der Personalplanung der Betriebe positiv mitgedacht
werden; denn Alleinerziehende sind Heldinnen und Hel-
den des Alltags.

Mehr als zwei Drittel von ihnen sind erwerbstätig –
und davon fast die Hälfte in Vollzeit. Wie sollte das auch
anders sein? Sie müssen alleine dafür sorgen, dass das
Essen auf dem Tisch steht, dass die Schulsachen für das
Lernen vorhanden sind und dass die Kinder etwas Or-
dentliches zum Anziehen haben. Von der Organisation
und Finanzierung der Freizeitaktivitäten sei hier einmal
noch gar nicht gesprochen.

Diese Heldinnen und Helden, die alleine für ihre Kin-
der sorgen, werden jedoch nicht entsprechend wahrge-
nommen, geschweige denn bezahlt. Weiterhin gilt der
Status „alleinerziehend“ als Indikator für Armut. Das
darf nicht so bleiben.

Solange in unserer Gesellschaft noch immer das Bild
vom arbeitenden Mann und von der Frau, die zu Hause
für die Kinder sorgt, für normal gehalten wird, solange
Menschen, die in Teilzeit arbeiten, im Verhältnis gerin-
ger bezahlt werden als ihre Kollegen und Kolleginnen in
Vollzeit, solange die Arbeit dieser Menschen also als
weniger wert eingeschätzt wird – genau das wird durch
ein geringeres Gehalt ausgedrückt –, so lange bleibt der
Status „alleinerziehend“ Ausdruck eines Armutsrisikos.

Ich möchte konkret bleiben und aufzeigen, welcher
Fachkräfteverlust in Kauf genommen wird: Laut der
Prognos-Untersuchung von diesem Januar sind Alleiner-
ziehende überwiegend gut ausgebildet. 79 Prozent verfü-
gen über einen mittleren oder einen hohen Bildungsab-
schluss. Wir brauchen diese Fachkräfte in unserem
Land. Deswegen haben wir im Koalitionsvertrag auch
konkrete Entlastungen für Alleinerziehende vereinbart.
Dafür wird die SPD hier im Parlament hart kämpfen.

Wir wollen, wenn möglich rückwirkend zum 1. Ja-
nuar 2015, den Entlastungsbetrag für Alleinerziehende
im Einkommensteuergesetz erhöhen und nach der Kin-
derzahl staffeln.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Hier gilt es, unserer Ministerin für die Verhandlungen
mit dem Finanzministerium den Rücken zu stärken.





Stefan Schwartze


(A) (C)



(D)(B)



(Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: Sie können ja einen Vorschlag machen!)


Den Appell von Paul Lehrieder an den Staatssekretär
Kampeter eben fand ich an dieser Stelle ganz hervorra-
gend.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Vielleicht hilft er! Schauen wir einmal! – Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: Aber ein Vorschlag von der SPD wäre auch nicht schlecht!)


Die Bundesregierung hat aber auch jetzt schon ent-
scheidende Schritte hin zum nötigen Kulturwandel ge-
macht. Die Frauenquote, der gesetzliche Mindestlohn,
die Mietpreisbremse und die Stärkung von Tarifverträ-
gen gehören dazu, und das Entgeltgleichheitsgesetz ist in
Arbeit. Diese Gesetze haben wir gegen viele Wider-
stände durchgesetzt.

Das Ziel ist, eine Arbeitswelt und Strukturen zu
schaffen, die es Alleinerziehenden ermöglichen, gleich-
wertig am Arbeitsleben teilzunehmen – auch gegen den
Widerstand antiquierter Betonköpfe. Zu diesen Struktu-
ren gehört auch, dass wir eine Ausbildung in Teilzeit er-
möglichen. Diese Ausbildung in Teilzeit darf sich nicht
nur auf einige Leuchtturmprojekte beschränken, sondern
muss wirklich in der Fläche eine Chance bekommen.

Ein letzter struktureller Aspekt darf nicht unerwähnt
bleiben: Das, was wir im Bund beschließen, muss in den
Ländern und in den Kommunen ankommen. Es müssen
vor Ort die finanziellen Spielräume vorhanden sein, um
diese Maßnahmen umzusetzen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Deshalb ist auch die Entlastung der Kommunen so wich-
tig.

Der von Manuela Schwesig angesprochene Kultur-
wandel kommt. Wir schaffen den Rahmen dafür. Ich
freue mich auf die Beratungen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1809420800

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Bettina

Hornhues, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Bettina Hornhues (CDU):
Rede ID: ID1809420900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Damen und Herren! Familienformen sind
so vielfältig wie unsere Gesellschaft. Nach wie vor ein
beliebtes Modell ist die klassische Familie mit Vater,
Mutter und Kind, welche auch heute noch die am weites-
ten verbreitete Form des familiären Zusammenlebens ist.

Familien als solche unterscheiden sich aber in Größe
und Struktur voneinander. Dies ist in Deutschland bei ei-
nem Fünftel der Familien ganz signifikant der Fall; denn
jede fünfte Familie in Deutschland ist eine Einelternfa-
milie. Die Tendenz ist leider steigend. Unsere Familien-

politik muss dies widerspiegeln. Bei jeder Gesetzesände-
rung oder neuen familienpolitischen Maßnahme müssen
wir schauen, dass wir alle Lebenslagen und -situationen
berücksichtigen. Meiner Meinung nach gelingt uns das
als CDU/CSU-Bundestagsfraktion ausgesprochen gut.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Erst im letzten Jahr haben wir das neue Elterngeld
Plus verabschiedet, von dem Alleinerziehende in ganz
besonderer Weise profitieren. Es lassen sich noch viele
weitere Beispiele benennen, von denen heute in dieser
Debatte auch schon einige genannt wurden, dass etwa
unsere Politik nicht nur die klassische Paarfamilie för-
dert, sondern auch auf die besonderen Bedürfnisse von
alleinerziehenden Müttern und Vätern eingeht.

Als ich nun anfing, den Antrag der Kollegen der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen zu lesen, habe ich mich zu-
nächst gefreut; denn „Alleinerziehende stärken“ ist eine
politische Forderung, in der wir uns zu 100 Prozent einig
sind.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Allesamt!)


Aber – jetzt kommt das große Aber; denn wie so oft
kommt es auf das Wie an – fast zwei Drittel der Allein-
erziehenden sind erwerbstätig. Deshalb ist die Verein-
barkeit von Familie und Beruf nach wie vor die
Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Teilhabe am
Erwerbsleben und sichert dadurch auch die Teilhabe der
betroffenen Kinder am sozialen Leben. Wir setzen uns
daher für möglichst bedarfsgerechte und flexible Lösun-
gen ein.

Wir müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass es
gerade die alleinerziehenden Mütter sind, die am Er-
werbsleben unter erschwerten Bedingungen teilnehmen.
Sie arbeiten zwar häufiger in Vollzeit als Mütter in Paar-
familien, aber dafür vermehrt in Schicht- oder Nacht-
diensten sowie auch an Wochenenden. Da Alleinerzie-
hende gerade nicht auf die Hilfe des Partners bauen
können, brauchen sie andere Konzepte. Sofern nicht die
Großeltern einspringen können, stehen viele Alleinerzie-
hende im schlechtesten Fall vor einem echten Problem.
Deshalb haben wir bereits im Koalitionsvertrag festge-
legt, die Qualität in der Kinderbetreuung weiter voranzu-
treiben. An dieser Aufgabe werden wir als Bund weiter
arbeiten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Fritz Felgentreu [SPD])


Meiner Meinung nach darf man die Länder aber nicht
aus ihrer Pflicht entlassen. Hier stelle ich gerne die
Frage: In wie vielen Ländern sind momentan denn die
Kollegen der Grünen an der Regierung beteiligt? Sehr
geehrte Damen und Herren, es sind acht Länder, Ham-
burg nach der Wahl erst einmal ausgenommen. Also ge-
nau in der Hälfte der Bundesländer regieren die Grünen
mit.

Kommen wir zurück zum eigentlichen Punkt. 90 Pro-
zent der Alleinerziehenden sind Frauen. Insbesondere
für diese Gruppe der Frauen brauchen wir bedarfsge-
rechte Familienförderung. Dafür werden wir uns auch in
den nächsten Jahren starkmachen und daran weiter ar-





Bettina Hornhues


(A) (C)



(D)(B)


beiten. Wir wissen die außergewöhnliche Erziehungs-
leistung von den Alleinerziehenden sehr wohl zu schät-
zen und wertschätzen auch die besondere Verantwortung
als Familienernährer, eine große Last und zugleich Ver-
antwortung, die die Frauen auf ihren Schultern tragen.

Perspektivisch brauchen wir gute und zukunftsfähige
Konzepte, Einelternfamilien zu unterstützen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Anhebung der steuerlichen Entlastung ist eine kon-
krete Maßnahme, die wir noch in dieser Legislatur-
periode umsetzen werden. Rahmenbedingungen sind
also das eine, die Förderung der Erwerbstätigkeit von
Alleinerziehenden ist das andere und für mich ein zen-
trales Anliegen.

Hierbei tragen auch die Jobcenter in den Kommunen
sowie die Handels- und Handwerkskammern eine beson-
dere Verantwortung. Wir brauchen für Alleinerziehende
mehr gute Projekte, die speziell die Herausforderungen
in der alleinigen Betreuung des Kindes thematisieren,
Programme, die direkt auf die Bedürfnisse von allein-
erziehenden Müttern und Vätern zugeschnitten sind.

Ich denke dabei vor allem an die Möglichkeit der
Teilzeitausbildung, welche ich für eine hervorragende
Möglichkeit halte und dafür bei Unternehmen immer
wieder werbe; denn über 50 Prozent der alleinerziehen-
den Arbeitslosen haben keine abgeschlossene Berufsaus-
bildung.

Seit 2005 besteht die Option der Teilzeitausbildung.
Leider wird diese Möglichkeit aber bisher noch viel zu
wenig genutzt. So wurden im Jahr 2012 bundesweit
1 344 Ausbildungsverträge in Teilzeit neu abgeschlos-
sen. Das entspricht allerdings nur einem Anteil von
0,2 Prozent. Dabei bietet gerade die Teilzeitausbildung
jungen Eltern und vor allem Alleinerziehenden eine
wirkliche Chance, Berufsausbildung und Familie mitei-
nander zu vereinbaren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir tun also schon eine ganze Menge, um Alleiner-
ziehende zu fördern und zu unterstützen. Aber nicht zu-
letzt ist es für mich eine gesamtgesellschaftliche Auf-
gabe: das Zusammenspiel von Bund, Ländern und
Kommunen auf der einen Seite und Jobcentern, Arbeit-
gebern und Kammern auf der anderen Seite. Ich kann
den alleinerziehenden Vätern und Müttern nur versi-
chern, dass wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, auch
weiterhin die besonderen Bedürfnisse und Sorgen im Fo-
kus haben werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1809421000

Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4307 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-

verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann haben wir
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:

Beratung des Antrags der Bundesregierung

Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an der EU-geführten
Ausbildungs- und Beratungsmission EUTM
Somalia auf Grundlage des Ersuchens der
somalischen Regierung mit Schreiben vom
27. November 2012 und 11. Januar 2013 sowie
der Beschlüsse des Rates der Europäischen
Union vom 15. Februar 2010 und 22. Januar
2013 in Verbindung mit den Resolutionen
1872 (2009) und 2158 (2014) des Sicherheits-
rates der Vereinten Nationen

Drucksache 18/4203
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich bitte jetzt alle Kolleginnen und Kollegen, die
Plätze einzunehmen. Diejenigen, die andere wichtige
Aufgaben haben, bitte ich, jetzt den Plenarsaal zu verlas-
sen.

Ich eröffne die Aussprache. Für die Bundesregierung
erhält der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael
Roth, das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Michael Roth (SPD):
Rede ID: ID1809421100

Einen schönen guten Abend, Frau Präsidentin! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Wir haben jetzt fast einen
weihevollen Moment. Alle hören zu. Es geht um ein für
viele Kolleginnen und Kollegen nicht ganz einfaches
Thema. Denn Sie wissen vermutlich noch viel besser als
ich, dass die Region am Horn von Afrika zu den globa-
len Krisenlandschaften zählt, mit denen wir uns im Bun-
destag schon seit vielen Jahren immer wieder befassen,
verbunden mit vielen Hoffnungen, aber bisweilen leider
auch mit großer Ernüchterung.

Insbesondere Somalia beschäftigt uns, ein Land, das
seit Jahren von Bürgerkrieg und Hungersnöten gepeinigt
wird: eine Tragödie für viele Menschen. Aber – das wis-
sen wir auch – die EU engagiert sich seit vielen Jahren in
dieser Region und setzt dabei auf die gesamte Band-
breite ihrer außenpolitischen Instrumente.

Damit ist das Horn von Afrika ein gutes Beispiel für
den umfassenden Ansatz der EU, die Welt ein bisschen
friedlicher und stabiler zu machen. Wir verknüpfen näm-





Staatsminister Michael Roth


(A) (C)



(D)(B)


lich Sicherheit mit Entwicklungszusammenarbeit und
humanitäre Hilfe mit Diplomatie.

Deshalb wäre mein Vorschlag an uns alle: Lassen Sie
uns heute keine rein sicherheitspolitische Debatte füh-
ren. Auch die anderen Felder unseres vielseitigen Enga-
gements in und für Afrika sollten wir nicht aus dem
Blick verlieren.

Seit 2008 hat die Europäische Union mehr als 1 Mil-
liarde Euro in Projekte investiert, um Somalia politisch
und wirtschaftlich zu stabilisieren. Ich bin überzeugt:
Die Mittel, die wir jetzt gezielt in Frieden und Stabilität
in Somalia investieren, zahlen sich am Ende um ein
Vielfaches aus. Denn all diese Projekte zielen darauf ab,
dass Krisen und Konflikte in Somalia erst gar nicht wie-
der aufflammen und eskalieren.

Was tun wir also ganz konkret in Somalia? Beim
Staats- und Verwaltungsaufbau fördern wir die Entwick-
lung rechtsstaatlicher und demokratischer Strukturen
und stärken den Aussöhnungsprozess zwischen den ver-
schiedenen Bevölkerungsgruppen. Wir unterstützen die
wirtschaftliche Erholung des Landes, indem wir die
Produktionsbedingungen in der Landwirtschaft verbes-
sern und die Entwicklung eines privatwirtschaftlichen
Sektors fördern. Wer einmal mit den Expertinnen und
Experten der Entwicklungszusammenarbeit gesprochen
hat, weiß, was für ein dickes Brett dabei gebohrt werden
muss.

Seit 1994 bildet die humanitäre Hilfe einen besonde-
ren Schwerpunkt des EU-Engagements. Allein zwischen
2011 und 2014 leistete die EU humanitäre Hilfe im Um-
fang von 240 Millionen Euro. Trotz dieses umfassenden
Engagements der Europäischen Gemeinschaft und der
internationalen Gemeinschaft gilt Somalia nach wie vor
als sehr fragiler Staat. Wir können alles andere als zu-
frieden sein. Machen wir uns keine Illusion: Der Weg
vom Failed State zu Good Governance ist kein Sprint,
sondern ein langer, beschwerlicher Marathonlauf.


(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In die falsche Richtung!)


Somalia ist nicht nur auf den ersten Kilometern dieses
langen Laufs, sondern auf der gesamten Strecke auf
unsere solidarische Unterstützung in vielen Bereichen
angewiesen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wenn wir also Somalia nachhaltig stabilisieren wol-
len, kommt es vor allem auf die Instrumente der zivilen
Konfliktnachsorge und der Entwicklungszusammen-
arbeit an; denn ohne ein Mindestmaß an effektiver Staat-
lichkeit werden wir weder die Grundbedürfnisse der Be-
völkerung bei der Versorgung mit Wasser und Energie
sowie bei der Gesundheitsfürsorge befriedigen können,
noch dürften ausreichend Nahrungsmittel durch die
lokale Landwirtschaft produziert werden. Dafür müssen
wir die somalische Regierung wieder in die Lage verset-
zen, Verantwortung für ihren Staat zu übernehmen, aus
eigener Kraft Frieden und Sicherheit für die Bürgerinnen
und Bürger des Landes zu gewährleisten. Somalia
braucht Sicherheitsstrukturen, die funktionieren und die

sich selbst tragen, damit die zivilen Instrumente, deren
Einsatz wir unterstützen, wirksam greifen können.

Unser gemeinsames Ziel bleibt, dass 2016 endlich
freie Wahlen in einem ausreichend stabilisierten Land
stattfinden. Dafür leisten neben den diplomatischen Be-
mühungen des EU-Sonderbeauftragten für die Region
ganz verschiedene Missionen im Rahmen der Gemeinsa-
men Sicherheits- und Verteidigungspolitik einen sehr
wichtigen Beitrag. Seit 2008 sichert die Operation
Atalanta das humanitäre und entwicklungspolitische
Engagement durch den Schutz der Schiffe des Welt-
ernährungsprogramms. Die von kriminellen Netzwerken
ausgehende Piraterie wurde damit erfolgreich zurückge-
drängt. Seit 2012 unterstützt die zivile Mission EUCAP
Nestor die somalischen Behörden beim Aufbau eigener
Fähigkeiten bei der maritimen Sicherheit. Nicht zuletzt
mit der Ausbildungsmission EUTM Somalia unterstüt-
zen wir die somalische Regierung seit 2010 beim Auf-
bau demokratisch kontrollierter, den Grundsätzen des
Völkerrechts und dem Schutz der Menschenrechte ver-
pflichteter Streitkräfte. Die Fortsetzung der deutschen
Beteiligung an dieser wichtigen Mission ist Gegenstand
des heutigen Antrags der Bundesregierung.

Wir sollten ganz nüchtern auf die Entwicklung bli-
cken. Wenn wir uns vergegenwärtigen, wie die Mission
2010 begonnen hat, und uns die gegenwärtige Situation
anschauen, dann stellen wir fest, dass es Fortschritte zu
verzeichnen gibt. Heute sind die islamistischen Terror-
milizen der al-Schabab unter dem militärischen Druck
von AMISOM, der Mission der Afrikanischen Union,
und der somalischen Armee in weiten Teilen des Landes
auf dem Rückzug. Darüber können auch die jüngsten
Meldungen über furchtbare Anschläge vor allem in
Mogadischu nicht hinwegtäuschen. Trotz des schwieri-
gen Umfelds blickt EUTM Somalia auf sichtbare
Erfolge zurück. Wir haben bislang 4 800 somalische
Soldaten im Rahmen der EU-Mission ausgebildet, davon
1 200 in Mogadischu, wo die Ausbildung seit Anfang
2014 erfolgt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir leisten konkrete
Hilfe. Wir zeigen Solidarität. Unser militärisches Enga-
gement ist ein bescheidenes, aber notwendiges Element
einer Afrikastrategie für Frieden, Stabilität und Sicher-
heit. Ich bitte Sie deshalb im Namen der Bundesregie-
rung um Ihre tatkräftige Unterstützung für die Verlänge-
rung dieser Mission.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1809421200

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Sevim

Dağdelen, Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809421300

Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Herr

Staatsminister Roth, wenn man hört, was Sie zur Förde-
rung demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen in
Somalia sagen, hat man den Eindruck, dass Sie über-





Sevim Dağdelen


(A) (C)



(D)(B)


haupt keine Kenntnis von der Realität in diesem Land
haben.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie unterstützen mit dieser Ausbildungsmission ein
islamistisch-autoritäres Regime, das die Scharia über
alle Gesetze im Land, also über die Verfassung, gestellt
hat. Sie unterstützen ein Regime, in dem die sogenann-
ten Gerichte die Todesstrafe verhängen, in dem sexuelle
Minderheiten verfolgt werden, in dem ein Abtreibungs-
verbot herrscht, in dem es keine Religionsfreiheit gibt,
ein autoritäres Regime. Sie versuchen, den Menschen
Sand in die Augen zu streuen. Sie tun so, als wenn es um
eine normale Regierung ginge, die man jetzt nur noch in
den Bereichen Demokratieförderung und Rechtsstaat-
lichkeit unterstützen möchte. Das hat mit der Situation in
Somalia überhaupt nichts zu tun. Ich bitte Sie, sich die
Realität in diesem Land anzuschauen: Es herrscht die
Scharia. Da können Sie mir nicht sagen, dass dieses
Land auf dem Weg der Rechtsstaatlichkeit und der De-
mokratie ist.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn wir uns die Begründung der Bundesregierung
für die Verlängerung dieses Einsatzes im Antragstext
selbst einmal anschauen, stoßen wir auf eine regelrechte
Aufzählung der Erfolge der bisherigen Bundeswehrein-
sätze. Tausende somalische Soldaten wurden ausge-
bildet. Dies wird in einen scheinbaren Zusammenhang
mit dem Zurückdrängen der Al-Schabab-Milizen am
Horn von Afrika gebracht. Aber ist die Entsendung der
Bundeswehr wirklich mit einer Erfolgsgeschichte ver-
bunden?


(Thomas Hitschler [SPD]: Ja!)


Oder ist sie nicht vielmehr eine weitere abenteuerliche
Unternehmung der deutschen Außenpolitik, um mit viel
Geld wenig symbolische Weltgeltung erreichen zu
können?

Ja, weil die politische Situation, die Sie laut Ihrem
Antrag zum Positiven wenden wollen, immer weiter es-
kaliert.


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!)


Sicher, die al-Schabab sind zurückgedrängt worden.
Aber ich frage Sie: Zu welchem Preis? Die Erfolge sind
zu einem Gutteil den Truppen des Nachbarlandes Kenia
zu verdanken, das im somalischen Bürgerkrieg nun kräf-
tig mitmischt.

Ich bitte Sie, sich auch die Reisewarnungen des Aus-
wärtigen Amtes anzuschauen: Anschläge, Kämpfe, be-
waffnete Auseinandersetzungen prägen das Bild Kenias
in den Reisewarnungen. Immer stärker werden auch dort
Touristen bedroht. Das heißt, eine der Haupteinnahme-
quellen des Landes Kenia droht wegzubrechen.

Sicher, al-Schabab ist zurückgedrängt; aber zugleich
wurde der somalische Bürgerkrieg stark ausgeweitet. Da
frage ich Sie: Sehen so eigentlich Erfolge aus? Mittler-
weile denkt die politische Klasse Kenias laut über

Verhandlungen über eine politische Lösung mit den al-
Schabab nach. Ich frage mich: Warum setzt die Bundes-
regierung im Gegenteil weiter auf einen Krieg, der so
überhaupt nicht zu gewinnen ist?


(Beifall bei der LINKEN)


Wir Linke finden: Wir brauchen eine politische Lösung.
Auch in Somalia gilt: Verhandeln ist allemal besser, als
zu schießen oder eben ein solch autoritäres Regime mit
Militärausbildern zu unterstützen.

Ein Weiteres möchte ich ansprechen. Deutschland ist
leider nicht nur mit Militärausbildern an dem schmutzi-
gen Krieg in Somalia beteiligt. Somalia ist neben Pakis-
tan, Afghanistan und dem Jemen das Land, das die meis-
ten Opfer durch Drohnenmorde der USA zu beklagen
hat. Bei den extralegalen Hinrichtungen der Al-Schabab-
Kämpfer werden eben auch viele Zivilisten getötet. Das
ist das eine.

Das andere aber ist, dass diese Morde mit Unterstüt-
zung aus den US-Stützpunkten auf deutschem Boden,
nämlich Ramstein in Rheinland-Pfalz und AFRICOM in
Stuttgart, Baden-Württemberg, begangen werden. Auf
beharrliches Nachfragen meiner Fraktion hat die Bun-
desregierung Fragen dazu an die USA geschickt. Die
USA haben – wen wundert es? – in ihren Antworten an
die Bundesregierung verneint, dass Ramstein und Stutt-
gart mit in die Mordstrategie mittels Drohnen eingebun-
den seien.

Da frage ich Sie: Warum glauben Sie den USA, ob-
wohl ehemalige Beteiligte an diesem Mordprogramm
ganz klar ausgesagt haben, auch im deutschen Fernse-
hen, dass die US-Stützpunkte in Deutschland bei den
Drohnenmorden in Somalia eine zentrale Rolle spielen?
Warum gehen Sie diesen Aussagen nicht nach und ver-
anlassen entsprechende Inspektionen und Untersuchun-
gen der US-Stützpunkte?


(Beifall bei der LINKEN)


Ich will es Ihnen sagen: Weil Sie nicht bereit sind, die
demokratische Souveränität in Ramstein und in Stuttgart
durchzusetzen! Wenn Sie wirklich bereit wären, dem
Grundgesetz in Deutschland Geltung zu verschaffen,
bliebe Ihnen nichts anderes übrig –


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1809421400

Bitte denken Sie an die Redezeit.


Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809421500

– ja, das ist mein letzter Satz, Frau Präsidentin –, als

diese Mordzentren zu schließen oder zumindest sich als
Regierung und Parlament selbst ernst zu nehmen und in
diesen Stützpunkten Untersuchungen durchzuführen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1809421600

Das Wort hat jetzt für die Bundesregierung der Parla-

mentarische Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe.





Vizepräsidentin Ulla Schmidt


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


D
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU):
Rede ID: ID1809421700


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Im Zentrum der deutschen Afrikapolitik steht die Unter-
stützung unserer afrikanischen Partner, und zwar auf al-
len Politikfeldern; Staatsminister Roth hat völlig zu
Recht darauf hingewiesen. Deshalb ist Somalia auch ein
Schwerpunkt des sicherheitspolitischen Engagements
der Bundesregierung in Afrika.

Die EU-geführte Ausbildungs- und Beratungsmission
EUTM Somalia leistet im Bereich der Sicherheitssektor-
reform einen wichtigen Beitrag bei der Unterstützung
des Aufbaus der somalischen Streitkräfte und fördert da-
durch die Stabilisierung und Befriedung Somalias; denn
die fragile Staatlichkeit in Somalia ist weiterhin eines
der zentralen Probleme am Horn von Afrika. Es gibt in
Afrika sicherlich viele Probleme, aber Somalia ist ein
Land, das ganz besonders gelitten hat, wo die Menschen
von einer langen Leidenshistorie besonders gebeutelt
waren. Es ist ein Land, das bis zu Beginn der 90er-Jahre
unter der Diktatur gelitten hat und das dann in Anarchie,
Chaos und Terror gestürzt worden ist. Wo, wenn nicht
dort, haben wir einen Grund, zu helfen, den Menschen
zu helfen, aus diesem Terrorkreislauf von Diktatur und
Anarchie herauszukommen? Es ist gut, dass wir uns da-
ran, wenn auch mit bescheidenen Mitteln, beteiligen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Der vom Kollegen Roth dargestellte politische Pro-
zess des Wiederaufbaus wird nur dann zu einer langfris-
tigen und nachhaltigen Stabilisierung in Somalia und der
Region führen können, wenn er sich auf eine verbesserte
Sicherheitslage abstützen kann. Deswegen ist diese Aus-
bildungs- und Beratungsmission eine Mission, die an ei-
nem ganz neuralgischen Punkt ansetzt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, circa 150 Soldaten
aus elf Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind der-
zeit bei EUTM Somalia im Einsatz. Italien stellt dabei
das mit Abstand größte Kontingent.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das hat Tradition!)


Ich will aber auch hervorheben, dass neben diesen elf
EU-Mitgliedstaaten auch Soldaten aus Serbien – Serbien
ist der einzige Nicht-EU-Mitgliedstaat bei dieser Mis-
sion – beteiligt sind. Serbien hat die Aufgabe der sani-
tätsdienstlichen Erstversorgung übernommen. Ein Arzt
und vier Sanitätshelferinnen und -helfer leisten eine her-
vorragende und für die Mission unerlässliche Arbeit.
Das ist wichtig für die Menschen vor Ort. Es ist auch,
glaube ich, ein wichtiges politisches Zeichen, dass wir
dort den Schulterschluss gegen den islamistischen Terror
praktizieren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


EUTM Somalia hat bislang circa 4 800 somalische
Soldaten ausgebildet, davon – Kollege Roth hat darauf

hingewiesen – circa 1 200 seit dem Frühjahr letzten Jah-
res in Mogadischu, was vorher dort nicht möglich gewe-
sen ist. Die entsprechend ausgebildeten Kräfte gelten als
vergleichsweise zuverlässig und schlagkräftig, und sie
konnten bereits an der Seite von AMISOM im Kampf
gegen die radikalislamische Terrororganisation al-Scha-
bab eingesetzt werden. Gleichzeitig trägt die Mission
zum Aufbau und zur Konsolidierung somalischer Si-
cherheitsstrukturen wesentlich bei.

Bei der Bewertung der Fortschritte im Aufbau effekti-
ver Sicherheitsstrukturen dürfen zwei Faktoren nicht au-
ßer Acht gelassen werden. Die Armee und ihre Füh-
rungsstrukturen müssen zum einen quasi von Grund auf
neu aufgebaut werden. Zum anderen steht die somali-
sche Armee aber gleichzeitig an der Seite von AMISOM
im Kampf gegen al-Schabab. Große Erfolge werden sich
deshalb sicher nicht über Nacht einstellen, und Rück-
schläge dürfen uns deshalb nicht entmutigen.

Aber seit dem Beginn der Mission hat sich die Sicher-
heitslage in Somalia insgesamt verbessert. In einer Re-
gion, auf einem Kontinent, wo es an vielen Stellen eher
kritischer wird, ist Somalia nach Jahrzehnten der Lei-
denszeit ein Land, in dem es eine positive Tendenz gibt,
in dem es nicht noch zusätzliche Fluchttendenzen gibt,
sondern in dem es auch Perspektiven gibt, dass Men-
schen zurückkehren können. Das hat etwas mit dem ge-
wachsenen militärischen Druck durch AMISOM und
durch die in der Entstehung befindlichen somalischen
Sicherheitskräfte zu tun. Es hat auch damit zu tun, dass
die radikalislamische Terrororganisation al-Schabab ver-
mehrt zum asymmetrischen Kampf übergegangen ist,
weil es eben militärische Erfolge gegeben hat. Dazu hat
diese Mission beigetragen. Das ist ein wichtiger Erfolg
auf dem Weg zu Stabilität und Frieden in der Region.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Mandat bleibt
im Wesenskern so wie bisher bestehen. Das Dreisäulen-
konzept mit Beratung, Mentoring und Ausbildung bleibt
mit Konzentration auf den Verteidigungssektor bestehen.
Unsere Soldatinnen und Soldaten werden wie bisher die
Ausbildung im Jazeera Training Camp in Mogadischu
unterstützen und zum Aufbau eigener Kapazitäten die
Ausbildung der somalischen Streitkräfte mit Mentoren
begleiten. Die Obergrenze von 20 Soldatinnen und Sol-
daten bleibt bestehen. Eine Begleitung der somalischen
Streitkräfte in Einsätze oder eine direkte Unterstützung
der militärischen Operationen von AMISOM findet un-
verändert nicht statt. Dennoch können wir festhalten,
dass unsere deutschen Soldatinnen und Soldaten mit ih-
rer Ausbildungs- und Beratungstätigkeit mittelbar einen
nicht unerheblichen Beitrag zur Bekämpfung der radi-
kalislamischen Terrororganisation al-Schabab leisten.

Ich sprach davon, dass aufgrund der militärischen Er-
folge gegen al-Schabab diese Terrororganisation ver-
stärkt zum asymmetrischen Kampf übergegangen ist.
Was heißt asymmetrischer Kampf? Es heißt letzten En-
des Terror. Ich höre hier etwas von schmutzigem Krieg.
Das, was wir eben von der Linken gehört haben, hat mit
der Realität in diesem Land überhaupt nichts zu tun. Es





Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe


(A) (C)



(D)(B)


ist rein schablonenhaftes Denken, das nichts mit der
wahren Situation im Land zu tun hat. Das, was dort pas-
siert, ist Terror. Da werden Terroranschläge auf unbetei-
ligte Menschen verübt. Da werden Terroranschläge ver-
übt in Hotels, am Flughafen. Unschuldige Menschen
kommen dabei ums Leben. Wie viel Zynismus gehört ei-
gentlich dazu, hier von einem schmutzigen Krieg und
Mordcamps zu sprechen? Es ist kaum zu fassen, wel-
chen Zynismus die Linke hier an den Tag legt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sie sagen es doch selber!)


Wir stehen zum Glück an der Seite der Menschen, die
mit unserem Einsatz auch die Hoffnung auf Frieden ver-
binden. Wir dürfen nicht vergessen, dass dieser Einsatz
nebenbei auch unsere Soldatinnen und Soldaten vor be-
sondere Herausforderungen stellt. In Somalia werden
keine fähigkeitsbezogenen Kontingente, keine geschlos-
senen Kompanien eingesetzt, sondern wir haben es mit
einer Einzelpersonalabstellung zu tun. Spezialisten be-
teiligen sich in unserem Auftrag an der Mission. Sie ste-
hen damit auch vor ganz besonderen Herausforderun-
gen.

Ich hatte die Gelegenheit und bin dankbar dafür, mich
in der letzten Woche in Mogadischu vor Ort vom Einsatz
unserer zurzeit acht Soldatinnen und Soldaten überzeu-
gen zu können. Es sind einzelne abgestellte Soldaten, die
dort hochmotiviert, hochspezialisiert und hochengagiert
einen ganz wichtigen Einsatz leisten. Ich zolle ihnen
ganz ausdrücklich meinen Respekt. Wir können stolz
sein, dass wir dort mit unseren Soldatinnen und Soldaten
an dieser wichtigen Mission in einem schwierigen Um-
feld beteiligt sind. Ich denke, unsere Soldatinnen und
Soldaten verdienen den Respekt des Hohen Hauses und
die fortgesetzte politische Unterstützung für ihren ganz
wichtigen Dienst im Sinne des Friedens in der Region.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1809421800

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Omid Nouripour,

Bündnis 90/Die Grünen.


Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809421900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich

wollte noch ein paar Takte zur Rede von Herrn Staatsmi-
nister Roth sagen – ich sehe, er kommt gerade wieder
zurück –, damit wir uns damit auseinandersetzen kön-
nen. Somalia ist seit 1991 ein zerfallener Staat. Es gibt
Oasen der relativen Stabilität im Norden – in Puntland, in
Somaliland; eher in Somaliland als in Puntland –, aber im
Rest des Landes gibt es immer wieder harte Kämpfe. Die
Übergangsregierung ist nicht im gesamten Land aner-
kannt, und al-Schababs Macht und Stärke sind weiterhin
ungebrochen. Ich weiß – das ist richtig beschrieben –,
dass es beim Aufbau der Staatlichkeit punktuell Fort-
schritte gegeben hat. Aber man kann nicht sagen, al-Scha-
bab sei auf dem Rückzug. Das ist so nicht richtig.

Wir haben über 1 Million Flüchtlinge, überwiegend
Frauen und Kinder, die unter den fürchterlichen Verhält-
nissen sehr stark leiden. Wir wissen, dass es gerade im
Süden des Landes immer wieder zu Hungersnöten
kommt. Die Clanstruktur erschwert nicht nur die Regie-
rungsbildung, sondern vor allem auch die Regierungs-
führung in diesem Land.

Was muss man an dieser Stelle tun? Wie kann man
jenseits der humanitären Hilfe und Entwicklungszusam-
menarbeit helfen, soweit es überhaupt möglich ist? Man
muss die Kriminalität – dazu zählt auch die Piraterie –
nicht nur bekämpfen, sondern ihr vor allen Dingen den
Boden entziehen. Wir werden in diesem Jahr noch ein-
mal über Atalanta sprechen. Die Mission ist eine richtige
und notwendige Bekämpfung der Symptome, aber die
Ursachen der Piraterie werden dadurch nicht behoben.
Wir diskutieren darüber seit Jahren, und es passiert bei
der Bekämpfung der Ursachen dieser Kriminalität ein-
fach viel zu wenig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Man muss natürlich der Regierung helfen, damit sie
etwas leisten kann. Auch ich habe meine Distanz zu die-
ser Regierung, Kollegin Dağdelen. Aber wenn Sie von
einem autokratischen Regime sprechen, dann überschät-
zen Sie einfach maßlos die Fähigkeiten der Regierung.
Ich glaube nicht – auch wenn es möglicherweise Akteure
gibt, die es gerne hätten –, dass die Regierung das kann,
was Sie gerade beschrieben haben. Natürlich muss man
helfen, dass die Clanstrukturen und das Clandenken zu-
gunsten einer nationalen Identität zurückgedrängt wer-
den. Dabei kann natürlich auch der Aufbau einer Armee
helfen. Nur ist leider in diesem konkreten Fall die Wahr-
heit die, dass der Antrag, den die Bundesregierung uns
heute vorlegt, kein Beitrag in die richtige Richtung ist.

Herr Staatsminister, Sie haben vorhin gesagt, es sei
kein kurzer Lauf, sondern ein langer Marsch. Sie haben
völlig recht. Das Problem ist: Sie laufen in die falsche
Richtung. Das macht die Situation so kompliziert.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ja!)


Die Rekrutierung der Soldaten aus nur einem einzi-
gen Clan ist kein Beitrag dazu, dass nationale Identität in
dem Land entsteht, sondern es ist eher ein riesengroßer
Beitrag dazu, dass sich einzelne Clans den anderen ge-
genüber im Vorteil sehen. Das ist kein Beitrag zur Be-
friedung des Landes. Es ist langfristig eher ein Beitrag
zur Verstärkung der Konflikte, die es bisher in dem Land
gegeben hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Hinzu kommt dann noch die schlechte Entlohnung
der Soldaten. Dann gibt es noch eine unglaublich hohe
Zahl an Deserteuren von über 50 Prozent. Niemand von
Ihnen kann die Frage beantworten, welche Befehlsstruk-
tur es gibt. Wie ist die Befehlskette in der somalischen
Armee? Dann stellt sich auch noch die Frage nach der
Verbleibskontrolle der Waffen, die diejenigen, die wir
ausbilden, in die Hand bekommen müssen; denn wir





Omid Nouripour


(A) (C)



(D)(B)


sind formal dafür zuständig, dass sie mit den Waffen um-
gehen können, um ein Gewaltmonopol herzustellen. Das
alles ist unbeantwortet.

Nun – das gebe ich zu – hat sich verglichen mit dem
letzten Jahr auf dem Papier manches verbessert. Es soll
jetzt ein biometrisches Passsystem eingeführt werden.
Das sagt die EU. Das ist erst einmal gar nicht so
schlecht. Es ist gut und könnte so mancher Probleme tat-
sächlich Herr werden. Nur frage ich mich: Wenn es in
die richtige Richtung geht, warum verweigern Sie jede
Evaluation? Wir hatten jetzt ein Jahr diesen Einsatz. Es
gibt keine Evaluation. Die Frage der Bewertung ist eine
rein politische und hat mit dem, was vor Ort passiert, lei-
der viel zu wenig zu tun, ohne in Abrede stellen zu wol-
len, dass diejenigen, die wir entsandt haben, um auszu-
bilden, wirklich eine gute Arbeit machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aber die Ergebnisse müssen doch bewertet werden,
wenn Sie der Meinung sind, dass sie gut sind.

Es kommt noch hinzu, dass es eine EU-Mission gibt.
Hier sind einige Staaten dabei. Herr Staatssekretär
Brauksiepe hat gerade einige Länder genannt. Mir ist da-
bei aufgefallen, dass Sie Großbritannien nicht genannt
haben. Der Grund dafür ist, dass Großbritannien sich
nicht im Rahmen der EU beteiligt. Die Briten haben ihre
eigene Mission. Sie bilden einfach einen anderen Clan
aus. Das heißt, von der EU wird ein Clan ausgebildet
und mit Waffen bestückt, und von den Briten wird ein
anderer Clan mit Waffen bestückt und ausgebildet. Was
wird das am Ende des Tages werden, wenn die Regie-
rung diese Clans tatsächlich nicht unter Kontrolle halten
kann? Das wird dazu führen, dass der nächste Bürger-
krieg quasi vorbereitet wird. Das ist ein riesengroßes
Problem.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der LINKEN)


Deshalb ist das auf der einen Seite auf dem Papier
richtig. Aber das Umfeld, in dem alles stattfindet, ist
eher schwieriger geworden. Statt dass man uns erzählt,
wie super gut alles funktioniert, und man davon spricht,
dass Deutschland eine Verantwortung übernimmt, sollte
man die Verantwortung auch einmal innerhalb der EU
übernehmen. Man sollte mit den Briten darüber reden,
ob es sinnvoll ist, dass sie Parallelstrukturen zu dem auf-
bauen, was die EU tut und was die deutschen Soldaten
tun. Wenn man von mehr Verantwortung spricht, Herr
Kollege Roth, dann stellt sich natürlich die Frage, wie
das Auswärtige Amt all das mit einer halben Stelle in
Nairobi bewerkstelligen will, was notwendig ist. In So-
malia ist das viel. Ich glaube, dass das einfach nicht aus-
reichend ist, dass die Ambitionen, die hier formuliert
worden sind, sich in der Realität nicht abbilden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist extrem bedauerlich und führt dazu, dass wir bei
weitem nicht zu dem Ergebnis kommen: Diesem Mandat
kann man zustimmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1809422000

Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion hat jetzt Lars

Klingbeil das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Lars Klingbeil (SPD):
Rede ID: ID1809422100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich glaube, wir sind bei der Analyse der Situation in So-
malia gar nicht weit auseinander. Wir wissen, dass die
Lage im Land auch fünf Jahre nach Beginn der Trai-
ningsmission in Somalia immer noch fragil ist, dass
staatliche Strukturen sich nur langsam entwickeln. Wir
sehen auch, dass es Rückschläge gibt. Wir sehen, dass
die Menschen im Land von Kriminalität und Terror be-
droht sind und an vielen Stellen noch Korruption
herrscht.

Die Frage ist: Was ist die Antwort auf diese gemein-
same Analyse? Ich finde, die Antwort darf nicht sein,
dass wir uns zurückziehen und das Land auf dem Weg,
den es vor sich hat, alleinlassen. Es geht vielmehr um die
Frage, wie wir uns vernünftig engagieren können. Da-
rüber führen wir hier im Haus gerne eine Diskussion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Um das Land voranzubringen und nachhaltig Frieden
und Sicherheit zu schaffen, müssen wir die somalische
Regierung mit unseren internationalen Partnern bei der
Ausbildung ihrer eigenen Streitkräfte unterstützen. Nur
wenn der Schutz der Bürgerinnen und Bürger in Somalia
durch die eigenen Streitkräfte gewährleistet werden
kann, können sich auf Dauer politische, rechtsstaatliche
und wirtschaftliche Strukturen entwickeln. Nur wenn es
der somalischen Regierung gelingt, das zu gewährleis-
ten, wird sie erfolgreich sein. Wir leisten hier Hilfe zur
Selbsthilfe.

Ich finde, wir dürfen bei aller Unzufriedenheit mit der
Situation in Somalia nicht die Erfolge, die es bisher gibt,
kleinreden. Bislang konnten 4 800 somalische Soldaten
ausgebildet werden. Somalische Soldaten sind mit
Streitkräften der Afrikanischen Union in einen gemein-
samen Kampf gegen die radikalislamistische Al-Scha-
bab-Miliz gezogen, und wir können sehen, dass sie an
vielen Stellen des Landes zurückgedrängt werden
konnte. Die Sicherheit der Bevölkerung konnte also in
Teilen des Landes deutlich verbessert werden.

Langfristig kann Stabilität in Somalia nur dann er-
reicht werden – da sind sich viele von uns einig; Staats-
minister Roth hat es vorhin angesprochen –, wenn wir
das Mandat, das wir heute hier diskutieren und auch im
Parlament beschließen werden, als Bestandteil eines
ganzheitlichen Ansatzes verstehen, der vor allem ent-
wicklungspolitische und wirtschaftliche Komponenten
umfasst; die militärische Unterstützung ist nur ein klei-
ner Teil davon. Wir müssen die Streitkräfteausbildung
unterstützen, damit wirtschaftliche und entwicklungspo-
litische Instrumente greifen können.





Lars Klingbeil


(A) (C)



(D)(B)


Der Staatsminister hat vorhin angesprochen, dass die
EU bisher schon Gelder in Höhe von mehr als 1 Mil-
liarde Euro in die Unterstützung Somalias gesteckt hat.
Es werden jetzt weitere 100 Millionen Euro folgen, die
die Bundesregierung für Entwicklungsprojekte vor allem
in den Bereichen der städtischen Wasserversorgung und
der ländlichen Entwicklung zugesagt hat. Nur wenn
auch diese Instrumente greifen, nur wenn hier Gelder
fließen, werden sich auf Dauer tragfähige staatliche
Strukturen entwickeln können. Sie sind die Grundlage
für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Sie sind auch
die Grundlage für wirtschaftliche Entwicklung und Ver-
sorgungssicherheit, die am Ende ein friedliches Zusam-
menleben in Somalia ermöglichen werden. Wir alle wis-
sen doch, dass es ein langer Weg ist, den wir noch vor
uns haben; aber das Mandat, über das wir heute reden,
gehört zwangsläufig mit dazu.

Wir werden das Mandat in enger Abstimmung mit der
somalischen Regierung, mit den Vereinten Nationen und
der Afrikanischen Union umsetzen. Es ist vorhin ange-
sprochen worden, dass es in enger Verknüpfung mit an-
deren Mandaten in der Region wie etwa der Operation
Atalanta wirkt. Dieses Mandat umfasst maximal 20 Sol-
datinnen und Soldaten der Bundeswehr, deren Aufgabe
vor allem die Ausbildung von Führungskräften, eigenen
somalischen Ausbildern und Spezialisten sein wird, aber
auch die Sicherung von Personal, Material, Infrastruktur
und Ausbildungsvorhaben.

Es ist vorhin angesprochen worden, dass die Wahlen
im Jahr 2016 eine entscheidende Wegmarke sein wer-
den. Wir alle wissen, dass sich dabei viel für die Zukunft
Somalias entscheiden wird. Deswegen ist es doch not-
wendig, dass wir bis zu dieser Wahl 2016 gemeinsam
mit unseren Partnern deutliche Fortschritte bei der politi-
schen Konsolidierung erzielen, dass wir im Bereich der
gesellschaftlichen Aussöhnung und der wirtschaftlichen
Entwicklung vorankommen. Mit diesen Wahlen wird
sich entscheiden, ob eine friedliche Entwicklung in So-
malia möglich ist und der Demokratisierungsprozess vo-
rangehen kann.

Wir alle wissen: Das Mandat, über das wir heute in
erster Lesung beraten und hoffentlich bald beschließen
werden, ist nur ein kleiner Teil des Weges, den Somalia
vor sich hat. Aber wir sollten unser Engagement nicht
beenden, sondern sollten es immer wieder anpassen.

Ich kann deswegen für meine Fraktion sagen, dass wir
zustimmen werden. Wir halten die Trainingsmission für
einen wichtigen Bestandteil unserer Somaliahilfe, unse-
rer Afrikapolitik.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1809422200

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Florian Hahn,

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Florian Hahn (CSU):
Rede ID: ID1809422300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und

Kollegen! Wenn wir Somalia hören, sind leider immer
noch die ersten Assoziationen Anarchie, Terror, Pirate-
rie, Entführungen und Hunger. Kurz: Somalia ist ein
Failed State. Aber die Weltgemeinschaft darf nicht resi-
gnieren. Es ist richtig, Somalia und seine Menschen
nicht alleinzulassen. Die Lage in Somalia ist heute schon
besser, als sie noch vor wenigen Jahren war; das ist Rea-
lität.

Die radikalislamische Al-Schabab-Miliz wurde mit-
hilfe der AMISOM, einer robusten multinationalen Mis-
sion der Afrikanischen Union von 22 000 Soldaten, aus
wesentlichen Gebieten Süd- und Zentralsomalias und
vom Indischen Ozean vertrieben. Die Führung ist durch
US-Drohnenangriffe geschwächt, und die Miliz ist ak-
tuell in der Defensive, kann sich aber noch in einigen
Regionen behaupten. In Mogadischu und in vielen Tei-
len des Landes beginnen fragile staatliche Strukturen zu
wachsen, wenn auch nur sehr langsam und immer wie-
der von Rückschlägen begleitet.

Aber der Ausgangspunkt dieser Krise ist dramatisch.
Somalia befindet sich seit 1990 im Bürgerkrieg, und
seither hat praktisch kein junger Mensch mehr eine
Schulbildung erhalten. Das sind fast zwei Generationen.
Das ist fatal für eine Gesellschaft. Es entsteht ein Teu-
felskreis aus fehlender Bildung, Flucht, Scheitern von
Aufbaubemühungen, Krieg und Terror.

Es ist deswegen richtig, dass die internationale Ge-
meinschaft bereits vielfältig unterstützend eingegriffen
hat. Basis für alle erfolgreichen Bemühungen ist eine Art
Grundsicherheit, eine Atempause von Bürgerkrieg und
ideologisch-religiösem Terror. Vor allem durch die
AMISOM-Truppen der Afrikanischen Union, die die EU
maßgeblich finanziert, ist es gelungen, diese Basissi-
cherheit in Teilen des Landes wiederherzustellen. In den
befreiten Gebieten müssen jetzt lokale Verwaltungs-
strukturen aufgebaut und muss der Zugang zu rechts-
staatlicher Justiz ermöglicht werden.

AMISOM kann aber nicht ewig bleiben. Ausländi-
sche Truppen, davon viele aus Nachbarstaaten mit
massiven Eigeninteressen, sind auf Dauer keine gute
Lösung. Mittelfristig müssen die somalischen Institutio-
nen Sicherheit und Ordnung daher selbst gewährleisten
können. Dabei will die Ausbildungsmission EUTM der
EU helfen. Diese Mission ist bislang durchaus erfolg-
reich. Schon fast 5 000 Soldaten wurden ausgebildet und
stellen einen gewichtigen Teil der somalischen Armee
dar, vor allem qualitativ.

Auch wir Europäer wollen nicht ewig in Somalia blei-
ben. Daher liegt ein Schwerpunkt unserer Arbeit auf der
Ausbildung von Ausbildern für künftige Rekruten nach
dem Motto: Train the Trainer. Aktuell sind acht deutsche
Soldatinnen und Soldaten in Somalia eingesetzt, sechs
Offiziere und zwei Unteroffiziere, und sie machen dort
eine sehr gute Arbeit. Es ist eine kleine, aber sehr
wichtige Mission. Der Bundeswehreinsatz soll deshalb
bis zum 31. März 2016 mit unveränderter Personal-
obergrenze von 20 Soldatinnen und Soldaten fortgesetzt
werden.





Florian Hahn


(A) (C)



(D)(B)


Hauptproblem bleibt aber die Sicherheitslage. Der
Einsatz ist gefährlich. Aber trotz aller Gefahren, auch
wenn die Fortschritte minimal sind und es auch immer
wieder begründete Kritik am Einsatz selbst gibt, glauben
wir, dass es sich lohnt, den Menschen eine Perspektive
zu geben. Wir müssen hier, mehr noch als in Mali, lan-
gen Atem beweisen und können nicht auf schnelle spek-
takuläre Erfolge hoffen. Aber wir sind davon überzeugt,
dass es möglich ist, Schritt für Schritt Sicherheitsstruktu-
ren zu stärken und zu festigen.

EUTM ist ein Teil eines umfangreichen internationa-
len Engagements, bei dem Deutschland über die EU
AMISOM unterstützt und sich direkt militärisch an den
Missionen EUTM und Atalanta und der zivilen Mission
EUCAP NESTOR beteiligt. Übrigens ist meiner Infor-
mation nach, Herr Kollege Nouripour, Großbritannien
an EUTM definitiv beteiligt. Aber dazu können Sie
gerne danach noch etwas sagen.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1809422400

Herr Kollege Hahn, gestatten Sie eine Zwischen-

frage?


Florian Hahn (CSU):
Rede ID: ID1809422500

Ich habe gerade gesagt, er kann danach noch etwas

sagen, wenn er möchte.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1809422600

Na gut.


Florian Hahn (CSU):
Rede ID: ID1809422700

Wir sind davon überzeugt, dass auch in Somalia nach-

haltig nur durch einen vernetzten Einsatz außen-, sicher-
heits- und entwicklungspolitischer Elemente geholfen
werden kann. Deshalb ist Deutschland im Bereich der
Entwicklungszusammenarbeit und bei der Demokratie-
förderung tatkräftig und vielfältig tätig.

Die Al-Schabab-Miliz kann mit militärischen Mitteln
kaum vollständig besiegt werden. Ihre Bedeutung und
Anziehungskraft werden nur dann nachlassen, wenn es
stabilere politische Verhältnisse gibt und Bildung und
Ausbildung für die jungen Menschen möglich sind.

Somalia soll ein schönes Land sein und hat Potenzial
für eine Zukunft ohne Bürgerkrieg, Hunger und Terror;
ein wahrlich großes Projekt. Unser Engagement, in
diesem Fall bei der Mission EUTM, ist ein kleiner, aber
absolut notwendiger Beitrag zu diesem wichtigen Pro-
jekt.

Lassen Sie mich an dieser Stelle noch sagen:
Deutschland nimmt bereits deutlich mehr internationale
Verantwortung wahr und engagiert sich entsprechend
mehr, als wir dies noch vor wenigen Jahren vermutet
haben. Das ist ganz in unserem eigenen Interesse not-
wendig und richtig geworden.

Mehr Engagement und mehr Verantwortung bedeuten
aber auch mehr Engagement bei den Mitteln, die dafür
zur Verfügung gestellt werden müssen. Es ist deswegen
konsequent, dass die Regierung bei ihrer Budgetplanung
Erhöhungen im Bereich der Entwicklungszusammenar-

beit, der Diplomatie und der Verteidigung vorsieht und
damit dieser Entwicklung Rechnung trägt. Das begrüße
ich ausdrücklich.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1809422800

Vielen Dank. – Das Wort zu einer Kurzintervention

hat jetzt der Kollege Nouripour.


Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809422900

Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege

Hahn, Herr Staatssekretär Brauksiepe, Sie haben mich
gerade darauf hingewiesen, dass ich einen falschen Ein-
druck erweckt hätte, nämlich den Eindruck, Großbritan-
nien sei kein Teil von EUTM Somalia. Ich habe noch
einmal nachgeschaut: Sie haben recht. Erstens habe ich
diesen Eindruck erweckt, ich weiß, und zweitens: Ich bin
von einer falschen Faktenlage ausgegangen. Ich bitte um
Entschuldigung dafür.

Aber der zentrale Punkt, auf den ich hinauswollte, ist
trotzdem nicht ausgeräumt. Großbritannien unterhält in
Mogadischu jenseits von EUTM Somalia eine eigene
Ausbildungsmission, bei der ein anderer Clan als der,
der von EUTM Somalia ausgebildet wird, ausgebildet
wird. Das heißt, das, was ich im Kern kritisiert habe,
nämlich dass zwei völlig verschiedene, parallele Struktu-
ren faktisch gegeneinander arbeiten, muss ich leider wei-
terhin aufrechterhalten. Das ist ein riesengroßes Pro-
blem.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1809423000

Vielen Dank. – Dann ist der nächste Redner Michael

Vietz, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Michael Vietz (CDU):
Rede ID: ID1809423100

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die Situation in Somalia ist sicherlich schwie-
rig. Zwar hat das Land dank der gemeinsamen Bemü-
hungen der somalischen Regierung und der internationa-
len Gemeinschaft einige Fortschritte erzielt, aber immer
noch steht die Bevölkerung vor einem Berg an Heraus-
forderungen, die es zu bewältigen gilt. Ein nicht nur in
Somalia bekanntes und gültiges Sprichwort sagt: Zerstö-
ren geht schnell, Bauen langsam.

In den letzten Jahren haben sich Deutschland und die
Europäische Union im Rahmen eines umfassenden stra-
tegischen Ansatzes in Kooperation auch mit den Verein-
ten Nationen und der Afrikanischen Union am Neuauf-
bau Somalias beteiligt: Demokratieförderung, Stärkung
der staatlichen und zivilgesellschaftlichen Strukturen,
Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung. Es gilt, den
Somaliern Perspektiven für eine gute und sichere Zu-
kunft zu geben. Zu diesem mannigfaltigen Paket gehört
auch die Ausbildungs- und Beratungsmission EUTM
Somalia, über deren Fortsetzung wir heute in erster Le-
sung debattieren.





Michael Vietz


(A) (C)



(D)(B)


Jeder Staat steht in der Pflicht, das Wohlergehen und
die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten. Wir ken-
nen dies als Responsibility to Protect. Dieses Prinzip in-
ternationaler Politik wurde 2005 von den meisten Staa-
ten der Erde allgemein anerkannt. Union und SPD
bekennen sich im Koalitionsvertrag zu diesem Prinzip
und seiner weiteren Ausgestaltung. Wenn wir dies ernst
nehmen und weiter mit Leben erfüllen wollen, so dürfen
wir nicht einfach an der Seitenlinie verharren, wenn ein
Staat hierfür Unterstützung sucht, wenn die Regierung
und die Bevölkerung um Hilfe bitten, dieser Verpflich-
tung gerecht zu werden. Die somalische Regierung hat
um diese Unterstützung nachgesucht. Entsprechende
Beschlüsse des Rates der Europäischen Union und des
Sicherheitsrates der UN liegen vor. Deutschland leistet
im Rahmen einer Vernetzung mit weiteren regionalen
Missionen sowie unseres Engagements beim Aufbau der
zivilgesellschaftlichen und nichtmilitärischen Sicher-
heitsstruktur einen guten und wichtigen Beitrag.

Die Herausforderungen, die Somalia nach wie vor zu
bewältigen hat, sind enorm: fragile Staatlichkeit, funda-
mentalistischer Terror, organisierte Kriminalität, große
Armut, Flüchtlinge, eine schwierige humanitäre Not-
lage. Mit Blick auf diese Gemengelage dürfen wir So-
malia nicht alleinelassen. Dies liegt auch in unserem ei-
genen Interesse. Das Land liegt zwar Luftlinie rund
6 300 Kilometer von diesem Hohen Haus entfernt, doch
die Herausforderungen, denen sich unsere somalischen
Partner stellen müssen, sind keineswegs Probleme, die
nur auf das Horn von Afrika beschränkt sind.

Es ist noch nicht so lange her, dass uns die Piraterie
vor Somalias Küste in Atem gehalten hat. Die Grundpro-
bleme hierfür liegen an Land und sind noch lange nicht
gelöst. Gerade als Handelsnation sind wir ebenso wie
unsere Partner in der Welt auf sichere Handelsrouten an-
gewiesen, mithin auf Stabilität in der Region.

Fundamentalistischer Terror kümmert sich nicht um
staatliche Grenzen. In Zeiten des sogenannten „Islami-
schen Staats“ und al-Qaidas bleibt es eine unserer größ-
ten und wichtigsten sicherheitspolitischen Herausforde-
rungen, diese einzudämmen und damit auch unsere
Bürger zu schützen.

Darüber hinaus sollte uns auch klar sein: Wenn die
Lage aufgrund der fragilen Staatlichkeit in Somalia so
prekär bleibt, werden auch die Flüchtlingsströme nicht
versiegen. Flucht und Vertreibung begegnen wir am bes-
ten, wenn wir den Menschen vor Ort Schutz und vor al-
lem Perspektiven bieten. Deswegen ist es unser wich-
tigstes Ziel, unsere somalischen Partner zu befähigen,
für ihre eigene Sicherheit in einem durch sie selbst ge-
stalteten stabilen Staat zu sorgen. Wir wollen beraten
und mit unserem Know-how beistehen.

Wir leisten einen Beitrag, um das Fundament für eine
nachhaltige Verbesserung der Situation für die Men-
schen Somalias zu errichten. Zivile Aufbauhilfe und Un-
terstützung wollen nicht nur geleistet werden, Entwick-
lungshilfe muss nicht nur bezahlt werden. Es braucht
auch ein entsprechendes Umfeld, um langfristig wirk-
sam sein zu können. Hilfe zur Selbsthilfe – das ist im
deutschen und europäischen Interesse.

Diese Unterstützung leistet die Ausbildungs- und Be-
ratungsmission EUTM Somalia. Seit 2010 wurden be-
kanntermaßen 4 800 somalische Soldaten ausgebildet,
auch durch unsere engagierten Soldatinnen und Solda-
ten, denen ich an dieser Stelle für ihren unermüdlichen
Einsatz nachdrücklich danken möchte. Die im Rahmen
dieser Mission ausgebildeten somalischen Soldaten ha-
ben seitdem einen wichtigen Beitrag dafür geleistet, die
Sicherheit ihres Landes zu gewährleisten und dem Al-
Schabab-Terror entgegenzutreten. Wir empfinden es als
selbstverständlich, dass das Gewaltmonopol beim Staat
liegt. Mit dieser Mission helfen wir dabei, diese Selbst-
verständlichkeit auch für Somalia zu verwirklichen, um
weiterhin den Aufbau ziviler Sicherheits- und Verwal-
tungsstrukturen zu ermöglichen.

Ein wichtiges Ziel sind die für 2016 geplanten Wah-
len. Für einen Erfolg der Bemühungen um Frieden und
Stabilität kommt es darauf an, bis dahin sichtbare und
für die Bevölkerung auch spürbare Fortschritte zu erzie-
len. Daher begrüßt die somalische Regierung ausdrück-
lich die Fortsetzung dieser Mission als wichtigen Be-
standteil für den Wiederaufbau ihres Landes. Zerstören
geht schnell, Bauen langsam. Somalia braucht noch
mehr Zeit und wünscht unsere Hilfe. Lassen wir sie nicht
in einer halbfertigen Baustelle stehen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1809423200

Der Kollege Vietz war der letzte Redner in dieser

Aussprache, die ich damit schließe.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4203 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Nachdem sich kein
Widerspruch erhebt, gehe ich davon aus, dass Sie alle
damit einverstanden sind und die Überweisung so be-
schlossen ist.

Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b
auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Petra Sitte, Jan Korte, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Transparenz herstellen – Einführung eines
verpflichtenden Lobbyistenregisters

Drucksache 18/3842
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Britta
Haßelmann, Volker Beck (Köln), Luise Amtsberg,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN





Vizepräsident Johannes Singhammer


(A) (C)



(D)(B)


Transparenz schaffen – Verbindliches Regis-
ter für Lobbyistinnen und Lobbyisten einfüh-
ren

Drucksache 18/3920
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt 38 Mi-
nuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann
ist das so beschlossen.

Dann können wir auch die Aussprache eröffnen. Ich
erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin
Dr. Petra Sitte, Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Petra Sitte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809423300

Recht schönen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen

und Herren! Ich habe vor einiger Zeit, wie vermutlich
auch andere Abgeordnete, eine Einladung von Umwelt-
ministerin Barbara Hendricks und Daimler-Chef Dieter
Zetsche bekommen. Unterschrieben hatte ein Herr
Eckart von Klaeden. Das ist der Cheflobbyist von
Daimler. Selbiger war bis zum Herbst vorvergangenen
Jahres Staatsminister im Bundeskanzleramt. An dem be-
sagten Abend sollte es um Elektroautos gehen; das ist ja
auch okay. Diese werden bekanntermaßen mit sehr vie-
len öffentlichen Fördermitteln subventioniert, aber die
Erfolge bleiben sehr mager. Zeit also für einen guten
Lobbyisten, dafür zu sorgen, dass die Politik nicht etwa
von der Stange geht. Der Storch möchte schließlich sei-
nen Platz vor dem Krötentunnel nicht verlieren.

Jede und jeder von uns kennt das: Uns erreichen in
vielfältigster Form Wünsche, die letztlich direkt oder in-
direkt politische Entscheidungsprozesse, Gesetze, Pro-
gramme und Richtlinien beeinflussen sollen. Um den
Bundestag herum gibt es ungefähr 5 000 Lobbyisten.
2 221 Organisationen sind allein in der sogenannten Ver-
bändeliste registriert. Das ist zugegebenermaßen ein
Dschungel, bei dem Abgeordnete schon einen ausge-
sprochen guten Orientierungssinn brauchen oder, um es
für die Union zu übersetzen, fest im Glauben sein müs-
sen.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN)


Lobbyismus ist – das will ich als Linke ausdrücklich
sagen – nicht nur Teufelswerk.


(Zuruf von der SPD: Richtig!)


Verbände, Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisatio-
nen, Anwaltskanzleien, PR-Agenturen, sogenannte Denk-
fabriken und Politikberater


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Und Kirchen!)


ringen bei uns fast jede Sitzungswoche gewaltig um
Aufmerksamkeit.


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Vergessen Sie die Kirchen nicht!)


Freilich geht es dabei auch um Verteilungskämpfe im
Hinblick auf öffentliche Mittel. Insofern werden durch
Politik natürlich auch Interessen umgesetzt. Aber in ers-
ter Linie steht Politik in der Verantwortung, für das Ge-
meinwohl zu sorgen und damit eben auch für Interessen-
ausgleich.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Da ist es nicht verwunderlich, wenn am Ende auch Wi-
dersprüche bleiben.

Grundsätzlich dürfte es nach unser aller Verständnis
von guter Politik dazugehören, dass wir mit Betroffenen
reden, sie zu unseren Anhörungen einladen und die ver-
schiedenen Perspektiven kennenlernen.

Problematisch wird Lobbyismus, wenn er Einzelinte-
ressen unlautere Vorteile verschafft, beispielsweise
durch viel Geld, das in Kampagnen gesteckt wird, oder
durch einen privilegierten Zugang zu Ministerien, insbe-
sondere dann, wenn strategische Planungen anstehen. In
diesen Fällen bestimmen nämlich dann die Vertreter von
Firmen oder Verbänden Problembeschreibungen. Nach-
dem sie das getan haben, machen sie konkrete Vor-
schläge zur Lösung dieser Probleme, und sie konzipieren
Gesetzentwürfe und Richtlinien. Schließlich werden
dann Förderprogramme aufgelegt, die für sie maßge-
schneidert sind. Das heißt, die Antragstellerinnen und
Antragsteller werden am Ende mit hoher Wahrschein-
lichkeit auch das öffentliche Geld bekommen.

Von solchen Vorgängen, beispielsweise im Rahmen
der strategischen Planung, erfahren wir Abgeordnete so
gut wie nie etwas – wie es bei den Abgeordneten der Ko-
alitionsfraktionen ist, weiß ich nicht genau; aber ich
habe schon gehört, dass es da auch so sein soll –,


(Florian Hahn [CDU/CSU]: „Schon gehört“ – das ist gut! Von wem denn?)


oder wir erfahren viel zu spät etwas. Dann liegt die
Hochglanzbroschüre sozusagen schon vor. Deshalb sa-
gen wir: Transparenz muss oberstes Prinzip sein. Es geht
um Chancengleichheit für alle.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Linke ist für ein verpflichtendes Lobbyistenregis-
ter. Es soll durch eine Ombudsstelle beim Bundestag ge-
führt werden. Öffentlich sollen Auftraggeber, Verbände,
Organisationen oder Unternehmen werden. Öffentlich
soll das Finanzbudget werden, und öffentlich soll auch
die Personalausstattung werden. Öffentlich sollen auch
Einflussformen und Ziele werden. Das heißt also, die
Beiträge, die beispielsweise von Lobbyisten zu Gesetz-
entwürfen oder anderen Vorlagen geleistet wurden, müs-
sen für das Parlament deutlich werden, und zwar bevor
wir diese Gesetze hier behandeln.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)






Dr. Petra Sitte


(A) (C)



(D)(B)


Sobald also Dritten wie beispielsweise Lobbyisten
eine Regierungsvorlage zugeht – zur Kommentierung
oder zu welchem Zweck auch immer –, bedeutet dies
nach unserer Lesart eigentlich, dass der entsprechende
Gesetzentwurf, die Richtlinie oder die Verordnung auto-
matisch auch den anderen im gesellschaftlichen Raum
tätigen Akteuren zugehen muss.

Was ich bemerkenswert finde, ist, dass es nicht we-
nige Lobbyisten gibt, die mittlerweile sagen: Ja, wir un-
terstützen ein verpflichtendes Lobbyistenregister. – Das
tun sie vor dem Hintergrund, dass sie es auch als Aus-
weis ihrer eigenen Seriosität verstehen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich will noch einmal anfügen: Die bisherige Verbände-
liste, die wir beim Bundestag haben, kann all das nicht
leisten. Da stehen nur die Verbände drin, aber wichtige
Zusatzinformationen, etwa über Ressourcen und Auf-
wendungen, eben nicht; deshalb kann man dann auch gar
nicht richtig einschätzen, was das für ein Verband, was
das für eine Organisation ist.

Insofern muss auch transparent werden, welche Lob-
byisten hier im Bundestag Hausausweise bekommen.
Ich muss ehrlich sagen: Ich staune manchmal, wer hier
so alles über die Gänge geistert und dass die Leute dann
auch einen Hausausweis haben.

Schließlich, meine Damen und Herren: Ein Lobbyis-
tenregister ist kein linksavantgardistisches Projekt. In
den USA, in Kanada und auch bei der Europäischen
Union gibt es ein solches Lobbyistenregister, und die In-
teressenvertreter müssen sich dort eintragen.

Linke, Bündnisgrüne und SPD setzen sich seit langem
für ein solches verpflichtendes Lobbyistenregister ein.
Nur die Union und die gottselige FDP haben sich nie
dazu durchringen können. Aber wir haben jetzt eine
neue Chance. Es geht nämlich hier essenziell um Glaub-
würdigkeit von Politik, es geht um unsere Glaubwürdig-
keit. Dafür müssen wir aktiv etwas tun.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Schließlich gibt uns Transparenz natürlich auch die
Möglichkeit, viel mehr Informationen in unsere Geset-
zesberatungen, in unsere Ausschusssitzungen und der-
gleichen aufzunehmen, und dann versetzt es uns auch in
die Lage, Entscheidungen insgesamt gerechter zu fällen.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1809423400

Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Bernhard

Kaster.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Bernhard Kaster (CDU):
Rede ID: ID1809423500

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und

Kollegen! 2008, 2009, dann 2011


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ja!)


und jetzt 2015: Da sind sie wieder, die Anträge zum
Lobbyistenregister.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Man kann festhalten: Ihre Wiedervorlage für alte Hüte
funktioniert.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Damit kein falscher Eindruck aufkommt: Transparenz
im Deutschen Bundestag ist für uns eine Selbstverständ-
lichkeit. Wenn dennoch in der Öffentlichkeit gelegent-
lich der Eindruck aufkommt, in der Gesetzgebung wür-
den Interessen einseitig gegenüber anderen Interessen
bevorzugt oder die unterschiedlichen Interessen nicht
richtig abgewogen, müssen wir darüber debattieren und
darauf reagieren.


(Zuruf von der LINKEN: Niemand hat die Absicht …!)


Wir müssen dann aber auch ehrlich und fair zu uns sel-
ber sein: Es macht doch keinen Sinn, ständig mit belieb-
ten politischen Kampfbegriffen umzugehen, dabei be-
wusst die tatsächlichen parlamentarischen Abläufe ganz
auszublenden,


(Beifall des Abg. Dr. Johann Wadephul [CDU/ CSU])


dann populistisch einen klassischen Schaufensterantrag
zu stellen


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Was ist denn daran populistisch?)


und diesen wiederholt vorzulegen. Klassische Schau-
fensteranträge sind das, wider besseres Wissen!


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Im Gegenteil, wir haben dazugelernt!)


Ein paar Fakten: Erstens. Seit 1972 besteht auf der
Grundlage der Geschäftsordnung des Deutschen Bun-
destages ein bis heute fortgeführtes und immer wieder
aktualisiertes Lobbyistenregister. Dort werden aktuell
von rund 2 000 Verbänden die Namen, die Zusammenset-
zung von Vorstand und Geschäftsführung, der Interessen-
bereich, die Mitgliederzahl, die Namen aller Verbandsver-
treterinnen und Verbandsvertreter, die Anschriften etc.
geführt. Die Eintragung im Lobbyistenregister ist bei-
spielsweise auch zwingende Voraussetzung für die Teil-
nahme an Anhörungen. Das ist das, was wir hier im
Deutschen Bundestag praktizieren.

Es ist für uns überhaupt kein Problem – da kann der
Antrag der Grünen durchaus eine Basis sein –, über
mögliche Zusatzangaben oder Weiterungen zu diskutie-
ren, soweit nicht andere Schutzbereiche berührt werden
wie beispielsweise das informationelle Selbstbestim-
mungsrecht, die Berufsfreiheit oder die Koalitionsfrei-





Bernhard Kaster


(A) (C)



(D)(B)


heit nach unserem Grundgesetz. Das war aber immer das
Problem der Vorschläge, die Sie hier unterbreitet haben.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Jetzt bin ich gespannt, wie Sie das begründen!)


Zweiter Fakt: Interessenvertretung gehört zum Wesen
der parlamentarischen Demokratie. Interessenvertretung
ist für jeden Abgeordneten Hauptwesensmerkmal seiner
Tätigkeit. Das fängt bei den Interessen und Wünschen
aus dem Wahlkreis an. Aber bei Ihren Anträgen lassen
Sie immer den Eindruck aufkommen, Sie möchten gerne
unterscheiden zwischen guten Interessen und bösen Inte-
ressen.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Da haben Sie nicht zugehört!)


Oder, wie es einmal in der Kommentierung einer großen
Zeitung formuliert war: Böse Interessenvertreter nennt
man Lobbyisten, gute Interessenvertreter nennt man
Nichtregierungsorganisationen.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Nicht zugehört!)


Fakt Nummer drei, den ich gerne in diese Debatte ein-
bringen möchte: Mir fällt kein anderes Parlament ein,
das so sehr auf Transparenz und Öffentlichkeit achtet
wie der Deutsche Bundestag. Die öffentlichen, kontro-
versen Debatten zu wirklich fast jedem Gesetz beweisen
das doch. Kaum ein Gesetz wird ohne öffentliche Anhö-
rung unterschiedlichster Interessenvertreter beschlossen;
und die Durchführung einer Anhörung ist im Übrigen,
wie so vieles im Deutschen Bundestag, ein Minderhei-
tenrecht.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ohne Livestream!)


Allein am vergangenen Montag fanden hier im Bun-
destag sechs öffentliche Anhörungen statt.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Bis dahin ist doch alles gelaufen!)


Bei diesen Anhörungen wurden zwischen drei und elf
Sachverständige gehört, wie Verbrauchervertreter, Ver-
treter des Deutschen Städtetages und vom Deutschen
Gewerkschaftsbund oder, um Beispielsfälle aus dem
Verbandsregister zu nennen, der Geschäftsführer von
Ärzte ohne Grenzen und andere mehr. Insgesamt wurden
zu den Anhörungen allein am vergangenen Montag
51 Sachverständige der verschiedensten Institutionen
– also auch Interessenvertreter – geladen. Diese Anhö-
rungen sind öffentlich, und das gilt nicht nur für die An-
hörungen als solche, sondern auch für die Protokolle und
die eingereichten Stellungnahmen. Alles wird ins Netz
gestellt und ist öffentlich.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Wir reden auch über die Bundesregierung!)


– Auf das Thema komme ich auch noch.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, über all dies und
darüber, wie wir Öffentlichkeit noch weiter perfektionie-
ren können, lässt sich noch weiter streiten. Was aber
nicht geht – und das finde ich auch beschämend –, ist,

dass solche Anträge, wie beispielsweise der von den
Grünen heute, so begründet werden – es geht um einen
Antrag im Deutschen Bundestag –, dass man schreibt,
die „Durchsetzung von Interessen“ gehe „mit illegitimen
Vorteilen oder Geldzahlungen“ einher. „Korruption,
Klüngelwirtschaft und undurchsichtige Mauscheleien
beschädigen die demokratischen Institutionen und zer-
stören das Vertrauen in die Politik.“ Sie wissen ganz ge-
nau, dass das im Deutschen Bundestag nicht so ist. Wi-
der besseres Wissen sollten wir, auch wenn es um die
Begründung eines solchen Antrags geht, so nicht über
unser Parlament sprechen. Wir sollten stolz darauf sein,
welche Kultur wir im Deutschen Bundestag haben und
wie auch dieses Thema hier behandelt wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Im Übrigen hat diese Koalition erst im vergangenen
Jahr zusätzlich zu der schon im Strafgesetzbuch veran-
kerten Strafbarkeit des Stimmenkaufs die Abgeordneten-
bestechung ins Strafgesetzbuch aufgenommen. Das war
im vergangenen Jahr.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ja, ja, wir erinnern uns!)


Vollkommen irreführend und an der Wirklichkeit vor-
bei gehen aber auch die Passagen – Sie haben sie eben
erwähnt –, mit denen Sie tatsächlich den Eindruck erwe-
cken wollen, dass sich per Register oder Ausweisregime
die einzelnen Gesprächspartner der Abgeordneten – vom
Besucher aus dem Wahlkreis bis zum Verbandsvertreter –
bestimmen ließen. Jeder Abgeordnete – das gehört zum
Wesen eines freien Abgeordneten und eines freien Parla-
mentes – muss zu jedem Zeitpunkt und egal an welchem
Ort Gespräche führen dürfen und können, und zwar mit
wem und über was er will. Das muss die Grundlage der
Tätigkeit eines einzelnen Abgeordneten sein und blei-
ben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Lassen Sie mich noch einen letzten Punkt anführen,
bei dem wir Ihnen im Grundsatz zustimmen: Unsere
Ministerien und die Bundesregierung müssen immer so
viel unabhängige Fachkompetenz selbst vorhalten, dass
die Gesetzgebungsarbeit alleine dort vorbereitet wird.
Der wünschenswerte Austausch zwischen Wirtschaft
und Politik sowie zwischen Politik und Wirtschaft darf
natürlich nicht so weit getrieben werden, dass man zu
missverständlichen Auslegungen gelangt.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Oh! – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber so!)


Zum Schluss erlaube ich mir, wie Sie mit Ihrem gan-
zen Antrag, auch eine Wiederholung, und zwar die Wie-
derholung eines Zitates unseres Bundestagspräsidenten
aus einer Rede in der Dresdner Frauenkirche. Das
Thema war: „Interessen gegen Gemeinwohl – Gerech-
tigkeit in der Politik“. Es ging darum, dass die meisten
Menschen mit der Wahrnehmung von Interessen – auch





Bernhard Kaster


(A) (C)



(D)(B)


in organisierter Form – kein Problem haben – jetzt
kommt das wörtliche Zitat –,

wenn es sich um ihre

– das heißt, die eigenen –

Interessen handelt, während dann, wenn eigene In-
teressen mit anderen kollidieren, die ärgerlicher-
weise auch noch organisiert vertreten werden, sich
beinahe reflexhaft Empörung einstellt.

Das Zitat geht weiter:

Und die inzwischen handelsübliche Form der
Empörung ist heutzutage mit dem Begriff „Lobby-
ismus“ verbunden.

Ende des Zitates und auch Ende meiner Rede.

Ich bedanke mich.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Zurufe der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE])



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1809423600

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin

Britta Haßelmann für Bündnis 90/Die Grünen.


Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809423700

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Zuschaue-
rinnen und Zuschauer! Herr Kaster, die Tatsache, dass
wir diesen Antrag 2007, 2008 und 2011, damals noch
gemeinsam mit der SPD – ich bin auf die Redebeiträge
der Kolleginnen und Kollegen von der SPD gespannt
und darauf, ob sie sich noch daran erinnern, dass auch
sie für die Einführung eines Lobbyregisters waren und
dazu sogar einen Gesetzentwurf eingebracht haben –,
schon einmal in den Bundestag eingebracht haben, zeigt
doch nur, wie wichtig und notwendig das ist.

Ich kann überhaupt nicht verstehen, wieso Sie diese
Forderung als alten Hut oder als Wiederholungsklamotte
abtun. Die Einführung eines Lobbyregisters ist eine ganz
zentrale Maßnahme im Sinne der Transparenz, die hier
im Deutschen Bundestag gelten sollte. Das sollte eine
Selbstverständlichkeit sein; denn Transparenz bedeutet
für unser Parlament einen Schutz; denn so ist Nachvoll-
ziehbarkeit gewährleistet. Diese Pflicht, mit Informatio-
nen offen umzugehen, zu der wir uns verpflichten, gilt
dann auch für Unternehmen, für Verbände, für Institutio-
nen, für die Kirchen, für Gewerkschaften. Insgesamt
profitieren wir alle gemeinsam davon. Das sollte Ihnen
endlich einmal klar sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Die Tatsache, dass wir diesen Antrag auch 2015 ein-
bringen, ist dem Umstand geschuldet, dass wir Sie von
der Unionsfraktion bisher leider nicht davon überzeugen
konnten, die gute Praxis im Zuge von Gesetzgebungs-
verfahren des Europäischen Parlaments, der Europäi-
schen Kommission, der Parlamente Kanadas und der
USA zu übernehmen. Sie alle verfügen über ein solches

Lobbyregister, weil sie wissen, dass sowohl Politik als
auch Parlament, Regierung, NGOs und Verbände davon
etwas haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Die Bürgerinnen und Bürger könnten dann nämlich klar
nachvollziehen: Wer wirkt auf die eine oder andere Art
an der Gesetzgebung mit?

Es geht auch nicht darum, zu sagen: Wir diskreditie-
ren die einen, erklären aber die anderen zu guten Verbän-
den oder Organisationen. – Das hat niemand gemacht.
Es ist nur so, dass wir immer wieder mit dem Thema der
unlauteren Beeinflussung konfrontiert werden. Auch das
Thema Korruption kann man in diesem Kontext des Zu-
sammenspiels von Politik, Wirtschaft und Dritten ruhig
einmal erwähnen. Es ist doch nichts Schlimmes, das aus-
zusprechen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Zuruf des Abg. Bartholomäus Kalb [CDU/CSU])


Deshalb werbe ich doch so sehr für ein Register. Es
würde uns nämlich allen nützen. Wir haben im Moment
einfach keine klaren Regelungen.

Selbstverständlich haben wir die Verbändeliste. Aber
denken Sie doch an die Auseinandersetzung, die wir ge-
rade über die Hausausweise führen. Wer bekommt einen
Hausausweis? Diejenigen, die in der Verbändeliste ste-
hen. Aber was ist mit den Hausausweisen, die wir über
die Fraktionen ausstellen? Da läuft im Moment sogar
eine Klage gegen den Deutschen Bundestag. Das ist
doch ein Problem.

Wir müssen immer wieder erfragen: Welche Ver-
bände, welche Unternehmen haben an Gesetzgebungs-
verfahren mitgewirkt, und zwar in welchem Stadium?
Natürlich muss die Arbeit der Gesetzgebung eigentlich
von den Ministerien geleistet werden. Aber Sie wissen
genauso gut wie ich, dass das nicht immer der Fall ist.
Wir müssen jedes Mal wieder nachfragen: Wer hat an
welchen Gesetzen mitgewirkt? Welche Externen waren
daran beteiligt? – Diese Fragen könnten wir uns allen
und den Bürgerinnen und Bürgern mit der Einführung
eines solchen verbindlichen Registers ersparen.

Wir wollen keine Misstrauenskultur. Wir wollen
durch Transparenz einfach offenlegen: Es ist normal und
eine legitime Interessenvertretung, wenn Lobbyisten ak-
tiv werden und wenn Verbände und NGOs für ihre Sache
werben. Wir müssen dies nur nachvollziehen können
und für die Leute transparent machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Das gilt dann für den Gewerkschaftsbund genauso wie
für die Autoindustrie, wie für die Pharmalobby, wie für
die Naturschutzverbände oder wie für den Bundesver-
band Erneuerbare Energien. Kein Mensch bei uns in der
Fraktion – das ist eine massive Unterstellung – würde sa-
gen: Das eine ist ein guter Verband, das andere ist ein





Britta Haßelmann


(A) (C)



(D)(B)


schlechter Verband. Ein solches Lobbyregister würde für
alle gelten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich frage mich: Warum verstehen wir als Parlament
und Regierung nicht, dass es in unser aller Interesse sein
könnte, ein solches Register endlich verbindlich einzu-
führen und uns damit an der Europäischen Kommission
und der Praxis in Brüssel ein Beispiel zu nehmen? Das,
was sie dort mit dem Transparenzregister machen, ist
doch gut.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Lassen Sie uns deshalb über die wichtigen und guten
Argumente in diesem Kontext diskutieren und ins Ver-
fahren gehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1809423800

Vielen Dank. – Für die SPD spricht jetzt die Kollegin

Sonja Steffen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Sonja Steffen (SPD):
Rede ID: ID1809423900

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine Damen und Herren auf der Tribüne!
Brauchen wir in Deutschland ein verpflichtendes Lobby-
istenregister? Wir beraten heute zwei entsprechende An-
träge der Opposition, und ich sage es Ihnen gleich: Es
sind gute Anträge, Frau Haßelmann und Frau Sitte. Denn
die SPD-Fraktion – das haben wir vorhin schon gehört –
hat in der 17. Wahlperiode, also in der letzten Wahl-
periode, einen Antrag ins Parlament eingebracht, in dem
die Einführung eines verpflichtenden Lobbyistenregis-
ters gefordert wurde. Damals war es die schwarz-gelbe
Regierung, die diesem Antrag nicht gefolgt ist, sodass
wir dafür keine Mehrheit bekommen konnten.

Die Forderung ist nach wie vor aktuell. Ich teile auch
in dem Punkt Ihre Meinung: Es handelt sich nicht um ei-
nen alten Hut. Ich will Ihnen auch sagen, warum.

Ich bin Mitglied des Geschäftsordnungsausschusses.
In diesem Ausschuss hat man nicht so viel mit Verbän-
den und Beratern zu tun. Aber ich bin auch Mitglied des
Haushaltsausschusses, in dem ich für die Entwicklungs-
zusammenarbeit zuständig bin. Wir haben heute schon
viel über NGOs und verschiedene Verbände gehört.
Aber um ein praktisches Beispiel zu nennen: Ich hatte
gestern Besuch von der Hilfsorganisation Ärzte ohne
Grenzen. Heute habe ich mich mit Vertretern von
Misereor getroffen. Diese Gespräche – ich glaube, das
sehen Sie alle in Ihrem jeweiligen Geschäftsbereich ge-
nauso – sind für mich sehr wichtig. Niemand in diesem
Saal wird ernsthaft behaupten wollen, dass dieser Aus-
tausch einen unseriösen Charakter hätte.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Im Gegenteil: Wir brauchen diese Informationen, um
Interessen abzuwägen und Entscheidungen zu treffen.
Denn, Frau Sitte, wir sind keine Lämmer, die sich von
Verbänden, NGOs und Politikberatern die Gesetze vor-
schreiben lassen.


(Daniela Ludwig [CDU/CSU]: So ist es!)


Wir haben bereits das Verbänderegister. Das ist heute
schon öfter angesprochen worden. Schon seit 1972 gibt
es eine öffentliche Liste, in der sich die Verbände eintra-
gen. Aber zum einen werden in dieses Register nur Ver-
bände aufgenommen. Das heißt, in diesem Register sind
keine Kommunikationsagenturen aufgeführt, und darin
sind auch keine Anwaltskanzleien zu finden. Zum ande-
ren ist die Aufnahme in das Verbänderegister freiwillig.
Man muss die Aufnahme von sich aus beantragen. Des-
halb, meine ich, reicht das Verbänderegister nicht aus.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es ist in der Tat richtig: Auf europäischer Ebene ist
man schon viel weiter. Ich finde, das ist ein ganz ent-
scheidendes Argument. Es gibt dort ein neues Transpa-
renzregister. Ich empfehle allen einen Blick auf das On-
lineportal. Das ist wirklich gut aufgebaut und sehr
transparent – so wie es sein muss. Inzwischen haben sich
dort schon 8 000 Organisationen eingetragen. Es werden
jeden Tag mehr. Man kann das gut verfolgen.

Gleich auf der ersten Seite des Portals werden drei
Kernfragen aufgeworfen, die in diesem Zusammenhang
entscheidend sind. Erstens soll deutlich werden: Welche
Interessen werden verfolgt? Zweitens: Wer verfolgt
diese Interessen? Und drittens: Wer bezahlt dafür?

Das Register ist zudem mit einem Verhaltenskodex
und mit Sanktionen im Falle von Verstößen gegen den
Kodex verknüpft.

Es gibt noch ein Manko; aber ich habe den Eindruck,
dass man in Brüssel darüber aktuell sehr viel und laut
diskutiert. Das Manko ist, dass zurzeit die Eintragung
noch freiwillig ist. Ich bin jedenfalls froh, dass wir jetzt
auch im Deutschen Bundestag darüber debattieren. Ich
glaube, es ist wirklich an der Zeit.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Schauen wir einmal in die Bundesländer: Es gibt in-
zwischen drei Bundesländer, die so etwas haben, näm-
lich Brandenburg, Rheinland-Pfalz – sie sind noch nicht
so weit, wie wir es gerne hätten, aber inzwischen auf ei-
nem guten Weg – und Sachsen-Anhalt, das meines Wis-
sens sogar schon ganz weit vorne liegt.

Und was sagen Meinungsumfragen bei den NGOs
und den Politikberatern selbst, zum Beispiel im Tages-
spiegel vom November 2014? Die Politikberater selber
sagen, dass sie ein solches Register befürworten. Seriöse
Politikberater scheuen kein Register, weil es die Trans-
parenz ihrer Arbeit betont und den Ruf der Interessen-
vertreter in der Öffentlichkeit nur verbessern kann. Au-





Sonja Steffen


(A) (C)



(D)(B)


ßerdem hilft es uns Politikern, zu erkennen, welcher
Auftraggeber hinter einem Lobbyisten steckt. Denn wer
von uns hatte nicht schon einmal eine Gesprächsanfrage
von Beratern, von denen er nicht genau wusste, wer der
Auftraggeber ist?

Was am wichtigsten ist – das wurde heute noch nicht
angesprochen –: Unsere Bürgerinnen und Bürger haben
ein berechtigtes Interesse daran, zu erfahren, welchen
Einflüssen die Gesetzgebung unterliegt. „Mehr Demo-
kratie wagen“ ist ein sehr berühmter Satz von Willy
Brandt, ein Satz, den wir uns alle auf die Fahne schrei-
ben sollten, gerade in Zeiten der Politikverdrossenheit.
Ich meine – ich glaube, meine Fraktion steht dabei hinter
mir –, dass wir durch ein verbindliches Lobbyregister
dazu beitragen können, dem Vorwurf der Hinterzimmer-
klüngelei entgegenzutreten. Ein Lobbyregister macht
nämlich nur Sinn, wenn es verpflichtend ist, und zwar
für alle. Das treibt die schwarzen Schafe vom Markt und
beugt Misstrauen vor.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Ich will noch einmal betonen: Lobbyarbeit ist kein
Teufelswerk. Sie ist gut und richtig, weil sie uns, dem
Gesetzgeber, eine Informationsbreite verschafft. Deshalb
gehört Lobbyarbeit nicht in die Schmuddelecke. Wir
können mit einem verbindlichen Lobbyregister viel dazu
beitragen. Man muss sicherlich nicht alles von den USA
übernehmen, aber in Sachen Lobbyregister ist man uns
dort weit voraus; denn dort gibt es ein verpflichtendes
Lobbyregister schon seit langem.

Die SPD-Fraktion verschließt sich Ihren Anträgen
nicht, meine Kolleginnen und Kollegen von der Opposi-
tion; denn die SPD-Fraktion steht für transparentes poli-
tisches Handeln. Nach den gesetzlichen Regelungen zur
Abgeordnetenbestechung – darauf hat der Kollege
Kaster schon hingewiesen – und zu den Karenzzeiten für
politische Akteure nach dem Ausscheiden aus der akti-
ven Politik ist es ein konsequenter Weg – vor allem ist es
dafür an der Zeit –, ein verbindliches Lobbyregister ein-
zuführen. Ich bin ganz zuversichtlich, dass wir die Kol-
legen von der Union an dieser Stelle bewegen können.
Herr Kaster, Sie haben vorhin vorsichtig formuliert, dass
Sie für den einen oder anderen Vorschlag offen sind.
Lassen Sie uns in eine offene Diskussion einsteigen.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1809424000

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl,

CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hans-Peter Uhl (CSU):
Rede ID: ID1809424100

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und

Kollegen! Gegenstand von Politik sind Interessen. Die
Politik muss mit Interessen umgehen. Organisierte Inte-
ressenwahrnehmung, auch Lobbyismus genannt, gehört
selbstverständlich zur parlamentarischen Demokratie.

Einflussnahme von Interessengruppen auf den politi-
schen Diskurs ist also legitim, bedarf aber der Transpa-
renz und der Korrektur, und zwar durch uns Parlamenta-
rier. Wir sind die Vertreter des ganzen Volkes. Wir sind
die Vertreter des Gemeinwohls.

In unserem lernenden System der parlamentarischen
Demokratie brauchen wir das Gespräch mit Interessen-
vertretern bzw. Lobbyisten. Wir brauchen Expertenanhö-
rungen und Veranstaltungen, auf denen wir uns den
Sachverstand herbeiholen, den wir nicht haben können.
Aber nur bei uneigennütziger Gewichtung verschiedens-
ter Partikularinteressen wird das Gemeinwohl zum Ge-
setz. Nicht immer spiegelt die parlamentarische Wirk-
lichkeit dieses Ideal wider; das wissen wir alle nur zu
gut.

Die größte Gefahr geht nicht – das ist der Grund, wa-
rum wir Ihre Anträge ablehnen – von der Zahl der Lob-
byisten aus, sondern sie liegt in der Struktur der Ein-
flussnahme auf die politische Entscheidungsfindung. Ich
nenne als Beispiele die Bildung von Kommissionen so-
wie die Einrichtung von Räten und Sachverständigen-
gremien mit Sitz selbst in den Ministerien. Wenn die Er-
gebnisse der Beratungen solcher Kommissionen vom
Parlament eins zu eins umgesetzt werden – das alles gab
es schon; ich erinnere nur an die Hartz-IV-Gesetzgebung –,
dann wird das Parlament auf eine bloße Ratifikations-
instanz reduziert.

Wenn also in hochkomplexen Entscheidungen, die
wir ja immer wieder zu treffen haben, der Aktionismus
der Politik uns auch noch zu raschem Handeln zwingt
und wir die Dinge gar nicht prüfen können, wenn zur
Unterstützung des Parlaments von Spezialisten fertig
ausgearbeitete Gesetze uns auch noch als alternativlos
präsentiert und sie zur Abstimmung gestellt werden, spä-
testens dann sind wir weit entfernt von einer parlamenta-
rischen Demokratie, wie sie sein sollte.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE])


Lassen Sie mich jetzt zu den Lösungen kommen, die
die Grünen und die die Linken anbieten. Die Lösung für
beide Fraktionen sei – auch die Kollegin von der SPD
hat mit dieser Idee geliebäugelt – ein strafbewehrtes
Lobbyistenregister, ein verpflichtendes Lobbyistenregis-
ter – ein ungeheures bürokratisches Monstrum, in dem
alles über Lobbyisten und Lobbyismus stehen muss:


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die Pkw-Maut!)


der Name und die Adresse des Lobbyisten, sein Arbeit-
geber und sein Gehalt, der Betrag, den seine Firma für
Lobbyarbeit ausgibt, seine Gesprächspartner, seine Ge-
sprächsthemen von morgens bis abends. Dies alles muss
natürlich alle drei Monate von der Bundestagsverwal-
tung auf den neuesten Stand gebracht und ins Internet
gestellt werden. Meine Damen und Herren, da kann Da-
tenschutz selbstverständlich nur noch stören. Es geht ja
um den Kampf gegen Lobbyismus. Der Zweck heiligt
hier jedes Mittel. Es fehlt nur noch, dass Sie jedem Lob-
byisten ein „L“ auf die Stirn tätowieren wollen. Das
wäre vielleicht noch eine Bereicherung.





Dr. Hans-Peter Uhl


(A) (C)



(D)(B)



(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Jetzt wird es aber ganz eng für Sie!)


– Überhaupt nicht.


(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Frau Tackmann kriegt das Aschenkreuz dafür, von Aschermittwoch!)


– Aber nur wenn sie von ihrem Vorschlag abrückt.

Diese Anträge sind ein hilfloser oppositioneller Ak-
tionismus. Diese Anträge lehnen wir ab, weil sie keinen
Lösungsbeitrag leisten. Wir lehnen sie nicht ab, weil wir
das Problem leugnen. Das Problem ist natürlich vorhan-
den, dass Lobbyisten ungerechtfertigten Einfluss auf un-
sere Arbeit nehmen können. Wir meinen aber, mit einer
Stigmatisierung dieser Menschen, die ja unsere Ge-
sprächspartner sind und sein müssen, durch ein solches
Register tragen wir nicht bei zu einer Lösung des Pro-
blems.

Nein, meine Damen und Herren, die Lösung liegt
nicht darin, dass wir diese Menschen, die man Lobby-
isten nennt, kujonieren. Die Lösung liegt bei uns Parla-
mentariern.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Aha!)


Denn es ist unsere Aufgabe, mit dem, was uns als Parti-
kularinteressen angeboten wird, richtig umzugehen,
diese Interessen zu gewichten, sie zu bewerten und mit
anderen, vielleicht widersprechenden oder widerstreiten-
den Partikularinteressen zu vergleichen und aus diesem
gesamten Strauß von Interessen eine Politik zu machen,
die dem Gemeinwohl dient, die den sozialen Frieden er-
hält,


(Beifall bei der CDU/CSU)


und diese Politik dann zum Gesetz werden zu lassen.

Das ist die Arbeit des Parlamentariers und dafür wer-
den wir gewählt. Dafür werden wir bezahlt. Wir müssen
dafür arbeiten, dass wir das Vertrauen der Bevölkerung
in unsere Arbeit erhalten können.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Da fehlte der zweite Teil mit den Vorschlägen!)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1809424200

Vielen Dank. – Abschließende Rednerin zu diesem

Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Dr. Katarina
Barley, SPD.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Katarina Barley (SPD):
Rede ID: ID1809424300

Ganz herzlichen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolle-

ginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Als
abschließende Rednerin kann ich feststellen, dass wir
uns in einigen Punkten einig sind, nämlich dass in unse-
rer politischen Kultur die Vertretung von unterschiedli-
chen Interessen gut und richtig ist, dass wir auch darauf
angewiesen sind, weil wir hier nicht in einem politischen

Elfenbeinturm leben können und wollen, dass die Kon-
takte, die wir haben, Ausdruck einer funktionierenden
Verbindung zwischen Staat, Politik und Zivilgesellschaft
sind. Das wollen wir auch nicht ändern. Ich glaube, das
will keiner von uns. Es ist unsere originäre Aufgabe, die
verschiedenen Interessen aus dem Wahlkreis aufzuneh-
men und zu bündeln. Da stimme ich mit dem Kollegen
Kaster absolut überein; schließlich vertreten wir die Inte-
ressen desselben Wahlkreises.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Aha!)


– Ja, wir sind uns in diesem Punkt sehr einig.

Wir haben auch festgestellt, dass dann, wenn von
Lobbyisten die Rede ist, viele Menschen eine unter-
schiedliche Auffassung haben, was darunter zu verste-
hen ist: Das sind die multinationalen Großkonzerne. Das
sind Menschen mit viel Geld im Rücken. – Wir sind uns
einig, dass es so nicht ist, sondern dass es auch NGOs,
gemeinnützige Vereine, Gewerkschaften, Arbeitgeber-
verbände sind. Alle diese sind Lobbyisten, und alle diese
gehören auch nach meiner Auffassung in ein Lobbyis-
tenregister.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Wir müssen einfach zur Kenntnis nehmen, dass die
Vertretung der Interessen sich in den letzten Jahren zu ei-
nem eigenen Wirtschaftszweig gemausert hat, dass zu-
sätzlich zu dem Kreis der Personen, die ein eigenes Inte-
resse haben, auch ein immer größer werdendes Heer von
Anwälten, Agenturen, Kanzleien und PR-Vertretungen
Lobbyismus betreibt, teilweise mit einem gewaltigen fi-
nanziellen Budget im Hintergrund. Wir müssen gleich-
zeitig feststellen, dass mehr und mehr Menschen ein un-
gutes Gefühl beschleicht, weil politische Prozesse für sie
nicht mehr nachvollziehbar sind. Manche stellen dann
schon das gesamte politische System und die Demokra-
tie infrage. Ich glaube, wir alle führen in unseren Wahl-
kreisen Diskussionen über CETA und TTIP. Da wird das
ganz besonders deutlich.

Dieses wachsende Bedürfnis müssen wir ernst neh-
men. Da hat sich seit 1972, als eine – natürlich – sozial-
demokratisch geführte Regierung das bestehende Lob-
byregister eingeführt hat, einiges verändert. Dem
müssen wir uns stellen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dafür haben wir in dieser Legislaturperiode auch
schon einiges getan. Wir hätten gern noch mehr getan,
aber wir haben ja auch noch ein bisschen Zeit. Es ist
schon erwähnt worden: Den Straftatbestand der Abge-
ordnetenbestechung haben wir neu geregelt und ver-
schärft. Die Offenlegungspflichten für Nebentätigkeiten
und Nebenverdienste von Abgeordneten wurden ausge-
weitet. Eine Karenzzeitregelung für den Wechsel von
Politikern in die Wirtschaft wurde eingeführt.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Noch nicht!)


– Ich sage ja: Wir sind auf dem Weg.





Dr. Katarina Barley


(A) (C)



(D)(B)


Ein Lobbyregister wäre jetzt ein weiterer Baustein.
Wir unterstützen deshalb die Forderung nach einem ver-
pflichtenden Lobbyregister. Meine Kollegin Sonja
Steffen hat es schon gesagt: Da haben wir bei den Freun-
den von der Union noch ein dickes Brett zu bohren. Ich
möchte den Appell wiederholen. Ich glaube, dass ein
Lobbyregister uns allen dabei helfen würde, diesen wa-
bernden Mythos „Lobbyismus“ ein Stück weit zu ent-
zaubern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir den Menschen deutlich machen und offen-
legen, was sich dahinter verbirgt – wie ich eingangs
sagte, sind das nicht nur die multinationalen Großkon-
zerne und die Konzerne mit ganz viel Geld im Rücken,
sondern dazu gehören auch ganz viele Verbände, ge-
meinnützige Organisationen und Menschen, zu denen
wir alle Vertrauen haben –, dann würde dieser Kampfbe-
griff „Lobbyismus“ vielleicht auch ein wenig an Kraft
verlieren.

Aber uns ist auch klar: Ein Lobbyregister kann nur
mit einer breiten parlamentarischen Mehrheit beschlos-
sen werden. Wir brauchen da ein kräftiges Zeichen des
Bundestages. Deswegen müssen wir noch ein bisschen
werbend tätig werden.

An die Adresse der Linken und vor allen Dingen der
Grünen möchte ich nur noch sagen: Ich würde vor über-
steigerten Erwartungen an ein Lobbyregister warnen. In
der Einleitung zu dem Antrag steht sinngemäß: Dadurch
können wir Waffengleichheit und vollständige Transpa-
renz herstellen. – Ich wäre da vorsichtig. Ich glaube, es
ist ein Schritt, ein Baustein. Aber ein Lobbyregister wird
die Versuche der unlauteren Einflussnahme auf die Poli-
tik nicht verhindern. Es wird auch nicht für ein Gleich-
gewicht bei den finanziellen Möglichkeiten der Interes-
senvertretungen sorgen.

Wie wir einen fairen Zugang unterschiedlicher Inte-
ressen zum Gesetzgebungsprozess gewährleisten, bleibt
am Ende vor allen Dingen, glaube ich, eine Frage der
Haltung, und zwar unserer ganz persönlichen Haltung.
Wir als Abgeordnete müssen durch unser Handeln so-
wohl hier im Hohen Hause als auch in den Wahlkreisen
deutlich machen, dass wir unsere Aufgabe sehr ernst
nehmen, dass wir alle Interessen aufnehmen und abwä-
gen. Daran, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann nur
jeder selber arbeiten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1809424400

Danke schön. – Damit schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/3842 und 18/3920 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –
Ich nehme an, dass Sie damit einverstanden sind, weil
sich kein Widerspruch erhebt. Dann sind die Überwei-
sungen auch so beschlossen.

Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 11, den
ich hiermit aufrufe:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes
zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vor-
schriften

Drucksache 18/4202
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich sehe,
dass Sie alle damit einverstanden sind. Dann ist das auch
beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner für die Bundesregierung dem Parlamentarischen
Staatssekretär Enak Ferlemann das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)


E
Enak Ferlemann (CDU):
Rede ID: ID1809424500


Sehr geschätzter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Sie alle kennen die Bilder, die zeigten,
wie circa 80 nicht zugelassene Züge vor Berlin standen.
Sie alle kennen die Szenarien, dass viele andere Zulas-
sungen bei vielen Bahnprodukten nicht pünktlich erteilt
wurden, sodass man in ganz Deutschland, vor allem im
Bereich des Nahverkehrs, sehnsüchtig auf die neuen
Züge wartete. Die DB wartete außerdem auf die Zulas-
sung von Zügen, die im Fernverkehrsbetrieb gebraucht
wurden.

Woraus resultierte das? Die Industrie sagte: Andau-
ernd ändern sich die Richtlinien, die Regeln, sodass wir
immer wieder neu nacharbeiten müssen. – Die Genehmi-
gungsbehörde, das Eisenbahn-Bundesamt, führte aus,
dass die Industrie die Leistung nicht immer so erbringe,
wie sie das Eisenbahn-Bundesamt nach den aktuellen
Richtlinien verlangen müsse. Die Bundesregierung war
unzufrieden, weil das ganze System nicht vernünftig lief.
Die Bahnbetreiber waren letztlich auch unzufrieden,
weil sie nicht rechtzeitig das Wagenmaterial, das ihnen
eigentlich schon zugesagt worden war, auf die Gleise be-
kommen konnten. Leidtragende waren am Ende auch die
Reisenden, die mit älterem oder nicht ausreichendem
Wagenmaterial fahren mussten. All das hatte zur Folge,
dass die Qualität und die Zugfolge nicht dem entspra-
chen, was man eigentlich erwartet hatte. Das war ein
sehr unbefriedigender Zustand.

Daraufhin hat das Bundesverkehrsministerium die
Initiative ergriffen, alle Beteiligten an einen Tisch geholt
und versucht, die Frage zu beantworten, was in diesem
Sektor falsch läuft. Wir haben uns sehr an der Flugzeug-
industrie orientiert, die es ja im Grunde genommen mit
einem ähnlich komplexen System zu tun und ähnliche
Probleme zu lösen hat, und haben gefragt: Wie läuft da
das Zulassungsverfahren?





Parl. Staatssekretär Enak Ferlemann


(A) (C)



(D)(B)


So haben wir uns nach und nach mit allen Beteiligten
darauf verständigen können, wie wir diese Zulassung
vereinfachen und beschleunigen können. Dabei ist als
Ergebnis eine freiwillige Vereinbarung zwischen allen
Beteiligten herausgekommen, nach der wir jetzt schon
seit einiger Zeit sehr erfolgreich arbeiten. Sie werden
keine Bilder mehr von nicht zugelassenen Zügen sehen,
die irgendwo in den Hangars stehen, und nichts mehr
von großen Problemen hören, die es gab, als das Wagen-
material nicht rechtzeitig auf die Strecke kam.

Diese freiwillige Vereinbarung, nach der wir jetzt
schon arbeiten, wollen wir aber in eine dauerhafte Lö-
sung gießen, in ein Gesetz. Das legen wir Ihnen heute als
Entwurf vor. Ich glaube, es ist ein sehr gelungener Ent-
wurf. Was ist der Kern? Der Kern ist, dass nach wie vor
kein Zug zugelassen wird ohne Genehmigung durch das
Eisenbahn-Bundesamt. Mich hat es sehr gestört, dass das
Eisenbahn-Bundesamt in der Diskussion vor Jahren im-
mer als eine verstaubte Behörde in die Ecke gestellt
wurde, die die Probleme nicht in den Griff bekommt und
es gar nicht kann. Das ist falsch. Wir haben ein sehr gut
aufgestelltes Eisenbahn-Bundesamt, dessen Mitarbeiter
aber nun einmal nach den Richtlinien und Regularien
des öffentlichen Dienstes arbeiten müssen. Man kann
den Kolleginnen und Kollegen dort nur sehr dankbar
sein für den guten Job, den sie unter den Bedingungen,
wie sie nun einmal sind, machen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE])


Aber wir haben Beschleunigungselemente evaluiert
und haben gesagt – ähnlich wie es in anderen Bereichen
auch ist –: Lasst doch private Prüfer zum Zuge kommen,
die vielleicht flexibler und schneller bestimmte Teile
prüfen können. So können wir der Industrie die Mög-
lichkeit geben, schneller die Prüfverfahren durchlaufen
zu können. Deswegen legen wir in diesem Gesetz fest,
dass das Eisenbahn-Bundesamt alle Prüfer aus dem pri-
vaten Bereich zertifizieren muss, bevor diese dann ihre
Prüfungen durchführen. Daran schließt sich die Endprü-
fung durch das Eisenbahn-Bundesamt an, die notwendig
ist, um einen Zug zulassen zu können. Ich glaube, das ist
ein sehr gutes und effizientes Verfahren.

Mit diesem Gesetz legen wir die Grundlage, dass wir
in Zukunft in Deutschland, so wie wir es jetzt schon seit
einigen Monaten praktizieren, schnelle Zulassungsver-
fahren haben, um der Industrie Sicherheit zu geben, um
aber auch den Passagieren, den Menschen, die mit den
Zügen fahren, Sicherheit zu geben, und vor allem, um
diese Züge schneller auf die Strecke zu bekommen.

Mit diesem Gesetz regeln wir auch eine Entbürokrati-
sierung im Bereich der Werkstätten. Bei den Werkstätten
haben wir festgestellt, dass wir die Regulierung so, wie
wir sie haben, nicht brauchen, weil wir einen Markt vor-
finden, auf dem Konkurrenz herrscht, sodass wir ihn
durch Regulierung nicht künstlich abbilden müssen und
diesen Sektor sozusagen in die Freiheit entlassen kön-
nen. Es ist eine gute Lösung, dass wir in diesem Bereich
zu einer Entbürokratisierung kommen.

Ich glaube, dass unsere Vorschläge für diesen Sektor
sinnvoll sind, und hoffe auf zügige Beratung.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1809424600

Nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke ist die

Kollegin Sabine Leidig.


(Beifall bei der LINKEN)



Sabine Leidig (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809424700

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Das Problem haben wir gerade schon gehört: lange Zu-
lassungszeiten für Schienenfahrzeuge. Dass das Problem
schon weitgehend gelöst ist, haben wir ebenfalls gehört.
Da es unterschiedliche Schuldzuweisungen gibt, möchte
ich feststellen: Die Bahnindustrie sagt, das Eisenbahn-
Bundesamt sei schuld. Das Eisenbahn-Bundesamt er-
klärt, dass die Prüfunterlagen der Bahnunternehmen oft
nicht rechtzeitig vorliegen, nicht vollständig sind oder in
sich nicht schlüssig sind, und bemängelt außerdem, dass
nicht genug Personal vorhanden ist, um schnell zu prü-
fen, wie es verlangt wird.

Ich glaube, dass es ein noch tieferes Problem gibt, das
ein bisschen aus den Augen geraten ist. In früheren Zei-
ten gab es eine ganz enge Zusammenarbeit zwischen der
Bahnindustrie und der – damals noch – Deutschen Bun-
desbahn. Diese Zusammenarbeit bot ausreichend Zeit
für lange Testphasen, in denen neue Züge auf der
Schiene, also in der Praxis, ausprobiert wurden. Man hat
gemeinsam geschaut, was wo verbessert werden muss.

Heute steht die Deutsche Bahn AG als Konzern den
Fahrzeugherstellern gegenüber. Jede Seite will Gewinn
machen, muss Gewinn machen. Es passiert immer wie-
der, dass die Züge, die bereitgestellt werden, nicht alle
Anforderungen erfüllen. Wir haben in der Anhörung den
Ausdruck gehört, dass die Fahrzeuge beim Kunden rei-
fen wie Bananen. Aber Schienenfahrzeuge – Eisenbah-
nen, Straßenbahnen – sind keine Bananen, und deshalb
muss man andere Maßstäbe anlegen.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Bundesregierung schlägt nun nicht vor, dass wie
bisher einzelne spezielle Aufträge vom Eisenbahn-Bun-
desamt an Spezialwerkstätten vergeben werden können
– das wäre nicht so schlimm –, sondern Sie schlagen vor,
dass das Zulassungsverfahren insgesamt weitgehend pri-
vatisiert wird und dass das EBA am Schluss nur noch
den Stempel draufdrückt. Dazu sagen wir Nein.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollen wieder zurück zur alten Behördenbahn!)


Die Unternehmen, die Sie ins Spiel bringen, sind ge-
winnorientiert und müssen bei ihrer Arbeit 6 bis 10 Pro-
zent Gewinnmarge erwirtschaften. Das kann man ihnen
gar nicht vorwerfen. So sind sie konstruiert. Deshalb
wird die Arbeit entweder nachher um diesen Gewinn
teurer, oder die Anbieter drücken die Kosten, indem sie





Sabine Leidig


(A) (C)



(D)(B)


beim Personal sparen. Wir kennen dieses Problem. Wir
haben es übrigens auch bei der Deutschen Bahn AG er-
lebt. Gerade für diese sicherheitsrelevanten Bereiche ist
es eine gefährliche Konstruktion, wenn an solchen Din-
gen gespart wird. Deshalb lehnen wir eine Privatisierung
dieser eigentlich hoheitlichen Aufgabe ab.


(Beifall bei der LINKEN)


Man kann auch die Zulassung von Automobilen nicht
unbedingt als gutes Vorbild nehmen; denn Sie alle wis-
sen, dass sich die Rückrufaktionen auch der großen Au-
tohersteller in den letzten Jahren häufen. Wir wissen,
dass die immer komplexere Technik eine besonders
sorgfältige und eine unabhängige Prüfung notwendig
macht, ohne Zeit- und Kostendruck.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieder zurück zum Trabantwagen, oder was?)


Deshalb fordern wir, dass das Eisenbahn-Bundesamt
eine starke Rolle als Aufsicht für die Deutsche Bahn AG
haben und behalten muss und dass deshalb auch mehr
Personal beim Eisenbahn-Bundesamt eingestellt werden
muss. Wir brauchen ebenfalls eine Veränderung der Ab-
läufe. Die Beschäftigten im EBA wissen sehr genau, wo
es klemmt. Es wäre sehr sinnvoll, viel stärker mit den
Beschäftigten aus der Praxis zusammenzuarbeiten.

Ich bin gespannt, Kollege Burkert von der SPD, ob
Sie uns in dieser Linie unterstützen. Vor zwei Jahren, als
Sie als Vorstandsmitglied der Eisenbahn- und Verkehrs-
gewerkschaft an den früheren Verkehrsminister ge-
schrieben haben, haben Sie genau diese Position vertre-
ten. Ich glaube, dass sie richtig ist und war.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich will noch einige Vorschläge machen, wie man die
Probleme lösen kann und neue Züge und Straßenbahnen
schneller und besser auf die Schiene bringt:

Erstens – das sagte ich bereits –: mehr Personal für
das EBA.

Zweitens soll die Bahn wieder enger mit den Zugher-
stellern zusammenarbeiten, anstatt gegen sie zu arbeiten.
Es gibt schon eine Tendenz in diese Richtung: Beim
neuen ICx wird es besser gemacht.

Drittens. Es muss ausreichend Zeit zwischen der Be-
stellung und der Auslieferung von Zügen bleiben. Bei
Ausschreibungen für den öffentlichen Nahverkehr muss
ein solcher Zeitplan möglich sein, das heißt, die Finan-
zierung muss sichergestellt sein.

Schließlich könnte man auch die Sonderwünsche der
Nahverkehrsträger ein bisschen reduzieren. Warum muss
die Zugtoilette in Hessen vorne sein und in Sachsen hin-
ten? Wenn man die Standards und die Ausstattung ein-
heitlicher gestaltet, dann braucht man weniger Geld und
Zeit und hat einen geringeren Zulassungsaufwand.

Kurz gesagt, kommt es für uns als Linke auf Folgen-
des an:

Erstens. Prüfung und Zulassung von Eisenbahnfahr-
zeugen sollen öffentliche Aufgaben bleiben. Das Eisen-

bahn-Bundesamt muss für diese Aufgabe besser ausge-
stattet werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Zweitens. Es braucht mehr Zusammenarbeit und nicht
Konkurrenz zwischen den beteiligten Unternehmen.
Diese Zusammenarbeit kann und soll auch politisch un-
terstützt werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1809424800

Danke, Frau Kollegin Leidig. – Nächste Rednerin ist

für die SPD die Kollegin Kirsten Lühmann.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Kirsten Lühmann (SPD):
Rede ID: ID1809424900

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!

Schon die erste Betriebsordnung für Haupteisenbahnen
in Deutschland aus dem Jahre 1892 stellte fest: „Neue
Wagen dürfen erst in Gebrauch genommen werden,
nachdem sie untersucht und als sicher befunden sind.“
Diese Vorschrift hatte noch nicht festgelegt, wer sie prü-
fen soll. Allerdings stieg mit den Sicherheitserfordernis-
sen auch die Zahl der Konstruktions- und Ausrüstungs-
vorschriften. Von deren unabhängiger Prüfung vor der
Zulassung der Eisenbahnen hängt auch das Vertrauen in
das Verkehrsmittel ab, und zwar ein Vertrauen, das ange-
sichts der geringen Unfallzahlen durchaus gerechtfertigt
ist.

Was im Automobil- und Flugzeugsektor selbstver-
ständlich ist, nämlich die qualifizierte, schnelle und un-
bürokratische Zulassung unter anderem in Form einer
europäischen Typgenehmigung, geschieht bei der Zulas-
sung von neuen, noch sichereren Bahntechniken zu lang-
sam und ist verbesserungswürdig. Die daraus resultie-
rende mangelnde Planungssicherheit, die hohen Kosten
und der hohe Zeitbedarf gehen zulasten aller: der herstel-
lenden Unternehmen, der Betreibenden und nicht zuletzt
der Fahrgäste. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen,
wollen wir ändern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Mit der Umsetzung der entsprechenden EU-Richt-
linie, die wir mit dem heute in das Parlament einge-
brachten Gesetzentwurf vollziehen, tragen wir dem
Leitgedanken Rechnung, die operative Prüfung von
Bahntechnik in bestimmtem Umfange – nicht komplett –
auch Privaten zu ermöglichen. Mit dem seit Juni 2013
geltenden sogenannten Memorandum of Understanding
durften in Deutschland erstmals private Organisationen
die Voraussetzungen für die Zulassung von Schienen-
fahrzeugen in größerem Umfange prüfen. Mit dem vor-
liegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung wird für
dieses erfolgreiche Übergangsmodell nun endgültig ein
rechtlich verbindlicher Rahmen geschaffen. Damit wird
die Zulassung von Bahntechnik in Deutschland be-
schleunigt und vereinfacht. Allerdings: Abstriche bei der





Kirsten Lühmann


(A) (C)



(D)(B)


Sicherheit des Schienenverkehrs wird es dabei nicht ge-
ben. Die technischen Vorgaben, liebe Kollegen und Kol-
leginnen, werden ebenso sorgfältig überprüft, wie es
zum Beispiel im Pkw-Bereich schon lange Jahre gang
und gäbe ist.

Was ist nun neu? Bislang war das Eisenbahn-Bundes-
amt die allein zuständige Prüfbehörde. Das EBA beschäf-
tigt inzwischen mehr als 1 000 Mitarbeitende, die sehr
kompetent und verantwortungsvoll viele Themen des Ei-
senbahnwesens in Deutschland bearbeiten. Ich nenne nur
die Planfeststellungen, die Fahrgastrechte, die Betriebs-
überwachungen. Anfang des Jahres haben wir ihm auch
die verantwortungsvollen Aufgaben der Lärmkartierung
und der Erstellung des Lärmaktionsplans übertragen.

Mit den technischen Fragen der Schienenfahrzeugzu-
lassung befassen sich etwa 50 Mitarbeitende, also 5 Pro-
zent der Gesamtbelegschaft. Die Anzahl der Schienen-
fahrzeugprojekte pro Jahr, die eine Zulassung benötigen
– dazu gehört auch die Wiederzulassung nach der Mo-
dernisierung eines Zuges –, ist dagegen allein in den
letzten zehn Jahren um ein Vielfaches gestiegen. Das
EBA und seine Beschäftigten leisten also eine hervorra-
gende und gewissenhafte Arbeit – allein ihre Kapazität
ist begrenzt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist daher ein Gebot der Zeit, das heute im Eisen-
bahnsektor verteilte Wissen – auch in der Zulassung –
nutzbar zu machen, um das EBA an dieser Stelle zu ent-
lasten und das umfassende Fachwissen ihrer Mitarbei-
tenden für die tiefergehende Plausibilitätsprüfung, die
vor einer Zulassung am Ende stehen muss, zu nutzen.
Ähnliche Strukturmodelle funktionieren in der Luftfahrt
seit Jahrzehnten – und das sehr erfolgreich.

Wie läuft nun diese Zertifizierung in der Zukunft ab?
Wie schon in der Übergangszeit praktiziert, wird in Zu-
kunft das EBA private Organisationen nach strengen
Auswahlkriterien als sogenannte Designated Bodies an-
erkennen. Diese Anerkennung als projektunabhängige
und weisungsfreie Organisation zur Prüfung der nationa-
len Vorschriften befähigt diese private Organisation, die
Untersuchung durchzuführen. Das Eisenbahn-Bundes-
amt bleibt dabei aber – das ist uns wichtig – die Behörde,
die nach der abschließenden Überprüfung der Zulassung
von Bahntechnik Rechtskraft verleiht; und das ist auch
gut so.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Das EBA hat sich in den letzten Jahren international
einen ausgezeichneten Ruf erarbeitet. Wir werden hier
nach einer gewissen Zeit jedoch überprüfen müssen, ob
eine internationale Anerkennung auch in Staaten außer-
halb der EU funktioniert oder ob wir dazu noch weitere
Schritte unternehmen müssen.

Gestern hat die Deutsche Bahn ihr neues Fernver-
kehrskonzept vorgestellt. Es beinhaltet 12 Milliarden
Euro Investitionen in den nächsten 15 Jahren. Knapp

100 zusätzliche Züge sollen 50 Millionen Bahnreisende
zusätzlich transportieren.

Das heute von der Bundesregierung eingebrachte Ge-
setz wird mit dafür sorgen, dass das erforderliche rol-
lende Material zeitgerecht zur Verfügung steht – für
mehr grüne Mobilität, für mehr Komfort und für mehr
Sicherheit.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1809425000

Nächster Redner ist der Kollege Matthias Gastel für

Bündnis 90/Die Grünen.


Matthias Gastel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809425100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! „Entwurf eines Neunten Gesetzes zur Ände-
rung eisenbahnrechtlicher Vorschriften“ – das klingt
langweilig. Es klingt nach einem Spielfeld für Paragra-
fenentwickler. Bei näherer Betrachtung ist es aber mehr:
Es geht um die Einsparung von Kosten für die Eisen-
bahnindustrie, für die Betreiber und letztlich natürlich
auch für die Fahrgäste, und es geht um die schnellere
und umfassendere Zugverfügbarkeit.

Anerkannte private Stellen sollen Prüfaufgaben vom
Eisenbahn-Bundesamt übernehmen. Das EBA bleibt zu-
ständig für die Überwachung der Verfahren und die ab-
schließende Erteilung der Inbetriebnahmegenehmigung.
Durch diese Neugestaltung erhofft man sich erhebliche
Beschleunigungs- und Synergieeffekte im gesamten Zu-
lassungsverfahren. Die vorgelegten Gesetzesänderun-
gen werden von den Verbänden positiv beurteilt.

Wie wichtig die Beschleunigung der Zulassungsver-
fahren durch eine Entlastung des EBA ist, zeigt die Ver-
gangenheit. Im Jahr 2012 lag fast ein Drittel des Jahres-
umsatzes der deutschen Bahnindustrie wegen laufender
Zulassungsverfahren auf Eis. Die Züge fehlten auf der
Schiene.

Wie wichtig die Beschleunigung der Zulassungsver-
fahren ist, zeigen aber auch die aktuellen Pläne der Deut-
schen Bahn für die Zukunft. Das gestern vorgestellte
Fernverkehrskonzept der Deutschen Bahn sieht die Aus-
weitung der Angebote vor. Dafür braucht es mehr Züge –
für den Regelbetrieb wie auch für die Reserve.

Wir haben lange darauf gewartet, dass sich dieser
träge Konzern endlich bewegt. Wir haben lange darauf
gewartet, dass dieser tranfunzelige Apparat endlich mal
so etwas wie eine Leidenschaft für die Interessen seiner
Fahrgäste entwickelt.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, das muss kommen!)


Da hat der Wettbewerb wie ein kräftiger Tritt in den Hin-
tern des Eisenbahnkonzerns gewirkt:


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wurde höchste Zeit!)






Matthias Gastel


(A) (C)



(D)(B)


Deutschland im Takt, Agenda für grüne Mobilität – da
schlägt das Herz der grünen Bahnpartei höher und
schneller.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Der ICE-Verkehr soll, was die Kilometer angeht, um
25 Prozent zulegen. Mehr Städte sollen an den IC ange-
bunden werden, und die DB nähert sich, zumindest vor-
sichtig, dem integralen Taktfahrplan. Bis zum Jahr 2030
sollen pro Jahr 50 Millionen zusätzliche Fahrgäste für
die Schiene gewonnen werden.

Man muss aber auch etwas Wasser in den Wein gie-
ßen. Es fehlt nämlich vor allem eine Strategie für mehr
Pünktlichkeit. Ein Drittel der Züge hat Verspätung. Die
DB definiert Pünktlichkeit zwar als Basisqualität, was
ich aber vermisse, ist ein Konzept für mehr Pünktlichkeit
auf der Schiene.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was ich außerdem vermisse, ist ein Konzept für einen
funktionierenden Gastronomiebetrieb auf der Schiene;
denn auch in diesem Bereich gibt es Defizite.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wohl wahr!)


Die Bahn kann punkten, wenn das funktioniert. Ein Kon-
zept ist aber nicht vorhanden.

Unklar ist auch die Finanzierung. Auf wie viele Re-
gionalisierungsmittel möchte die Deutsche Bahn zurück-
greifen? Es ist Aufgabe der Bundesregierung, sicherzu-
stellen, dass die Länder nicht in die Verantwortung für
die Finanzierung des Fernverkehrs geraten. Genauso ist
die Bundesregierung gefordert, endlich für mehr Wettbe-
werbsgerechtigkeit zu sorgen, sodass die Schiene nicht
mehr weiter benachteiligt ist; denn sie muss im grenz-
überschreitenden Verkehr 19 Prozent Umsatzsteuer zah-
len, der Flugverkehr zahlt nichts. Ähnlich sieht es im Be-
reich Emissionshandel aus. Auch hier ist die Schiene
gegenüber der Straße und dem Luftverkehr benachtei-
ligt.


(Beifall des Abg. Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Bundesregierung ist gefordert, die Gewinn- und
Dividendenerwartung, die sie an den Konzern Deutsche
Bahn hat, zu korrigieren und trotzdem zu ermöglichen,
dass die notwendigen Investitionen in die Schiene finan-
ziert werden, Ersatzinvestitionen genauso wie die Schlie-
ßung von Lücken, auch wenn die Gewinne im Konzern
schrumpfen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Um ihr Fernverkehrskonzept umsetzen zu können, ist
die DB dringend auf neue Züge angewiesen. Insofern ist
die Änderung des Zulassungsrechts eine Grundvoraus-
setzung für die Umsetzung der Fahrgastoffensive. Wir
begrüßen die hier vorgelegte Gesetzesänderung,


(Ulrich Lange [CDU/CSU]: Wir sind gut!)


und wir plädieren für eine möglichst schnelle Umset-
zung, damit das System Schiene trotz Kostensenkungen
besser funktionieren kann als bisher, damit die Bahn-
unternehmen schneller zu ihren Zügen kommen und da-
mit schließlich mehr Menschen und mehr Güter auf der
umweltfreundlichen und energieeffizienten Schiene un-
terwegs sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1809425200

Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort der

Kollege Oliver Wittke.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Oliver Wittke (CDU):
Rede ID: ID1809425300

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Herr Kollege Gastel, nachdem Sie zu Be-
ginn Ihrer Rede den Tagesordnungspunkt noch einmal
ausdrücklich vorgelesen haben, nämlich „Entwurf eines
Neunten Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher
Vorschriften“,


(Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den muss man vorlesen! Das kann man gar nicht auswendig!)


habe ich gedacht, Sie würden zum Thema reden. Aber
dann haben Sie über Gastronomie bei der Deutschen
Bahn, über Pünktlichkeit und über die Umsatzsteuerpro-
blematik gesprochen. Das war nun wirklich nicht Rege-
lungstatbestand dessen, was heute auf dem Tisch liegt,
was wir zu beraten und zu beschließen haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht um die Bahn!)


Herr Gastel, es hat nur noch gefehlt, dass Sie sich über
die Sauberkeit der Toiletten bei der Deutschen Bahn be-
schweren. Das hätte wahrscheinlich auch noch in diesen
Gesetzentwurf hineingehört.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: WLAN habe ich auch vergessen!)


Das war am Thema vorbei.
Ich weiß, es ist schwer, zum Thema zu reden und da-

mit fünf Minuten zu füllen, weil es ein sperriges Thema
ist, aber Ihr Versuch ist in der Tat gescheitert.


(Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie tun das, indem Sie sich über mich auslassen! – Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie machen es ja auch nicht!)


Ich bin froh, dass Sie mir die Gelegenheit gegeben ha-
ben, damit zumindest die ersten anderthalb Minuten
meiner Rede zu diesem sperrigen Thema zu bestreiten.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Sabine Leidig [DIE LINKE]: Man muss seine Redezeit nicht ausschöpfen!)






Oliver Wittke


(A) (C)



(D)(B)


Die Liberalisierung des Eisenbahnwesens in Europa
zu Beginn der 90er-Jahre und im Übrigen auch die
Bahnreform in Deutschland 1994 sind eine große Er-
folgsgeschichte. Die Bahnen transportieren seitdem
mehr Menschen und mehr Güter. Sie machen das auch
mit einem größeren Komfort.

Vor allem hat Europa auch auf der Schiene Grenzen
überwunden. Europa ist zusammengewachsen, weil viele
Verkehre über die alten Nationalgrenzen hinweg stattfin-
den. Es ist schön, dass heute der Thalys nach Köln fährt,
dass die ÖBB nach München fährt und dass der ICE in
Amsterdam hält. Das sind große Erfolge. Europa wächst
eben auch auf der Schiene zusammen.

Neue Unternehmen sind entstanden, und der Wettbe-
werb belebt in der Tat das Geschäft, Frau Leidig. Wir
sind nicht diejenigen, die sich die alte Reichsbahn wie-
der wünschen. Wir wollen nicht eine alte verstaubte
Bahn, sondern wir wollen Wettbewerb auf der Schiene,
weil das den Verkehr steigert, weil das den Menschen
nutzt und weil wir damit eine bessere Leistung zu besse-
ren Preisen bekommen. Das ist auch Teil der Erfolgsge-
schichte der Bahnreform und der Liberalisierung des Ei-
senbahnwesens in Europa.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Sabine Leidig [DIE LINKE]: Die Fahrpreise sind enorm gestiegen!)


Diese dynamische Entwicklung ist bei weitem noch
nicht abgeschlossen, und das ist gut so. Wir werden noch
besser werden, und wir wollen unseren Beitrag dazu
leisten, dass die Bahn in Deutschland noch leistungsfähi-
ger werden kann. Ich freue mich darüber, dass gerade die
Deutsche Bahn, unser bundeseigenes Eisenbahnunter-
nehmen, diesen Wettbewerb aufgenommen und mit Bra-
vour bestanden hat und auch besser geworden ist. Das ist
auch ein Erfolg der Bahnreform und der Liberalisierung
des Eisenbahnwesens.

Es ist völlig klar, dass die gesetzlichen Regelungen
nicht so schnell hinterhergekommen sind. Darum ist es
gut, dass wir heute das Allgemeine Eisenbahngesetz än-
dern mit dem Ziel, Zulassungsverfahren zu beschleuni-
gen und eine europäische Harmonisierung voranzutrei-
ben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kommen Sie endlich zum Thema! Es hat lange gedauert!)


Die Folgen davon werden eine erhebliche Beschleuni-
gung und größere Synergieeffekte sein. Das ist insbe-
sondere auch für deutsche Unternehmen eine Wettbe-
werbsverbesserung, nicht nur für die Hersteller von
Eisenbahnen, sondern gerade auch für die Eisenbahnun-
ternehmen in unserem Land.

Ich will an dieser Stelle für die Unionsfraktion aus-
drücklich begrüßen, dass private Stellen künftig wesent-
liche Prüfaufgaben übertragen bekommen. Teilsysteme
der Fahrzeuge, Leit-, Sicherungs- und Energietechnik
können künftig auch von privaten Unternehmen geprüft

werden. Das bedeutet übrigens keine Reduzierung des
Qualitätsstandards; denn am Ende steht immer noch eine
staatliche Institution, nämlich das Eisenbahn-Bundes-
amt, das nicht nur einen Stempel daruntersetzt, sondern
ausdrücklich prüft, ob ordentliche Arbeit geleistet wor-
den ist. Das können private Unternehmen genauso gut
wie staatliche Stellen. Die letztendliche Verantwortung
liegt jedoch beim Staat. Es ist klug und richtig, dass das
Eisenbahn-Bundesamt das letzte Wort auch bei Untersu-
chungen und bei Arbeiten von privaten Unternehmen
hat.

Ich sage aber ganz deutlich, dass wir darauf achten
müssen, dass die Qualität nicht darunter leidet. Das
heißt, wir wollen weiterhin ein Vieraugenprinzip haben.
Wir wollen weiterhin eine Weisungsunabhängigkeit ha-
ben. Wir wollen weiterhin eine Amtshaftung haben. Wir
wollen auch eine Vergütungsverordnung haben, die ge-
nau das verhindert, Frau Leidig, was Sie gerade hier vor-
getragen haben, dass es nämlich zu irgendwelchen Dum-
pinglöhnen kommt und damit zu Minderleistungen.
Nein, das alles wird es mit uns nicht geben. Ich sage das
hier auch deshalb, weil wir es nicht unmittelbar im Ge-
setz regeln. Vielmehr wird das, was ich hier vorgetragen
habe, in einer Sachverständigenverordnung des Bundes-
ministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur gere-
gelt werden. Damit werden die Qualitätsstandards so,
wie es notwendig ist und wie wir es bisher gewohnt sind,
eingehalten.

Fazit. Mit diesem Gesetz folgen wir einer Entwick-
lung, die mit einem rasanten Tempo mehr Qualität, mehr
Wettbewerb und eine bessere Leistung in den vergange-
nen Jahren im Bahnsektor bewirkt hat. Wir passen ge-
setzliche Regelungen an, die notwendig sind, um die
deutsche Wirtschaft und deutsche Unternehmen zu stär-
ken. Die Entwicklung der Bahnen – ich sage ausdrück-
lich „Bahnen“ und meine damit die Deutsche Bahn, aber
eben auch die Privatbahnen in unserem Land – in den
vergangen Jahren war eine Erfolgsgeschichte. Diese Er-
folgsgeschichte wollen wir weiterschreiben. Dabei ist
die Änderung der eisenbahnrechtlichen Vorschriften
jetzt ein ganz wichtiger Schritt.

Darum bin ich sicher, dass es eine breite Zustimmung,
wenn auch nicht eine allumfassende Zustimmung gibt.
Denn eines habe ich in der mittlerweile anderthalbjähri-
gen Zugehörigkeit in diesem Haus mitbekommen: Es
gibt eine Fraktion, die, egal was hier passiert, immer
Nein sagt. Das ist die Linke. Werden Sie da ruhig Ihrem
Motto gerecht.


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Da haben Sie nicht aufgepasst! Schade!)


Sachgerecht ist das, was Sie hier vortragen, nicht. Da-
rum freue ich mich auf die Diskussion im Ausschuss und
in der zweiten und dritten Lesung in diesem Haus.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das sollte jetzt wohl ein Gag sein! Jetzt müssen wir alle lachen!)







(A) (C)



(D)(B)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1809425400

Der Kollege Martin Burkert spricht jetzt für die SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Martin Burkert (SPD):
Rede ID: ID1809425500

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-

nen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich glaube, wir sind uns hier im Haus einig, dass
wir die Züge schneller aufs Gleis bringen müssen – da
gibt es Konsens –, weil wir es uns schlichtweg nicht
mehr leisten können, dass Züge direkt von der Fabrik
aufs Abstellgleis fahren. Deswegen ist es gut, dass wir
heute hier die erste Lesung dieses Gesetzentwurfs haben.

Von der Bestellung bis zur Auslieferung eines Zuges
vergingen in Deutschland in der Vergangenheit vier
Jahre; zwei Jahre davon dauerte allein der Zulassungs-
prozess. Wenn sie ins Ausland gingen, dann waren diese
Zeiten noch länger. Das müssen wir ändern, weil die
langen Wartezeiten erhebliche negative Folgen für die
Fahrgäste haben – das haben wir schon gehört –, aber
auch die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes negativ
beeinflussen und den Wirtschaftsstandort Deutschland
damit nicht voranbringen.

Bislang – auch das alles haben wir schon gehört – ob-
lag es allein dem Eisenbahn-Bundesamt – abgekürzt:
dem EBA –, für die neu entwickelten Züge die Zulas-
sung und Inbetriebnahmegenehmigung zu erteilen. Im
Eisenbahn-Bundesamt sitzen die Leute, die den nötigen
Sachverstand und die Erfahrung haben, um unser hohes
Sicherheitsniveau im Bahnverkehr zu gewährleisten.


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Wollen wir mal sehen, wie lange noch!)


Diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben unser
großes Lob verdient, meine lieben Kolleginnen und Kol-
legen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich muss noch eines sagen: Ob die Probleme, die es in
der Vergangenheit bei den Nahverkehrszügen gab, zum
Beispiel beim Talent 2, wie in meiner Heimatstadt Nürn-
berg, oder beim ICE 3, immer durch das Eisenbahn-
Bundesamt verursacht wurden, kann man hinterfragen.
Es liegt mir fern, heute einen Sündenbock zu suchen.
Aber Fakt ist, dass manche Kritik am Eisenbahn-
Bundesamt unangebracht war, da es auch auf der Her-
stellerseite Fehler gegeben hat.


(Kirsten Lühmann [SPD]: Genau!)


Doch dass der Zulassungsprozess dringend modernisiert
werden muss, können meine Fraktion und ich klar unter-
schreiben.

Um das Verfahren zu verkürzen, wird nun im vorlie-
genden Gesetzentwurf geregelt, dass auch externe Gut-
achter eingeschaltet werden dürfen. Mit diesem neuen
Bahn-TÜV – so nenne ich ihn einmal – sollen künftig
Dritte wie die DEKRA oder auch der TÜV selber sämtli-
che Prüfinhalte kontrollieren und die Prüfungen abneh-
men. Grundlage für diese Neuerung ist eine Vereinba-

rung zwischen Herstellern, dem Eisenbahn-Bundesamt,
dem Bundesverkehrsministerium und den Betreibern.
Dieses sogenannte Memorandum of Understanding, bei
dem alle wichtigen Akteure eingebunden waren, wird
hier mit der nötigen gesetzlichen Grundlage verankert.
Entscheidend und wichtig ist für uns und für mich, dass
das Eisenbahn-Bundesamt bei der abschließenden Ertei-
lung der Inbetriebnahmegenehmigung weiterhin den Hut
aufhat.


(Beifall bei der SPD)


Das soll im Klartext heißen: Das EBA soll sich in Zu-
kunft im Regelfall darauf konzentrieren können, festzu-
stellen, ob die durch den TÜV und andere vorgelegten
Nachweise vollständig und eindeutig sind. Ob es mit
dieser neuen Praxis tatsächlich zu einer Beschleunigung
des Zulassungsverfahrens kommt, werden wir bei der
angekündigten Evaluierung sicher feststellen können.
Aufgrund der neuen Strukturen entstehen ja auch höhere
Kosten. Erst auf lange Sicht soll es durch das erhoffte er-
hebliche Beschleunigungsverfahren zu einer Kostensen-
kung kommen.

Ich möchte an dieser Stelle aber auch auf mögliche
Risiken hinweisen. Mit dem System der Privatisierung
im Zulassungsverfahren werden wieder hoheitliche Auf-
gaben privatisiert – das ist uns klar –, mit denen grund-
sätzlich, auch beim EBA, Geld verdient werden könnte.
Das gilt auch für die Sachverständigen, die künftig die
Prüfaufgaben des EBA übernehmen werden. Dabei geht
es um geschätzte 500 Externe, die – auch das ist schon
gesagt worden – gewinnorientiert arbeiten wollen und
werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehr-
ten Damen und Herren, es muss vermieden werden, dass
wir am Ende höhere Kosten, aber keinen Mehrwert
haben. Wir wollen nicht, dass es zu Erfahrungen wie
beispielsweise in der Abfallwirtschaft kommt. Hier ma-
chen die Kommunen die Abgabe an private Dritte der-
zeit wieder rückgängig, weil sie am Ende trotzdem noch
billiger sind als die privaten Anbieter und unter dem
Strich genauso gut arbeiten.


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Aber jetzt stimmen Sie zu, und dann wird genau das eintreten! Das war klar!)


Die Verlagerung der Aufgaben auf Externe macht nur
Sinn, wenn Züge später nachweislich schneller zugelas-
sen werden.

Zur Überwachung der Sachverständigen ist eine Auf-
stockung der Stellen im BMVI und beim EBA laut
Gesetz bereits vorgesehen. Es geht um 15 zusätzliche
Personen. In Richtung der Bundesregierung sage ich:
Herr Ferlemann, ich gehe davon aus, wir sind uns einig,
dass diese 15 Stellen vom Haushaltsausschuss geneh-
migt und dann auch besetzt werden. Das ist ganz wich-
tig, weil das alles am Ende sonst nicht hinhaut.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir müssen die Schiene weiter stärken. Völlig klar:
Ein effizientes Zulassungsverfahren gehört ganz sicher





Martin Burkert


(A) (C)



(D)(B)


dazu. Das steht und fällt aber mit sachkundigem Perso-
nal. Wir müssen nachhaltig investieren. Ich wünsche
uns, dass dieses Gesetz ohne Wenn und Aber umgesetzt
wird. Ich freue mich, dass die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen das auch so sieht. Ich freue mich auf den Aus-
schuss und hoffe, dass wir zügig in die zweite und dritte
Lesung kommen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1809425600

Abschließende Rednerin zu diesem Tagesordnungs-

punkt ist die Kollegin Daniela Ludwig, CDU/CSU.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Birgit Malecha-Nissen [SPD])



Daniela Raab (CSU):
Rede ID: ID1809425700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr viel und sehr viel Richtiges ist zu diesem Thema
schon gesagt worden. Es ist berechtigterweise darauf
hingewiesen worden, dass unser Zug-TÜV, wenn ich es
mal salopp so nennen darf, schneller werden muss, effi-
zienter, besser, in Teilen mit mehr Personal ausgestattet.
Lieber Herr Burkert, da appelliere ich an Sie: Jeder
spricht mal mit seinen Haushältern und sorgt für Sensibi-
lität an dieser Stelle. Ich glaube, dann kriegen wir auch
das richtig hin; denn es ist ein berechtigtes Anliegen,
ohne Frage.

Wir tun damit Gutes für die Hersteller, weil sie künf-
tig Kosten und Aufwand sparen, wenn sie neue Züge
nicht länger monatelang sozusagen auf dem Abstellgleis
auf Halde halten müssen, bis diese endlich in Betrieb ge-
nommen werden dürfen. Wir tun etwas für die Auftrag-
geber, für die Deutsche Bahn und andere. Wir tun etwas
für die Kunden. Wir tun aber auch etwas – das kam heute
noch etwas zu kurz; ich möchte es der Vollständigkeit
halber erwähnen – für die Anwohner von Bahnstrecken,
weil sie nun schneller in den Genuss modernerer, aber
vor allem leiserer Züge kommen. Dieser Aspekt ist auch
nicht ganz von der Hand zu weisen.

Wenn wir, lieber Herr Staatssekretär, die Horrormel-
dungen der letzten Jahre Revue passieren lassen – erin-
nern wir uns, welche guten, modernen Züge nicht in
Betrieb gehen konnten, weil entweder, berechtigter-
weise, Bedenken an der Sicherheit bestanden oder aber
meistens das EBA einfach nicht schnell genug war –,
dann sollte dieses nun tatsächlich der Vergangenheit an-
gehören.

Es ist gesagt worden: Es gab einen runden Tisch mit
allen Beteiligten. Man hat sich ausgetauscht. Man hat in
einer Übergangsphase verschiedene Verfahren und
Modelle ausprobiert. Jetzt, denke ich, sind wir tatsäch-
lich so weit – ich bedanke mich ausdrücklich auch für
die Unterstützung der Grünen –, dass wir das Ganze in
Gesetzesform gießen können.

Dazu, dass wir hier Private beteiligen: Ich warne
schon davor, immer gleich Ausschlag zu bekommen,
wenn die Wörtchen „privat“ oder „gewinnorientiert“ ir-
gendwo vorkommen.


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Keine Sorge! Ich bekomme keinen Ausschlag!)


– Bei Ihnen muss ich mir die Sorge schon machen, Frau
Leidig; es tut mir leid. – Der Ansatz, zukünftig auch pri-
vate Stellen Prüfaufgaben übernehmen zu lassen, ist tat-
sächlich nur gut für das gesamte Verfahren. Wir sehen
das bei anderen Verkehrsträgern. Es war überhaupt nicht
einleuchtend, warum es auf der Schiene nicht funktio-
nieren sollte. Deswegen bin ich schon der festen Über-
zeugung, dass wir hier einen zukunftsfähigen Schritt hin
zu einem besseren, moderneren und leiseren Schienen-
verkehr tun. In diesem Sinne vielen Dank für diesen Ge-
setzentwurf.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deswegen ist mir auch nicht bange, dass wir, wenn
wir es dann beschlossen haben nach der zweiten und
dritten Lesung, gut beobachten werden, wie es läuft.
Wenn es am Anfang vielleicht das eine oder andere Pro-
blemchen gibt, ist das, denke ich, völlig normal. Aber
ich bin voll bei Ihnen, Herr Burkert: Wir werden es na-
türlich evaluieren, wir werden uns anschauen: Wo gibt es
noch die eine oder andere Stelle, die wir ein bisschen
schleifen müssen? – Aber im Großen und Ganzen bin ich
sehr zuversichtlich, dass wir – schon schlau geworden
aus den Übergangsphasen – hier ein sehr, sehr gutes
neues System im wahrsten Sinne des Wortes auf die
Gleise setzen. Ich freue mich auf die weiteren Beratun-
gen und hoffe, dass wir unser Gesetzgebungsverfahren
etwas einfacher und etwas schneller zu Ende führen kön-
nen als so manches Zulassungsverfahren für den einen
oder anderen Zug.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1809425800

Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/4202 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dazu
gibt es keine anderen Vorschläge. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.

Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 4 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Friedrich Ostendorff, Harald Ebner, Nicole
Maisch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Männliche Eintagsküken leben lassen

Drucksache 18/4328
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz





Vizepräsident Johannes Singhammer


(A) (C)



(D)(B)


Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Weil sich
kein Widerspruch erhebt, ist das auch so beschlossen.

Damit eröffne ich die Aussprache und erteile als
erstem Redner das Wort dem Kollegen Friedrich
Ostendorff, Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Schönen Dank, dass Sie den
richtigen Titel des Antrages – „Männliche Eintagsküken
leben lassen“ – genannt haben. Wir haben uns extra
Mühe damit gegeben, und jetzt ist doch wieder das Wort
„Tötung“ auf der Medienwand erschienen. Genau das
wollten wir nicht.

Schon seit vielen Jahren – immer wieder einmal –
steht das Dilemma des Tötens der männlichen Küken
von hochspezialisierten Legehennenhybriden auf der Ta-
gesordnung. Jährlich werden über 40 Millionen Tiere am
Tage des Schlupfes aus wirtschaftlichen Gründen getö-
tet.

Über die Art und Weise der Tötung möchte ich an die-
ser Stelle gar nicht sprechen. CDU-Kollege Stier und
ähnlich gelagerte Abgeordnete


(Dieter Stier [CDU/CSU]: Wie ist das denn gemeint?)


werden uns Grünen auch sicher so die moralischen Be-
denken als übertriebene Emotionalität auslegen. Herr
Stier, sparen Sie sich diese Redezeit! Wir müssen das
Problem bereden.

Bei den vernunftbegabten Kolleginnen und Kollegen
wird hingegen bekümmert genickt und beteuert, dass der
Missstand des Tötens gerade erst geschlüpften Lebens
beendet werden müsse, aber es gebe ja leider keine Al-
ternative dazu.

Die Zucht eines Zweinutzungshuhnes wird als Zeit-
vertreib für Ökos belächelt. Dabei ist dieser Weg der ein-
zig Richtige. Es ist doch absurd, zu welchen extremen
Auswüchsen die Hochleistungszucht bei den Nutztieren
in den vergangenen Jahrzehnten geführt hat, nämlich so
weit, dass mit der männlichen Hälfte der Population ei-
nes Tieres nichts anzufangen ist. Es wird Leben produ-
ziert, um es wenige Minuten nach dem Schlüpfen wieder
zu vernichten. Das ist nichts anderes als Qualzucht, und
die ist laut Tierschutzgesetz verboten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Die Methode der Wahl für die großen Geflügelhaltun-
gen ist die Früherkennung des Geschlechts im bebrüte-
ten Ei; denn dann könnte die extreme Situation der
Hochleistungszucht so bleiben, wie sie ist, aber immer-
hin wäre das sinnlose Sterben der männlichen Küken be-
endet. Das wäre doch schon mal etwas. Sie werden uns
gleich aber erklären, dass man weiter forschen, forschen,
forschen müsse, bis diese Methode praxisreif sei. Das

tun wir schon seit vielen Jahrzehnten und sind nicht rich-
tig weitergekommen.

Natürlich gibt es die Alternativen nicht, wenn der
Druck nicht spürbar, das Töten der Tiere kostengünstiger
und der Verzicht darauf sehr mühsam ist. Natürlich wer-
den keine Anstrengungen unternommen, dies abzustel-
len, wenn sowieso kein Hahn danach kräht. Umso er-
freulicher ist es, dass der gesellschaftliche Druck so
stark geworden ist, wenn es um die Behandlung und
Nutzung von Tieren geht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, hier muss es um
mehr als um Rentabilität und Stückzahlen gehen; denn
bei rein ökonomischer Betrachtung ist das Verfahren
mehr als schlüssig. Es gibt Hennen, die viele Eier legen,
und es gibt andere Rassen, die sehr schnell sehr schwer
werden. Das ist Pech für die männlichen Nachkommen
der Legehennen. Hier geht es jedoch nicht um überzähli-
ges Material wie beim Zuschnitt von Autoblechen, son-
dern es geht um Lebewesen. Wir Grünen sind nicht
länger bereit, uns diese ewigen Hinhaltereden weiter an-
zuhören.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Minister Schmidt gibt gerne den wertkonservativen,
ethisch geprägten Christenmenschen. Er kündigt große
Taten an, die dann dem Vergessen anheimgegeben wer-
den. So hat er auch für Ostern 2015 einen Plan zum Be-
enden des Kükenschredderns angekündigt.


(Artur Auernhammer [CDU/CSU]: Ostern ist ja noch nicht!)


Nehmen wir einmal bestenfalls an, ein solcher Plan
käme tatsächlich an die Öffentlichkeit. Wer glaubt denn
nach dem ersten Jahr mit dem Minister noch, dass er ir-
gendetwas Substanzielles abliefert, das über Absichtsbe-
kundungen für den Sankt-Nimmerleins-Tag hinausgeht?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Artur Auernhammer [CDU/CSU]: Warten wir bis Ostern!)


Seit vielen Jahren führen wir diese Diskussion nun
schon. Egal welche Argumente und Ausflüchte wir
gleich wieder hören werden: Jede Markteinführung, jede
Innovation, geht so schnell vonstatten, wie die Umstände
es notwendig machen.

Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund
Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.

Kollege Stier, das steht in § 1 des Tierschutzgesetzes und
sei für Sie und für alle, die mit diesem Text nicht so ver-
traut sind, noch einmal gesagt. Wir sind gerne bereit, die
Diskussion darüber zu führen, ob die Wirtschaftlichkeit
eines Verfahrens einen vernünftigen Grund darstellt oder
nicht. Aber, meine Damen und Herren, diesen Grund
gibt es nicht. Von daher ist die Entscheidung klar.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)






Friedrich Ostendorff


(A) (C)



(D)(B)


Unsere Forderung: Es ist an der Zeit. Forschung ist
lange genug betrieben worden. Nehmen Sie Ihre Verant-
wortung wahr! Handeln Sie endlich!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1809425900

Für die CDU/CSU hat jetzt das Wort der Kollege

Dieter Stier.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dieter Stier (CDU):
Rede ID: ID1809426000

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine Damen und Herren! Mit dem Antrag
von Bündnis 90/Die Grünen „Männliche Eintagsküken
leben lassen“ behandeln wir heute ein sehr sensibles
Thema, welches nachvollziehbarerweise viele Menschen
in unserem Land berührt. Gleichzeitig, lieber Kollege
Ostendorff, ist uns aber auch bewusst, dass sich dieses
Thema – das zeigt mir auch der Beginn Ihrer Rede – her-
vorragend dafür eignet, in bekannter Weise von Ihnen,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der antragstellen-
den Fraktion, für eine wiederholte Ideologisierung der
Agrarbranche missbraucht zu werden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Darin, dass wir bei dem von Ihnen angesprochenen
Thema vor einer Herausforderung stehen, sind wir uns
mit Ihnen sehr wohl einig. Allein der vorgeschlagene
Weg der Lösung unterscheidet uns, wie immer, vonein-
ander.

Deutschlands Brütereien stehen in ihrem alltäglichen
Geschäft vor demselben Problem: Auf 100 befruchtete
Eier kommen rund 50 weibliche und 50 männliche Kü-
ken, und das ist durch uns nicht veränderbar. Die männli-
chen Vertreter der Legerassen verfügen aber über einen
sehr geringen Fleischansatz. Dies veranlasst die Betriebe
vor dem Hintergrund der Praktikabilität und der Wirt-
schaftlichkeit, ihren Bestand nach der Geschlechterfest-
stellung zu verringern.


(Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den Bestand zu verringern, heißt, sie alle zu töten! Das ist doch ein Euphemismus!)


Dieses Vorgehen weckt bei jedem tierschutzverbun-
denen Halter, bei jedem Produzenten, bei jedem in der
Gesellschaft und selbstverständlich auch bei uns Politi-
kern nicht unbedingt großes Wohlbehagen. Und ja,
meine Damen und Herren, ich meine, es passt auch nicht
mehr in unsere heutige Zeit.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Aber für Veränderungen brauchen wir realistische Lö-
sungen, die es weiterhin erlauben, in gewohnter Qualität
für ganz Deutschland produzieren zu können, ohne dabei
die Betriebe ins wirtschaftliche Aus zu drängen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ihr Antrag, liebe Oppositionspartei, ist, mit Verlaub,
sowohl für die Beschreibung der gegenwärtigen Situa-
tion als auch für das Aufzeigen echter Lösungen untaug-
lich.


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt’s!)


Mit Ihrer Wortwahl appellieren Sie erneut an die Ge-
fühle. Sie schüren Horrorvorstellungen, die die All-
tagspraxis völlig verkennen.


(Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie das überhaupt gelesen? Das hat doch mit dem Antrag nichts zu tun!)


Sie reden einzig über Verbote, nicht aber zum Beispiel
über vorgeschriebene Betäubungsdosierungen. Sie sind
auch nicht bereit, über die Auslegung des in unserem
Tierschutzgesetz vorgesehenen „vernünftigen“ Grundes
für Ausnahmen – das haben Sie gerade gesagt – von der
Generalklausel des Verbots von Schmerzen, Leiden oder
Schäden für ein Tier zu diskutieren.

In Nordrhein-Westfalen versucht Ihr Minister
Remmel, das Problem mit der Brechstange zu lösen, was
aus unserer Sicht aber nicht zum Erfolg führen wird. Das
hat ihm auch das Verwaltungsgericht Minden mit Urteil
vom 30. Januar 2015 ins Stammbuch geschrieben, indem
es diese Ordnungsverfügung für rechtswidrig erklärt hat.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1809426100

Herr Kollege Stier, erlauben Sie eine Zwischenfrage

der Kollegin Maisch?


Dieter Stier (CDU):
Rede ID: ID1809426200

Aber selbstverständlich.


Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809426300

Vielen Dank, Herr Kollege Stier, dass Sie meine

Frage zulassen. – Sie haben ja gesagt, die beiden Lö-
sungsansätze, die wir in unserem Antrag vorgeschlagen
haben, also das Geschlecht bereits im Ei zu erkennen
und ein Zweinutzungshuhn zu züchten, seien untauglich.

Es gibt eine schwarz-grüne Landesregierung in Hes-
sen. Sie hat den Weg der Geschlechtserkennung im Ei
als Königsweg bezeichnet. Jetzt möchte ich Sie fragen:
Finden Sie, dass auch die schwarz-grüne Landesregie-
rung eine untaugliche Agrarpolitik im Bereich der Kü-
ken macht?


Dieter Stier (CDU):
Rede ID: ID1809426400

Liebe Kollegin Maisch, lassen Sie mich noch etwas

weiterreden. Ich komme dann auf genau diese beiden
Methoden zu sprechen. Ich habe nicht gesagt, dass ich
diese als untauglich empfinde, sondern ich habe Ihren
ersten Vorschlag, das regelmäßige Verbot, das Sie for-
dern, für untauglich erklärt.


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war schon ideologisch gekennzeichnet!)


Jetzt möchte ich Ihnen das gerne weiter erklären.





Dieter Stier


(A) (C)



(D)(B)


Ein vorschnelles Verbot, meine Damen und Herren,
hätte nichts weiter als den planmäßigen Entzug von
Wirtschaftlichkeit in den Betrieben bis zur letztendli-
chen Schließung zur Folge. Ich sage Ihnen auch: Das
Problem würde nicht bereinigt, sondern nur ins Ausland
verschoben. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion setzt
deshalb – jetzt komme ich dazu – auch auf die Weiter-
entwicklung von Methoden zur frühzeitigen Ge-
schlechtsbestimmung im befruchteten Ei als Strategie
zur Vermeidung der bisherigen Praxis.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1809426500

Herr Kollege Stier, gestatten Sie eine weitere Zwi-

schenfrage, diesmal des Kollegen Ebner?


Dieter Stier (CDU):
Rede ID: ID1809426600

Aber sicher lasse ich auch noch die Frage des Kolle-

gen Ebner zu.


Harald Ebner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809426700

Das Mikro möchte nicht.


Dieter Stier (CDU):
Rede ID: ID1809426800

Das hat seinen Grund.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Es ist impotent!)



Harald Ebner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809426900

Herr Kollege Stier, Sie hatten gesagt, Minister

Remmel in Nordrhein-Westfalen wollte das mit der
Brechstange machen und sei deshalb dann auch vom Ge-
richt zurückgepfiffen worden. Meine Frage ist, ob Sie
bereit wären, zur Kenntnis zu nehmen, dass das Gericht
lediglich festgestellt hat, dass für diese Verfügung eine
spezielle Ermächtigungsgrundlage gefehlt hat. Das Ge-
richt hat also gar nicht festgestellt, dass insgesamt mit
der Brechstange vorgegangen worden ist, sondern nur,
dass eine spezielle Ermächtigungsgrundlage gefehlt hat,
die das Bundesministerium für Ernährung und Landwirt-
schaft schaffen müsste. Damit ist der Ball wieder bei Ih-
nen. Wären Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen?


Dieter Stier (CDU):
Rede ID: ID1809427000

Ich nehme das gerne zur Kenntnis. Das hätten Sie

gern, dass der Ball bei uns ist. Selbstverständlich fehlt
die spezialgesetzliche Ermächtigungsgrundlage für die-
ses Ansinnen, das Sie verfolgen. Das ist aber noch nicht
das Ansinnen, mit dem man eine Lösung herbeiführen
könnte. Deshalb erachte ich den Beschluss des Gerichtes
als außerordentlich vernünftig.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir waren bei der Geschlechtsbestimmung im be-
fruchteten Ei. Vielleicht kann ich ja auch einen Satz
noch zu Ende führen. Ich will ausdrücklich unserem
Minister Christian Schmidt und auch Ihnen, liebe Frau
Staatssekretärin, danken, dass Sie sich des Themas in be-
sonderer Weise annehmen. Die Koalition stellt nämlich
zum Beispiel über das BMEL Mittel im Umfang von
mehr als 2 Millionen Euro bis 2015 für gezielte Ver-

bundforschungsprojekte der Universität Leipzig zur Ver-
fügung. Nach unseren Erkenntnissen soll in absehbarer
Zeit eine entsprechende Technologie zur Verfügung ste-
hen.

Ich will auch auf die Bruderhahn Initiative Deutsch-
land e. V. hinweisen. Auch die Züchtung wird – darin
sind wir gar nicht so weit auseinander – ihren Beitrag
auf dem Weg zu Zweinutzungsrassen leisten.


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da sind wir uns einig!)


Wie Sie sehen, haben wir wesentliche Forderungen Ihres
Antrages bereits erfüllt.


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erfüllt ja nicht!)


Allerdings müssen hierfür noch flächendeckend an-
wendbare Verfahren entwickelt werden, die eine Fest-
stellung des Geschlechts vor dem Einsetzen des
Schmerzempfindungsvermögens des Hühnerembryos er-
möglichen. Da man nach dem derzeitigen wissenschaft-
lichen Kenntnisstand vor dem zehnten Bebrütungstag
keine Schmerzempfindlichkeit des Hühnerembryos an-
nimmt, sind also Forschungsergebnisse abzuwarten, die
ein Verfahren zur Geschlechtsbestimmung vor diesem
zehnten Bebrütungstag ermöglichen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind also sehr
wohl bereits auf einem Weg, die von Ihnen beschriebene
Thematik einer Lösung zuzuführen. Deshalb ist für mich
der vorliegende Antrag entbehrlich.

Ich will zum Schluss eine Aussage Ihrer grünen Par-
teikollegin und hessischen Landwirtschaftsministerin
Priska Hinz aus einem Interview mit Agra-Europe zitie-
ren: „Immer mehr Menschen haben die Nase voll von ei-
ner ständigen Schwarz-Weiß-Malerei.“ Das hat sie rich-
tig erkannt. Sie sollten auch im Bund auf Ihre eigene
Kollegin hören. Ich lade Sie jedenfalls zur Mitwirkung
bei der Lösung der vorliegenden Problematik mit der ge-
botenen Sachlichkeit ein.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1809427100

Für die SPD, Entschuldigung, für die Fraktion Die

Linke spricht jetzt die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann.
Sie haben das Wort.


(Beifall bei der LINKEN – Matthias Ilgen [SPD]: Endlich zur Vernunft gekommen!)



Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809427200

Auf die Koalition warte ich noch, bei der ich für euch

mitreden kann.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Gäste! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Dass jährlich allein in Deutsch-
land über 45 Millionen Eintagsküken getötet werden, ist
bekannt. Sie werden getötet, weil sie genetisch für eine





Dr. Kirsten Tackmann


(A) (C)



(D)(B)


hohe Eierleistung gezüchtet werden, aber als Hähnchen
diese Leistung nicht erbringen können.

Diese männlichen Eintagsküken haben doppeltes
Pech. Denn da sie aus einer Legelinie stammen, haben
sie eine so geringe Fleischleistung, dass sie mit ihren
Brüdern und Schwestern aus den Mastlinien nicht mit-
halten können. Keine Eier und zu wenig Fleisch: Das ist
bisher ihr Todesurteil.

Nun steht im Tierschutzgesetz eindeutig – das wurde
schon gesagt –, dass Wirbeltiere nicht ohne einen ver-
nünftigen Grund getötet werden dürfen. Das ist natürlich
eine sehr unbestimmte Formulierung. Aber fehlende
Profitabilität kann ganz sicher kein vernünftiger Grund
sein, Tiere zu töten.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb hat Nordrhein-Westfalen das Töten von Ein-
tagsküken verboten. Aber dieses Verbot wurde vom Ver-
waltungsgericht einkassiert; davon war gerade die Rede.
Dasselbe Gericht fordert aber eine umsetzbare Alterna-
tive zum Töten. Die Frage an uns lautet also nach meiner
Überzeugung: Was muss getan werden, damit wir das
Töten der Küken rechtssicher verbieten können?


(Beifall der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE])


Ich denke, dass die Antwort zügig gegeben werden
muss; denn schon 2001 standen ethische Bedenken ge-
gen diese Praxis im Tierschutzbericht der damaligen rot-
grünen Bundesregierung. Es muss endlich etwas getan
werden. Bisher hat sich zu wenig Greifbares ergeben,
weil – das ist durchaus eine These, die wichtig ist – zu
viele von diesem System profitieren. Deswegen brau-
chen wir heute ganz klar die Botschaft: Die Zeit der Dul-
dung ist vorbei. Wir wollen als Gesetzgeber endlich Lö-
sungen auf dem Tisch haben.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Man kann zwar bei Hühnern leider das Geschlecht
nicht beeinflussen, wie es bei Kühen gängige Praxis ist.
Vielleicht können bald deutlich vor dem Schlupf die Eier
identifiziert werden, aus denen männliche Küken
schlüpfen würden. Aber das ist aus unserer Sicht nur
eine sehr begrenzte Lösung. Wir sind für eine grundsätz-
liche Lösung. Entweder schafft man eine Möglichkeit,
die männlichen Küken aus den Legelinien zu mästen und
zu vermarkten, oder wir halten wieder Hühner, die so-
wohl eine gute Legeleistung als auch eine gute Mastleis-
tung erbringen, also sogenannte Zweinutzungshühner.
Dazu gibt es bereits Projekte. Selbst die Geflügelzüch-
terbranche ist unterdessen bereit, hier Angebote zu ma-
chen. Aber bisher ist das eine Nische für Idealisten, weil
die hohen Erzeugungskosten die Vermarktung erschwe-
ren, erst recht unter dem Preisdiktat des Lebensmittel-
einzelhandels. Die Erfahrungen, die dort gesammelt
werden, sind sicherlich sehr wichtig. Wenn das aber
keine Nische bleiben soll, müssen wir anders ansetzen.
Die Züchtung muss sicherlich vorangebracht werden.
Aber am Ende muss das eigentliche Problem gelöst wer-

den. Wer Küken retten will, muss faire Marktregeln ein-
führen; denn die Erzeugungskosten steigen natürlich,
wenn pro Tier weniger Eier und weniger Fleisch mit ei-
nem höheren Futteraufwand produziert werden. Deswe-
gen müssen dann höhere Erzeugerpreise gezahlt werden.
Das heißt aber gerade für mich als Linke nicht zwangs-
läufig, dass auch die Lebensmittel teurer werden müs-
sen. Denn aus unserer Sicht würde das Geld dann wieder
in den falschen Taschen landen. Wer faire Erzeuger-
preise und bezahlbare Lebensmittel will, muss die
Marktmacht der Lebensmittelkonzerne und der Super-
marktketten beschränken und sie zwingen, an einer Lö-
sung mitzuarbeiten.


(Beifall bei der LINKEN)


In den Niederlanden geht das sogar freiwillig. Dort
bietet eine Supermarktkette zum Beispiel nur fair gehan-
delte Bananen an und verzichtet auf Gewinn, damit der
Preisabstand zu den herkömmlichen Bananen nicht zu
groß wird. Auf den Hühnerbereich übertragen hieße das:
Eier und Fleisch von Zweinutzungshühnern werden
beim Erzeuger fair bezahlt und im Supermarkt durch Ge-
winnverzicht bezahlbar angeboten. Es geht also. Jetzt
muss man nur noch handeln.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1809427300

So, Frau Kollegin Jantz, jetzt haben Sie das Wort für

die SPD.


(Beifall bei der SPD)



Christina Jantz (SPD):
Rede ID: ID1809427400

Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Woran denken Sie, wenn Sie das Wort „Homogenisator“
hören? Dieses Wort hat etwas Klinisches. „Homogeni-
sieren“ bedeutet im weitesten Sinne ein Gleichmachen
oder ein Vermischen von zerkleinerten Bestandteilen.
Der Homogenisator ist eine Maschine, die durch rotie-
rende Messer oder Walzen tagtäglich männliche Eintags-
küken tötet. Ich danke den Grünen für das Signal, ge-
meinsam mit uns dieses Thema anzugehen. Nicht nur im
Sinne des Tierschutzes ist das massenhafte, sinnlose Tö-
ten männlicher Küken nicht mehr hinnehmbar. Vielmehr
sollte eine moderne Gesellschaft grundsätzlich auf sol-
che Praktiken verzichten und zumindest den Ausstieg
daraus ganz massiv vorantreiben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich möchte einmal grundsätzlich die Dimension des
Problems klarmachen. Wir kennen die genaue Zahl der
getöteten Küken nicht; denn darüber gibt es gar keine
konkreten Statistiken. Hochgerechnet, nimmt man eine
50-zu-50-Verteilung weiblicher und männlicher Küken
an, können wir davon ausgehen, dass pro Jahr mindes-





Christina Jantz


(A) (C)



(D)(B)


tens 45 Millionen männlicher Eintagsküken geschred-
dert oder vergast werden.


(Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unglaublich!)


Da drängt sich natürlich die Frage nach dem Warum
auf. Die Zucht von Legehennen ist einzig auf die maxi-
male Eierproduktion ausgerichtet. In einem solchen Sys-
tem werden die männlichen Küken als überflüssig be-
trachtet. Sie sind der Überschuss einer im industriellen
Maßstab produzierenden Branche. Obendrein setzen die
männlichen Tiere dieser Hybridrasse im Vergleich zu
normalen Hühnern kaum Fleisch an. Dafür werden wie-
derum extra Masthähnchen gezüchtet.

Nur um die Dimension zu verdeutlichen: Den gut
45 Millionen Legehennen stehen mehr als 600 Millionen
sogenannte Broiler oder, besser gesagt, Brathähnchen
gegenüber. Das sind gewaltige Zahlen. Sie werfen nicht
nur, finde ich, ein schlechtes Licht auf die Produzenten,
sondern auch auf das Konsumverhalten. Wir konsumie-
ren inzwischen zu viel Fleisch und vergessen dabei, was
es bedeutet, ein Lebewesen zu essen. Wir müssen die
Menschen stärker sensibilisieren bei ihrer Entscheidung
beim Eierkauf, an der Fleischtheke, am Grillhähnchen-
stand vor dem Supermarkt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Denn insbesondere ein Umdenken beim Einkauf wird
dazu beitragen, das Leben der Tiere zu verbessern.

Deshalb kann, wie es so schön heißt, die Einführung
der Möglichkeiten der In-Ovo-Geschlechtsbestimmung
beim Haushuhn nur ein erster Schritt auf einem langen
Weg sein. Leider ist derzeit noch keine praxisreife Tech-
nologie verfügbar, die sich für den flächendeckenden
Einsatz zum Nachweis des Geschlechts des Embryos im
befruchteten Hühnerei eignet. Die Erkennung muss
– das ist angesprochen worden – vor dem zehnten Be-
brütungstag erfolgen, da die Embryonen nur bis dahin
noch kein Schmerzempfinden haben; so der bisherige
wissenschaftliche Kenntnisstand.

Daher befördert die Bundesregierung nach wie vor
mit hoher Priorität das noch nicht abgeschlossene Ver-
bundforschungsprojekt der Universität Leipzig zur Im-
Ei-Geschlechtsbestimmung. Eine entsprechende Tech-
nologie wird voraussichtlich in absehbarer Zeit zur Ver-
fügung stehen, die sich dann auch für einen breiten Ein-
satz eignen wird.

Doch dies kann nach meiner Meinung nur der Ein-
stieg sein. Wir müssen dazu kommen, dass keine Küken
mehr getötet werden müssen; denn, wie schon richtig ge-
sagt wurde, nach § 1 Satz 2 des Tierschutzgesetzes be-
darf es eines vernünftigen Grundes für das Töten von
Tieren. Dies gilt auch für das Töten von männlichen Kü-
ken von Legelinien. Nach § 15 Absatz 1 Satz 1 des Tier-
schutzgesetzes obliegt die Durchführung des Tierschutz-
gesetzes und der aufgrund des Gesetzes erlassenen
Rechtsverordnungen den nach Landesrecht zuständigen
Behörden. Daher ist im Falle des Tötens von Tieren in

jedem Einzelfall vor Ort von den zuständigen Behörden
zu entscheiden, ob ein vernünftiger Grund für das Töten
vorliegt. Die Tötung männlicher Küken darf dabei nur
das allerletzte Mittel sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen allerdings auch praxisgerechte, reali-
sierbare Lösungen. Ein generelles Tötungsverbot würde
zu einer Verlagerung der Tierschutzproblematik in an-
dere Länder führen. Ich sehe insbesondere auch die
Wirtschaft in der Verantwortung, sich dieser Problematik
intensiv anzunehmen und ihren Beitrag zur Entwicklung
von Alternativen zur Tötung männlicher Küken zu leis-
ten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In meinen Augen ist zum Beispiel das Zweinutzungs-
huhn die Alternative zum Status quo. Zweinutzung be-
deutet, dass das Huhn sowohl zum Eierlegen als auch
zum Fleischverzehr genutzt werden kann. Derzeit wer-
den beispielsweise am Institut für Tierernährung des
Friedrich-Loeffler-Instituts Fütterungsversuche mit dem
Zweinutzungshuhn „Lohmann Dual“ – so heißen diese
Rassen tatsächlich – durchgeführt. Platt formuliert: Es
wird daran geforscht, wie Hähnchen besser Fleisch an-
setzen können.

Ich finde, Stigmatisierungen und Verbote helfen uns
nicht weiter. Wir müssen zu praxisnahen, tierschutzge-
rechten und verbindlichen Regelungen kommen


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig! So lautet der Antrag!)


und aktiv den Dialog mit allen Beteiligten fortschreiben.
Im Sinne des Tierschutzes lade ich die Grünen ein, die-
sen Weg mit uns gemeinsam zu gehen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1809427500

Vielen Dank. – Abschließender Redner zu diesem Ta-

gesordnungspunkt ist der Kollege Artur Auernhammer
für die CDU/CSU.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Artur Auernhammer (CSU):
Rede ID: ID1809427600

Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da-

men und Herren! Als die Änderung der Tagesordnung
bekannt geworden ist – in diesem Zusatzpunkt geht es
um das Leben der männlichen Küken –, hat sich der eine
oder andere Kollege, der nicht vom Fach ist, gefragt:
Was ist denn das für ein Thema? Die breite Debatte
heute – darin ist schon viel Richtiges gesagt worden –
hat gezeigt: Es geht darum, dass in zehn Jahren über 400
Millionen Küken getötet worden sind. Das ist eigentlich
das Thema. Das sollte uns auch bewegen. Ich bin dank-
bar für die offene und ehrliche Debatte hier. Aber den





Artur Auernhammer


(A) (C)



(D)(B)


Lösungsweg, den Königsweg, haben wir noch nicht ge-
funden. Daran müssen wir noch arbeiten.

Die Zucht von Zweinutzungstieren – das ist angespro-
chen worden – ist außerordentlich zu begrüßen. Wir ken-
nen das von der Rinderhaltung. Wir kennen das auch von
anderen Zuchtbereichen. Die Zweinutzungszucht ist
weiter nach vorn zu bringen und wird mit Sicherheit ei-
nen großen Beitrag leisten. Ich bitte in erster Linie die
gesamte Ökobranche, in diese Richtung zu züchten, in
diese Produktion einzusteigen; denn sie als Vorreiter die-
ser Lösung sollte mit gutem Beispiel vorangehen.


(Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Heißt das: Die anderen sind nicht so arg verpflichtet?)


Es ist auch schon die Möglichkeit der Geschlechtsbe-
stimmung bereits im Ei angesprochen worden. Wir sind
dabei auf dem Weg. Ich gehe auch davon aus, dass der
Herr Bundesminister noch vor Ostern etwas ankündigen
wird, Herr Kollege Ostendorff.


(Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ankündigen? – Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Frage ist, ob was passiert!)


– Wenn ein CSU-Minister etwas ankündigt, dann kommt
auch etwas Vernünftiges dabei heraus.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Was zu beweisen wäre! – Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Da sind wir nicht so sicher! Allein, mir fehlt der Glaube!)


– Ein gewisser parteipolitischer Touch sei auch in dieser
wichtigen Diskussion erlaubt.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte
hier auch die Rolle der Verbraucher ansprechen und an
die Verbraucher appellieren. Warum sind wir denn so
weit gekommen? Die Eier können nicht billig genug
sein. Das Brathähnchen kann nicht billig genug sein.
Wer im Supermarkt zehn Eier kauft und dafür gerade
mal 1 Euro bezahlt, der hat für mich keinerlei Berechti-
gung mehr, über tote Küken zu diskutieren. Es muss ein
Mehr an Erlös für die Erzeuger da sein, damit die Zwei-
nutzungszucht auch wirtschaftlich darstellbar ist.


(Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig! So ist es!)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir
diese innovativen Vorschläge der Grünen umsetzen wol-
len, stellt sich die Frage: Wozu wird es führen, wenn wir
zu schnell an die Thematik herangehen? Ich erinnere an
die Erfahrung, die wir bereits bei der Legehennenhal-
tungsverordnung gemacht haben: Die Hühner sitzen
nicht mehr in deutschen Käfigen, sondern in irgendwel-
chen ausländischen Käfigen, und die Eier sind trotzdem
im deutschen Supermarkt.


(Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sind sie nicht!)


Wir brauchen eine Lösung, die die Produktion im Land
hält, die unsere Eierproduzenten und unsere Geflügel-
fleischproduzenten im Land stärkt. Sie sollen mit dieser
Produktion auch ihr Geld verdienen dürfen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich möchte auch noch das Flüssigei erwähnen. Dies
wird in Lebensmitteln verarbeitet; das sieht der Verbrau-
cher gar nicht mehr. Woher dieses Flüssigei kommt, ist
manchmal sehr zu hinterfragen. Deshalb warne ich vor
nationalen Alleingängen. Das ist das Lieblingsthema un-
serer Verbotspartei hier. Ich warne vor solchen nationa-
len Alleingängen. Wir brauchen eine gemeinsame Lö-
sung, einen europäischen Ansatz. Wenn Sie als Grüne
dabei den Vorreiter machen wollen, dann machen Sie
das gern. Bitte! Ich unterstütze Sie.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1809427700

Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4328 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Weil ich keinerlei
Widerspruch sehe, gehe ich davon aus, dass Sie damit
einverstanden sind. Damit ist die Überweisung auch so
beschlossen.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 13 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes
zur Änderung des Bundesfernstraßengesetzes

Drucksache 18/4281
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache ebenfalls 25 Minuten vorgesehen. –
Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist auch dieses so
beschlossen.

Damit kann ich die Aussprache eröffnen. Erster Red-
ner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege
Patrick Schnieder, CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Patrick Schnieder (CDU):
Rede ID: ID1809427800

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ein Kernkenn-
zeichen der Verkehrspolitik der Unionsfraktion lässt sich
mit der Umschreibung zusammenfassen: Wir wollen
Mobilität ermöglichen. Da, wo Verkehr stockt, wo es
Hindernisse gibt, wollen wir alle Maßnahmen ergreifen,
um diese Hindernisse zu beseitigen, damit Mobilität
möglich wird. Dem soll das Gesetz, über das wir hier be-
raten, dienen, und zwar bezieht es sich auf einige Aus-
nahmefälle. Der Gesetzentwurf enthält zunächst einmal
die Rheinbrücke bei Leverkusen im Zuge der A 1. Der
Bundesrat hat angeregt, dass wir auch die Rader Hoch-





Patrick Schnieder


(A) (C)



(D)(B)


brücke bei der A 7 einbeziehen. Wir werden in der Ko-
alition und im Ausschuss sicherlich noch über einen
Änderungsantrag dahingehend beraten, ob wir nicht zu-
sätzlich auch die Brücke im Zuge der A 40 bei Duisburg
und möglicherweise auch die Neckartalbrücke im Zuge
der A 6 aufnehmen.

Wir wollen den Rechtsweg beim Bundesverwaltungs-
gericht konzentrieren. Das Bundesverwaltungsgericht
soll erste und letzte, also einzige, Instanz bei der Über-
prüfung von Planfeststellungsbeschlüssen sein. Hinter-
grund ist, dass wir das Verfahren beschleunigen wollen.
Damit haben wir gute Erfahrungen gemacht bei den Ver-
kehrsprojekten Deutsche Einheit. Bei den genannten
Projekten gibt es eine große Eilbedürftigkeit; sie müssen
schnell umgesetzt werden. Dort sind Ersatzneubauten er-
forderlich. Da haben wir nicht viel Zeit zu verlieren.
Ganz im Gegenteil: Die Zeit drängt sehr. Deshalb müs-
sen wir jeden Versuch unternehmen, um dort zu einer
Beschleunigung zu kommen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Gustav Herzog [SPD])


Das Bundesverwaltungsgericht ist Rechtsmittelge-
richt. Deshalb können wir auch keine allgemeine gesetz-
liche Regelung dahin gehend erlassen, dass wir das für
eine Vielzahl von Projekten machen wollen. Wenn wir
das Bundesverwaltungsgericht hier als erstinstanzliches
und sogar einziginstanzliches Gericht einsetzen wollen,
dann geht das nur in begründeten Ausnahmefällen.
Diese liegen hier meines Erachtens aufgrund der hohen
Eilbedürftigkeit, die gegeben ist, vor.

Am Beispiel der Rheinbrücke im Zuge der A 1 bei
Leverkusen kann man das, glaube ich, sehr deutlich se-
hen. Wir haben eine hohe Verkehrsbelastung. Die Brü-
cke ist heute schon für den Schwerlastverkehr gesperrt,
das heißt nicht nur für die 40-Tonner, sondern auch für
alle Fahrzeuge mit mehr als 3,5 Tonnen. Es ist also auch
der Handwerksbetrieb betroffen, der Umwege in Kauf
nehmen muss. Wir können tagtäglich Staus und Ver-
kehrsbehinderungen erleben. Der volkswirtschaftliche
Schaden ist also hoch, und auch Schaden einzelner Un-
ternehmen ist gegeben. Deshalb muss schnell gehandelt
werden. Bei den anderen Vorhaben, die ich genannt
habe, ist das genauso. Insofern ist hier dieser Ausnahme-
tatbestand gegeben, sodass diesbezüglich auch keine
verfassungsrechtlichen Probleme bestehen.

Ich will aber betonen, dass das natürlich nur ein Bau-
stein ist bei der Aufgabe, die mit diesen Sonderfällen auf
uns zukommt. Deshalb bin ich dem Bundesverkehrsmi-
nister sehr dankbar, dass wir nicht nur die Mittel für Brü-
ckenertüchtigung und Brückenneubau im Verkehrsetat
deutlich erhöht und auf über 1 Milliarde Euro verdoppelt
haben – das wird auch in den nächsten Jahren erforder-
lich sein –, sondern dass wir auch ein Sonderprogramm
Brückenmodernisierung aufgelegt haben, um bei den
Brücken, die in die Jahre gekommen sind und bei denen
Sanierungs- oder Neubaubedarf besteht, handeln zu kön-
nen. Und auch das wird letztlich nicht ausreichen.

Alle müssen an einem Strang ziehen. Wir müssen
auch an die Länder appellieren, die letztlich für das Bau-

recht zuständig sind, dass dort keine Hindernisse in den
Weg gelegt werden, sondern dass man die Verfahren
möglichst schnell und zielgerichtet durchführt. Was
sonst passiert, sehen wir heute beispielhaft an der
Schiersteiner Brücke. Dort hat der Bund frühzeitig seine
Hausaufgaben gemacht; er hat erkannt, dass die Brücke
neu gebaut werden muss. Auch Hessen hat seine Haus-
aufgaben gemacht. Nur in Rheinland-Pfalz hat man viel
zu lange darüber gestritten, ob man diese sechsspurig
oder mit einer anderen Breite weiterführt.


(Sören Bartol [SPD]: Da hat sicherlich die CDU wieder chaotisiert!)


Daran sieht man beispielhaft, dass alle an einem
Strang ziehen müssen, um solche Vorhaben vernünftig
zum Ende führen und damit die Bedürfnisse der Men-
schen und der Wirtschaft bedienen zu können.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich verstehe die Aufregung von Ihrer Seite, weil dort
beispielhaft gezeigt wird, wie ideologische Kämpfe und
das Verzögern aus politischen Gründen zu einem Riesen-
schaden in einer Region führen. Das kann man in und
um Mainz tagtäglich besichtigen.

Deshalb bitte ich darum, dass wir das, was im Gesetz-
entwurf steht und was wir mit den Änderungsanträgen
noch einbringen werden, im Ausschuss intensiv disku-
tieren, damit wir hier schnell zu vernünftigen Lösungen
kommen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1809427900

Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt der Kollege

Matthias Birkwald.


(Beifall bei der LINKEN)



Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809428000

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und

Herren! Als Kölner Bundestagsabgeordneter der Linken
weiß ich aus eigener Erfahrung: Die Leverkusener Brü-
cke, Baujahr 1965, ist zwar vier Jahre jünger als ich;
aber sie ist völlig marode, und darum muss sie dringend
neu gebaut werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Vor kurzem konnte ich mich noch freuen, wenn ich,
vom Bergischen Land kommend, den Kölner Dom sah.
Da dachte ich: Gleich bist du zu Hause. Heute denke ich
stattdessen: Jetzt musst du bremsen. Denn hier beginnt
der durch die Teilsperrungen der maroden Brücke verur-
sachte Rückstau.

Der Kölner Stadt-Anzeiger listete am vergangenen
Montag zwischen Emmerich und Bonn sage und
schreibe 13 marode Rheinbrücken auf und kommentierte
– Zitat –:

An manchen Tagen reicht die Lkw-Wand auf dem
rechten Fahrstreifen … bis weit hinter Burscheid
zurück.





Matthias W. Birkwald


(A) (C)



(D)(B)


13 von 28 Rheinbrücken marode – unglaublich! Deshalb
sagt die Linke: Ja, die Leverkusener Brücke muss
schnell saniert werden.


(Beifall bei der LINKEN – Gustav Herzog [SPD]: Wahnsinn! Unglaublich! – Sören Bartol [SPD]: Die Linke sagt einmal Ja! Das geht nicht!)


Meine Damen und Herren, bereits 2012 attestierten
Fachleute der Brücke, sie sei in einem kritischen Bau-
werkszustand. Seitdem ist nichts passiert – seit drei Jah-
ren. Jetzt wollen Sie mit Ihrem Gesetzentwurf die Klage-
möglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger auf eine
einzige Instanz verkürzen, um die Sanierung zu be-
schleunigen. Erst nichts tun und dann die Rechte der
Bürgerinnen und Bürger einschränken?


(Sören Bartol [SPD]: Quatsch!)


So, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und
Union, geht das nicht.


(Beifall bei der LINKEN – Karl Holmeier [CDU/ CSU]: Ein Schmarren! Ein Blödsinn!)


Die Bürgerinnen und Bürger sind doch nicht schuld
an den maroden Brücken in Köln, Duisburg oder Mainz.
Die völlig verfehlte Investitions- und Verkehrspolitik
dieser Großen Koalition, die ist schuld. Ihr Investitions-
programm von gestern kommt viel zu spät und ist immer
noch viel zu mickrig. Die Verantwortung dafür trägt
Wolfgang Schäuble, weil er als Finanzminister mit dem
Bleifuß auf der Schuldenbremse steht. Dieser Bleifuß
zwingt die Menschen, ihre Lebenszeit im Investitions-
stau rund um die Leverkusener Brücke oder in verspäte-
ten und überfüllten Nahverkehrszügen zu vergeuden.
Das muss aufhören.


(Beifall bei der LINKEN – Sören Bartol [SPD]: Ihr seid doch sonst gegen alles!)


CDU/CSU und SPD tanzen ums Goldene Kalb der
schwarzen Null. Sie verzichten auf eine Vermögen-
steuer, und dafür nehmen Sie billigend in Kauf, dass
Brücken, Schienen und Straßen verrotten. Und dann
wollen Sie auch noch demokratische Bürgerrechte be-
schneiden! Das alles geht gar nicht. Das ist eine völlig
planlose und gefährliche Politik.

Was sind die Folgen? Der Kölner IG-Metall-Chef,
Dr. Witich Roßmann, beklagt, dass Tausende Kollegin-
nen und Kollegen von Ford tagtäglich bis zu einer
Stunde länger zur Arbeit brauchen. Die FAZ vom 10. Fe-
bruar dieses Jahres beziffert die Reparatur- und Folge-
kosten durch längere Fahrzeiten und erhöhten Spritver-
brauch allein an der Leverkusener Brücke auf insgesamt
250 Millionen Euro – ohne die zusätzlichen Umweltbe-
lastungen übrigens.

Dabei sind die drei gesperrten Rheinbrücken in
Köln, Duisburg und Mainz erst der Anfang. 6 000 der
39 000 Brücken des Bundes gelten als sanierungsbe-
dürftig – 6 000! Für die kommunalen Brücken sieht das
Deutsche Institut für Urbanistik bis zum Jahr 2030 einen
Investitionsbedarf von 17 Milliarden Euro. Den gesam-
ten kommunalen Investitionsstau beziffert es übrigens

auf 118 Milliarden Euro: für Schulen, Straßen, Bäder
usw. Gemessen daran reicht das gestrige Investitionspro-
gramm des Bundes von 10 Milliarden Euro bis 2018
vorne und hinten nicht.

Für Köln heißt das: 2017 gibt es 52 Millionen Euro
zusätzlich vom Bund. Das klingt viel; aber schon die Sa-
nierung der Mülheimer Brücke kostet die Stadt mindes-
tens 65 Millionen Euro. Die ist nämlich kaputt, weil sie
als Ausweichstrecke für die marode Leverkusener Brü-
cke herhalten musste.

Meine Damen und Herren, das alles ist eine völlig
verfehlte Verkehrspolitik. Es wird immer deutlicher: Wir
brauchen nicht nur Geld für die Sanierung von kaputten
Brücken. Nein, wir brauchen auch einen Ausbau des öf-
fentlichen Personennahverkehrs. Wir müssen Schiene
und Wasserstraßen als Alternativen zum Lkw-Verkehr
ausbauen, und wir brauchen mehr Rechte für die Bürge-
rinnen und Bürger und nicht weniger.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1809428100

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat der Kollege

Gustav Herzog von der SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Gustav Herzog (SPD):
Rede ID: ID1809428200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich vermute, es steht im Arbeitsvertrag des General-
sekretärs der rheinland-pfälzischen CDU, dass er bei je-
der passenden und unpassenden Gelegenheit das Land
kritisieren muss.


(Peter Wichtel [CDU/CSU]: Mit Recht!)


Das kann ich noch verstehen. Aber es wäre gut, wenn er
sich vorher in der Sache schlaugemacht hätte, Herr Kol-
lege Schnieder. Ich will Ihnen aus einem Brief zitieren,
den die Staatssekretärin Bär meinem Kollegen Held ge-
schrieben hat, weil er darum gebeten hatte, eine weitere
Maßnahme in Rheinland-Pfalz zu finanzieren. Die Kol-
legin Bär schreibt:

Das Gesamtvolumen der Bedarfsplanmaßnahmen,
für die ein unanfechtbares Baurecht vorliegt, belief
sich vor der Entscheidung für die zugesagten Bau-
beginne im Juli dieses Jahres bundesweit auf rund
4,7 Milliarden Euro. Daher konnten nicht alle bau-
reifen Projekte für eine Baufreigabe berücksichtigt
werden.

Jetzt kommt es:

Aus diesem Grund, aber auch vor dem Hintergrund
des außerordentlich hohen Finanzvolumens der be-
reits in Rheinland-Pfalz laufenden Bauvorhaben
mit entsprechend hohen Vorbelastungen in den Fol-
gejahren, war eine Zustimmung zu Baubeginn …
nicht möglich.





Gustav Herzog


(A) (C)



(D)(B)


Das heißt: Rheinland-Pfalz hätte gerne, der Bund hat
aber nicht. Nehmen Sie das bitte einmal mit in das Ver-
kehrsministerium.


(Beifall bei der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Vorredner von
der Linken hat die Verkehrspolitik der Koalition insge-
samt kritisiert. Das hängt sicherlich mit seiner heutigen
Anwesenheit im Verkehrsausschuss zusammen. Dort
habe ich ihn so noch nicht gesehen. Ich will ihn einmal
darauf hinweisen, dass diese Koalition einiges auf den
Weg gebracht hat.


(Sören Bartol [SPD]: So ist es!)


Sie haben die Binnenschifffahrt genannt. Wir haben da-
für gesorgt, dass die WSV-Reform in ruhigem, aber steti-
gem Fahrwasser vorangeht.


(Beifall bei der SPD)


Wir haben dafür gesorgt, dass mit der LuFV der Bahn
genügend Mittel zur Verfügung stehen, noch mehr für
den Lärmschutz zu machen. Wir werden auch mit dem
Bundesverkehrswegeplan einen Kurswechsel vollzie-
hen, nämlich weg von den Spatenstichen hin zu mehr
Nachhaltigkeit.


(Beifall bei der SPD – Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da bin ich einmal gespannt! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das finden die von der CDU gar nicht gut!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Kurs im
Bundesverkehrswegeplan heißt: Erhalt vor Neu- und
Ausbau. Deswegen ist heute dieser Gesetzentwurf auch
ein klares Symbol für diesen Kurswechsel, der notwen-
dig ist, nämlich mehr Erhalt vor Neu- und Ausbau. Uns
hat mit der A 1 das Alltagsgeschäft eingeholt. Ich habe
einmal nachgeschaut: Allein in Nordrhein-Westfalen
sind in der Zeit von 1960 bis 1980 sehr viele Brücken
gebaut worden. In der Zwischenzeit hat aber in diesem
bedeutenden Land der Verkehr gegenüber dem, was da-
mals an Steigerung gesehen worden ist, über 50 Prozent
zugenommen. Allein über die A 1, die einmal für
40 000 Fahrzeuge konstruiert war, rollen jeden Tag
140 000 Fahrzeuge; darunter ein entsprechender Anteil
an Schwerlastverkehr. Deswegen kann man den Planern
von früher keinen Vorwurf machen. Sie konnten nicht
wissen, dass der Verkehr, insbesondere der Schwerlast-
verkehr, so zunehmen würde.

Die Schwierigkeit ist: All diese Bauwerke müssen so-
zusagen unter rollendem Rad saniert werden. Das ist
eine wahnsinnige Aufgabe für die entsprechenden Pla-
nungsbehörden. Herr Kollege Birkwald, vielleicht hätten
Sie einmal ins Internet unter Straßen.NRW geschaut.
Dort ist sehr umfangreich und sehr leicht nachvollzieh-
bar erklärt worden, was in den letzten Jahren geleistet
worden ist,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


bis hin zu den Probebohrungen, die notwendig sind, weil
es sowohl in Bezug auf Altlasten bzw. Chemie als auch

von der Natur ein hochsensibles Gebiet ist. Man kann
nicht einfach sagen: Hier baue ich eine neue Brücke. Die
leisten gute Arbeit, und wir werden sie dabei von Berlin
aus unterstützen.


(Beifall bei der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es kein einfa-
ches Thema ist, sieht man daran, dass der Bundestag 1991
mit einem Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz
begonnen hat, dann ein Planungsvereinfachungsgesetz
folgte, 1996 ein Genehmigungsbeschleunigungsgesetz,
2006 das grundlegende Infrastrukturplanungsbeschleu-
nigungsgesetz und 2013 ein Planungsvereinheitlichungs-
gesetz. Wir haben uns also immer angestrengt, zu
schauen, wie wir es schneller machen können, auch weil
der Umfang der Untersuchungen und Überprüfungen
immer größer geworden ist.

Kollege Schnieder hat recht: Das Bundesverwal-
tungsgericht als erste und einzige Instanz vorzusehen, ist
nun nicht der goldene Weg.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Aha! Aha!)


Klagen gegen Planfeststellungsbeschlüsse werden von
nur einer Instanz in der Sache überprüft und entschieden.
Wir haben es uns bei entsprechenden Entscheidungen in
der Vergangenheit nicht leicht gemacht. Auf der Liste
finden sich 57 Projekte, die dort entweder wegen der
Herstellung der deutschen Einheit, der Einbindung der
neuen Mitgliedstaaten in die EU, der Verbesserung der
Hinterlandanbindung der deutschen Seehäfen, ihres
sonstigen internationalen Bezuges oder – das ist jetzt für
die bereits erwähnten Straßen wichtig – der besonderen
Funktion zur Beseitigung schwerwiegender Ver-
kehrsengpässe aufgeführt sind. Nur wenn eines dieser
Kriterien zutrifft, nehmen wir ein Projekt in die Liste in
der Anlage des Bundesfernstraßengesetzes auf. Ich
denke, das trifft für das Projekt an der A 1 zu, für die Ne-
ckarbrücke an der A 6, ganz sicher auch für die A 7 über
dem Nord-Ostsee-Kanal, ebenso für das Projekt an der
A 40 in Duisburg.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben 2006
eine Entschließung angenommen, nach der im Zusam-
menhang mit dem Bundesverkehrswegeplan überprüft
werden soll, ob die Kriterien und die Auswahl der Pro-
jekte noch zeitgemäß sind. Ich glaube, das ist eine gute
Aufgabe, die wir gerne in die Diskussion zum Bundes-
verkehrswegeplan aufnehmen. Wir schauen auch hier:
Stimmen die Kriterien noch? Sind die Projekte noch die
richtigen, oder gibt es auch andere Möglichkeiten, dort,
wo es dringend notwendig ist, schneller zu bauen? An
diese Arbeit wollen wir uns gerne machen.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1809428300

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat die Kollegin

Dr. Wilms vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.






(A) (C)



(D)(B)



Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1809428400

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Gäste auf der Tribüne! Kollege Herzog, da haben
Sie ja wieder richtig viel weiße Salbe draufgeschmiert,
um Ihr Versagen auf allen Ebenen zu verdecken.


(Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE] – Widerspruch bei der SPD)


Sie reden da über eine Neukonzipierung des Bundesver-
kehrswegeplans, den Sie mit neuen Kriterien versehen
wollen. Und was hören wir tatsächlich von Ihrem lieben
Koalitionspartner? „Wir müssen die Ortsumfahrungen
retten, wir müssen die Wahlkreisbindung wieder stär-
ken.“ Damit machen wir mit der Wünsch-dir-was-Liste
genauso weiter wie bisher. So läuft das nicht, Kollege!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ulrich Lange [CDU/CSU]: Das war die rotgrüne Regierung! – Gustav Herzog [SPD]: Sie müssen nicht alles ernst nehmen, was die sagen!)


Wir reden heute aber über etwas ganz anderes. Das
Verkehrsministerium traut sich in die Tiefen der Juriste-
rei. Es geht um ein beschleunigtes Planungsverfahren für
Bundesfernstraßen, Herr Ferlemann. Darüber sollten wir
uns heute sicherlich unterhalten, damit diese Schrotthau-
fen wie die Leverkusener Rheinbrücke oder auch die Ra-
der Hochbrücke zügig erneuert werden können. Aber ich
stelle die Frage: Reicht das allein wirklich aus, um die
Verkehrsinfrastruktur in diesem Lande vor dem Zerbrö-
seln zu bewahren? Was Sie mit diesem Gesetzentwurf
vorhaben, ist das Herausnehmen einer Ebene der Ge-
richtsbarkeit. Ich sage Ihnen: Das bringt nicht viel. Es
wird deutlich, wo wir alle bisher geschlampt haben. Statt
die Ursachen für das Desaster bei unserer vorhandenen
Verkehrsinfrastruktur zu bekämpfen, doktern Sie jetzt
nur noch an den Symptomen herum. Dass Sie sich wirk-
lich einmal trauen, einen großen Wurf zu machen, sehe
ich hier nicht.


(Gustav Herzog [SPD]: Das sind große Worte, Frau Wilms, ist aber wenig konkret!)


Das scheint Ihnen etwas zu viel Aufwand zu sein, Herr
Kollege Ferlemann; denn dazu gehören Mumm und auch
die Bereitschaft, ein Risiko einzugehen. Aber daran fehlt
es Ihnen ja, wie wir an der leidigen Ausländermautde-
batte, Bauart CSU, sehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])


Zu lange wurde der Erhalt unserer Straßen sträflich
vernachlässigt; aber dafür haben Sie lieber immer neue
Straßen eingeweiht. Gerade Sie sind ja häufig genug auf
Bildern, Herr Kollege Ferlemann. Nun sind Sie dabei,
diese falsche Politik weiter fortzusetzen. Unsere großen
Brückenbauwerke aus den 60er- oder 70er-Jahren kom-
men in die Jahre – Kollege Birkwald hat es schon gesagt,
und ich lege noch ein paar Jährchen obendrauf – und
müssen Schritt für Schritt repariert oder erneuert wer-
den. Das hätte eigentlich vorhersehbar sein müssen,
wenn Sie sich endlich einmal wie ein ehrbarer

Kaufmann verhalten würden. Dann hätten Sie schon
längst die Abschreibung auf das Anlagevermögen der
Straßen ermittelt. Damit hätten Sie einen sauberen Hin-
weis auf den Bedarf an Investitionen gehabt, um die vor-
handenen Straßen in ihrem Wert zu erhalten. So arbeitet
jeder Kaufmann, oder er geht pleite – und Sie gehen
pleite, auch politisch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE] – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ferlemann ist schon pleite!)


Ohne dieses Frühwarnsystem wurden unsere Brü-
ckenbauwerke jahrelang abgenutzt. An die Zukunft
wurde nicht gedacht, immer nur neuen Beton gießen,
mehr nicht.


(Peter Wichtel [CDU/CSU]: Sechs Jahre unter Rot-Grün!)


Vor allem beginnen Sie jetzt, viel zu spät, mit ersten klei-
nen Schritten zu handeln,


(Gero Storjohann [CDU/CSU]: Ist das nun gut?)


mit dem Herausnehmen einer Ebene in der Rechtspre-
chung. Das heißt, Sie sagen unseren Bürgern: Wir haben
Murks gemacht, aber ihr sollt darunter leiden. Ihr dürft
euch zukünftig nicht mehr so intensiv beteiligen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Genauso ist es!)


Gehen Sie also lieber den anderen Weg! Gehen Sie auf
die Menschen vor Ort zu, binden Sie sie in die Lösungs-
findung ein! Das erwarten die Menschen von der Politik
heute, und nicht die Nummer, die Sie hier ablaufen las-
sen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Gustav Herzog [SPD]: Frau Kollegin Wilms, da ist bereits eine Brücke, und die wird neu gebaut!)


Machen Sie nicht nur länger die Politik der kleinen
Schritte. Setzen Sie Zeichen, dass Ihnen der Erhalt der
Verkehrswege wirklich wichtig ist. In Ihrem Privatisie-
rungsnebel, werte Kolleginnen und Kollegen dieser Rie-
sengroß-Koalition des Stillstandes, kann ich davon
nichts erkennen.

Danke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1809428500

Vielen Dank. – Als nächster Kollege hat Gero

Storjohann von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Gero Storjohann (CDU):
Rede ID: ID1809428600

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Das war ja eben ein starker Auftritt, Frau
Dr. Wilms.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)






Gero Storjohann


(A) (C)



(D)(B)


Ich habe nur nicht verstanden, was Sie eigentlich sagen
wollten.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – Heiterkeit bei der SPD – Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mal zuhören!)


– Die ganze Zeit habe ich zugehört. – Sind Sie nun für
diesen Gesetzentwurf, oder sind Sie dagegen?


(Sören Bartol [SPD]: Die Frage haben wir uns auch gestellt!)


Man muss wissen, dass die Grünen auch in Schles-
wig-Holstein in der Landesregierung sind, und ich habe
einen Brief vom Verkehrsminister Meyer bekommen,
der eindringlich darum gebeten hat, dass die Rader
Hochbrücke in Schleswig-Holstein bitte in die Anlage
dieser Liste aufgenommen werden soll.


(Zuruf von der CDU/CSU: Genau!)


Wir haben uns als Landesgruppe CDU Schleswig-
Holstein auch dafür eingesetzt, dass dies so erfolgt, und
ich bin dankbar, dass es von der Bundesregierung aufge-
nommen worden ist. Nun sehe ich meine Kollegin aus
Schleswig-Holstein, die das nicht zu würdigen weiß. Das
passt nicht, Frau Kollegin.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich wollte Sie hier loben, dass die Grünen endlich ein-
mal dafür sorgen, dass Planungsverfahren beschleunigt
werden. Wir wissen sehr wohl, dass wir Beteiligungs-
rechte in diesem Augenblick reduzieren. Aber vor die
Alternative gestellt, dass die Rader Hochbrücke, eine
leistungsfähige 1 500-Meter-Stahlkonstruktion aus dem
Jahr 1972,


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Leistungsfähig? Die ist Schrott, das wissen Sie doch!)


irgendwann nicht mehr zu benutzen ist, müssen wir jetzt
dort einsteigen, und das wollen wir auch.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich bin gern dabei, dass wir das neu bauen!)


Wenn Sie dagegen sind, sagen Sie das, und sagen Sie es
auch laut in Schleswig-Holstein.

Den ganzen Sommer über gab es lange Staus, nicht
nur von Pendlern, nicht nur von der Wirtschaft, auch von
Touristen, die nach Dänemark wollten oder von Däne-
mark zurückkamen oder in Schleswig-Holstein Urlaub
machen wollten. Es war gang und gäbe, dass man über
eine Stunde in diesem Stau stand. Wir haben nicht so
viele Brücken wie am Rhein. Bei uns muss man 70,
80 Kilometer fahren, um die nächste Brücke zu errei-
chen, um sie mit einem Lkw zu überqueren. Wir haben
zwar leistungsfähige kleine Fähren, aber auch da waren
die Staus enorm.

Wir standen also vor der Entscheidung: Machen wir
nichts, oder beschleunigen wir ein wenig?


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir wollen endlich bauen, Herr Kollege, und da gehört vernünftige Planung dazu!)


Deshalb bin ich dankbar, dass die Bundesregierung hier
die Rader Hochbrücke aufgenommen hat, und wir wei-
sen darauf hin, dass wir zurzeit immer noch keinen
Schwerlastverkehr über diese Brücke führen können.

Schleswig-Holstein ist ein Windland. Dort werden
nicht nur Windanlagen gebaut, sie werden auch transpor-
tiert. Ich habe nun gehört, Herr Birkwald, wir sollen in
Alternativen denken. Wir sollen neue Wasserwege und
neue Schienenwege schaffen. Aber auch wenn wir das
versuchen, sind die Linken dagegen.


(Sören Bartol [SPD]: Die Linken sind überall dagegen! – Gegenruf des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Es kommt immer auf den Einzelfall an!)


Wenn wir die Fehmarnbeltquerung machen wollen, eine
neue wunderbare Schienenverbindung, um auf diesem
Wege etwas zu transportieren, dann sind die Grünen da-
gegen. Also, egal was wir machen, es ist nie richtig.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was Sie machen, ist nie richtig!)


Nun machen wir einen kleinen Schritt, der einer Lösung
entgegenkommt, und auch dagegen sind Sie noch. Ich
bin maßlos enttäuscht von Ihnen, Frau Wilms, sonst sind
Sie so eine nette Kollegin.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dass es überhaupt nicht einfach war, den vorliegen-
den Gesetzentwurf in seinem Umfang auf den Weg zu
bringen, wissen wir auch. Wir hatten massiven Wider-
stand aus dem Justizministerium zu überwinden, zu
Recht, weil die Ausnahme begründet werden muss. Aber
ich bin dankbar, dass sich der Justizminister auf den Weg
begeben hat und das Problem als so wichtig erkannt hat,
dass wir jetzt zu einer Lösung kommen. Die Grünen
kann ich heute also leider nicht loben.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tun Sie doch sowieso nie!)


– Das stimmt ja überhaupt nicht, Frau Wilms. Bei der
Wasser- und Schifffahrtsdirektion waren wir uns am An-
fang doch verhältnismäßig einig.


(Gustav Herzog [SPD]: Sehr verdächtig! – Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mittlerweile haben Sie das schon wieder vergessen!)


Wichtig ist, dass wir mit diesem Gesetzentwurf für
eine erhebliche Zeitersparnis sorgen,


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erheblich? Ein Jahr höchstens!)


und dass lange Klageverfahren, deren Dauer womöglich
die Restnutzungsdauer der alten Brücke, der Rader
Hochbrücke, erheblich überschreiten, vermieden wer-
den.





Gero Storjohann


(A) (C)



(D)(B)



(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sehen doch bei der Elbvertiefung, was passiert!)


Wir haben das Problem erkannt, einen Lösungsvorschlag
erarbeitet, und an die zügige Umsetzung gehen wir jetzt
im Ausschuss und dann wieder hier im Plenum.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1809428700

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/4281 an den Ausschuss für
Verkehr und digitale Infrastruktur vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Ernährung und
Landwirtschaft (10. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Caren
Lay, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE

Keine Privatisierung von Ackerland und
Wäldern durch die Bodenverwertungs- und
-verwaltungs GmbH

Drucksachen 18/1366, 18/2036

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
Dr. Kirsten Tackmann von der Linken das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1809428800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Gäste! Wir sind im UN-Jahr des Bodens, und ich
bin froh, dass das nicht eine leere, plakative Kampagne
ist, sondern dass dieses Thema offensichtlich viele
Menschen bewegt, und zwar weit über die Landwirt-
schaft hinaus.

Boden ist eine natürliche Ressource, die begrenzt ist.
Sie ist die Grundlage für unsere Versorgungssicherheit
bei Lebensmitteln und Energie. Deswegen müssen wir
mit Boden schonend umgehen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber neben der Bodenfruchtbarkeit und den Flächenver-
lusten durch Siedlungs- und Straßenbau bewegt viele vor
allen Dingen eine Frage: Wer kann sich Bodeneigentum
eigentlich noch leisten?

„Kaufen Spekulanten den Osten auf?“, fragte der
Tagesspiegel 2013 und brachte die Befürchtungen auf

den Punkt. Als Linke haben wir das Problem schon viel
länger thematisiert. Im Zentrum steht die Kritik an der
bundeseigenen Bodenverwertungs- und -verwaltungs
GmbH, der BVVG. Sie verwaltet und privatisiert im
Auftrag des Bundestages die Flächen der volkseigenen
Güter der DDR, die kostenfrei in Bundesvermögen über-
gegangen sind.

Bis 2014 hat die BVVG 800 000 Hektar Landwirt-
schafts- und knapp 600 000 Hektar Forstflächen privati-
siert – insbesondere seit 2007 mit fatalen Folgen. Das
sagt übrigens nicht nur die Linke. Till Backhaus, SPD-
Agrarminister in Mecklenburg-Vorpommern, bezeich-
nete kürzlich die Privatisierung von Grund und Boden
als Kardinalfehler der deutschen Einheit. Besser wäre
eine treuhänderische Übernahme eines Teils der Flächen
durch das Land gewesen, um sie an Agrarbetriebe wei-
terzuverpachten.

Genau das fordert die Linke schon ganz lange,


(Beifall bei der LINKEN)


weil wir vor allem zwei fatale Folgen der Bodenprivati-
sierung sehen. Erstens steigen spätestens seit 2007 die
Bodenpreise in eine Höhe, die durch landwirtschaftliche
Arbeit nicht mehr zu bezahlen ist. Das hat mit der Kapi-
talflucht in feste Werte im Zuge der Finanzkrise zu tun,
aber auch mit der BVVG, die unterdessen Flächen euro-
paweit ausschreibt und zum Höchstgebot verkauft. Die
Folge: Zwischen 2007 und 2013 stiegen die Bodenpreise
in Ostdeutschland um 154 Prozent. Dies geschah sehr
zur Freude des Finanzministers, der jährlich etwa
500 Millionen Euro von der BVVG überwiesen be-
kommt, für ostdeutsche Äcker, die er kostenfrei über-
nommen hat, und auf Kosten der ortsansässigen Land-
wirtschaftsbetriebe, die ihre Produktionsgrundlage, den
Boden, zu Wucherpreisen kaufen müssen. Ich finde das
unanständig, erst recht, weil das Geld für gute Löhne
und mehr Tierwohl fehlt.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ja, auch in Westdeutschland steigen die Bodenpreise,
aber mit 54 Prozent deutlich geringer. Ja, die Boden-
preise sind in Westdeutschland höher als in Ostdeutsch-
land, aber dort gibt es auch eine höhere Wertschöpfung.
Deswegen kann man die absoluten Summen nicht
vergleichen. Es ist vor allen Dingen die Dynamik, die so
beunruhigt. Ursache ist zwar nicht nur die Bodenprivati-
sierung, aber 2013 erfolgten immerhin 44 Prozent aller
Bodenverkäufe in Ostdeutschland durch die BVVG. Für
Mecklenburg-Vorpommern wurde gerade berichtet, dass
die Bodenpreise bei der BVVG am allerhöchsten waren.
Ich finde das inakzeptabel.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das hat vor allen Dingen eine zweite fatale Folge. Im-
mer häufiger kauft landwirtschaftsfremdes Kapital die
Äcker, Wiesen und gleich ganze Betriebe. Auch davor
hat die Linke lange vergeblich gewarnt. Gerade hat eine
Bund-Länder-Arbeitsgruppe geschätzt, dass zwischen





Dr. Kirsten Tackmann


(A) (C)



(D)(B)


20 und 35 Prozent der Flächen an Nichtlandwirte gehen.
Verlierer sind die ortsansässigen Betriebe, egal ob es
kleine Familienbetriebe oder große Familienbetriebe
sind, Genossenschaften oder GmbH. Das Problem sind
Kapitalgesellschaften, die Zehntausende Hektar in ver-
schiedenen Regionen Ostdeutschlands aus der Ferne be-
wirtschaften lassen und aggressiv, zum Beispiel auch
über Anteilskäufe, expandieren.

Lassen wir also wenigstens die restlichen BVVG-
Flächen in öffentlicher Hand. Um noch einmal mit Till
Backhaus zu sprechen: Dann hätten auch Familienbe-
triebe und Junglandwirte, Biobauern und arbeitsinten-
sive Unternehmen eine Chance.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1809428900

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat der Kollege

von der Marwitz das Wort von der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Hans-Georg von der Marwitz (CDU):
Rede ID: ID1809429000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleis-
tet.

So steht es in Artikel 14 des Grundgesetzes. Seit 1990
verfolge ich als Wiedereinrichter eines ostdeutschen
Landwirtschaftsbetriebes, wie sehr nach dem Mauerfall
dieses Grundrecht in den fünf neuen Bundesländern
strapaziert wurde. Enteignungen und Zwangskollektivie-
rung in der Zeit des Sozialismus haben den ostdeutschen
Bauernstand nahezu ruiniert – ein Faktum, wissenschaft-
lich belegt und vielfach beschrieben.

Doch weniger bekannt ist die Tatsache, dass Funktio-
näre und Lobbyisten der ostdeutschen Agrarbetriebe in
den Nachwendejahren nichts unversucht ließen, eine
Wiederbelebung bäuerlich geführter Betriebe und Rück-
führungen von Flächen an Enteignete zu verhindern. Die
ehemaligen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossen-
schaften nutzten die Gunst der Stunde und formierten
sich mithilfe des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes
neu. Nur wenige behielten den Genossenschaftsstatus.
Die meisten firmierten um in juristische Personen. Wie
wir heute wissen, wurden im Zuge dieser Umwandlung
vielen ehemaligen Genossen ihre Ansprüche mehr oder
weniger entzogen.

Es sind die sozialistischen Agrarstrukturen, Frau
Dr. Tackmann, die den Konzentrationsprozess in der ost-
deutschen Landwirtschaft bereitet haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die umgewandelten Gesellschaften sind es, die den au-
ßerlandwirtschaftlichen Investoren als Einstieg in die
Urproduktion dienen.

Mit Blick auf diese geschichtliche Entwicklung
möchte ich feststellen, dass die Verbindung von Besitz,
Tradition und Unternehmertum im Sinne des Artikels 14
Absatz 1 und 2 des Grundgesetzes Eckpfeiler unseres
wirtschaftlichen Wohlstands in Deutschland sind. Des-
halb warne ich vor einer staatlichen Reglementierung
des Bodenmarkts.

Nun zu Ihrem Antrag und zum weiteren Umgang mit
der BVVG. Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe Boden-
markt hat in ihrem Abschlussbericht festgestellt, dass die
BVVG mit ihrem stetig sinkenden Flächenbestand kaum
noch Einfluss auf agrarstrukturelle Entwicklungen neh-
men kann. 187 000 Hektar Äcker und Wiesen befinden
sich noch im Eigentum der BVVG, gerade einmal rund
3,5 Prozent der ostdeutschen landwirtschaftlichen Nutz-
fläche. Hinzu kommt, dass diese Flächen mittlerweile
lang- und mittelfristig verpachtet sind.

Natürlich können Ausschreibungen eine preistrei-
bende Wirkung haben. Wir sollten jedoch zwischen Ur-
sache und Wirkung genauer differenzieren. Ich denke,
dass der zweifelsohne sprunghafte Preisanstieg auf dem
Pacht- und Bodenmarkt im Wesentlichen eine Folge feh-
lender Anlagealternativen ist. Die Kapitalzinsen sind ins
Bodenlose gefallen, und im Ost-West-Vergleich sind
landwirtschaftliche Flächen in Ostdeutschland nach wie
vor sehr günstig zu haben. Sie haben von Steigerungen
in Höhe von 54 Prozent gesprochen; der Preis der ost-
deutschen landwirtschaftlichen Nutzfläche ist aber nur
halb so hoch wie in Westdeutschland.

Um der BVVG einen stärkeren agrarstrukturellen
Fokus zu geben, haben wir bei den Privatisierungs-
grundsätzen bereits nachgebessert und zum Beispiel die
Losgrößen reduziert. In einer Lebensverlängerung im
Hinblick auf die BVVG über das Jahr 2025 hinaus sehe
ich jedenfalls keinen gesellschaftlichen Mehrwert. Ganz
im Gegenteil: Das Dilemma der BVVG bleibt bestehen.
Sie steht zwischen Baum und Borke. Auf der einen Seite
gibt es den Druck des Finanzministers und die Notwen-
digkeit, nicht gegen Wettbewerbs- und Haushaltsrecht zu
verstoßen. Auf der anderen Seite soll die Flächenprivati-
sierung nach § 1 des Treuhandgesetzes auch ökologi-
schen und strukturellen Gegebenheiten Rechnung tra-
gen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist die
Quadratur des Kreises. Das führt dazu, dass von allen
Seiten auf den Sack eingedroschen wird, obwohl man
doch eigentlich den Esel meint.

Auch eine Übertragung der BVVG-Flächen auf die
Bundesländer ist aus meiner Sicht eine sinnlose Kompe-
tenzverschiebung. Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-
Vorpommern planen, die verbleibenden BVVG-Flächen
zu erwerben. Wenn ich höre, dass zum Beispiel die
Landgesellschaft Sachsen-Anhalt bei entsprechenden
Losen einen ähnlichen Verkaufspreis wie die BVVG er-
zielt, sehe ich mich bestätigt, dass wir es in erster Linie
mit marktwirtschaftlichen Anpassungsprozessen und
nicht mit einer gezielten Preistreiberei der BVVG zu tun
haben.

Lassen Sie mich noch kurz auf einen weiteren Punkt
Ihres Antrags eingehen. Sie fordern die Einführung einer
Vermögensteuer, einer Steuer auf hohe Vermögen. Abge-





Hans-Georg von der Marwitz


(A) (C)



(D)(B)


sehen davon, dass Vermögen aus bereits versteuerten
Einnahmen gewachsen sind, kann ich Ihnen garantieren,
dass sich das mobile Privatvermögen alsbald vor dem
Zugriff des Staates retten wird. Betroffen werden am
Ende die immobilen Vermögensgegenstände sein, allen
voran die der deutschen Bauern. Denn deren Kapital ist
in ihrer Produktionsgrundlage – in Boden, Maschinen,
Arbeit und Vieh – gebunden.

Dass man mit Forderungen auch zu weit gehen kann,
konnten Sie kürzlich bei unseren französischen Nachbarn
beobachten. Dort haben die Sozialisten die Reichensteuer
klammheimlich auslaufen lassen. Die Einnahmen blieben
nämlich deutlich hinter den Erwartungen zurück, ganz
zu schweigen vom immensen Imageschaden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, meiner Ansicht nach ist es
geradezu aberwitzig, mit einem Griff in die Substanz der
Betriebe Strukturpolitik betreiben zu wollen. Als Land-
wirt sage ich Ihnen: Wer Kühe melken möchte, muss sie
ordentlich füttern und nicht schlachten.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Bei so vielen Freigrenzen brauchen Sie keine Angst zu haben!)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1809429100

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat der Kollege

Friedrich Ostendorff von Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
gut, dass wir im UN-Jahr des Bodens auch über den As-
pekt der BVVG reden. Denn Boden ist die Quelle des
Lebens, des Wachstums. Boden ist die Grundlage des
Wirtschaftens in der Landwirtschaft. Boden ist uns gege-
ben, damit wir sorgsam mit ihm umgehen und ihn be-
wahren, sodass er auch zukünftigen Generationen noch
zur Verfügung steht: für zukünftiges Leben, für zukünfti-
ges Wachstum und für zukünftiges Wirtschaften. Boden
ist eine natürliche Ressource, die nicht vermehrbar ist.
Boden ist Kapital. Aber ist Boden auch eine Kapital-
anlage? Oder: Sollte Boden eine Kapitalanlage sein? Wir
erleben einen enormen Ansturm auf Boden, verbunden
mit einer Preissteigerung, die ihresgleichen sucht. Seit
der Weltfinanzkrise 2008 wurden Boden und Landwirt-
schaft als sogenannte Anlageklassen, als Asset Class
oder auch als Real Investment, entdeckt. Nichts ist so
real, so bodenständig, so lebensnotwendig wie Landwirt-
schaft. Aber wollen wir diese Lebensgrundlage verkau-
fen und verramschen, wollen wir diese Lebensgrundlage
aufs Spiel setzen?

Der Preis für landwirtschaftliche Flächen – Kollegin
Tackmann wies richtig darauf hin – stieg seit der Weltfi-
nanzkrise um 64 Prozent, in den neuen Bundesländern
– es gibt unterschiedliche Zahlen – um weit über
100 Prozent. Die Preise für BVVG-Flächen des Bundes
stiegen allein innerhalb eines Jahres in Sachsen-Anhalt

um 21 Prozent, in Mecklenburg-Vorpommern um 25 Pro-
zent. Viele kleine und mittlere Landwirte können bei
diesen Preisen nicht mehr mithalten. Das schafft keine
ausgewogene Agrarstruktur, und das bringt keine nach-
haltige ländliche Entwicklung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE])


Die falsche Verkaufspraxis der BVVG führt zu einem
Ausverkauf des Bodens an kapitalkräftige Investoren-
gruppen und landwirtschaftliche Großunternehmen.
Deshalb stimmen wir Grünen dem Verkaufsstoppantrag
der Linken zu.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der LINKEN)


Warum werden die verbleibenden Bundesflächen
nicht dazu genutzt: etwa als Flächenpool für die Förde-
rung von Junglandwirten oder als Ergänzung für aufsto-
ckungsbedürftige kleine Landwirte oder für eine lang-
fristige, günstige Verpachtung an Betriebe mit einem
hohen Mehrwert für die Region? So kämen wir weiter,
lieber Hans-Georg von der Marwitz.

Aber eins muss auch noch gesagt werden, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen: Es reicht leider nicht aus, nur über
die Flächen der BVVG zu reden, es geht um viel mehr:
Wir müssen letztlich zu einer anderen, vielfältigeren Ag-
rarstruktur kommen. Wir brauchen zum Beispiel richtige
– bäuerliche – Genossenschaften für lebendige, lebens-
werte Dörfer, keine Agrarunternehmen, die nur juristisch
eine eingetragene Genossenschaft sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE])


Ungesunde Bodenverteilung wollen wir Grüne been-
den. Eine ungesunde Bodenverteilung besteht heute,
wenn sich der Besitz oder die Bewirtschaftung von Land
in einem Dorf oder in einer Region in den Händen von
wenigen Agrarunternehmen konzentriert, egal in wel-
cher Rechtsform.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen ein agrarisches Leitbild, das Leitplanken
setzt für eine sinnvolle zukünftige Entwicklung in der
Landwirtschaft für Vielfalt auf dem Lande und in den
Dörfern. Nur so, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann
Boden seine Funktion bewahren als Quelle des Lebens,
des Wachstums und als Grundlage des Wirtschaftens in
der Landwirtschaft.

Herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1809429200

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat die Kollegin

Pflugradt von der SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)



Jeannine Pflugradt (SPD):
Rede ID: ID1809429300

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-

legen! Sehr geehrte Gäste! Im Koalitionsvertrag zwi-
schen CDU, CSU und SPD heißt es:

In Verhandlungen zwischen Bund und Ländern
wird geklärt, ob die noch in der Hoheit des Bundes
verbliebenen Treuhandflächen interessierten Län-
dern übertragen werden können.

So weit, so gut.

Die Bedingungen für eine Übertragung der Flächen
müssen so gestaltet sein, dass sie den spezifischen agrar-
strukturellen, umweltpolitischen sowie verfassungs- und
haushaltsrechtlichen Voraussetzungen gerecht werden;
das haben wir heute Abend schon mehrfach gehört.

Interesse an einer Übernahme der von der bundesei-
genen Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH,
BVVG, verwalteten Flächen haben die Länder Sachsen-
Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern schon zu Beginn
des letzten Jahres bekundet. Hierüber sind der Bund und
die genannten Länder bereits lange im Gespräch. Das
Bundesfinanzministerium erklärte dazu, dass der Bund
seine grundsätzliche Bereitschaft zum Verkauf erneuern
würde. Noch konnte leider keine Einigung erzielt wer-
den; denn einige Fragen gestalten sich als schwierig, vor
allem rechtliche Fragen sind noch offen. Eine wesentli-
che Voraussetzung für die Übertragung der vorhandenen
Flächen ist unter anderem, dass sich Bund und Länder
über einen geeigneten Kaufpreis verständigen. An die-
sem Punkt sind wir derzeit aber noch nicht.

Bevor die Länder in derart konkrete Preisverhandlun-
gen mit dem Bund einsteigen, muss im Vorfeld im Detail
geklärt sein, worüber verhandelt wird. Außerdem müs-
sen die Verkaufsobjekte definiert und wertsteigernde so-
wie wertmindernde Faktoren berücksichtigt werden. Das
nimmt eine Menge Zeit in Anspruch und befindet sich
weiter im laufenden Verhandlungsprozess.

Aufgrund der komplizierten und komplexen Materie
ist eine tiefgreifende Vorarbeit notwendig. Ein Ende der
Vorgespräche ist momentan nicht in Sicht, und der Aus-
gang der Verhandlungen ist zurzeit völlig offen.

In meinem Bundesland Mecklenburg-Vorpommern
lag der Durchschnittspreis im Jahre 2014 mit rund
19 730 Euro pro Hektar ein Fünftel über dem des Jahres
2013. Damit hat der Verkaufswert wieder einen deutli-
chen Sprung nach oben gemacht.

Rund 60 700 Hektar Landfläche hatte die BVVG-
Niederlassung am Ende des Jahres 2014 verpachtet.
Viele Flächen sind demnach verpachtet und können gar
nicht unmittelbar verkauft werden. Die Verpachtung ist
wiederum an besondere Kriterien gebunden, die auf den
Erhalt von Arbeitsplätzen und auf die Wertschöpfung im
ländlichen Raum abzielen. Das sind zwei ganz wichtige
Punkte. Davon profitieren vor allem ökologisch wirt-
schaftende Betriebe. Eine Forderung Ihres Antrages ist
damit bereits erfüllt – zumindest in Mecklenburg-Vor-
pommern.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Theoretisch!)


– Auch praktisch.


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist reine Theorie!)


Der Preisdruck bei den Landverkäufen ist nicht nur
auf die Verkaufspraxis der BVVG zurückzuführen, son-
dern auch auf den Automatismus von Angebot und
Nachfrage.

Die BVVG benutzt in ihren Ausschreibungen das
Vergleichspreissystem. Damit wird der anzuwendende
Flächenpreis für jeden Verkauf gesondert festgesetzt,
wobei die relevanten Daten aus ähnlichen früheren Ver-
äußerungen zum Vergleich herangezogen werden. Das
Vergleichspreissystem ist laut einem Gutachten der EU-
Kommission mit den einschlägigen Vorschriften und
Grundsätzen für eine Grundstücksbewertung vereinbar.
Gerade beim Verkauf von Flächen der BVVG und auch
beim Verkauf kleinerer Flächen sollten unabhängige
Sachverständige aber direkt von der BVVG Auskunft
über den Verkaufswert der Fläche erhalten, um Intrans-
parenz bei der Vergabe zu vermeiden. Ich glaube, das ist
ein wichtiger Punkt.

Die Privatisierung der ehemals volkseigenen land-
und forstwirtschaftlichen Flächen geht momentan in die
letzte Phase. Die Übertragung an die Alteigentümer, bei
der die BVVG als Privatisierungsstelle des Bundes fun-
giert, soll in den nächsten Jahren abgeschlossen werden.
Der Verkauf von Forstobjekten wird voraussichtlich be-
reits in diesem Jahr weitestgehend beendet sein.

Die Naturschutzflächen sind schon so gut wie kom-
plett veräußert worden. Gegenwärtig hat die bundesei-
gene Gesellschaft knapp 187 000 Hektar Landfläche und
rund 19 000 Hektar Wald im Bestand. Davon will die
BVVG noch in diesem Jahr rund 23 000 Hektar Land
und circa 6 000 Hektar Waldfläche verkaufen. Bis zum
Jahr 2025 sollen alle Flächen verkauft werden – das be-
deutet, rund 20 000 Hektar im Jahr.

Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, halten deshalb an
der Vereinbarung im Koalitionsvertrag fest, dass in Ver-
handlungen zwischen Bund und Ländern geklärt werden
solle, ob die betroffenen Länder Interesse haben, die
noch in der Hoheit des Bundes verbliebenen Flächen
vom Bund zu erwerben. Die Länder hätten somit die
Möglichkeit, ein Existenzgründerprogramm unter ande-
rem für Junglandwirte zu etablieren.


(Beifall bei der SPD)


Die SPD-Bundestagsfraktion erklärt sich hinsichtlich
weiterer Forderungen gesprächsbereit. Im Zentrum steht
dabei vor allem eine Verschiebung des aktuell auf 2025
datierten Endes der Privatisierung und damit eine wei-
tere zeitliche Streckung des Privatisierungsprozesses.
Dies würde eine stärkere räumliche und zeitliche Tren-
nung der einzelnen Ausschreibungen ermöglichen.

Bei gleichzeitig kleineren Losgrößen würde auch
kleineren und mittleren Landwirtschaftsbetrieben die
Möglichkeit eröffnet werden, sich erfolgversprechend an
Ausschreibungen zu beteiligen. Der Kaufdruck würde
vermindert, sodass die Liquidität der Betriebe, die sich
um Bodenerwerb bemühen, weniger stark beansprucht
würde. Vorstellbar ist demnach eine Obergrenze der aus-





Jeannine Pflugradt


(A) (C)



(D)(B)


geschriebenen Lose. Im Jahr 2014 lag die durchschnittli-
che Losgröße der unbeschränkt alternativ zur Pacht bzw.
zum Kauf ausgeschriebenen Lose bei rund 17 Hektar.

Kleine Lose sind tendenziell unattraktiver für große
außerlandwirtschaftliche und überregionale Investoren.
Somit können passgenauere Lose für einzelne Betriebe
in die Ausschreibung gelangen. Außerdem sind be-
schränkte Ausschreibungen für arbeitsintensive Betriebe
und Junglandwirte sowie Existenzgründer ein wichtiges
Element zur Steuerung des Flächenerwerbs im Sinne ag-
rarstruktureller Zielvorstellungen. Es sind damit positive
Effekte für die Beschäftigung in ländlichen Räumen so-
wie der für die Zukunft des Sektors wichtigen Jungland-
wirte oder Existenzgründer verbunden.

Ein Verbleib der gebliebenen Treuhandflächen beim
Bund, also ein Privatisierungsstopp, wie Sie es, meine
lieben Kollegen von den Linken, in Ihrem Antrag for-
dern, schließen wir, die SPD-Bundestagsfraktion, aus.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Die Privatisierungspflicht ist Bestandteil des Treuhand-
gesetzes und wird weiter verfolgt.

Schönen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1809429400

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat die Kollegin

Stauche von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Carola Stauche (CDU):
Rede ID: ID1809429500

Sehr geehrte Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Einer meiner ersten Gedanken beim Le-
sen des heute zu behandelnden Antrags war: Hier fehlt
eigentlich noch das Schlagwort: „Junkerland in Bauern-
hand“. – Das hatten wir schon.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Auch die Tatsache, dass es das linke Mantra von der Ver-
mögensteuer in den Antrag geschafft hat, passt genau ins
Bild.

Zum besseren Verständnis des vorliegenden Antrags
möchte ich gern kurz über den Tellerrand schauen, näm-
lich ins Parteiprogramm der Partei Die Linke. Dort heißt
es unter anderem:

Wir wollen eine demokratische Vergesellschaftung
weiterer strukturbestimmender Bereiche auf der
Grundlage von staatlichem, kommunalem, genos-
senschaftlichem oder Belegschaftseigentum.


(Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Wir wissen, was gemeint ist!)


So unkonkret, wie das formuliert ist, so deutlich ist die
Absicht:


(Beifall bei der CDU/CSU)


Nicht nur Einrichtungen der kommunalen Daseinsvor-
sorge sollen vergesellschaftet sein, sondern darüber hi-
naus auch wichtige Wirtschaftsbereiche.

Wohin soll das führen? Ich kann nur so viel sagen:
Das hat schon einmal nicht funktioniert.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Mein Kollege Hans-Georg von der Marwitz hat eben be-
reits deutlich gesagt: Die heutige Diskussion findet nur
statt, weil es eine solche Vergesellschaftung schon ein-
mal gegeben hat. – Mit deren Folgen müssen wir uns
heute noch befassen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es ist natürlich lobenswert, wenn sich heute die Nach-

folgepartei der Verantwortlichen von damals darum be-
müht, die Lage zum Besseren zu verändern.


(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Ich komme aus Bayern!)


– Na ja, ihr seid trotzdem Nachfolger. – Aber ich kann
nur noch einmal betonen: Dann soll man es nicht noch
einmal mit den gleichen Methoden probieren.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie werfen der BVVG vor, Preistreiberei auf dem Bo-

denmarkt zu betreiben. Dazu einige Zahlen: Im Jahr
2013 sind die Agrarpreise in den neuen Bundesländern
im Durchschnitt tatsächlich um 10 Prozent gestiegen, in
den alten Bundesländern allerdings um 13 Prozent. Dort
ist die BVVG nicht am Markt aktiv gewesen. Der
Durchschnittspreis für 1 Hektar landwirtschaftlicher Flä-
che lag damals im Osten bei 10 500 Euro, im Westen bei
25 200 Euro. Ich glaube, es ist kein Geheimnis, dass
Preisbildung auf verschiedenen Faktoren beruht, wie
zum Beispiel Bodengüte, Nutzungsart und regionale
Lage.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir leben in der sozialen Marktwirtschaft, auch wenn

die Linke das nicht akzeptiert. Das heißt, Preise bilden
sich durch Angebot und Nachfrage. Hieran ist die
BVVG natürlich beteiligt; denn sie ist ein Anbieter. Al-
lerdings verfügt sie nur noch über 3 Prozent der land-
wirtschaftlichen Fläche in den neuen Bundesländern.
Lediglich ein Drittel der landwirtschaftlichen Bodenver-
käufe in den neuen Bundesländern geht auf das Konto
der BVVG, wenn Übertragungen nach dem Entschädi-
gungs- und Ausgleichsleistungsgesetz, EALG, nicht be-
trachtet werden. Direktverkäufe an Pächter berühren den
freien Markt ebenfalls nicht, da diese ohne Ausschrei-
bung verkauft werden. Wenn wir auch diese herausrech-
nen, beträgt der Anteil der BVVG-Verkäufe in den
neuen Bundesländern nur noch zwischen 12 und 15 Pro-
zent.

Es erscheint mir also etwas übertrieben, die BVVG
als Hauptverantwortliche für den Preisanstieg im Agrar-
bereich zu bezeichnen. Ich habe den Eindruck, das ver-
steckt sich auch im Antrag der Linken. Dort heißt es:

Insbesondere die durch die Privatisierungsregeln
unterstellte Mitverantwortung für den Anstieg der
Preise für Bodenpacht und -kauf in Ostdeutschland
sorgt für Protest.





Carola Stauche


(A) (C)



(D)(B)


Der Verfasser des Antrags schreibt also selbst, dass es
sich um nicht mehr als eine Vermutung handelt, dass die
BVVG für den massiven Preisanstieg verantwortlich sei.
Auf dieser Grundlage die Arbeit der BVVG torpedieren
zu wollen, erscheint mir sehr weit hergeholt.

Auch rein praktisch ergibt der Antrag keinen Sinn. In
Sachsen und Thüringen ist die Arbeit der BVVG bereits
nahezu abgeschlossen. Hier würde er ohnehin keine Wir-
kung mehr entfalten. Der größte Teil der verbleibenden
BVVG-Flächen ist derzeit verpachtet und kann deshalb
nicht ohne Weiteres verteilt werden. Ein Verkaufsmora-
torium würde die Alteigentümer benachteiligen – man
bedenke das bitte auch –, die bisher keine Möglichkeiten
zum Rückkauf nach dem EALG hatten. Denn auch an
sie müssen wir denken.

Die Länder Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vor-
pommern stehen zurzeit mit dem Bund in Verhandlun-
gen über eine Flächenübertragung. Der Prozess läuft
also bereits. Dafür bedarf es des vorliegenden Antrags
nicht.

Ich komme zu dem Schluss: Die Arbeit der BVVG
beruht auf der bewussten Entscheidung für die soziale
Marktwirtschaft. Die Forderung, BVVG-Flächen nicht
weiter zu privatisieren, ist unnötig und verkennt die Re-
alitäten des Jahres 2015. Deshalb werden wir den Antrag
ablehnen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1809429600

Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Ernährung und Landwirtschaft zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Keine Privatisierung
von Ackerland und Wäldern durch die Bodenverwer-
tungs- und -verwaltungs GmbH“. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 18/2036, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/1366 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Damit ist diese Beschlussempfehlung mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim-
men der Opposition angenommen worden.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-
derung des Agrar- und Fischereifonds-Infor-
mationen-Gesetzes und des Betäubungsmit-
telgesetzes

Drucksache 18/4278
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) –
Sie sind damit einverstanden, wie ich sehe.

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/4278 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 16 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Luise Amtsberg,
Volker Beck (Köln), Hans-Christian Ströbele,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Kontoeröffnungen für Flüchtlinge ermögli-
chen

Drucksachen 18/905, 18/4137

Auch hier sollen die Reden zu Protokoll gegeben
werden.2) – Auch damit sind Sie einverstanden, wie ich
sehe.

Wir kommen deshalb jetzt gleich zur Abstimmung.
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 18/4137, den Antrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/905 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist
diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koali-
tion gegen die Stimmen der Opposition angenommen
worden.

Wir sind damit am Schluss unserer Tagesordnung,
liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich wünsche Ihnen ei-
nen schönen Abend, zumindest was noch davon übrig
ist.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 20. März 2015, 9 Uhr,
ein.

Die Sitzung ist geschlossen.