Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen; ichbegrüße Sie herzlich.Vor Eintritt in unsere Tagesordnung teile ich Ihnenmit, dass es eine interfraktionelle Vereinbarung gibt, dieTagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge-führten Punkte zu erweitern:ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Pläne der Bundesregierung für einen nationa-len Alleingang bei der Vorratsdatenspeiche-rung
ZP 2 Vereinbarte Debattezu den Vorkommnissen in Frankfurt anläss-lich der Einweihung der EZB-ZentraleZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der FraktionDIE LINKE:Reiches Land – Arme KinderZP 4 Beratung des Antrags der AbgeordnetenFriedrich Ostendorff, Harald Ebner, NicoleMaisch, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMännliche Eintagsküken leben lassenDrucksache 18/4328Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzDabei soll wie üblich von der Frist für den Beginn derBeratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden.Tagesordnungspunkt 12 – hier geht es um die Bera-tung des Antrags zur flächendeckenden Milchviehhal-tung – wird abgesetzt. Stattdessen soll der Antrag aufDrucksache 18/4328 mit dem Titel „Männliche Eintags-küken leben lassen“ mit einer Beratungszeit von 25 Mi-nuten aufgerufen werden.
– Es kommt nicht häufig vor, dass schlichte Änderungender Tagesordnung zu spontanen Begeisterungsstürmenbei einzelnen Fraktionen führen; aber das haben dieSchriftführer natürlich festgehalten.Schließlich mache ich noch auf eine nachträglicheAusschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktlisteaufmerksam:Der am 27. Februar 2015 überwiesenenachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Aus-schuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-wicklung zur Mitberatung überwiesenwerden:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-zung der Richtlinie 2013/34/EU des Europäi-schen Parlaments und des Rates vom 26. Juni2013 über den Jahresabschluss, den konsoli-dierten Abschluss und damit verbundene Be-richte von Unternehmen bestimmter Rechts-formen und zur Änderung der Richtlinie2006/43/EG des Europäischen Parlamentsund des Rates und zur Aufhebung der Richt-linien 78/660/EWG und 83/349/EWG des
Drucksache 18/4050Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungIch frage Sie: Sind Sie mit diesen Vereinbarungeneinverstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Alsokönnen wir so verfahren.Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 4 auf:Abgabe einer Regierungserklärung durch dieBundeskanzlerinzum Europäischen Rat am 19./20. März 2015in Brüssel
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-rung 96 Minuten vorgesehen. – Auch dazu höre ich kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hatdie Bundeskanzlerin Frau Dr. Merkel.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Der Europäische Rat imFrühjahr ist traditionell der wirtschaftlichen Lage in Eu-ropa gewidmet. Dazu können wir zunächst feststellen,dass es aller Voraussicht nach in diesem Jahr erstmalsseit Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise wieder inallen europäischen Mitgliedstaaten Wachstum gebenwird. Das ist eine gute Nachricht.Sogar die Arbeitslosigkeit, die vor allem unter jungenMenschen nach wie vor ohne Zweifel viel zu hoch ist,geht insgesamt zwar langsam, aber Schritt für Schritt zu-rück. Dies gilt übrigens gerade für zwei Länder, die be-sonders von der europäischen Staatsschuldenkrise be-troffen waren, die ihre Hilfsprogramme inzwischen abererfolgreich abgeschlossen haben: Spanien und Irland. Indiesen beiden Ländern sank die Arbeitslosenquote imletzten Jahr jeweils um über zwei Prozentpunkte. Die Er-folge Irlands und Spaniens sind nur zwei Beispiele dafür,was entschlossenes Handeln einzelner Länder und soli-darische europäische Unterstützung gemeinsam bewir-ken können.Insgesamt wird also deutlich, dass wir bei der Über-windung der europäischen Staatsschuldenkrise unterschwierigen Bedingungen schon einiges erreicht haben;dauerhaft und nachhaltig überwunden haben wir dieseaber noch nicht. Dafür müssen wir uns weiter anstren-gen. Drei Elemente sind und bleiben dabei wichtig.Erstens. Die wachstumsfreundliche Konsolidierungmuss fortgesetzt werden; denn nachhaltiges Wachstumund solide Haushalte bedingen einander. Es ist entschei-dend, den gestärkten Stabilitäts- und Wachstumspaktglaubwürdig anzuwenden. Nur dann kann der Pakt seineFunktion erfüllen und das Vertrauen in einen dauerhaftstabilen Euro-Raum wiederherstellen.
Zweitens: Strukturreformen. Sie sind eine Dauerauf-gabe, wenn wir Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum undBeschäftigung nachhaltig stärken wollen. Dabei mussunser Maßstab nicht Europa sein, sondern die Welt; dennnur dann wird es uns gelingen, unser europäisches Wirt-schafts- und Sozialmodell im globalen Wettbewerb dau-erhaft zum Erfolg zu führen.Drittens: Investitionen, die Wachstum und Beschäfti-gung unterstützen. Dabei bleibt entscheidend, dass dieRahmenbedingungen für private Investitionen stimmen.Auch dafür sind solide Finanz- und Strukturreformennotwendig. Der Europäische Fonds für Strategische In-vestitionen, den der Europäische Rat im Dezember letz-ten Jahres beschlossen hat, kann und, ich hoffe, wirdauch einen wichtigen Beitrag leisten, private Investitio-nen zu mobilisieren.Die Arbeiten an diesem Fonds kommen gut voran.Die Finanzminister haben sich letzte Woche auf einenVerordnungsentwurf für den Fonds geeinigt, der nun indie Beratungen mit dem Europäischen Parlament geht.Ich wünsche mir, dass die Verhandlungen zügig abge-schlossen werden, damit der Fonds wie geplant Mittedes Jahres seine Arbeit aufnehmen kann.Durch seine Verankerung in der Europäischen Inves-titionsbank soll sichergestellt werden, dass solche Pro-jekte ausgewählt werden, die wirtschaftlich sinnvoll sindund die unsere Wachstumskraft und Wettbewerbsfähig-keit auch nachhaltig stärken. Deutschland wird im G-7-Vorsitz in enger Abstimmung mit den europäischen Part-nern und Institutionen auch gegenüber außereuropäi-schen Partnern deutlich machen, wie wichtig nachhaltigeHaushaltspolitik, umfassende Strukturreformen und ge-zielte Investitionen sind, um das globale Wachstum zustärken.Gleichzeitig werden wir uns mit allem Nachdruck da-für einsetzen, wichtige europäische Vorhaben entschlos-sen voranzutreiben. Dazu gehört auch das Abkommenzur Transatlantischen Handels- und Investitionspartner-schaft zwischen der Europäischen Union und den Verei-nigten Staaten von Amerika.
Dieses Freihandelsabkommen bietet große Chancen, undes ist notwendig für das Wachstum in Europa und dieInnovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit unserer Un-ternehmen. Ohne Zölle und unnötige Bürokratie wird esfür unsere Unternehmen erheblich leichter, das enormePotenzial des amerikanischen Marktes zu erschließen.
Meine Damen und Herren, Deutschlands Wirtschafts-beziehungen zu den Vereinigten Staaten sind wichtigund auch von wachsender Bedeutung für unseren Wohl-stand. Allein im vergangenen Jahr sind die deutschenExporte in die USA um gut 7 Prozent auf 96 MilliardenEuro gestiegen. Ich unterstütze deshalb sehr, dass derheute beginnende Europäische Rat mit einer Diskussionzum Transatlantischen Freihandelsabkommen noch ein-mal unterstreicht, welch große Bedeutung er diesem Ab-kommen beimisst. Wir hatten bereits im Dezember dasZiel vorgegeben, die Verhandlungen für das Abkommennoch in diesem Jahr abzuschließen, und wir sollten allesdaransetzen, dieses Ziel auch zu erreichen.
Ein weiteres wichtiges europäisches Vorhaben ist dieSchaffung einer Energieunion. Sie soll zukünftig denRahmen für unsere europäische Energiepolitik bieten
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Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
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und auch die Umsetzung unserer europäischen Klima-und Energieziele für 2030 befördern. Im Zentrum desKonzepts einer Energieunion steht eine sichere, bezahl-bare, umweltverträgliche und wettbewerbsfähige Ener-gieversorgung. Aus unserer Sicht muss der Schwerpunktdabei primär auf der Stärkung des Energiebinnenmarktesund der Umsetzung der Klima- und Energieziele für2030 liegen.Durch die Ukraine ist das Thema Energieversor-gungssicherheit wieder stärker ins Bewusstsein gerückt.Auch dies wird ein zentraler Aspekt der Energieunionsein. Wir werden auch in den kommenden Jahren unsereAnstrengungen verstärken müssen, die Energieversor-gung in allen Mitgliedstaaten langfristig zu sichern.Schlüsselelemente sind dabei für uns der weitere Ausbauder erneuerbaren Energien, mehr Energieeffizienz, dieDiversifizierung der Energiequellen und ein funktionie-render Energiebinnenmarkt.Die Bundesregierung tritt dafür ein, dass bei der Um-setzung der Energieunion marktwirtschaftliche und wett-bewerbliche Ansätze im Vordergrund stehen. Deshalbmuss etwa ein gebündelter Gaseinkauf für Mitgliedstaa-ten freiwillig und auf Ausnahmen begrenzt bleiben.Wichtig ist weiter, dass ein glaubwürdiger und ver-lässlicher Rahmen geschaffen wird, um die Klima- undEnergieziele 2030 auch tatsächlich zu erreichen. Dafürbrauchen wir einen konkreten Vorschlag der Europäi-schen Kommission für eine verlässliche Governance-Struktur, das heißt: klare Regeln für die Umsetzung derZiele und auch entsprechende Konsequenzen, wenn dasnicht erfolgt. Das ist deshalb so wichtig, weil wir Endedes Jahres bei der Klimakonferenz in Paris endlich einneues und ambitioniertes weltweites Klimaabkommenverabschieden wollen, das alle Staaten zu Klimaschutz-aktivitäten verpflichtet und das spätestens 2020 in Krafttritt.Wir brauchen zum Wohle kommender Generationeneinen klaren und für alle verbindlichen Rahmen, der unsauf einen Entwicklungspfad führt, mit dem wir das öko-logisch so wichtige 2-Grad-Ziel auch einhalten können.
Die Bundesregierung wird die französische Regierungund ich werde den französischen Präsidenten FrançoisHollande nach Kräften darin unterstützen, die Klima-konferenz in Paris erfolgreich abzuschließen, unter an-derem durch einen starken Impuls auch der G-7-Staatenund durch den diesjährigen Petersberger Klimadialog.Mit dem geplanten Minderungsbeitrag der Europäi-schen Union und ihrer Mitgliedstaaten für das neue Kli-maabkommen sendet die EU ein kraftvolles Signal andie Staatengemeinschaft. Wir wollen bis 2030 eineTreibhausgasreduktion um mindestens 40 Prozent ge-genüber 1990 erreichen. Der Europäische Rat wird die-sen Beschluss noch einmal bekräftigen. Damit wollenwir auch einen Anreiz für andere große Volkswirtschaf-ten schaffen, ihre möglichst ambitionierten Klimaschutz-beiträge für Paris rechtzeitig und vor allen Dingen auchin transparenter Art und Weise vorzulegen.Meine Damen und Herren, die wirtschaftliche, sozialeund ökologische Stärke Europas dient ohne Zweifel demWohl der Bürgerinnen und Bürger unserer EuropäischenUnion, und das erwarten die Menschen auch zu Recht.Sie ist aber auch notwendige Grundlage, um die großengeopolitischen Herausforderungen bewältigen zu kön-nen, denen sich Europa 70 Jahre nach Ende des ZweitenWeltkrieges und 25 Jahre nach Ende des Kalten Kriegesausgesetzt sieht – vorneweg durch die Lage in derUkraine.Als vor 25 Jahren der Kalte Krieg zu Ende ging, er-möglichte dies den Staaten Mittel- und Osteuropas, end-lich selbstbestimmt ihren Weg zu gehen. Das Denken inBlöcken und Einflusssphären schien ein für alle Malüberwunden. Aber wenn sich der Europäische Rat heuteAbend mit der Lage in der Ukraine befasst, dann tut erdas fast auf den Tag genau ein Jahr nach dem verfas-sungswidrigen Referendum auf der Krim. Wir wusstendamals wie heute: Die Gründe, die für dieses Referen-dum genannt wurden, waren Vorwände. Dieses Referen-dum hatte einen einzigen Zweck: Es war das Werkzeug,einem russischen Plan folgend, die Krim der Ukraine zuentreißen. Russland sollte die Krim dann als Teil bekom-men, und so ist es auch geschehen.Die Annexion der Krim war und bleibt ein Akt gegendas internationale Recht, gegen die Verträge, in denensich Russland verpflichtet hatte, die Souveränität und In-tegrität der Ukraine zu achten. Mit dieser Annexion hatRussland das Fundament unserer europäischen Friedens-ordnung infrage gestellt. Ich bin froh, dass Europa da-rauf von Anfang an und bis heute eine klare Antwort ge-geben hat.
Russlands Griff nach der Krim genauso wie seineHandlungen in der Ostukraine fordern uns Europäer he-raus. Ja, die Interessen innerhalb der EuropäischenUnion sind unterschiedlich, auch unsere Abhängigkeitvon Energieimporten oder Handelsverbindungen ist un-terschiedlich. Aber ich sage: Die Europäische Union hatdiese Herausforderung bis heute bestanden. Wir habenuns nicht spalten lassen. Wir haben in der Diskussion,wie es unsere Art ist, zu gemeinsamen Entscheidungengefunden und diese auch nach außen vertreten – mit ei-ner europäischen Stimme und gemeinsam mit unserentransatlantischen Partnern. Ich möchte – und das gilt fürdie ganze Bundesregierung –, dass das so bleibt. Daraufwerden wir hinarbeiten.
Präsident Hollande und ich haben in Abstimmung mitanderen europäischen Partnern im Februar eine Initiativeergriffen, um das Blutvergießen und das tägliche Leidder Menschen in der Ostukraine zu beenden. DieUkraine, Russland und die Separatisten haben sich inMinsk auf ein Maßnahmenpaket verpflichtet, das erst ei-nen Waffenstillstand und den Abzug schwerer Waffenund dann weitere Schritte zu einer politischen Lösungvorsieht. Uns musste immer klar sein, dass dieser Pro-zess nicht ohne Verzögerungen und Rückschläge ablau-
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Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
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fen würde, dass er nur ein Hoffnungsschimmer seinkonnte – nicht mehr, aber eben auch nicht weniger. Dochauch wenn der Waffenstillstand noch zerbrechlich undder Waffenabzug noch nicht ausreichend überwacht ist,so sind doch Anfänge gemacht. Auf diesem Weg müssenalle Beteiligten weitergehen, bis hin zu dem letztenSchritt, den das Maßnahmenpaket von Minsk vorsieht:wenn nämlich die Ukraine wieder die Kontrolle überihre eigene Grenze zu Russland übernimmt.Wir Europäer haben im vergangenen Jahr in mehrerenEntscheidungsrunden Sanktionen verhängt. Diese Sank-tionen, die im Juli bzw. September auslaufen werden,wollen und können wir nicht aufheben, wenn nur ersteForderungen der Minsker Vereinbarungen erfüllt sind;das wäre falsch. Deshalb werde ich mich heute Abenddafür einsetzen, dass sich die Dauer der Sanktionen amPaket von Minsk und seiner Erfüllung orientiert.
Ich bin überzeugt: Damit handeln wir im Sinne der euro-päischen Werte, die uns einen, und im Interesse derMenschen, die in den betroffenen Gebieten leben. Au-ßerdem machen wir deutlich, dass wir auf der Umset-zung des gesamten Paketes von Minsk bestehen.Meine Damen und Herren, nicht nur die sicherheits-politischen, sondern auch die wirtschaftlichen Heraus-forderungen für die Ukraine bleiben groß. Deutschlandhat deshalb unter anderem bilateral einen zusätzlichenKreditrahmen in Höhe von 500 Millionen Euro zugesagt.Im Rahmen unseres G-7-Vorsitzes haben wir das Engage-ment der internationalen Gemeinschaft zur finanziellenUnterstützung der Ukraine koordiniert. Die Entscheidungdes Internationalen Währungsfonds, Kredithilfen in Höhevon 17,5 Milliarden US-Dollar zu gewähren, und derVorschlag der Europäischen Kommission für weitereKredite in Höhe von 1,8 Milliarden Euro sind dabeiwichtige Beiträge, um die Lage in der Ukraine zu stabili-sieren. Die Europäische Union hat mit Unterstützung derMitgliedstaaten und insbesondere Deutschlands darüberhinaus ihre humanitären Hilfsleistungen in den beson-ders betroffenen Gebieten im Osten der Ukraine deutlichverstärkt.Meine Damen und Herren, die Ukraine-Krise berührtnatürlich auch das Verhältnis zu unseren anderen östli-chen Nachbarn. Im Mai findet der nächste Gipfel zurÖstlichen Partnerschaft in Riga statt. Die Ukraine, Geor-gien und Moldau haben Assoziierungsabkommen mitder Europäischen Union geschlossen. Ziel dieser Ab-kommen ist die europäische Unterstützung beim Aufbaueines funktionierenden Rechtsstaates, einer erfolgrei-chen Marktwirtschaft, um den Menschen in diesen Län-dern eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Ziel ist nichtder Beitritt zur Europäischen Union oder zur NATO.Die Östliche Partnerschaft – das gilt unverändert –richtet sich gegen niemanden, auch nicht gegen Russ-land. Ich bedaure sehr, dass Präsident Putin dennochEntscheidungen einzelner Länder für ein EU-Assoziie-rungsabkommen zu einer Frage von Entweder-oder, füroder gegen Russland gemacht hat. Das Gegenteil bleibtrichtig: Es geht nicht um ein Entweder-oder, sondern esgeht um ein Sowohl-als-auch, von dem alle nur profitie-ren können.
Deshalb wird die Europäische Union in genau diesemGeist ihr Angebot der Östlichen Partnerschaft beimheute beginnenden Europäischen Rat in Brüssel undbeim Gipfel der Östlichen Partnerschaft in Riga im Maibekräftigen.Meine Damen und Herren, ein weiteres außenpoliti-sches Thema des Europäischen Rates wird die Lage inLibyen sein. Nur ein paar hundert Kilometer vor den To-ren Europas taumelt Libyen am Rande eines Bürger-kriegs. Terrorgruppen und organisierte Kriminalität ma-chen sich das Chaos zunutze und nisten sich dort ein.Mit welchen Konsequenzen das verbunden ist, führt unsdie Terrororganisation IS immer wieder mit der barbari-schen Ermordung unschuldiger Menschen vor Augen.Lassen Sie mich die Gelegenheit nutzen, der Opfer zugedenken, die gestern in Tunesien im Rahmen eines ter-roristischen Anschlags ums Leben kamen. Den Angehö-rigen gilt unser tief empfundenes Mitgefühl. Wir werdenalles tun, was in unserer Kraft steht, um Tunesien zu hel-fen.
Die Lage in Libyen hat massive Auswirkungen nichtnur auf Nordafrika und die Sahelzone, sondern ebenauch auf uns in Europa. Bereits jetzt gehört Libyen zuden wichtigsten Transitländern für Flüchtlinge ausAfrika und Nahost. Die Vereinten Nationen bemühensich um eine politische Lösung. Diese Bemühungenrichten sich auf das Ziel, in Libyen eine Regierung dernationalen Einheit bilden zu können; denn nur auf die-sem Weg werden dauerhafter Frieden, Stabilität undWohlstand möglich sein. Wir unterstützen diese Bemü-hungen gemeinsam mit der EU und anderen Partnern mitaller Kraft.Herr Präsident, meine Damen und Herren, eigentlichsah die offizielle Tagesordnung des Europäischen Rateskeine Beratung zur Lage in Griechenland vor. Nun aberwerden wir heute Abend in einer kleinen Gruppe mitMinisterpräsident Tsipras doch darüber sprechen; dennnatürlich drehen sich zurzeit wieder viele unserer Ge-danken um dieses Land. Griechenland gelten wieder ver-stärkt die Bemühungen der Finanzminister wie der euro-päischen Institutionen.Griechenland, das Land, in dem vor fünf Jahren dieeuropäische Staatsschuldenkrise ihren Ausgang nahm,hat diese Krise noch lange nicht hinter sich. Es bleibt einsehr schwerer Weg zu gehen. Dabei ist heute so klar wie2010, als die europäischen Partner in einem erheblichenpolitischen wie finanziellen Kraftakt das erste europäi-sche Hilfsprogramm für Griechenland auflegten: Nur
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Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
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mit einem solchen Kraftakt wird es gehen, nur in diesemZusammenspiel von Solidarität und griechischer Eigen-anstrengung, nur indem die einen helfen und die anderendie Hilfe als Verpflichtung verstehen, als Verpflichtung,den Haushalt in Ordnung zu bringen, zu reformieren unddaraufhin zu arbeiten, eines Tages keine Hilfe mehr zubrauchen.
Nur so wird es gehen, indem man Vereinbarungen trifftund sich alle an Vereinbarungen halten.
Ich habe den griechischen Ministerpräsidenten AlexisTsipras für Montag nach Berlin eingeladen. Ich freuemich auf seinen Besuch. Wir werden Zeit haben, aus-führlich miteinander zu reden, vielleicht auch zu disku-tieren.
Es ist natürlich völlig klar, dass niemand eine Lösung fürGriechenlands Probleme schon heute Abend in Brüsseloder am Montagabend erwarten kann. Eine Lösung derProbleme kann es auch nur auf der Basis dessen geben,was in der Euro-Gruppe miteinander vereinbart wordenist. Kein Treffen im kleinen Kreis kann oder wird die Ei-nigung auf Vorschlag der Institutionen – InternationalerWährungsfonds, Europäische Zentralbank und Europäi-sche Kommission – in der Euro-Gruppe ersetzen. Dochich führe alle meine Gespräche heute, Montag und vieleandere mehr in dem Verständnis, dass aus Meinungsver-schiedenheiten Gemeinsamkeit wird, so wie es auf demWeg zur europäischen Einigung immer wieder gelungenist. Deutschland ist dazu bereit; denn ich bin mir sehrwohl bewusst: Die Welt schaut auf uns, wie wir in derEuro-Zone mit Problemen und Krisen in einzelnen Mit-gliedstaaten umgehen. Die Welt misst uns daran, und siewird Europa umso mehr respektieren, wenn wir zeigen,dass wir gemeinsam handeln und gemeinsam die Pro-bleme lösen können.Ich habe immer wieder gesagt: Scheitert der Euro,scheitert Europa. Das fanden und finden manche zu dra-matisch. Aber ich bleibe dabei; denn der Euro ist weitmehr als eine Währung. Er ist neben den europäischenInstitutionen, die wir geschaffen haben, der stärkste Aus-druck unseres Willens, die Völker Europas wirklich imGuten und Friedlichen zu vereinen.
Er ist der Ausdruck des völkerverbindenden Miteinan-ders, mit dem wir unwiderruflich die Lehre aus Jahrhun-derten der Kriege und der Feindschaften gezogen haben.Wenn ich bedenke, was wir auf diesem Weg der europäi-schen Einigung geschafft haben, dann sehe ich keinenGrund, vor den heutigen Aufgaben zu verzagen – im Ge-genteil.
Vielleicht ist es wieder an der Zeit, dass wir es unsselber laut sagen: Die Europäische Union ist die Ge-meinschaft des Friedens, sie ist die Gemeinschaft derStabilität, sie ist die Gemeinschaft der Freiheit. Vieleeuropäische Mitgliedstaaten haben in den vergangenenJahrzehnten Diktaturen überwunden und sich die Demo-kratie erkämpft: Spanien, Portugal, auch Griechenlandund natürlich die Staaten dessen, was man einmal denOstblock nannte, ein Teil Deutschlands auch. Die Blöckegibt es nicht mehr. Stattdessen gibt es eine erweiterteEuropäische Union. Auch das haben wir geschafft, unddarauf können wir Europäer stolz sein.
Vielleicht ist es auch an der Zeit, dass wir uns wiederdaran erinnern, wie wir diese wunderbare Wandlungvom Kontinent des Krieges zum geeinten Europa ge-schafft haben: mit Kreativität und Vertragstreue, mit fes-ten Prinzipien ebenso wie mit Verständnis füreinanderund Kompromissbereitschaft.
Und darauf kommt es jetzt wieder an. Dafür bitte ichweiterhin um Ihre Unterstützung, zum Wohle der Euro-päerinnen und Europäer, die zu ihrem Glück vereintsind.Vielen Dank.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Sahra Wagenknecht für die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!Frau Bundeskanzlerin! Zu ihren besten Zeiten hatte diedeutsche Außenpolitik zwei Prioritäten. Das waren dieeuropäische Einigung und eine Politik der guten Nach-barschaft gegenüber Russland. Es sollte Ihnen schon zudenken geben, Frau Merkel – wenn Sie bitte zuhörenkönnten –,
dass Nationalismus und Zwietracht in Europa, knappzehn Jahre nachdem Sie das Kanzleramt übernommenhaben, wieder gedeihen wie lange nicht mehr und imVerhältnis zu Russland die Entspannungspolitik einemneuen Kalten Krieg gewichen ist.
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Dr. Sahra Wagenknecht
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Die spezifischen US-Interessen in Europa hat vor kur-zem der Chef des einflussreichen Thinktanks Stratfor ineiner Pressekonferenz in eindrucksvoller Offenheit er-läutert: Hauptinteresse der Vereinigten Staaten sei es, einBündnis zwischen Deutschland und Russland zu verhin-dern, denn – so wörtlich – „vereint sind sie die einzigeMacht, die uns“, also die USA, „bedrohen kann“.Diese vermeintliche Bedrohung von US-Interessenwurde auf absehbare Zeit erfolgreich erledigt. Das be-gann eben damit, dass die EU im Rahmen der ÖstlichenPartnerschaft versucht hat, die betreffenden Länder ausder wirtschaftlichen und politischen Kooperation mitRussland herauszubrechen.
Frau Merkel, natürlich war das gegen Russland gerich-tet; aber es war eben auch nicht im Interesse der betref-fenden Länder. Sie haben denen das Entweder-oder auf-gezwungen, nicht Russland.
Im Ergebnis hat die Ukraine einen Großteil ihrer In-dustrie verloren. Heute ist dieses Land ein bankrotterStaat, in dem Menschen hungern und frieren und dieLöhne niedriger sind als im afrikanischen Ghana.Aber die Konfrontation mit Russland hat nicht nur dieUkraine zerstört. Sie schadet ganz Europa. Es ist dochein offenes Geheimnis, dass die Vereinigten Staaten denKonflikt mit Russland auch aus wirtschaftlichen Grün-den schüren. Wenn US-Regierungen von Menschenrech-ten reden, dann geht es in der Regel um Bohrrechte oderum Schürfrechte. Gerade in der Ukraine ist angesichtsder großen Schiefergasvorkommen verdammt viel zuschürfen.
Wenn jetzt im Rahmen der Energieunion von neuenPipelinerouten und einer zunehmenden Unabhängigkeitvom russischen Gas geredet wird, dann sollten Sie denLeuten ehrlicherweise sagen, was das bedeutet: wach-sende Abhängigkeit vom wesentlich teureren und ökolo-gisch verheerenden US-Frackinggas. Ich halte das nichtfür eine verantwortungsvolle Perspektive.
Die Liste der ehemaligen deutschen Spitzenpolitiker,die Ihre Russlandpolitik kritisiert haben, Frau Merkel, istlang. Da finden Sie die Namen Ihrer Vorgänger GerhardSchröder, Helmut Kohl, Helmut Schmidt und ebensoHans-Dietrich Genscher. Vielleicht hat das ja auch zu Ih-rem Einlenken beigetragen. Auf jeden Fall war es rich-tig, dass Sie gemeinsam mit dem französischen Präsi-denten Hollande die Initiative zu neuen Verhandlungenergriffen haben. Minsk II hat immerhin dazu geführt,dass in der betreffenden Region seit Wochen deutlichweniger Menschen sterben als in den Wochen und Mo-naten davor und dass die Tür zu einer friedlichen Lösunggeöffnet wurde.
Natürlich ist das ein wichtiges Ergebnis. Sie, FrauBundeskanzlerin, und der französische Präsident verdie-nen dafür Anerkennung.
Wem aber an Frieden und Sicherheit in Europa liegt,der muss den Weg von Minsk II jetzt auch mit Konse-quenz und Rückgrat weitergehen. Da ist es natürlich einProblem, dass Konsequenz und Rückgrat nicht gerade zuIhren hervorstechenden Eigenschaften gehören.
Laut OECD haben beide Seiten den Waffenstillstandwiederholt gebrochen. Sie, Frau Merkel, haben geradewieder gefordert, dass die Sanktionen gegen Russlanderst aufgehoben werden, wenn Minsk II umgesetzt ist.
Natürlich ist es inakzeptabel, wenn aus den Reihender Aufständischen immer noch geschossen wird.
Aber wenn ukrainische Truppen oder die auf ihrer Seitekämpfenden Nazi-Bataillone weiter schießen, dann istdas doch mindestens genauso inakzeptabel. Dazu hörtman von Ihnen kein kritisches Wort.
Wieso melden Sie sich auch nicht mit Kritik zu Wort,wenn die ukrainische Regierung trotz drohenden Staats-bankrotts in diesem Jahr viermal so viel Geld für neueWaffen ausgeben möchte als im letzten Jahr?
Das spricht nicht gerade dafür, dass der Weg des Frie-dens in der ukrainischen Regierung besonders engagierteUnterstützer hat.Ebenso können die Entsendung von Militärberaternund die Waffenlieferungen durch die Vereinigten Staatenund Großbritannien eher als Torpedierung denn alsUnterstützung des Friedensprozesses gewertet werden.Aber wollen Sie jetzt auch gegen die USA und Groß-britannien Sanktionen verhängen? Ich glaube, es wärebesser, einzusehen, dass diese ganze unsägliche Sank-tionspolitik ein einziger großer Fehler war, mit dem sichEuropa ins eigene Knie geschossen hat. Deswegen soll-ten die Sanktionen nicht verlängert werden.
Wir brauchen auch keine zusätzlichen Panzer. Wirbrauchen auch keine 3 000 Mann starke NATO-Interven-tionstruppe in Osteuropa, die niemanden schützt, son-dern den Frieden in ganz Europa nur noch mehr gefähr-det.
Helmut Schmidt hatte doch recht, als er schon 2007gewarnt hat, dass für den Frieden der Welt von Russlandheute viel weniger Gefahr ausgeht als etwa von Amerika
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Dr. Sahra Wagenknecht
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und dass die NATO nur noch ein Instrument US-ameri-kanischer Hegemoniebestrebungen sei. Wenn dasstimmt, dann lässt das doch nur einen vernünftigenSchluss zu: dass Europa endlich eine eigenständige undvon den USA unabhängige Politik machen muss.
Herr Juncker hat nun die These aufgestellt, wirbräuchten eine europäische Armee, um zu zeigen, dasses uns mit der Verteidigung europäischer Werte gegen-über Russland ernst ist. Ich glaube, dieser Vorschlagzeigt vor allem eins: wie weit sich Europa von dem ent-fernt hat, was einst die Gründerväter der europäischenEinigung wollten.
Damals ging es – Frau Merkel, Sie haben es eben selberangesprochen – um Frieden, um Demokratie und um So-lidarität.
Nie wieder sollten Nationalismus und Völkerhass die eu-ropäischen Länder entzweien. Aber um solche Werte zuverteidigen, dafür brauchen Sie wahrlich keine bewaff-neten Bataillone.Wenn Sie die Demokratie verteidigen wollen, FrauMerkel, dann setzen Sie sich doch dafür ein, dass die eu-ropäischen Länder endlich wieder von ihren gewähltenRegierungen und nicht von Finanzmärkten, nicht vondem ehemaligen Investmentbanker Mario Draghi und,bitte schön, auch nicht von Ihnen, Frau Merkel, regiertwerden.
Wenn Sie Demokratie wollen, dann stoppen Sie die so-genannten Freihandelsabkommen, dann stoppen SieTTIP, in dessen Folge demokratische Wahlen endgültigzur bloßen Farce verkommen.
Das wäre eine Verteidigung europäischer Werte! Daswäre eine Verteidigung von Demokratie, diese unsägli-chen Verhandlungen über TTIP und ähnliche Abkom-men endlich auszusetzen!
Wenn Sie ein einiges Europa wollen, dann hören Sieauf, andere Länder zu demütigen und ihnen Programmezu diktieren, die ihrer jungen Generation jede Perspek-tive nehmen.
Hören Sie auf, Europa sogenannte Strukturreformen vor-zuschreiben, die nur auf wachsende Ungleichheit und ei-nen immer größeren Niedriglohnsektor hinauslaufen!
In Deutschland sind infolge dieser Politik mittlerweile3 Millionen Menschen trotz Arbeit so arm, dass sie nichtordentlich heizen, sich nicht anständig ernähren undschon gar nicht in den Urlaub fahren können. Statt diesePolitik zum Exportschlager zu erklären, wäre es an derZeit – und übrigens sehr im europäischen Interesse –, sieendlich hier in Deutschland zu korrigieren; denn es istnicht zuletzt das deutsche Lohndumping, das anderenLändern der Währungsunion die Luft zum Atmennimmt.
Finanzminister Schäuble hat kürzlich versucht, diegriechische Regierung mit der Bemerkung vorzuführen:Tja, regieren sei halt immer ein Rendezvous mit derRealität.
Da kann man nur sagen: Schön wär’s! Schön wäre es,wenn die deutsche Regierung ihr Rendezvous mit derRealität endlich auch einmal erleben würde.
Denn Realität ist jedenfalls, dass es nicht die Syriza, son-dern die griechischen Schwesterparteien von CDU/CSUund SPD waren, die über Jahrzehnte einen riesigenSchuldenberg aufgetürmt haben, um sich und der Ober-schicht die Taschen vollzustopfen.
Realität ist auch, dass Griechenland bereits 2010 hoff-nungslos überschuldet war und dass es eine verantwor-tungslose Veruntreuung von deutschem Steuergeld war,mit diesem Geld die Schulden der Griechen bei den Ban-ken zu bezahlen. Wir haben deswegen damals nicht zu-gestimmt. Wir haben damals schon einen Schulden-schnitt gefordert.
Wer einem Überschuldeten Kredit gibt, der wird seinGeld mutmaßlich nie wiedersehen. Aber die Verantwor-tung dafür liegt bei Ihnen, Frau Merkel und HerrSchäuble, und nicht bei der neuen griechischen Regie-rung, die noch nicht einmal zwei Monate im Amt ist.
Realität ist auch, dass unter dem Protektorat der vonIhnen immer noch hochgeschätzten Troika, über derenkriminelle Machenschaften man sich in dem hervorra-genden Dokumentarfilm von Harald Schumann infor-
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Dr. Sahra Wagenknecht
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mieren kann, die griechischen Schulden noch weiter ge-wachsen und die griechischen Milliardäre noch reichergeworden sind.
Und das wollen Sie fortsetzen? Da kann ich nur sagen:Gute Nacht!Wenn Sie unser Geld zurückholen wollen, dann holenSie es bei denen, die es bekommen haben,
und das waren nicht griechische Rentner und griechischeKrankenschwestern, sondern die internationalen Ban-ken und die griechische Oberschicht. An dieser Stellekönnen Sie der griechischen Regierung helfen, das Geldwieder einzutreiben.
Zu der ganzen Debatte um mögliche Reparationszah-lungen möchte ich nur sagen:
Egal, wie man diese Forderungen juristisch bewertet, dasMindeste, was man von Vertretern des deutschen Staateserwarten kann, ist ein Mindestmaß an Sensibilität imUmgang mit diesem Thema.
– Ich muss sagen, dass Sie jetzt auch noch lachen, istwirklich traurig.
Angesichts dessen, wie die deutschen Besatzer inGriechenland gewütet haben, und der Tatsache, dass1 Million Griechinnen und Griechen in diesem finsterenKapitel deutscher Geschichte ihr Leben verloren hat,finde ich die schnoddrigen Äußerungen von Ihnen, HerrSchäuble, und von Ihnen, Herr Kauder, einfach nur re-spektlos, und ich schäme mich dafür.
Um daran zu erinnern, dass Umgang mit Geschichteauch anders geht, möchte ich zum Schluss aus der RedeRichard von Weizsäckers aus Anlass des 40. Jahrestagesder Befreiung zitieren. – Ich komme gleich zum Schluss,Herr Präsident. – Sie bezog sich damals vor allem aufRussland und Osteuropa, aber sie gilt natürlich auch fürGriechenland:
Wenn wir daran denken, was unsere östlichenNachbarn im Kriege erleiden mussten, werden wirbesser verstehen, dass der Ausgleich, die Entspan-nung und die friedliche Nachbarschaft mit diesenLändern zentrale Aufgaben der deutschen Außen-politik bleiben. Es gilt, dass beide Seiten sich erin-nern und beide Seiten einander achten.Ja, nur wenn wir uns erinnern und nur wenn wir ei-nander achten, nur dann finden wir zu einer Politik derguten Nachbarschaft zurück, sowohl innerhalb der EUals auch gegenüber Russland.
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Oppermann
für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Verehrte Frau Wagenknecht, wir sind ja einigesvon Ihnen gewohnt,
aber dass Sie jetzt die Europäische Kommission, den In-ternationalen Währungsfonds und die EZB und ihre Ar-beit in Griechenland als kriminelle Machenschaften be-zeichnen, ist eine neue Qualität.
Ich habe den Eindruck, dass Ihre Kritik jedes Ziel undjedes Maß verloren hat.
Ich weiß auch gar nicht, warum Sie so schimpfen. IhreFraktion hat doch vor zwei Wochen mit großer Mehrheitder Verlängerung des Programmes zugestimmt.
Ihre ganze Rede eben war doch ein Abarbeiten an derUnzufriedenheit mit der Entscheidung Ihrer eigenenFraktion.
Wenn wir über Europa reden, dann will ich auch einWort zu den Bildern und zu den Nachrichten sagen, dieuns gestern aus Frankfurt erreicht haben. Dass ausge-rechnet jetzt so militant gegen die EZB demonstriertwird, die ja in den letzten Jahren ganz maßgeblich fürdie Stabilität in Europa gesorgt hat, die dazu beigetragenhat, dass Krisenländer nicht im Finanzchaos versinken,das ist für mich schwer verständlich.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 8889
Thomas Oppermann
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Jeder in Deutschland hat natürlich das Recht, friedlichzu demonstrieren. Das ist ein wichtiges Grundrecht, daswir immer verteidigen.
Wenn aber Einzelne oder einzelne Gruppen aus diesenDemonstrationen heraus Feuerwehrleute und Polizistenangreifen, dann ist das unerträglich.
Ich sage ganz klar: Das sind für mich keine Demonstran-ten. Das sind politische Kriminelle. Ich hoffe sehr, dasssie für ihr Verhalten mit aller Konsequenz zur Rechen-schaft gezogen werden.
Meine Damen und Herren, auch wenn, wie es dieBundeskanzlerin gesagt hat, von diesem Gipfel nochkeine Lösung zu erwarten ist, müssen wir alles daranset-zen, dass Griechenland doch noch einen Weg aus dieserKrise findet. Das wünsche ich Griechenland. Das wün-sche ich aber auch uns. Denn eine erfolgreiche Entwick-lung in Griechenland liegt in unserem ureigenen Inte-resse.
Deutschland haftet mit rund 50 Milliarden Euro fürgriechische Staatsanleihen. Aber es steht nicht nur finan-ziell viel auf dem Spiel, sondern auch, weil ein AustrittGriechenlands aus der Euro-Zone enorme wirtschaftli-che und soziale Verwerfungen in Griechenland zur Folgehätte. Vor allem aber geht es um die Frage, ob Europa indieser schwierigen Situation zusammenbleibt oder ausei-nanderfällt. Denn wir müssen uns klarmachen, dass einAusscheiden Griechenlands aus der Euro-Zone ein dra-matischer Akt und ein schwerer Rückschlag wäre, nichtnur für die Euro-Zone, sondern auch für die ganze Ideeder Europäischen Union. Das wäre mit Blick auf die Kri-sen in dieser Welt und auf die Krisenherde in Libyen, imNahen Osten und in der Ukraine ein schwer hinzuneh-mendes Zeichen der Schwäche der Europäischen Union,das wir überhaupt nicht gebrauchen können.
Deshalb, meine Damen und Herren, hoffe ich sehr,dass auf dem Gipfel alle miteinander daran arbeiten, dieProbleme Griechenlands innerhalb der Euro-Zone zu lö-sen. Dabei muss man allerdings, und zwar entgegen allerlinks- oder rechtspopulistischen Propaganda, klar daraufhinweisen: Diese Probleme hat nicht die EuropäischeUnion, nicht die Euro-Zone und auch nicht die Bundes-regierung verursacht, sondern das Schulden- undFinanzdesaster in Griechenland ist in erster Linie auf dasjahrzehntelange Wirken korrupter politischer und öko-nomischer Eliten zurückzuführen.
– Dazu gehört auch Pasok; gar keine Frage.Auch nach nunmehr über fünfjährigen Reformbemü-hungen hat sich die Situation in Griechenland immernoch nicht grundlegend gebessert. Es gibt in Griechen-land immer noch keine effiziente Staatsverwaltung undJustiz. Stattdessen hat das klientelistische System einenvöllig überdimensionierten öffentlichen Dienst hervor-gebracht, der zu einer Versorgungsanstalt für die Anhän-ger der regierenden Parteien degeneriert ist.
Selbstständige müssen sich in Griechenland mit einerirrsinnigen Bürokratie auseinandersetzen. Es gibt immernoch eine riesige Schattenwirtschaft mit Schwarzarbeit,Korruption und Steuerhinterziehung. Vor allem den Pri-vilegierten und Vermögenden und den oligarchischenGruppen in diesem Lande ist es immer wieder gelungen,sich der Besteuerung zu entziehen.
Griechenland, meine Damen und Herren, ist nicht nurdeshalb hoch verschuldet, weil es Probleme mit der wirt-schaftlichen Wettbewerbsfähigkeit hat, sondern vor al-lem auch deshalb, weil es kein intaktes Staatswesen undkeine funktionierende Steuerverwaltung gibt. Griechen-land ist auch deshalb ein armer Staat, weil privaterReichtum nicht angemessen besteuert wird.
Nur wenn diese Reformen ernsthaft in Angriff ge-nommen werden, machen weitere Hilfen für Griechen-land überhaupt einen Sinn.
Das ist der Grund dafür, warum wir darauf bestehen,dass es eine Fortsetzung des Programmes nur gebenkann, wenn Zug um Zug die dringend notwendigen Re-formen durchgeführt werden.
Wir sind zu Solidarität bereit. Aber Solidarität ist keineEinbahnstraße, meine Damen und Herren.
Wir müssen leider feststellen – in diesem einen Punktgebe ich Ihnen recht, Frau Wagenknecht –, dass die alteRegierung diese Probleme trotz einzelner Fortschrittenicht wirklich angepackt hat. Wenn jetzt die neue Regie-rung
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Thomas Oppermann
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ernsthaft das klientelistische System und die Korruptionbekämpfen und eine umfassende Staatsreform auf denWeg bringen will, dann verdient sie die UnterstützungDeutschlands und Europas. Das ist doch gar keine Frage.
Aber leider hat die neue Regierung schon in den ers-ten zwei Monaten viel Vertrauen verspielt.
Ich finde die zum Teil aggressive Tonlage mehr als be-fremdlich.
Die persönlichen Angriffe auf BundesfinanzministerSchäuble sind absolut unangemessen, meine Damen undHerren.
Der griechische Finanzminister Varoufakis hat in denletzten Wochen so viele Vorschläge gemacht, dass ich je-denfalls nicht mehr weiß, wofür er steht.
Ich finde es gut, dass die Bundeskanzlerin jetzt Lösun-gen mit Herrn Tsipras sucht. Im Übrigen müssen wiraufpassen, dass dies kein Konflikt zwischen Deutsch-land und Griechenland wird. Das müssen wir verhin-dern. Die Aufstellung ist doch nicht „Deutschland gegenGriechenland“, sondern es geht um Griechenland undEuropa; so muss es doch richtig lauten.
Im Übrigen finde ich es deplatziert, die Verhandlun-gen über Hilfspakete mit der Forderung nach Reparatio-nen zu vermischen.
Es war gut und richtig, dass Bundespräsident Gauck beiseinem Staatsbesuch in Griechenland vor genau einemJahr ein klares Bekenntnis zu unserer historischen Ver-antwortung abgelegt und die Angehörigen der Opfer umVerzeihung gebeten hat. Er hat aber auch die Forderun-gen nach Reparationszahlungen zurückgewiesen. DieBundesregierung geht davon aus, dass alle Reparations-fragen einschließlich Zwangsanleihen
durch die Zwei-plus-Vier-Gespräche rechtlich abschlie-ßend geregelt sind.
Ich teile diese rechtliche Beurteilung.
Aber klar ist auch: Die Verbrechen der nationalsozialisti-schen Besatzungsmacht haben kein Verfallsdatum, dafürtragen wir Verantwortung,
unabhängig davon, ob Reparationen gezahlt worden sindoder Ansprüche auf Reparationen bestehen, meine Da-men und Herren.
Zu dieser Verantwortung gehört auch, dass wir unsbemühen, die Spannungen zwischen Deutschland undGriechenland abzubauen. Viele deutsche Jugendlichewachsen mit einem völlig einseitigen Bild von Griechen-land auf, einem Bild, das nur noch von der Schulden-krise geprägt ist. Deshalb ist es eine sehr gute Initiative,über die Gründung des Deutsch-Griechischen Jugend-werkes und die Stiftung Zukunft den Jugendaustausch zufördern und Versöhnungsprojekte voranzubringen.Ich finde, wir sollten den deutsch-griechischen Dialogauf allen Ebenen intensivieren. Da ist zum Beispiel vonHerrn Fuchtel gefordert worden, die Zusammenarbeit derKommunen auszubauen. Von den 5 500 Städtepartner-schaften, die es gibt, bestehen nur 29 zwischen deut-schen und griechischen Städten. Ich finde, unsere Kom-munen haben ein exzellentes Know-how im Bereich derkommunalen Daseinsvorsorge. Hier muss ja nicht immerprivatisiert werden. Wir können doch auch zeigen, wieEinrichtungen der kommunalen Daseinsvorsorge aufkommunaler Ebene hocheffizient organisiert und betrie-ben werden können. Ich finde, wir sollten mehr Know-how-Transfer in dieser Art organisieren.Auch wenn die Verhandlungen mit Griechenland inden nächsten Wochen hart werden, müssen wir sie im-mer so führen, dass die Freundschaft zwischen Deutsch-land und Griechenland daran nicht zerbricht, meine Da-men und Herren.
Genau vor einem Jahr hat Russland die HalbinselKrim besetzt und sie annektiert. Wladimir Putin hat dasjetzt so begründet: Bei den Massenprotesten in derUkraine sei ein extremer Nationalismus erkennbar ge-worden; deshalb habe er die Menschen nicht alleinlassenkönnen. – Man kann über die Proteste auf dem Maidandenken, wie man will; aber unter keinen Umständenkann man damit Besetzung und Annexion fremdenStaatsgebietes rechtfertigen.
Die Äußerungen Putins zeigen, dass er sich meilenweitvon den Grundlagen der europäischen Friedensordnung,
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Thomas Oppermann
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wie sie in der KSZE-Schlussakte niedergelegt wordenist, entfernt hat. Trotzdem war es richtig, dass die Bun-deskanzlerin und der Bundesaußenminister mit demfranzösischen Präsidenten die Verhandlungen in Minskgenutzt haben, um einen erneuten Waffenstillstand in derOstukraine zu vereinbaren. Auch wenn die Einhaltungund Überwachung dieses Waffenstillstandes Schwierig-keiten bereiten, ist diese Vereinbarung doch der einzigeHoffnungsschimmer in diesem Konflikt seit Monaten.
Frau Bundeskanzlerin und Herr Bundesaußenminister,ich möchte Ihnen persönlich ganz herzlich dafür danken,dass Sie das so unermüdlich auf den Weg gebracht ha-ben.
Eine Rückkehr zur europäischen Friedensordnung istein langer Weg und setzt als ersten Schritt voraus, dassdie Waffen schweigen, damit der Konflikt friedlich gere-gelt und ein politischer Verhandlungsprozess in Ganggesetzt werden kann. Deshalb brauchen wir Deeskala-tion, und deshalb war es absolut richtig, dass sich dieBundesregierung eindeutig dagegen ausgesprochen hat,Waffen in die Ukraine zu liefern. Das würde den Kon-flikt nicht lösen, sondern weiter intensivieren.
Dieser Konflikt kann aber nicht mit militärischen Mit-teln, sondern nur mit politischen Mitteln gelöst werden.
Solange das nicht der Fall ist, müssen die Russland-Sanktionen natürlich bestehen bleiben. Alle Mitgliederder Europäischen Union haben diesen Sanktionen zuge-stimmt. Das zeigt: Europa handelt vereint und lässt sichnicht auseinanderdividieren. Eine klare Haltung in dieserFrage schließt aber nicht aus, dass wir inmitten diesesungelösten Konfliktes auch immer wieder deutlich ma-chen: Wir Deutschen wollen eine politisch stabile, wirt-schaftlich vertiefte und freundschaftliche Beziehung zuRussland. – Wir müssen diese Dinge aber klären, damitwir wieder näher zusammenkommen können.
Angesichts der Ukraine-Krise und der vielen weiterenKonflikte ist es gut, dass wir in Deutschland – das sehendie allermeisten Bürger so – eine handlungsfähige Re-gierung und eine stabile Koalition in diesem Bundestaghaben.
Das ist nicht nur außenpolitisch, sondern auch für dieEntwicklung in diesem Land wichtig.In den letzten Wochen ist viel über das Ende der Ge-meinsamkeiten gesprochen worden – und das ausgerech-net, nachdem wir die Mietpreisbremse verabschiedet, dieFrauenquote auf den Weg gebracht und uns über dieGrundzüge eines 15-Milliarden-Euro-Investitionspro-grammes geeinigt haben. Das hat mich doch ein biss-chen gewundert. Die Opposition schöpft Hoffnung undfühlt sich im Aufwind. Aber, meine Damen und Herren,ich muss Sie enttäuschen: Diese Koalition wird diesemLand auch in Zukunft eine gute Regierung stellen.
Wenn es bei der Umsetzung des Mindestlohnes offeneFragen gibt, dann werden wir darüber reden. Dass eineLohnänderung für 3,7 Millionen Menschen aufwendigist und Zeit braucht, wissen wir, und das wissen wir auchzu würdigen. Ich möchte mich bei allen Arbeitgebernbedanken, die den Mindestlohn in diesen Wochen umset-zen und die offenen Fragen mit dem Bundesarbeits-ministerium klären. Wir haben einen gesetzlichen Min-destlohn auf den Weg gebracht und müssen deshalb auchsicherstellen, dass er nicht nur im Bundesgesetzblattsteht, sondern auch tatsächlich an die Menschen gezahltwird.
Meine Damen und Herren, die Bundeskanzlerin fährtheute nach Brüssel und nimmt zwei gute Botschaftenmit: In Deutschland wird wieder mehr importiert, und inDeutschland wird wieder mehr investiert. Beides ist gutfür Europa.
Nicht nur der Mindestlohn, sondern auch die kräftigenTarifabschlüsse haben dafür gesorgt, dass die Deutschenendlich wieder mehr Geld in der Tasche haben. Dasstärkt die Binnenkonjunktur und wird die Importe erhö-hen.Der Bundeshaushalt 2016 – das ist jetzt schon klar –wird ein Investitionshaushalt. 15 Milliarden Euro wer-den in den nächsten Jahren zusätzlich für öffentliche In-frastruktur und kommunale Investitionen bereitgestellt.Das ist auch ein wichtiger Beitrag, um den Unterschiedzwischen finanzstarken und finanzschwachen Kommu-nen und die unterschiedliche Wirtschaftskraft der einzel-nen Kommunen auszugleichen.Ich will an dieser Stelle auch sagen: Wir werden dieKommunen bei der Flüchtlingsunterbringung nicht al-leinlassen.
Es gibt noch 190 000 nicht abschließend bearbeiteteAsylanträge, Herr de Maizière. Unser gemeinsames An-liegen in dieser Koalition ist: Wir müssen – vielleichtauch bei den Haushaltsberatungen – darüber reden, wiewir das schneller in den Griff bekommen können. Wirmüssen diesen Stau abbauen.Mit Blick auf den anstehenden EU-Gipfel muss aberklar sein: Die Flüchtlingsproblematik muss nicht nur in
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Thomas Oppermann
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Deutschland, sondern auch in Europa gelöst werden. Wirbrauchen endlich ein Flüchtlingskonzept der Europäi-schen Union und eine faire Verteilung der Flüchtlinge inganz Europa.
Meine Bitte an Sie, Frau Bundeskanzlerin, ist, dies inEuropa ganz oben auf die Agenda zu setzen.Vielen Dank.
Katrin Göring-Eckardt ist die nächste Rednerin fürdie Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Herr Oppermann, dass Sie in Ihrer Rede den eigenenLeuten Mut zusprechen, was die Arbeit in der Koalitionangeht, und von Hoffnung reden, von der man lesenkann, dass Sie sie aufgegeben haben, ist gut. Das hat mitder Debatte jedoch wenig zu tun. Aber eines will ich Ih-nen schon sagen: Wenn Sie hier darüber reden, dass Siedie Kosten für die Unterbringung der Flüchtlinge in denKommunen übernehmen wollen, dann müssen Sie dasmachen, statt dies seit Wochen und Monaten nur anzu-kündigen.
Meine Damen und Herren, vor drei Wochen habenwir an dieser Stelle mit wirklich überwältigender Mehr-heit einer Verlängerung der Griechenland-Hilfe um vierMonate zugestimmt. Wir haben gemeinsam gesagt:Griechenland braucht Zeit. Wir alle wissen: Vier Monatesind nicht viel Zeit.
Ob man diese Zeit unbedingt mit ziemlich undiplomati-schem Gebettel hier und dort verbringen muss, sei da-hingestellt. Wahrscheinlich wäre mehr Demut an der ei-nen oder anderen Stelle angebracht gewesen. Ehrlichgesagt: Wenn die griechische Regierung gesagt hätte:„Liebe Europäer, wir sind neu in der Regierung. Wirwollen und müssen unser Land wieder aufbauen und denMenschen Mut machen, und dafür brauchen wir etwasmehr Zeit“: Wer hätte es ihnen verdenken wollen? MehrVerständnis hätte man wahrscheinlich nicht bekommenkönnen.Aber unabhängig davon, ob der Ton nun die Musikmacht oder nicht: Es ist, glaube ich, nicht angebracht,mit gleicher Münze zurückzuzahlen. Es geht nicht ein-fach nur um Hilfen für Griechenland. Es geht darum,dass wir als Europäerinnen und Europäer handeln, dasswir das gemeinsam tun, dass wir gemeinsam stolze Eu-ropäerinnen und Europäer sind.
Deswegen ist es natürlich extrem wichtig, dass die Re-formschritte umgesetzt werden; das ist selbstverständ-lich. Aber es ist eben genauso wichtig, dass in das Landhinein mit Reformen agiert wird, die den Menschen dortHoffnung geben.Stellen Sie sich doch einmal kurz vor, unsere Arbeits-losenquote läge bei über 25 Prozent, und stellen Sie sichvor, wir hätten eine junge Generation, die sich selbst füreine verlorene Generation hält: Wie würden wir agieren?Wie würden wir handeln? Deswegen sage ich ganz klarund deutlich: Es ist richtig, dass das griechische Parla-ment jetzt gesagt hat: Wir müssen den Ärmsten der Ar-men in unserem Land helfen, und zwar sofort.
Vor Ihrem Treffen in Brüssel muss man eines klar sa-gen: Es ist richtig, zu diskutieren – so haben Sie das ge-sagt –; das gilt auch für das Treffen am Montag mitHerrn Tsipras. Es ist auch richtig, Auseinandersetzungenzu führen. Aber dazu gehört natürlich auch ein kleinesbisschen Selbstkritik. Ja, es wurden Fehler gemacht,nicht nur in Griechenland, sondern eben auch von derEuro-Gruppe und von der Troika.Der größte Fehler ist es, dass stur an einer einseitigenSparpolitik festgehalten wurde. Bei aller Sympathie fürReformen und für mehr Einnahmen: Wir alle wissen,dass man Steuerverwaltungen nicht über Nacht aufbaut.Frau Merkel, ich habe heute sehr wohl und sehr gern ge-hört, dass Sie von „Kreativität“ und „Vertragstreue“ ge-redet haben. Das ging wohl eindeutig an Herrn Schäubleund die CSU.
Auf der anderen Seite frage ich mich, woher die Hal-tung kommt, dass Sie sagen: Die Krise hat ihren Aus-gangspunkt in Griechenland genommen. – Darüber mussman historisch sicher noch einmal reden. Das klingt soein bisschen wie: Ihr habt doch angefangen. Jetzt verhal-tet euch gefälligst ordentlich! – Ich finde, so etwas kannman nicht sagen. Die Euro-Krise hat nicht in Griechen-land begonnen. Sie hat mit der Finanzkrise begonnen;sie hat zum Beispiel in Spanien begonnen. Aber jetzt denGriechen einseitig die Schuld zuzuschieben und zu sa-gen, sie seien diejenigen, durch die alles so schlimm ge-worden sei, ist Quatsch. So sollte man in diesen Tagenauch nicht verhandeln.
Ich will mich in der Frage des Grexit HerrnOppermann ausdrücklich anschließen. Er würde teurer,und er würde für Europa politisch, außenpolitisch undökonomisch eine Katastrophe bedeuten. Deswegen sageich allen, vor allen Dingen Ihnen in der Union: DenkenSie darüber nach, wie es mit den Hilfen für Griechenland
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Katrin Göring-Eckardt
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weitergeht. Tun Sie nicht so, als könne man Griechenlandaus Europa wie einen Blinddarm aus einem Körper he-rausoperieren und danach einfach weitermachen. – Wirbrauchen weitere Hilfe und weitere Unterstützung. Dabeigeht es um das gemeinsame Europa.
Selbstverständlich ist die Euro-Krise kein geeigneterZeitpunkt, um über Kriegsentschädigungen für Naziver-brechen zu reden.
Allerdings ist das Thema zumindest bei den Zwangsan-leihen weder moralisch noch rechtlich so eindeutig ge-klärt, wie uns manche in der Bundesregierung glaubenlassen wollen.
Ich sage Ihnen offen: Ich finde, wir sind seit Jahr-zehnten in Deutschland nicht mehr so barsch und mit sowenig Fingerspitzengefühl gegenüber den Opfern desdeutschen Terrorregimes im Ausland während der Nazi-zeit aufgetreten wie die Bundesregierung in den vergan-genen Tagen gegenüber Griechenland. Gesprächsbereit-schaft muss sich von selbst verstehen. Und nein, es gibtkeinen Schlussstrich bei der Aufarbeitung der furchtba-ren Gräueltaten des Naziregimes, meine Damen undHerren.
Frau Merkel, meine Damen und Herren, vorgesternhat der Zyklon „Pam“ den Inselstaat Vanuatu mit unge-heurer Wucht heimgesucht. Er ist ein weiteres Opfer derKlimakrise. Frau Merkel, wir haben Ihnen genau zuge-hört. Zu Recht haben Sie die europäische Debatte mitden Klimazielen verbunden. Offen geblieben ist aller-dings, was Sie wirklich vorhaben. Eine Energieunion alsIntegrationsschritt für Europa könnte tatsächlich einMeilenstein sein, und wenn Sie Ihre Worte ernst mein-ten, dann könnten Sie aus der Energieunion eine echteKlimaunion machen. Denn die Zukunft einer sicherenund sauberen Energieversorgung in Europa liegt in denerneuerbaren Energien.
Aber was jetzt diskutiert wird, ist leider vor allemeine Fortsetzung der unambitionierten Klimapolitik. Dieentscheidenden heimischen Energieträger sind nichtKohle, Gas und Öl, sondern die Erneuerbaren, und esgeht natürlich auch um Energieeffizienz. Die Energie-union ist eine Chance, uns von russischem Gas unabhän-gig zu machen, aber nicht, aber bestimmt nicht dadurch,dass man auf Energielieferanten aus autokratischen Staa-ten wie Aserbaidschan, Katar oder Saudi-Arabien setzt.Klimaunion bedeutet auch: Setzen Sie endlich undmit Nachdruck auf die Erreichung der Klimaziele! Dasist selbstverständlich wichtig, aber das werden Sie nurdann erreichen, wenn Sie auf die erneuerbaren Energiensetzen, und zwar mit aller Kraft und Kreativität, die unsin Deutschland zur Verfügung stehen.
In diesem Zusammenhang ist eine Nebenbemerkungnotwendig. Ich frage mich jedenfalls, warum Sie, wennes um den Ankauf von Gas geht, die Osteuropäer bei derZusammenarbeit im Regen stehen lassen. Wir könnendoch nicht einfach sagen: Unsere Verträge mit Russlandsind so prima und wichtig, dass uns alles egal ist, waswir sonst zu einem gemeinsamen Europa sagen.
Deswegen sage ich klar und deutlich: Vor den Klimagip-feln ist es notwendig und dringend, dass Sie dafür sor-gen, dass die Klimaziele tatsächlich erreicht werden.Abschließend will ich etwas zur Ukraine sagen. Dasssich die Annexion der Krim zum ersten Mal jährt, ist füruns ein Anlass, noch einmal klarzumachen: Diese Anne-xion ist ein Bruch des Völkerrechts.
Es ist gut, dass in Minsk verhandelt worden ist, und esist gut, dass die OSZE besser ausgestattet wird.Für uns gibt es ganz aktuell etwas zu tun, wovon wirnicht absehen können: Die 1,5 Millionen Binnenflücht-linge brauchen dringend mehr Unterstützung durch huma-nitäre Hilfe, damit nicht jemand wie Putin recht behält,der es gerne sehen würde, dass die Destabilisierung derUkraine weitergeht. Deswegen gehört die humanitäreHilfe genauso dazu wie die Verhandlungen in Minsk unddas Überprüfen der Einhaltung der Vereinbarungen dort.Meine Damen und Herren, legen Sie in der Bundesre-gierung den Hebel um! Die Menschen dort brauchendringend Hilfe, und zwar jetzt.Vielen Dank.
Volker Kauder ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Bei den Themen, um die es beim Europäischen Rat inBrüssel gehen soll, fällt einem auf, dass das Thema Grie-chenland, das uns sehr intensiv beschäftigt, eher inoffizi-ell eine Rolle spielt, als dass es offiziell auf der Tages-ordnung steht, dass aber einige Fragen, die ebenfalls füruns von großer Bedeutung sind, ganz vorne stehen. Zumeinen hat die Bundeskanzlerin über Initiativen fürWachstum und Beschäftigung und in Verbindung damitüber Strukturreformen gesprochen. Das zweite Thema
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8894 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
Volker Kauder
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ist der Klimagipfel. Zu all diesen Themen möchte ich ei-nige kurze Anmerkungen machen.Ja, es ist richtig: Über den Diskussionen, wie wirGriechenland in eine bessere Zukunft führen können,dürfen wir nicht vergessen, dass es in Europa noch eineReihe von weiteren Ländern gibt, die dringend Initiati-ven für Wachstum und Beschäftigung brauchen. Deshalbist es auch richtig, dass der Fonds, der jetzt in Europaaufgelegt wird, mit Inhalten versehen wird und das Eu-ropäische Parlament sehr schnell zu entsprechenden Be-schlüssen kommt.Gestern war der portugiesische Botschafter bei mirund hat darauf hingewiesen, dass Portugal dringend Un-terstützung bei Investitionen in eine moderne Infrastruk-tur und bei Beschäftigung brauche. Er hat weiter daraufverwiesen, dass das Ausbildungsmodell in Deutschland,die duale Ausbildung, genau der richtige Weg sei undman sich in Europa ein wenig mehr darauf besinnenmüsse, dass der Mensch nicht erst beim Akademiker an-fange, sondern dass es mindestens so viele qualifizierteFacharbeiter für die Betriebe geben sollte, wie wir Aka-demiker an Universitäten ausbilden.
Dazu müsste man, wie er angeregt hat, bei allen europäi-schen Debatten nicht nur, wie von der OECD formuliertworden ist, eine Akademikerquote festlegen, sondernauch sagen, dass mehr in die berufliche Ausbildung in-vestiert werden müsse. Dies machen wir in Deutschland.Da bin ich Frau Wanka außerordentlich dankbar, dass siegenau diesen Zusammenhang immer wieder herstellt.Frau Nahles, wir reden immer wieder darüber, dasswir Zuwanderung von Fachkräften brauchen. Ich willhierzu ein Beispiel aus meiner Region nennen: Die Wirt-schaftsverbände haben festgestellt, dass bis 2020 15 000zusätzliche Arbeitskräfte gebraucht werden. Auf dieFrage, welche das sein sollen, antworteten diese: Wirbrauchen maximal 3 000 Ingenieure, aber 12 000 Me-chatroniker und andere Facharbeiter. – Diese bekommenwir auf der ganzen Welt nicht, wir müssen sie schon inEuropa selbst ausbilden.
Deshalb ist das Thema berufliche Bildung von solch gro-ßer Bedeutung. Ich würde, Frau Bundeskanzlerin, darumbitten, wenn man von Investitionen und Innovations-strukturänderungen spricht, nicht nur die universitäreAusbildung zu sehen, sondern auch diesen Punkt in Eu-ropa voranzubringen.Das zweite Thema, wenn wir über Wachstum undInnovation sprechen, bleibt natürlich – auch darauf hatder portugiesische Botschafter gestern hingewiesen –,dass wir mehr in Zukunftsbereiche investieren müssen.Da sind wir in Europa, was die Start-ups, was den mo-dernen Bereich der Digitalisierung angeht, nicht wirk-lich die wahren Helden. Deswegen würde ich mir wün-schen, dass gerade für diesen Bereich mehr getan wirdund mehr in ihn investiert wird. Es darf uns in Europanicht ruhen lassen, dass alles, was mit „digital“ in Zu-sammenhang steht, bei uns kaum stattfindet. Es darf aufDauer nicht sein, dass es nur Google, nur Yahoo und an-dere gibt, wir in Europa aber keine entsprechenden Fir-men und Kapazitäten haben.
Das darf uns nicht ruhen lassen, meine sehr verehrtenDamen und Herren. Das ist nicht nur eine Frage der In-frastruktur, sondern auch eine Frage, wie wir es schaf-fen, gerade junge Menschen zu motivieren, sich in die-sen Bereichen selbstständig zu machen und in diese Be-reiche eine Zukunftsinvestition einzubringen.Wenn wir darüber sprechen, dass wir natürlich Inves-titionen brauchen – Thomas Oppermann hat darauf hin-gewiesen –, können wir in Europa melden: Wir tungenau dies in unserem Land. Wir investieren in Infra-struktur. – Ein Programm im Umfang von rund 15 Mil-liarden Euro ist auf den Weg gebracht worden, durch dasin die Infrastruktur investiert und auch unseren Kommu-nen Geld für die Infrastruktur gegeben wird. Das unter-stützen wir.Aber natürlich muss auch bei uns gelten, was inEuropa gilt: Allein bei den 15 Milliarden Euro, die wirzusätzlich für die Infrastruktur und für die Kommunengeben, kann es nicht bleiben. Es muss auch mit den Län-dern darüber gesprochen werden, dass sie ihren Beitragleisten, die Kommunen finanziell entsprechend auszu-statten.
Es liegt nicht nur daran, dass die Kommunen in Ba-den-Württemberg im Süden Deutschlands liegen, son-dern es liegt natürlich auch daran, dass man mitmachtbei der Erneuerung von Strukturen, bei neuen Aufgaben,wenn es darum geht, Dinge, die eben nicht mehr gehen,zu ändern und neue aufzubauen. Da, muss ich sagen,müssen die Länder einen Beitrag leisten. Es reicht nichtaus, dass wir jetzt sagen: Okay, vor allem in Nordrhein-Westfalen unterstützen wir Kommunen. – Aber es mussetwas getan werden, damit dies nicht zu einer Dauerauf-gabe für den Bund wird. Auch darum, würde ich meinen,geht es bei diesen Themen.
Nun sind wir beim Thema Europa. Selbstverständlichhaben wir immer formuliert – da sind wir uns in der Ko-alition einig; wie die letzte Abstimmung dazu hier imDeutschen Bundestag gezeigt hat, besteht diese Einig-keit auch in weiten Bereichen dieses Parlaments –: Wirwollen Europa und die Euro-Zone zusammenhalten. Dasist gerade auch im Hinblick auf das, was sich in derWeltpolitik ereignet, von besonderer Bedeutung. Nie-mand von uns hat ein Interesse daran oder kann garFreude darüber empfinden – Putin würde sich freuen –,wenn es in Europa kriselt und wir nicht mehr zusammen-halten. Die Botschaft muss ja eine andere sein: Wir tre-ten mit einem starken und einigen Europa gegen das an,
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 8895
Volker Kauder
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wovon dieser Mann glaubt, er könne es sich in Europaleisten.
Das ist doch die Position, die wir formulieren. Dazumüssen alle in Europa ihren Beitrag leisten, und sie müs-sen es auch politisch wollen und entsprechend formulie-ren.
Wir haben klipp und klar erklärt: Es bleibt dabei, dasswir solidarisch zusammenstehen. Aber es ist auch klar,dass das, was miteinander vereinbart wurde, auch einge-halten werden muss.
Das Wesentlichste in der Politik ist nicht nur das Formu-lieren von gemeinsamen Zielen, sondern dass man sichaufeinander verlassen können muss. Das wissen geradewir in der Koalition. Da kann man manche Diskussionaustragen; aber man muss wissen, dass man sich aufei-nander verlassen können muss. Wenn das nicht mehr ge-währleistet ist, gehen die Dinge schief.
Genau an diesem Punkt, finde ich, haben wir allenGrund, Griechenland zu sagen: Das müsst ihr auch ein-halten und verstehen. – Wenn ich heute lese, dass dieGriechen die Institutionen, wie sie es nennen – dieTroika –, wieder rausgeworfen haben und mit ihnennicht zusammenarbeiten wollen, dann kann ich nur sa-gen: Es gibt zu dieser Zusammenarbeit nun wirklichkeine Alternative. Entweder wird es gemacht, oder wirkönnen die Voraussetzungen nicht schaffen.
Ich finde, da darf es auch keine Kompromisse geben.
– Frau Göring-Eckardt, zu den Grünen hat ThomasOppermann ja alles gesagt. Da fällt einem wirklichnichts mehr ein.
Nicht derjenige gefährdet die Zukunft Europas, derGriechenland jetzt nicht einfach nachgibt; vielmehr ge-fährdet man Europa, wenn man einfach nachgibt, wennnichts mehr gilt, was man miteinander vereinbart hat.
Ich will noch einmal den portugiesischen Botschafterzitieren – er hat mir ausdrücklich gesagt: Herr Kauder,das können Sie öffentlich verwenden –: Wenn man Grie-chenland jetzt auf eine Art und Weise nachgibt, wie esnicht in Ordnung ist, dann kann ich in meinem Landnicht mehr erklären, warum die Menschen überhauptOpfer auf sich genommen haben und auch in Zukunftnoch Opfer auf sich nehmen sollten.
Deswegen gilt: Gleiche Positionen für alle in Europa!
Ich kann nur hoffen, dass dies auch die Position ist, dieman in Europa vertritt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wollennatürlich auch, dass gerade junge Menschen Perspekti-ven haben. Deswegen habe ich von der Bildung gespro-chen. Investitionen in Bildung sind auch in Griechenlandvon zentraler Bedeutung.Wir haben als weiteres Thema das Klima. Wir habenuns in Deutschland auf Klimaziele verpflichtet. Wir trei-ben den Ausbau der erneuerbaren Energien voran. Dabraucht man uns überhaupt nicht zu ermahnen. Ich kannverstehen, dass den Grünen das ein bisschen schwerfällt,nachdem ihnen ein Hauptthema genommen worden istund jetzt das Thema Landwirtschaft das Thema Energieersetzen soll. Darüber können wir anderweitig einmal re-den.Aber es ist natürlich auch klar, Frau Göring-Eckardt:Man kann nicht sagen: „Es muss mehr für das Klima ge-tan werden“, und dann, wenn wir versuchen, ein Pro-gramm zur energetischen Gebäudesanierung auf denWeg zu bringen – damit kann am meisten für das Klimagetan werden –, die grünen Beteiligten an Landesregie-rungen das Programm im Bundesrat kippen – wegen einbisschen Steuerausfällen. Das ist keine moralische Posi-tion, die man vertreten kann.
– Das stimmt ja gar nicht.
Deswegen rate ich dringend Folgendes, wenn wir dasThema noch einmal ansprechen. Man kann nicht einfachrufen: Wolfgang Schäuble hat enorme Steuereinnahmen. –Das haben die Länder auch. Moralisch richtig wäre, zusagen: Wir machen dieses Programm zur energetischenGebäudesanierung. Wir alle haben mehr Einnahmen undkönnen dann auch ein bisschen mehr ausgeben.
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Volker Kauder
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Ich würde Sie ermutigen, genau das zu tun, liebe Kolle-ginnen und Kollegen von den Grünen.
Herr Kollege Kauder, darf der Kollege Krischer eine
Zwischenfrage stellen?
Nein.
– Sie sind doch nachher selber dran. – Ich möchte Sie
darauf hinweisen, dass Reden und Handeln in diesen
Fragen zusammenpassen müssen. Wir sind bereit, diesen
Beitrag für mehr Klimaschutz zu leisten. Vielleicht ge-
lingt es ja im Rahmen der Bund-Länder-Verhandlungen,
bei diesem Thema zu einer Lösung zu kommen. Im Üb-
rigen kann ich nur sagen: Das ständige Hin- und Her-
schieben löst das Problem wirklich nicht. Ich bin zuver-
sichtlich, dass die Vernunft in diesem Punkt obsiegen
kann.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Bundeskanz-
lerin hat in Brüssel wichtige Themen zu besprechen, zu
beraten. Ich bin dankbar dafür, dass die Bundesregierung
in diesen Fragen zu einer einheitlichen Position gekom-
men ist. Wir in der Koalition tragen dies mit.
Ein Letztes. Die Große Koalition hat diesem Land in
den letzten Monaten, seit ihrem Bestehen, eine gute Re-
gierung gestellt. Da bin ich ganz der Meinung von
Thomas Oppermann.
Wir haben bei den großen Herausforderungen in Europa
und in der Welt – Ukraine und Russland – immer ge-
meinsam eine Lösung auf den Weg bringen können.
Natürlich gibt es in einer Koalition immer wieder das
eine oder andere Knirschen. Ich erinnere mich sehr gut
an Rot-Grün und daran, was dort alles los war.
– Ja, Frau Roth, natürlich. Die Vergangenheit wird ver-
klärt, aber Sie selber wissen, dass es so war,
dass Sie unter mancher Aussage des Basta-Kanzlers be-
sonders gelitten haben.
So knirscht es auch hin und wieder einmal bei uns. Aber
ich will sagen: Wir arbeiten die Koalitionsvereinbarung
konsequent ab. Wir haben gerade eine gesetzliche
Grundlage für das Deutsche Institut für Menschenrechte
auf den Weg gebracht. Das war ein Punkt, von dem viele
geglaubt haben, dass es da gar nicht zusammengeht. Wir
haben noch ein paar wichtige Themen vor uns. Diese
Koalition dient dem Land in vorbildlicher Weise. Das
mag der Opposition nicht passen, aber die Menschen im
Land sehen es anders. Dort ist die Große Koalition zu
Recht beliebt.
Herzlichen Dank.
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Krischer
das Wort.
Herr Kollege Kauder, Sie haben hier gerade behaup-tet, der Steuerbonus für die energetische Gebäudesanie-rung sei an Grünen in Landesregierungen gescheitert.Herr Kauder, ich kann Ihnen da nur sagen: Diese Be-hauptung ist selbst unter Ihrem Niveau.
Sie wissen ganz genau, an wem der Steuerbonus ge-scheitert ist, nämlich an der bayerischen Landesregie-rung und an einer Partei namens CSU.
Dazu muss ich nicht einmal grüne Quellen zitieren, son-dern nur Ihren Koalitionspartner, Herrn Oppermann, derdas ja schriftlich und in aller Klarheit öffentlich mitge-teilt hat.
Alle, die sich mit diesem Thema beschäftigen, wissendas ganz genau. Ich finde es schon ein starkes Stück,dass Sie hier einen solchen Unsinn verbreiten.
Ich möchte noch auf einen anderen Punkt hinweisen:Das Land Bayern, die CSU, hat einen sehr schönen Bun-desratsantrag dazu gestellt, das Thema energetische Ge-bäudesanierung wieder aufzugreifen. Diesen Antrag desLandes Bayern und der CSU würde ich unterstützen. Erbesagt nämlich, dass der Steuerbonus aus dem Bundes-haushalt finanziert werden soll. Ja, bitte schön, HerrKauder und Frau Hasselfeldt: Warum tun Sie hier nichtdas, was Herr Seehofer im Bundesrat fordert?
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 8897
Oliver Krischer
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Machen Sie das! Kümmern Sie sich endlich darum, dassdieser Steuerbonus kommt! Das liegt in Ihrer Verantwor-tung. Schieben Sie nicht die Verantwortung auf andere,die damit gar nichts zu tun haben! Es ist Ihre Verantwor-tung als Bundesregierung und als eine der diese Koali-tion tragenden Parteien, dieses Problem zu lösen, undnicht, hier ein Schwarzer-Peter-Spiel zu treiben.Danke schön.
Herr Kollege Krischer, laut zu sein und durch eine
ideologische Brille Dinge anzuschauen, ist die eine Sa-
che.
– Ich habe Ihnen in aller Ruhe zugehört. Da könnte ich
auch disqualifizierend sagen: Alles Unsinn!
Ich will jetzt zu den Fakten kommen. Wir haben in
der letzten Koalition bereits einen Gesetzentwurf zur
energetischen Gebäudesanierung im Bundestag einge-
bracht. Der ist von den rot-grün regierten Bundesländern
abgelehnt worden
– genau mit dem Argument: wegen der Steuerausfälle –,
aber zu einem Zeitpunkt, als auch die Länder erhebliche
Steuermehreinnahmen verbucht haben.
Wir haben jetzt wieder über das Thema gesprochen.
Weil die Länder nicht bereit sind, ihren Anteil zu über-
nehmen, kam der Vorschlag, das über einen Umweg,
nämlich über die Kürzung des sogenannten Handwerker-
bonus, zu finanzieren.
Da kann ich nur sagen: Den Handwerkerbonus zu kür-
zen, ist genau der falsche Weg, weil er für eine ganze
Reihe von Bereichen der energetischen Gebäudesanie-
rung von Bedeutung ist.
Deswegen haben wir gesagt: Nein, der Handwerker-
bonus wird nicht gekürzt, und wir nehmen einen neuen
Anlauf. – Jetzt kann ich nur sagen, wenn ich nach Nord-
rhein-Westfalen schaue: Die Argumentation von Frau
Kraft in Bezug auf den Energiemix ist schon eigenartig.
– Dort sind Sie doch an der Regierung beteiligt, oder irre
ich mich da? Sind wir beteiligt, oder sind Sie es? Bei den
Grünen tragen Sie nur Verantwortung, wo Sie auch wel-
che haben, Herr Krischer, damit das einmal klar ist.
Es geht von NRW gar nicht – darauf werde ich in den
kommenden Diskussionen immer wieder Wert legen –,
zu sagen: Wir brauchen bei der Energie auch einen Ener-
giemix, in dem die Kohle dabei ist, aber einen Beitrag
zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes wollen wir in NRW
nicht mitfinanzieren. – Das ist moralisch nicht in Ord-
nung.
Dirk Becker ist der nächste Redner für die SPD-Frak-
tion.
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Frau Bun-deskanzlerin hat in Ihrer Regierungserklärung auf dieHerausforderungen der Energieunion hingewiesen. DieRealität hat den Deutschen Bundestag wieder. Anstattdas zu beschreiben und zu gestalten, was wir europäischzwingend als nächsten Schritt der Energiewende brau-chen, sind wir in Deutschland wieder im Klein-Klein derEnergiepolitik angekommen.Ich will dazu nur so viel sagen: Alle im Bundestagvertretenen Parteien dürfen es grundsätzlich keinemdurchgehen lassen, dass man sich aus lokalpolitischen In-teressen von der Gemeinschaftsaufgabe verabschiedet,egal ob in Bayern, in Ostdeutschland oder in Westdeutsch-land. Wir müssen sagen: Wenn wir die Energiewendewollen, wenn wir einen europäischen Energiemarkt wol-len, dann müssen wir in Deutschland einheitlich stehen.Das erwarte ich von allen Verantwortungsträgern.
Meine Damen und Herren, die europäische Integra-tionsgeschichte ist eng verflochten mit einer verstärktenzwischenstaatlichen Kooperation der Energieproduktion,angefangen von der Europäischen Gemeinschaft fürKohle und Stahl über die Europäische Atomgemein-schaft bis hin zu einer Gemeinschaft, die sich heute derNachhaltigkeit, dem Klimawandel, aber auch der Versor-gungssicherheit in ganz Europa widmet. Von daher be-grüßen wir den Vorstoß der Kommission und auch derlettischen Präsidentschaft, die Energiepolitik der Mit-gliedstaaten weiter enger zu verzahnen. Wir begrüßendiesen Vorstoß, um Versorgungssicherheit und Klima-politik in Einklang zu bringen. Gerade wir Deutschenhaben ein enormes Interesse daran, dass wir auch vordem Hintergrund unserer industriepolitischen Produk-tion gerade das Thema Versorgungssicherheit ernst neh-men und alles tun, um weitere Beiträge zur Versorgungs-sicherheit zu leisten.Ich will einmal ein paar Zahlen nennen: Mehr als dieHälfte des europäischen Energieaufkommens wird im-portiert. Mehr als 400 Milliarden Euro fließen dafür Jahrfür Jahr aus Europa ab. Daher muss es unser Ziel sein,den Binnenmarkt zu stärken und den Weg der Energie-union zu nutzen, um Europa insgesamt unabhängigerund robuster zu machen.
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Dirk Becker
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Frau Göring-Eckardt hat zu Recht kritisiert, dass indem vorliegenden Entwurf das Thema der Gasversor-gung, der Gassicherheit einen sehr großen Raum ein-nimmt. Frau Göring-Eckardt, das ist natürlich auch deraktuellen Diskussion über Russland, über die Ukraine-Krise geschuldet. Ja, wir müssen auch kurzfristig sehen,wie wir beim Gasmarkt die Versorgungssicherheit si-cherstellen. Aber ich teile ausdrücklich Ihren Hinweis,dass wir mittelfristig nicht nur sehen müssen, wie wir dieBezugsquellen verändern, sondern wie wir durch höhereEnergieeffizienz und durch erneuerbare Alternativeninsgesamt weniger abhängig von Gasimporten werden.Auch dies ist ein Gebot einer zukunftsgerichteten In-dustriepolitik; denn, meine Damen und Herren, wir müs-sen uns immer wieder vor Augen führen, dass Gas inDeutschland nicht nur verbrannt wird, um Strom undWärme zu produzieren, sondern Gas ist auch ein wichti-ger Rohstoff für die heimische Industrie. So müssen wirGas auch behandeln, meine Damen und Herren.
Insgesamt erwarte ich von der Kommission in denweiteren Beratungen, den gerade genannten Aspektender Energieeffizienz und den erneuerbaren AlternativenRechnung zu tragen.Grundsätzlich sind die verbesserte Kooperation undKommunikation auf europäischer Ebene zu begrüßen.Insbesondere kann durch eine Vollendung des Binnen-marktes, durch den Abbau von Überkapazitäten europa-weit, durch einen stärkeren Netzausbau – nicht nur inDeutschland, aber insbesondere auch in Deutschland –und durch den Ausbau der Interkonnektoren, der Zusam-menarbeit bei Forschung und Entwicklung und der Ver-tiefung der Kooperation zwischen den Mitgliedstaatender europäische Energiemarkt vorangetrieben werden,gerade auch mit Blick auf unsere Nachbarn.Ich will auf einen wichtigen Punkt eingehen, der ge-rade auch im Energieministerrat am 5. März eine Rollegespielt hat. Zentrales Instrument, um Klimaschutz undEnergieverbrauch zusammenzubringen, ist der Emis-sionshandel. Wir alle wissen, dass wir den europaweitenEmissionshandel geschaffen haben, um ein wirtschaftli-ches, ein marktbasiertes Steuerungselement zu haben.Dieses Element krankt. Die Preise für die Zertifikatesind deutlich unter dem, was wir einst angenommen ha-ben. Infolgedessen versagen viele klimapolitische In-strumente. Aber es ist keine Lösung, dieses Instrumentnun aufzugeben, sondern es muss Lösung sein, an einemmarktbasierten, europaweiten Instrument festzuhalten.Ich danke ausdrücklich sowohl dem Wirtschaftsministerals auch der Umweltministerin, Frau Hendricks, die sich– am 5. März im Energieministerrat bzw. einen Tag spä-ter im Umweltministerrat – engagiert dafür eingesetzthaben, dass die Marktstabilitätsreserve 2017 kommt.Das ist notwendig. Ich denke, beide sollten weiterhin dieUnterstützung aller Fraktionen im Deutschen Bundestagfür diese Politik erhalten.
Zum Abschluss mit Blick auf eine immer stärker vonEuropa dominierte Energiepolitik folgender Hinweis: Wirerleben gegenwärtig, dass wir uns eben nicht nur mit derFrage eines europäischen Marktes, einer europäischenEnergiepolitik, sondern zunehmend auch mit Wettbe-werbsaspekten auseinandersetzen müssen. Vieles vondem, was wir hier im Parlament als Demokraten beschlie-ßen, steht immer unter dem Vorbehalt einer Notifizierung,quasi einer Genehmigung. Ich erwarte als Parlamentarier,dass die EU-Kommission künftig uns gegenüber offenkommuniziert, wenn ihr Beschlüsse, die wir hier offenund demokratisch treffen, Bauchschmerzen bereitenoder Probleme machen, damit es nicht bei all dem, waswir hier tun, erst einmal heißt: Na, da müssen wir erstmal gucken, ob das genehmigungsfähig ist. – Wir müs-sen den Menschen erklären, was wir energiepolitischwollen. Ich erwarte, dass man uns künftig auf europäi-scher Ebene offen erklärt, wie man mit Beschlüssen bei-hilferechtlich umzugehen gedenkt. Nur so hat es auch inZukunft eine breite Akzeptanz, die Energiepolitik euro-paweit unter den Aspekten der Versorgungssicherheit,des Klimaschutzes und der Bezahlbarkeit fortzuentwi-ckeln.Vielen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Manuel Sarrazin für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Liebe Frau Bundeskanzlerin! Herr Kauder hat ge-sagt – das gefällt mir sehr gut –: „Wir wollen Europa …zusammenhalten.“ Er hat auch auf die Herausforderun-gen in unserer Nachbarschaft hingewiesen. Man kanndas Argument, wie wichtig es ist, den Zusammenhalt inEuropa gerade in diesen Zeiten nicht aufs Spiel zu set-zen, gar nicht stark genug unterstreichen. Jedoch kamdann nicht mehr viel außer „aber“.Ich möchte etwas zitieren, was ich hier oft zitiere. Am9. Mai 1950, fünf Jahre nach dem Ende des ZweitenWeltkriegs, hat der berühmte Außenminister FrankreichsRobert Schuman die berühmte Schuman-Erklärung ab-gegeben, die die Hand für Zusammenhalt gereicht hat.Man muss sich vorstellen, vor welchem Hintergrunddies fünf Jahre nach dem Ende des Krieges geschah. Erhat dort den Satz gesagt:Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werdenohne schöpferische Anstrengungen, die der Größeder Bedrohung entsprechen.
Jetzt möchte ich Sie, Herr Kauder, einfach fragen, obSie glauben, dass unsere Debatte hier diesen „schöpferi-schen Anstrengungen“ entspricht. Das glaube ich nicht.Ich glaube, dass wir den Zusammenhalt in Europa in die-ser Situation wirklich bewahren müssen, indem wir nichtnur darüber reden, dass der Zusammenhalt da ist, son-dern indem wir alte europäische Regeln wieder hervor-heben.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 8899
Manuel Sarrazin
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Dazu gehört eine, Herr Kauder – das geht auch an dieLinkspartei und an Frau Wagenknecht –: Der KollegeLenin hat einmal als wichtigstes Argument, warum derSozialismus siegen wird –
– der Genosse Lenin, Entschuldigung, ich war nie Ge-nosse, muss ich zugeben –, gesagt,
das Rad der Geschichte ist nicht aufzuhalten. Jetztmöchte ich nicht sagen, dass Ihre Rede zu wenige schöp-ferische Anstrengungen beinhaltete. Ihre Mär von derVerschwörung der USA war schon sehr schöpferisch.Das war vielleicht auch ein bisschen angestrengt. Wasich aber der Regierung sagen möchte, ist: Wenn dieseRegierung nicht mehr den Eindruck erweckt, in Fragender zukünftigen Entwicklung der Europäischen Unionentschlossen voranschreiten zu wollen und daran zuglauben, Integration voranzutreiben, Probleme zu lösen,Verträge kreativ auszulegen und Verträge vielleicht aucheinmal wieder zu ändern, um neue Regeln zu schaffen,wer soll dann noch daran glauben, dass das Rad der Ge-schichte wirklich der Zusammenhalt Europas ist? Mitdieser verzagten Art und Weise, zu agieren, sorgen Siedoch letztlich für die Fragmentierung der Grenzen, dieuns von Herrn Putin und von anderen droht.
Dazu gehört auch, dass Sie am Montag, wenn Sie mitHerrn Tsipras eine Diskussion führen, sagen: „Griechen-land muss sich an die Regeln halten, aber innerhalb desPrinzips der Regeln sind wir auch bereit, das zu tun, wasgetan werden muss“, anstatt immer nur über das Aber zureden.
Frau Merkel, Sie haben dann einen Satz zum ThemaInvestition gesagt. Es wäre ein so wichtiges Signal fürdie Menschen in Griechenland und anderswo, dassDeutschland es als wichtige Aufgabe sieht, für mehr In-vestitionen in Europa zu sorgen. Sie haben die Initiativevon Herrn Juncker nur in einem Satz kurz genannt. Dasist nicht das, was Zusammenhalt schafft. UnterstützenSie den Juncker-Plan mehr! Sorgen Sie für eine zweiteSäule, für zusätzliche öffentliche Investitionen, bei-spielsweise über den EU-Haushalt! Machen Sie das!
Ihre Rolle bestand in der Vergangenheit darin, zu brem-sen und zu sagen, dass Sie nicht einzahlen möchten undeine Befristung des Fonds wollen. Das ist nicht das, wasZusammenhalt schafft. Das ist das kleine Aber, das amEnde für Fragmentierung sorgt.
Zum Abschluss möchte ich zur Energieunion auf Fol-gendes hinweisen: Wenn wir Paris ernst nehmen und dieKlimaziele aufrechterhalten wollen, dann reicht es nicht,die alten Ansagen, die nicht ambitioniert genug sind,einfach zu wiederholen. Sie müssen deutlich machen:Europa stellt auf CO2-arme Wirtschaft um. – Sie müssendeutlich sagen: Die Atominitiative von Frankreich, Rumä-nien, Großbritannien und anderen weisen wir zurück. –Da kann Deutschland nicht schweigen. Das müssten Sieheute tun.Danke sehr.
Gerda Hasselfeldt ist die nächste Rednerin für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn wir über die aktuellen Herausforderungen inEuropa reden, dann ist vielleicht auch ein Blick daraufangebracht, was alles geleistet und erreicht wurde. ZurWahrheit gehört, dass erstmals seit der Wirtschafts- undFinanzkrise in jedem europäischen Land wieder Wachs-tum zu verzeichnen ist. Zur Wahrheit gehört auch, dassin den Problemländern, in den Ländern, die unter demRettungsschirm standen, wie Spanien, Portugal und Ir-land, sich die Situation deutlich verbessert hat, dassdiese drei genannten Länder sich mittlerweile auch amKapitalmarkt refinanzieren können. Zur Wahrheit gehörtauch, dass gerade in Spanien und in Irland die Arbeitslo-sigkeit zurückgegangen ist.All das bestätigt, dass der Kurs, den wir in den letztenJahren auch hier im Bundestag immer wieder verfolgthaben, der Kurs, der in Europa gegolten hat, nämlich So-lidarität und Solidität, der richtige war und dass wir die-sen Kurs fortsetzen müssen.
Wir haben immer unter Beweis gestellt: EuropäischeSolidarität gilt. Wir helfen den Staaten, die aus unter-schiedlichen Gründen in Schwierigkeiten geraten sind.Aber Solidarität steht nicht alleine – es würde in der Sa-che auch nichts bringen –, sondern sie ist immer notwen-dig in Verbindung mit den Eigenanstrengungen der ein-zelnen Länder. Nur so geht die Rechnung auf.
Weil unser Kurs erfolgreich war – wir alle wissen,dass nicht alle Probleme gelöst sind –, müssen wir aufdiesem Weg fortfahren. Es gilt der Dreiklang, der unsauch bisher geleitet hat. Erstens: solide öffentliche Haus-halte. Sie sind der Schlüssel für das Vertrauen der Fi-nanzmärkte. Zweitens: Strukturreformen dort, wo esnötig ist, um die Wettbewerbsfähigkeit in einer globali-sierten Welt herzustellen und immer wieder nachzujus-tieren. Drittens: Investitionstätigkeit, um Wachstum undBeschäftigung zu erreichen, neues Innovationspotenzialzu erschließen, und zwar sowohl im privaten als auch im
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8900 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
Gerda Hasselfeldt
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öffentlichen Bereich. Dieser Dreiklang gehört zusam-men. Nun kann zwar ein europäischer Rahmen gesetztwerden, aber die Hauptverantwortung liegt – meines Er-achtens aus guten Gründen – bei den Nationalstaaten.
Sie haben die Verantwortung für die Finanzpolitik, fürdie Wirtschaftspolitik, für die Arbeitsmarktpolitik undfür viele andere Bereiche. Sie müssen sich daran haltenund ihre Politik danach ausrichten.
Die Entwicklung in den unterschiedlichsten Ländernzeigt: Wenn man sich an diesen drei Kriterien orientiert,dann ist der Weg auch erfolgreich. Wir sehen das imKleinen, auch in meinem Heimatland Bayern – Sie er-lauben, dass ich das mit einem Stück Stolz sage –, dasseit mittlerweile zehn Jahren einen ausgeglichenenHaushalt hat und seit einigen Jahren die Schulden tilgt.Aber das ist nicht verbunden mit Verarmung und Ver-schlechterung der Bedingungen für die Menschen. ImGegenteil: Den Menschen dort geht es besser, es gibtweniger Arbeitslose, Jugendarbeitslosigkeit haben wirso gut wie keine. Die Investitionstätigkeit im öffentli-chen Bereich und im privaten Bereich ist hervorragend.Jeder Kinderkrippenplatz und Kindertagesstättenplatz,für den eine Kommune Förderung beantragt, wird vomFreistaat Bayern auch gefördert. Der Freistaat Bayern istauch das einzige Bundesland, das für die Kommunen– anders, als es in anderen Ländern der Fall ist – dieKosten für die Unterkunft von Asylbewerbern über-nimmt.
An diesem Beispiel wird deutlich: Es zahlt sich aus, so-lide zu haushalten und solide zu wirtschaften. Dann kannman bewusst Schwerpunkte der Investitionen dort set-zen, wo sie notwendig sind.Die Beispiele können fortgesetzt werden. Letztlich istauch Deutschland, sind auch wir ein gutes Beispiel da-für. Wir haben mit großen Anstrengungen im vergange-nen Jahr und auch in diesem Jahr einen soliden Haushalterreicht. Die Herausforderungen, dies auch in den nächs-ten Jahren so zu gestalten, sind riesig, aber wir werdenauch dies erreichen. Vor allem stoßen wir Investitionenan. Das Milliardenprogramm für die nächsten Jahrewurde angesprochen. Insgesamt 15 Milliarden Euro sindfür Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur und in diedigitale Infrastruktur, aber auch in Bildung und For-schung vorgesehen. Gerade in diesem Bereich wurde inDeutschland in den letzten Jahren viel geleistet; denn In-vestitionen in Bildung und Forschung sind Investitionenin die Zukunft unseres Landes und genauso wichtig wiedie Investitionen in Straßen und andere Infrastrukturen.Auch hier stärken wir die Kommunen; das wurde bereitsangesprochen.Auch auf europäischer Ebene werden mit dem Inves-titionsfonds die Zeichen auf Investitionsförderung ge-setzt. Ich hoffe sehr, dass die Auswahl der Projekte sogestaltet wird, dass Investitionen und Innovationen wirk-lich angekurbelt werden und private Investitionstätigkeitgeneriert wird. Das alles findet nun im europäischenRahmen statt. Das heißt, die Nationalstaaten müssen ihreVerantwortung wahrnehmen.Es kommt aber ein Zweites hinzu. Die Probleme inEuropa, insbesondere im ökonomischen Bereich, werdenwir nur dann lösen, wenn das, was auf europäischerEbene unter den einzelnen Staaten miteinander verein-bart wurde, auch eingehalten wird. Regeln sind nichtdazu da, dass man sie nur aufschreibt und dann vielleichtnoch einmal in Sonntagsreden darüber spricht, sie aberansonsten in die Schublade legt, sondern Regeln sinddazu da, sie einzuhalten, sich danach auszurichten, diepolitischen Entscheidungen danach auszurichten. Nur sobehalten wir Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit inganz Europa.
Das gilt aktuell natürlich in besonderer Weise fürGriechenland. Griechenland ist das Land, das im Zusam-menhang mit der Staatsschuldenkrise von Anfang an diegrößten Probleme hatte und uns auch immer wiedergroße Anstrengungen abverlangte. Ich brauche das, waswir in den letzten Jahren dazu diskutiert und entschiedenhaben, was wir an Solidarität gegenüber Griechenlandunter Beweis gestellt haben, hier nicht noch einmal auf-zuzählen. Das wissen wir alle; wir alle haben es ja ge-meinsam verantwortet.Jetzt geht es darum, dass die zusätzliche Zeit, die wirGriechenland vor einigen Wochen gegeben haben, umdie Bedingungen, die Auflagen des Programms zu erfül-len, zum Wohl der griechischen Bürger und zur Bekämp-fung der Krise dort wirklich genutzt wird. Auch da giltin besonderer Weise: Das, was vereinbart ist, muss ein-gehalten werden. Ich rede noch gar nicht vom Tonfall,von der Tonlage der neuen griechischen Regierung, son-dern ich rede nur vom Inhalt, von den Entscheidungen,die notwendig sind. Mir wäre es schon lieber, wenn nichtso viele Interviews und Homestorys von der griechi-schen Regierung gemacht werden, sondern wenn sie sichauf die eigentliche Arbeit konzentriert, die sie zu leistenhat, auf die Entscheidungen, damit das Land wiederwettbewerbsfähig wird.
Aber auch zum Tonfall muss man etwas sagen. Es ge-hört sich schon, dass man mit denen, von denen man Un-terstützung haben möchte, anständig umgeht. Das ist impersönlichen Umgang so, das muss aber auch im politi-schen Bereich und gerade auch im europäischen Kontextso gesehen werden. Denn wir alle in Europa sind aufei-nander angewiesen, miteinander gut umzugehen, ver-trauensvoll und verlässlich miteinander umzugehen.Dazu gehört auch die Tonlage.
Ich will jetzt, weil das vorhin eine Rolle gespielt hat,noch kurz auf die energiepolitische Diskussion eingehen.Herr Krischer hat ja einen Bundesratsantrag erwähnt und
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 8901
Gerda Hasselfeldt
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dabei unterstellt, dass Bayern da eine Finanzierung vor-gesehen hätte. Ich wäre dankbar, wenn mir dies bewie-sen werden könnte.
Mein Informationsstand ist, dass in diesem Antrag keinesolche Finanzierung enthalten ist, sondern dass das Auf-kommen so verteilt werden soll, wie es bei einem Ein-kommensteuer- und Lohnsteuergesetz ganz normal ist,also dass die Mindereinnahmen von denen getragen wer-den, die auch die Mehreinnahmen haben. Das ist ganznormal. Etwas anderes steht da nicht drin.
Meine Damen und Herren, Europa war meines Erach-tens immer dann ganz besonders stark, wenn es galt,große Herausforderungen zu meistern. Dass das, was imökonomischen Bereich, aber auch im außenpolitischenBereich momentan zu meistern ist, nicht trivial ist, son-dern uns viel Kraft abverlangt, ist unbestritten. Diese Ar-beit ist immer erledigt worden auf der Basis eines festenWertefundaments, auf der Basis von gegenseitigem Ver-trauen und Verständnis füreinander, auf der Basis vonVerlässlichkeit, durchaus auch verbunden mit manchenKompromissen, aber immer, liebe Kolleginnen und Kol-legen, mit großem Erfolg.Wir stünden heute nicht so gut da – in Bezug auf un-sere wirtschaftliche Entwicklung, unseren Wohlstand,die Sicherheit, die soziale Sicherheit, unser außenpoliti-sches Gewicht, unseren freiheitlichen Rechtsstaat –,wenn wir dieses Europa nicht hätten. Darauf sollten wiruns immer besinnen und daraus auch die Kraft und denMut nehmen, das, was vor uns liegt, weiter gut zu gestal-ten. Unsere Bundeskanzlerin hat uns in all den schwieri-gen Jahren hervorragend durch diese schwierigen Zeitengeführt, gerade auch in Europa, und in Europa für Ge-schlossenheit gesorgt, nicht nur in den ökonomischenFragen, sondern auch und gerade in den Fragen derUkraine-Krise. Ich möchte ihr dafür herzlich danken undihr weiterhin eine glückliche Hand wünschen.
Das Wort erhält nun der Kollege Norbert Spinrath für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrten Damen und Herren! Als ich ziemlich ge-nau heute vor einem Jahr an dieser Stelle sprach, war dievölkerrechtswidrige Annexion der Krim gerade ein paarTage alt. Bereits damals mussten wir erkennen, dass25 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges das Ziel ei-nes gemeinsamen europäischen Hauses in weite Fernegerückt ist; der Begriff „gemeinsames europäischesHaus“ geht übrigens auf den ehemaligen sowjetischenPräsidenten Michail Gorbatschow zurück.Der in den letzten beiden Jahrzehnten gewachseneZusammenhalt Europas wurde durch die russische Poli-tik auf eine Art und Weise infrage gestellt, die wir längstüberwunden zu haben glaubten. Europa – allen voran derdeutsche und der französische Außenminister, die deut-sche Bundeskanzlerin und der französische Staatspräsi-dent – hat seit einem Jahr in großer Beharrlichkeit– nicht zaghaft, Herr Kollege Sarrazin – Lösungen erar-beitet und als Vermittler agiert.Der Europäische Rat wird sich auch mit der europäi-schen Nachbarschaftspolitik und mit der Vorbereitungdes Gipfels, der dazu im Mai dieses Jahres in Riga statt-findet, beschäftigen. Wir wollen, dass sich die Staatender Östlichen Partnerschaft, unter anderem die Ukraine,Georgien und Moldawien, der EU politisch und wirt-schaftlich annähern. Wir haben ein sehr weitgehendesAssoziierungsabkommen, das auch ein Freihandelsab-kommen ist, verhandelt. Die Ukraine wird sich wirt-schaftlich nur weiterentwickeln können, wenn sieirgendwann auch wieder gutnachbarschaftliche Bezie-hungen zu ihren Nachbarn im Osten herstellen kann. Esgeht eben nicht um eine Entweder-oder-Entscheidung.Die Ukraine wäre gut beraten, sowohl nach Westen alsauch nach Osten Zusammenarbeit zu suchen, auch wenndas momentan unerreichbar zu sein scheint.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will dieHoffnung nicht aufgeben, dass die Ukraine eines Tagessogar eine Brücke zwischen Europa und Russland seinkönnte. Die Ukraine muss aber auch im eigenen Inte-resse die Chancen für sich ergreifen. Sie muss sich zu ei-nem funktionierenden Rechtsstaat entwickeln. Sie musseine moderne Verwaltung aufbauen. Sie muss ihre ma-rode Wirtschaft modernisieren. Sie muss das unvorstell-bare Maß an Korruption beenden. Sie muss die Oligar-chen an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligen.Vor allem aber muss sie Bürgernähe entwickeln und ei-nen Aufschwung schaffen, einen Aufschwung für dieMenschen.
Alles Handeln muss auf Bürgernähe und auf einen sol-chen Aufschwung für die Menschen ausgerichtet sein;sonst sind die Menschen – die 45 Millionen Menschen inder Ukraine – die wahren Verlierer der Krise.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen die Öst-liche Partnerschaft auf neue Beine stellen. Wir haben inden letzten fünf Jahren erlebt, dass es da zu einigen Frik-tionen gekommen ist. Das waren oft Missverständnisse.Deshalb müssen wir den Menschen und den politischVerantwortlichen in den Partnerländern wiederum undneu die Vorteile und Ziele der Östlichen Partnerschaftverdeutlichen. Wir müssen sie dafür sensibilisieren. Wirmüssen dafür werben und die praktischen Auswirkungenund Vorteile in den Vordergrund stellen.
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8902 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
Norbert Spinrath
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Wir wollen das hier in Deutschland sehr schnell tun;das haben wir vereinbart mit dem zügigen Abschluss derRatifizierung von drei Assoziierungsabkommen nochvor dem Gipfel der Östlichen Partnerschaft in Riga. Wirwollen damit ein wichtiges politisches Signal und einenneuen Impuls für die Wiederbelebung des Gedankensder Östlichen Partnerschaft geben.Es geht bei der Östlichen Partnerschaft nicht um dieVermittlung des Eindrucks, Second Best zu sein – wennman dann eben nur Partner und nicht Mitglied wird –, esgeht um ein fortwährendes Kooperationsangebot der EUan die östlichen Länder. Wir müssen die Neuausrichtungder Östlichen Partnerschaft auch dahin gehend verstehen– und dies sehr deutlich machen –, dass Nachbarschaftund Assoziierung eben nicht zwangsläufig nur kurzeZwischenschritte auf dem Weg zu einer EU-Mitglied-schaft sind, sondern dass sie einen eigenständigen Wert,einen hohen eigenständigen Wert haben.
Die Östliche Partnerschaft muss wieder verstärkt alsgemeinsamer Rahmen für die Stärkung der regionalenIntegration und Zusammenarbeit fungieren. Es muss einRahmen da sein, der eine Differenzierung zwischen un-terschiedlichen Partnern ermöglicht. Wir müssen in dieÖstliche Partnerschaft zukünftig aber auch ganz deutlichwieder stärker die russischen Interessen einbeziehen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der ÖstlichenPartnerschaft muss es das Ziel sein, künftig durch gute,vernunftorientierte und ausgewogene Ausgestaltung eineneue Trennlinie von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer– um nicht andere, alte Begrifflichkeiten zu gebrauchen –und damit eine Zone der Instabilität zu vermeiden. Dannwird es auch gelingen können, dem zu Zeiten von Glas-nost und Perestroika formulierten Ziel wieder näherzu-kommen: dem Ziel eines gemeinsamen europäischenHauses.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat der Kollege
Dr. Christoph Bergner von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DerFrühjahrsrat der Europäischen Union findet zu einemZeitpunkt statt, zu dem wir in diesem Parlament in denAusschüssen die Ratifikation der Assoziierungsabkom-men mit Georgien, der Republik Moldau und derUkraine beraten und beschließen. Aus diesem Grundemöchte auch ich die Aufmerksamkeit noch einmal aufdiesen Tagesordnungspunkt der Ratssitzung lenken unddie damit verbundenen Fragen erörtern. Dabei bin ichder Bundeskanzlerin sehr dankbar, dass sie heute in ihrerRegierungserklärung im Hinblick auf die völkerrechts-widrige Annexion der Krim, aber auch im Hinblick aufdas Infragestellen der Integrität der Ukraine durch dieAktivitäten der Separatisten im Donbass klare Worte derBewertung gefunden hat. Ich glaube, dass so klare Be-wertungen Voraussetzung für erfolgreiche Politik in derSache sind. Ich hoffe, dass es nun auch auf der Ratssit-zung gelingt, die unter großem diplomatischem Auf-wand erzielten Vereinbarungen von Minsk entsprechendzu begleiten und ihre Durchsetzung zu unterstützen. Dasheißt vor allem, dass alle Mitgliedstaaten der Europäi-schen Union einen unauflösbaren Zusammenhang sehenzwischen der Aufrechterhaltung der Sanktionen auf dereinen Seite und einer vollständigen Umsetzung desMinsker Abkommens auf der anderen Seite.
Meine Damen und Herren, bei all diesen Dingen, diewichtig sind – auch bei der Notwendigkeit einer Deeska-lation der militärischen Konfliktlage –, sollten wir im-mer wieder betonen, dass die europäische Nachbar-schaftspolitik und damit auch die Östliche Partnerschaftein Instrument der Friedenskonsolidierung ist.Frau Wagenknecht, ich habe mich nach Ihrer Redebemüßigt gefühlt, den Artikel 8 des Vertrages von Lissa-bon, auf dem unsere Nachbarschaftspolitik beruht, nocheinmal auszudrucken, und ich will ihn hier verlesen:Die Union entwickelt besondere Beziehungen zuden Ländern in ihrer Nachbarschaft, um einenRaum des Wohlstands und der guten Nachbarschaftzu schaffen, der auf den Werten der Union aufbautund sich durch enge, friedliche Beziehungen aufder Grundlage der Zusammenarbeit auszeichnet.Frau Wagenknecht, es gehört schon eine große Portiondemagogischer Hemmungslosigkeit dazu, dieses Anlie-gen in ein Aggressionskonzept des Westens umzudeuten.
Dies sollten wir Frau Wagenknecht nicht durchgehenlassen, und das sollten wir aber auch Putin nicht durch-gehen lassen, der mit seiner Politik – es geht um militäri-sche und sicherheitspolitische Fragen – unserem nach-barschaftspolitischen Anliegen immer wieder begegnet.
Um das Konzept der Friedenskonsolidierung wirklichzur Geltung zu bringen, scheinen mir einige Überlegun-gen wichtig:Erstens. Wenn wir in der nächsten Woche die Asso-ziierungsabkommen mit Georgien und der RepublikMoldau ratifiziert haben, dann sollten wir darangehen,diese Vereinbarungen auch konsequent umzusetzen.Dies sind wir diesen Völkern und Staaten schuldig, aberdies ist auch im Interesse unserer eigentlichen Intention.Zweitens. Wir sollten pragmatisch nach angemessenenPartnerschaftsformen mit den Programmländern suchen,die, aus welchen Gründen auch immer, kein Assoziie-rungsabkommen angestrebt haben: Armenien, Weißruss-
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Dr. Christoph Bergner
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land und Aserbaidschan. Auch das wäre im Sinne desArtikels 8 des Lissabon-Vertrages.Drittens. Wir müssen auch deshalb ein besonderes Inte-resse daran haben, dass das Minsker Abkommen über dieUkraine erfolgreich umgesetzt wird, weil die Ukrainedringend die Freiräume braucht, die mit der Reduzierungder militärischen Konfrontation erst geschaffen werdenkönnen, um die notwendigen staatlichen, wirtschaftli-chen und finanziellen Konsolidierungen betreiben unddie Reformen mit der Konsequenz angehen zu können,die notwendig ist, um die enormen Probleme zu lösen.
Nein, meine Damen und Herren, wir dürfen nicht ver-gessen: Die Probleme im Zusammenhang mit der Östli-chen Partnerschaft mit den ehemaligen Sowjetrepubli-ken und die Herausforderungen, die damit verbundensind, ergeben sich nicht allein, obwohl das schwer genugist, aus dem hegemonialen Anspruch Russlands, sondernauch aus der postkommunistischen Verfasstheit dieserStaaten, ihrer Ökonomien, ihrer Zivilgesellschaften undihrer politischen Kulturen. Die Östliche Partnerschaft isteine Transformationshilfe, die diese Länder von uns er-warten. Es gibt keine einfachen Lösungen, aber wir soll-ten uns dieser Aufgabe verpflichtet fühlen.
Vor diesem Hintergrund sehe ich auch die Debatte umdie Reform und die Überarbeitung der Östlichen Partner-schaft und der europäischen Nachbarschaftspolitik, diein den Vorlagen zum Frühjahrsrat deutlich wird. Wirsollten dabei die friedenskonsolidierende Intention unse-res Artikels 8 nicht infrage stellen, sondern uns fragen,wie sie gestärkt werden kann. Dies bedeutet, dass dasPrinzip „More for more“ zukünftig nicht in starren For-derungskatalogen und abstrakten Pflichtenheften abgear-beitet wird, sondern dass die Nachbarschaftspolitik stattallgemeiner Bürokratie mehr länderbezogene Diploma-tie braucht,
und dass auch die Länder, die unterhalb des Assoziie-rungsabkommens sind, angemessene Lösungsangeboteund angemessene Partnerschaftsangebote bekommenwerden.Einen letzten Punkt will ich kurz ansprechen, weil indiesem Zusammenhang ein Stichwort auftaucht, das ichnicht missverstanden sehen möchte. Es heißt in den Ar-beitspapieren, wir sollten die Nachbarn der Nachbarnbeachten; Kollege Spinrath sprach von der Einbeziehungder russischen Interessen. Meine Damen und Herren, esist selbstverständlich, dass wir uns bemühen, wieder eineEU-Russland-Partnerschaft aufzubauen. Aber es wäreein Widerspruch zur Schlussakte von Helsinki, wenn wirdie Art unserer Partnerschaft mit Nachbarstaaten Russ-lands von der vorherigen Zustimmung Russlands abhän-gig machten. So kann „Nachbarn von Nachbarn“ nichtverstanden werden. Darüber sollten wir uns klar sein. –In diesem Sinne wünsche ich der Bundeskanzlerin einherzliches Glückauf für die Ratstagung.Danke schön.
Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege
Matern von Marschall das Wort.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Zum Abschluss dieser Debatte darf ich– darüber freue ich mich auch – darauf hinweisen, dassdie Federführung dieser Debatte im Europaausschussliegt. Ich freue mich auch deswegen, das zu sagen, weilwir in diesem Jahr 25 Jahre deutsche Einheit feiern undweil letzten Endes der Europaausschuss mit seinen Auf-gaben eine Folge des Wegfalls des Grundgesetzartikelszur deutschen Wiedervereinigung ist und dieser Aus-schuss im Zusammenhang mit dem Maastricht-Vertrageingeführt worden ist. Das ist besonders schön. Wir neh-men diese Aufgabe zur vertieften europäischen Einigungsehr ernst. Dafür danke ich allen Kolleginnen und Kolle-gen sehr.
Ich glaube, trotzdem darauf hinweisen zu müssen– das betrifft den gestrigen Tag und die zum Teil gewalt-tätigen Ausschreitungen vor der EZB –, dass es für diemeisten Kollegen im Europaausschuss sehr schmerzhaftgewesen ist, die absolut unerträglichen Äußerungen vonAbgeordneten der Linken wahrzunehmen, mit denen dieArbeit der Bundesregierung zur europäischen Einheit,die besonders die Bundeskanzlerin, der Bundesaußen-minister und der Bundesfinanzminister seit Jahren uner-müdlich vorantreiben, diskreditiert und diffamiert wird.Da muss ich sagen, Herr Dr. Dehm: Die EZB des„Staatsterrorismus“ zu bezichtigen, ist wirklich unsäg-lich. Ich muss auch sagen, Herr Ulrich: Wenn Sie denBundesfinanzminister – das haben Sie gestern so formu-liert – „zutiefst antieuropäischer“ Neigungen bezichti-gen, dann ist das genauso unerträglich.
Im Gegenteil: Es ist doch so, dass wir gerade der Bun-deskanzlerin und gerade dem Bundesfinanzminister zutiefem Dank verpflichtet sind, dass sie ihre Arbeit in die-ser Unermüdlichkeit auch mit Blick auf Russland undmit Blick auf Griechenland seit vielen Monaten in Situa-tionen fortsetzen, in denen man kaum noch Hoffnunghaben kann und in denen trotzdem beide, die Kanzlerinund der Finanzminister, gezeigt haben, dass jede Chancegenutzt werden muss, um auch bei geringer oder sogarwinziger Hoffnung den Gesprächsfaden nicht abreißenzu lassen und den Partner zum Einlenken und zu deutli-chen und klaren Verpflichtungen zu bewegen.
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8904 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
Matern von Marschall
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Mit Blick auf den Europäischen Rat seien hier einigeAnmerkungen gestattet. Eine Anmerkung bezieht sichauf das Europäische Semester. Das hört sich etwas ko-misch an, aber es ist im Grunde ein Warnmechanismus,der nach der europäischen Krise eingeführt worden ist,um ökonomische Blasenbildungen frühzeitig zu erken-nen.Nun hat sich gerade Deutschland für die Einführungdieses Europäischen Semesters eingesetzt. Es ist trotz-dem etwas merkwürdig, dass die makroökonomischeBewertung Deutschlands in einer Situation herabgestuftworden ist, in der es Deutschland kaum besser gehenkönnte. Ich denke an den Mindestlohn, an steigende Re-allöhne, an eine hervorragende und übrigens durchauswünschenswerte starke Exportquote. Ich glaube, dieKommission hätte die Herabstufung vielleicht nicht vor-genommen, wenn sie bereits zum Zeitpunkt der Bericht-erstattung gewusst hätte, dass aufgrund der starken Wirt-schaftskraft in Deutschland weitere 10 Milliarden Eurofür öffentliche Investitionen zur Verfügung stehen. Dafürherzlichen Dank auch dem Herrn Bundesfinanzminister.
Herr von Marschall, ich habe darauf gewartet, dass
Sie einen Punkt machen. Es gibt nämlich den Wunsch ei-
ner Zwischenfrage von Dieter Dehm.
Bitte schön.
Es scheint Ihnen nicht übermäßig leicht gefallen zu
sein, aber ich danke trotzdem.
Wenn sich Sparauflagen und Auflagen, die den So-
zialstaat kaputtkürzen, in einer erhöhten Kindersterb-
lichkeit, der Zunahme der Suizidrate und einer steigen-
den Anzahl an HIV-Erkrankungen und anderem Schaden
im Gesundheitssystem auswirken,
dann wüsste ich dafür keinen anderen Begriff als Terror.
Es gibt auch den Begriff des Terrors der Ökonomie.
Vielleicht kennen Sie den Bestseller von Frau Forrester,
in dem sie diesen Begriff verwendet.
Aber meine Frage an Sie ist, ob Sie nicht glauben,
dass wir in einer Zeit, in der diese komplizierten Verhält-
nisse in Griechenland bestehen, dem Grexit-Geschwätz
offensiver entgegentreten müssten, statt es wie der Bun-
desfinanzminister zu bedienen,
was in der Konsequenz letztlich bedeutet, dass Leute, die
durch dieses unverantwortliche Gerede, das ich für anti-
europäisch halte, glauben, dass ihre Sparguthaben auf
griechischen Konten morgen in eine Weichwährung um-
gewandelt werden könnten, ihr Geld abheben und damit
die Krise noch verschärfen. Glauben Sie, dass diese Kri-
senverschärfung durch deutsches Gerede proeuropäisch
oder antieuropäisch ist oder dass wir uns nicht deutlicher
von diesem Geschwätz distanzieren müssten?
Herr Dr. Dehm, ich glaube, dass das, was Sie machen,die europäische Spaltung weiter vorantreibt.
Ich glaube, Herr Dr. Dehm, es wäre angemessen gewe-sen, Sie hätten sich für den Begriff des Staatsterrorismusgegenüber einer europäischen Institution entschuldigt,
die zutiefst dem Frieden und der Einheit der Europäi-schen Union dient.
Aber das kommt Ihnen offensichtlich nicht in den Sinn.Ich glaube weiterhin, Herr Dr. Dehm, dass vor allenDingen Griechenland selbst die Verantwortung dafürträgt –
– hören Sie bitte wenigstens zu, wenn ich Ihnen ant-worte; jetzt bin ich nämlich dran –,
und zwar deswegen, weil wir von Griechenland nicht diemindeste Transparenz über die finanzielle Situation dortbekommen, und weil wir überhaupt keinen Einblick indie Lage dieses Landes bekommen und nicht in der Lagesind, festzustellen, was dort vor sich geht, egal ob mandie Troika in eine Athens Group und eine BrusselsGroup splittet, wenn die Leute dann schließlich in einemAthener Hotel in Verwirrung gestürzt werden.Wenn Herr Tsipras jetzt das Anliegen verfolgt, die Sa-che morgen auf dem Brüsseler Gipfel eskalieren zu las-sen, dann ist das, glaube ich, der falsche Weg. Ich bintrotzdem ausgesprochen dankbar – auch wenn sicherlichviele diesbezüglich hätten skeptisch sein können –, dassdie Kanzlerin Herrn Tsipras als Besucher empfangenwird. Ob er allerdings den nachfolgenden Besuch beiHerrn Putin als vorlaufende Drohung verstanden wissenwill, weiß ich nicht, aber wir werden uns von dieser Dro-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 8905
Matern von Marschall
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hung jedenfalls sicherlich nicht einschüchtern lassen. Soweit zur Situation Griechenlands und zu dem, was ich imZusammenhang mit Griechenland glaube, HerrDr. Dehm.
Ich danke Ihnen für diese Redezeitverlängerung.
Ich will noch einen Aspekt herausgreifen. HerrKauder hat es schon angesprochen: Es geht um die Wett-bewerbsfähigkeit. Das ist klar. Wir haben das Europäi-sche Semester abgehakt. Der Europaausschuss widmetsich regelmäßig und ernsthaft der Frage der Subsidiari-tät. Dabei müssen wir durchaus auch manchmal kritischeAnmerkungen machen. Dafür, dass zum Beispiel die du-ale Ausbildung – Herr Kauder, Sie haben das im Zusam-menhang mit dem portugiesischen Botschafter angespro-chen – ein Erfolgsmodell Deutschlands ist, das vieleLänder wie etwa Spanien gerne auch bei sich einführenwollen – übrigens durchaus mithilfe der IHKs sowie derHandwerkskammern und auch mithilfe deutscher Unter-nehmen, die in diesen Ländern tätig sind –, bin ich sehrdankbar. Ich meine aber deswegen, dass es besonderswichtig ist, dass wir nicht etwa den deutschen Meisterdem vermeintlichen Deckmäntelchen des Marktzugangsopfern. Das ist eine Leistungs-, eine Qualitätsstufe desdualen Ausbildungssystems Deutschlands und stellt so-zusagen dessen Krönung dar. Diesen müssen wir alsoganz dringend erhalten.
Ich komme noch kurz auf die Klimapolitik und aufdie Energieunion zu sprechen und möchte sagen: DemEuropaausschuss wäre es ein Herzensanliegen, für die-ses Thema in Zukunft die Federführung zu übernehmen;denn es handelt sich, wie der Europaausschuss selbst,um eine Querschnittsaufgabe. Es geht selbstverständlichum die Klimapolitik, es geht selbstverständlich um denWeltklimavertrag – die Konferenz in Paris haben wirnoch vor uns –, aber es geht natürlich auch um Außenbe-ziehungen und um strategische Komponenten.Frau Göring-Eckardt, Sie haben kritisch angemerkt,wir bräuchten keine Gaslieferungen etwa aus Aserbaid-schan. Genau das Gegenteil ist doch richtig: Wir brau-chen sehr wohl eine Diversifizierung, und zwar um einegeringere Abhängigkeit von Russland zu erreichen. Dasist ein maßgeblicher, sicherheitspolitisch relevanter As-pekt. Das heißt natürlich nicht, dass wir nicht auch Sorgedafür tragen, bei uns die erneuerbaren Energien voranzu-bringen.
Etwas fehlt mir ein wenig im Papier des EuropäischenRates: Im Zentrum der Entwicklung der erneuerbarenEnergien muss die Forschung stehen, und zwar aus fol-gendem Grund: Es ist noch keine hinreichende Antwortgegeben worden, wie der Wandel von einer Energie derGroßkonzerne hin zu Hunderttausenden von kleinen so-genannten Prosumern, also Einheiten, die selber Energieproduzieren und sie gleichzeitig konsumieren, überhauptgelingen soll. Daran muss die Europäische Union, daranmuss auch die Forschung arbeiten. Das dient vor allenDingen der Beantwortung der Frage, wie wir unter die-sen Bedingungen die Netze stabilisieren können. Das istganz wichtig. Ich glaube deswegen, Forschung muss indiesem Bereich unbedingt gestärkt werden. Das betrifftkeineswegs nur Speichertechnologie.
Zum Abschluss möchte ich ein wenig in die Mytholo-gie einsteigen. Morgen gibt es eine Sonnenfinsternis.Diese Sonnenfinsternis findet erst in Brüssel, späterdann in Berlin statt. Wie Sie wissen, haben die altenGriechen gedacht, Helios lenke diesen Wagen. Ich hoffe,dass im Zusammenhang mit dieser Sonnenfinsternis derWagenlenker nicht abstürzt. Wir wissen aber, dass dieSonnenfinsternis nur von kurzer Dauer ist und im Übri-gen auch, dass sich der Lauf der Sonne an sich davonnicht beeinflussen lässt.Danke schön.
Herzlichen Dank. – Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 18/4348. Wer stimmt für diesen Entschlie-ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Damit ist dieser Entschließungsantrag mit denStimmen der Koalition gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Linken abgelehnt.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten CarenLay, Eva Bulling-Schröter, Kerstin Kassner, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEEnergienetze zurück in die öffentliche Hand –Rechtssicherheit bei der Rekommunalisie-rung schaffenDrucksache 18/4323Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie
InnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Ener-gie zu dem Antrag der Abgeord-neten Caren Lay, Eva Bulling-Schröter, KerstinKassner, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKEÜbernahme der Energienetze durch Stadt-werke erleichternDrucksachen 18/3745, 18/4222
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8906 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdiese Aussprache 96 Minuten vorgesehen. Ich höre dazukeinen Widerspruch. Damit ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin in derDebatte hat Caren Lay von der Fraktion Die Linke dasWort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Es gibt inzwischen gute Beispiele, die zeigen,wie die Energieversorgung der Zukunft aussehen kann.Ich empfehle zum Beispiel eine Beschäftigung mit denStadtwerken Wolfhagen in Nordhessen: Strom aus derRegion für die Region, inzwischen zu 100 Prozent ausErneuerbaren. – Deswegen sagen wir als Linke: Ökolo-gisch handelnde Stadtwerke mit dezentraler Energiever-sorgung, so sieht für uns die Energiepolitik der Zukunftaus.
Auch dort hat es damit begonnen, dass die Energie-netze zurück in kommunale Hand gekommen sind.Netze in öffentlicher Hand haben nämlich viele Vorteile:Die Strompreise können fair gestaltet werden für dieVerbraucherinnen und Verbraucher, und etwaige Ge-winne können für das Allgemeinwohl investiert werdenund wandern eben nicht in private Taschen. Das ist derrichtige Weg.
Auch für die Verbindung des Strom- und Wärme-marktes, die wir für die Energiewende dringend brau-chen, ist es von großem Vorteil, wenn die Netze in einerHand sind; denn das ist besser, als dass man gegen denWiderstand der privaten Netzbetreiber ankämpfen muss.Deswegen freue ich mich ausdrücklich darüber, dassviele Kommunen das erkannt haben, übrigens partei-übergreifend, und ihre Energienetze jetzt zurückhabenwollen.
Die Chancen dafür stünden eigentlich gut. Bis zumJahre 2016 laufen bis zu 2 000 Netzverträge aus. DieKommunen könnten also jetzt den Verkauf ihrer Netzean private Betreiber rückgängig machen. Aber leidermachen sie häufig die Rechnung ohne den Wirt, sprich:ohne den privaten Netzbetreiber. Sie wehren sich näm-lich häufig mit Händen und Füßen, weil sie das lukrativeGeschäft lieber für sich behalten wollen.Es geht dabei nicht um Einzelfälle. Eine Vielzahl vonBeispielen belegt, mit welchen Tricks versucht wird, dieRekommunalisierung zu verhindern. Vattenfall hat bei-spielsweise hier in Berlin seine Netze – völlig überzogen –auf einen Preis von 2,5 Milliarden Euro geschätzt, umeiner Rekommunalisierung möglichst viele Steine in denWeg zu legen. Auch der Energiekonzern RWE ist an die-ser Stelle ungeahnt kreativ. In Wachtendonk in Nord-rhein-Westfalen beispielsweise wurde damit gedroht, dasStromnetz zu kappen, falls die Gemeinde eine Netzüber-gabe vornimmt.
Ein paar Kilometer weiter in Wesel drohte derselbeEnergiekonzern mit dem Abbau von 500 Arbeitsplätzen,wenn er die Stromkonzession nicht wiederbekommenwürde. So geht es nicht, meine Damen und Herren. Wirbrauchen hier endlich eine rechtliche Klarstellung.
Es gibt leider viel zu viele Beispiele dieser Art. Eskommt hinzu, dass die Privaten sehr häufig, wenn eineRekommunalisierung ansteht, die Kommunen vor Ge-richt ziehen. Klar wollen die Privaten die Netze nicht zu-rückgeben; aber das Problem ist doch, dass die Politikgenau das zulässt, weil wir eine unklare Rechtslage ha-ben. Das müssen wir endlich ändern.
Für uns Linke hat das Recht auf kommunale Selbstver-waltung Vorrang; denn so steht es auch im Grundgesetz.Auch die kommunalen Spitzenverbände sehen es so.Aber Schwarz-Gelb war da offenbar anderer Mei-nung; denn sonst hätte Schwarz-Gelb nicht im Jahr 2011das Energiewirtschaftsgesetz so geändert, dass diese un-klare Rechtslage überhaupt erst entstehen konnte. Dieunklare Rechtslage schreckt die Kommunen am Endedavor ab, eine entsprechende Rekommunalisierung vor-zunehmen. Der Verdacht liegt natürlich nahe, dass dasGanze vielleicht sogar abschrecken sollte, und das kön-nen wir so nicht hinnehmen.
Hinzu kommt, dass es einen Leitfaden des Bundes-kartellamtes und der Bundesnetzagentur gibt, der im Er-gebnis eher konzern- als kommunenfreundlich ist. Erwird vor Gericht gerne zurate gezogen. Das führt im Er-gebnis dazu, dass die Kommunen verlieren.Ich habe dazu eine schriftliche Anfrage an die Regie-rung gestellt. Sie antwortete mir doch tatsächlich, eshandele sich lediglich um eine rechtlich unverbindlicheAussage. Das sei so eine Art Hilfestellung, mit der sieselber, die Regierung, nichts zu tun habe. Da frage ichmich aber, ob das nicht im Umkehrschluss heißt, dassSie faktisch zuschauen, wie zwei Bundesbehörden ihreeigene Politik zulasten der Kommunen machen. Das darfdoch wirklich nicht wahr sein.
Offenbar ist dieses Problem SPD und CDU/CSU ir-gendwo bekannt; denn ansonsten wäre im Koalitionsver-trag ja nicht ein Satz enthalten, der ebenfalls vorschreibt,dass dort Rechtssicherheit herzustellen ist.
Aber auf die praktische Umsetzung warten die Kommu-nen, die ihre Netze zurückkaufen wollen, doch bis heute.Für viele, die jetzt vor Gericht stehen, kommt diese No-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 8907
Caren Lay
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velle doch viel zu spät. Insofern sollten Sie nicht auf Ih-ren Koalitionsvertrag verweisen, sondern ihn hier end-lich umsetzen.
Wir Linke eröffnen Ihnen jedenfalls die Chance dafür.Wir könnten diese Entscheidung heute im Bundestagtreffen. Die Regierung sagt zwar auch, dass sie es umset-zen will; aber der Zeitpunkt verschiebt sich – je nachdem, wann ich meine schriftliche Anfrage dazu stelle –komischerweise immer weiter nach hinten. Wenn ich mirdie letzte Debatte, die wir dazu hier im Plenum geführthaben, vergegenwärtige, dann habe ich, ehrlich gesagt,doch meine Zweifel, ob Sie in der Koalition sich hierüberhaupt einigen werden. Herr Koeppen von der Unionscheute sich nicht, die Rekommunalisierung mit derPlanwirtschaft zu vergleichen. Er sagte doch tatsächlich:Rekommunalisierungen müssen immer die Aus-nahme bleiben.Da frage ich mich, ehrlich gesagt, wie Sie diese Aussageden Stadträten und den Bürgermeistern der CDU bei-bringen wollen, die ihre Netze ebenfalls zurück in kom-munaler Hand haben wollen.
Auch von der SPD war leider Abenteuerliches zu hö-ren. Im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz,dem ich angehöre, hieß es zum Beispiel, es wäre viel-leicht auch nicht immer schlecht, wenn das in privaterHand bliebe; dann blieben die Strompreise wenigstensbezahlbar. Liebe Genossinnen und Genossen von derSPD, es ist doch wirklich ein neoliberales Märchen, dasses billiger wird, wenn die Dienstleistung von Privatenerbracht wird. Das ist ein Märchen, von dem Sie sichwirklich schnell verabschieden sollten.
Das ist in der Praxis auch längst widerlegt.Deswegen sage ich: Nicht Privatisierung ist der Wegzu mehr Verbraucherfreundlichkeit, sondern mehr De-mokratie ist der richtige Weg.
Der Berliner Energietisch beispielsweise hatte beim lei-der gescheiterten Volksbegehren einen sehr guten Vor-schlag gemacht, wie mehr Demokratie für Stadtwerkeaussehen könnte.Ich bin sehr gespannt auf die Debatte, auch darauf,was die Koalition will. Ich höre nämlich Unterschiedli-ches in der bisherigen Debatte. Manchmal heißt es, esgehe um die Klärung der Übergabebestimmungen.Manchmal heißt es: Vielleicht muss man doch auch andie Ausschreibungskriterien heran. – Wir als Linke sa-gen: Was wir brauchen, ist eine Inhousevergabe, also dieDirektvergabe an ein kommunales Unternehmen. Genaudarum muss es uns heute gehen.
Die kommunalen Spitzenverbände fordern das auch. DerBundestag sollte das heute so entscheiden.Meine Damen und Herren, ich kann mir, wenn wirheute über Rekommunalisierung sprechen, zum Ab-schluss natürlich nicht verkneifen, auch noch einen Satzzu den geplanten Freihandelsabkommen TTIP undCETA zu sagen.
Wenn die Klauseln, die darin vorgesehen sind, sodurchkommen, dann kann ein einmal privatisiertes Un-ternehmen nie wieder rekommunalisiert werden – ganzegal, was wir im Bundestag entscheiden.
Das ist einer von vielen Gründen, warum wir als Linkesagen: TTIP muss gestoppt werden.
Liebe Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Das mache ich.
Meine Damen und Herren, ich hoffe, dass Sie heute
dem Antrag der Linken zustimmen können; denn die
nächste Chance für die Rekommunalisierung ergibt sich
erst wieder in 20 Jahren, wenn die Netzkonzessionen
auslaufen. Wir können nicht länger warten. Lassen Sie
uns heute gemeinsam grünes Licht für die Rekommuna-
lisierung geben!
Vielen Dank.
Als nächster Redner hat der Kollege Thomas Bareiß
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeFrau Lay, Ihre Rede und vor allen Dingen Ihre Ausfüh-rungen zum Verhältnis zwischen Staat und Privat hatmich animiert, doch etwas grundsätzlicher einzusteigen.Sie sagen im Grundsatz, dass wir mehr Staat und we-niger Privat brauchen. Aber der Glaube, dass eine Staats-wirtschaft die beste Grundlage ist,
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8908 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
Thomas Bareiß
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um unsere Versorgung auf ein gutes und günstiges Funda-ment zu stellen, sollte in unserem Land seit 1989 eigentlichwiderlegt sein, liebe Frau Lay. Aber Sie scheinen immernoch in einer anderen Welt zu leben.
Der Erfolg der sozialen Marktwirtschaft basiert aufWettbewerb, auf Gewinnstreben – auch Gewinnstreben istwichtig –
und auf privatem Eigentum, meine sehr verehrten Da-men und Herren. Das führt letztendlich zu Wachstum, zuInnovation und langfristig zu Wohlstand für alle. Ichsage Ihnen, liebe Frau Lay: Haben Sie Mut zur Markt-wirtschaft! Haben Sie auch Mut zu privatem Eigentum!
Herr Kollege Bareiß, lassen Sie eine Zwischenfrage
von Frau Lay zu?
Sehr gern.
Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischen-
frage zulassen.
Gern.
Wir müssen uns jetzt, glaube ich, nicht darüber strei-
ten, ob man alte Vorurteile bedienen muss. Ich möchte
Sie einfach nur fragen: Wenn das Ihre Position ist, wie
erklären Sie sich dann, dass die kommunalen Spitzen-
verbände, in denen sehr viele Bürgermeister der Union
vertreten sind – bedauerlicherweise mehr als solche der
Linken –, genau unsere Position und nicht die Position
vertreten, die Sie hier gerade vorgetragen haben?
Liebe Frau Lay, alte Vorurteile haben Sie durch IhreRede befeuert. Insofern haben Sie mich angestachelt, da-rauf einzugehen und noch einmal klarzustellen, dass wirin Deutschland in einer sozialen Marktwirtschaft leben.
Die kommunalen Spitzenverbände vertreten natür-lich die kommunalen Interessen. Aber unsere Aufgabeist es, die Interessen der Verbraucher zu vertreten.
Das ist der Kern des Energiewirtschaftsgesetzes. DieVerbraucher haben teilweise andere Interessen als diekommunale Seite. Insofern sollten wir abwägen zwi-schen dem kommunalen Interesse, dem privaten Inte-resse von Investoren, gerade was Netze angeht, und denInteressen der Verbraucher, die letztendlich für uns ent-scheidend sind; das hat seine Grundlage im Energiewirt-schaftsgesetz. Darauf werde ich in meiner Rede nachhergern noch näher eingehen.Die Stadtwerke – das ist für mich ein ganz wichtigerPunkt; ich habe neun Jahre in einem Gemeinderat und ineinem Kreistag gesessen – spielen natürlich eine ent-scheidende Rolle in der deutschen Energiewirtschaft. Esgibt über 750 Stadtwerke. Davon sind über 300 in derEnergieerzeugung tätig. Die Stadtwerke betreiben einenKraftwerkspark mit einer Leistung von über 20 Giga-watt. Gerade beim Thema Kraft-Wärme-Kopplung, dasfür uns eine enorm wichtige Säule der Energiepolitik derZukunft ist, sind die Stadtwerke ein entscheidender Fak-tor. Auch das sollten wir bei dieser Debatte herausstel-len.
Aber beim Thema Verteilnetze, liebe Frau Lay – dasist ganz entscheidend –, stehen die Interessen der Kun-den und nicht die kommunalen Interessen im Mittel-punkt. Ich glaube, das sollte der Maßstab für die Konzes-sionsvergaben in den nächsten Jahren sein. Deshalb istnicht pauschal zu sagen: „Energienetze zurück in die öf-fentliche Hand“, sondern wir müssen schauen, wo dieNetze am besten aufgehoben sind. Da stellt sich schondie grundsätzliche Frage, was denn die Kommunen inden nächsten Jahren mit den Verteilnetzen anfangen wol-len. Wenn ich mit Bürgermeistern – Sie haben es ange-sprochen; es gibt auch viele Bürgermeister der CDU undder CSU – diskutiere, dann lautet ihre Antwort auf dieFrage: „Was wollen Sie mit Ihren Netzen denn anfan-gen?“ oftmals, sie wollten Energiepolitik gestalten, dieEnergiewende vorantreiben oder, wie Sie, Frau Lay, ge-sagt haben, die Energiekosten für die Verbraucher güns-tig halten. Aber das können sie gar nicht über die Netzeerreichen; denn wir haben in Deutschland eine Trennungzwischen Produktion und Vertrieb.
Das ist etwas, was Sie, glaube ich, im Grundsatz einmalverstehen müssen: Wir haben gar keine Möglichkeit,über die Verteilnetze Einfluss auf die Energiepolitik zunehmen. Es besteht auch überhaupt kein Gestaltungs-spielraum.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 8909
Thomas Bareiß
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Wir stehen in den nächsten Jahren, was die Verteilnetzeangeht, vor riesigen Herausforderungen. Wir müssendiejenigen heraussuchen, die die besten sind, um dieseHerausforderungen anzupacken.Wenn wir diese Herausforderungen beschreibenwollen, dann müssen wir schauen, was in den nächstenJahren in den Verteilnetzen passiert. Wir werden in dennächsten Jahren im Verteilbereich – auf Basis der neu-esten Studien kann man das noch etwas näher beleuch-ten – allein über 130 000 Kilometer neue Netze auf-bauen müssen. Wir brauchen Investitionen im Umfangvon 24 Milliarden Euro. Das wird für eine Kommunemit 50 000 Einwohnern wie beispielsweise bei mir zuHause in den nächsten Jahren Investitionen im Umfangvon bis zu 15 Millionen Euro bedeuten. Davon wirdder Bürger vor Ort, der Wähler der Gemeinderätenichts sehen. Er wird auch nichts davon haben. Wirmüssen schauen, ob das überhaupt für die Gemeindentragbar ist und ob sie überhaupt ein Interesse daran ha-ben, in den nächsten Jahren in diese Verteilnetze zu in-vestieren.
Wir brauchen zusätzlich zu neuen Leitungen auch intel-ligente Netze vor Ort.
Allein in den letzten 20 Jahren hat es einen enormen Zu-wachs an neuen Stromproduzenten gegeben.
Noch vor 20 Jahren hatten wir 600 Stromproduzenten.Heute haben wir über 1 Million Produzenten, die Stromin das Verteilnetz einspeisen. Das ist auf der einen Seiteschön, aber das bedeutet auf der anderen Seite natürlichauch, dass wir in den nächsten Jahren einen enormenKoordinationsbedarf haben.
Wir müssen das Ganze stärker zusammenbringen undvernetzen. Das wird eine riesige Herausforderung sein.Auch da brauchen wir in den nächsten Jahren – geradeim Verteilnetzbereich – mehr Professionalisierung. Daskönnen die Stadtwerke ohne Frage tun, aber die Fragefür uns wird sein, ob es in einem System, in dem der Fli-ckenteppich der Verteilnetze eher bunter wird, sinnvollist, immer kleinteiligere Systeme zu bekommen, und obwir in einem solchen System Dinge wie Smart Gridsoder gemeinsame Plattformen überhaupt hinbekommen.Auch das muss für unsere Entscheidungsgrundlage einewichtige Frage sein, auch das dürfen wir nicht aus demBlickfeld verlieren.
Meine Damen und Herren, trotzdem ist es aber rich-tig: Wir müssen die Netzvergaben und die Konzessions-übergaben gesetzlich besser regeln; denn es gibt dortohne Frage Probleme.
In den nächsten Jahren werden über 2 000 Konzessionenneu vergeben; auch das haben wir gerade gehört. DieKommunen müssen die Entscheidung treffen, welcherAnbieter das Recht zur Nutzung der Leitungen für dienächsten 20 Jahre bekommt.
Die Ziele des EnWGs sind dann wiederum die Grund-lage für die Auswahl des neuen Konzessionärs.
Das beinhaltet ganz einfach eine sichere, verbraucher-freundliche, effiziente und umweltverträgliche Versor-gung und keine weiteren Ziele, wie sie vorhin benanntwurden. Ich glaube, das sollte für unsere Novellierungder Maßstab sein.Meine Damen und Herren, wenn es zu einer Neuver-gabe der Netzkonzessionen kommt, entstehen vor Ortviele Probleme und Unsicherheiten. Das ist für keineSeite befriedigend. Deshalb hat sich die Große Koali-tion, wie schon beschrieben und wie bei vielen vorherge-henden Debatten schon gesagt, darauf verständigt, dasswir eine neue gesetzliche Regelung auf den Weg bringenwerden, die Rechtssicherheit schafft. Wir werden nochvor der Sommerpause hier ein Gesetz vorlegen, das –oberste Priorität – die Rechtssicherheit garantiert. Da-rüber hinaus wollen wir im regulierten Netzgeschäft ei-nen fairen Wettbewerb zwischen allen Beteiligten gestal-ten. Auch das sollte für uns Maßstab sein. Nur so könnenletztendlich die Ziele der Verbraucher Eingang in dieKonzessionsübergabe finden.
Wenn man den Handlungsbedarf in den nächsten Mona-ten beschreiben will, dann fallen mir vier Handlungsfel-der ein, die wir angehen müssen:Erstens: die Rügepflicht. Diese müssen wir meinesErachtens angehen. In vielen Fällen besteht nach derKonzessionsvergabe Streit, ob es Fehler im Verfahrengegeben hat. Durch eine Rügepflicht muss verhindertwerden, dass Verfahren nach Jahren rechtlich infrage ge-stellt werden. Deshalb brauchen wir klare Regeln, inwelchem Zeitraum ein Altkonzessionär rügen muss unddarauf aufbauend dann klagen darf. Anderenfalls könnensich Netzübergaben über viele Jahre hinziehen. Das wärefür alle Seiten keine befriedigende Situation.
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8910 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
Thomas Bareiß
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Zweitens: Wir haben die Weiterzahlung der Konzessi-onsabgabe. Das ist ein wichtiger Punkt. Die Übergabevon Netzen wird oft von Altkonzessionären erschwertund verzögert. Dabei wird oftmals ein Jahr nach Ablaufdes ursprünglichen Konzessionsvertrages die Zahlungvon Konzessionsabgaben an die Gemeinden eingestellt.Auch das haben wir schon unterschiedlich erlebt. Ausunserer Sicht ist es sinnvoll, die Pflicht zur Zahlung derKonzessionsabgabe bis zur Übertragung des Netzes fort-bestehen zu lassen. Dieser Punkt ist für die Kommunenwichtig, damit hier kein Geld verloren geht und keineRechtsunsicherheit besteht.Drittens: die Bestimmung der wirtschaftlich ange-messenen Vergütung. Hier wird es immer wieder Streitgeben. Wir sollten versuchen, das Handlungsfeld etwasstärker einzuschränken. Unserer Auffassung nach be-steht Handlungsbedarf.Viertens: die Informationspflicht. Wir müssen daraufaufbauen, dass die Daten an den nächsten Konzessionärauch übergeben werden, dass die Datenvielfalt klar gere-gelt wird und dass nicht aufgrund von Rechtsunsicher-heiten Dinge verhindert werden. Das ist ein ganz wichti-ger Punkt, der den Kommunen in besonderer Weise inden nächsten Jahren helfen wird.Das sind vier zentrale Punkte, die wir vonseiten derCDU/CSU in der kommenden Novellierung regeln wol-len.Die stärkere Gewichtung der kommunalen Interes-sen – die Linke hat das in ihrem Antrag eingebracht –werden wir sicherlich prüfen und sehr intensiv disku-tieren. Ich will aber auch betonen, dass wir die Maß-gabe des Energiewirtschaftsgesetzes und die klare Re-gelung, dass die sichere, verbraucherfreundliche,effiziente und umweltverträgliche Versorgung im Mit-telpunkt steht, nicht verlassen wollen. Das ist ein ganzzentraler Punkt unserer zukünftigen Novellierung. DieInhousevergabe werden wir ebenfalls prüfen; Frau Lay,Sie haben es angesprochen. Ich rate, das Urteil desBGH, das uns vorliegt und das sehr kritisch ist, genauzu überprüfen. Ich sehe es ebenfalls kritisch, dass wirim Falle der Kommunen kartellrechtliche Vorschriftenaußer Acht lassen. Wir befinden uns hier auf einemsehr schwierigen Feld und sollten mit Vorsicht vorge-hen.Meine Damen und Herren, wir wollen die Konzessi-onsübergabe rechtssicher und verlässlicher gestalten.Das wird in der konkreten gesetzlichen Ausgestaltungnicht einfach werden, aber der jetzige Zustand ist für alleBeteiligten nicht befriedigend. Stadtwerke werden beider Konzessionsvergabe auch künftig eine große Rollespielen, jedoch werden sie sich auch dem Wettbewerbstellen müssen. Die Rekommunalisierung kann keinSelbstzweck sein.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Oliver
Krischer von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Bareiß – ich spreche auch Herrn Koeppen an, derzu diesem Antrag in der ersten Runde gesprochen hat –,ich finde es, ehrlich gesagt, eine Frechheit, dass Sie sichhierhinstellen und den kommunalen Entscheidungsträ-gern, Bürgermeistern aller Parteien Belehrungen ertei-len, wie sie ihre verfassungsgemäße Verantwortungbeim Betrieb der Verteilnetze auszuüben haben und wassie tun und lassen sollen. Das sollten Sie den gewähltenVertretern in den Kommunen überlassen. Das ist derenAufgabe. Es ist nicht Ihre Aufgabe, sich hier an das Pultzu stellen und zu sagen, was für Kommunen richtig undfalsch ist. Das ist deren Job. Machen Sie bitte schön IhreHausaufgaben.
Meine Damen und Herren, ich gebe offen zu: Ichhabe mit der Kollegin Haßelmann die Berufung vonFrau Reiche als Geschäftsführerin des Verbandes derkommunalen Unternehmen kritisiert. Ich habe mir dazumanchen bösen Kommentar aus der Szene der Stadt-werke eingehandelt.
Aber wenn diese Berufung bei Ihnen am Ende zu etwasmehr energiepolitischem Sachverstand führt, was kom-munale Stadtwerke angeht, dann mache ich mit dieserBerufung meinen Frieden, dann wäre es das wert gewe-sen; denn die Union irrlichtert bei dieser Frage ganz im-mens. Das muss ich Ihnen, Herr Bareiß, schon sagen; Siehaben es mit Ihrer Rede wieder deutlich gemacht.
Wir Grüne finden, dass eine Kommune selbst frei ent-scheiden soll, ob sie das örtliche Gasnetz alleine betrei-ben will oder ob sie einen Privaten damit beauftragenwill.
– Das ist die Grundlage dessen. Es gibt eigentlich nurzwei Bedingungen: Es muss technisch funktionieren,und die Entscheidung muss am Ende transparent sein.Herr Bareiß, es ist ein absolutes Unding, dass Sie sichjetzt hierhinstellen und sagen: Ja, es gibt da Problememit dem Energiewirtschaftsgesetz. – Denn es waren ge-nau Sie von der Union, auch Sie als Person, die diesesEnergiewirtschaftsgesetz im Jahr 2011 geändert haben.Ich empfehle Ihnen, in die Protokolle der Anhörungendes damals zuständigen Umweltausschusses zu schauen:Alle Sachverständigen haben Ihnen genau das vorausge-sagt, was passiert ist. Wir haben dazu zusammen mit denKollegen von der SPD Anträge eingebracht. Jetzt sagen
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 8911
Oliver Krischer
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Sie hier: Ach ja, da sind ein paar Probleme aufgetaucht. –Sie haben das ganz bewusst gemacht, haben es sehendenAuges getan,
weil Sie nämlich nicht wollten, dass die Kommunen freientscheiden können. Sie wollten, dass das bei den Kon-zernen verbleibt; Sie wollten da ein Geschäftsmodell er-halten. Das ist klar. Es waren damals Pfeiffer, Fuchs undBareiß, die energiepolitische Todeszone in der Union,die genau das wollten, die wollten, dass hier am EndeRechtsunklarheit entsteht.
Ich sage Ihnen sehr deutlich: Es ist gut so, wie es inDeutschland in der Vergangenheit gelaufen ist.
Nur haben wir seit vier Jahren ein Problem, das Sie ge-schaffen haben. Wir haben 700 Verteilnetzbetreiber. Esgibt viele Studien, die zeigen, dass gerade die kleinen,kommunalen Anbieter die Netze mindestens genauso gutbetreiben können wie die großen. Mehr noch: Es gibteine Studie aus Baden-Württemberg, die belegt, dasskommunale Verteilnetzbetreiber die Netze effizienter be-treiben als große. Deshalb sollten wir die Entscheidungs-möglichkeiten der Kommunen an dieser Stelle stärkenund die Rechtsunsicherheit, die Sie geschaffen haben,beenden, damit die Kommunen frei entscheiden können.
Ich will einen ganz entscheidenden Punkt nennen – Siehaben ihn interessanterweise auch erwähnt –, den wir2011 und danach rauf und runter diskutiert haben. Da gehtes um die Frage des Kaufpreises: Was muss beim Über-gang des Netzes gezahlt werden? Ich sage ganz klar: Wirwaren uns mit den Kollegen von der Sozialdemokratievöllig einig
– und sind es, wie ich hoffe, immer noch; dazu werdenwir gleich etwas hören –, dass wir an dieser Stelle dieKlarstellung brauchen, dass der Ertragswert die Grund-lage sein muss, damit nicht jahrelange Prozesse zu derFrage stattfinden, was gezahlt werden muss. Diese Un-klarheit im Hinblick auf den Kaufpreis – das wurde vonIhnen im Gesetz bewusst unklar gelassen – führt dazu,dass wir jahrelange Gerichtsauseinandersetzungen ha-ben, dass dieses Gesetz ein Arbeitsbeschaffungspro-gramm für Juristen, Berater und Gerichte ist, das amEnde – das ist die Realität – ganz viele Kommunen da-von abschreckt, sich überhaupt der Frage zu nähern, denBetreiber ihres Netzes zu wechseln, weil sie vor denRechtsabteilungen von Konzernen Angst haben. Da er-warte ich, dass Sie das klarstellen und in das Gesetzschreiben, dass der Ertragswert beim Eigentumsüber-gang zugrunde zu legen ist. Das wäre eine notwendigeund richtige Entscheidung.
Meine Damen und Herren, es ist gut, dass wir das hierund heute wieder diskutieren und die Kollegen von denLinken einen neuen Antrag dazu stellen, der etwas andereAspekte aufgreift. Das werden wir wieder im Ausschussberaten, Sie werden das dann wieder alles ablehnen, unddann kommt das hier wieder zurück. Ich kündige Ihnenjetzt schon einmal an: Dann werden wir einen Antrag ein-bringen, einen Gesetzentwurf vorlegen,
und dann wird es mit dem Thema weitergehen. Ich hoffeja, dass Sie an dieser Stelle das wahrmachen, was Sieseit anderthalb Jahren ankündigen und was Sie im Koali-tionsvertrag vereinbart haben. Herr Koeppen – Sie redengleich noch –, vor ein paar Wochen haben Sie dazu ge-sagt: Das ist gar nicht notwendig; man muss am Energie-wirtschaftsgesetz gar nichts ändern. – Ich bin gespannt,wann tatsächlich konkret etwas kommt.Ich habe vor ein paar Tagen eine Stellungnahme desStädte- und Gemeindebunds und der kommunalen Spit-zenverbände insgesamt bekommen. Darin werden Sieaufgefordert, hier endlich aktiv zu werden. Es bestehteine dringende Notwendigkeit. Herr Bareiß, Sie würdensich keinen Zacken aus der Krone brechen, wenn Siesagten: Wir haben 2011, weil wir in energiepolitischerHinsicht etwas anderes wollten und vom Atomausstieggebeutelt waren, eine irrsinnige Entscheidung getroffen.– Es wäre gut, wenn das hier einmal gesagt würde. Dannkönnten wir nämlich eine ehrliche Debatte führen. Daswäre eine gute Basis.
Wir als Grüne werden uns weiter dafür einsetzen,dass Kommunen, die das wollen, ihre Netze selber über-nehmen und frei darüber entscheiden können. Wir sindder Auffassung – das unterscheidet uns wirklich von Ih-nen –, dass der Netzbetrieb das Rückgrat für ein kommu-nales Stadtwerk sein kann und dass ausgehend von die-sem Rückgrat ein Stadtwerk entstehen kann, mit demEnergie- und Klimapolitik im Sinne der Daseinsvorsorgefür alle Bürger gemacht werden kann und mit dem einMehrwert für die Gemeinde und für die Menschen ge-schaffen wird.
Herr Bareiß, ich bin der Auffassung, dass die Netzent-gelte eher in die Gemeindekasse gehören, als dass sie ineiner Konzernkasse klingeln. Das ist am Ende die bes-sere Politik.Ich danke Ihnen.
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8912 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
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Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Florian Post
von der SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das Für und Wider der Rekommunalisierung
und der Übernahme von Netzen ist bereits sehr kontro-
vers diskutiert worden. Es gab auch zwei Bürgerent-
scheide in Hamburg und Berlin. Wir müssen mittler-
weile aufpassen, dass dieses Thema nicht zur Kernfrage
stilisiert wird, wenn es um das Gelingen der Energie-
wende geht.
Natürlich stehen viele Gemeinden und Städte vor der
Frage, wie sie sich in Zukunft organisieren: mit eigenen
Gesellschaften bei Netzen, in privaten Netzgesellschaf-
ten, in kommunalen Gesellschaften oder eben in öffentli-
chen Eigenbetrieben. Wir in der SPD sind der Überzeu-
gung, dass eine gut durchgeführte Rekommunalisierung
von Stromnetzen den Wettbewerb belebt und den Städ-
ten und Kommunen und damit letztendlich auch den
Verbraucherinnen und Verbrauchern dient.
Was die neu gegründeten Stadtwerke angeht, haben
wir seit 2007 eine Gründerzeit erlebt. Es waren 80 an der
Zahl. 200 Gemeinden haben seitdem erfolgreich Kon-
zessionen für Stromnetze übernommen. Dazu gehören
Großstädte wie Stuttgart, Dresden und Hamburg, aber
auch kleinere Gemeinden und kleinere Kommunen.
Auch dem Dorf Putzbrunn in Bayern mit 6 000 Einwoh-
nern ist das beispielsweise gelungen. Allein in Bayern
laufen 2017 200 Konzessionsverträge aus. Ich glaube,
gelesen zu haben, dass es bundesweit so an die 2 000
sein werden.
Um eines klarzustellen: Kommunen sorgen mindes-
tens genauso gut für eine sichere Stromversorgung wie
private Netzbetreiber.
Um was geht es jetzt? Es geht um die rechtlichen
Klarstellungen bei der Übernahme von Konzessionen;
das wurde bereits öfter angesprochen. Diese müssen in
der Tat verbessert werden. Hier bedarf es Klarstellungen
in Bezug auf verschiedene Punkte, auf die ich später
noch eingehen werde. Es muss aber auch klargestellt
werden, dass es eben keine bedingungslose Rekommu-
nalisierung ohne objektive und in diesem Fall nachvoll-
ziehbare Kriterien geben kann.
Wir als Koalition werden den Übergang von einem
Netzbetreiber zum anderen noch in diesem Jahr verein-
fachen. Angestrebt ist – Kollege Bareiß hat das bereits
gesagt –, dass wir hier noch vor der Sommerpause einen
gut durchdachten Vorschlag vorlegen werden. In diesem
werden wir uns natürlich der Frage widmen, wie wir
Schikanen von Altkonzessionären, die sich vor Wettbe-
werb schützen wollen – das Problem ist erkannt –, vor-
beugen, weil sie für uns inakzeptabel sind und von uns
nicht akzeptiert werden, wenn wir einen Vorschlag vor-
legen.
Diese Schikanen bestehen oftmals darin, dass über
den Kaufpreis gestritten wird, der zu hoch angesetzt ist.
Dann wird darüber gestritten, welcher Wert überhaupt
zugrunde gelegt wird; hier plädieren wir klar für den Er-
tragswert. Dann werden oftmals überzogene Entflech-
tungskosten angesetzt. All das zieht jahrelange Rechts-
streitigkeiten nach sich, vor denen sich natürlich viele
Kommunen zu Recht scheuen. Viele Kommunen sind
auch nicht in der Lage, das finanziell durchzustehen.
Wir wollen rechtliche Klarstellungen und Informa-
tionspflichten, gerade auch was die Herausgabe von
Netznutzungsdaten usw. der Altkonzessionäre anbe-
langt, im neuen Gesetzentwurf verankern. Ich glaube,
dass wir auf einem guten Weg sind und das glattziehen
bzw. den Schikanen vorbeugen können.
Die Kommunen können sich anhand von objektiv
nachprüfbaren Kriterien um solche Konzessionen be-
werben – es bedarf solcher Kriterien –, und sie können
diese Kriterien sogar selbst gewichten. Aber einen be-
dingungslosen kommunalen Vorrang halten wir nicht für
sinnvoll, so wie das im Antrag der Linken gefordert
wird, Frau Lay. Hier unterscheiden wir uns. Vielmehr
muss es so sein: Die Kommune muss die Kriterien, die
zugrunde gelegt werden, genauso gut erfüllen wie ein
privater Mitbieter. Nach meiner Auffassung sollte erst
dann die Kommune den Vorrang haben.
Wenn die Kommune die Kriterien allerdings schlechter
erfüllt als ein privater Mitbewerber, dann ist es weder im
Interesse der Kommune noch im Interesse der Verbrau-
cherinnen und Verbraucher, dass die Kommune den Zu-
schlag erhält. Kommunaler Eigenbetrieb ist eben kein
Selbstzweck. Er muss sich an objektiv nachprüfbaren
Kriterien messen lassen.
Herr Kollege Post, lassen Sie eine Zwischenfrage von
Herrn Kühn vom Bündnis 90/Die Grünen zu?
Selbstverständlich.Christian Kühn (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):Danke, Herr Kollege Post, dass Sie die Zwischen-frage zulassen. – Sie haben gerade über Kriterien undüber die Erfüllung dieser Kriterien gesprochen. Sie ha-ben gesagt, dass die Kommunen die Kriterien genausogut erfüllen sollen. Nun habe ich die Kolleginnen undKollegen der Union immer so verstanden, dass die Kom-munen die Kriterien besser erfüllen sollen. Was gilt dennnun in dieser Großen Koalition? Was planen Sie in Ih-rem Gesetzentwurf?
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 8913
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Zunächst möchte ich festhalten: Der Koalitionsver-
trag in dieser Frage ist eindeutig. Wir gehen davon aus,
dass der Koalitionsvertrag für alle an der Koalition betei-
ligten Parteien gilt.
Sie zielen auf eine Bemerkung eines Kollegen im
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ab, auf die ich ge-
nau das Gleiche entgegnet habe, was ich eben in meiner
Rede klargestellt habe. Für uns gilt: Die Kommune muss
die Kriterien genauso gut erfüllen und hat dann den Vor-
rang zu erhalten. Sie darf im Vergleich zu einem privaten
Mitbieter nicht schlechter gestellt werden.
Die Stadtwerke sorgen überall in Deutschland für
hohe Versorgungsqualität. Wir wollen Sorge dafür tra-
gen, dass das auch so bleibt. Wir dürfen allerdings nicht
den Fehler begehen, den Bürgerinnen und Bürgern ein-
zureden, dass man durch die Übernahme einer Konzes-
sion Spielräume bei der Gestaltung der Verbraucher-
preise hätte. Wir haben hier in Deutschland die
Trennung von Vertrieb und Erzeugung, das sogenannte
regulatorische Unbundling. Das gilt natürlich in Zukunft
auch für Kommunen und Stadtwerke. Man darf nicht
den Fehler machen, irgendwelche Mythen in die Welt zu
setzen. Das würde später zu Enttäuschungen führen.
Bis Ende 2017 werden fast alle auslaufenden Konzes-
sionen für viele Jahre neu vergeben. Daher ist in der Tat
– das ist auch in Ihrer Begründung durchgedrungen –
schnelles Handeln geboten. Das haben wir in der Großen
Koalition und als SPD-Fraktion erkannt. Deswegen wer-
den wir aufs Tempo drücken. Wir werden vor der Som-
merpause einen wohl durchdachten Vorschlag vorlegen
– ich sehe durchaus Chancen, dass wir uns mit der Op-
position einigen können –, der den Kommunen und den
Verbraucherinnen und Verbrauchern dient. In diesem
Sinne: Wir werden zu einem guten Ergebnis kommen,
das für alle tragbar sein wird.
Danke für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. Als nächster Redner hat Jens Koeppen
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Liebe Kollegin Lay und lieber KollegeKrischer, ich finde es bemerkenswert: Ich habe noch garnichts gesagt, und trotzdem wurde ich schon dreimal er-wähnt.
Da kann ich so viel nicht falsch gemacht haben.
Vielen Dank für die Vorschusslorbeeren.Ich muss Sie enttäuschen: Ich werde nicht so viel an-deres sagen. Sie haben diese Anträge mittlerweile drei-mal gestellt, mit gleichem Inhalt und fast gleichem Text.Wir haben darüber im Plenum und auch im Ausschussgesprochen.
Die Argumente sind also ausgetauscht. Deswegenmöchte ich meine Redezeit heute darauf verwenden, aufdie Mythen einzugehen, die Sie in Ihrer Argumentationfortwährend vortragen. Ich möchte darauf eingehen, dasses schlicht und ergreifend nicht stimmt, was Sie hier er-zählen.Der eine Mythos ist: Stadtwerke können keine Netzeübernehmen, bzw. wir würden es den Stadtwerkenschwer machen, Netze zu übernehmen. Außerdem seienwir per se gegen die Kommunalisierung.
Darauf werde ich eingehen. Ich werde auch darauf ein-gehen, dass Sie immer wieder sagen, die öffentlicheHand sei per se der bessere Unternehmer und dieRekommunalisierung habe nur Vorteile und löse alleProbleme. Sie sagen auch immer – das ist der dritteMythos –, dass laut Koalitionsvertrag alles geändertwerde, was jetzt im EnWG, im Energiewirtschaftsgesetz,steht. Darauf werde ich letztendlich auch eingehen.Sie haben mittlerweile drei Anträge gestellt, und im-mer wieder fordern Sie in den Anträgen mehr Staatswirt-schaft.
– Staatswirtschaft, Kommunalwirtschaft, für mich gibtes da nicht so viele Unterschiede.
Sie sagen ja auch, dass der Wettbewerb ausgeschaltetwerden soll,
wenn Sie die gesetzliche Festschreibung der Direktver-gabe ohne ein entsprechendes Auswahlverfahren undohne Ausschreibung fordern. Sie wollen quasi zulassen,dass auf Zuruf der Gemeinden die Netze an die Stadt-werke über eine Inhousevergabe übergeben werden. Daswird nicht funktionieren, und das kann auch nicht funk-tionieren. Deswegen sagen wir natürlich zum Mythos
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8914 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
Jens Koeppen
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eins: Das kann nicht gut gehen. Staat vor Markt ist keinErfolgsmodell. Ich kenne keine einzige Volkswirtschaft,die so funktioniert hat.Wir haben uns in Deutschland die soziale Marktwirt-schaft sehr mühsam, aber sehr erfolgreich aufgebaut.Wenn Sie nach 25 Jahren immer noch Probleme mit dersozialen Marktwirtschaft haben,
dann müssen Sie das mit sich ausmachen, aber nicht mituns.Die Kommunalisierung muss – dabei bleibe ich; dahaben Sie mich richtig zitiert – eine Ausnahme bleiben.Das ist de facto so.
Es gilt: Nicht um jeden Preis kommunalisieren, sondernda, wo es passt, aber nicht dort, wo es geht. Außerdemsage ich: Wenn Kommunen es besser machen oder ge-nauso gut machen. Dieses Bessermachen ist ein Prinzipder Subsidiarität; diese ist in verschiedenen Kommunal-verfassungen der Länder eindeutig festgeschrieben. Esgibt die starke Subsidiarität, und es gibt die schwacheSubsidiarität. Die starke Subsidiarität besagt – so steht esin einigen Kommunalverfassungen der Länder –, dassdie Kommunen es wirtschaftlich besser machen müssenals wirtschaftlich arbeitende private Unternehmen. Dasist gelebte Subsidiarität. Wir wollen sie nicht aushöhlen,sondern wir wollen die Kommunalverfassungen stärken.Wer etwas anderes möchte, stellt die Systemfrage. Dasist mit uns nicht zu machen.
– Ja, natürlich.
Herr Kollege Koeppen, lassen sie eine Zwischenfrage
zu?
Nein. Wir haben insgesamt 96 Minuten Debattenzeit,die Fraktionen haben ihre Redezeitkontingente, und wirhaben bereits dreimal darüber geredet.
Sie sollten einmal zuhören und die Argumente akzeptie-ren. Parlament besteht aus Rede und aus Gegenrede, ausArgumenten und Gegenargumenten.
Jetzt bin ich mit meinen Gegenargumenten dran.
Akzeptieren Sie das einfach einmal, und hören Sie bittezu.Mythos zwei lautet: Stadtwerke können Netze nichtübernehmen, oder es wird ihnen sehr schwer gemacht. –Stadtwerke können sehr wohl Netze übernehmen, undStadtwerke übernehmen in zahlreicher Form in Deutsch-land Netze. Ein Stadtwerk in der Kreisstadt meinesWahlkreises, in Prenzlau, hat Netze übernommen. Es istdenen weiß Gott nicht leichtgefallen. Denn dafür mussein Stadtwerk leistungsstark sein. Stadtwerke müssensich damit ganz klar auseinandersetzen. Natürlich kön-nen sie sich ein zweites oder drittes Standbein aufbauen– das kann auch hilfreich sein –, aber sie dürfen denWettbewerb nicht scheuen, und sie müssen eine klare Ri-sikobewertung vornehmen. Diese Risikobewertung istaus meiner Sicht sehr wichtig, weil sie auch dasUnbundling-Verfahren des Dritten EU-Energiebinnen-marktpaketes anwenden müssen. Das machen die meis-ten Stadtwerke; das wollen sie auch. Deswegen, liebeFrau Lay, wird es auch keine Änderung des § 1 desEnWG, des Energiewirtschaftsgesetzes, geben, wie Siees ja in der Begründung zu Nummer 2 Ihres jüngstenAntrags fordern. Ich lese Ihnen vor, was in § 1 EnWGsteht: Ziel „ist eine möglichst sichere, preisgünstige, ver-braucherfreundliche, effiziente und umweltverträglicheleitungsgebundene Versorgung … mit Elektrizität undGas“. Was bitte davon soll ich ändern? Also wird es da-bei bleiben.
Eine Übernahme durch die Stadtwerke kann erfolg-reich sein; ohne Zweifel, das ist gar keine Frage. Deswe-gen gibt es ja auch zahlreiche Übernahmen. Aber es gibtkeine Garantie auf Erfolg. Die Stadtwerke sind auchnicht per se eine Cashcow, ein wie auch immer gearteterGoldesel. Deswegen braucht es ein gutes Management.Die Stadtwerke, die das nachvollziehen, haben ein gutesManagement.
Es muss eine klare Risikobewertung geben. Es gibteinen sehr hohen Investitionsbedarf. Es muss eineVersorgungsgarantie übernommen werden. Es muss einService übernommen werden.
Vor allen Dingen, Herr Krischer, ist es nun einmal so:Verluste können bei einer so hohen Investition auftreten.Wenn es sie dann gibt, entstehen Konkurrenzsituationenzu anderen staatlichen Aufgaben
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 8915
Jens Koeppen
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wie Kitas, Schulen, Sportplätze und Kultur. Solche Ent-scheidungen müssen die Bürgermeister in den Kommu-nen dann auch vertreten.
Wenn etwas in einem Stadtwerk schiefläuft, entsteht eineKonkurrenzsituation zwischen Aufwendungen für dieVerluste und Mitteln für andere Aufgaben.Deswegen sagen wir: Es muss zum Vorteil der Gesell-schaft sein, es muss zum Vorteil der Kommunen sein, esmuss zum Vorteil der Kunden sein. Preis und Leistungmüssen stimmen. Es muss um Daseinsvorsorge gehen,und es darf keine Daseinsberechtigung werden. Wennich mir manche Stadtwerke ansehe – ich kann Ihnenkonkrete Beispiele nennen –, komme ich zu demSchluss: Es geht teilweise um Daseinsberechtigung,nicht nur um Daseinsvorsorge. Wir müssen also aufpas-sen, dass wir das richtig machen.Jetzt komme ich zum Mythos Nummer drei. Sie sa-gen, wir wollten jetzt laut Koalitionsvertrag alles ändern.Der Kollege Bareiß hat schon ziemlich deutlich gesagt– auch die Kollegen von der SPD haben das schon er-wähnt bzw. werden es noch tun –, und wir sagen ganzklar – nicht mehr und nicht weniger steht im Koalitions-vertrag –: Wir werden das Bewertungsverfahren bei derNeuvergabe evaluieren und verbessern. Wir werden da-rüber hinaus die Transparenz verbessern. Es ist doch garkeine Frage, dass es da Dinge gibt, die zu verbessernsind. Das werden wir auch tun.
Auch die Rechtssicherheit muss verbessert werden.Verbessern heißt aber doch, aus etwas Gutem etwasBesseres zu machen. Wir werden das, was schon da ist,aber nicht abschaffen. Deswegen: Lassen Sie uns docherst einmal Vorschläge machen. Dann sehen wir weiter.Letztendlich wollen wir sagen können: Wenn Transpa-renz gewährleistet ist und die Wirtschaftlichkeit da ist,können die Stadtwerke bei einer Vergabe ganz gezieltzugreifen. Aber es muss bei einer Ausschreibung blei-ben.Verbessern heißt nicht abschaffen. Deswegen: § 1 desEnergiewirtschaftsgesetzes wird definitiv bleiben. Eswird keine Direktvergabe ohne Auswahlverfahren undAusschreibung geben. Das kann es auch gar nicht geben,weil das europarechtlich gar nicht möglich ist. Auch dieSubsidiarität wird bleiben. Die Kommunalverfassungenwerden nicht angefasst.
Vor allen Dingen müssen auch die Unbundling-Vorschriften eingehalten werden.Es gibt mit uns keine Gesetzesänderung, die denWettbewerb im Netzbereich abschafft. Es wird aller-dings – ich habe das bereits gesagt – Veränderungen imSinne der Transparenz geben. Damit werden wir denWettbewerb stärken. Wir werden die Vergabeentschei-dungen verbessern. Wir werden dadurch natürlich auchdie Ausschreibungen klarer gestalten können. Das allesist in Ordnung; lassen Sie uns also darüber nachdenken.Aber eine Änderung in Richtung irgendeiner wie auchimmer gearteten Staatswirtschaft wird es mit uns nichtgeben.Schauen Sie – darauf muss ich als Brandenburgerhinweisen –, Berlin und Brandenburg haben einen Flug-hafen, der ewig nicht fertig wird.
Ich sage Ihnen: Wir brauchen nicht mehr BER, wir brau-chen weniger BER.
Deswegen: Lassen Sie uns an guten Bedingungen arbei-ten, damit die Rahmenbedingungen für den Wettbewerbstimmen, und gemeinsam dafür sorgen, dass es im Be-reich des Energiewirtschaftsgesetzes zu Verbesserungenkommt. Mit uns wird es aber keine Abschaffung geben.Vielen herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Bevor Eva Bulling-Schröter von derLinken das Wort erhält, erhält Herr Gambke vom Bünd-nis 90/Die Grünen für eine Kurzintervention das Wort.
Vielen Dank. – Herr Koeppen, Sie haben ja meineFrage nicht zugelassen. Nun haben Sie in Ihrer ganzenRede über das Thema Marktwirtschaft gesprochen undgerade so getan, als habe im Energiebereich immerMarktwirtschaft geherrscht. Wir hatten aber über Jahreund Jahrzehnte eine starke Monopolbildung. Jetzt gehtes darum, dieses Monopol aufzubrechen.
Genau dagegen sehe ich Widerstände bei Ihnen.So ist zum Beispiel das marktwirtschaftliche Prinzipder Ertragswertbetrachtung ein zentraler Punkt, bei demdiejenigen, die in den Wettbewerb eintreten wollen,Rechtssicherheit brauchen. Diesen Wettbewerb, der auf-grund der Monopolbildung jahrelang verhindert war,wollen wir ja. Das ist eine Sache, der sich die Stadtwerkestellen werden und stellen müssen. Dabei sollten aber,bitte schön, Bedingungen vorherrschen, damit sie aufgleicher Augenhöhe mit den großen Konzernen stehen.Genau darum geht es. Aber eben da sehe ich keine Be-wegung in der Union, sondern eher ein Bremsen. Daswar genau der Punkt, der mich dazu veranlasst, zu glau-ben, dass Ihr Plädoyer für Markwirtschaft nicht ehrlichist.
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8916 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
Dr. Thomas Gambke
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Herr Koeppen, Sie haben Gelegenheit zur Erwide-
rung.
Dass wir, wie Sie gerade gesagt haben, gegen eine
Aufweichung der Monopole seien, ist so nicht richtig.
Wir lassen doch den Wettbewerb zu: Stadtwerke können
logischerweise durch dieses Unbundling-Verfahren jetzt
Netze übernehmen. Nur, das darf auch nicht umgedreht
werden. Es kann natürlich nicht sein, dass wir durch eine
Direktvergabe ohne Ausschreibung, ohne Auswahlver-
fahren
ein Monopol in die andere Richtung bekommen. Deswe-
gen: Das, was jetzt schon möglich ist, nämlich dass
Stadtwerke Netze übernehmen, können wir befördern,
indem wir – Herr Kollege Bareiß hat es ja angedeutet –
die Transparenz verbessern, die Ausschreibungsbedin-
gungen verbessern, alles, was dazugehört. Das ist alles
im Werden und wird demnächst auch vorgelegt. Dann
können sich Stadtwerke melden, können an einer Aus-
schreibung teilnehmen, aber nicht so, wie es die Links-
fraktion fordert, also ohne die ganzen Vorschriften,
Unbundling-Vorschriften usw., die wir jetzt schon haben.
Mit uns wird es keine Umdrehung des Wettbewerbs ge-
ben – eine Verbesserung des Wettbewerbs, ja, aber eine
Umdrehung nicht.
Frau Kollegin Bulling-Schröter, jetzt haben Sie das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die letzte Debatte zu diesem Thema fand ja Ende Januaran einem Freitagnachmittag statt. Auch da wurde großdebattiert, vor allem mit der CDU/CSU, die sich da re-gelrecht aufgeregt hat.Herr Kollege Koeppen, Sie haben damals gesagt undjetzt wieder behauptet, die Linke wolle die Systemfragestellen, weil sie öffentlichem Eigentum Vorrang vor pri-vatem geben würde. Da frage ich mich schon, wie Siesich das System vorstellen, und für mich zeigt das auch,wie Sie denken: Da wird Staatswirtschaft kritisiert, wirdbehauptet, die Kommunen könnten Aufgaben wenigergut wahrnehmen als private Dienstleister. Ich werde ein-mal schauen, wie die Kommunalvertreter auf solcheVorhaltungen reagieren. Ich komme aus Bayern; da istdie Mehrheit bei der CSU. Ich weiß nicht, ob Sie diesenLeuten das so sagen wollten. Aber das muss man deneneinmal sagen, wie die Vertreter hier in Berlin sie ein-schätzen.
Wir sind ja gewohnt, dass die Union bisweilen so re-agiert wie ein Stier, wenn er ein rotes Tuch sieht.
Ich sage auch nicht, dass Sie von der CDU/CSU keineAngst vor uns haben brauchen. Aber diesmal geht es umStadtwerke und um Kommunen. Wenn das wirklichschon ein „Systemwechsel“ sein soll, dann muss ichwirklich sagen: Es geht hier doch um die ureigenstenRechte der Kommunen. Bei uns sind die Kommunalver-tretungen alle gewählt, sie sind so zusammengesetzt, wiedie Bevölkerung das will bzw. in der Form, dass ihrerMeinung nach so ihre Interessen vertreten werden.Ich glaube, Sie haben da einfach etwas nicht richtigverstanden oder wollen es nicht richtig verstehen: Esgeht hier um die Vergabe von Konzessionen durch dieKommunen in der Regel für 20 Jahre. Und man mussden Leuten sagen: Wenn jetzt nichts passiert, dannbekommen die großen Energiekonzerne für weitere20 Jahre die Konzession, dann ist die Gelegenheit füreine Neuordnung erst mal wieder vorbei. Dieses Verfah-ren beruht darauf, dass die Kommunen das Wegerechtbesitzen. Wenn Sie nun denken, dass Private Vorrang ha-ben sollten, hat das mit Subsidiarität nichts zu tun.Gehen wir einmal zurück! Reden wir einmal über dieLiberalisierung der Energiemärkte damals unter Kohl!Ich war damals schon im Bundestag. Ich kann mich nochgut erinnern: Da gab es einen Abgeordneten RupertScholz, von Beruf Rechtsanwalt, der damals darauf spe-kuliert hat, die Konzessionsabgabe ganz abzuschaffen.Er wollte den Kommunen also auch die Einnahmemög-lichkeit nehmen. An so etwas muss man erinnern! Ichwar in einer Enquete-Kommission zu Energiefragen. Dagab es ein Gesamtvotum – das haben auch CDU/CSUund FDP damals mitgetragen –, in dem von der Gefahrvon Oligopolen gesprochen worden ist. Das haben Siealle unterschrieben. Das sollten Sie in diesen Unterlagennoch einmal nachlesen, weil das einfach wichtig ist.
Damals war das vorprogrammiert, und damals hatman uns auch erzählt, es gehe um die Verbraucher. Ichkann mich noch daran erinnern: Die Verbraucherpreisewurden um 40 Prozent erhöht, und die Preise für die gro-ßen Konzerne wurden gesenkt. Schon damals ging es da-rum, und jetzt ist das wieder so.
Man sieht, welche Interessen Sie vertreten. Wir wol-len den Kommunen zu ihrem Recht verhelfen. Ich zitierejetzt einmal das Grundgesetz. In Artikel 28 des Grund-gesetzes steht, dass die Gemeinden das Recht haben, dieAngelegenheiten ihrer örtlichen Gemeinschaft in eigenerVerantwortung zu regeln. – Lesen Sie das einmal!
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 8917
Eva Bulling-Schröter
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Herr Bareiß, Sie sagen, die Rekommunalisierungkönne kein Selbstzweck sein.
Was meinen Sie denn damit? Meinen Sie damit, dass al-les privat werden soll? Es gibt natürlich überall solcheund solche.Bei der SPD gab es auch etwas Merkwürdiges: In derletzten Debatte wurde gesagt, dass die Rekommunalisie-rung der Netze nicht immer besser sei und auch teuer fürdie Kommunen sei. Kollege Post hat das jetzt zum Teilrelativiert.
Hier sehe ich also auch ein Umdenken. Wenn man hieretwas ausbügelt, dann werden wir das natürlich auch un-terstützen.Ich möchte jetzt noch einmal ganz klar sagen: Wirwollen keine Kommune zwingen, ihre Netze zurückzu-kaufen, wie das hier immer behauptet wird, aber wirmöchten, dass den Kommunen, die ihre Netze zurück-kaufen wollen, dabei keine Steine mehr in den Weg ge-legt werden.
Beispiele dafür erleben wir ja ständig. Und es geht umdie Stärkung der Kommunen. Sie haben das bitter nötig.Tatsache ist doch: Die Städte können nicht einfach da-rüber entscheiden und die Netze zurückkaufen, sondernsie müssen oft Klagen fürchten, die häufig gegen sie aus-gehen.Ich war in einer Kommune in Nordrhein-Westfalen.Der dortige Bürgermeister, der sehr schlitzohrig war, hatmir gesagt: Wissen Sie, Frau Bulling-Schröter, wenn ichkeinen Spezi gehabt hätte, der vor seinem Renteneintrittzufällig in der Konzernspitze eines Energiekonzerns tä-tig war, dann hätte ich das nie erreicht. – Diese Kom-mune wurde jetzt als Klimakommune ausgezeichnet,und darauf bin ich stolz.
Weil wir wollen, dass es noch viel mehr solcher Kom-munen gibt, dass sie wirklich die Chance haben, zurEnergiewende beizutragen, und dass die Bürger wiedermehr zu sagen haben, deshalb wollen wir die Rekommu-nalisierung.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Johann
Saathoff von der SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Debatte über die Rekommunalisierungder Energienetze – es sind übrigens nicht nur Strom-netze, sondern oft auch wirtschaftlich untrennbar damitverbundene Gasnetze – ist zunächst einmal keine Preis-debatte und auch keine Debatte über die Einrichtung vonMöglichkeiten für eine Kommune, eine bestimmte Formder Stromerzeugung für ihr Netz zu präferieren.Über diese Fragen diskutieren wir in diesen Tagenzwar auch sehr viel, aber in einem ganz anderen Kon-text. Mit einem Grünbuch und einem darauf folgendenWeißbuch wollen wir ein neues Strommarktdesign ent-wickeln – und das noch in diesem Jahr. Dort geht es umdie Frage, wie wir die Energieversorgung in Deutschlandzukünftig preisgünstig, umweltfreundlich und sicher ge-stalten können. Die Netze sind nur ein Teilaspekt diesesGrünbuchs.Heute reden wir aber nicht über den Netzausbauschlechthin, sondern wir reden über das Managementder Verteilnetze. Die Verteilnetzbetreiber haben eineenorme Verantwortung gegenüber den privaten Haushal-ten und den Betrieben ihres Netzgebietes. Diese wollendauerhaft versorgt werden, und es soll möglichst nichtzu Netzengpässen kommen. Das ist aus meiner Sicht dieKernaufgabe eines Verteilnetzbetreibers.Nach dem vorliegenden Antrag soll die Inhousever-gabe der Netze ermöglicht werden. Eine Gemeinde sollsich also beispielsweise bei der Vergabe der Konzessionentscheiden können, ob sie das Netz selber betreibt oderob sie das Netz öffentlich und zu besten Bedingungenausschreibt.Über meine Erfahrungen hinsichtlich der Komplexitätbei der Übernahme der Netze habe ich bereits beim letz-ten Mal berichtet. Die Frage ist doch weniger ob, alsvielmehr wie die Rekommunalisierung durchgeführtwerden soll.
Darüber werden wir uns in den Fraktionen intensiv zuunterhalten haben.Ich persönlich finde es eigentlich richtig, dass sichStädte und Gemeinden dem Wettbewerb stellen; denndadurch müssen sie sich genau mit den voraussichtlichenRisiken eines Netzbetriebes beschäftigen. Meiner An-sicht nach liegt das im Interesse der Bürgerinnen undBürger.
Unter Umständen müssen die Netzbetreiber nämlichenorme Summen in das Netz investieren. Erlöse für ihreInvestitionen bekommen sie aber oft erst Jahre später.Netze müssen ertüchtigt werden. Bei der Erstattungdieser Investitionen hat man je nach Investitionszeit-punkt eine Refinanzierungslücke von bis zu sieben Jah-ren zu überbrücken. Von der Frage, wie wir mit den je-weiligen Kommunalaufsichten und wie diese mit den
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Johann Saathoff
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jeweiligen Darlehenssummen umgehen sollen, will ichan dieser Stelle erst einmal gar nicht reden.Ein Instrument für Investitionsmaßnahmen wie beiden Übertragungsnetzbetreibern gibt es in den Verteil-netzen übrigens nicht. Darüber hinaus muss der Ver-teilnetzbetreiber jedes Jahr seine Effizienzvorgabenerfüllen.Beim Personalübergang können enorme Mehrkostendrohen; denn die Tarifverträge der Netzbetreiber liegenmeist deutlich höher als die der Kommunen – leider, wieich als ehemaliger Kommunalbeamter sagen muss. ZumTeil kommen private Sonderregelungen in der Altersvor-sorge der zu übernehmenden Mitarbeiter hinzu. UnterUmständen gibt es dann in der Gemeinde zwei Klassenvon Beschäftigten. Auch das kann keiner wollen.Mit Blick auf die kommunalen Haushalte und dieKommunalaufsicht ist also Vorsicht geboten. Erwartun-gen von Renditen in Höhe von 9,05 Prozent sollten bes-ser gebremst werden. Zumindest sollte klar sein – dasmuss auch bei dieser Debatte herauskommen –, dass sichdiese Renditezahlung ständig verändert, also verringert,und sich natürlich nur auf 40 Prozent des eingesetztenEigenkapitals bezieht. Was genau „kommunales Eigen-kapital“ eigentlich darstellt, darüber gibt es unterschied-liche Ansichten.Die Anreizregulierung ist nun wirklich keine einfacheMaterie. Es ist gut, dass sich Städte und Gemeinden in-tensiv damit beschäftigen müssen. Ich finde aber, es ge-hört auch zur guten parlamentarischen Debatte, hier ein-mal die möglichen Fallstricke zu nennen, ohne gleich inVerdacht zu geraten, den Bürgermeistern die Kompetenzabsprechen zu wollen.
Viele Gemeinden, vor allem die kleinen im ländlichenRaum, sind am Ende eben doch dazu gekommen, dasssie zwar das Netz betreiben wollen, aber eben nicht al-leine, sondern mit einem strategischen Partner aus derPrivatwirtschaft. Dann ist die Rekommunalisierung abernur noch ein besseres Beteiligungsgeschäft ohne inhaltli-chen Anspruch. Zugegeben: Besser als nichts! Aber mitRückgewinnung der öffentlichen Daseinsvorsorge hatdas dann ehrlicherweise nicht mehr viel zu tun.Im Antrag wird auch der Fall der Gemeinden Bundeund Ostrhauderfehn angesprochen. Diesen Fall kenneich zufällig ganz genau, weil diese Gemeinden in meinerNachbarschaft liegen. Dass die Übernahme der Netzehier nicht so funktionierte, wie sich die beteiligten Ge-meinden das vorgestellt hatten, lag bestenfalls teilweisean den Ausschreibungskriterien. Zunächst muss hierklargestellt werden, dass die Gemeinden von Anfang anvorhatten, das Netz gemeinsam mit einem strategischenPartner aus der Privatwirtschaft zu betreiben. Es lag alsobestenfalls eine Teilrekommunalisierung vor. Letztlichhaben sich die Gemeinden dann mit dem bisherigen Teil-netzbetreiber so geeinigt, dass die Versorgungssicherheitgewährleistet bleibt und die Gemeinde einen angemesse-nen Anteil am Gewinn bekommen kann.Diese Lösung zeigt den Kern der Rekommunalisie-rungsdebatte, meine Damen und Herren: Es geht oft vor-rangig um die Gewinnbeteiligung der Kommunen, wasich gar nicht schlechtreden will, und nur in zweiter Linieum die Sicherung der Daseinsvorsorge.
Eine solche gemeinsame Netzbetriebsgesellschaft seheich übrigens sehr positiv. Ich denke, auch hier könnenKommunen, insbesondere im ländlichen Raum, den wirja nun politisch in vielen Bereichen endlich entdeckt ha-ben, ihre Ziele sehr gut verfolgen.In der Debatte im Januar wurde von den Antragstel-lern der Wunsch geäußert, dass Bürgernähe und ökologi-scher Anspruch bei den Ausschreibungskriterien berück-sichtigt werden sollten. Ich kann mir, ehrlich gesagt, nurschwer vorstellen, wie Bürgernähe im Netzbetrieb ausse-hen soll, und würde mich freuen, wenn wir dazu in derweiteren Debatte Beispiele bekommen würden.
Viel greifbarer wird das doch, wenn eine Gemeinde zumBeispiel Strom selbst erzeugt, dadurch kreisumlagefreieEinnahmen erzielt und die Menschen die Stromerzeu-gungsanlagen auch noch sehen können.
Der Anblick von Strommasten wird vermutlich die we-nigsten Menschen erfreuen.Ich will damit sagen: Es gibt auch andere Investitions-möglichkeiten für Kommunen, die mit deutlich wenigerUnsicherheiten belastet sind und mit denen Bürgernäheund ökologischer Anspruch wesentlich besser verwirk-licht werden können. Das können alle Kollegen, die in derKommunalpolitik Verantwortung getragen haben, bestäti-gen. Das sei an dieser Stelle allen mit auf den Weg gege-ben, die in Kommunen noch Verantwortung tragen wol-len.Im Falle der kommunalen Verfassungsbeschwerdevon Titisee-Neustadt werden wir irgendwann eine Klar-stellung erfahren, welchen Stellenwert die kommunaleSelbstverwaltung bei der Netzvergabe nun hat.Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass wir das tunwerden, was im Koalitionsvertrag steht: Wir werden dieRechtssicherheit beim Netzübergang herstellen oderwiederherstellen. Wir werden das Bewertungsverfahreneindeutig und rechtssicher regeln; denn auch wir wollennicht, dass man sich angesichts der vielen Neuvergabenvor Gericht wiedersieht. Außerdem muss die Konzessi-onsabgabe bei einer Verzögerung des Netzübergangsvom Altkonzessionär weitergezahlt werden. Entspre-chende Arbeiten sind im Gange.„Doon deiht lehren“, liebe Kolleginnen und Kollegen,heißt, dass man über Praxiserfahrung klug werden kann.Wir werden nun die bisherigen Rekommunalisierungs-verfahren, ob gescheitert oder nicht, zügig analysieren
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und dann entsprechende praxistaugliche Lösungsvor-schläge vorlegen.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Julia
Verlinden von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Ich muss schon sagen: Die Kollegenvon der Union debattieren irgendwie am Thema vorbei.Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie konkret auf den An-trag eingegangen sind, den wir heute beraten.
Es geht doch darum, dass die Kommunen Wahlfrei-heit bekommen, dass also Rechtssicherheit die Wahlfrei-heit ermöglicht. Das ist doch genau das, was Sie wollen,nämlich Wettbewerb. Ich verstehe nicht, wie Sie sichhier gebärden und wie Sie Äußerungen von sich geben,die überhaupt nichts mit der konkreten Fragestellung imAntrag zu tun haben.
In den 90er-Jahren haben wir bei den Verteilnetzeneine große Privatisierungswelle erlebt. Seitdem ist vielenMenschen bewusst geworden, dass nicht jede Privatisie-rung automatisch sinnvoll ist.
Denn klar ist: Für die Privaten zählt vor allem die Ren-dite. Ob sie automatisch immer genug dafür tun, dass dieStromnetze auch langfristig für eine Energieversorgungder Zukunft fit bleiben, kann man zumindest bezweifeln.Viele Bürgerinnen und Bürger wollen die Netze lieberwieder bei Ihrer Kommune, in kommunaler Hand sehen.Denn sie vertrauen den Konzernen nicht, die an zahlrei-chen Netzen beteiligt sind. Verteilnetze für die Strom-versorgung, die wieder in kommunalem Besitz sind, ha-ben zudem den Vorteil, dass die Renditen nicht an diegroßen Konzerne abfließen.
– Herr Bareiß, Sie können gerne eine Zwischenfragestellen. Okay, dann nicht. – Und Renditen, die nicht andie großen Konzerne abfließen, sondern bei der Kom-mune bleiben, können zur regionalen Wertschöpfungbeitragen.
Auch im Hinblick auf die regional sehr unterschiedlichhohen Netzentgelte wäre das aus meiner Sicht für dieAkzeptanz der Menschen wichtig. So bliebe zumindestein Teil des Geldes vor Ort.Außerdem bietet ein Stromnetz in kommunaler Handbessere Möglichkeiten, abgestimmte, integrierte Kon-zepte umzusetzen, also eine Verknüpfung von Stromer-zeugungsanlagen, Netzen und Speichern zu schaffen.
Der Zeitpunkt, um Netze zu rekommunalisieren,könnte gerade kaum besser sein. Wir haben jetzt ein his-torisch niedriges Zinsniveau, und selbst eine 100-pro-zentige Fremdfinanzierung wäre innerhalb von einigenJahrzehnten – vielleicht sogar nur 20 Jahren – machbar.Manche gehen sogar noch einen Schritt weiter und sa-gen: Wir als Bürgerinnen und Bürger wollen die Netzeselbst betreiben. – In Berlin passiert das zum Beispiel.Ich finde dieses Engagement richtig und gut; denn dieDemokratisierung der Energieversorgung, die Energie-wende als großes Bürgerprojekt, hört für mich nicht beiden Erzeugungsanlagen für erneuerbare Energien auf.
Bürgerenergiewende heißt für mich: Energieerzeugung,Effizienzprojekte und auch Netze können von Bürgerin-nen und Bürgern gemeinsam gestaltet und betriebenwerden. So wird es dann auch was mit der Energie-wende.
Die Menschen in diesem Land wollen die Energie-wende. Für die Energiewende brauchen wir die richtigenNetzstrukturen und die richtigen Netzbetreiber.
Wir haben in den letzten Monaten Zuschriften vonBetreibern von Erneuerbare-Energien-Anlagen bekom-men, die sich über eine Diskriminierung durch den Netz-betreiber beklagen. Eine dezentrale Energiewendebraucht aber Netzbetreiber, die für die Energiewende ar-beiten und nicht dagegen. Wir brauchen Netzbetreiber,die Probleme lösen und keine machen.Sehr geehrte Damen und Herren von der Bundesre-gierung – Herr Beckmeyer, Sie werden ja gleich nochsprechen –, wenn ich mir anschaue, wie Sie die Energie-wende organisieren, dann sehe ich ein Abwenden vonden Akteuren, die in den letzten 30 Jahren die Treiberder Energiewende waren. Die Bundesregierung wendetsich ab von den Bürgerinnen und Bürgern. Denn Ener-giewende heißt eben nicht nur, Atom- und Kohlestromdurch erneuerbare Energien und Energiesparen zu erset-zen, sondern sie erfordert auch eine Demokratisierungdes Energieversorgungssystems insgesamt.
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Dr. Julia Verlinden
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Es geht darum, dass die Bürgerinnen und Bürger an einerEnergieversorgung teilhaben und dass sie nicht nur be-zahlen müssen.Was Sie aber in den letzten Monaten veranstaltet ha-ben, geht ganz klar in Richtung Energiewende der Kon-zerne. Sie führen eine Sonnensteuer ein, mit der sie denEigenverbrauch für Bürgerinnen und Bürger unattraktivmachen. Sie kündigen Ausschreibungen für erneuerbareEnergien an, welche in der Regel die Genossenschaftenund privaten Betreiber von Anlagen benachteiligten undgrößere Unternehmen bevorzugten. In diesem Antraggeht es jetzt darum, dass die aktuell unklare Rechtslagehinsichtlich der Konzession vor allen Dingen eine Klien-tel bevorzugt, nämlich die Unternehmen.
Frau Dr. Verlinden, lassen Sie eine Zwischenfrage
von Herrn Bareiß zu?
Ja.
Frau Verlinden, jetzt haben Sie mich, da Sie die „bö-
sen Konzerne“ angesprochen haben, doch herausgefor-
dert. Ist Ihnen bewusst, dass beispielsweise im Land Ba-
den-Württemberg, in dem die Grünen ja mitregieren, die
Stadtwerke bei Konzessionsvergaben oftmals der EnBW
gegenüberstehen? Beide sind aber in kommunaler Hand:
Die Stadtwerke sind in kommunaler Hand, und die
EnBW ist mehrheitlich in kommunaler Hand. Insofern
richte ich die Frage an Sie: Welcher der beiden, die dann
mitbieten, ist aus Ihrer Sicht moralisch besser in der
Lage, – –
– Ja, doch, Sie machen es zu einer moralischen Frage,
wer der Bessere ist für die Konzessionsvergabe. Daher
hätte ich gern von Ihnen gewusst, wer von beiden Ihrer
Ansicht nach besser geeignet ist, ein Netz zu betreiben.
Herr Bareiß, dann haben Sie mir nicht zugehört; es tut
mir leid. Es geht nicht darum, dass ich eine Meinung
dazu habe, wer die besseren Betreiber sind, sondern ich
habe gesagt, dass wir die Rechtssicherheit herstellen
müssen, die im Augenblick nicht gegeben ist, damit die
Kommunen die Wahlfreiheit haben, sich dafür zu ent-
scheiden, die Netze selbst zu betreiben oder sie in die
Hand von Bürgerenergiegenossenschaften zu geben.
Diese Rechtssicherheit muss hergestellt werden. Das ist
das, was uns in dem Antrag hier vorliegt und was wir ge-
rade diskutieren. Diese Wahlfreiheit müssen wir ermög-
lichen, indem das Energiewirtschaftsgesetz entsprechend
geändert wird.
Wir unterstützen den vorliegenden Antrag der Linken.
Was uns da noch fehlt, ist eine Regelung zur Art und
Weise der Übertragung der Anlagen an den Neukonzes-
sionär und zur Ermittlung der Höhe der Entschädigung
an den bisherigen Netzbetreiber. Außerdem ist der bishe-
rige Netzbetreiber faktisch nicht verpflichtet, relevante
Daten über das Netz und dessen Zustand der Kommune
zur Verfügung zu stellen, sodass die Kommune oder an-
dere interessierte zukünftige Netzbetreiber sich kein
qualifiziertes Bild über den Wert und die wirtschaftliche
Perspektive des Netzes machen können.
Im Ergebnis führt dies dazu, dass praktisch alle Fälle,
in denen Kommunen die Verträge mit dem bisherigen
Netzbetreiber nicht verlängert haben, vor Gericht ent-
schieden werden müssen. Bei vielen, gerade bei den
kleinen Kommunen, bewirkt allein diese Rechtsunsi-
cherheit – darauf habe ich eben hingewiesen, Herr
Bareiß –, dass sie sich doch wieder für den bisherigen
Konzessionsnehmer entscheiden. Auch hier ist deswe-
gen die Neuregelung dringend notwendig.
Meine Damen und Herren, die Energiewende, sei es
bei den erneuerbaren Energien, bei der Energieeffizienz
oder bei den Netzen, geht nur zusammen mit den Bürge-
rinnen und Bürgern und nicht gegen sie.
Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Barbara
Lanzinger von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kol-legen! Sehr geehrte Damen und Herren! Jetzt werde ichhier gleich wieder einen Sturm der Entrüstung auslösen,wenn ich feststelle: Die Fraktion Die Linke hat die Anre-gungen des Kollegen Krischer vom letzten Mal anschei-nend sehr ernst genommen. Er hatte ja in seiner letztenRede zur Rekommunalisierung angekündigt, die Debatteimmer und immer wieder auf die Tagesordnung zu set-zen, und zwar so lange, bis er endlich das bekommt, waser will. So habe ich es zumindest verstanden.
Mit Ihrem erneuten Antrag, jetzt die Energienetze indie öffentliche Hand zu geben, versuchen Sie wiedereinmal – ich sage ganz bewusst: populistisch –, Ihr Zieldurchzusetzen.
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Barbara Lanzinger
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Ob dieses Ziel auch wirtschaftlich sinnvoll ist, lassen Siedabei vollkommen außer Acht.Aber auch wir nehmen unsere Worte sehr ernst.Wir haben es endlich geschafft – das sage ich ganz be-wusst –, in die jahrzehntelang monopolistisch geprägteEnergiewirtschaft etwas mehr Wettbewerb zu bekom-men. Wettbewerb ist kein Selbstzweck, sondern dienteinzig und allein dem Ziel, dem Verbraucher die besteLeistung zum besten Preis zur Verfügung zu stellen. Die-ses wertvolle Instrument der Marktwirtschaft wollen wiraufrechterhalten. Deshalb können wir Ihnen auch beidieser Debatte nur wieder sagen: Wir unterstützen keinestaatswirtschaftlichen Forderungen und lehnen deshalbIhren Antrag ab.In einer Marktwirtschaft gibt es per se keinen Grund,private Unternehmen von der wirtschaftlichen Betäti-gung vollständig auszuschließen.
Auch die kommunale Selbstverwaltung, die Ihr Haupt-argument in Ihren zahlreichen Anträgen zur Rekommu-nalisierung ist, rechtfertigt keinen Verstoß gegen unsereverfassungsmäßige Ordnung. Die Kollegen Bareiß undKoeppen haben es ja bereits formuliert: KommunaleSelbstverwaltung heißt nicht, dass eine Kommunalisie-rung automatisch dort erfolgt, wo es nur irgendwie mög-lich ist. Es darf keinen Freifahrtschein geben, auf demsteht: Kommunale Unternehmen haben grundsätzlichVorrang vor einem Wettbewerb. – Private Unternehmensind qualitativ nicht per se schlechter als ein kommuna-les Unternehmen. Die kommunale Selbstverwaltung, sorichtig und wichtig sie für uns ist, darf kein Mittel zurVerstaatlichung durch die Hintertür sein.
Die kommunale Selbstverwaltung hat nämlich auchnicht, wie Sie, Frau Lay, in Ihrer Rede Ende Januar aus-führlich dargestellt haben, Verfassungsvorrang; sie hatVerfassungsrang. Das ist ein wesentlicher Unterschied.
Diesen wesentlichen Unterschied hat auch der BGH inseinen jüngsten Urteilsbegründungen, auf die im Übri-gen auch das kürzlich erfolgte Urteil zu den Konzessio-nen in Berlin verweist, sehr gut erklärt. Ich zitiere wört-lich:Als Kernbereich der Selbstverwaltungsgarantie istgrundsätzlich nur die Möglichkeit der Gemeindezur wirtschaftlichen Betätigung als solche ge-schützt, nicht aber einzelne Ausprägungen wirt-schaftlicher Tätigkeit.Vereinfacht gesagt, Artikel 28 Absatz 2 Grundgesetzschützt die kommunale Selbstverwaltung als solche, nichtaber einzelne kommunale Aktivitäten, soweit sie nichteindeutig hoheitlich sind. Denn das Recht der kommuna-len Selbstverwaltung besteht nur im Rahmen allgemeinerGesetze, zu denen auch das Energiewirtschaftsgesetzzählt. Der von Ihnen kritisierte § 46 Energiewirtschafts-gesetz ist daher nicht verfassungswidrig, greift auch inkeiner verfassungswidrigen Weise in den Kernbestanddes kommunalen Selbstverwaltungsrechts ein.Die aktuelle gesetzliche Regelung beschränkt also dieGemeinden nicht, sondern stellt sie mit privaten Unter-nehmen gleich. Jede Kommune kann mit einem eigenenUnternehmen oder einem Eigenbetrieb am Wettbewerbteilnehmen und den Netzbetrieb gegebenenfalls selbstübernehmen.Die Konzessionsvergabe basiert dabei auf den Grund-sätzen des Vergaberechts, wonach Aufträge auf derGrundlage objektiver Kriterien vergeben werden sollten,die die Einhaltung der Grundsätze der Transparenz, derNichtdiskriminierung und der Gleichbehandlung ge-währleisten, um einen objektiven Vergleich des relativenWerts der Angebote sicherzustellen und damit unter denBedingungen eines effektiven Wettbewerbs das wirt-schaftlichste Angebot ermitteln zu können.Der BGH macht in seinen Urteilen auch hierzu deut-lich, dass Auswahlkriterien immer schriftlich und mitGewichtung bekannt zu machen sind, wobei den Ge-meinden gerade bei der Gewichtung ein eigener, aberüberprüfbarer Beurteilungsspielraum zukommt. Bei die-ser Gewichtung ist auch darauf zu achten, dass die Ziel-setzung in § 1 des Energiewirtschaftsgesetzes – nämlicheine „sichere, preisgünstige, verbraucherfreundliche,effiziente und umweltverträgliche“ Strom- und Gasver-sorgung – eingehalten wird. Vor allem darf das Ziel derNetzsicherheit nicht zu gering gewichtet werden.Ein ganz wesentlicher Aspekt der Vergabegrundsätzeist das Kriterium des Diskriminierungsverbots, das zu-sätzlich auch in § 46 Energiewirtschaftsgesetz für Kon-zessionen geregelt ist. Ich erkläre Ihnen auch, warum:Durch die Möglichkeit der Teilnahme aller interessiertenAnbieter wird der Wettbewerb gefördert.§ 46 Energiewirtschaftsgesetz sorgt zu Recht dafür,dass Gemeinden in einem 20-Jahres-Rhythmus einenWettbewerb um das Netz ermöglichen.
Er dient also dem Zweck, kommunalen Ewigkeitsrech-ten – dem dauerhaften und unangefochtenen Recht derKommunen auf Netzbetrieb – entgegenzuwirken, unddas ist auch gut so!Es gibt selbstverständlich viele gut geführte und er-folgreiche Stadtwerke; aber es gibt auch weniger erfolg-reiche Stadtwerke. Es wurde in den Reden heute auchschon erwähnt: Haben Sie einmal daran gedacht, wastatsächlich passiert, wenn eine Kommune ein Netz über-nimmt und dann scheitert? Wir haben schon öfter erfah-ren und lernen müssen, dass auch ein Stadtwerk insol-vent werden kann. Verluste müssen dann von anderenöffentlichen Institutionen kompensiert und damit vomSteuerzahler getragen werden. Staatlich ist also nichtzwingend immer besser als privat.
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Vor diesem Hintergrund kann ich nur noch einmal be-tonen: Wettbewerb hat in der heutigen entflochtenenEnergielandschaft eine eigenverantwortliche Bedeutung,und diese wollen und werden wir nicht aushebeln.Wir wissen, dass manche Regelungen in § 46 desEnergiewirtschaftsgesetzes – viele Kollegen sind daraufschon eingegangen – und der abgeleiteten Normen nochnicht ausreichend klar sind. Deshalb haben wir im Koali-tionsvertrag verankert, dass wir die Rechtssicherheit ver-bessern wollen. Aber ich sage auch ganz deutlich: Einerechtliche Verbesserung ist nicht mit einer rechtlichenBesserstellung bestimmter Anbieter gleichzusetzen. Dasist ein Unterschied. – Ich gehe jetzt nicht weiter daraufein; wir warten auf den entsprechenden Entwurf aus demWirtschaftsministerium. Staatssekretär Beckmeyer sprichtnach mir; vielleicht hören wir dann auch dazu etwas.Abschließend möchte ich festhalten: Ihre Begrün-dung, dass eine Rekommunalisierung zu einer Stärkungder lokalen Wirtschaft führe, dass nur dadurch entschei-dende Teile der Energiewende zum Erfolg geführt wer-den könnten, hält weder einer ökonomischen noch, wiedie BGH-Urteile zeigen, einer juristischen Analyse standund ist von Ihnen – das sage ich deutlich – rein politischgetrieben.Genauso politisch getrieben – ich möchte auch dasganz deutlich sagen – und sachlich nicht logisch ist dieVerbindung, die Sie herstellen, nämlich eine Steigerungdes Klimaschutzes durch eine Rekommunalisierung.Wieso sollte eine Kommune den Klimaschutz besser undschneller vorantreiben können als ein privates Unterneh-men?
Wollen Sie allen nichtöffentlichen Institutionen unter-stellen, dass sie nicht an einer Verbesserung des Klima-schutzes interessiert sind?
Energiewirtschaftliche Synergien sowie örtliche undregionale Wertschöpfungspotenziale entstehen durch ei-nen Wettbewerb, an dem jeder teilnehmen kann. Wettbe-werb hat eine heilsame Wirkung; denn er zwingt zu Effi-zienz, zu Kostendisziplin und sichert dadurch denVerbrauchern die beste Leistung zum besten Preis.
Wir müssen daher durch die Konzessionsvergabeauch weiterhin sicherstellen, dass wettbewerbliche Ele-mente so umfassend wie möglich berücksichtigt werden.Erst dadurch werden wir auch energiewirtschaftlicheWertschöpfungspotenziale für unsere Regionen erlan-gen.Ganz zum Schluss meiner Rede vielleicht noch etwasPositives. Sie haben in Ihrem Antrag erwähnt, dass ge-rade die KWK und die Speicher wichtig sind. Auch wirhalten das für zentrale Bestandteile. Ich würde michfreuen, wenn Sie uns bei allen unseren Vorhaben zu die-sen Themen unterstützen würden.
Ich bedanke mich fürs Zuhören und wünsche allen al-les Gute. Vor ein paar Jahren hätte ich an diesem Tagnicht hier gestanden, weil in Bayern an diesem Tag derJoseftag begangen wird.
– Ja, wir haben das, und trotzdem sind wir so gut.Danke schön fürs Zuhören.
Vielen Dank. – Für die Bundesregierung spricht jetzt
der Parlamentarische Staatssekretär Uwe Beckmeyer.
U
Frau Präsidentin! Wir haben hier heute keinen Feier-tag, aber eine ernsthafte Debatte. Meine Bitte ist – dierichtet sich natürlich an uns alle hier, liebe Kolleginnenund Kollegen –: Diese Diskussion um die Rekommuna-lisierung sollten wir wirklich möglichst sachlich führen.Wenn etwas mit Emotionen überdeckt wird, hilft das amEnde nicht weiter. Vor allen Dingen: Es geht bei diesemThema um energiewirtschaftliche Notwendigkeiten;meine Vorrednerin hat zu Recht darauf hingewiesen.Diese energiewirtschaftlichen Notwendigkeiten – sicher,preisgünstig, verbraucherfreundlich, effizient, umwelt-verträglich – sind die Maßstäbe, an denen wir uns auchbei diesem aktuellen Thema zu orientieren haben.Wir werden mit der Novelle des § 46 des Energiewirt-schaftsgesetzes die Rahmenbedingungen für potenzielleNetzbewerber verbessern können. Der Kollege Saathoffhat recht, wenn er darauf hinweist: Es geht natürlichauch um eine gewisse regulierte Rendite aus dem Netz-betrieb für entsprechende Wegenutzungsrechte. – Daswissen wir. Der eine oder andere schaut sich diese regu-lierten Entgelte und die Rendite an und ist der Meinung,dass das in der Zukunft vielleicht auch etwas für dieKommunen sein kann. Ja, das kann es sein, aber – das isteben gesagt worden – unter Bedingungen, die da heißen:energiewirtschaftliche Notwendigkeiten. Die müssen ge-geben sein. Insofern schließen bessere Rahmenbedin-gungen für die Rekommunalisierung örtlicher Energie-versorgungsnetze das ein.Wenn wir heute über den Wettbewerb beim Betriebder örtlichen Strom- und Gasnetze sprechen, geht esletztlich um zwei zentrale Fragen: die Frage nach demOb und die Frage nach dem Wie. Die Frage nach demOb wird von den Kolleginnen und Kollegen der FraktionDie Linke im Grunde verneint. Sie lehnen einen Wettbe-
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Parl. Staatssekretär Uwe Beckmeyer
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werb um die örtlichen Verteilernetze ab und fordern einedirekte Inhousevergabe; so habe ich Ihren Antrag gele-sen. Dieser Forderung ist schon aus energiewirtschaftli-chen Gründen nicht zuzustimmen. Der vorgeschriebeneWettbewerb um das Netz alleine ist kein Selbstzweck. Erdient dazu, die Ziele des § 1 des Energiewirtschaftsge-setzes im Interesse des Allgemeinwohls zu erreichen.Dies gilt insbesondere für die von mir eben schon er-wähnten herausragenden Ziele der Versorgungssicher-heit.Ich will an dieser Stelle allerdings auch sagen: DasBashing von großen Konzernen und Monopolen hilftauch nicht weiter. Die Situation ist nicht mehr so, wie sievielleicht einmal vor Jahr und Tag war.
Wir haben es in Deutschland inzwischen mit 900 Netz-betreibern zu tun. Auch das muss man einmal zur Kennt-nis nehmen; man darf nicht immer die gleiche alte Platteauflegen. Das hilft uns nicht weiter.Selbstverständlich geht es im Verteilnetz hin und wie-der um natürliche Monopole der Region, und dies zumNachteil von Verbraucherinnen und Verbrauchern odervon Gewerbe und Energie. Das wollen wir nicht. Einsolches erstarrtes Monopol kann uns nicht weiterhelfen,gerade angesichts der Bedingungen, unter denen wir unsdie deutsche Energiewende vorgenommen haben. Vordiesem Hintergrund sind die Herausforderungen, diesich mit der Energiewende an das Stromnetz ergeben,von großer Bedeutung.Wir haben zuletzt auch von der im Auftrag des BMWierstellten Studie „Moderne Verteilernetze für Deutsch-land“ bestätigt bekommen: Der Stromnetzbetrieb stehtvor einem grundlegenden Wandel. Dies betrifft insbe-sondere den notwendigen Einsatz moderner Netztechno-logien. Insofern ist der Gesetzeszweck des EnWG mehrdenn je im Rahmen eines wettbewerblichen Verfahrenszu gestalten, um für das jeweilige Netzgebiet den ambesten geeigneten Netzbetreiber zu ermitteln. Das kannhäufig die Kommune sein – oder auch die in der Kom-mune Tätigen –, aber es kann auch einmal sein, dass esin einer kleinen Kommune eben nicht die ökonomischeKraft gibt, das zu leisten. Was machen wir dann? Dannmuss es, denke ich, auch möglich sein, eine andere Ent-scheidung zu treffen, um die erforderliche Qualität desNetzbetriebes in der Zukunft zu gewährleisten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich will andieser Stelle sagen: Das ist keine Entscheidung nachdem Motto „Links oder rechts“ bzw. „Pro Kommuneoder kontra Kommune“. Nein, ich glaube, es werdensehr häufig kommunale Unternehmen sein, die dieseKraft haben, die diese Expertise haben und die auch beider von uns ins Auge gefassten Regelung ihre Chancenwahren werden. Sie sind dann im Wettbewerb auch derbeste Anbieter.Es geht in diesem Zusammenhang also nicht um eineDiskussion, die sich gegen die Kommunen richtet, son-dern es geht um die Frage nach dem Wie. Da gibt es na-türlich Altkonzessionäre, bei denen die eine oder andereKommune sagt: Mit dem geht es nicht weiter. Der hatuns in der Vergangenheit zu sehr geärgert. Wie kommtman weg von dem? – Es muss klare Regelungen für denWettbewerb um das Netz geben, ohne die eigentlichenZiele, die ich vorhin benannt habe, zu verfehlen.Es gibt also hier die Notwendigkeit, eine sachgerechteEntscheidung zu treffen. Ich glaube, auch hier sind eindeu-tige Regeln im Hinblick auf die aktuellen Rechteinhabernotwendig, um in einem fairen Verfahren das Zukünftigeregeln zu können. Es ist auch schon vom Kollegen Post ge-sagt worden – das unterstütze ich ausdrücklich –: Wir müs-sen, wenn wir uns an die Novelle machen, natürlich auchdarüber nachdenken, welche Daten dann eigentlich auf denTisch müssen, damit in der Zukunft in dieser Angelegenheitein fairer Wettbewerb zwischen den Bewerbern stattfindet.Wir wollen und müssen Konfliktpotenziale reduzie-ren. Wir haben gelernt, dass es in letzter Zeit Konfliktegegeben hat, die die Gerichte beschäftigt haben. Daherist es wichtig, die kommunalen Interessen und die Inte-ressen im Zusammenhang mit den Netzen so zu gestal-ten, dass am Ende das Handeln aktueller Rechteinhabernicht unbillig erschwert wird, gleichzeitig aber auchkeine Weigerung ausgelöst wird, ganz bestimmte wich-tige netzbezogene Daten zu liefern.Es war die Zielsetzung des Koalitionsvertrages, für mehrRechtssicherheit bei der Vergabe von Wegenutzungsrechtenfür die leistungsgebundene Energieversorgung zu sorgen.Ich glaube, dass wir mit der geplanten Novelle des § 46 desEnergiewirtschaftsgesetzes Verbesserungen erreichen wer-den. Insofern gehören die von mir genannten Punkte dazu.Wir wollen – das ist wichtig – ab Ostern in das Ver-fahren einsteigen, um in der ersten Jahreshälfte einenProzess zum Abschluss zu bringen, den wir uns im Ko-alitionsvertrag vorgenommen haben. Ich hoffe, dass allekonstruktiv mitarbeiten.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Jetzt hat Herr Krischer zu einer Kurz-
intervention das Wort.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin, für die Gelegen-heit, im Rahmen einer Kurzintervention auf meinen Vor-redner einzugehen.
– Herr Pfeiffer, ich kenne eigentlich den parlamentari-schen Brauch, dass die Opposition noch einmal Stellungnehmen kann, nachdem ein Vertreter der Bundesregie-rung geredet hat. Das ist durch die von Ihnen gewählteReihenfolge jetzt nicht mehr möglich. Deshalb danke ichfür die Möglichkeit der Kurzintervention.
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Oliver Krischer
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Herr Staatssekretär Beckmeyer, ich hätte mich gefreut– Sie haben hier ein ausführliches Grundsatzreferat überdas Thema Verteilnetze gehalten –, wenn Sie etwas kon-kreter gesagt hätten, was die Bundesregierung vorhat.Wir haben von den Kollegen der SPD gehört, dass eseine Novelle geben soll. Dazu gab es einzelne Aussagen.Bei der Union gibt es immerhin folgende Entwicklung:Im ersten Teil der Debatte wurde das Problem nicht an-erkannt, aber jetzt sagt man: Es gibt eine gewisse Not-wendigkeit. Man muss etwas beim Kaufpreis tun, manmuss etwas bei der Transparenz tun. Man muss vielleichtetwas mehr Wettbewerb ermöglichen.Meine Fragen an Sie wären – darauf hätte ich gerneeine Antwort –: Was hat die Bundesregierung konkretvor? Welche Regelungen zur Verbesserung der Transpa-renz soll es geben? Was ist die Grundlage für eine Kauf-preisermittlung bei der Übergabe des Netzes? WelcheRegelungen soll es geben, damit der Wettbewerb um dasNetz möglich ist? Herr Homann äußert sich dazu so: Ei-gentlich wäre es richtig, wenn wir in Deutschland nichtmehr 900 Verteilnetzbetreiber hätten, sondern nur 30oder 40. – Ist das die Position der Bundesregierung, oderist sie es nicht?Zu all diesen konkreten Fragen, die im Rahmen einerNovelle geregelt werden müssen, habe ich von Ihnennichts gehört. Das bedauere ich sehr. Wenn Sie diesesThema tatsächlich anpacken wollen – wir hören ja stän-dig, dass es angegangen werden soll –, frage ich Sie:Warum bestätigen Sie angesichts der Tatsache, dass inIhrem Ministerium schon die Rechner glühen, nicht,dass an dieser Novelle gearbeitet wird? Warum gibt esdazu keine konkreten Aussagen?Ich sage Ihnen: Ich befürchte, dass das Spiel wie im-mer laufen wird. Es wird am Ende eine große Ankündi-gung sein. Es wird dann auf dem großen Haufen der blo-ckierten Gesetzesvorhaben dieser Großen Koalitionlanden. Wir werden das Problem, das die kommunalenStadtwerke und die Kommunen aufgrund der bestehen-den Rechtsunsicherheit haben, nicht lösen. Ich muss Ih-nen leider sagen, Herr Beckmeyer, dass Sie meine Be-fürchtungen nicht ausgeräumt haben. Im Gegenteil: Siehaben sie bestärkt.
Herr Staatssekretär.
U
Herr Abgeordneter Krischer, dass Sie immer aufge-
regt fragen und mit Ihrer Aufgeregtheit etwas bezwe-
cken, sei dahingestellt. Nein, wir werden vor Ostern die
Ressortabstimmung beginnen und den Ressorts einen
entsprechenden Entwurf zuleiten. Danach wird es ins
parlamentarische Verfahren gehen.
– Vor der Sommerpause. – Dann werden Sie sich viel-
leicht mit weniger Aufgeregtheit diesen Fachfragen wid-
men.
Ich habe eben die Rahmenbedingungen benannt und
darauf hingewiesen, wohin die Reise aus meiner Sicht
gehen kann. Diejenigen, die zuhören wollten, haben es
verstanden. Wenn Ihnen das nicht gelungen ist, tut es mir
leid.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Ingbert
Liebing von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – StaatssekretärBeckmeyer hat mit dem eben skizzierten Fahrplan deut-lich gemacht, dass die Bundesregierung an diesemThema arbeitet. Die Debatte hat gezeigt, dass die Koali-tionsfraktionen an diesem Thema arbeiten. Insofern sindwir auf einem guten Wege, die Probleme, die es beiNetzübergängen gibt, und die Probleme, die es im Be-reich des Energiewirtschaftsgesetzes im Zusammen-hang mit § 46 gibt, zu lösen. Das ist unsere Zielsetzung,und das ist überhaupt nicht neu.Herr Kollege Krischer, Sie haben uns eben vorgewor-fen, wir hätten in der ersten Hälfte der Debatte bestritten,dass es ein Problem gebe, das es zu lösen gelte. Sie ha-ben offenkundig nicht zugehört. Denn alle Redner unse-rer Fraktion haben betont, dass wir Handlungsbedarf ha-ben; das wissen wir.
Die Darstellungen von Staatssekretär Beckmeyer ha-ben deutlich gemacht, dass es um eine Vielzahl von Ein-zelpunkten geht, die jetzt im Gesetzgebungsverfahrenabzuarbeiten sind. Ich halte es für richtig, dass wir unsdie Zeit nehmen, dies sorgfältig zu tun, damit am Endeetwas herauskommt, das besser ist als das, was die Frak-tion der Linken mit ihren Anträgen hier vorgelegt hat.Die Linken haben innerhalb von acht Wochen zweiAnträge gestellt, die heute Gegenstand der Debatte sind.Offensichtlich haben Sie selber gemerkt, dass Ihr ersterAntrag so substanzlos war, dass Sie nachliefern mussten.
Aber der zweite Antrag ist nicht besser, meine Damenund Herren; er ist ebenfalls substanzlos.Das Thema selber ist wichtig, gerade auch für dieKommunen. Ich sage das als jemand, der sich sehr inten-siv um die Belange der Kommunen kümmert. Aber ichmöchte die Kommunen und auch die kommunalen Ver-
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bände davor schützen, dass Sie sie für falsche Positionenvereinnahmen. Wenn Sie es hier so darstellen, als ob das,was Sie hier beantragen, unisono die Position der kom-munalen Verbände wäre, dann wundert mich das schon.Ich darf einmal aus einer Stellungnahme des Verbandskommunaler Unternehmen vom 5. März dieses Jahreszitieren; sie ist also noch recht aktuell. Dort heißt es amAnfang ausdrücklich:Der Wettbewerb um Strom- und Gasnetzkonzessio-nen, der seit den 90er-Jahren im EnWG verankertist, hat sich in den letzten Jahren als wichtiges Ele-ment der Förderung des Wettbewerbs auf den Ener-giemärkten … etabliert.Die Notwendigkeit von Wettbewerb wird also anerkannt.Es gibt dort nicht die Position, den Wettbewerb abzu-schaffen und stattdessen zu Inhousevergaben überzuge-hen. Das ist nicht die Position des Verbands.
Es geht um ganz konkrete Punkte, die den Kommu-nen und auch mir persönlich wichtig sind. Deswegenhabe ich mich bei den Koalitionsverhandlungen seiner-zeit in der Arbeitsgruppe Energie mit dafür eingesetzt,dass wir dieses Thema adressieren. Es steht nicht ohneGrund im Koalitionsvertrag. Wir haben uns vorgenom-men, hier eine Lösung zu erreichen. Der Handlungsbe-darf ist unstrittig gegeben. Aber neue Regelungen brau-chen eben eine sorgfältige Vorbereitung.Ich möchte die Diskussion auch davor schützen, dasssie um das falsche Ziel geführt wird. Das Ziel der De-batte ist nicht Rekommunalisierung, sondern die Schaf-fung von Rechtssicherheit, und zwar unabhängig davon,wer der Neukonzessionär ist.
Denn es gibt ja auch die Fälle – es kann sie auch in derZukunft noch geben; wir werden bis 2016 noch vieleweitere Fälle von Ausschreibungen erleben –, in denender Neukonzessionär keine Kommune, kein kommuna-les Stadtwerk ist, sondern ein anderes privatwirtschaftli-ches Unternehmen. Jeder Neukonzessionär hat im Mo-ment aufgrund der jetzigen Formulierung in § 46 EnWGProbleme.
Insofern geht es nicht darum, ob man nun eine Rekom-munalisierung will oder nicht, sondern darum, Rechtssi-cherheit zu schaffen; das ist das Ziel, über das wir spre-chen. Da geht es um ganz konkrete Punkte.Es geht auch nicht darum, Herr Kollege Krischer, nununisono zu sagen: Es ist generell besser, wenn es dieKommunen machen. – Sie tun so, als ob das eine Glau-bensfrage wäre.
Sie haben die Rekommunalisierung hochgehalten undsie quasi zum wünschenswerten Prinzip erklärt.Ich bin nun wahrlich keiner, der irgendetwas dagegenhätte, wenn Kommunen sich auch in der Energiewirt-schaft engagieren. Ganz im Gegenteil: Ich halte dieKommunen für wichtige Partner im Bereich der Energie-wende. Energiewende heißt, dass wir die Energiewirt-schaft künftig dezentraler aufstellen. Wir brauchen dafürstarke, engagierte Kommunen.Aber es muss jeweils vor Ort auch klug abgewogenwerden können, ob dies Sinn macht. Generell zu sagen:„Wir wollen, dass es staatlich, kommunal gemachtwird“, das ist jedenfalls auch nicht meine Vorstellung. Esgibt eben die Fälle, in denen wir in der Vergangenheitgrößere regionale Verbünde im Verteilnetz hatten, wojetzt einzelne Kommunen innerhalb dieser Region aus-scheren und sagen: Wir übernehmen das Netz selber. –Das ist eine freie Entscheidung und legitim, wenn sieden Nachweis führen, dass sie es effizienter machenkönnen. Aber es ist dann auch öffentlich und vor Ort dieDiskussion darüber zu führen, welche Auswirkungendas hat.Welche Auswirkungen hat es, wenn eine zentraleStadt in einer größeren Region ausschert und damit derInvestitionsbedarf im Verteilnetz, den wir durch denAusbau der erneuerbaren Energien in der Fläche haben,nicht mehr solidarisch von einem größeren Verbund ge-tragen wird? Die Städte haben diese Situation der Ein-speisung in ihrem eigenen engeren Bereich nicht. Diesgeht aber zulasten der Fläche: Die ländlichen Regionenzahlen anschließend höhere Netzentgelte. Auch das sindFolgen, die in diesem Prozess mit zu beachten sind, dievor Ort öffentlich transparent zu diskutieren sind. Dazutragen wettbewerbliche Verfahren bei.Wenn wir über § 46 EnWG sprechen, über das, wasjetzt konkret im Gesetzgebungsverfahren zu regeln ist,dann geht es mir vorrangig um vier Punkte:Das Erste ist, dass wir schneller zu mehr Rechtssi-cherheit kommen müssen. Das heißt, dass wir im GesetzFristen definieren, innerhalb derer eine Rüge von denje-nigen vorgenommen werden muss, die Verfahrensmän-gel zu kritisieren haben. Es kann nicht sein, dass diesnach Jahren noch der Fall ist, sondern wir müssen mögli-che Rechtsstreitigkeiten schneller, zügiger abschließenkönnen. Hier ist es möglich, dies über klare Fristen zuregeln, die wir in anderen Vergabeverfahren ja auch ken-nen.Zweitens wird es auch um die Bewertungsfragen ge-hen, darum, ob wir über Sachzeitwert oder Ertragswertsprechen. Das ist nach wie vor oftmals strittig. Ich haltees für notwendig, dass wir durch eine politischeEntscheidung für mehr Klarheit, Sicherheit und Rechts-frieden sorgen. Aus meiner Sicht ist der Ertragswert derangemessenere Wert –
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der Wert, der sich in einem regulierten Markt refinanzie-ren lässt. Darüber werden wir sicherlich im Rahmen desGesetzgebungsverfahrens zu sprechen haben.Drittens wird es auch um die Zahlungsverpflichtunggehen. Es kann in der Tat nicht sein – das ist in derDebatte ja auch schon angesprochen worden –, dass einAltkonzessionär, der im Vergabeverfahren unterlegen ist,sich aber durch Klagen weiterhin Besitz am Netz ver-schafft, die Zahlung der Konzessionsabgabe verweigert.Wer Netzentgelte einnimmt, muss auch die Konzessions-abgabe zahlen.
Ich glaube – das hat ja auch der Beifall in der Unions-fraktion gezeigt –, es ist völlig unstrittig, dass derjenige,der Besitz am Netz hat, auf welcher Basis auch immer,dann auch die Pflichten daraus zu tragen und die Kon-zessionsabgaben an die Kommunen zu bezahlen hat.Aber man kann umgekehrt auch genauso darüber dis-kutieren, ob ein Neukonzessionär, der im Vergabeverfah-ren den Zuschlag bekommen hat, sofort die Netzentgelteerhält und nicht mehr der Altkonzessionär, auch wenndas im Verfahren noch strittig ist, vielleicht auch nurüber die Bewertung, über den Preis noch gestritten wird.In dem Moment, in dem man dem Altkonzessionär dieNetzentgelte entzieht, entzieht man ihm auch das wirt-schaftliche Interesse an einer Verfahrensverlängerung.
Insofern gilt: Wer das eine bekommt – die Netzentgelte –,muss auch die anderen Verpflichtungen tragen. DieseKombination muss klar sein.Wir werden viertens auch über die Entscheidungskri-terien zu sprechen haben, darüber, wie wir mit § 1 Ener-giewirtschaftsgesetz als Kriterium umgehen werden.
– Ihr Zuruf, Herr Krischer, das sei nicht so einfach, istgenau richtig: Das ist nicht so einfach zu beantworten.Deswegen ist auch das, was hier heute als Antrag derLinken vorliegt, einfach zu pauschal nach dem Motto:„Die Kommunen müssen frei entscheiden können, ob siees denn wollen oder nicht.“ Nein, wir brauchen schonklare Kriterien für den Wettbewerb. Ich bin sehr dafür,den Kommunen hier einen stärkeren Spielraum einzu-räumen, aber dafür müssen klare energiewirtschaftlicheKriterien gelten, damit diese anschließend im Wett-bewerb bestehen können. Die Kommunen müssen dannsolche energiewirtschaftlichen Argumente und Aspekteauch einbringen können. Einfach nur allgemein „Inte-resse an Steuerungsmöglichkeiten durch die Kommu-nen“ oder „gemeindliche Belange“ vorzutragen, wie inden Anträgen der Linken zu lesen ist, das ist zu wenig,das ist zu dünn.Zu den von mir genannten vier Aspekten ist in denAnträgen der Linken nichts zu finden. Deswegen könnendie Anträge der Linken keine Grundlage für eine not-wendige Gesetzgebung in diesem Bereich sein. Ich binsicher, dass die Vorlage des Wirtschaftsministers mehrSubstanz bieten wird. Wir werden dann auf der Basis desGesetzentwurfes, der uns, wie wir jetzt gehört haben,zwischen Ostern und der Sommerpause vorliegen wird,genügend Raum für eine parlamentarische Beratunghaben. Wir können dann über alle strittigen Punkte imDetail diskutieren, aber dann auf einer vernünftigen,sachlichen Grundlage und nicht aufgrund dieser nichts-sagenden, inhaltsleeren Anträge der Linken, die wir ab-lehnen werden.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Liebing. Ich wünsche Ihnen
und unseren Gästen einen schönen guten Tag. – Der
nächste und letzte Redner in dieser Debatte: Bernhard
Daldrup für die SPD.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!In vielen Punkten bin ich mit Herrn Liebing – das weißer auch – einer Meinung, aber nicht in allen; das werdeich gleich noch einmal darstellen. Außerdem bedankeich mich bei Staatssekretär Beckmeyer ausdrücklich da-für, dass er dargestellt hat, wie der Arbeitsplan aussehenwird.Zu den Anträgen, die zur Stärkung der Kommunen inder Energiepolitik führen sollen, kann man sagen: Wirhaben es im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Wir ar-beiten daran, und zwar relativ zielgerichtet.Frau Lay, Sie schreiben am Anfang in Ihrem Antrag,dass wir feststellen und beschließen sollen: „Passiert ist… bisher nichts.“ Ich bitte um Verständnis, aber so etwasmachen wir nicht. So etwas beschließen wir nicht, weildas nämlich nicht stimmt.
Ich glaube, ohne arrogant wirken zu wollen, dass esklügere Formulierungen gibt, wenn man Zustimmung zueinem solchen Thema haben möchte – für das ich inhalt-lich durchaus Sympathien hege; das will ich festhalten.Wir kennen die entsprechenden Formulierungen von denkommunalen Spitzenverbänden, die Sie jetzt zu einemAntrag erheben.Ich habe in mehreren Diskussionsbeiträgen ein biss-chen die Wertschätzung für die kommunale Selbstver-waltung vermisst; das ist zumindest mein Eindruck.
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Bernhard Daldrup
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Das sage ich deshalb, weil ich mehrfach den Eindruckgewonnen habe, dass hier entschieden werden soll, wiesich Kommunen zu verhalten haben, was sie tun sollen,was sie nicht tun sollen. Aber kommunale Selbstverwal-tung bedeutet auch, die Angelegenheiten der örtlichenGemeinschaft selbst organisieren zu können, Freiheit zuhaben in der Entscheidung.
Lassen Sie mich deshalb einige grundsätzliche Positio-nierungen vortragen.Wenn wir über Energieversorgung und Kommunensprechen, dann immer aus der Perspektive der Energie-politik, häufig aus der des Wettbewerbsrechts. Fazitdieser Positionierung ist: Die kommunale Selbstverwal-tung wird zu einem unter mehreren Belangen. Das istdas Dilemma des § 1 des Energiewirtschaftsgesetzes, indem das so normiert ist. Das ist aber nicht diskriminie-rungsfrei, wenn ich das an dieser Stelle einmal sagendarf.
Denn kommunale Selbstverwaltung ist institutionell,verfassungsrechtlich normiert und ist nicht einer untermehreren Belangen von Rentabilität; ich will das an die-ser Stelle ausdrücklich sagen. Leider hat sich dieseHaltung in der Rechtsprechung durchgesetzt. Deshalbhat Heribert Prantl, mit dem ich im Oktober im BerlinerSenat diskutiert habe, recht, wenn er sagt: „Der Bundes-gerichtshof hat Gewicht und Bedeutung der kommuna-len Selbstverwaltung verkannt – sie ist von der Verfas-sung garantiert.“ Ich bin mir sicher, dass das BMWi diesbei der Novellierung berücksichtigen wird.
Im Ergebnis bedeutet das nämlich, dass in einem no-vellierten Energiewirtschaftsgesetz das Vorrecht derKommunen, die gemeindlichen Interessen zu berück-sichtigen – also wenn Sie so wollen: die Prärogative derkommunalen Selbstverwaltung –, auch umgesetzt wird,also dass der § 1 Energiewirtschaftsgesetz so novelliertwird, dass eine Interpretation nach dem Muster „Privatvor Staat“, wie es zum gegenwärtigen Zeitpunkt im Ge-setz steht, nicht das einzige Interpretationsmuster ist.Ich kann Ihnen sagen: Bei der Neuorganisation deskommunalen Wirtschaftsrechts, des Gemeindewirt-schaftsrechts aus der schwarz-gelben Zeit in Nordrhein-Westfalen, haben wir schlimme und schlimmste Erfah-rungen gemacht.Ich glaube auch – das muss ich an dieser Stelle sagendürfen –: Herr Koeppen, was Sie unter Subsidiarität ver-stehen, stimmt nicht so ganz; hier gibt es ein kleinesMissverständnis.
Subsidiarität heißt Unterstützung, heißt Hilfe, heißt nichtPrivatisierung. Subsidiarität ist zunächst einmal etwasgänzlich anderes als die Dichotomie von Staat oder Pri-vat. Außerdem geht es ja um die Kommunen.
Ich kann jetzt schon aus Zeitgründen nicht mehr überdie Energiewende und viele fachliche Fragen, die ange-sprochen worden sind, reden, aber ich will doch feststel-len, dass bemerkenswert ist, dass die Bürgerschaft na-hezu ausnahmslos den Weg zur Rekommunalisierungunterstützt. Warum eigentlich? Warum machen die Men-schen das? Weil sie zunächst einmal mit dem Status quounzufrieden sind, weil sie andere Erwartungen haben.Sie verstehen die kommunale Daseinsvorsorge zunächstals eine Dienstleistung gegenüber Bürgerinnen und Bür-gern, die Vorrang vor wirtschaftlicher Rentabilität hat,wenn es in der öffentlichen Verantwortung ist.
Das ist in den meisten Gemeindeordnungen der Bun-desrepublik Deutschland so geregelt. Es eröffnet auchdie Möglichkeit, zu einer anderen Energiepolitik zukommen. Es geht also nicht um die Frage von Privat vorStaat oder umgekehrt, sondern es geht um Folgendes:Die rechtmäßige Konzessionsvergabe und die Rekom-munalisierung sind kein Widerspruch, sondern bedürfeneines klar abgestimmten Rechtsrahmens, der es derkommunalen Selbstverwaltung ermöglicht, ihrer verfas-sungsrechtlich verankerten Verantwortung für die Da-seinsvorsorge – hier spielen mehrere kartell- und wettbe-werbsrechtliche sowie energiepolitische Gründe eineRolle – tatsächlich gerecht zu werden. Dem entsprichtdas Energiewirtschaftsgesetz in § 1 zum gegenwärtigenZeitpunkt nicht, und das ist ein Mangel, der behobenwerden muss, wenn man die Kommunen in der Energie-politik stärken und unterstützen will.Es geht aber nicht nur um die Gewichtung des § 1 imEnergiewirtschaftsgesetz im Verhältnis zur kommuna-len Selbstverwaltungsgarantie, sondern auch die Frageder Nebenleistungsverbote nach der Konzessionsab-gabenverordnung hinsichtlich der kommunalen und re-gionalen Klimaschutzkonzepte steht beispielsweise aufdem Prüfstand. Das ist richtig so. Es geht dabei um dieHerausgabepflicht von Daten, um Bewertungsfragen fürdas übertragene Netz – Stichwort: objektivierter Ertrags-wert –, um Rügepflichten, Zahlungspflichten des Alt-konzessionärs und ähnliche Gesichtspunkte, die für unseine Rolle spielen.Natürlich wollen wir auch eine rechtssichere Rege-lung der Frage der Inhousevergabe finden, die denKommunen hilft und die sie nicht belastet. Für uns ist esjedenfalls kein Einfallstor für die Privatisierung vonkommunaler Energieversorgung. Darauf werden wirschon achten.Ich glaube, die Novelle des Energiewirtschaftsgeset-zes ist an dieser Stelle auf dem Weg. Ich weiß, dass Siekritisieren, dass es zu langsam geht, aber es wird auchkritisiert – zu Recht, Herr Krischer –, dass es Ende 2011
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möglicherweise Defizite gab. Deswegen lassen Sie unsauch hier nach dem Motto arbeiten: Gründlichkeit vorSchnelligkeit. Das erhöht möglicherweise den Wir-kungsgrad.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Daldrup.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/4323 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein-verstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaftund Energie zum Antrag der Fraktion Die Linke mit demTitel „Übernahme der Energienetze durch Stadtwerke er-leichtern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 18/4222, den Antrag derFraktion Die Linke auf Drucksache 18/3745 abzulehnen.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-empfehlung ist angenommen bei Zustimmung der CDU/CSU und SPD und bei Gegenstimmen von Linken undBündnis 90/Die Grünen.Wir kommen zum nächsten Tagesordnungspunkt; ichbitte, die Plätze zu wechseln. – Bitte nehmen Sie IhrePlätze ein.
Ich darf Sie noch einmal bitten, Platz zu nehmen, dannkönnen wir weitermachen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungFortschrittsbericht 2014 zum Fachkräftekon-zept der BundesregierungDrucksache 18/4015Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Ernährung und LandwirtschaftAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr und digitale InfrastrukturAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss Digitale Agendab) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungFortschrittsbericht 2013 zum Fachkräftekon-zept der BundesregierungDrucksache 18/796Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Ernährung und LandwirtschaftAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr und digitale InfrastrukturAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss Digitale AgendaNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre eini-ges, aber keinen Widerspruch dazu. Dann ist das so be-schlossen.Ich eröffne die Aussprache. Die erste Rednerin ist dieBundesministerin Andrea Nahles für die Bundesregie-rung.
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit undSoziales:Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine sehr geehrtenKolleginnen und Kollegen! Die Ziele erreicht, Konzepterfolgreich, Aufgabe erledigt – das könnte ich heute gu-ten Gewissens so vortragen.
Denn der vorliegende Fortschrittsbericht zeigt ein-drucksvoll, dass wir die für 2020 gesetzten Ziele bereits2015 erreicht haben.
Ich will das an einigen Beispielen deutlich machen.Das zentrale Ziel war, bis zum Jahre 2020 eine Er-werbstätigenquote von 77 Prozent zu erreichen. Mit 77,3Prozent haben wir diese Quote bereits im Jahr 2013 erst-mals übertroffen.Oder: der Zielwert für die Beschäftigung Älterer. DieÄlteren sind nach wie vor eine Gruppe, in der die Er-werbstätigenquote noch ein bisschen höher sein könnte.Aber in der Gruppe der Erwerbstätigen zwischen 55 und64 Jahren liegen wir mittlerweile bei einer Quote von63,6 Prozent. Wir hatten uns vorgenommen, 60 Prozentzu erreichen.
Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist gegenüber 2008um 38 Prozent gesunken. Das ist wirklich hervorragend– denn wir hatten uns zum Ziel gesetzt, die Langzeitar-beitslosenquote um 20 Prozent zu senken –, wenn es unsauch noch nicht zufriedenstellt.Auch bei der Qualifikation zeigen sich Fortschritte.Der Anteil der frühen Schulabgänger sank auf unter10 Prozent, und – sehr erfreulich – der Wanderungssaldohat 2013 mit 429 000 Menschen den höchsten Wert seit1993 erreicht. Was besonders erfreulich ist: Die Qualifi-kation der Zugewanderten ist kontinuierlich gestiegen.
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Bundesministerin Andrea Nahles
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Insgesamt ist das also eine wirklich sehr erfreuliche Ent-wicklung –
und das bei einem Rekordwert bei der Beschäftigung.Wenn man diese Zahlen mit denen des Jahres 2008 ver-gleicht – auch wenn man sich vergegenwärtigt, in wel-cher Situation wir damals waren –, dann kann man heutewirklich sagen: Uns geht in Deutschland nicht die Arbeitaus, sondern uns gehen eher die Menschen aus, die sietun.
Meine Damen und Herren, sicher: Es ist immer schön,Erfolge zu verkünden. Klar ist aber auch: Um in Zukunftweiterhin so erfolgreich sein zu können, dürfen wir mitunseren Anstrengungen nicht nachlassen. Die Herausfor-derung besteht darin, das hohe Beschäftigungsniveau zuhalten. Denn nur ein hohes Beschäftigungsniveau sichertden allgemeinen Wohlstand, eröffnet den Menschen dieChancen, die sie brauchen, und stabilisiert natürlich auchdie soziale Sicherheit in unserem Land. Deswegen hält dieBundesregierung bei ihren Bemühungen um die Fachkräf-tesicherung das hohe Niveau, das wir in den letzten Jahrenerreicht haben, aufrecht. Wir können die Fachkräftesiche-rung allerdings nicht einfach per Gesetz verordnen. Siekann nur gelingen, wenn alle mit an Bord sind.Ich habe deswegen im letzten November die „Partner-schaft für Fachkräfte in Deutschland“ ins Leben gerufen,an der sich sowohl die Politik als auch die Sozialpartnerund die Kammern beteiligen. Die erreichten Erfolge zei-gen, wo wir ansetzen müssen, um noch besser zu wer-den. Dazu gibt es eine sehr interessante Studie, die „Ar-beitsmarktstudie 2030“, die ich Anfang Februar diesesJahres vorgestellt habe. Hier lassen sich interessanteEntwicklungen ablesen.Die gute Nachricht ist: Die aktuelle Arbeitsmarktpro-gnose für 2030 ist besser, als wir noch 2012 gedacht hat-ten. Wenn wir weiter auf Kurs bleiben, kann es uns ge-lingen, den Rückgang der Zahl der Erwerbspersonen bis2030 auf etwa 1 Million zu begrenzen. Ich betone: Eshandelt sich immer noch um einen Rückgang, der aller-dings nicht so groß ausfällt, wie wir befürchtet hatten; esist aber immer noch ein Rückgang um 1 Million Perso-nen.Bislang waren die Vorzeichen düsterer. Ein wichtigerGrund dafür, dass es heute besser aussieht, ist, dassDeutschland attraktiv geworden ist, und zwar als Ein-wanderungsland. Wir sind inzwischen das zweitbelieb-teste Einwanderungsland der Welt, hinter den USA.Menschen kommen zu uns, um hier zu arbeiten, zu lebenund mit ihrer Familie heimisch zu werden. Im vergange-nen Jahr waren es fast 430 000. Deutschland zieht an;darüber können wir wirklich froh sein.
Aber es gilt auch, den Menschen, die zu uns kommen, zuzeigen: Ihr seid uns willkommen, wir brauchen euch.Kulturelle Vielfalt macht unser Land aus, und sie machtunser Land lebenswerter.Zuwanderung ist ein Rezept gegen den drohendenFachkräftemangel; aber die Studie zeigt eben auch: Zu-wanderung allein reicht nicht, um den Fachkräftebedarffür die Zukunft zu decken. Wir müssen deswegen Türenaufstoßen, die noch klemmen: Mütter zum Beispiel wer-den durch Auszeiten oder eine Teilzeitphase ausge-bremst, stecken in der Teilzeitfalle fest; das ist leider flä-chendeckend der Fall. Ältere, die noch arbeiten könnenund wollen, sind mit überholten Vorstellungen konfron-tiert: So lässt sich eindeutig nachweisen, dass Ältere, diearbeitslos werden, wesentlich schlechtere Chancen ha-ben, wieder Arbeit zu finden, als Jüngere. Das ist weiter-hin unbefriedigend.
Das Gleiche gilt für Menschen mit Migrationshinter-grund, die schon länger hier leben und deren Fähigkeitennicht genug gefördert werden. Hier schlummern nochviele Talente, viel Einsatzwillen, viel Kreativität. Hierliegen Potenziale, die wir nutzen müssen.Ich möchte vier Leitgedanken aufzeigen, wie wirdiese Ziele erreichen können:Der erste Leitgedanke: Wir müssen auf die Menschensetzen, für Motivation und Gesundheit sorgen. Wir sinddas Land der hochqualifizierten Fachkräfte, der Spitzen-produkte und der Exportrekorde. Wir wollen auch einenSpitzenplatz belegen, wenn es um Gesundheit und Zu-friedenheit unserer Mitarbeiter geht, damit sie längermotiviert und fit in Arbeit bleiben können. Mitarbeite-rinnen und Mitarbeiter fordern mit Recht Kommunika-tion, Zeit und Freiraum, vor allem aber Wertschätzung.Mit anderen Worten: Wir brauchen auch eine Debatteüber Führungskultur in unserem Land, nicht nur in dengroßen Unternehmen, sondern auch bei den kleinerenund mittelständischen Unternehmen. Bei einer Untersu-chung aus dem Jahr 2014 haben drei Viertel der Füh-rungskräfte gesagt, dass an der Führungspraxis sehr vielhängt, wenn es darum geht, Potenziale zu heben. Wirbrauchen also auch eine neue Führungspraxis.Zweiter Leitgedanke: Wir brauchen Flexibilität fürdie Unternehmen, aber auch Flexibilität, die die Bedürf-nisse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ernst nimmt.Ich sage hier nur: Ständige Erreichbarkeit kann nicht derPreis für Flexibilität sein.Dritter Leitgedanke: Wir müssen für die Qualifizie-rung sorgen, damit Fachkräfte auch Fachkräfte bleiben.Ich persönlich glaube, dass, wenn wir in die Zukunftschauen, nicht Arbeitsplatzverlust das Problem ist in die-sem Land, sondern Qualifikationsverlust. Deswegenfreue ich mich, dass in der letzten Tarifauseinanderset-zung der Metallbranche das Thema Qualifizierung/Bil-dungsteilzeit genauso wichtig war wie Lohnbestandteile.Das ist etwas, was in die Zukunft weist.
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Bundesministerin Andrea Nahles
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Vierter Leitgedanke: Wir brauchen auch eine andereHaltung. Ob jemand zugewandert ist – oder seine Eltern –,ob jemand eine Behinderung hat, ob jemand bisher einfachnicht den geraden Weg genommen hat: Das sagt nochnichts über Können, Wissen und Einsatzbereitschaft aus. Inder Vielfalt liegt die Zukunft. Deshalb ist ein Einwande-rungsgesetz aus meiner Sicht sinnvoll, und deshalb brau-chen wir auch ein modernes Teilhaberecht; dafür müssenwir uns einsetzen.
In diesem Sinne sind wir auf einem guten Weg; aberwir sind noch nicht am Ziel.Vielen Dank.
Vielen Dank, Andrea Nahles. – Nächste Rednerin:
Sabine Zimmermann für die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Stellen wir die Sache mit dem Fachkräfteman-gel einfach mal vom Kopf auf die Füße: Es gibt keinengenerellen Fachkräftemangel. Die BA selbst sagt: Wirhaben zwar Fachkräfteengpässe, aber keinen Mangel.Ja, in manchen Branchen gibt es Engpässe, zum Bei-spiel in der Pflege, in der Gastronomie und im Metall-und Elektrobereich. Gutes Personal gibt es eben nichtzum Nulltarif. Wer Fachkräfte will, der muss sie auchausbilden.
Wer das nicht tut, der braucht hier auch nicht zu jam-mern. Wer gutes Personal will, der muss es auch ordent-lich bezahlen. Ich hätte mir gewünscht, dass in dem Be-richt der Bundesregierung dazu etwas gestanden hätte,aber leider: Fehlanzeige!
Natürlich kenne ich auch Betriebe, die sagen – HerrSchiewerling, Sie gucken mich so skeptisch an –: Wir be-kommen nicht die Leute, die wir haben möchten. – Hier be-darf es natürlich einer gründlichen Analyse. Auf den Punktgebracht gibt es zwei Felder, die wir einfach nicht aus denAugen lassen dürfen:Erster Punkt. Wir haben ein enormes Arbeitskräfte-potenzial, das nicht genutzt wird. 1,3 Millionen Erwerbs-lose haben keine abgeschlossene Berufsausbildung. Jähr-lich finden aber nur 69 000 Weiterbildungsmaßnahmen mitdem Ziel eines anerkannten Berufsabschlusses statt.256 000 Jugendliche – die Tendenz ist steigend – sind nachder Schule in Überbrückungsmaßnahmen geparkt. Dasmüsste Ihnen eigentlich auch zu denken geben.Frau Nahles, ich kann Ihnen nicht zustimmen, wennSie sagen, dass uns die Menschen für die Arbeit ausge-hen. Das widerspricht sich. Wir alle hier wissen, dassQualifizierung das A und O ist, um auf dem Arbeits-markt bestehen zu können.
Frau Ministerin Nahles, ich muss Sie schon fragen,warum Sie an dem arbeitsmarktpolitischen Kahlschlagder letzten Jahre festhalten, wenn Ihnen die Fachkräfteso wichtig sind. Sie haben nicht genug Geld für Qualifi-zierungsmaßnahmen zur Verfügung gestellt und feiernhier die schwarze Null für Ihren Haushalt,
sagen aber nicht, dass das auf Kosten der Bildung für dieZukunft geht. Wir als Linke sagen: Wir sind nicht bereit,dies zu akzeptieren.
Viele Frauen in Teilzeit würden unter anderen Rah-menbedingungen länger arbeiten wollen. Damit würdensie endlich auch den Teufelskreis aus zu geringen Ver-diensten und Altersarmut durchbrechen können. Nachwie vor fehlen aber ausreichende Kinderbetreuungsmög-lichkeiten, und es gibt viel zu wenig Unterstützung fürdie Pflege von Angehörigen.Die Regierung lamentiert hier, mehr nicht. Das ist fürdie Linke nicht akzeptabel. Zu all diesen Punkten stehenin Ihrem Bericht keine konkreten Maßnahmen, die wirk-lich wirkungsvoll sind.Ich kann Ihnen sagen, was die IG Metall zu den bis-herigen Bestrebungen gesagt hat – ich zitiere –:Die Konzepte der Bundesregierung zur Fachkräfte-sicherung verlieren sich im Klein-Klein.Weiter sagt sie:Und viele Arbeitgeber können sich dazu nicht vonewig gleichen Denkweisen loseisen: Länger arbei-ten, schneller arbeiten, härter arbeiten.Damit bin ich schon bei Punkt zwei. Wer von Fach-kräftemangel redet, muss auch von den Arbeitsbedin-gungen sprechen. Es ist doch kein Zufall, dass es vor al-len Dingen in den Pflege- und Gesundheitsberufen undin der Gastronomie Fachkräfteengpässe gibt. Dort wirdoft rund um die Uhr mit enormen Arbeitsbelastungenund für eine geringe Entlohnung gearbeitet. Es ist alsokein Wunder, dass diese Berufe nicht attraktiv sind undviele Beschäftigte schnell wieder ausscheiden.Hier sind einfach auch die Unternehmen in derPflicht, etwas zu ändern.
Nach einer Umfrage ist nur jeder fünfte Betrieb mitFachkräfteengpässen bereit, die Löhne für die Beschäf-tigten zu erhöhen, und nur jeder achte Betrieb will dieArbeitszeiten anders gestalten.Ich fasse zusammen: Wieder liegt ein Bericht der Re-gierung vor, wieder geht er aus unserer Sicht am Themavorbei. Den hätten Sie sich eigentlich sparen können.Schade ums Papier!Danke schön.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 8931
Sabine Zimmermann
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Danke, Frau Kollegin Zimmermann. – Nächster Red-
ner in der Debatte ist Karl Schiewerling für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Zimmermann,Ihre Rede gerade ist ein Beispiel dafür, warum ich im-mer skeptisch gucke, wenn Sie sprechen.
Es ist nämlich gut, dass ein guter Bericht vorliegt, unddieser Bericht dokumentiert, dass wir uns in der Tat aufeinem guten Weg befinden.
Meine Damen und Herren, hohe Beschäftigung, wirt-schaftliche Prosperität, demografischer Wandel: Das wa-ren die Gründe, warum 2011 die damalige Bundesregie-rung und das Bundesarbeitsministerium unter derdamaligen Bundesarbeitsministerin Ursula von derLeyen das Fachkräftekonzept auf den Weg gebracht ha-ben. Wir können heute feststellen, dass 42,7 MillionenMenschen in Beschäftigung sind, dass es 30,5 Millionensozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhält-nisse gibt. Das, was uns zumindest unter dem Gesichts-punkt des demografischen Wandels umtreibt, ist, dass2030 mehr als 2 Millionen Menschen weniger inDeutschland leben werden. Nach der Prognose werdenes nur noch 79 Millionen Einwohner sein. Und es gibteinen Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials um6,5 Millionen Menschen.Das ist der Grund, warum sich der vorliegende Be-richt an fünf Sicherungspfaden orientiert, die damals aufden Weg gebracht wurden: Aktivierung und Beschäfti-gung der Menschen, die bei uns sind: Zunächst einmalgeht es um diejenigen, die bei uns im Land leben, die wirunterbringen wollen, deren Arbeit wir erhalten oder diewir in Arbeit bringen wollen. Es geht um die bessereVereinbarkeit von Familie und Beruf. Es geht um bes-sere Bildungschancen für alle von Anfang an. Es gehtum Qualifizierung über Aus- und Weiterbildung, und esgeht um Integration und qualifizierte Zuwanderung.Wir haben in der Tat eine Menge erreicht. Zugegeben– Frau Ministerin Nahles hat das präzise beschrieben –:Wir sind noch nicht am Ende, aber wir sind auf einemordentlichen Weg. Zum Bereich „Aktivierung und Be-schäftigung“ ist zu sagen: Die Zahl der Erwerbslosen istauf 2,9 bzw. 2,8 Millionen gesunken. Wir haben dieniedrigste Jugendarbeitslosigkeit in Europa. Die Zahlder Arbeitslosen über 55 Jahren haben wir halbiert. DieZahl der Erwerbstätigen zwischen dem 55. und dem65. Lebensjahr haben wir in den letzten Jahren um1 Million steigern können.Wollen wir Fachkräfte so lange wie möglich in Arbeithalten und wollen wir die Kompetenz der Älteren nut-zen, dann müssen wir uns als Gesellschaft und als Ge-setzgeber darauf einstellen. Aber auch die Sozialpartnerund die Betriebe sind gefordert. Es geht um die entspre-chende Gestaltung der Arbeitsplätze. Es geht um Ab-läufe im Bereich der Beschäftigung. Es geht um Weiter-bildung. Es geht um betriebliche Gesundheitsförderung.Hier hilft der Staat in erheblichem Maße. Das Bun-desarbeitsministerium hat das Programm INQA auf denWeg gebracht. Das wird weitergeführt, damit diejenigen,die in Beschäftigung sind und die Hilfe brauchen, umlänger beschäftigt zu sein, weil sie gesundheitliche Be-einträchtigungen haben, Unterstützung erhalten.
Meine Damen und Herren, wir sind dabei, die Über-gänge in die Rente zu gestalten und so zu justieren, dassMenschen länger arbeiten können
oder dass der Renteneinstieg der Situation der Älterenentsprechend angepasst wird. Aber wir dürfen in der Tatden Blick nicht davor verschließen, dass uns bestimmteBereiche große Sorgen machen, etwa die Langzeitar-beitslosen.Heute organisiert die Katholische Jugendfürsorge densogenannten Josefstag. In vielen Einrichtungen der so-zialen Arbeit finden heute Begegnungen und Gesprächestatt. Es geht um die arbeitslosen Jugendlichen, die ohnefremde Hilfe keine Startchancen auf dem Arbeitsmarkthaben. Hierzu gibt es viele Initiativen.Lassen Sie mich in aller Deutlichkeit sagen: Es gibtim Bereich der Arbeitsmarktpolitik keinen Kahlschlag.Wir haben sogar im vergangenen Jahr bei dem Pro-gramm WeGebAU das Problem gehabt, dass 50 Prozentder Mittel gar nicht abgerufen worden sind. Wir habendie Aufgabe, die vorhandenen Mittel – zugegebenerma-ßen – zu justieren und zu optimieren – dabei sind wir ge-rade –, um sie für die Menschen, die der Hilfe bedürfen,zielgerichtet einzusetzen.Uns geht es dabei um die Frage, wie wir insbesonderedenjenigen, die sich auf dem Arbeitsmarkt besondersschwertun, helfen können. Dazu gehören auch die300 000 Jugendlichen aus Familien ohne Perspektive.Ihnen müssen wir helfen, aus diesen sozialen Verhältnis-sen herauszukommen. Auch hier arbeiten wir an Kon-zepten.Meine Damen und Herren, ein anderer Pfad der Fach-kräftesicherung betrifft natürlich die Vereinbarkeit vonFamilie und Beruf oder, wie ich zu sagen pflege, von Fa-milie und Betrieb, weil das die beiden existenziellenOrte im Leben eines Menschen sind. Es geht darum, denBereich, in dem Leben entsteht und Zusammenlebenstattfindet, und den Bereich, in dem man die wirtschaftli-
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Karl Schiewerling
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chen Grundlagen erwirtschaftet, um zusammenleben zukönnen, zusammenzubringen, und sie werden seit vielenJahren immer besser zusammengebracht.Aber es bleibt auch weiterhin einiges zu tun. In derTat steht dabei mittlerweile nicht mehr wie noch vor we-nigen Jahren die Frage der Kinderbetreuung als Problemim Mittelpunkt. Denn wir haben in der U-3-Betreuungund in der Begleitung viel gemacht.
Im Mittelpunkt steht mittlerweile die Frage, wie wir denBeruf mit der Pflege vereinbaren können, weil immermehr Ältere im Betrieb vor der Frage stehen, wie sie ihrepflegebedürftigen Angehörigen unterstützen können.Dies sind Zukunftsaufgaben, die sehr wohl unter demGesichtspunkt der Sicherung von Fachkräften und desFachkräftemangels zu sehen sind.Lassen Sie mich kurz auf den Bereich der Aus- undWeiterbildung zu sprechen kommen. Wir haben jetzt dieassistierte Ausbildung auf den Weg gebracht.
Damit tragen wir dazu bei, dass Menschen besser in denBeruf hineinkommen können.Im Bereich der Berufseinstiegsbegleitung stehen ins-gesamt 1 Milliarde Euro für die aktuelle Förderperiodezur Verfügung. Wir werden damit über 115 000 Jugend-liche erreichen. Und: Es geht um die jungen Menschenund Menschen mit Migrationshintergrund. Wir wissen,dass auch weiterhin viel zu tun ist. Aber mit den628 Millionen Euro, die jetzt für berufsbezogeneSprachkurse und die berufliche Weiterbildung zur Aner-kennung von ausländischen Abschlüssen zur Verfügungstehen, bringt die Bundesregierung ebenfalls eine großeLeistung auf den Weg.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zusam-menfassend sagen: Dieser Ansatz der Fachkräftesiche-rung hat sich bewährt. Wir müssen diesen Weg weiterge-hen. Unsere Grundsätze sind: Wir brauchen diejenigen,die in unserem Land leben. Wir brauchen auch Zuwan-derung, aber wir brauchen Fachkräfte, keine Zuwande-rung in die Sozialsysteme. Alle sind gefordert: Bund,Länder und Kommunen, aber auch die Sozialpartner unddie Betriebe.Lassen Sie mich mit Konrad Adenauer sagen: Siemüssen die Menschen nehmen, wie sie sind; es gibtkeine anderen. – Aber ich füge hinzu: Wenn wir alle Be-gabungen und Fähigkeiten, die wir haben, aktivieren undstärken, dann ist mir um die Zukunft unseres Landesnicht mehr bange.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Schiewerling. – Nächste Red-
nerin: Brigitte Pothmer für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! FrauNahles, Sie haben gerade ganz stolz gesagt, dass Sie dieZiele, die Sie für 2020 anpeilen, im Grunde schon heuteerreicht haben. Die Frage, die sich aus meiner Sicht dazustellt, ist, ob die Bilanz auch 2020 überhaupt noch sopositiv sein wird. Weiter stellt sich die Frage, ob die Pro-gnose, die Sie in Ihrem Bericht für 2030 angeben, näm-lich dass sich die Zahl der Erwerbstätigen nur um1 Million reduziert, zutrifft. Ich bin sehr skeptisch. Mitdieser Prognose ist die Bundesregierung relativ alleinauf weiter Flur. Alle seriösen Arbeitsmarktforscher, wieerst letzte Woche das IAB, gehen davon aus, dass dieZahl der Erwerbstätigen um mindestens 3 Millionen zu-rückgehen wird.Ich habe Ihren Fortschrittsbericht genau gelesen, undich habe keine substanziellen Gründe dafür gefunden,dass nicht die Forscher recht haben sollten, sondern dieBundesregierung. Ich finde, da müssten Sie noch einmalnachlegen.
Ja, es ist richtig: Die Erwerbsbeteiligung der Frauenhat deutlich zugenommen, nämlich um satte 21 Prozentseit den 90er-Jahren. Das ist die gute Nachricht. Dieschlechte Nachricht ist aber: Das Erwerbsarbeitsvolu-men von Frauen ist nur um magere 4 Prozent gestiegen.Mit anderen Worten: Im Prinzip teilen sich immer mehrFrauen das gleiche Arbeitsvolumen. Das hilft aber beider Bekämpfung des Fachkräftemangels nicht weiter. Eshilft im Übrigen auch den Frauen nicht weiter. Ich nennenur das Stichwort Altersarmut.
Ich sage Ihnen: Ihr viel beschworenes Jobwunder istvor allen Dingen ein Teilzeiteffekt. Dies entspricht nichtden Wünschen der Frauen. Die allermeisten Frauen wol-len mehr arbeiten, als sie aktuell tatsächlich arbeiten.Das kann auch nicht Ihr Ziel sein, wenn Sie den Fach-kräftemangel bekämpfen wollen. Wenn Sie dieses Er-werbspotenzial – das ist das größte Erwerbspotenzial,das wir hier im eigenen Land haben: gut ausgebildeteFrauen, hochmotivierte Frauen – wirklich heben wollen,dann müssen Sie den Frauen helfen, aus der Sackgassevon Ehegattensplitting und Minijobs herauszukommen,dann müssen Sie an diesen strukturellen Bedingungenetwas ändern.
Ja, Frau Nahles, Sie haben recht: Der Anteil der Älte-ren unter den Beschäftigten hat zugenommen, insbeson-dere bei der Gruppe der 60- bis 64-Jährigen. Ich fürchtenur, das ist ein kurzes Glück. Uns droht nämlich derNahles-Knick:
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Brigitte Pothmer
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– Ja, Ehre, wem Ehre gebührt, Frau Nahles. – Bereits imersten halben Jahr seit Einführung der Rente mit 63 ha-ben 60 000 Ältere ihre Arbeit aufgegeben.
Ich spreche hier ausdrücklich nur von denjenigen, diewir „Vorzieher“ nennen, also von denen, von denen wirwissen, dass sie ohne dieses Angebot länger gearbeitethätten. Das sind 16 Prozent der Beschäftigten dieser Al-tersgruppe. Auf der einen Seite wollen Sie die Erwerbs-beteiligung Älterer erhöhen, und auf der anderen Seitesetzen Sie Anreize, aus dem Erwerbsleben auszuschei-den.
Ich will das mal mit einem niedersächsischen Spruchkommentieren: Sie stoßen mit dem Hintern um, was Siemit den Händen aufgebaut haben.
Ja, die Zuwanderung hat sich erfreulich entwickelt.Aber das ist eine Zuwanderung vor allen Dingen aus denEU-Krisenstaaten. Wir hoffen doch wahrscheinlich allegemeinsam, dass diese Länder die Krise so schnell wiemöglich überwinden. Aber dann wird ein erheblicherTeil derjenigen, die aus diesen Krisenländern kommen,in ihre Heimat zurückgehen.Ich sage Ihnen: Wenn Sie Zuwanderung wirklichnachhaltig gestalten wollen, dann müssen Sie sich aufdie Zuwanderung aus Drittstaaten konzentrieren. Aber,meine Damen und Herren, dies setzt natürlich voraus– jetzt richte ich mich vor allen Dingen an die rechteSeite des Hauses –, dass Sie die Ressentiments in Ihreneigenen Reihen zunächst einmal bekämpfen.
Das setzt auch voraus, dass Sie tatsächlich ein modernesEinwanderungsgesetz auf den Tisch legen und eine echteWillkommenskultur gestalten.Lassen Sie mich noch kurz etwas zu den Arbeitslosensagen.
Kurz.
Kurz, ja. – Auch da liegt ein riesiges Potenzial. Aber
um das zu heben, müssten Sie zunächst einmal in die Ar-
beitslosen investieren, damit sie zu Fachkräften werden.
Dann haben diese Menschen auch eine Chance. Das ist
nicht nur ein Projekt, das diesen Menschen konkret hilft,
das ist auch aus ökonomischen Gründen richtig und not-
wendig und sinnvoll, weil der Fachkräftemangel das
größte Wachstumsrisiko werden könnte.
Ich sage Ihnen: Wenn Sie diese Widersprüche, die Sie
in Ihrer Politik haben, nicht auflösen – bei den Frauen,
bei den Älteren, bei der Zuwanderung –, dann werden
Sie Ihr Ziel der Bekämpfung des Fachkräftemangels je-
denfalls nicht erreichen.
Ich danke Ihnen.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Diesen niedersächsi-
schen Spruch kenne ich aus Bayern auch; aber wir drü-
cken es ein bisschen drastischer aus.
Nächste Rednerin in der Debatte: Katja Mast für die
SPD.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Wir reden über den Fachkräftefortschrittsbericht derBundesregierung, und in diesem Fachkräftefortschritts-bericht steht genau das, was unsere Bundesarbeitsminis-terin gerade gesagt hat: Erstens. Es gibt keinen flächen-deckenden Fachkräftemangel, aber Engpässe. Zweitens.Wir sind bei allen Punkten, die wir uns vorgenommenhaben, heute schon besser, als wir 2020 sein wollen.Ichfinde, da kann man schon mit Selbstbewusstsein sagen:Wir gehen das Thema „Fachkräftesicherung der Zu-kunft“ mit Herz, Energie und auch Finanzen richtig gutan.
Es gibt eine Gruppe, bei der das Ziel noch nicht ganzerreicht ist – das will ich an dieser Stelle nicht ver-schweigen –: Das ist bei der Erwerbsbeteiligung vonFrauen der Fall. In Zukunft soll der entsprechende Pro-zentwert bei 73 Prozent liegen. So weit sind wir leidernoch nicht; denn wir liegen bei 72,5 Prozent. Auch dassoll der Wahrheit zuliebe hier ausgesprochen werden.Warum beschäftigen wir uns heute mit dem Thema„Fachkräftesicherung der Zukunft“? Es geht darum, dasswir durch den demografischen Wandel in Zukunft weni-ger Erwerbstätige haben werden. Da ist es müßig, sichdarüber zu streiten, ob 1 Million, 2 Millionen, 3 Millio-nen oder andere Zahlen richtig sind; vielmehr ist eindeu-tig erwiesen: Wir müssen zur Fachkräftesicherung derZukunft etwas tun.
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Katja Mast
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Auf der einen Seite müssen wir das bestehende Poten-zial, also die Menschen, die in Deutschland leben, fürden Arbeitsmarkt besser aktivieren und vor allen Dingenauch besser qualifizieren. Auf der anderen Seite müssenwir Zuwanderung gestalten, weil wir zur Sicherungunserer Wirtschaftskraft in Zukunft mehr Fachkräfte ausanderen Ländern brauchen werden. Deshalb bin ichmeinem Fraktionsvorsitzenden Thomas Oppermanndankbar, der eine Initiative ergriffen hat, um über dieEinwanderungsgesetzgebung, aber vor allen Dingenauch über das Thema „Einwanderungsland Deutsch-land“ einmal ordentlich zu diskutieren.
Ich will einen Punkt in den Mittelpunkt meiner kur-zen Redezeit rücken: Was tun wir für junge Menschen,damit sie als qualifizierte Fachkraft durchs Leben gehenkönnen und in ihrer Erwerbsbiografie nicht ohne Ausbil-dung bleiben, sodass sie nicht irgendwann arbeitslosoder sogar langzeitarbeitslos werden? Es ist klar:Deutschland ist ein Hochlohnland, und die Arbeitskräftebrauchen eine hohe Qualifizierung.In den letzten Wochen und Monaten hat diese Regie-rung die assistierte Ausbildung beraten und beschlossen.Das heißt, wir sorgen dafür, dass junge Menschen eineduale Ausbildung im Betrieb machen können, dass ihreChancen am Arbeitsmarkt steigen. Wir haben dafür ge-sorgt, dass die ausbildungsbegleitenden Hilfen, alsoauch die Begleitung von anderen Auszubildenden, deut-lich ausgeweitet werden. Wir haben in der Allianz fürAus- und Weiterbildung dafür gesorgt, dass 20 000 zu-sätzliche betriebliche Ausbildungsplätze zur Verfügunggestellt werden.
Wir haben die Berufseinstiegsbegleitung wie noch keineVorgängerregierung ausgebaut. Diese Begleitung ist derzentrale Förderschwerpunkt dieser ESF-Förderperiode,und das ist auch gut so. Außerdem stärken wir dieJugendberufsagenturen. Das sind nur wenige Instru-mente, mit denen ich deutlich machen will: Wenn mansich einer Gruppe zuwendet, dann kann man für sie auchetwas tun.
Für uns von der SPD haben Bildung und Qualifizie-rung natürlich etwas mit Wirtschaft, Erwerbstätigkeitund besseren Verdienstmöglichkeiten zu tun; aber sie ha-ben für uns vor allen Dingen auch damit zu tun, dassMenschen aufsteigen können und dass sie durch Bildungein anderes Leben als die Elterngeneration führen kön-nen. Das ist für uns ein ganz wichtiger Punkt.
In der heutigen Diskussion ist auf Folgendes noch garnicht hingewiesen worden: Wir entwickeln uns von derWissensgesellschaft hin zur digitalen Gesellschaft. Dasheißt, dass die Halbwertszeit von Wissen immer geringersein wird. Daher wird es nicht reichen, den Jungen amAnfang eine gute Ausbildung zu ermöglichen; vielmehrmüssen wir uns noch mehr darüber unterhalten, wie wirlebensbegleitendes Lernen gut organisieren und wie wirweit über das hinausgehen können, was heute möglichist, auch weit über das hinaus, was die IG Metall zumGlück in das Zentrum ihrer Tarifverhandlungen gestellthat. Aber da muss, auch von staatlicher Seite, noch mehrkommen.
Deshalb sagen wir: Wir müssen über die Zukunftnachdenken, nicht kurzfristig, sondern mittel- bis lang-fristig: Wie sieht es eigentlich im Erwerbsleben aus?Man denke an eine Person, die im Erwerbsleben stehtund überlegt: Na ja, angesichts meiner Qualifizierungweiß ich nicht so richtig, was mit mir geschieht, wennich meinen Job verliere. Wer berät mich da eigentlich? –Brauchen wir nicht eine Bildungsinfrastruktur in der Flä-che durch Bildungsstützpunkte, durch die entsprechendeMaßnahmen organisiert werden? Müssen wir nicht dieArbeitslosenversicherung zu einer Versicherung weiter-entwickeln, die frühzeitig agiert, die langfristig undlebensbegleitend orientiert ist und nicht nur am Verlustder Arbeit und dann erst berät? Wir finden, wir sollteneine Debatte über eine Weiterentwicklung hin zu einerArbeitsversicherung führen.
Ich will zum Schluss kommen und sagen: WillyBrandt hat uns mit auf den Weg gegeben, dass wir in je-der Zeit eigene Antworten brauchen und dass wir auf derHöhe der Zeit zu sein haben, wenn wir Gutes bewirkenwollen. Das gilt für das Thema „Sicherung des Fachkräf-tebedarfs“ so stark wie für fast kein anderes Thema. Ichfreue mich auf die Debatten der Zukunft.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Mast. – Nächste Redne-
rin in der Debatte: Jutta Krellmann für die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Fachkräftemangel herrscht nur in den Unter-nehmen, wo es verantwortungslose Arbeitgeber gibt.
– „Verantwortungslose Arbeitgeber.“ Hören Sie dochmal genau zu!
Die Gewerkschaften haben dazu eine eindeutige Mei-nung. Die IG Metall beispielsweise kritisiert nicht nur,sondern hat auch Vorschläge, was für die Zukunft derFachkräfte zu tun ist.
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Jutta Krellmann
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Gute Bildung, gute Qualifikation: Die Aufgabe derRegierung ist hier, die Rahmenbedingungen zu schaffen,zum Beispiel durch gute Kitabetreuung, aber auch durchGanztagsangebote, insbesondere an Hauptschulen.
Staatliche Aufgabe ist ebenfalls, die Rahmenbedin-gungen für gute Arbeit zu schaffen. Dazu gehört poli-tisch insbesondere die Abschaffung der sachgrundlosenBefristungen.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
-bemerkung vom Kollegen Weiler von der CDU/CSU-
Fraktion?
Gerne.
Gut. – Herr Weiler.
Frau Kollegin Krellmann, wir sind zusammen in ei-
nem Ausschuss. Ich arbeite mit Unternehmern zusam-
men; das habe ich schon getan, bevor ich im Bundestag
war. Wir versuchen, durch Eigeninitiative der Unterneh-
men viele Fachkräfte heranzubilden. Das heißt, die
Unternehmen investieren viel Geld in die Fachkräf-
tenachwuchsgewinnung.
Sie sagen jetzt: Wenn in Unternehmen Fachkräfte-
mangel ist, zeigt das, dass die Unternehmer verantwor-
tungslos sind. – Im Umkehrschluss sagen Sie damit –
wenn Sie das vielleicht richtigstellen! –, dass alle Unter-
nehmer in meinem Wahlkreis, Mittelständler, die, ich
sage mal, zu 80 Prozent Fachkräftemangel haben, keinen
Nachwuchs kriegen, die gern 5, 10 oder 20 Auszubil-
dende nehmen wollen, aber nicht kriegen – sie tun viel
dafür; die Handwerkerschaft, die Innungen, die IHK tun
auch viel dafür –, verantwortungslos sind. Ich glaube,
das geht einfach zu weit.
Danke.
Vielen Dank für die Frage. Ich darf Ihnen darauf ant-
worten.
Ich habe gesagt: verantwortungslose Arbeitgeber.
80 Prozent der Betriebe bilden gar nicht aus.
– Wie bitte? Auch Sie dürfen mir gleich eine Frage stel-
len.
Das entscheiden nicht Sie.
Ich kann mich an die Zeit erinnern, wo die Jugendar-
beitslosigkeit in Deutschland begonnen hat. Genau da
haben wir zu diskutieren begonnen.
Wenn ich von verantwortungslosen Arbeitgebern
rede, dann meine ich nicht die, die ausbilden und dafür
sorgen, dass sie Facharbeiter kriegen, sondern ich meine
die 80 Prozent, die davon profitieren, dass andere ausbil-
den. Sie müssen doch ganz genau wissen, wie das im
Betrieb ist.
Als Gewerkschaftssekretärin habe ich das erlebt; ich
weiß, wie das geht. Die Forderung, die wir als Antwort
darauf erhoben haben, ist: Wir brauchen eine Umlage-
finanzierung der Ausbildungsplätze, damit endlich auch
die Arbeitgeber, die von der Leistung anderer profitie-
ren, dafür zahlen, dass sie Fachkräfte kriegen. Das, finde
ich, hat System, wenn man die Frage stellt: Was kann
man gegen Fachkräftemangel machen?
Darf ich weitermachen? Ja, oder?
Machen Sie weiter. Ihre Redezeit läuft.
Ich war bei dem Thema: Abschaffung der sachgrund-losen Befristungen. Das ist aus unserer Sicht eine klareAufgabe für die Bundesregierung.Parallel ist es die Aufgabe von Unternehmen, sich anTarifverträge zu halten und dafür zu sorgen, dass in denBetrieben entsprechende Bedingungen geschaffen wer-den. In Sachsen-Anhalt werben Unternehmen mit demBestehen von Tarifverträgen um Fachkräfte. Diese ga-rantieren den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern si-cheres Geld, geregelte Arbeitszeiten, Urlaubs- undWeihnachtsgeld. In Niedersachsen machten die Metall-unternehmen ihre Beschäftigten wuschig, weil sie sichzierten, die entsprechenden Tarifabschlüsse, die alle an-deren Beschäftigten in der Branche bekommen haben,zu übernehmen. Inzwischen war der Druck so groß, dassauch niedersächsische Unternehmen ihren Fachkräftendiese Tariflöhne zahlen müssen. „Ohne Tarifvertrag“ be-deutet immer: niedrigere Löhne bis hin zu Mindestlöh-nen, keine Lohnerhöhungen mehr, weniger Urlaub usw.Tariflöhne sind ein wichtiges Kriterium, wenn man aus-reichend Fachkräfte haben will.
Unternehmen, die gute Rahmenbedingungen schaf-fen, haben in der Regel auch keine Probleme, Fachkräftezu finden. Fachkräftesicherung braucht aber auch guteArbeitsbeziehungen: zwischen Betriebsrat und Arbeitge-ber, zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbän-den. Nur so lassen sich Regelungen über altersgerechteArbeitsplätze auf der Basis von Betriebsvereinbarungenoder über eine neue Arbeitszeitpolitik auf der Basis von
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Jutta Krellmann
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Tarifverträgen treffen. Das ist mit den genannten Akteu-ren möglich, wenn sie denn wollen. Mit solchen Maß-nahmen schafft man Fachkräftesicherung.
Was aber machen viele Arbeitgeber stattdessen? Sieübernehmen keine Verantwortung. Sie sind oftmals nichtbereit, in ihr Personal zu investieren. Sie wälzen alles aufden Staat ab und schreien laut im Chor: Alarm, Fach-kräftemangel!
Diesen Arbeitgebern sage ich: Hören Sie auf, zu jam-mern, und überlegen Sie, wo Sie selbst ansetzen können,um Fachkräfte an Ihren Betrieb zu binden, zum Beispielindem Sie gute Löhne zahlen, sichere Arbeitsplätzeschaffen, Ihren Beschäftigten eine Perspektive für dieZukunft geben,
betriebliche Ausbildung anbieten und auch stärken so-wie junge Fachkräfte unbefristet übernehmen. Dasmüsste in allen Branchen gelten.Als Gewerkschafterin wünsche ich in der aktuellenTarifrunde insbesondere den Beschäftigten im Sozial-und Erziehungsdienst viel Erfolg im Kampf für ihre Ta-rifverträge und für die Anerkennung ihrer Arbeit. Dafürbraucht es starke Gewerkschaften. Dafür tritt die Linkeein.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Krellmann. – Nächster
Redner in der Debatte: Tobias Zech für die CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich binfroh, dass wir über das Thema Fachkräftemangel spre-chen und nicht, wie in anderen Ländern, darüber, dasswir ganzen Generationen von Jugendlichen keine Arbeitanbieten können, die somit in der Arbeitslosigkeit blei-ben. Das ist schon einmal positiv.
Frau Ministerin, wir können auch noch aus einem an-deren Grund froh sein. Das Thema wird herausforderndfür uns sein – es ist ein schwieriges und wichtigesThema –, aber der Bericht zeigt: Wir sind nicht nur gutim Zeitplan, nein, wir sind ihm sogar voraus. Die Maß-nahmen, die wir vor vier Jahren beschlossen haben, wir-ken. Würden manche Infrastrukturmaßnahmen, auchhier in der Hauptstadt, in vier Jahren erfolgreich sein,hätten wir weniger Probleme in diesem Land.
Ich möchte einmal einordnen, über was wir überhauptsprechen. Wir haben einen Fachkräftemangel in be-stimmten Branchen, in bestimmten Regionen. Aber ei-nes gehört auch zur Wahrheit: Wir haben in Deutschlandwesentlich mehr Menschen, die dem Erwerbsleben zurVerfügung stehen würden, als wir in das Erwerbslebenintegrieren können. Somit haben wir vor allem eineLücke hinsichtlich der Qualifizierung und nicht hinsicht-lich der Anzahl. Hier müssen wir ansetzen.
2011 wurden für den Ausgleich dieses Engpassesmehrere Pfade entwickelt. Drei möchte ich nennen: dieAusbildung der Jungen, die bessere Integration derEltern sowie offenere Zuwanderungsmöglichkeiten.Schaut man sich diese Bereiche an, so kann man feststel-len, dass in den letzten Jahren viele strukturelle Verände-rungen geschaffen wurden und der Weg für noch mehrProsperität in diesem Bereich geebnet wurde. Das ist eingroßer Fortschritt. Die Ministerin hat es angesprochen:Auch in den Unternehmen – ich selber war neun Jahrelang Personaler – hat sich ein Kulturwandel vollzogen.War die Personalabteilung früher eine kleine Verwal-tungseinheit – ich habe immer gesagt: P kann jeder –, diesich um Verträge gekümmert hat und um Abläufe undStandards, ist jetzt der Personalmanager im Unterneh-men jemand, der sich um einen der wichtigsten Produk-tionsfaktoren, nämlich den Faktor Arbeit, den FaktorMensch, kümmert. Unsere Unternehmen in Deutschlandhaben diesen Schritt schon getan. Ich denke, man hatschon viel getan. Man hat in den Unternehmen schonsehr gute Initiativen ergriffen, um den Fachkräftemangelzu beheben.Die Personaler haben hier genau drei Möglichkeiten:Recruitment, Retention und Retirement. Oder besser ge-sagt: Wie bekomme ich das richtige Personal? Wie setzeich es im Betrieb richtig ein? Auch wichtig: Wie gestalteich den Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand?Hier gilt es, für uns, die richtigen Rahmenbedingungenzu setzen. Dabei müssen wir uns aber auch bewusst ma-chen, dass wir alle Phasen des Lebenszyklus eines Ar-beitnehmers mit entscheidenden Hilfestellungen beglei-ten müssen.Ich möchte bei der Ausbildung anfangen. Zu vielejunge Menschen werden ohne abgeschlossene Ausbil-dung ins Leben entlassen. 2011 waren noch 17 Prozentder 20- bis 29-Jährigen ohne Ausbildung. Das größte Ri-siko für Armut ist die fehlende Ausbildung. 2013 habenwir es geschafft, unter 10 Prozent zu kommen. Das istein unglaublich guter Fortschritt, vor allem, wenn manweiß, dass allein eine 10-prozentige Abbrecherquoterund 600 000 Fachkräfte kostet. Bei den 30- bis 34-Jäh-rigen mit Hochschul- oder Fachhochschulabschluss sindwir bei 44,5 Prozent angelangt. Wir befinden uns in ei-ner guten Situation, es lohnt sich, darauf aufzubauen.Wir müssen aber weiter den Fokus auf die Ausbil-dung legen. Ich teile nicht die Einschätzung, die im Be-richt durchklingt, dass man bei der Durchlässigkeit desBildungssystems ansetzen muss. Ich bin über Haupt-schule, mittlere Reife, Berufsoberschule und Fachhoch-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 8937
Tobias Zech
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schule jetzt zu Ihnen gekommen. Also, die Durchlässig-keit ist es wohl nicht. Man müsste aber den Schwerpunktauf die Ausbildungsreife setzen. Jeder, der in die Berufs-schule kommt, sollte den Dreisatz können. Jeder, der dieBerufsschule verlässt, sollte wissen, was auf ihn zu-kommt. Es sollte nicht so sein, dass der Metzgerlehrlingam ersten Tag erschreckend feststellt, wo die Wurstwirklich gemacht wird und wie es dort aussieht, unddann das Unternehmen schreiend verlässt. Im Bereichder Ausbildungsreife, der Aufklärung und der Informa-tion über Berufsbilder müssen wir noch mehr machen.
Hier lohnt sich auch das Engagement, das Investment.Die Ministerin hat die Allianz für Aus- und Weiterbil-dung angesprochen. Es geht nämlich nur miteinander.Nicht die Politik kann den Fachkräftemangel beheben,sondern nur die Unternehmen und die Menschen in un-serem Land.Wie können wir die Arbeitnehmer länger in den Be-trieben halten? Wie können wir Erziehungszeiten besserkoordinieren? Wie können wir das kurzfristige Aus-scheiden aus dem Unternehmen sicherstellen? Das sindwichtige Fragestellungen. Man hat über Wertkontensys-teme, Lebensarbeitszeitkonten oder mit dem TV FlexÜerste Möglichkeiten geschaffen. Einige Unternehmensind schon bei der Umsetzung. Das kann noch weiterausgebaut werden.Ich möchte noch die Chemiebranche erwähnen, dieschon vor Jahren mit ihrem Tarifvertrag „Lebensarbeits-zeit und Demografie“ einen Meilenstein bezüglich derTariflandschaft in Deutschland gesetzt hat und bewusstdas Thema „Fachkräftemangel“ und das Thema „Älterwerden im Betrieb“ in den Fokus gestellt hat. Das istmehr als beispielgebend und sollte von allen als Beispielgenommen werden.Ein Punkt liegt mir noch am Herzen. Wir sprechen da-rüber – auch die Ministerin hat es angesprochen –, dasswir in Zukunft Älteren ermöglichen wollen, wenn sie esselber wollen und können, länger im Betrieb zu bleiben.Das ist zum einen die Flexirente. Frau Pothmer, ich mussdazu sagen, dass es für uns nicht heißt, dass wir die Rentemit 63 bzw. die Altersrente nach 45 Beitragsjahren infragestellen. Denn wer 45 Jahre in diesem Land gearbeitet hat,hat es in einer Solidargemeinschaft auch verdient, dass erin den Ruhestand gehen kann.
– Herr Birkwald, Sie erschrecken mich. – Für mich istwichtig, dass wir beim Thema Flexirente weiterkom-men. Das heißt aber auch, dass wir in den Betrieben imkulturellen Wandel noch weiter fortschreiten müssen. Esgeht hier um das Thema „betriebliches Gesundheitsma-nagement“. Wir müssen wieder Arbeitsplätze für Ältereoder für Mitarbeiter schaffen, die nicht so leistungsfähigsind oder körperlich nicht so leistungsfähig sind, damitauch sie ihren Beitrag im Unternehmen leisten können.Deswegen finde ich es gut, dass wir mit dem Präventi-onsgesetz die Mittel der Krankenkassen für die Umset-zung des betrieblichen Gesundheitsmanagements erhöhthaben.Ich möchte zum Schluss kommen. Die Arbeitgeber inDeutschland – damit meine ich auch den Staat – sind an-gehalten, weiterhin jeweils für ihren Bedarf praktikableund effektive Lösungsansätze zu finden. Ich denke, wirals Politik müssen sie effektiv und intensiv dabei beglei-ten. Ich freue mich auf die weitere Diskussion.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Kollege Zech. – Nächster Redner
in der Debatte: Volker Beck für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wennwir hier über die Zukunft der Fachkräfteentwicklung dis-kutieren, müssen wir sagen: Wir können es uns nichtleisten, einen Teil der jungen Generation zurückzulas-sen. Der Bericht gibt darüber Auskunft, dass 72,3 Pro-zent der Menschen mit Migrationshintergrund, die ar-beitslos sind, keinen Berufsabschluss haben. Daszeigt: Es darf bei uns in der Bildungspolitik kein end-gültiges Scheitern geben, sondern jeder muss erneuteine Chance bekommen, sich auf dem Arbeitsmarktzu bewähren.
Es geht darum, dass wir schlichtweg alle Potenziale,die wir im Land haben, heben, dass wir die Menschenfördern. Das heißt für mich: Man muss auch bei denFlüchtlingen, die hierherkommen, von Anfang an mit In-tegrationskursen die Voraussetzungen dafür schaffen,dass sie hier, auf dem deutschen Arbeitsmarkt, ihrenQualifikationen entsprechend eine Chance bekommenund auch Qualifikationen erwerben können, und dasnicht erst nach ein, zwei Jahren Asylverfahren, sondernvom ersten Tag an, wenn sie hier ankommen. Das heißtWillkommenskultur.
Wir dürfen uns auf der jetzigen wirtschaftlichen Si-tuation und der Situation auf dem Arbeitsmarkt nichtausruhen. Wir wissen doch – da hatte die Frau Ministe-rin, die allerdings nicht zuhört, vorhin durchaus recht –,dass uns in Zukunft nicht die Arbeit ausgehen wird, son-dern die Menschen, die sie leisten können. Wir habenaus demografischen Gründen einen jährlichen Bedarf beider Zuwanderung von Arbeitskräften von 300 000 Men-schen. Den können wir gegenwärtig decken, weil Men-schen aus den südeuropäischen Ländern aufgrund derwirtschaftlichen Situation zu uns kommen. Das wirdsich aber ändern, wenn sich die Wirtschaftslage in derEuropäischen Union – hoffentlich bald – verbessert.Dann werden wir einen negativen Wanderungssaldo ha-ben. Das haben wir gegenüber der Türkei heute schon:
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Volker Beck
(C)
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Wir haben in den letzten Jahren mehr Menschen an dieTürkei abgegeben, als in der gleichen Zeit zu uns ge-kommen sind. Eine solche Entwicklung steht uns bevor.Wenn wir uns darauf nicht vorbereiten, dann verspielenwir die Zukunft unseres Landes.
Frau Nahles, vielleicht haben Sie bei der Redevorbe-reitung Ihren eigenen Bericht nicht ganz genau studiert.Ich finde es selbstgefällig und schlicht falsch, wenn dasteht:Mit den Rechtsänderungen zur Zuwanderung vonHochqualifizierten und Fachkräften, die seitSommer 2012 in Kraft traten, wurde der deutscheArbeitsmarkt weitestgehend geöffnet und entbüro-kratisiert.Das ist einfach unwahr.Wir haben fast keine Möglichkeit der angebotsorien-tierten Zuwanderung von Menschen, die sagen: Ich habeeine Qualifikation, ich möchte nach Deutschland kom-men, aber ich habe noch keinen konkreten Arbeitgeber,der mir einen Arbeitsvertrag zur Verfügung stellt. – Da-für brauchen wir eine Möglichkeit. Wir haben dafür seit2012 eine Regelung, die aber an Bürokratie und Absur-dität schwer zu toppen ist. Es geht um § 18 c des Aufent-haltsgesetzes. Danach dürfen Menschen mit einemHochschulabschluss für sechs Monate zur Arbeitssuchenach Deutschland kommen. Ihr Lebensunterhalt mussaber gesichert sein, und sie dürfen während der Zeit derArbeitssuche absurderweise nicht arbeiten. Sie müssenalso ihr Vermögen aufzehren, wenn sie hier nachDeutschland kommen. Ja, wer macht denn so etwas? Imletzten Jahr waren es 900 Menschen, die davon Ge-brauch gemacht haben, im Jahr davor 400. Damit wer-den wir unseren Fachkräftemangel der Zukunft nicht be-kämpfen können. Da brauchen wir flexiblere Lösungen.Warum soll ein Ingenieur, der hierherkommt, nicht sa-gen: „Bis ich einen richtigen Arbeitsplatz gefundenhabe, kellnere ich auch mal, damit ich nicht das Geld,das ich habe, aufzehren muss“? Das wäre zukunftsfähi-ger. Wir brauchen am Ende eine viel flexiblere Regelungals dieses Gestrüpp im Aufenthaltsgesetz.
Kommen Sie bitte zum Ende, Herr Beck?
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Ich habe
mir heute die wunderbare Initiative „Make it in Ger-
many“ angeschaut, diese Website, die angeblich ja alle
Probleme lösen soll. Also, säße ich jetzt in Indien oder in
Afrika oder in Lateinamerika vor meinem Computer und
würde mir das anschauen, ich würde echt nicht verste-
hen, wie ich hierherkomme, obwohl da Arbeitsplätze an-
geboten werden. Da muss ich mich bewerben, dann
muss ich zur Visastelle, die mir nach Auskunft des Por-
tals sagen wird, wie es denn mit dem Visum geht. Dann
dauert das Verfahren zur Aufnahme vielleicht ein Jahr, –
Redezeit, Herr Beck!
– wenn ich Glück habe. Das wird nur diejenigen, die
wirklich in Not sind, motivieren, hierherzukommen. Wir
müssen uns auf den zukünftigen Zuwanderungsbedarf
vorbereiten, und damit werden wir es so nicht schaffen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
Nächster Redner in der Debatte ist Swen Schulz für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber VolkerBeck! Bei allen offenen Fragen, die wir zu diskutierenhaben: Wir haben tatsächlich viel erreicht. Lassen Siemich konkret aus bildungspolitischer Perspektive nurkurz die Stichworte nennen. Das Kitaangebot ist deutlichausgeweitet. Die Schulabbrecherquote ist gesunken.Ebenso gesunken ist die Quote der jungen Menschenohne Berufsabschluss; zugleich ist die Studienanfänger-quote gestiegen.Das kommt nicht von ungefähr. Wir machen politischja auch wirklich eine Menge, vom Kitaausbau über Pro-gramme für berufliche Bildung bis hin zu Hochschul-pakt, BAföG, Anerkennungsgesetz usw. usf. Das sindwichtige Maßnahmen, die wir hier auf den Weg gebrachtund finanziert haben, meine sehr verehrten Damen undHerren.
Ich sage ausdrücklich, dass das nicht nur das Ver-dienst dieser Koalition ist, sondern dass es auf den Leis-tungen der vergangenen Koalitionen aufbaut: seit 1998Rot-Grün bis heute. Das sind gemeinsame Erfolge vonvielen, die mitgeholfen haben und bei denen ich mich andieser Stelle auch einmal herzlich bedanken möchte.
Aber es ist richtig: Wir können uns nicht ausruhen, esist nicht alles im Lot, es sind noch nicht alle Ziele derBildungsrepublik Deutschland erreicht. Ich kann dasjetzt nicht alles aufblättern; deshalb nur ein paar Stich-worte.Fachkräfte aus dem Ausland: Wir müssen – da hat derKollege Beck ja recht – viel schneller als bislang Flücht-linge und Asylbewerber in Sprach- und Integrations-kurse bringen.
Sicherlich werden dann einige auch bald wieder wegsein; dann haben sie ein wenig Deutsch gelernt, und dasist ja auch nicht verkehrt. Aber viele werden lange blei-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 8939
Swen Schulz
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ben. Da dürfen wir nicht Monate vertrödeln, bis sie An-gebote bekommen.
Dann das Anerkennungsgesetz: Das ist ein guter, einüberfälliger Schritt gewesen, der dann doch etwas zag-haft ausgefallen ist. Das sehen wir an den insgesamtniedrigen Zahlen, jedenfalls gemessen an den Erwartun-gen. Wir brauchen einen Rechtsanspruch auf Beratung,niedrigere Verfahrensgebühren und Hilfe bei den Anpas-sungsqualifizierungen.
Wir wollen das Anerkennungsgesetz zu einem vollen Er-folg machen; aber das gelingt nur, wenn wir die Men-schen stärker unterstützen.Weiter brauchen wir tatsächlich endlich ein Zuwande-rungsgesetz,
schon um ein Zeichen zu setzen, dass wir Menschen ausdem Ausland willkommen heißen.Aber es geht natürlich nicht nur um Zuwanderung,sondern mindestens genauso dringend um die Men-schen, die schon hier leben. Die berufliche Bildung mussweiter unterstützt werden. Sie ist nicht weniger wichtigals akademische Bildung, meine sehr verehrten Damenund Herren.
Darum sage ich: Es war richtig, das BAföG zu erhöhen.Aber es gehört dazu, dann im Gleichschritt auch dasMeister-BAföG für die berufliche Qualifizierung zu stär-ken.
Das ist leider in der Finanzplanung der Bundesregierungnoch nicht enthalten. Wir werden dazu mit dem Finanz-minister reden und eine Lösung finden. Wir wollen dieberufliche Bildung nicht schlechter behandeln als dieakademische.
Eine der wichtigsten Maßnahmen zur Gewinnung vonFachkräften überhaupt ist die Investition in die vorschu-lische Bildung und Betreuung; das sagen alle wissen-schaftlichen Studien. Angebot und Qualität der Kitasmüssen stimmen, damit erstens Familie und Beruf ver-einbar sind und zweitens die Kinder gefördert werdenund von Anfang an Chancen erhalten. Wir machen daviel; aber auch hier geht mehr, trotz der 100 Millionenzusätzlich im Nachtragshaushalt. So gibt es, wie ich ausvielen Gesprächen mit Eltern weiß, zu wenig Angeboteder Kinderbetreuung zu ungewöhnlichen Zeiten, auchdie Qualität der vorschulischen Bildung kann weiterhindeutlich verbessert werden. In den Kitas werden dieGrundlagen gelegt, und wir behandeln sie trotzdem einStück weit stiefmütterlich. Das müssen wir ändern.
Ein letztes Wort zu den Schulen. Wir haben bislangleider nicht die nötige Mehrheit gefunden, um dasKooperationsverbot von Bund und Ländern aus demGrundgesetz zu streichen. Dabei würde genau das hel-fen, alle Kräfte zur Verbesserung der Schulen zu bün-deln. Aber auch das wird kommen. Auf diesen Tag freueich mich heute schon.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Schulz. – Nächster Redner in
der Debatte: Dr. Carsten Linnemann für die CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn mansich die Zahlen für das Jahr 2015 und die Prognostikaanschaut, dann stellt man fest, dass die Prognosen sehrunterschiedlich sind. Die Werte sind sehr volatil, mandenke an den Ölpreis und an den Wechselkurs. Aber indem Moment, in dem wir über Demografie reden, auchin Bezug auf die nächsten 10, 15 Jahre, stellen wir fest:Die Zahlen sind sehr viel plausibler, die Prognosen sindsehr viel genauer, weil wir beispielsweise heute schonwissen, wer in 15 Jahren in die Ausbildung geht.Deshalb ist es richtig, dass wir uns jetzt und in denfolgenden Jahren mit dem Thema Demografie beschäfti-gen; denn uns werden im Jahre 2030 allein aus demogra-fischen Gründen 4, 5 oder 6 Millionen Erwerbstätigefehlen.Es ist richtig: Wir haben keinen akuten, flächende-ckenden Fachkräftemangel. In der im Fortschrittsberichtgenannten Studie sind 19 Branchen identifiziert worden,in denen es jetzt Engpässe gibt: Gesundheitsbereich,Pflegebereich, Ingenieurwesen, Maschinenbau, Anla-genbau usw. Wir haben viel über Zuwanderung gehörtund über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Aberlassen Sie mich auf zwei Themen eingehen, die viel-leicht ein bisschen zu kurz gekommen sind, FrauKrellmann: Das sind zum einen die Jüngeren, und viel-leicht sollte man auch noch einmal über die Älteren re-den.Erstens. Ich glaube nicht, dass die Mittelständler oderdie Unternehmer verantwortungslos sind, wenn sie nachFachkräften oder nach Auszubildenden suchen. Viel-mehr stehen wir in der Verantwortung, die jungenMenschen ausbildungsfähig zu machen und mitzuhelfen,dass sie ausbildungsfähig sind. Nur so wird meiner Mei-nung nach ein Schuh daraus und nicht andersherum.
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8940 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
Dr. Carsten Linnemann
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Zweitens. Es bereitet uns allen Sorgen, dass die dualeAusbildung seit Monaten, seit Jahren abnimmt. Ich binsogar der Meinung, man sollte nicht nur darüber reden,dass wir am Meisterbrief festhalten – auch das ist einThema, das noch nicht angesprochen wurde –, sondernwir sollten vielleicht auch darüber reden, dass wir indem einen oder anderen Gewerk den Meisterbrief wiedereinführen;
denn der Meisterbrief hängt unmittelbar mit der dualenAusbildung zusammen. Genau in den Bereichen, in de-nen wir den Meisterbrief abgeschafft haben, gibt eskaum noch duale Ausbildung, sie geht zurück. Klar, derMeisterbrief sichert die Qualität im Betrieb. Aber es istwichtig, dass jungen Menschen durch den dualen Aus-bildungszweig ein Karriereweg eröffnet wird. Wir brau-chen Auszubildende und Akademiker und nicht nurAkademiker.
Apropos Akademiker. Ich habe gerade mit einerKollegin gesprochen, die im Forschungsministeriumarbeitet. 28 Prozent der Studierenden, die heute einStudium beginnen, brechen dieses Studium ab. Das mussuns zu denken geben.
Deshalb freue ich mich, dass die Bundesregierung mitgutem Beispiel vorangeht und sagt: Wir bringen Projekteauf den Weg, dass wir es schaffen, einfach, schnell,zielgerichtet und unbürokratisch den Weg für Studie-rende, die ihr Studium abgebrochen haben, in die dualeAusbildung zu ebnen.
Zum Schluss noch kurz zu den Älteren. Die Erwerbs-tätigenquote steigt, ja, aber ein Punkt fehlt in diesemFortschrittsbericht – wir werden in wenigen Jahrensowieso über diesen Punkt reden; ich glaube, wir müssenjetzt schon über diesen Punkt reden –, und das sinddiejenigen, die das gesetzliche Rentenalter erreichen,aber freiwillig weiterarbeiten möchten. Das sind inDeutschland 8 Prozent, in der Regel Selbstständige oder450-Euro-Jobber. Es gibt aber viele, die gern sozialversi-cherungspflichtig weiterarbeiten wollen. In anderenLändern ist der Prozentsatz höher: In der Schweiz bei-spielsweise macht das jeder Fünfte, in Norwegen sogarjeder Vierte. Bei uns sind es nur 8 Prozent. Deswegenglaube ich – das ist meine feste Überzeugung –: Wirwerden den demografischen Wandel nur meistern kön-nen, wenn wir nicht nur den Umstand im Blick haben,dass die Menschen älter werden, sondern wenn wir auchden Umstand im Blick haben, dass die Menschen im Al-ter – zumindest viele – fit bleiben. Deshalb, glaube ich,ist die Debatte um die Flexirente richtig. Wir wollen die-sen Mentalitätswandel selbst gestalten. Es ist richtig,dass in Zukunft befristete Arbeitsverträge erlaubt sind,wenn man freiwillig länger arbeitet.
Deshalb glaube ich, dass das der richtige Weg ist. DiesenMentalitätswandel brauchen wir. Die Brechstangenpoli-tik funktioniert nicht. Wir müssen jetzt die Türen undTore für diejenigen öffnen, die länger arbeiten könnenund die es auch wollen. Diese Debatte brauchen wir jetztund nicht erst in 5, 10 oder 15 Jahren.Herzlichen Dank.
Vielen herzlichen Dank, Herr Dr. Linnemann. –
Letzter Redner in dieser Debatte: Uwe Lagosky für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Branchen- und regionalspezifisch bestehtFachkräftebedarf. 2011 verabschiedete die Bundesregie-rung – das haben wir hier heute schon gehört – das Fach-kräftesicherungskonzept, damals noch unter Ursula vonder Leyen. Hierzu wird auch der Fortschrittsbericht er-stellt. Das Konzept wird sicherlich auch mit der aktuel-len Besetzung im Arbeitsministerium in den nächstenJahren weiterentwickelt, weil es eine Grundlage für dieBundesrepublik Deutschland und die Fachkräfte hier imLande bietet.
Es besteht aus fünf Schwerpunkten – wir haben sieschon einmal gehört; aber zwischenzeitlich gab es hiereinen Besucherwechsel, insofern kann man sie hier nocheinmal nennen –: Aktivierung der Beschäftigungssiche-rung, bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Bil-dungschancen für alle von Anfang an, Qualifizierung inder Aus- und Weiterbildung sowie Integration und quali-fizierte Zuwanderung. Der aktuelle Fortschrittsberichtweist in diesen Schwerpunkten in Gänze erneut Verbes-serungen auf.Da die Bundesagentur für Arbeit diese Woche zurWoche der Ausbildung 2015 gemacht hat, konzentriereich mich auf drei Beispiele aus diesem Bereich. Seit2007 sank die Zahl junger Menschen ohne einen Schul-abschluss von 8,2 Prozent auf 5,7 Prozent in 2013. DasZiel einer Weiterbildungsquote von 50 Prozent in denBetrieben wird 2015 mit 49 Prozent nahezu erreicht. DerAnteil von Erwachsenen mit Migrationshintergrund imAlter von 20 bis 29 Jahren ohne qualifizierten Berufs-abschluss, die sich nicht in einer Ausbildung befinden,liegt mit 25,4 Prozent immer noch viel zu hoch, ist aberim Vergleich zu den Vorjahren deutlich niedriger.Qualifizierte Nachwuchskräfte haben für die wirt-schaftliche Entwicklung unseres Landes enorme Bedeu-tung. Darum entfällt auf das Fachkräftekonzept eine
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 8941
Uwe Lagosky
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Reihe von Projekten in der Aus- und Weiterbildung. Wirhaben alle Menschen im Blick und wollen auch denjeni-gen Chancen am Arbeitsmarkt ermöglichen, die bislangnur geringe Chancen haben, sei es durch die Berufsein-stiegsbegleitung, die Leistungsschwächeren beim Über-gang von der Schule in den Beruf helfen soll, oder sei esmit der Initiative Spätstarter für arbeitslose junge Er-wachsene ohne Berufsabschluss. Diese wollen wir füreine abschlussorientierte Qualifizierung gewinnen.Darüber hinaus übernehmen wir als Bund – auch daswurde hier schon angesprochen – die BAföG-Kostenkomplett, und zwar mit dem Ziel, dass die Länder dieseEntlastung in Höhe von 1,17 Milliarden Euro in den Bil-dungsbereich und in die Hochschulen investieren.
Für die Union sind berufliche und akademische Bil-dung gleichwertig. Darum sind wir gut beraten, Jugend-liche auch über die Vorteile der dualen Ausbildung auf-zuklären. Von der politischen zur wirtschaftlichenPerspektive. Laut der DIHK-Befragung Anfang 2014kann jedes vierte Unternehmen offene Stellen für mehrals zwei Monate nicht besetzen. Besonders akut sinddiese Probleme in Westdeutschland, vergleichsweise amgeringsten in Ostdeutschland. 37 Prozent der Unterneh-men sehen ihren wirtschaftlichen Erfolg mangels Fach-kräften gefährdet – kein Wunder, dass die Personalver-antwortlichen der Fachkräftesicherung große Prioritäteinräumen.Durch meine Zeit als Betriebsrat kann ich sagen: Hiergab und gibt es noch eine Menge Potenzial, dasman heben kann: bei der Personalplanung, -beschaffungund -bindung, der Gestaltung der Arbeitsbedingungen,der Mitarbeiterqualifikation, der Sicherung betrieblicherInnovationsfähigkeit und der stetigen Fortentwicklungder Unternehmensattraktivität. Gerade die Rahmen-bedingungen, unter denen gearbeitet wird, sind einwesentlicher Faktor beim Werben um Personal gewor-den. Vereinbarkeit von Familie und Beruf, betrieblicheAltersvorsorge, Arbeitsbedingungen, Mitarbeiterzufrie-denheit, Gesundheitsförderung, Weiterbildungsmöglich-keiten und Aufstiegschancen spielen für die Beschäftig-ten heute eine immer größere Rolle. Auf diesen Feldernkönnen Unternehmen und Firmen durchaus punkten –prinzipiell. Denn natürlich spielen auch die Mobilität derArbeitnehmer und die Frage eine Rolle, was die Region,in die sie ziehen wollen und in der die Arbeitsplätzesind, zu bieten hat.In meinem Wahlkreis, in Salzgitter-Wolfenbüttel, gibtes neben der Stahl- und Chemieindustrie, der Herstel-lung von Fahrzeugen für den Lkw- und Schienenver-kehr, dem Motorenbau und einem die Region prägendenAutomobilhersteller mit Sitz in Wolfsburg zahlreichekleine und mittelständische Unternehmen. Zudem weistdie Region deutschlandweit den höchsten Beschäfti-gungsanteil in Forschung und Entwicklung auf. Umlangfristig zukunftsfähig zu werden und zu bleiben,schlossen sich verschiedene Akteure zur „Allianz für dieRegion“ zusammen. Sie haben erkannt, wie bedeutsames ist, regionale Entwicklungen insgesamt am Arbeits-markt aktiv zu gestalten.Ich komme zum Schluss. Zusammenfassend gesagtträgt die Fachkräftesicherung Früchte. Entscheidend istsie für die Entwicklung unseres Landes. Packen wir esan, sie weiterhin voranzutreiben!Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich schließe damit dieAussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 18/4015 und 18/796 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –Sie sind damit einverstanden. Dann sind die Überwei-sungen so beschlossen.Ich würde Sie bitten, Platz zu nehmen, damit ich dennächsten Tagesordnungspunkt aufrufen kann.Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:Vereinbarte Debattezu den Vorkommnissen in Frankfurt anläss-lich der Einweihung der EZB-ZentraleNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre undsehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort demBundesminister Dr. Thomas de Maizière.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-nern:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Am 18. März 2015 fand von 11 bis 14 Uhr die Feier zurEröffnung des Neubaus der EZB statt. In diesem Zusam-menhang waren zahlreiche Demonstrationen angemeldetworden. Bereits im Vorfeld konnten an den Grenzenzahlreiche Veranstaltungsteilnehmer festgestellt wer-den, welche aus der Schweiz, den Niederlanden, Däne-mark, Griechenland und Italien anreisten. In einem Rei-sebus aus den Niederlanden wurden Gegenstände, dieals Wurfgeschosse genutzt werden können, sowieSchlagwerkzeuge beschlagnahmt. Bereits in der Anrei-sephase am frühen Morgen stellte die Bundespolizeimassive Gleisüberschreitungen von bis zu 400 Personenfest, welche durch Einsatzkräfte unterbunden wurden.Im Zusammenhang mit den angemeldeten Versamm-lungen und Aufzügen kam es im Stadtgebiet zu massi-ven Ausschreitungen. Seit 5.30 Uhr waren mehrere grö-ßere gewalttätige Gruppen im Stadtgebiet unterwegs.Mehrere Straßen und Brücken wurden zeitweise blo-ckiert und Barrikaden errichtet, die teilweise in Brandgesetzt wurden. Es kam zu massiven Angriffen auf Poli-zeibeamte, mit Steinen und Pyrotechnik. Darüber hinauserfolgten zahlreiche Inbrandsetzungen von Fahrzeugen,darunter auch Einsatzfahrzeuge der Polizei.
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8942 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
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Teilweise verfügten die gewalttätigen Demonstrantenüber Schutzbewaffnung. Etwa 80 Einsatzkräfte wurdendurch die Freisetzung von ätzenden Flüssigkeiten bzw.Reizgasen verletzt. Die Störer setzten in der FolgeSchutzmasken auf und schützten sich vor den Gasen. Eserfolgte auch ein Angriff auf die Polizeistation. Die Poli-zei setzte mehrfach Wasserwerfer und Pfefferspray zurLageberuhigung ein. Einsatzkräfte der Feuerwehr wur-den bei den Löscharbeiten durch Störer massiv behindertund mit Steinen attackiert.Meine Damen und Herren, das ist die nüchterne Spra-che eines Polizeiberichts. Faktisch war es viel schlim-mer. Die Gewalttäter haben gestern eine Schneise derVerwüstung durch die Frankfurter Innenstadt gezogen:Autos brannten, Blockaden wurden errichtet, dunkleRauchsäulen stiegen in den Himmel. Am 1. Polizeirevierzündeten Vermummte drei Streifenwagen an und warfenPflastersteine auf das Polizeigebäude. Pflastersteinewurden gezielt auf Polizisten geworfen. Die Gewalt hatgestern ein Ausmaß erreicht, wie es zumindest Frankfurtnoch nie erlebt hat.Mich hat vor allem das Ausmaß der Verrohung, diewir gestern erlebt haben, tief erschüttert. Die vorläufigeBilanz ist verheerend: 150 Polizeibeamte wurden ver-letzt, einige davon schwer; 55 beschädigte Dienstfahr-zeuge, 7 weitere in Brand gesetzt; eine Polizeistationwurde angegriffen; mehrere U-Bahnen wurden „ent-glast“ – das ist so ein Ausdruck aus der Szene, den ichschon empörend finde. 293 Platzverweise wurden erteilt.Gegen 26 Personen wurden Strafverfahren eingeleitet.Die Gewalttäter machten auch vor gänzlich Unbetei-ligten nicht Halt: Zahlreiche Ladengeschäfte, Arztpra-xen, Wohnhäuser wurden demoliert. Der öffentlicheNahverkehr musste komplett eingestellt werden. Selbstvor einer Unterkunft für minderjährige Flüchtlinge – ei-nem Kolpinghaus – hat die blinde Zerstörungswut derRandalierer nicht haltgemacht. Hier findet Gewalt nurnoch um der Gewalt willen statt, von politischer Aus-einandersetzung kann da überhaupt nicht mehr die Redesein.
Gezielte Stein- und Flaschenwürfe auf Polizeibeamte,brennende Fahrzeuge und Straßenbarrikaden haben mitDemonstrationsfreiheit nichts mehr zu tun.
Diesen Gewalttätern fehlt jeder Respekt vor Leben oderGesundheit. Polizistinnen und Polizisten werden von ih-nen entmenschlicht, zu Hassobjekten gemacht. Wer sohandelt, missbraucht seine Freiheitsrechte und über-schreitet ganz klar die Grenze, die wir im Rechtsstaat be-reit sind zu tolerieren.
Aber damit nicht genug: Das katastrophale Gesche-hen ist gestern auch noch öffentlich gerechtfertigt undverharmlost worden.
Ein junger Gewerkschafter aus dem Südwesten relati-viert das Geschehen – ich zitiere –: Die symbolische Ge-walt – „symbolische“ Gewalt! –, für die ein Auto inFlammen steht, ist doch nichts verglichen mit der struk-turellen Gewalt unseres Wirtschaftssystems.
Ich kenne diese Sprache, aus den 70er-Jahren; siekommt mir sehr bekannt vor.Selbst Verständnis für die Randalierer wurde einge-fordert. Der Blockupy-Sprecher Christoph Kleine kriti-sierte den – ich zitiere – massiven Polizeieinsatz, denEinsatz von Schlagstöcken und Tränengas. – Selbst dasist nicht alles: Man müsse, so sagt er, eine andere Ge-schichte erzählen: die Geschichte der Menschen, die denMut gehabt hätten, sich diesem Gewaltapparat auszuset-zen. – Das ist absolut inakzeptabel, meine Damen undHerren.
Solche Äußerungen kommen auch aus dem politi-schen Bereich. Wenn da etwa eine Politikerin der ParteiDie Linke die gestrigen Krawalle mit dem Maidan inKiew vergleicht, macht mich das fassungslos. Solidaritätist hier wirklich fehl am Platz.
Ich erwarte von den Linken hier und heute – FrauKipping hat auch eine, wie ich finde, problematischeÄußerung getätigt, die vielleicht aus dem Zusammen-hang gerissen war – eine klare und unmissverständlicheDistanzierung von dieser Gewalt und jeder Art von Ver-harmlosung – ohne jede Hintertür.
Das gilt auch für die Organisatoren des Blockupy-Bünd-nisses. Auch sie sind mitverantwortlich für das, was ges-tern geschehen ist. Diese Verantwortung muss hier klarbenannt werden.Das Blockupy-Bündnis beruft sich nun offiziell da-rauf, dass die gewalttätigen Ausschreitungen nicht Teilder Planung waren. Ulrich Wilken, hessischer Landtags-abgeordneter der Linkspartei und Anmelder der Proteste,sagte, er sei betrübt, er habe sich den Mittwochvormittaganders gewünscht. Andererseits habe er aber auch gro-ßes Verständnis für die Wut der Menschen, die von der
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 8943
Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
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Verelendungspolitik der EZB betroffen seien. – Ich sageIhnen: Das war keine spontane Wut, das war seit Mona-ten geplante, kühl kalkulierte Gewalt.
Wir haben aus Lautsprecherwagen vor Demonstran-ten Musik mit folgendem Textteil gehört – die hat mannicht spontan dabei, sondern die wird mitgebracht – ichzitiere –: „Wir sind kampfbereit, bis an die Zähne be-waffnet.“ Wenn man so Demonstranten beschallt, dannmuss man sich über die Reaktionen nicht wundern.Auch die Beschwichtigungsversuche der Blockupy-Organisatoren vor Ort sprechen ihre eigene Sprache. Ichzitiere einen Lautsprecherspruch:Hört auf, mit Gegenständen zu werfen, das trifft un-ter Umständen die eigenen Leute in den vorderenReihen.Das verschlägt mir die Sprache.
Der gestrige Gewaltexzess kam nicht aus heiteremHimmel. Die Sicherheitsbehörden hatten seit langemHinweise darauf, dass die linke Szene diesen Anlass nut-zen will, um Gewalt auszuüben.
Auch das Ausmaß der Gewalt spricht dafür, dass solcheAktionen seit langem geplant waren. Deswegen könnendie Veranstalter heute auch nicht so tun, als hätten siedas überhaupt nicht gewusst.Schon der Name „Blockupy“ verheißt nichts Friedli-ches. Das ist eine Kombination eines deutschen und ei-nes englischen Wortes, eine Kombination aus „Blockie-ren“ und „Besetzen“. Ich finde, das hat mit friedlicherDemonstration ziemlich wenig zu tun.
Meine Damen und Herren, wir leben in einer wehr-haften Demokratie. Das heißt, dass sich unser Staat ver-teidigen darf und verteidigen muss, wenn er und seineBürger angegriffen werden. Wenn ein Auto angezündetwird, in dem zwei Polizisten sitzen, dann reden wir nichtüber Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte oder überWutbürger,
sondern vielmehr mindestens von versuchtem Totschlag.
Der Tod von Polizisten wird hier billigend in Kauf ge-nommen.Jeder dieser Angriffe war ein Angriff auf unserenRechtsstaat, auf jeden Bürger dieses Landes.
Alle, die sich dabei missbräuchlich auf Freiheitsrechteberufen, müssen mit der vollen Härte des Rechtsstaatesrechnen. Als Mitglieder des Deutschen Bundestages– das sind wir alle hier – ist es heute an uns, jedem Ver-such der Rechtfertigung von allen Fraktionen eine klareund unmissverständliche Absage zu erteilen.
Das sollte uns eine Lehre für zukünftige Ereignisse, wieG-7-Treffen oder anderes, sein.Wehret den Anfängen! Verharmlost nicht Gewalt!Macht nicht gemeinsame Sache mit Gewalttätern! Bietetihnen keinen Schutz! Rechtfertigt es nicht! Es gibt in un-serer Demokratie, aus welchem sozialen Protest herausund aus welchem Grund auch immer, keinen einzigenGrund, Gewalt anzuwenden – gegen nichts und nieman-den. Das muss Konsens in diesem Hause sein.
Ich will mit einem Dank und anerkennenden Wortenan alle eingesetzten Polizisten, Feuerwehrleute, THW-Helfer und anderen Rettungskräfte schließen. DieBundespolizei hat allein im Bereich der Bahnpolizei1 000 Polizeibeamte eingesetzt. Die Polizei des LandesHessen wurde von insgesamt über 5 000 Polizisten ausnahezu allen Bundesländern unterstützt. Hinzu kamen700 Kräfte der Bundespolizei. Noch während des Einsat-zes wurden weitere Unterstützungskräfte aus dem ge-samten Bundesgebiet mobilisiert.Meine Gedanken sind bei den Polizisten von Bundund Ländern, die unter Einsatz von Leib und Leben nichtnur die EZB, sondern vor allem auch die Bürgerinnenund Bürger in Frankfurt geschützt haben. Meine beson-dere Anteilnahme gilt den zahlreichen verletzten Polizis-ten und ihren Angehörigen.
Wir alle haben die Bilder von gestern im Kopf. Wirsind uns hoffentlich parteiübergreifend einig: Wir ver-langen verdammt viel von unseren Polizistinnen undPolizisten. Sie verdienen unseren Respekt und unsereAnerkennung für die Arbeit, die sie für uns alle und un-seren Rechtsstaat leisten.Vielen Dank.
Vielen Dank, Dr. de Maizière. – Das Wort zu einerKurzintervention hat die Abgeordnete Heike Hänsel.
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8944 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
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Danke, Frau Präsidentin! – Herr Innenminister, Sie
haben indirekt meinen gestrigen Tweet erwähnt und
eben nicht im Original zitiert. Deshalb möchte ich das
tun, weil Sie ihn interpretiert haben, wie so viele in der
Presse.
Ich habe wortwörtlich geschrieben:
Stimmungsmache der Presse gegen #Blockupy#.
Auf dem Maidan in Kiew waren Rauchschwaden
für die Presse Zeichen der Freiheitsbewegung!
Hier kommen wir nämlich zu einer grundsätzlichen
Diskussion.
– Könnten Sie bitte zur Ruhe kommen?
Liebe Kollegen, lassen Sie doch Frau Hänsel ihre
Rede beenden.
Das ist sehr bezeichnend für Ihr demokratisches
Grundverständnis.
Ich habe die Berichterstattung über Gewaltanwendung
verglichen. Hier gibt es eben Doppelstandards.
Sie erinnern sich alle: Auf dem Maidan in Kiew wur-
den brennende Barrikaden gebaut.
Es gab Schlägertrupps des rechten Sektors, die mit Stö-
cken gegen die Polizei vorgingen. Häuser wurden in
Brand gesetzt. Politiker der CDU und der Grünen sind
dort hingefahren. Die Presse hat darüber berichtet und
diese Gewalt verharmlost.
Das sind Doppelstandards in der Berichterstattung über
Gewalt.
Das geht nicht. Die Empörung, die Sie hier äußern, ist
nicht glaubwürdig, weil Sie selbst diese Doppelstan-
dards haben.
Ich kann nur sagen: Ich lehne die Gewalt in Frankfurt
ab,
wenn sie von Demonstranten und Demonstrantinnen
ausgeht, ich lehne sie in Kiew ab.
Ich lehne auch die Gewalt von Polizisten gegenüber De-
monstranten ab. Über 200 Demonstrantinnen und De-
monstranten sind verletzt.
– Lieber Herr Kauder, ich an Ihrer Stelle würde ruhig
sein. Im Rahmen von Stuttgart 21 wurde der ehemalige
Polizeipräsident zu einer Geldstrafe verurteilt,
weil er für den Einsatz von Gewalt verantwortlich war.
Also müssen wir generell über Gewalt sprechen und sie
ablehnen,
nicht nur Gewalt von einer Seite. Wir müssen jede Form
von Gewalt verurteilen, nicht nur die von einer Seite.
Herr Dr. de Maizière, Sie haben die Möglichkeit, da-rauf drei Minuten lang zu antworten.Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-nern:Frau Abgeordnete, Sie selbst haben mit Ihrer Kurz-intervention sämtliche Vorwürfe, die ich vorgetragenhabe, bestätigt.
Das spricht für sich. Ich muss mich hier nicht wiederho-len.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 8945
Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
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Aber eins muss ich als Bundesinnenminister und si-cher auch im Namen aller Innenminister der Länderwirklich sagen: Dass Sie hier so tun, als würden Polizei-beamte, wenn sie die Demonstrationsfreiheit sichern, un-gerechtfertigt Gewalt anwenden, weise ich für allePolizistinnen und Polizisten dieses Landes zurück.
Letzte Rednerin in der Debatte: Katja Kipping für die
Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ichdenke, es ist gut, dass wir uns heute die Zeit nehmen, umüber die gestrigen Ereignisse zu reden, und ich möchteaus Sicht der Linken dazu Folgendes sagen: Jeder Ver-letzte – und das gilt gleichermaßen für Verletzte aufsei-ten der Polizei wie für Verletzte aufseiten des Protestes –ist ein Verletzter zu viel. Unsere Anteilnahme gilt allenVerletzten.
Das Aktionsbündnis Blockupy hatte sich auf einenAktionskonsens verständigt. Dieser sah ausdrücklichvor, dass von den Massenblockaden keine Eskalationausgeht. Leider haben sich nicht alle, die gestern nachFrankfurt kamen, an diesen Konsens gehalten. WennAutos angezündet und Wartehäuschen demoliert werden,fehlt mir dafür jedes Verständnis, und das war auch nichtTeil der Massenblockaden, zu denen Blockupy aufgeru-fen hat.
Diese Demonstranten – das bewerte ich im Ansatz an-ders als Sie, Herr de Maizière – sollten vielmehr mitMitteln des zivilen Ungehorsams, aber gewaltfrei die Er-öffnung der EZB symbolisch blockieren, auch in demBewusstsein, dass die Blockierer wahrscheinlich wegge-tragen werden oder man rechtlich gegen sie vorgeht.Solche Blockaden haben in diesem Land eine längereTradition.
Denken wir nur an Heinrich Böll, der 1983 in Mutlangenauf einem Hocker saß und weggetragen wurde, als ersich an einer Sitzblockade gegen die Stationierung derPershing-II-Raketen beteiligte.
Oder denken wir an die Blockaden anlässlich vonCastortransporten, an denen beispielhaft bei einzelnenAtommülltransporten für den Ausstieg aus der Atom-energie geworben wurde. Am Ende hat der Bundestagsich diesem Ziel angeschlossen. Ohne die mutige Anti-atombewegung wären wir vielleicht nicht so schnell zudieser Erkenntnis gekommen.
Gemeinsam mit vielen Kolleginnen und Kollegen warich gestern als parlamentarische Beobachterin bei denBlockupy-Protesten dabei. Wir haben uns vielerorts fürDeeskalation eingesetzt.
– Wissen Sie, natürlich war die Linke dabei, und glaubenSie nur eine Minute lang, es wäre besser gewesen, wennwir uns nicht für Deeskalation eingesetzt hätten?
Wir haben außerdem gestern über den gesamten Tageinen deutlich anderen Eindruck von den Protesten ge-winnen können. Der übergroße Teil der Menschen, diegestern nach Frankfurt kamen, wollte entschieden, abergewaltfrei gegen Austerität und für ein anderes Europademonstrieren. Davon zeugten viele selbst gemalte in-haltliche Schilder, Reden auf Kundgebungen, Straßen-theateraktionen und ja, am Ende eine friedliche Demon-stration von 20 000 Menschen.
Ziel war, angesichts der EZB deutlich zu machen,dass die Eröffnung des Luxusbaus kein Grund zum Fei-ern, sondern zum Protestieren ist. Für diesen Protest gibtes gute inhaltliche Gründe, und über diese Gründe ge-hört gesprochen; denn sie waren das Verbindende beiden Blockupy-Protesten.Die EZB steht als ein Teil der Troika für die bisherigeKrisenpolitik. Gestern berichteten viele junge Menschenaus Krisenländern von den verheerenden Folgen derTroika-Politik. So erzählte ein Podemos-Mitglied davon,dass es infolge der Krisenpolitik in Spanien zu 1 MillionZwangsräumungen gekommen ist. Das heißt, 1 MillionFamilien, darunter viele Familien mit Kindern, müssensich jetzt ohne eine sichere Bleibe durchs Leben schla-gen.Ja, Austerität heißt für viele Menschen in den Krisen-ländern unsoziale Verarmungspolitik und wird somit zurmateriellen Gewalt.
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8946 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
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Frau Kipping, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
-bemerkung des Kollegen Weiler von der CDU/CSU-
Fraktion?
Gerne.
Herr Weiler, bitte.
Frau Kipping, eine „parlamentarische Beobachtungs-
gruppe“ – das gibt mir jetzt ein bisschen zu denken. Eine
parlamentarische Beobachtungsgruppe hat für mich ei-
nen offiziellen Anschein. Können Sie mir die Frage be-
antworten, ob der Parlamentspräsident oder einer seiner
Stellvertreter Sie als parlamentarische Beobachtungs-
gruppe beauftragt hat, diese Demonstration zu beobach-
ten?
Wir hatten gestern Plenartag. Das heißt, der Abgeord-
nete ist eigentlich verpflichtet, dem Plenum beizuwoh-
nen. Sie aber fahren nach Frankfurt und schauen dort
während eines Plenartages den Demonstrationen zu.
Ich gehe davon aus, dass Sie dem Plenum nicht bei-
wohnen konnten, weil Sie in Frankfurt den Demonstra-
tionen zugeschaut haben. Jetzt noch einmal die Frage:
War das von einem der Parlamentspräsidenten geneh-
migt? Ich möchte nicht haben, dass so etwas einen öf-
fentlichen Anstrich hat, wenn es eigentlich doch nicht
öffentlich ist.
Frau Kipping, bitte zur Antwort.
Schon Ihre Frage ist bezeichnend, wie viele Aussa-
gen, die wir getroffen haben, von Ihnen auch vollkom-
men verzerrt wiedergegeben werden. Wir sind nicht als
eine parlamentarische Gruppe hingegangen, sondern wir
haben uns als gewählte Parlamentarier – –
Ich habe gesagt – hören Sie mir doch mal zu –, wir wa-
ren als parlamentarische Beobachterinnen unterwegs,
und als gewählte Parlamentarier ist es unser Recht, das
Gespräch mit Menschen zu suchen. Ich weiß, dass ges-
tern viele Leute auf uns zugekommen sind, wenn sie uns
in den Westen erkannt haben; sie waren froh, dass sie In-
formationen loswerden konnten, wo es Probleme gab,
etc. Wir haben natürlich versucht, in Situationen, in de-
nen es eskalierte, zu vermitteln, um weitere Verletzte zu
vermeiden.
Auf jeden Fall haben wir uns über den gesamten Tag
direkt vor Ort einen Eindruck gemacht und sprechen hier
nicht nur unter dem Eindruck von einigen sehr schreckli-
chen Bildern. Ein Plakat mit dem Slogan „Austerität tö-
tet“, wie man es gestern zu sehen bekam, das mag jetzt
nicht jedermanns Geschmack sein. Aber wer einmal ge-
hört hat, wie sehr die Selbstmordversuche von Jugendli-
chen in Griechenland im Zuge der Kürzungsauflagen
zugenommen haben, der versteht vielleicht die Ver-
zweiflung hinter diesen Worten.
Die Frage ist nun: Wie gehen wir mit den Blockupy-
Protesten um? Sicherlich kann man die Gewaltübergriffe
einiger nutzen, um die gesamten Proteste zu delegitimie-
ren. Aber wollen wir wirklich einer kleinen Gruppe von
gewalttätigen Trittbrettfahrern die Definitionshoheit
über den Protest von 20 000 Menschen überlassen?
Es gäbe auch die Möglichkeit, sich für einen anderen
Umgang zu entscheiden. Wie wäre es damit, hinzuhören,
was junge Menschen aus den Krisenländern zu berichten
haben? Vielleicht könnte man beim Hinschauen wahr-
nehmen, dass sich diese Proteste eben nicht auf einige
schreckliche Bilder reduzieren lassen, sondern dass eine
neue Generation in Europa auftritt, die sich klar gegen
Rassismus und gegen Nationalismus ausspricht, und
dass da eine neue Generation heranwächst, die aus tiefs-
ter innerer Überzeugung Europa als grenzüberschreiten-
des Projekt leben möchte, die aber unter den Auswirkun-
gen der herrschenden Europapolitik leidet.
Sie müssen das heute nicht eingestehen. Ich glaube,
Sie haben für die heutige Debatte ein anderes Drehbuch
im Kopf. Aber vielleicht könnte, wenn man bei den Be-
richten aus den Krisenländern hinhört, bei dem einen
oder anderen ja doch die Erkenntnis wachsen, dass sich
ein Weiter-so in Europa verbietet. Vielleicht könnte die
Erkenntnis wachsen, dass Europa nur eine Chance hat,
wenn es wirklich sozial und demokratisch wird.
Vielen Dank.
Danke, Frau Kollegin Kipping. – Nächster Redner in
der Debatte ist Johannes Kahrs für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich glaube, dass der Bundesinnenminister hiereben ganz klar gesagt hat, was man von dem gewalttäti-gen Teil der Demonstration zu halten hat. Gewalt ist keinMittel der politischen Auseinandersetzung. Das, was dagestern in Frankfurt gelaufen ist, war inakzeptabel. Ir-gendwelche irren Vollpfosten, die Gewalt gegen Polizis-ten, gegen Sanitäter, gegen das THW und andereausüben, sind nicht diejenigen, die wir inhaltlich undpolitisch ernst nehmen müssen. Das sind schlicht undeinfach Zustände, die wir nicht akzeptieren. Diese Men-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 8947
Johannes Kahrs
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schen sind ein Fall für die Justiz. Ich meine, dass sie ent-sprechend der Justiz zugeführt werden sollten.
Selbstverständlich gebührt unser Dank auch all denje-nigen, die da gestanden und dafür gesorgt haben, dassdiese wehrhafte Demokratie auch wirklich wehrhaft istund dass die Menschen, die dort waren, die Anwohnerund andere, geschützt worden sind.Ich halte das alles für inakzeptabel. Wer das gesternverfolgt hat, weiß, dass man so etwas in Deutschlandweder dulden noch unterstützen sollte. Deswegen ist das,was die Linke in den letzten Tagen zu diesem Themazum Besten gegeben hat – heute konnten wir das teil-weise auch wieder hören, obwohl man merkt, dass ihreAbgeordneten zurückrudern –, einfach nur peinlich. Ichglaube, dass wir alle wissen, wie ihr Verhältnis zur Ge-walt ist. Man weiß ja, mit wem sie ansonsten demon-strieren.
Deswegen ist das für uns kein Anlass, darüber nachzu-denken, ob die Politik falsch ist. Vielmehr ist es schlichtund einfach so, dass wir alle wissen, dass das, was ges-tern Vormittag gelaufen ist, in einem demokratischenRechtsstaat schlichtweg nicht akzeptabel ist.
Gleichzeitig ist es natürlich so, dass es vollkommen inOrdnung ist, wenn Zehntausende von Menschen fried-lich demonstrieren wollen. Man kann, was die EZB an-geht, was die Politik in Europa angeht, durchaus geteilterMeinung sein; das ist vollkommen in Ordnung. Jeder-mann kann dazu aufrufen, zu demonstrieren. Jeder kanndemonstrieren.Wenn Blockupy so eine Demonstration organisiert,dann ist diese Organisation auch mit dafür verantwort-lich, wie sie abläuft. Dann sind natürlich auch diejeni-gen, die dazu aufgerufen haben, mit dafür verantwort-lich, wie es abläuft. Deswegen kann man diesem Vereineigentlich nur noch empfehlen, sich aufzulösen.
Im Ergebnis ist es so, dass dort gegen eine Politik de-monstriert worden ist, gegen die man demonstrierenkann. Aber man muss auch dazusagen, dass die EZBvielleicht der falsche Buhmann ist. Vielleicht kann maneinmal kurz auf die Sachebene gehen. Es ist so, dass dieZinsen im Euro-Raum auf einem historischen Tiefst-stand sind. Die Renditen für Staatsanleihen der Euro-Staaten sind wieder gesunken. Das kann man differen-ziert bewerten; aber eins ist klar: Der Spardruck in denKrisenländern wäre noch viel höher gewesen, wenn dieEZB nicht für niedrige Zinsen gesorgt hätte. Länder wiePortugal, Spanien, Italien und auch Griechenland hättenviel mehr in ihren Haushalten einsparen müssen, die So-zialleistungen wären deutlich mehr unter Druck gekom-men, wenn die Zinsen nicht so niedrig wären.Wir Deutsche haben immer gewollt, dass die Europäi-sche Zentralbank so ist, wie sie ist: eine starke Zentral-bank nach dem Vorbild der Bundesbank, politisch unab-hängig und mit dem klaren Auftrag, für Preisstabilität zusorgen und die Inflationsrate niedrig zu halten. Das wa-ren die Bedingungen, unter denen wir alle angetretensind; das wollen wir. Wenn man eine Europäische Zen-tralbank haben möchte, die unabhängig ist, dann mussman auch damit leben, dass sie unabhängige Entschei-dungen trifft. Sie können einem gefallen oder eben auchnicht, dagegen kann man gerne auch demonstrieren –aber eben nicht so. Das muss man, glaube ich, unter-scheiden. Da ist ein Hauch geistige Trennschärfe ge-fragt.Das, was gestern Vormittag stattgefunden hat, die un-akzeptable Gewalt, die stattgefunden hat, das, was daauch mit Unterstützung von Blockupy und den Linkengelaufen ist, das geht alles nicht. Das wissen wir. Das ha-ben wir alle mitbekommen. Das ist klar. Dass andere da-gegen demonstrieren, das ist in Ordnung. Jeder hat ir-gendwann einmal gegen irgendetwas demonstriert.Meine erste Demonstration war gegen die Scientologen,die sich in Hamburg breitgemacht haben. Es war einegute Geschichte; das kann man immer machen; es lohntsich.Trotzdem ist es so, dass die Europäische Zentralbankeinen Auftrag hat. Jetzt gegen die Europäische Zentral-bank zu demonstrieren, wenn man gegen die herr-schende Europapolitik vorgehen will, ist völlig absurd.Da gibt es ganz andere, gegen die man demonstrierenkönnte. Man könnte sich zum Beispiel einmal mit derPolitik in den Krisenländern selber auseinandersetzen.Wie ist es zu der Immobilienblase in Spanien gekom-men? Warum sind die Zustände in Griechenland so? Washaben die griechischen Regierungen in den letzten20 Jahren denn veranstaltet? Was haben sie gemacht, da-mit Griechenland in den Euro-Raum kommt? Wie ist eszu der Verschuldung gekommen? Das ist doch nicht dieSchuld der Europäischen Zentralbank oder der Troika.Vielmehr diskutieren wir hier im Deutschen Bundestag,und wir helfen, damit die Folgen dieser Politik geheiltwerden können. Wir helfen solidarisch den anderenStaaten in Europa.Wenn man anderer Meinung ist, ist das vollkommenin Ordnung. Aber das, was die Linke hier veranstaltet,was Blockupy abgezogen hat, was da gestern in Frank-furt gelaufen ist – Gewalt gegen Polizisten, Sanitäter,THW und andere, brennende Polizeiwagen –, das gehtnicht. Solche Vollpfosten gehören nicht auf die Straße;sie gehören vor Gericht.Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Kahrs. – Nächste Redne-rin in der Debatte: Irene Mihalic für Bündnis 90/DieGrünen.
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8948 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Uns alle macht es natürlich fassungslos, dassMenschen, die von sich behaupten, sich für eine bessereWelt einzusetzen, den simplen und stumpfen Weg derGewalt gehen; denn das, was am Ende bleibt, konntenwir eindrucksvoll sehen: Das sind brennende Einsatz-fahrzeuge, zerstörte öffentliche Einrichtungen, viele ver-letzte Menschen in Zivil und in Uniform. Das ist nichtdie Welt, für die wir uns einsetzen. In so einer Weltmöchte ich nicht leben, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Unerträglich ist für mich auch der Zynismus, der zumTeil aufseiten der Veranstalter geäußert wurde:
Man habe das anders geplant, man sei entsetzt und be-stürzt, man habe – jetzt kommt das große Aber – aberauch Verständnis für die Wut und für die Empörung;viele Leute hätten den Polizeieinsatz eben als Provo-kation und als Herausforderung begriffen. Ja, Entschul-digung! Jemandem, der sich so erklärt, kann ich das Be-dauern nicht abnehmen.
Dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von denLinken, den Aufruf von Blockupy mit unterschriebenhaben,
zeigt einfach noch einmal sehr eindrucksvoll, welchesVerhältnis Sie zu Europa haben. Die Europäische Unionals größtes Friedens- und Freiheitsprojekt der letzten70 Jahre
hat sicherlich ganz viele Fehler – da sind wir uns auch inTeilen einig –, sie aber als „autoritäres Regime“ undDeutschland als „Herz der Bestie“ zu bezeichnen, wie indiesem Aufruf geschehen, geht gar nicht.
Was haben denn bitte die Einsatzkräfte mit der Euro-päischen Zentralbank und der Austeritätspolitik zu tun?Sie sind nicht die Wachhunde des Finanzkapitalismus,sondern sie sind Teil unserer Gesellschaft. Polizeibeam-tinnen und Polizeibeamte schützen Menschen, Sachenund Grundrechte wie das hohe Gut der Versammlungs-freiheit. Ihnen gelten unser Dank und unser Respekt,dass sie sich dafür einsetzen.
Wer die Polizei zur Projektionsfläche seines Hassesmacht, bricht dem Finanzmarktkapitalismus im Übrigennicht den geringsten Zacken aus der Krone, trägt aberzerstörerische Gewalt mitten in diese Gesellschaft, liebeKolleginnen und Kollegen.
Natürlich müssen wir uns auch genau ansehen, wieder Polizeieinsatz gelaufen ist, ob das Einsatzkonzeptdas richtige war, ob es auch Fehlverhalten aufseiten derBeamten gegeben hat. Diese Nachbereitung wird statt-finden. Wir müssen auch die Debatte über Ausstattungund Personal bei der Polizei führen – und das auch nichterst seit gestern.
Aber heute geht es darum, scharf und unmissverständ-lich die gewaltsamen Ausschreitungen in Frankfurt zuthematisieren.
Die richtige Botschaft, die von diesen Protesten eigent-lich ausgehen sollte, ist dabei völlig untergegangen, unddas tut mir in der Seele weh;
denn wir brauchen eine friedliche Bewegung, die auchden Mut hat, die verheerende Sparpolitik in Europascharf zu kritisieren, die immer wieder daran erinnert,dass jedes Wirtschaftssystem sich daran messen lassenmuss, ob es den Menschen nützt und nicht umgekehrt,
die dringend darauf pocht, dass in einer Demokratienicht nur Machthaber, sondern vor allem politischeInhalte wählbar bleiben müssen. Weder Banken nochSparzwänge sind der Souverän, sondern es sind die Bür-gerinnen und Bürger, und damit muss sich auch dieseBundesregierung auseinandersetzen.
Diesen wichtigen Zielen wurde durch die gewalttäti-gen Ausschreitungen gestern ein Bärendienst erwiesen.Die Sprecher von Blockupy sollten sich daher nicht nurin lauen Worten von der Gewalt distanzieren, sondernvor allem wirksam dafür sorgen, dass Gruppen, die Ge-walt als legitimes Mittel des Protestes ansehen, nichtTeil eines solchen Bündnisses werden können.
Hier muss ganz klar differenziert werden. Diese Diffe-renzierung müssen wir einfordern.Ich finde, diese Differenzierung kann man aber auchvon Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 8949
Irene Mihalic
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CSU, erwarten. Ich kann mich noch sehr gut an die Ho-gesa-Debatte erinnern – es ist noch nicht so lange her –,die wir im Innenausschuss geführt haben. Da konntenSie gar nicht genug differenzieren. Sie konnten nicht ge-nug differenzieren zwischen den ehrbaren Bürgerinnenund Bürgern, die nur Angst vor dem Salafismus haben,
und den aus Ihrer Sicht einigen wenigen gewaltbereitenHooligans und wenigen Neonazis, die da unterwegs wa-ren.
Und was tun Sie jetzt? Jetzt versuchen Sie, die ge-samte Protestbewegung zu diskreditieren: den Deut-schen Gewerkschaftsbund, Attac und alle demokrati-schen Parteien, die in Frankfurt waren.
Für Sie sind das alles jetzt offenbar gewaltbereite Chao-ten, die das Versammlungsrecht missbrauchen.
– Das erzählen Sie mal den Tausenden Demonstrantin-nen und Demonstranten, die gestern vollkommen fried-lich am Frankfurter Römer an der Kundgebung teilge-nommen haben.
Da kann ich nur sagen: Ganz dünnes Eis, liebe Kollegin-nen und Kollegen.Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Das staatlicheGewaltmonopol – da komme ich auf den Polizeieinsatzzu sprechen – ist eine wichtige Errungenschaft im demo-kratischen Rechtsstaat. Deswegen können Gewalt undmutwillige Zerstörung von Sachen auch nie legitimeMittel von politischen Auseinandersetzungen sein.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Stephan Mayer für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-
ginnen! Sehr geehrte Kollegen! Wir von der CDU/CSU-
Bundestagsfraktion sind entsetzt über das Ausmaß der
Gewalt und insbesondere über den hohen Grad an Pro-
fessionalität und die kriminelle Energie, die wir gestern
anlässlich der Eröffnung des Neubaus der EZB in Frank-
furt am Main erlebt haben. Mittlerweile wird das Aus-
maß dieser Gewaltexzesse immer deutlicher. Es gab
schon lange vor dem gestrigen Tag im Raum Frankfurt
eine deutliche Zunahme an Straftaten, die offensichtlich
im Zusammenhang mit den Blockupy-Protesten standen,
wie etwa eine Brandstiftung mit einem erheblichen
Sachschaden. Es stimmt also nicht, wie manche behaup-
ten, dass sich diese Ausschreitungen gestern zufällig
oder aus einer Laune heraus entwickelt haben. Sie waren
vielmehr von langer Hand geplant.
Kollege Mayer, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-
kung der Kollegin Leidig?
Selbstverständlich. Sehr gerne.
Kollege Mayer, ich möchte Sie fragen, warum dieser
auch aus meiner Sicht völlig inakzeptable Einsatz von
Gewalt, diese Zerstörung, diese Randale, aus Ihrer Sicht
eine so viel größere Bedeutung haben als die vergleich-
bare Gewalt bei anderen Ereignissen. Ich komme des-
halb darauf, weil ich gestern neben zwei Polizeibeamten
stand und der eine zum anderen sagte: Das hier ist ei-
gentlich gar nichts gegen die Hooligans in Berlin. – Das
habe ich überhaupt nicht verstanden, habe jetzt aber
nachgeschaut: Vor drei Tagen gab es in Berlin bei einem
regionalen Fußballspiel wohl mächtige Randale, bei der
143 Polizeibeamte teils schwer verletzt worden sind.
Ich verstehe einfach nicht, warum diese Gewalt gegen
Polizisten hier überhaupt keine Rolle spielt
und warum Sie die Gewalt gegen Polizisten, die in
Frankfurt stattgefunden hat und die ich genauso ablehne
wie Sie, hier sozusagen zum Politikum machen. Das ist
mir nicht klar.
Sehr verehrte Frau Kollegin Leidig, ich weiß garnicht, wie Sie darauf kommen, dass wir die Gewalt ge-gen Polizeibeamte an anderer Stelle relativieren.
Das tun wir in keiner Weise. Die CDU/CSU ist die ein-zige Fraktion, die sich überall und vollumfänglich klargegen jegliche Gewalt gegen Polizeibeamte aussprichtund diese in aller Deutlichkeit verurteilt.
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8950 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
Stephan Mayer
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Ich weiß gar nicht, wie Sie darauf kommen, dass hier dieeine oder andere Gewalttat gegen Polizeibeamte relati-viert wird oder als eher akzeptabel befunden wird als dieGewalttaten, die gestern stattgefunden haben. Wir sindeine wehrhafte Demokratie. Ich möchte Sie fragen, sehrverehrte Frau Kollegin – Sie waren wahrscheinlich ges-tern „parlamentarische Beobachterin“; das ist offenbarein neuer Terminus technicus, der Eingang in unsere Ge-schäftsordnung finden sollte –,
wie Sie überhaupt darauf kommen, dass wir in irgendei-ner Weise Gewalt gegen Polizeibeamte relativieren. Daseine ist nicht besser als das andere.Ich darf bei dieser Gelegenheit auch Ihnen, werteKollegin Mihalic, klar sagen: Ich weiß nicht, wie Siedarauf kommen, dass bei der Befassung des Innenaus-schusses des Deutschen Bundestages mit den Hogesa-Krawallen ein Vertreter der Unionsfraktion zur Differen-zierung aufgerufen hat. Das trifft einfach nicht zu, FrauKollegin Mihalic, in keiner Weise.
Sie verwechseln hier vielleicht Hogesa mit Pegida; dasist meine Mutmaßung.
Im Zusammenhang mit Pegida haben auch Unionskolle-gen immer wieder zu Recht darauf hingewiesen, dassman sehr wohl differenzieren muss. Aber um das nocheinmal klarzumachen: Was Hogesa in Köln veranstaltethat, das war brutale Gewalt, das stand in keiner Weisein Einklang mit unserem Rechtsstaat, das war eineVerrohung ungeahnten Ausmaßes. Das ist in vollemUmfang – hier gibt es in keiner Weise irgendetwas zu re-lativieren – zu verurteilen.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, zuden gestrigen Ausschreitungen: Es gab die Errichtungvon Barrikaden. Es sind zahlreiche Mülltonnen undAutoreifen in Brand gesetzt worden. Insgesamt sind150 Polizeibeamte verletzt worden, zwei davon schwer,die nach wie vor dienstunfähig sind. Es sind insgesamt65 Polizeifahrzeuge beschädigt worden, 7 davon inBrand gesetzt worden. Es kam zu Beschädigungen zahl-reicher Ausrüstungsgegenstände und weiterer Einsatz-mittel. Es gibt also einen immensen Sachschaden, der zuverzeichnen ist. In der Dunkelheit wurden auch noch diePiloten eines Polizeihubschraubers mit Laserpointernattackiert. Es kamen viele weitere Rettungskräfte,Feuerwehrmitarbeiter, aber auch Einsatzkräfte des Tech-nischen Hilfswerks in Bedrängnis. Es gab viele Unbetei-ligte, die schwer verunsichert waren, die bespuckt undbeleidigt wurden. Bei den Polizeibeamten kam es zuzahlreichen Schnittverletzungen und Knöchelverletzun-gen.Das, was sich gestern in Frankfurt ereignet hat, ist fürunsere Demokratie beschämend. Das ist eines modernenRechtsstaates wie Deutschland nicht würdig. Es gilt, inganz deutlicher und unumschränkter Art und Weise klar-zumachen: Wir lassen dies mit uns nicht machen. Wirlassen die Gewalt, die Verrohung und die zunehmendeBrutalität nicht zu. Dem gilt es deutlich Einhalt zu gebie-ten.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, esist das gute Recht von jedermann, sich nach unseremGrundgesetz friedlich und ohne Waffen zu versammeln.Natürlich ist das Versammlungs- und Demonstrations-recht ein zentrales Grundrecht in unserer Demokratie.Aber wenn wir uns die Bilder von Frankfurt vor Augenführen, dann stellt sich die Frage, ob das noch mit denVorstellungen in Einklang zu bringen ist, die die Väterunseres Grundgesetzes von dem Grundrecht aufVersammlungs- und Demonstrationsfreiheit hatten. Wirerkennen, dass dies gestern bedauerlicherweise kein Ein-zelfall war.
Es gibt eine zunehmende Verrohung und eine zuneh-mende Brutalität insbesondere in der Auseinanderset-zung mit Polizeibeamten: gestern in Frankfurt, häufigeraber auch hier in Berlin und andernorts in Deutschland.
Wir sehen, dass dies in keiner Weise zu relativieren undzu erklären ist mit berechtigter Kritik an der EZB, HerrKollege Kahrs, die man durchaus vornehmen kann. Ichwarne davor – um dies klar zu sagen –, dass man mit ei-nem zu starken Strapazieren dieser durchaus möglichenKritik an der EZB oder, wie es die Kollegin Kipping ge-sagt hat, mit dem deutlichen und berechtigten Hinweisdarauf, dass es soziale Missstände in Südeuropa gibt, dieGewalttaten und Gewaltexzesse, die gestern stattgefun-den haben, relativiert. Dem gilt es deutlich entgegen-zutreten. Ich zitiere hier den Sprecher der Blockupy-Bewegung, Frederic Wester, der gestern gesagt hat: Manmuss auch feststellen, dass offensichtlich das Bürger-kriegsszenario, das die Polizei aufgemacht hat, vonvielen Leuten als Herausforderung und Provokationempfunden wurde. – Die große Gefahr besteht darin,dass diese Gewaltexzesse, diese Brutalität, der Gewalt-tourismus, der mittlerweile stattfindet, relativiert werdenund wegen der berechtigten Kritik an anderen Zuständenals durchaus verständlich erachtet werden. Diesem ge-sellschaftlichen Phänomen in Deutschland gilt es entge-genzutreten.Wir stellen in Deutschland fest, dass insbesondere dieAkzeptanz von Polizeibeamten bedauerlicherweise ab-nimmt, dass die Aggression gegenüber Polizeibeamtenzunimmt und der Respekt und die Anerkennung deutlichzurückgehen. Deswegen sind wir als Vertreter desdeutschen Volkes aufgerufen, klarzumachen, dass Poli-zeibeamte, egal ob sie gestern in Frankfurt zum Einsatzkamen oder ob sie anderswo zum Einsatz kommen,
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 8951
Stephan Mayer
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Repräsentanten unseres Staates, Repräsentanten von unsallen sind. Ich möchte an dieser Stelle allen Einsatzkräf-ten, die gestern in Frankfurt waren, in aller Deutlichkeitnamens der Bundestagsfraktion der Union für ihren Ein-satz danken.
Sie standen letzten Endes für uns.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, dieFrage ist jetzt, wie wir mit den Erscheinungen von ges-tern umgehen und welche Schlüsse wir als Politiker da-raus ziehen. Zum einen bin ich der festen Überzeugung,dass es – neben einem klaren Bekenntnis zur Arbeit derPolizeikräfte und der sonstigen Rettungskräfte – einerbesseren Ausstattung unserer Polizeibeamtinnen undPolizeibeamten bedarf. Ich bin der Bundesregierung sehrdankbar, dass sie gestern im Bundeskabinett auf Betrei-ben unseres Bundesinnenministers und des Bundes-finanzministers ein Eckwertepapier mit dem Ergebnisverabschiedet hat, dass es in den nächsten vier Jahren ei-nen deutlichen Aufwuchs bei den Mitteln für die Aus-stattung unserer Sicherheitskräfte auf Bundesebene ge-ben wird: insgesamt 328 Millionen Euro, davon200 Millionen Euro für eine bessere Sachausstattung,etwa für eine bessere persönliche Schutzausstattung, fürSicherheits- und Schutzwesten, aber auch für eine bes-sere Ausstattung der Polizeiwagen. Dies ist ein klares,ein deutliches und erfreuliches Signal der Bundesregie-rung, für das wir sehr dankbar sind.
Wir müssen uns auch darüber Gedanken machen, wowir gesetzgeberisch nachbessern müssen. Ich bin derfesten Überzeugung, dass es auch einer Evaluierung desStraftatbestands des Widerstands gegen Vollstreckungs-beamte, gegen Polizeibeamte und sonstige Rettungs-kräfte, bedarf. Der Strafrahmen ist dabei sicherlich nichtallein das Entscheidende. Wir müssen, sowohl, was denStrafrahmen anbelangt, als auch, was das Unwerturteilanbelangt, im Strafgesetzbuch deutlich machen, dass derWiderstand gegen Vollstreckungsbeamte, Feuerwehr-kräfte und THW-Helfer keine Bagatelle, kein Kavaliers-delikt ist, sondern mit der vollen Härte des Strafrechts zuahnden ist.
Ich darf deshalb mit dem klaren Bekenntnis abschlie-ßen, dass es in Deutschland natürlich ein sehr hohes undschützenswertes Grundrecht für jedermann ist, sichfriedlich und ohne Waffen zu versammeln. Aber unsereAntwort auf solche Gewaltexzesse, auf eine derartigeVerrohung und Brutalität, wie wir sie gestern in Frank-furt erlebt haben, ist die volle Härte des Rechtsstaats.Dafür sollten wir uns als Deutscher Bundestag in allerDeutlichkeit aussprechen.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Burkhard Lischka für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Buntund laut sollten die Proteste gestern in Frankfurt sein.Ich sage bewusst am Anfang: Ja, wir können in einer De-mokratie stolz sein, wenn sich Menschen einmischenwollen, und zwar auch bunt und laut, wenn sie sich en-gagieren, wenn sie für ihre Anliegen auf die Straße ge-hen. Die Demokratie ist übrigens die einzige Staatsform,in der man auf den Staat und seine Institutionen schimp-fen darf. Es zeichnet eben eine Demokratie aus, dass siesich auch beschimpfen lässt. Auch harte Kritik an Ban-ken ist nichts Unanständiges. All das ist selbstverständ-lich.Genauso selbstverständlich ist aber auch, dass eineDemokratie nur mit einem Wettbewerb der Argumentefunktionieren kann, dass man sich in der Sache hart, aberfriedlich auseinandersetzt.
Wer diese Grundregel missachtet, zerstört die Grundlageeiner freien Gesellschaft. Gewalt zur Durchsetzung poli-tischer Ziele und demokratischer Diskurs schließen sichaus.
Wer wahllos Müllcontainer und Autos anzündet und aufPolizisten einprügelt, nur weil sie Polizisten sind, verrätdeshalb die Demokratie; er verachtet sie.
Er ist kein Demokrat, sondern er ist ein Krimineller.Deshalb: Diejenigen Polizisten, Feuerwehrleute und Sa-nitäter, die gestern ihren Kopf hingehalten haben, habenwahrlich nicht nur ihren Job getan; sie haben uns alleund unsere Werte verteidigt, und dafür verdienen sie un-seren Dank.
Jetzt geht es zunächst einmal darum, gegen die gestri-gen Gewalttäter entschieden vorzugehen; das ist dieAufgabe von Polizei und Justiz. Helmut Schmidt, unserAltkanzler, wurde einmal gefragt, was er einem zornigenjungen Mann sagen würde, der mit einem Pflasterstein inder Hand vor ihm stehe. „Nichts“, hat er gesagt; so einergehöre erst einmal hinter Schloss und Riegel. Recht hater, unser Altkanzler.
Nun ist das entschiedene Vorgehen unseres Rechts-staates das eine, und unsere Gesetze, um mit Situationenwie gestern umzugehen, sind dabei wirksam genug. Ge-nauso wichtig ist es aber auch, dass nach solchen Ereig-
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8952 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
Burkhard Lischka
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nissen alle – ich sage: alle – Demokraten zusammenste-hen und sagen: Es reicht. Rasende Gewaltlust gehörtnicht in unsere freiheitliche Gesellschaft.
Das wirft in der Tat heute, am Tag danach, noch vieleFragen auf. Wenn einige Demonstrationsveranstalterauch heute noch von einer – so wörtlich – „großartigenMobilisierung“ sprechen, dann ist das entlarvend, meineDamen und Herren.
Frau Hänsel, Ihr Vergleich der Verwüstungen inFrankfurt mit dem Freiheitskampf in Kiew ist angespro-chen worden. Sie hatten heute die Chance, sich davon zudistanzieren. Sie haben diese Chance vertan, und dasfinde ich unwürdig und beschämend. Als Demokrat sageich Ihnen: Auch das, was Sie heute gesagt haben, findeich vollkommen inakzeptabel.
Schließlich sage ich auch all denen, die gestern fried-lich, bunt und laut im weltoffenen Frankfurt demonstrie-ren wollten: Ich achte eure Anliegen, auch wenn ichnicht jedes Anliegen teile. Aber auch ihr habt eine Ver-antwortung dafür, genau hinzuschauen, dass ihr euchnicht vor den Karren von Brandstiftern spannen lasst;
denn diese Brandstifter von gestern haben eurem Anlie-gen einen Bärendienst erwiesen.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Da dies eine Vereinbarte Debatte war, haben wir jetztüber nichts abzustimmen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a bis 21 c auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Inter-nationalen Erbrecht und zur Änderung vonVorschriften zum Erbschein sowie zur Ände-rung sonstiger VorschriftenDrucksache 18/4201Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Recht und Verbraucherschutzb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung der Verfolgung der Vorbereitung vonschweren staatsgefährdenden Gewalttaten
Drucksache 18/4279Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Auswärtiger AusschussInnenausschussFinanzausschussAusschuss Digitale Agendac) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Personalausweisgesetzes zur Einfüh-rung eines Ersatz-Personalausweises und zurÄnderung des PassgesetzesDrucksache 18/4280Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzEs handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 g auf.Es handelt sich um Beschlussempfehlungen des Peti-tionsausschusses, zu denen keine Aussprache vorgese-hen ist.Ich warte noch einen kleinen Moment, um Ihnen allenzu ermöglichen, dieser anspruchsvollen Aufgabe nach-kommen zu können, und vor allen Dingen, um Abstim-mungsergebnisse dann zweifelsfrei feststellen zu kön-nen.Tagesordnungspunkt 22 a:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 157 zu PetitionenDrucksache 18/4207Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 157 ist einstimmig an-genommen.Tagesordnungspunkt 22 b:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 158 zu PetitionenDrucksache 18/4208Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Auch die Sammelübersicht 158 ist einstim-mig angenommen.Tagesordnungspunkt 22 c:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 159 zu PetitionenDrucksache 18/4209Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Auch die Sammelübersicht 159 ist mit den
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 8953
Vizepräsidentin Petra Pau
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Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die FraktionDie Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen angenommen.Tagesordnungspunkt 22 d:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 160 zu PetitionenDrucksache 18/4210Bevor wir zur Abstimmung über diese Sammelüber-sicht kommen, erteile ich der Vorsitzenden des Petitions-ausschusses, der Kollegin Kersten Steinke, zu einer er-gänzenden Berichterstattung das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Berichterstatter haben mich als Vorsitzende gebeten,
eine Erklärung für den Petitionsausschuss abzugeben.
Die Sammelübersicht 160 enthält unter der Num-
mer 2 eine Beschlussempfehlung, die ich Sie zu unter-
stützen bitte. Sie betrifft ehemalige Heimkinder, die in
den 50er- und 60er-Jahren in Einrichtungen der Kinder-
und Jugendpsychiatrie sowie in Heimen der Behinder-
tenhilfe in Westdeutschland untergebracht waren und
dort Gewalt und Unrecht erfahren haben.
Wie mancher von Ihnen noch wissen wird, hat der
Deutsche Bundestag auf Betreiben des Petitionsaus-
schusses vor Jahren in einem sehr aufwendigen Verfah-
ren den „Runden Tisch Heimerziehung“ auf den Weg ge-
bracht. In dessen Folge wurde ein Fonds aufgelegt, aus
dessen Mitteln ehemalige Heimkinder für zugefügtes
Unrecht entschädigt wurden.
Die jetzige Petition hat zum Ziel, auch die in Kinder-
und Jugendpsychiatrien sowie in Heimen der Behinder-
tenhilfe Untergebrachten, die von dem bereits existieren-
den Fonds nicht erfasst werden, zu entschädigen. In ei-
ner Entschließung des Deutschen Bundestages vom
7. Juli 2011 wurden ausdrücklich auch Einrichtungen
der Behindertenhilfe sowie deren Kinder- und Jugend-
psychiatrien als Orte genannt, in denen Kinder und Ju-
gendliche Leid und Unrecht erlitten haben. Die Bundes-
regierung wurde aufgefordert, im Einvernehmen mit den
Ländern auch für diese Personengruppen Regelungen für
Hilfen zu finden. Hier muss allerdings erneut Geld in die
Hand genommen werden.
Zur Umsetzung der Entschließung prüfen die Bundes-
ministerien für Gesundheit und für Arbeit und Soziales
Lösungsmöglichkeiten, zum Beispiel in Form einer Zu-
stiftung zu dem „Fonds Heimerziehung“, und sind be-
reits an die Länder herangetreten, die sich mit der The-
matik im Rahmen der 90. und 91. Arbeits- und
Sozialministerkonferenz befasst haben. Allerdings wur-
den hierbei auch Zweifel geäußert, ob dieser Weg geeig-
net ist, das erfahrene Leid und Unrecht auszugleichen.
Der Petitionsausschuss hat sich daher schriftlich an die
Arbeits- und Sozialminister der Bundesländer und die
großen Kirchen mit der Bitte gewandt, im Interesse der
Betroffenen an einer angemessenen kurzfristigen Hilfe
für den genannten Personenkreis aktiv mitzuwirken.
Ziel unseres Überweisungsvorschlages ist es deshalb,
in einer gemeinsamen Kraftanstrengung von Bundesre-
gierung und Parlament alle weiteren Beteiligten davon
zu überzeugen, dass die entsprechenden Finanzmittel
schnellstmöglich zur Verfügung stehen und an die Be-
troffenen ausgezahlt werden können. In diesem Sinne
appelliere ich an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen,
unserem einstimmigen Erwägungsvotum, welches die
Bundesregierung und die Landesvolksvertretung auffor-
dert, das Anliegen noch einmal zu prüfen und nach Mög-
lichkeiten der Abhilfe zu suchen, Ihre Zustimmung zu
geben.
Danke schön.
Wir kommen nun zur Abstimmung über Sammelüber-sicht 160 auf Drucksache 18/4210. Wer stimmt dafür? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sam-melübersicht 160 ist damit einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 22 e:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 161 zu PetitionenDrucksache 18/4211Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 161 ist mit den Stim-men der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen derFraktion Die Linke angenommen.Tagesordnungspunkt 22 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 162 zu PetitionenDrucksache 18/4212Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 162 ist mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke ange-nommen.Tagesordnungspunkt 22 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 163 zu PetitionenDrucksache 18/4213
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8954 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
Vizepräsidentin Petra Pau
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Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 163 ist mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen derOppositionsfraktionen angenommen.Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion DIE LINKEReiches Land – Arme KinderIch eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeJörn Wunderlich für die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Nun liegt wieder eine Studie vor, diesmal von der Ber-telsmann-Stiftung, zu den Auswirkungen von Armut aufKinder. In dieser wird festgestellt, dass armutsgefährdeteKinder bei Schuleingangsuntersuchungen deutlich hinteranderen Kindern zurückliegen: 43 Prozent – ich rundejetzt einmal die Zahlen – sprechen mangelhaftes Deutsch,dreimal so viel wie bei anderen Kindern; 25 Prozent derKinder aus Hartz IV haben Probleme mit der Körperko-ordination, zweimal so viel wie üblich; 25 Prozent habenProbleme bei der Visuomotorik – das ist die Koordina-tion von Auge und Hand –, zweimal so viel wie üblich;28 Prozent haben Probleme beim Zählen, zweieinhalb-mal so viel wie sonst; und 8,8 Prozent haben Überge-wicht, zweimal so viel wie sonst. Es heißt in der Studie:Kinderarmut ist kein Randphänomen, sondern betrifft je-des fünfte Kind in Nordrhein-Westfalen, bundesweit je-des sechste, im Ruhrgebiet sogar jedes vierte. Die Ten-denz ist steigend.Ich möchte einmal zitieren:Dauerhafte Armut zeitigt hierbei besonders schwer-wiegende Folgen und gefährdet die positive Ent-wicklung von Kindern langfristig. Kinder, welchein Armut leben, zeigen häufiger Auffälligkeiten inihrem Verhalten.Weiter heißt es:Ebenso sind Benachteiligungen hinsichtlich sozia-ler Kontakte zu beobachten. Armut gefährdet nichtnur die Grundversorgung und Gesundheit von Kin-dern auf gefährliche Art und Weise, sondern beein-flusst ebenso in hohem Maße die Entwicklung so-zialer Kompetenzen von Kindern negativ.Warum bin ich jetzt nicht überrascht? Dieses Zitatstammt nicht aus der aktuellen Studie, aus der es aller-dings stammen könnte, es stammt aus einer Großen An-frage meiner Fraktion aus dem Jahr 2007. Es ist alsonichts Neues. Und schon 1989 gab es eine Studie derAWO zur Kinderarmut in Deutschland. Aber was hatsich in der Zeit getan? Trotz aller Bemühungen meinerFraktion, Instrumente gegen Kinderarmut anzuwenden,hat sich nicht viel getan.Als Frau von der Leyen als Arbeitsministerin im Ja-nuar 2012 verkündete, dass die Zahl der Kinder imHartz-IV-Bezug im Jahr 2011 im Vergleich zu 2006 um257 000 gesunken sei und triumphierend schon fast mittränenverschleiertem Blick von „sinkender Kinder-armut“ und der „Ernte der Kraftanstrengungen der letz-ten Jahre“ sprach, hat sie schlicht unterschlagen, dass indem gleichen Zeitraum die Zahl der Kinder insgesamtum 750 000 gesunken ist. Das war also ein rein demo-grafischer Effekt. Vier Monate nach diesen Äußerungenveröffentlichte UNICEF ein Ranking über Kinderarmutin den reichsten Ländern der Welt. Dabei wurden 29 Na-tionen verglichen. Deutschland landete auf Platz 15, alsoim Mittelfeld.Nach dem Index der Entbehrungen von UNICEF giltes als besondere Mangelsituation, wenn ein Kind zweider folgenden Dinge nicht hat: drei Mahlzeiten am Tag,eine warme Mahlzeit täglich, altersgerechte Bücher,Spielzeug für Aktivität im Freien, regelmäßige Freizeit-aktivitäten – das heißt Sportvereine oder das Erlernen ei-nes Musikinstruments –, Geld, um an Schulausflügenteilzunehmen, einen ruhigen Platz für Hausaufgaben, ei-nige neue Kleidungsstücke, zwei Paar Schuhe, Möglich-keiten, Freunde zum Spielen und zum Essen nach Hauseeinzuladen. Laut UNICEF trifft diese Mangelsituationauf knapp 9 Prozent aller Kinder in Deutschland zu:5 Prozent müssen auf eine warme Mahlzeit verzichten,4,4 Prozent haben keinen Platz für ihre Hausaufgaben,3 Prozent erhalten nie neue Kleidung, sondern nur getra-gene Sachen, und knapp 4 Prozent besitzen höchstensein Paar Schuhe. Jetzt sollen das Kindergeld erhöht undder steuerliche Freibetrag angehoben werden. Ein PaarSchuhe – und dann kommt unser FinanzministerSchäuble daher und sagt: Hier hast du 4 Euro, kauf direin zweites Paar Schuhe. – Der leidet an völligem Reali-tätsverlust.
Aber das hat auch sein Staatssekretär erkannt – HerrKampeter ist heute ja auch da – und in der taz erklärt:„Die Null ist das Leitmotiv“. Wen oder was er damitmeint, kann jeder für sich ausmachen.In der Pressemitteilung zur aktuellen Studie heißt es,„ein früher Kita-Besuch kann negative Folgen von Kin-derarmut verringern“. Dann müssen aber auch die Zahlder Plätze und die Qualität stimmen. AußenministerSteinmeier hat sich letzte Sitzungswoche bei der Regie-rungsbefragung hierhingestellt und uns allen hier im Ple-num ins Gesicht gesagt, dass sich seit dem Ausbau derKitas die Qualität nicht verschlechtert hat. Abends inden Nachrichten der ARD wurde er dann allerdings derFalschaussage überführt. Denn dort wurde festgestellt,dass jede vierte Erzieherin entweder keine pädagogischeAusbildung oder nur einen Crashkurs erhalten hat. Soviel zur Wahrnehmung der real existierenden Umständedurch die Regierung.Konkrete Maßnahmen werden von der Linken seitJahren immer wieder gefordert; dazu wird noch ausge-führt. Wir brauchen keine neuen Studien, wir brauchenkeine Anhörungen und keine weiteren Expertisen. Wirmüssen endlich die Dinge angehen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 8955
Jörn Wunderlich
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Kein Kind auf der Schattenseite des Lebens lassen, wiees von der Leyen als Familienministerin 2006 so groß-spurig und großartig verkündete: Wann, frage ich Sie,fangen wir damit an? Handeln statt weiterer Studien undden Finanzminister auswechseln – das wäre eine schöneSofortmaßnahme.Danke.
Das Wort hat die Kollegin Jutta Eckenbach für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! JedesKind, das in seinen Möglichkeiten und Chancen einge-engt oder an einer guten Entwicklung gehindert wird, isteines zu viel. Ich glaube, darüber sind wir uns alle einig.Das Bild allerdings, das die Linke immer wieder zeich-net – wir haben es gerade wieder gehört –, ist meines Er-achtens in Gänze falsch – und das ist noch sehr vorsich-tig ausgedrückt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei der sogenanntenKinderarmut störe ich mich seit vielen Jahren daran,
dass sie auf rein finanzielle Aspekte reduziert und immerwieder allein auf den Bereich des SGB II bezogen wird.
Erstens. Hartz IV verursacht keine Armut, sondernverhindert Armut.
Es ist nämlich eine Sozialleistung. Ich glaube, wir wer-den in der Welt von vielen Seiten dafür gelobt, diese So-zialleistung in Deutschland eingeführt zu haben.
Zum Zweiten. Auch die Menschen, deren Einkom-men knapp über der SGB-II-Grenze liegt, sind nicht inder Lage, große Sprünge zu machen. Diese Menschenwerden zu oft vergessen, wenn Sie immer nur über Men-schen in SGB-II-Bezug reden.Drittens. Kinderarmut ist zudem viel mehr als fi-nanzielle Knappheit; ich sprach davon schon. AuchBildungsarmut, Sprachdefizite, Vernachlässigungoder schwere Krankheiten der Eltern, insbesonderebei langzeitarbeitslosen Eltern mit zunehmend psychi-schen Problemen, gehören für mich mit zu einer Defi-nition von Kinderarmut. Das sehe nicht ich alleine so,sondern die AWO und das Institut für Sozialarbeitsind in einer Studie zu gleichen Ergebnissen gekom-men; auch sie differenzieren.Aber Fakt ist natürlich – das sehen wir auch –, dassviel zu viele Kinder in armen Verhältnissen aufwachsenund wir dies ändern müssen.
Es gibt zahlreiche Maßnahmen und Hilfen, die bereitsergriffen und angeboten wurden, die aber nicht ausrei-chend sind, auch nicht in Nordrhein-Westfalen. Heutereden wir ja auch über die Bertelsmann-Studie zu NRW.Hierzu nur drei Zahlen: Deutschlandweit wird die Kin-derarmut mit 17,1 Prozent beziffert, in Nordrhein-West-falen liegt sie bei 20,3 Prozent, in Mühlheim sind es24,2 Prozent, und wir haben eine Ministerpräsidentin,die unter dem Motto „Kein Kind zurücklassen“ ein Rie-senprogramm fährt. Frau Kraft hat die Kinder in Nord-rhein-Westfalen zurückgelassen – ganz klar.
Was wird bereits getan für Kinder und Familien? Kin-derfreibeträge, Kinderzuschläge, Kitaausbau – ich willhier nur einige Stichworte nennen.
Übrigens: Das Bildungs- und Teilhabepaket der Bundes-republik wird in dieser Studie als hervorragendes Instru-ment bewertet. Auch darauf will ich nur der Form halberhinweisen.
Gestatten Sie mir an dieser Stelle, auch auf die jüngstenEntscheidungen der Bundesregierung hinzuweisen: Ver-stärkung der frühkindlichen Infrastruktur, Bundespro-gramm Kita Plus, 3,5 Milliarden Euro aus dem aktuellenkommunalen Investitionspaket gerade für struktur-schwache Kommunen, die dort – hoffentlich – in struk-turschwache Quartiere fließen, 1,5 Milliarden Euro zu-sätzlich im Jahr 2017.
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8956 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
Jutta Eckenbach
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Aber ich denke – das ist das Wichtige, worüber wirheute reden müssen –, dass wir auch andere Ansätze hierdiskutieren sollten. Dazu gehören fünf Punkte, die mirbesonders wichtig sind und die auch die Bertelsmann-Stiftung in ihrer Studie deutlich gemacht hat.Erstens – ich sprach ja davon – geht es nicht nur umeine allgemeine und finanzielle Sicherheit gerade für Al-leinerziehende, Eltern und Familien, sondern es gehtauch und vor allem um deren eigenständige soziale undwirtschaftliche Sicherung. Diese funktioniert immernoch am besten über einen Arbeitsplatz. Arbeitsplätzewerden aber in der Regel nicht hauptsächlich durch un-sere Programme geschaffen, sondern von Betrieben undUnternehmen in Deutschland. Ohne eine geeignete Wirt-schaftspolitik, mit der wir für Menschen, für JugendlicheArbeitsplätze schaffen, wird man durch kein einzigesProgramm Lösungen finden können; das haben wir auchheute Morgen schon in der Debatte zum Fachkräfteman-gel gehört. Wir brauchen also mehr Betriebe, die ausÜberzeugung und in eigenem Interesse langfristige undgesicherte Arbeitsplätze anbieten, zum Beispiel auch fürAlleinerziehende. Wir müssen die Betriebe dabei aberunterstützen und sie auch entlasten, das heißt, auch ein-mal die Frage stellen: Was benötigen Betriebe eigentlichdazu, um auch langjährig arbeitslos gewesene Menscheneinzustellen?Zweitens. In der Studie wird von Quartieren gespro-chen. Auf dieser Ebene muss viel stärker verzahnt undvernetzt gedacht werden. Wir alle kennen die Ghettoisie-rung in den Gemeinden, ob in Groß- oder Kleinstädten.Diese kann nur verhindert werden, wo die Mischungzwischen preiswertem und teurem Wohnraum erhaltenbleibt, wo Arbeitsplätze bleiben und neue entstehen unddie Jugend Anlaufstellen hat. Das heißt, wir brauchenkomplexere Konzepte unter Einbeziehung von Wirt-schaftsförderung, Städtebauförderung, Jugendhilfe, Ge-sundheitsvorsorge und sozialen Diensten.Drittens. Für Menschen, die Hilfe brauchen, gibt esunzählige Möglichkeiten der Beratung. Wir müssendiese aber auch bündeln, und wir müssen nicht nurüber Jugendhilfemaßnahmen nachdenken, sondernauch über die Schnittstellen zwischen Jugendhilfe undJugendpsychiatrie.Viertens – das will ich abschließend sagen – ist fürmich ein ganz wichtiger Punkt, dass wir Eltern auch im-mer befähigen, Verantwortung zu übernehmen: in deneigenen vier Wänden und dort, wo sie mit den Kindernzusammen sind. Das fehlt mir immer dann, wenn wirüber staatliche Maßnahmen reden. Kein Kind – –
Kollegin Eckenbach, die Ankündigung des Abschlus-
ses der Rede ersetzt diesen bitte nicht.
Nein. Lassen Sie mich nur noch einen Satz darauf
verwenden. – Wir werden Eltern nie – bei allen Möglich-
keiten, die wir gesetzlich vorhalten – aus ihrer Verant-
wortung entlassen. Unser Ziel ist es, die Stärken der Kin-
der auch wirklich zu stärken.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Katja Dörner für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen! LiebeKollegen! Rund ein Fünftel aller Kinder in Deutschlandsind arm, und an dieser katastrophalen Situation hat sichin den letzten Jahren auch nichts verbessert. Sie, FrauEckenbach, stellen sich hierhin und relativieren statisti-sche Zahlen, Sie beschwichtigen, Sie starten mit einerLobhudelei auf die Arbeit der Bundesregierung. Ichmuss wirklich sagen: Ich finde das angesichts von2,8 Millionen armen Kindern in Deutschland regelrechtunverfroren.
Rund ein Fünftel der Kinder in Deutschland sind arm;trotzdem wird Kinderarmut im Koalitionsvertrag derGroßen Koalition totgeschwiegen. Sie kommt einfachgar nicht vor. So bitter das ist, es wundert mich danndoch nicht; denn diese Bundesregierung hat offensicht-lich nicht vor, mit ganz konkreten Maßnahmen gegenKinderarmut vorzugehen und Kinderarmut konkret zubekämpfen. Ich finde, das ist eine Katastrophe für jedeseinzelne Kind, aber es ist auch eine Katastrophe für un-sere ganze Gesellschaft.
Ich finde es sehr gut, dass wir auch heute über Kin-derarmut und die Absicherung von Familien sprechen,weil, wie wir alle wissen, aktuell sehr heiße Verhandlun-gen zwischen dem Finanzminister und der Familienmi-nisterin laufen. Leider läuft es beim Thema Kindergeldwohl auf die minimalst mögliche Lösung hinaus:Schäuble wird wohl nicht mehr machen, als er unbedingtmachen muss. Der Freibetrag, von dem aber nur Fami-lien mit einem hohen Einkommen profitieren, wird sehrdeutlich angehoben. Aber Familien mit einem ganz nor-malen Einkommen werden mit 6 Euro Kindergelderhö-hung abgespeist. Und arme Kinder bekommen eben garnichts, weil die Kindergelderhöhung auf den Regelsatzangerechnet wird.
Die Förderung von Kindern und Familien in Deutsch-land läuft leider nach dem Matthäus-Prinzip: Wer hat,dem wird gegeben. – Familien mit hohem Einkommenprofitieren am meisten, arme Familien gehen leer aus.Ich finde, das muss ein Ende haben. Wir müssen dieKinder- und Familienförderung vom Kopf auf die Füßestellen! Wir müssen die besonders unterstützen, die esauch besonders nötig haben.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 8957
Katja Dörner
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Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, was wir aus denVerhandlungen zu den Alleinerziehenden hören, ist fürmich eigentlich das größte Trauerspiel. Ob der Entlas-tungsbetrag angehoben wird, wie es im Koalitionsver-trag zugesagt wird und wie es auch die Ergebnisse derEvaluation der ehe- und familienbezogenen Leistungenganz ausdrücklich nahelegen, steht in den Sternen. DerFinanzminister will davon wohl nichts wissen. DieseKoalition kann den Verteidigungsetat mir nichts, dirnichts in unermessliche Höhen steigen lassen – ein Etat,in dem in den letzten Jahren übrigens wie in keinem an-deren Geld verplempert und verpulvert wurde –, aber beiden Alleinerziehenden wird hier so knauserig reagiert.Ich muss wirklich sagen: Angesichts der Tatsache, dassAlleinerziehende mit das höchste Armutsrisiko tragen,finde ich das wirklich schäbig.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die materielle Ab-sicherung ist wichtig, aber sie ist natürlich nur eine Seiteder Medaille. In der aktuellen Studie der BertelsmannStiftung wird ganz konkret auf die Möglichkeit hinge-wiesen, über gute Kitas bessere Chancen und eine guteFörderung gerade für arme Kinder zu erreichen. FrüheFörderung, frühe Bildung – ich denke, darin sind wir unsalle einig – sind gerade auch für arme Kinder der Schlüs-sel zu einem besseren Leben. Ich muss da aber wirklichfragen: Warum tut diese Bundesregierung dann so wenigfür die Kitas und insbesondere für die Qualität in den Ki-tas?Gestern ist unser Antrag, mit dem wir eine Qualitäts-offensive für die Kitas gefordert haben und eine Fach-kraft-Kind-Relation festschreiben wollten, um die Quali-tät in den Kitas zu verbessern, im Familienausschusseinfach schnöde abgelehnt worden. Daran können wirsehen: In dieser Legislaturperiode wird nichts passieren.– Ich halte das für eine ganz eklatante Fehlentscheidung.Wir dürfen keine weiteren Jahre verlieren, um mehr Teil-habe für Kinder, insbesondere für arme Kinder, zu errei-chen.Frau Eckenbach, Sie haben eben Nordrhein-Westfa-len angesprochen. In der zum Glück ja nur sehr kurzenRegierungszeit von Schwarz-Gelb in Nordrhein-Westfa-len ist unter Armin Laschet von den damals hohen Sum-men, die vom Bund zusätzlich in die Kitas investiertworden sind, kein einziger Cent bei den Kitas zusätzlichangekommen. Er hat das Geld genutzt, um den Haushaltin Nordrhein-Westfalen zu sanieren. Deshalb würde ich,wenn ich von der CDU käme, mit Blick auf Nordrhein-Westfalen ganz, ganz kleine Brötchen backen.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, heute geht runddie Hälfte der Kinder aus gutsituierten Verhältnissen vordem dritten Geburtstag in eine Kita. Von den armutsge-fährdeten Kindern ist es weniger als ein Drittel. Manmuss keine Prophetin sein, um zu vermuten, dass das mitdem Betreuungsgeld nicht besser wird. Das Betreuungs-geld ist und bleibt eine bildungspolitische Katastrophe.
Es leistet gerade den armen Familien und den armenKindern einen Bärendienst. Es sollte aus unserer Sichtschnellstmöglich wieder abgeschafft werden. Ich fragemich wirklich: Wie viele Studien sind noch notwendig,bis die CSU das endlich auch versteht?Vielen Dank.
Die Kollegin Susann Rüthrich hat für die SPD-Frak-
tion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich fange einmal mit einer Frage an: Wie fühltes sich eigentlich an, als Kind in Deutschland arm zusein? Vielleicht wie in der Szene, die mir die Direktorineiner Grundschule beschrieben hat und die sich dort je-den Tag abspielt.Diese Grundschule hat 280 Schüler, und es gibt einenHort mit 220 Plätzen. Ich sage mir, es fehlen ja60 Plätze, und frage mich, wie ausgesucht wird, wer ei-nen Hortplatz bekommt und wer nicht. Nun, es gibt Aus-wahlkriterien, die der Stadtrat und der im Übrigen vonden Linken getragene Bürgermeister mit festlegen: Vor-rang haben die Kinder, deren Eltern beide arbeiten.Okay, was heißt denn das praktisch? Praktisch heißt das:Kurz vor dem kostenpflichtigen Mittagessen kommt einBus, der 60 Kinder abholt und zur Kinderarche bringt.Dort gibt es kostenloses Mittagessen. Wenn die Kindereinmal in der Kinderarche sind, kommen sie nicht mehrzum Schulhort zurück. Und siehe da: Die Hortplätze rei-chen, weil die armen Kinder woanders hingefahren wur-den. Diese Kinder bekommen weder die Nachhilfe nochdie Hausaufgabenbetreuung noch die Musikangebote,die die anderen Kinder im Hort erhalten.Klar, ich könnte mich jetzt empören. Ich kann aberauch fragen: Was tun wir jetzt, um genau diesen Kindernzu helfen? Jedes Kind muss die Chance auf einen Hort-platz, auf einen Kitaplatz und auf eine Ganztagsbetreu-ung haben. Da darf nicht selektiert werden, wer diePlätze bekommt. Da, wo die meisten armen Familienwohnen, da müssen die besten Schulen, die besten Kitas,die besten Jugendclubs, die aktivsten Vereine und Ver-bände hin, weil sie genau dort für die Kinder am wich-tigsten sind, deren Eltern sich privaten Musikunterrichtund private Nachhilfe nicht leisten können.
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8958 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
Susann Rüthrich
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Genau dann – davon bin ich überzeugt – werden die vonIhnen benannten und in der Bertelsmann-Studie aufge-zeigten Entwicklungsnachteile, unter denen viele armeKinder leiden, ausgeglichen werden; zumindest ist es einBaustein dazu.Die Kriterien für Aufnahme in den Hort oder in dieKita sind Sache der Kommunen. 5 Milliarden Euro zu-sätzlich stellen wir den Kommunen zur Verfügung, da-mit sie überhaupt in der Lage sind, jedem Kind eineChance zu geben. Wir fördern außerdem den Ausbau derKinderbetreuung. Wir entlasten die Länder. Das allessind Maßnahmen, um Luft dafür zu schaffen, Infrastruk-tur um die Kinder herum aufzubauen. Diese Mittel müs-sen die Kolleginnen und Kollegen in den Ländern und inden Kommunen natürlich auch nutzen. Das sage ichnicht nur meinen Genossinnen und Genossen, sondernda bitte ich einfach alle Fraktionen, auch die von der Op-position, auf ihre Kolleginnen und Kollegen, die vor Ortdie Entscheidungen zu treffen haben, wie die Infrastruk-tur für die Kinder gestaltet wird, entsprechenden Ein-fluss zu nehmen.Eine sehr gute Infrastruktur vor Ort ist aber nur daseine. Das allein wird nicht reichen. Leider ist es tatsäch-lich so, dass Kinderarmut von den Eltern vererbt wird.Deswegen müssen wir an dem Einkommen der Elternbzw. der Familien etwas machen. Wir haben den Min-destlohn eingeführt – dadurch haben wir die Tariflöhnegestärkt – und damit das Einkommen von vielen Fami-lien verbessert. Mit dem Entgeltgleichheitsgesetz, daswir wollen und das wir einführen werden, werden wirdafür sorgen, dass eine Mama an ihrem Arbeitsplatz inder Stunde genau dasselbe wie der Papa bekommt, derdie gleiche Arbeit macht.
Wir als SPD-Fraktion kämpfen für eine spürbare Kin-dergelderhöhung. Alleinerziehende wollen wir stärkerunterstützen. Ich könnte hier noch weitere Maßnahmenaufzählen. Wenn Sie nun sagen: „Das alles reicht nochnicht“, gebe ich Ihnen sogar recht. Auch wir sind ja fürkostenlose Bildung, und zwar von Anfang an. Das heißtdann auch, dass das Mittagessen, der Schülertransportund die Schulmaterialien kostenfrei sind. Auch über dieKindergrundsicherung kann man mit mir gerne diskutie-ren. Diese Diskussion werden wir auch in der Kinder-kommission im dritten Drittel dieses Jahres führen.Ganz nebenbei: Mein SPD-Landesverband hat dieKindergrundsicherung bereits beschlossen. Wir gehennämlich davon aus, dass jedem Kind das beste Umfeldvor Ort garantiert werden muss. Das hat zum einen et-was mit der persönlichen materiellen Ausstattung zu tun.Am Ende des Monats soll es eben nicht nur noch Toast-brot geben. Das hat zum anderen etwas damit zu tun, wiedie Infrastruktur vor Ort aussieht, die jedes Kind vorfin-det.Eine Vision zu haben, ist gut. Das bedeutet aber,heute mit praktischer Politik Schritte in die richtigeRichtung zu machen, um diese Vision umzusetzen. Dashilft den Kindern heute unmittelbar. Alle Kinder, egal obarm, ob reich oder weder noch, können sich dabei aufunsere Unterstützung verlassen.Vielen Dank.
Der Kollege Norbert Müller hat für die Fraktion Die
Linke das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnenund Kollegen! Mich ärgert die Debatte, wie wir sie ge-rade geführt haben – da kann ich mich an ganz vielenPunkten Katja Dörner anschließen –, maßlos. Sie ärgertmich maßlos, weil von vornherein klar war: Ab demMoment, zu dem wir die Aktuelle Stunde beantragt ha-ben, wird beschwichtigt und wird vor allen Dingen er-klärt werden, die Koalition tue schon alles, die Situationsei nicht so schlimm, das Problem bekomme man in denGriff und man müsse jetzt abwarten, wie diverse Maß-nahmen wirkten.Jörn Wunderlich hat die Geschichte der Kinderarmutseit einer Studie der AWO von 1989 präsentiert. EinBlick auf diese Dokumente zeigt: Die Kinderarmut hatsich seit dieser Zeit nicht reduziert. Sie ist vererbt wor-den. Sie ist wie einbetoniert. Egal welche empirischenErhebungen dazu gemacht worden sind: Wir kommenimmer zu den gleichen Ergebnissen.Fast alle Bundesregierungen seit der Wende haben er-klärt, sie hätten das Problem erkannt, sie würden am Pro-blem arbeiten, sie wollten Kinderarmut reduzieren. Dochpraktisch ist dies niemandem gelungen. Was bedeutetdas in der Praxis? Wozu hat das geführt? Es bleibt beiSonntagsreden, die mit belegter Stimme vorgetragenwerden und hinter denen man sich dann versteckt, stattTaten zu präsentieren.Ich möchte das mit Beispielen unterlegen. Die Bun-desfamilienministerin Schwesig hat 2009 noch als Lan-despolitikerin in einem Interview erklärt – ich zitiere –:Zwar kündigt Frau von der Leyen nun in jedem In-terview an, sie wolle gegen Kinderarmut vorgehen.Doch ihr Handeln widerlegt ihre Versprechen.
– Da hat sie recht gehabt. – Fünf Jahre später erklärtFrau Schwesig, nun als Bundesfamilienministerin:Für mich ist die Bekämpfung von Kinderarmut einsehr wichtiger Punkt.Dazwischen steht der Koalitionsvertrag, den Sie unter-schrieben haben, dieses Dokument des politischen Voll-versagens. Auf 130 Seiten kein Wort zur Kinderarmutund kein Konzept, Kinderarmut wirksam zu beseitigen.Aber Sie kündigen es permanent an.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 8959
Norbert Müller
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Das Ergebnis kann man heute in einer Presseerklä-rung des Deutschen Kinderhilfswerks – darauf kommeich noch zurück – nachlesen. In einer Studie, die vondiesem 2014 erstellt wurde, haben 72 Prozent der Befrag-ten gesagt, dass gesellschaftliche und politische Verant-wortungsträger – damit meinen sie uns, aber vor allemauch die Bundesregierung, weil sie zunächst an diesedenken – sehr wenig oder zu wenig tun, um Kinderarmutwirksam zu bekämpfen. Denn was sie in den letzten25 Jahren erlebt haben, sind Sonntagsreden, und letztenEndes hat sich nichts getan.
Ich kann mich Katja Dörner anschließen und fordereSie auf: Ergreifen Sie Maßnahmen! Ich glaube, wir sinduns in vielen Punkten einig gewesen; das war auch dieseWoche im Familienausschuss der Fall. Ergreifen Sie alsokonkrete Maßnahmen, um Kinderarmut zu beseitigen!
Wenn Sie als Koalition auf die Grünen oder uns nichthören wollen – das kann ich nachvollziehen –, dann hö-ren Sie doch auf unabhängige Sachverständige und aufdas Deutsche Kinderhilfswerk. Ich zitiere aus der schonerwähnten Presseerklärung:Um die Kinderarmut in Deutschland zu bekämpfen,brauchen wir eine Beschäftigungspolitik, die Elternin die Lage versetzt, durch eigene Erwerbstätigkeitsich und ihren Kindern eine ausreichende finan-zielle Lebensgrundlage zu bieten. Zudem habenBund, Länder und Kommunen gemeinsam dafür zusorgen, dass Einrichtungen für Kinder und Jugend-liche so ausgestattet werden, dass sie deren Ent-wicklung zu eigenständigen Persönlichkeiten best-möglich fördern können. Ein gesundes Aufwachsensollte für alle Kinder, unabhängig vom Geldbeutelihrer Eltern, ebenso eine Selbstverständlichkeitsein.Jetzt werden alle sagen: „Das können wir unterzeich-nen“, und die Koalition wird in den folgenden Reden sa-gen: Das tun wir übrigens schon mit allen unseren Maß-nahmen.Aber warum um Himmels willen kommen wir dannimmer wieder wie auch in der Bertelsmann-Studie zudenselben Ergebnissen? Warum hat sich in den letztenJahren nichts getan? Weil Ihre Maßnahmen nicht wirken,weil sie wirkungslos sind und weil Sie im besten Fall,wenn Sie über Kinderarmut reden und Entlastungen an-kündigen, am Ende an die Besserverdienenden denken,aber bei denjenigen, bei denen die Kinderarmut sozusa-gen einbetoniert ist und die schon mit der Geburt sozialdeklassiert werden, davon nichts ankommt. Warum istdas Kindergeld immer noch auf Leistungen nach demSGB II anzurechnen? Warum ist das Elterngeld immernoch anzurechnen? Schaffen Sie das ab! Das sind ganzeinfache Maßnahmen. Sie wirken unmittelbar und be-grenzen Kinderarmut.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, dass dasThema viel zu ernst ist, um hier weitere Sonntagsredenzuzulassen, uns weiter darüber auszutauschen, welchdramatische Kinderarmut wir in den Wahlkreisen erle-ben, und hier entsprechende Beispiele zu präsentieren.Die kennen wir alle. Lassen Sie uns zu dem Punkt kom-men, erste, auch monetäre, Maßnahmen zu ergreifen,und zwar mehr als 4 oder 6 Euro Kindergelderhöhung,um Kinderarmut wirksam zu beseitigen. Das muss um-gehend geschehen. Die Lage ist mit über 2,5 Millionenbetroffenen Kindern viel zu ernst.Die Linke wird nicht die Fraktion sein, die sich imDeutschen Bundestag gegen Maßnahmen stellt, wenn esernsthaft darum geht, Kinderarmut zu beseitigen. Wenndie Koalition und die Bundesregierung ernsthaft bereitsind, solche kleinen Schritte zu gehen, wie zum Beispieldas Kindergeld anrechnungsfrei zu stellen, werden wiruns Ihnen nicht in den Weg stellen, sondern Sie kon-struktiv begleiten. Aber wir werden Sie auch weiter trei-ben, wenn es bei den Sonntagsreden über Kinderarmutbleibt und Sie letztlich keinerlei Ergebnisse vorlegen au-ßer einer weiteren Studie in fünf Jahren, in der dann wie-der festgestellt wird, dass Kinderarmut ein ernstes Pro-blem ist und sich nach wie vor nichts getan hat.Vielen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Kai
Whittaker das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Kinderarmut istein ernstes Thema. Wir sind uns sicherlich darin einig,dass es uns traurig macht, wenn 1,5 Millionen Kinder indiesem Land von Hartz IV leben müssen und damit ei-nen besonders schweren Start ins Leben haben. DieseKinder sind Teil der Zukunft unseres Landes, und weiles in Deutschland so wenige Kinder gibt, müssen sie unsnoch viel mehr wert sein.
Vor diesem Hintergrund finde ich es umso verwerfli-cher, wenn die Kollegen der Linken Kinderarmut fürparteipolitische Zwecke missbrauchen.
Sie tun so, als ob sich nur Ihre Fraktion für dieses Themainteressiert. Sie tun so, als ob wir in unseren Wahlkreisenvon schönen Terrassen und feudalen Vorstadtvillen ausauf die Welt blickten und über das Thema Kinderarmutallenfalls in der Zeitung lesen würden. Anstatt sich die-ser Klischees zu bedienen und sich an ihnen abzuarbei-ten, wäre es schon ein Fortschritt in dieser Debatte, wennwir sachlich und ernsthaft darüber reden könnten.
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Kai Whittaker
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Wie ist man bei der Studie der Bertelsmann Stiftungverfahren? Es wurden 5 000 Kinder im Übergang vomKindergarten zur Grundschule in Mülheim an der Ruhruntersucht. Nun kann man darüber debattieren, ob Mül-heim an der Ruhr repräsentativ für Deutschland ist. Ge-nau das ist die Schwäche dieser Studie – das wird auchvon den Autoren der Studie selber zugegeben –, nämlichdass Kinderarmut regional ungleich verteilt ist. Deshalbbraucht man hier im Deutschen Bundestag nicht so zutun, als ob quasi über Nacht Kinderarmut als Massen-phänomen über dieses Land hereingebrochen wäre.
Die einzig bemerkenswerte Aussage in dieser Studie ist:Je stärker eine Kita sozial durchmischt ist, desto besserentwickeln sich die ärmeren Kinder.
Sonst hat diese Studie nichts Neues zutage gebracht. Siebestätigt lediglich alte Forschungsergebnisse.
Kinderarmut hängt von der Situation der Eltern ab.Eltern sind deshalb arm, weil sie keinen Arbeitsplatz ha-ben, weil sie keine Berufsausbildung haben, weil sieschlecht deutsch sprechen oder weil sie alleinerziehendsind. Weil diese Erkenntnisse nicht neu sind, hat bereitsdie letzte unionsgeführte Bundesregierung ein ganzesBündel an Maßnahmen auf den Weg gebracht. Darübermöchte ich sprechen.Seitdem Angela Merkel Bundeskanzlerin ist, habenwir die Zahl der Betreuungsplätze für unter Dreijährigeverdoppelt. Wir haben in den letzten Jahren 400 Millio-nen Euro in die Hand genommen, um Sprach- und Inte-grationsförderkurse in 4 000 Kitas in ganz Deutschlandzu unterstützen. Wir haben 2,5 Millionen Kindern dasBildungs- und Teilhabepaket ermöglicht. Da wir geradevon Kitas sprechen: Wir haben 2,7 Milliarden Euro indie Hand genommen, um die Betreuungsplätze bei denGemeinden auszubauen. Wir haben sehr wohl etwas ge-gen Kinderarmut getan und werden das weiterhin tun.Frau Kollegin Dörner, wir werden bis zum Jahr 2016 denEtat des Familienministeriums um über 2 MilliardenEuro erhöhen.
Das ist der stärkste Aufwuchs, den es jemals gegebenhat. Das hängt auch mit der soliden Finanzpolitik unse-res Bundesfinanzministers zusammen.
Ich war – genauso wie viele andere Kollegen hier –Gemeinderat in meiner Heimatstadt. Deshalb wissenwir, dass Kitas Sache der Kommunen sind. Dorthin ge-hört es auch zu Recht; denn die Kommunen wissen ambesten, wo der Schuh drückt. Nur weil Sie Ihre Kommu-nen nicht im Griff haben, heißt das noch lange nicht,dass wir Ihre Probleme hier im Deutschen Bundestag inBerlin lösen müssen.
Das ist genau das, was die Studie der Bertelsmann Stif-tung betont: Kinderarmut ist regional unterschiedlichausgeprägt. Deshalb müssen wir die Probleme vor Ortlösen.Unser Auftrag hier in Berlin ist, die Kommunen in dieLage zu versetzen, diese Aufgabe wahrzunehmen. Wirtun das beispiellos. Bis zum Jahr 2017 werden wir dieKommunen um fast 10 Milliarden Euro entlasten. Dasist die größte Summe, die es jemals in einer Legislatur-periode gegeben hat. Wir eröffnen damit einen großenSpielraum, der aber auch genutzt werden muss.
Kommen wir zu den selbsternannten Bildungsspezia-listen der Linken zurück. Da Sie sich so gerne auf Bil-dungsstudien berufen, wissen Sie sicherlich – alle Bil-dungsökonomen sagen uns das schon seit über zehnJahren –: Wenn wir die sozialen Probleme in diesemLand wirklich bekämpfen wollen, dann müssen wirmöglichst viel Geld für die frühkindliche Bildung undweniger Geld für die spätere Ausbildung in die Handnehmen. In Deutschland machen die Länder noch immerdas Gegenteil. Viele glauben, dass man soziale Gerech-tigkeit an der Universität herstellen kann. Ich sage Ih-nen: Bis dahin ist der Zug längst abgefahren. Die Abge-hängten kommen gar nicht bis zur Universität.
Deshalb wäre den armen Kindern in Mülheim an derRuhr und anderswo in Deutschland mehr geholfen, wennSie als Besserverdiener Studiengebühren für Ihre Kinderzahlen würden. Dann hätten die Länder mehr Geld fürdie Kitas. Aber so weit reicht Ihre soziale Kompetenznicht.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Kinder sind unsere Zukunft, und es darf uns nicht inRuhe schlafen lassen, dass seit Jahren, vielleicht sogarseit Jahrzehnten die Kinderarmut in diesem Land skan-dalös hoch ist. Das müssen wir dringend ändern,
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Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
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und zwar alle zusammen.Sie, Herr Whittaker, sagen, dass auch die Bundesre-gierung an die Lösung dieses Problems herangehen will.Im Koalitionsvertrag steht dazu aber nichts. Das Wort„Armut“ taucht überhaupt nicht auf. Das Wort „Kinder-armut“ taucht nicht auf. Armutsbekämpfung ist für dieseGroße Koalition überhaupt kein Thema. Das ist bei derAltersarmut so. Das ist bei Armut von Erwerbstätigenso, und das ist skandalöserweise auch bei der Kinderar-mut so.
Was Sie machen, ist: Sie verschieben die Verantwor-tung auf die Kommunen und auf die Länder.
Auch das ist etwas, was sehr verantwortungslos ist. Wirmüssen uns unserer eigenen Verantwortung stellen, derVerantwortung des Bundes. Der Bund ist insbesonderedafür zuständig, die finanzielle Absicherung von Kin-dern und Familien zu gewährleisten. Dafür sind nämlichnicht die Kommunen und auch nicht die Länder zustän-dig, sondern wir. Da müssen wir herangehen.
Auch wenn es natürlich völlig richtig ist, dass Armutviele Dimensionen hat, ist klar: Die finanzielle Dimen-sion ist zwar keine hinreichende, aber eine notwendigeBedingung dafür, dass die Existenz gesichert ist und dassArmut insgesamt bekämpft wird. Die anderen Dimensio-nen kommen dann dazu. Ich wiederhole: Die finanzielleExistenzsicherung muss erst einmal gewährleistet sein.Es ist so: Wenn Kinder ohne Frühstück zur Schule ge-hen, dann lernen sie einfach nicht gut. Wenn sie zuHause kein warmes Mittagessen bekommen, dann kön-nen sie nicht gut lernen. Es gibt genügend Kinder inDeutschland, denen es so geht, und das müssen wir än-dern.
Dazu brauchen wir eine finanzielle Mindestabsicherungfür Kinder. Das ist ein erster wichtiger Schritt.Der Verweis darauf, dass die Armut der Kinder da-durch zustande kommt, dass deren Eltern arm sind, istauch empirisch schlicht und einfach nicht richtig; dennes gibt genügend Eltern, deren Existenzsicherung ge-währleistet ist. Weil aber das Kindergeld und auch derKinderzuschlag nicht ausreichen, um die Existenz derganzen Familie zu sichern, sind sie trotzdem arm – ob-wohl sie selber arbeiten und selber genug zum Leben ha-ben. Das müssen wir ebenfalls ändern.
Es wurde darauf hingewiesen, der Mindestlohn seieingeführt worden. Das reicht nicht aus. Für vollzeittä-tige Alleinstehende, die keine Kinder haben, reicht derMindestlohn aus, um die Existenz zu sichern. Aber beieiner vollzeittätigen alleinerziehenden Person reichtMindestlohn plus Kindergeld nicht aus. Sie ist trotzdemauf Hartz IV angewiesen.
Kollege Strengmann-Kuhn, gestatten Sie eine Frage
oder Bemerkung des Kollegen Patzelt?
Sehr gerne.
Entschuldigung! Das war ein Fehler der Präsidentin.In der Aktuellen Stunde dürfen keine Zwischenfragengestellt werden. Das war jetzt mein Fehler, der zustandegekommen ist, nachdem Herr Patzelt sich so hartnäckiggemeldet hatte. – Ich habe aber die Uhr angehalten. Des-wegen ist nichts von Ihrer Redezeit, Herr Strengmann-Kuhn, verloren gegangen.
Ich war bei dem Punkt Mindestlohn. Er hilft Alleinste-henden ohne Kinder; aber für Alleinstehende mit Kindernreicht es halt nicht. Da braucht es zusätzliche Maßnahmen,um deren Existenz zu sichern, um zu ermöglichen, dassMenschen nicht in Hartz IV fallen, obwohl sie vollzeiter-werbstätig sind.Die meisten Kinder haben Eltern, die erwerbstätigsind. Auch die meisten armen Kinder haben mindestenseinen Elternteil, der erwerbstätig ist. Das zeigen vieleempirische Studien, und auch das ist etwas, was Sie end-lich einmal zur Kenntnis nehmen sollten. Es geht nichtnur um die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit; vielmehrsollten wir dafür sorgen, dass auch die Armut von Er-werbstätigen, die Kinder haben, endlich nachhaltig be-kämpft wird.
Wir müssen natürlich auch weiterhin an die Ursachenherangehen. Häufig ist in einem Haushalt nur eine Per-son erwerbstätig; bei Alleinerziehenden ist es immereine Person. Wie ich eben schon beschrieben habe, rei-chen deren finanzielle Mittel selbst bei Vollzeittätigkeitnicht aus. Wenn von zwei Elternteilen nur einer vollzeit-erwerbstätig ist, reicht das Geld in vielen Fällen eben-falls nicht aus, und dann ist auch das Armutsrisiko deut-lich erhöht.Damit sind wir bei Punkten wie geschlechtsspezifi-sche Arbeitsteilung als eine wesentliche Ursache vonKinderarmut, die wir ebenfalls endlich bekämpfen müs-sen. Morgen ist Equal Pay Day. Das ist eine Ursache da-
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Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
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für, dass wenn nur der Mann arbeitet und die Frau für dieKindererziehung zu Hause bleibt. Dann reicht das Ein-kommen häufig nicht aus. Das heißt: „Gleicher Lohn fürgleiche Arbeit“ ist ein wichtiger Punkt. Da müssen wiretwas ändern, um Kinderarmut zu beseitigen.
Aber es gibt noch viel mehr strukturelle Ursachen fürdiese geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die wirüberwinden müssen: das Ehegattensplitting, die kosten-freie Mitversicherung in der Krankenversicherung. Ins-besondere an die Minijobs müssen wir ran. Wenn dieFrauen in der Teilzeit- oder Minijobfalle gefangen sind,dann führt das dazu, dass das Erwerbseinkommen derEltern insgesamt nicht reicht. Deswegen müssen wir, umdie Kinderarmut zu bekämpfen, auch endlich die Sub-ventionierung der Minijobs abschaffen und existenzsi-chernde Erwerbstätigkeit für Frauen ermöglichen.
Sie sehen also: Es gibt viele Punkte, bei denen wir alsBund ansetzen können, um Kinderarmut tatsächlich zuverringern.Ich würde sogar noch weiter gehen: Eigentlich sollteunser Ziel sein, Kinderarmut völlig zu beseitigen. Aberdies schrittweise zu tun, wäre ja auch schon mal nichtschlecht. Es ist unser aller Verantwortung, Kinderarmutzu verringern. Darum geht es jetzt. Die Große Koalitionsollte endlich allen Mut zusammennehmen und tätigwerden. Es ist unser aller Verantwortung, die Armut vonKindern zu beseitigen; denn Kinder sind unsere Zukunft.
Das Wort hat die Kollegin Bärbel Bas, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bekann-termaßen komme ich aus einer Stadt, die man durchausals finanzschwach bezeichnen kann. Auch wenn derKollege Whittaker sagt, Mülheim sei nicht repräsentativ:Es ist schon repräsentativ für eine Region – Duisburg ge-hört auch dazu –, wo man etwas tun muss.Der Arbeitsmarkt ist schon ein wichtiger Punkt. Dabesteht eine Verbindung. Wenn Eltern keine Arbeit ha-ben oder nur im geringfügigen Bereich beschäftigt sind,hat das Auswirkungen auf die Kinder; das kann ich jedenTag sehen. Deshalb müssen wir auch in diesem Bereichetwas tun. Die Bundesregierung tut das, insbesonderedie Arbeitsministerin.Ich will auch das hier ansprechen: In Duisburg ste-cken 43 Prozent der als arbeitslos gemeldeten Menschenin der Langzeitarbeitslosigkeit. 43 Prozent! Sie kommenaus diesem Teufelskreis nicht mehr heraus. Daran hän-gen ganz viele Kinder. Andrea Nahles hat ein Konzept,ein Programm entwickelt, mit dem wir uns genau umdiese Zielgruppe kümmern wollen. Menschen, die mitKindern im Haushalt leben, sollen besonders gefördertwerden. Das ist genau der richtige Schritt. Jetzt mag mankritisieren, dass das nicht ausreicht. Aber das ist ein gro-ßer Schritt für die Menschen, die aus dieser Schleifeohne Hilfe nicht herauskommen.Die Schleife beginnt da, wo Kommunen unterfinan-ziert sind. Es war ein großer Schritt, dass wir die Kommu-nen jetzt mit einem großen Batzen Geld entlasten, sodasssie investieren können. In Duisburg fehlen klassischer-weise Arbeitsplätze. Wenn die Arbeitslosigkeit 12 Prozentbeträgt, dann fehlen einfach Arbeitsplätze für die vielenMenschen, die wieder in den Arbeitsmarkt wollen. Wirbrauchen solche Programme, um die Menschen aus die-sem Teufelskreis herauszuholen.
Frau Eckenbach, eines muss ich noch sagen – viel-leicht haben Sie das Prinzip der Bertelsmann-Studienoch nicht ganz verstanden –: Der präventive Ansatz istschon wichtig. Wenn man wartet, dass das Kind in denBrunnen fällt und dann ganz viel Geld hinterherschüttet,ist das, finde ich, der falsche Ansatz. Der richtige Ansatzist, vorher einen Deckel auf den Brunnen zu machen, da-mit erst gar kein Kind hineinfällt.
Das ist der Ansatz der Prävention. „Kein Kind zurück-lassen!“, das läuft seit drei Jahren. Vielleicht sind die Er-folge noch nicht sehr groß, aber es gibt schon erste Er-folge, und die sind auch nachgewiesen. Das sollte maneinmal anerkennen.
Gute Bildung, starke Prävention und die frühe Förde-rung sind wichtig. Da hilft kein Betreuungsgeld – das ha-ben wir ja jetzt –; gerade den Duisburger Kindern hilft es,wenn sie früh in gute und qualitätsorientierte Kindertages-einrichtungen kommen.
Das hilft von klein auf. Das verhindert Armut schonganz früh. Deshalb sollten wir uns darauf konzentrieren.Wir haben auch in einem anderen Bereich großeSchwierigkeiten – nicht nur in Duisburg, sondern auchin anderen Städten im Ruhrgebiet –: Es gibt Auszubil-dende, die eine Ausbildung beginnen, die aber Defizitemitbringen und deshalb Unterstützung brauchen, damitsie ihre Ausbildung bis zum Ende, bis zum Abschlussdurchziehen. Auch das verhindert Armut. Das ESF-Konzept, das Andrea Nahles vorgestellt hat, ist deshalbso wichtig, weil es vorsieht, dass man sich im Rahmeneiner assistierten Ausbildung genau um diese Jugend-lichen kümmert, also direkt in der Ausbildung eineBegleitung vorsieht, damit die Jugendlichen ihre Ausbil-
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Bärbel Bas
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dung durchstehen. Auch das verhindert Armut bei jun-gen Menschen. Das ist ein wichtiger Ansatz.
Zum Abschluss will ich noch einmal ganz deutlich sa-gen: Den Ansatz „Kein Kind zurücklassen!“ mögenmanche Kolleginnen und Kollegen hier im Hause belä-cheln, aber er zeigt Erfolge. Er ist wichtig; denn auch inder Bertelsmann-Studie, ob man die Zahlen jetzt anzwei-felt oder nicht, wurde festgestellt: Gute Bildung – für dietun diese Bundesregierung und auch wir als Sozialdemo-kraten eine ganze Menge –, starke Prävention und vorallen Dingen eine ganz frühe Förderung der Kinder so-wie eine Verbesserung der finanziellen Situation helfenimmer.Was die Alleinerziehenden angeht – meine Kolleginhat es gesagt – muss man sagen: Diese sind eine ganzspezielle Gruppe, die wir uns anschauen müssen, weilsie aufgrund der fehlenden Betreuung oft gar nicht inden Arbeitsmarkt können. Deshalb müssen wir uns dasGanze, auch was die finanzielle Situation bei den Allein-erziehenden angeht, noch einmal ganz genau ansehen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Martin Pätzold für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Die Kinderarmut ist ein wichtiges Thema.Deswegen ist es gut und richtig, dass heute in derAktuellen Stunde auf Verlangen der Linken auch dieBertelsmann-Studie diskutiert wird. Sie werden wenigüberrascht sein, dass ich im Verlauf meiner Rede zu an-deren Schlussfolgerungen kommen werde als Sie, dieSie bisher dargestellt haben, wie Kinderarmut bekämpftwerden soll. Aber das, was in der sozialen Marktwirt-schaft klar ist, ist, dass es das Versprechen gibt, dassjedes Kind, das sich anstrengt, die gleichen Chancen ha-ben muss, aus sich etwas zu machen.
Bei uns sollen Zukunftschancen für alle gelten, unabhän-gig von der Herkunft. Dafür haben wir uns in der sozia-len Marktwirtschaft immer eingesetzt.
Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit bedeu-ten aber nicht – da unterscheiden wir uns ganz deutlich –,dass es Ergebnisgleichheit gibt. Das heißt, wir werdennie Ergebnisgleichheit herstellen können, sondernnur Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit. DerGrund für Kinderarmut ist laut der Bertelsmann-Studieimmer noch, dass die Eltern dieser Kinder keine Arbeithaben oder eine Arbeit, bei der sie schlecht bezahlt wer-den. Deswegen müssen wir bei den Ursachen für dieEntstehung von Kinderarmut ansetzen.Die Studie der Bertelsmann Stiftung zeigt, dassdeutschlandweit 17 Prozent der Kinder von Kinderarmutbetroffen sind. Es gibt enorme regionale Unterschiede.Es gibt Regionen mit knapp 2 Prozent Kinderarmut, alsoeinem vermeintlich guten Wert, und es gibt Regionenwie Bremerhaven an der Spitze mit bis zu 40 Prozent.Da müssen wir ansetzen. Wir müssen schauen, dass derArbeitsmarkt weiter gestärkt wird und dass sich dieBedingungen so verbessern, dass Menschen in Arbeitkommen.Dafür hat gerade diese Bundesregierung in den erstenMonaten sehr viel getan. Wir wollen mit dem Mindest-lohn die Binnenkonjunktur stärken, und wir setzen Pro-gramme zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeitauf, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dassmehr Menschen in Arbeit kommen. Wir haben heute mit43 Millionen Erwerbstätigen eine Rekordbeschäftigung.Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, die jaauch nach Ihrer Definition eine gute Form der Arbeit ist,ist deutlich gestiegen. Das, was wir in den letzten Jahrengemacht haben, um Kinderarmut und die Armut an ge-sellschaftlicher Teilhabe abzubauen, ist, dass wir in vierBereichen die Teilhabemöglichkeiten von Kindern ge-stärkt haben:Erstens. Es wurde schon angesprochen: Wir haben dieMöglichkeiten der frühkindlichen Bildung, der Kinder-betreuung ausgebaut. Heute besuchen 96 Prozent dervierjährigen Kinder eine Kindertagesstätte. Zweitens.Wir haben im Bereich der Schwerpunktkitas Regionen,die besonders stark von sozialen Problemen betroffensind, in den Jahren 2011 bis 2014 mit 400 MillionenEuro unterstützt.Drittens. Wir haben den Ausbau der Ganztagsschulenmit einem großen Programm gefördert. 8 200 Ganztags-schulen wurden mit über 4 Milliarden Euro unterstützt.Viertens. Wir haben die Leistungen des Bildungs- undTeilhabepaketes eingeführt, die die Integration undTeilhabe von Kindern ermöglichen sollen, die von Kin-derarmut betroffen sind.
Das sind vier Punkte, mit denen wir versuchen, Teil-habemöglichkeiten zu erhöhen. Ich bin auch fest davonüberzeugt, dass es uns gerade in der sozialen Marktwirt-schaft – die gekennzeichnet ist durch eine Tarifpartner-schaft und durch Unternehmen, die sich engagieren – ge-lingen muss, diese Kinder zu fördern.Hier komme ich auf ein Berliner Projekt der Deut-schen Bank zu sprechen, von dem ich weiß, dass sichdrei engagierte Manager, Herbert Schaub, Christian vonDrigalski und Volker Wieczorek, um benachteiligteJugendliche kümmern und versuchen, ihnen eine Per-spektive aufzuzeigen, wie man mit Engagement undLeistung aus diesem Loch herauskommen kann und einegute Zukunft hat. Wir werden uns in der sozialen Markt-wirtschaft weiter dafür einsetzen.Vielen Dank.
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Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Frank Junge
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Eltern und Familien zustärken, Müttern und Vätern ein Umfeld zu bieten, indem sie einer auskömmlichen Erwerbstätigkeit nach-gehen können, und den Lütten schon frühzeitig dasRüstzeug für eine eigenständige, selbstbestimmte undselbstbewusste Persönlichkeit zu geben, sind die Grund-lagen und der richtige Weg, um Kinderarmut richtig undwirksam zu bekämpfen.Da wir uns da hoffentlich alle einig sind, frage ichmich: Warum treten hier solche Misstöne auf, wenn wirüber das reden, was wir in den letzten 15 Monaten be-schlossen haben? Wir haben einen gesetzlichen Mindest-lohn beschlossen, der die Einkommenssituation von vie-len Menschen in unserem Land erheblich verbessernwird. Wir haben das Elterngeld Plus auf den Weg ge-bracht, um Freiräume und Möglichkeiten für Eltern zuschaffen, Familie und Beruf besser unter einen Hut zubekommen. Wir haben den bundesweiten Kitaausbaumit erheblichen Beträgen gefördert, der wiederum not-wendig ist, damit Eltern überhaupt beruflich tätig seinkönnen.
Wir haben massive Investitionen in frühkindliche Bil-dung auf den Weg gebracht, die dazu führen, dass dieLütten schon frühzeitig richtig Deutsch lernen bzw. sichandere Fähigkeiten aneignen, die sie für ihr späteres Le-ben brauchen.Warum sage ich das? Ich sage das deshalb, weil dieBertelsmann-Studie – mit Blick auf die Fraktion DieLinke sage ich: Sie sollten sich aus dieser Studie nichtnur die Argumente herauspicken, die Sie hören wollen –ganz klar aufzeigt, welche Problemfelder angegangenwerden müssen, damit am Ende Kinderarmut verhindertwerden kann. Genau die Dinge, die wir mit den von mirgenannten Beispielen auf den Weg gebracht haben, sor-gen dafür, dass wir am Ende erfolgreich sind.
Wenn Sie von der Fraktion Die Linke – das muss ichauch noch einmal sagen – öffentlich verlautbaren lassen,dass Armut bei uns durch Regierungspolitik zur Erb-krankheit geworden ist, dann können Sie damit die Poli-tik dieser Koalition nicht meinen; denn in dieser Regie-rungskoalition steht die SPD mit in der Verantwortungund prägt maßgeblich die Themen. Das muss man ein-mal zur Kenntnis nehmen.
Wir können zu einem späteren Zeitpunkt noch einmalnachschauen, was aus unseren Vorhaben geworden ist.Zum aktuellen Zeitpunkt zumindest ist das nicht mög-lich.
Dennoch – das möchte ich auch sagen –: Jedes Kind,das in Armut aufwachsen muss, ist eines zu viel. Darinsind wir uns alle einig. Als nächster Schritt muss – jetztkomme ich auf finanzpolitische Dinge zu sprechen, dieebenfalls kurz angerissen worden sind – nach meinemDafürhalten eine spürbare finanzielle Entlastung für alleFamilien auf den Weg gebracht werden, und zwar so,dass ein Gesamtpaket aus dem Grundfreibetrag, demKinderfreibetrag, dem Kindergeld und dem Kinder-zuschlag entsteht. Dabei muss die finanzielle Entlastungso stark sein, dass sie sich im Portemonnaie deutlich nie-derschlägt.
Der vorliegende Referentenentwurf unseres Bundes-finanzministers Schäuble – ich sage das mit allem gebo-tenen Respekt, aber auch in aller Sachlichkeit – ist weitvon einem solchen Anspruch entfernt. Das muss maneinmal ganz klar so formulieren.
Denn neben der pflichtgemäßen und verfassungsrecht-lich gebotenen Anpassung des Grundfreibetrags und desKinderfreibetrags für 2015 und 2016 auf Basis des ak-tuellen Existenzminimumberichts, neben der Kür, dassdas Kindergeld 2015 um 4 Euro pro Monat und 2016 umweitere 2 Euro pro Monat aufgestockt werden soll undder Kinderzuschlag ab Juli 2016 um 20 Euro erhöht wer-den soll, findet sich dort nichts wieder. Das ist aus mei-ner Sicht eine Enttäuschung.Ich möchte das an zwei Punkten deutlich machen:Erstens. Im Koalitionsvertrag findet sich die klareFormulierung, dass der steuerliche Entlastungsbetrag fürAlleinerziehende angehoben werden soll. Weiter heißtes, dass er nach der Zahl der Kinder gestaffelt werdensoll. Das findet im Gesetzentwurf von Herrn Schäubleüberhaupt nicht statt. Damit werden wieder einmal dieje-nigen alleingelassen, die am dringendsten Unterstützungbrauchen. Führt man sich die Situation von Alleinerzie-henden vor Augen, erkennt man, dass sie im Vergleichzu den Familien, in denen zwei Ehepartner Kinder erzie-hen, erheblich höhere finanzielle Lasten zu tragen haben.An diesem Punkt erkennt man wiederum – das habenauch schon einige Vorredner gesagt –, warum Kinder-armut insbesondere in Familien von Alleinerziehendenvorkommt. Darum ist es aus meiner Sicht nicht nur eineFrage der Gerechtigkeit, hier nachzusteuern; es ist auchein Punkt, an dem man Kinderarmut an der Wurzel be-kämpfen kann.
Der Gesetzentwurf von BundesfinanzministerSchäuble enthält einen zweiten Punkt, der mir auf den
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Frank Junge
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Nägeln brennt: Es wird keine rückwirkende Anhebungdes Kinderfreibetrags und des Kindergeldes für 2014geben. Wir werden nicht lange warten müssen, bis eswegen genau dieser ausbleibenden Leistungen, die unse-ren Familien zugutekommen würden, zu Klagen kommt;der Bund der Steuerzahler hat das schon angekündigt. Inder Folge würde das Gericht anordnen, hier nachzusteu-ern. Diese Peinlichkeit können wir uns ersparen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zumSchluss. Der Entwurf von Finanzminister Schäuble zufamilienpolitischen Leistungen wird sich mit Sicherheitvor der Kabinettssitzung nicht mehr ändern lassen. Ichbedaure das. Wir von der SPD haben an vielen Stellenweiter reichende Vorstellungen; im Koalitionsvertraggibt es entsprechende Vereinbarungen. Ich lade Sie alleein, im parlamentarischen Verfahren dafür Sorge zutragen – wir werden das tun –, dass die Dinge, die unsdiesbezüglich auf den Nägeln brennen, Einzug in denGesetzentwurf finden.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Schmidt für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Gäste im Bun-destag! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debattezeigt ganz eindeutig, dass Armut das Lebensrisiko imLeben eines kleinen Kindes ist. Wir alle wohnen in ei-nem reichen Land, ich in Baden-Württemberg, einemder reichsten Bundesländer. Da fragt man sich: Kann essein, dass so viele Kinder so wenig Zugang zu Wohl-stand haben und so früh so stark beeinträchtigt sind? Ja,sagt die Bertelsmann-Studie. Die Studie ist tatsächlichsehr differenziert zu betrachten; dazu haben wir heuteschon sehr viel gehört.In den ersten Lebensjahren ist die Situation besonderskritisch, weil in dieser sensiblen Lebensphase dieGrundlagen für die Zukunft gelegt werden und damitalle elementaren Voraussetzungen wie Sprache, Feinmo-torik und soziale Fähigkeiten geschaffen werden.Was müssen wir tun, was sollen wir aus dieser Studielernen? Wir müssen zwei Dinge gleichzeitig tun: Wirmüssen uns um die Eltern kümmern, und wir müssen unsum die Kinder kümmern. Was wir brauchen, sindArbeitsplätze in ausreichender Zahl. Außerdem müssendie Eltern genug verdienen, damit sie sich und ihrenFamilien ein auskömmliches Leben ermöglichen kön-nen. Mit dem Mindestlohn sind wir hier – das mögen Siebestreiten – in die richtige Richtung gegangen. Mit demElterngeld Plus wollen wir erreichen, dass sich Mütterund Väter verstärkt um ihre Kinder kümmern können,ohne im Beruf den Anschluss zu verlieren, sodass Armuterst gar nicht entstehen kann.Gut bezahlte Arbeit für die Eltern zu schaffen, heißtim Klartext natürlich: Bekämpfung der Arbeitslosigkeitund der Langzeitarbeitslosigkeit. Wir brauchen eine bes-sere Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch Schaf-fung von Flexibilität, oftmals auch nur durch den gutenWillen von Arbeitgebern, Behörden und allen Beteilig-ten. Wir brauchen mehr und bessere langfristige Betreu-ungsangebote für Kinder von alleinerziehenden Mütternund Vätern. 50 Prozent – die Zahl wurde genannt – derHaushalte im SGB-II-Bezug mit Kindern sind Alleiner-ziehendenhaushalte.Wie ich schon sagte, müssen wir uns um die Kinderdirekt kümmern. Dazu gehört ganz besonders der Zu-gang von Kindern zu Kitas und anderen Fördereinrich-tungen, und das unabhängig vom Geldbeutel der Eltern.
Seit dem 1. August 2013 hat jedes Kind Anspruch aufeinen Kitaplatz. Seitdem ist wirklich viel passiert. Daskönnen Sie – Herr Müller, Frau Dörner, liebe Opposi-tion – bestreiten, wie Sie wollen: Es ist enorm viel pas-siert in dieser Zeit. Einige meiner Vorredner haben überdie finanziellen Anstrengungen des Bundes für die Kin-dertagesbetreuung in den letzten Jahren gesprochen – bishin zum gestern vom Kabinett beschlossenen Nachtrags-haushalt für den Kitaausbau: plus 100 Millionen Euro.Das ist alles gut; aber ich weiß auch, wir sind noch nichtam Ziel. Darin sind wir uns wenigstens einig: Wir sindauf dem Weg.
Wir brauchen noch mehr Plätze, weil immer noch in vie-len Bundesländern Plätze fehlen, zum Beispiel in Baden-Württemberg. Das Land wird grün-rot regiert.Mein Berliner Kollege Martin Pätzold hat schon vonden wichtigen Schwerpunktkitas gesprochen. Von diesenrund 4 000 Schwerpunktkitas ist eine in meinem Wahl-kreis, im Ort Albbruck am Rhein. Ich habe mich imOktober vom Erfolg der Sprachförderung in dieser Ein-richtung überzeugen können. Sowohl der dortige Bür-germeister Stefan Kaiser als auch die Kinderhausleite-rin Iris Vogt haben mir versichert, wie wichtig derjährliche, vergleichsweise kleine Förderbetrag in Höhevon 25 000 Euro ist, damit dort Sprachunterricht von ei-ner Fachkraft gegeben werden kann und somit jedesKind von Anfang an faire Chancen hat. Spracherwerb istder Grundstein für den späteren Erfolg in Bildung undBeruf; ohne Sprache kein Beruf, ohne Beruf keine Per-spektive.
Baden-Württemberg ist nicht der Hotspot sozialerProbleme, jedenfalls nicht in der Fläche; aber auch beiuns sind sozial benachteiligte Familien und natürlichKinder mit Migrationshintergrund betroffen. Ich begrüßedeswegen, dass der Bund auch über das Jahr 2015 hinauseine weitere Initiative zur sprachlichen Bildung plant.Der Staat ist natürlich wichtig. Darüber hinaus gibt esaber im ganzen Land viele positive, ermutigende Pro-
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Gabriele Schmidt
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jekte von unterschiedlichsten Initiativen und Anbietern,die Kinder und ihre Eltern stärken und den Kindern dasKindsein ermöglichen. Ich denke an die Frühen Hilfen inBayern oder Rock Your Life! für größere Kinder in mei-ner Heimat. Ich denke an die kommunalen Einrichtun-gen wie das Familienzentrum in meiner NachbarschaftLauchringen, das ich öfter besuche. Hier können wir unsalle als Mitbürger, als Miteltern, hier kann sich die ganzeGesellschaft zum Wohl von Kindern, für bessere Startbe-dingungen und für Chancengleichheit einbringen.Vielen Dank.
Der Kollege Paul Lehrieder hat abschließend für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen,liebe Kollegen! Ich freue mich, dass auch die Regie-rungsbank heute gut besetzt ist. Es freut mich ganz be-sonders, dass neben den Fachpolitikern, insbesondereder Kollegin Ferner, auch der Staatssekretär im Finanz-ministerium, Herr Steffen Kampeter, unter uns weilt.
Das kann zwei Gründe haben: zum einen, dass wir nichtzu viel versprechen, was er halten muss; zum anderenkann es aber auch sein – ich hoffe, dass dies der Fallist –, dass er sich die sinngebenden Ausführungen zurBekämpfung der Kinderarmut auch aus fiskalischenGründen hier anhört und guckt, wo wir da in den nächs-ten Wochen noch etwas verbessern können.
– Der Applaus gebührt Ihnen, Herr Kampeter.
Herr Kollege Müller – danke für die Aktuelle Stundeauch an die Linken; das ist damit auch erledigt –,
Sie haben das Deutsche Kinderhilfswerk zitiert. DieMail, die Sie zitiert haben, ging nicht nur den Linken zu,sondern zum Glück auch der CSU. Sie haben allerdingsbei Ihrem Zitat einen Satz zu bald aufgehört; da könnenSie sich Ihr Skript noch einmal vornehmen. Sie habengesagt:Ein gesundes Aufwachsen sollte für alle Kinder,unabhängig vom Geldbeutel ihrer Eltern, ebensoeine Selbstverständlichkeit sein.Dann ging es in der Mail aber weiter:Mit Bildung stärken wir die Kinder als Subjekteund ermöglichen es ihnen, ihr Leben in die Hand zunehmen und nicht in Resignation zu versinken. Hiersind gute Kitas mit sozial gemischten Gruppen– darauf hat die Kollegin gerade hingewiesen –ein wichtiger Ansatzpunkt für mehr Chancenge-rechtigkeit, betont Thomas Krüger, der Präsidentdes Deutschen Kinderhilfswerks.Das war der Werbeblock für das Kinderhilfswerk.Bei der Bekämpfung von Kinderarmut – ich habe dieMail deswegen extra noch einmal zitiert – spielen derZugang zu Bildung und Ausbildung sowie die sozialeund kulturelle Teilhabe eine besondere Rolle. Beste-hende Kinderarmut verschärft sich langfristig dadurch,dass Kinder zunehmend in bildungsschwachen Haus-halten aufwachsen. Zur Bekämpfung von Kinderarmutreicht es deshalb nicht aus, den Familien ausschließlichmehr Geld in die Hand zu geben
– Geld löst nicht alle Probleme. Geld ist nicht alles, aberohne Geld ist alles nichts, das stimmt schon.
Vielmehr kommt es darauf an, alle Kinder gleicherma-ßen zu fördern. Daher haben wir im Jahr 2011 – daraufwurde von einigen Vorrednern schon hingewiesen – dasBildungs- und Teilhabepaket auf den Weg gebracht.Seither kann beispielsweise im Rahmen der Grundsiche-rung für Arbeitsuchende die Teilnahme von Kindern undJugendlichen an Angeboten wie Nachhilfe, Musikschule,Mittagessen in Hort und Schule und Klassenausflügenbeantragt werden. Lieber Kollege Wunderlich, in diesemBereich haben wir schon viel gemacht; ich sage das, weilSie das in Ihrer Eingangsrede so despektierlich ausge-führt haben.
In Bezug auf die Kitaqualität, liebe Frau KolleginDörner – nun möchte ich auch Steffen Kampeter anspre-chen; denn wir beraten am nächsten Mittwoch unser In-vestitionsprogramm im Ausschuss –, gibt es die berech-tigte Hoffnung, dass uns in den nächsten Jahren neuesGeld für die Verbesserung der Kitaqualität zur Verfü-gung gestellt wird, damit wir die Kitaqualität fördernund stärken können.Richtig ist – das kann man gar nicht oft genug beto-nen –: In den letzten sechs, sieben, acht Jahren haben wirden Ausbau der Kitas so vorangetrieben wie keine Gene-ration vor uns. Die Möglichkeit, das Kind in eine Kita zugeben, ermöglicht den Eltern, eine Berufstätigkeit, sei esTeilzeit oder Vollzeit, auszuüben. Das ist eine der wich-tigsten Säulen gegen die Kinderarmut, die natürlich oftaus Elternarmut resultiert. Man sieht: Die Große Koali-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 8967
Paul Lehrieder
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tion – die erste Große Koalition, wir mit der FDP, undauch die zweite Große Koalition – hat in diesem Bereichsehr viel getan. Wir brauchen uns nicht zu verstecken.Wir brauchen auch keine Belehrungen von den Linken.
Kinder können dann am besten aus der Armut heraus-geholt werden, wenn ihre Eltern einer Erwerbstätigkeitnachgehen. Um dies zu erleichtern, haben wir vor ein-einhalb Jahren den Rechtsanspruch auf einen Betreu-ungsplatz für unter Dreijährige eingeführt. Dieser giltseit dem 1. August 2013. Wir setzen uns für eine guteVereinbarkeit von Familie und Beruf ein, indem wir dieKinderbetreuung weiter ausbauen, flexible Arbeits- undTeilzeitmodelle fördern und den Wiedereinstieg nach ei-ner familienbedingten Pause erleichtern.Mit dem Freibetrag für Betreuung und Erziehungoder Ausbildung sowie den bereits genannten zusätzli-chen Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaketgarantieren wir für jedes Kind Bildung und Teilhabe.Durch die Einführung des Elterngeld Plus – auch daraufhaben meine Vorredner bereits hingewiesen; darauf kannman als letzter Redner immer Bezug nehmen – soll El-tern die bestmögliche Inanspruchnahme des Elterngeldesin Kombination mit einer nicht geringfügigen Teilzeittä-tigkeit ermöglicht und damit der Wiedereinstieg vor al-lem für Alleinerziehende erleichtert werden.Den wichtigsten Beitrag zu einer modernen Familien-politik leistet jedoch der weitere Ausbau der Kinderta-gesbetreuung. Ich möchte an dieser Stelle ganz bewusstden Ländern, die ihre Hausaufgaben gemacht haben – eswaren nicht alle gleichmäßig aktiv, aber die meisten wa-ren aktiv, insbesondere Bayern –, und auch den Kommu-nen, den Bürgermeistern und Gemeinderäten ein herzli-ches Wort des Dankes sagen.
– Bitte schön. Da kann man schon einmal klatschen. –Als wir vor sieben, acht Jahren das Projekt angegangensind, hätte ich mir nicht vorstellen können, dass derRechtsanspruch auf einen Kitaplatz zum 1. August 2013relativ reibungslos – es hat ein paar wenige Probleme ge-geben, aber im Großen und Ganzen hat es reibungslosgeklappt – eingeführt wird. Ein herzliches Dankeschönan die Kommunalpolitiker; das gehört sich an dieserStelle.Nach meinem Dank an die Kommunalpolitiker jetztmeine Bitte an die Finanzpolitiker: Wir diskutieren überdie vernünftige Ausstattung für Kinder, in den nächstenWochen und Monaten über die Kindergelderhöhung.Bitte, lieber Steffen Kampeter, du hast gehört, wie wich-tig die Kinder und die Familien sind. Die Kinder vonheute sind die Steuerzahler von morgen. Ihnen ein gutesAufwachsen zu ermöglichen, das sollte jedem Finanz-politiker ein ganz großes Anliegen sein.Herzlichen Dank.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Umsetzung von Empfehlungen des
NSU-Untersuchungsausschusses des Deutschen
Bundestages
Drucksache 18/3007
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Recht und Verbraucherschutz
Drucksache 18/4357
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Recht und Verbrau-
cherschutz zu dem Antrag der
Abgeordneten Volker Beck , Luise
Amtsberg, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Hasskriminalität wirkungsvoll statt symbo-
lisch verfolgen
Drucksachen 18/3150, 18/4357
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Johannes Fechner für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer!14 Jahre lang konnten die Mitglieder des NSU unter-stützt von einem Netzwerk von Gleichgesinnten brutaleVerbrechen begehen. Diese rechtsextremistischen Terro-risten verübten zehn Morde, einen Mordversuch, einenSprengstoffanschlag mit lebensgefährlich verletztenMenschen in Köln und brutale Raubüberfälle. Dass diesebrutale Mordserie nicht gestoppt werden konnte, hängtauch damit zusammen, dass aufseiten der Sicherheitsbe-hörden massive Fehler passiert sind. Der NSU-Untersu-chungsausschuss hat mangelnden Informationsaustauschder Ermittlungsbehörden, Kompetenzstreitigkeiten undauch direkte Fehleinschätzungen klar festgestellt.Wenn man aus Baden-Württemberg die Nachrichthört, dass bei einer kriminaltechnischen Untersuchungeines Autos übersehen wurde, dass dort eine Waffe, eineMachete und Autoschlüssel lagen, dann hofft man doch,falls diese Medienberichte stimmen, dass diese seltsa-men Ermittlungspannen endlich zu Ende sind. Aber dasnur am Rande.Parteiübergreifend wurden im Untersuchungsaus-schuss nicht nur sehr sorgfältig die Fehler und Versäum-nisse analysiert. Vielmehr wurde eine detaillierte Listeerstellt, welche Konsequenzen von der Politik zu ziehen
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8968 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
Dr. Johannes Fechner
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sind, um solche schrecklichen Verbrechen zukünftig zuverhindern. Genau diese Empfehlungen gehen wir mitdiesem Gesetzesentwurf an.Eine wichtige Empfehlung war, die Zuständigkeitendes Generalbundesanwaltes klarer zu gestalten und aus-zuweiten. So kann der Generalbundesanwalt nach demGesetzentwurf, den wir vorlegen, bereits bei objektivstaatsfeindlichem Charakter einer Tat die Verfolgungübernehmen. Eine entsprechende Zielsetzung der Tatselbst ist für die Aufnahme von Ermittlungen durch denGeneralbundesanwalt nicht mehr erforderlich. Die Zu-ständigkeit des Generalbundesanwaltes kann zukünftigauch durch den länderübergreifenden Charakter der Tatbegründet werden.Schließlich hat der Untersuchungsausschuss festge-stellt, dass die Staatsanwaltschaften, die mit den Ermitt-lungen betraut waren, dem Generalbundesanwalt ebennicht Informationen und Akten übersandt hatten, anhandderer er seine Zuständigkeit hätte überprüfen können.Deshalb wird nun ausdrücklich geregelt, dass die Staats-anwaltschaften Vorgänge, die Anlass zur Prüfung einerÜbernahme durch den Generalbundesanwalt geben, andiesen unverzüglich übersenden müssen. Das alles sindwichtige Änderungen, die wir umsetzen müssen, wennwir verhindern wollen, dass solche Terrorserien inDeutschland möglich sind.
Der Untersuchungsausschuss hat ferner einstimmigfestgehalten, dass in allen Fällen von Gewaltkriminalität,die einen rassistisch oder politisch motivierten Hinter-grund haben können, dies nachvollziehbar dokumentiertwerden muss. Polizei und Staatsanwaltschaft seien zuverpflichten, ein solches Motiv für die Tat angemessenzu berücksichtigen. Diese einstimmige Forderung, diePrüfung und Ahndung von rassistisch motivierter Ge-waltkriminalität zu verbessern, ist Ziel dieses Gesetzent-wurfs. Wir wollen in § 46 des Strafgesetzbuchs aus-drücklich regeln, dass rassistische, fremdenfeindlicheoder sonstige menschenverachtende Tatmotivationenschärfer bestraft werden können. Das ist ein klares Zei-chen gegenüber all jenen Gewalttätern, die meinen, Min-derheiten oder Menschen anderen Glaubens, andererHautfarbe oder anderer Herkunft Gewalt antun zu kön-nen. Das können wir nicht dulden. Dieses Gesetz ist einganz klares Zeichen dagegen.
Sicher, schon bisher konnten Richter und Staatsan-wälte rassistische Tatmotivationen in die Bemessung desStrafmaßes strafschärfend einbeziehen. Aber die aus-drückliche Nennung verdeutlicht nun die Rechtslage.Deswegen ist es sinnvoll, dass wir diese Motivationausdrücklich ins Gesetz schreiben. So haben es in derSachverständigenanhörung auch Herr Wehowsky, Bun-desanwalt beim BGH, und Generalstaatsanwalt Konradgesagt.Ausdrücklich erwähnen möchte ich in diesem Zusam-menhang, auch wenn es nicht direkt mit dem Gesetzent-wurf zu tun hat, dass jüngst der RiStBV-Ausschuss Än-derungen genau in diesem Sinne beschlossen hat.Ermittlungen sollen sich auch auf rassistische, fremden-feindliche oder menschenverachtende Beweggründeerstrecken. Zudem wird es zukünftig in der entsprechen-den Regelung heißen, dass ein öffentliches Interesse ander Strafverfolgung dann vorliegt, wenn ein Täter mitrassistischen, fremdenfeindlichen oder sonstigen men-schenverachtenden Beweggründen handelt.Ich glaube, meine lieben Kolleginnen und Kollegen,mit diesem Gesetzentwurf ziehen wir die richtigen Kon-sequenzen aus der brutalen Mordserie des NSU und zei-gen, dass wir rassistische Gewalttaten nicht dulden undalle rassistisch motivierten Gewalttäter eine harte Strafeerwartet. Das ist erforderlich. Deswegen verabschiedenwir diesen Gesetzentwurf.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Halina
Wawzyniak das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnenund Kollegen! Der Gesetzentwurf soll Empfehlungendes NSU-Untersuchungsausschusses umsetzen. DerNSU-Untersuchungsausschuss hat 47 Handlungsemp-fehlungen oder Schlussfolgerungen aufgeschrieben. Wirsetzen hier nur einen sehr geringen Teil um. Der NSU– ich glaube, das muss man an dieser Stelle noch einmalsagen – waren Nazis, Nazis, die mehr als ein Jahrzehntmordend durch das Land gezogen sind. Ich glaube, andiesen Fakt muss man in dieser Debatte immer wiedererinnern.
Die in dem Gesetzentwurf vorgeschlagenen Änderun-gen im Hinblick auf den Generalbundesanwalt sind un-streitig. Ich will an dieser Stelle nicht darauf eingehen.Ich will auch nur kurz etwas zur Änderung des § 46Absatz 2 des Strafgesetzbuches sagen. Die erste Hand-lungsempfehlung des NSU-Untersuchungsausschussessah vor, dass das in den RiStBV geregelt werden soll.Sie haben jetzt gesagt, dass das angestoßen wird. Aberwir diskutieren über den § 46 Absatz 2 des Strafgesetz-buches – das werden wir nachher noch erleben – unterdem Gesichtspunkt „Empfehlungen des NSU-Untersu-chungsausschusses“. Dieser hat aber die Änderung des§ 46 Absatz 2 des Strafgesetzbuches überhaupt nicht ge-fordert.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 8969
Halina Wawzyniak
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Und: Schon jetzt können die Ziele und Beweggründe so-wie die Gesinnung des Täters bei der Strafzumessungberücksichtigt werden, und zwar bei allen Tätern.
Die Regelung ist mithin einfach überflüssig. Sie istgut gemeint; aber gut gemeint ist nicht immer gut ge-macht. Insbesondere das Wort „menschenverachtend“steht ja zu Recht in der Debatte. Ich zum Beispiel finde,Motivationen, die homophob begründet sind, sind men-schenverachtend.
Insofern hat das Bündnis 90/Die Grünen im Übrigenmit seinem Antrag recht, wenn dort erklärt wird, dass eskeines neuen Sonderrechts, keiner neuen Straftat-bestände und keiner Erhöhung von Strafrahmen bedarf.Wir werden diesem Antrag zustimmen.
Ich will auf die Anhörung eingehen. Dort hat derSachverständige Sebastian Scharmer die erste Hand-lungsempfehlung des NSU-Untersuchungsausschussesaufgegriffen und gefordert:Bei jeder Gewalttat müsste ein Vermerk zumindestdarüber gefasst werden, ob neonazistische oderrassistische Motive ausgeschlossen werden können.Das würde zumindest eine entsprechende Signal-wirkung schon für die Polizei, die Staatsanwalt-schaft und letztlich dann auch für ein Gerichtsver-fahren haben.Sie haben ja gesagt, das finde jetzt in den RiStBVstatt. Dann ist das ein Anfang.
Aber: Wenn wir uns mit den Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses auseinandersetzen, dannmüssen wir über mehr reden, und dann ist dies mehr alseine rechtspolitische Debatte. Im Sondervotum meinerFraktion hieß es damals:Institutioneller Rassismus ist nach Überzeugungder Fraktion DIE LINKE. jenseits individuellerEinstellungen und Überzeugungen der einzelnenErmittler als ein strukturelles Merkmal der Polizei-arbeit bei den Ermittlungen zur rassistischen Mord-serie erkennbar.Ja, und ich finde, wir müssen über diesen institutiona-lisierten Rassismus reden, auch in einer solchen Debatte,die nur vordergründig eine rechtspolitische Debatte ist.
Institutioneller Rassismus geht von Institutionen derGesellschaft, Verfahren und Normen aus. Er führt tag-täglich zu Benachteiligung und Diskriminierung. Wirmüssen in einer solchen Debatte, wie sie hier stattfindet,darüber reden, was wir gegen Rassismus tun können.Wir müssen darüber reden, warum, weshalb und wiesoRassismus immer und immer wieder entsteht, warum erpartiell sogar Menschen in Massen auf die Straße treibt.Ich finde, gerade in Zeiten von Pegida müssen wir deut-lich sagen: Alle Rassisten sind Arschlöcher – überall.
Wenn wir gemeinsam etwas gegen Rassismus tunwollen, dann sollten wir das aufgreifen, was im Ab-schlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses imHinblick auf zivilgesellschaftliche Initiativen steht:Zahllose zivilgesellschaftliche Initiativen … leistenseit vielen Jahren einen unverzichtbaren Beitrag beider gesellschaftlichen und politischen Auseinander-setzung mit Rassismus, Antisemitismus, Rechts-extremismus und anderen Formen des Phänomensder „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“.… Zivilgesellschaftliche Initiativen sind unver-zichtbar, nicht nur als Frühwarnsystem. … DiesesEngagement muss unterstützt, ausreichend geför-dert, ausgebaut und verstetigt werden.
Ja, das muss es. Da ist ein Anfang gemacht worden: DieProjektlaufzeiten sind von drei auf fünf Jahre verlängertworden. Aber ich glaube, gerade diese zivilgesellschaft-lichen Initiativen brauchen Sicherheit: Sicherheit in ihrerArbeit, Sicherheit in ihrer Finanzierung.Mein letzter Satz – weil hier gerade von „Verrohung“gesprochen wurde –: Ich weiß gar nicht, warum Sie sichaufregen. Finden Sie den Satz „Alle Rassisten sindArschlöcher – überall“ etwa falsch? Ich nicht.
Bei aller Emotionalität und – sicherlich auch noch inder folgenden Debatte – bei allem Austausch von Argu-menten und Vorhaben zur Umsetzung der Empfehlungendes NSU-Untersuchungsausschusses bitte ich Sie trotz-dem, sich hier im Plenum einer parlamentarischen Aus-drucksweise zu befleißigen.
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8970 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
Vizepräsidentin Petra Pau
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– Ja. Kollege Beck, Sie müssen sich jetzt nicht zum An-walt machen, im Moment spricht die Präsidentin. Ichhabe Sie gar nicht angesprochen,
zurzeit befasse ich mich mit der Kollegin Wawzyniak.Wir fahren fort in der Debatte. Das Wort hat der Kol-lege Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Gesetzentwurf gibt Antworten auf eine
wichtige Frage, die uns als Gesetzgeber gestellt worden
ist: Wie können wir aus Fehlern, Versäumnissen und
unklaren Zuständigkeiten bei der Aufklärung der NSU-
Mordserie lernen und Strukturen im Bereich der Straf-
rechtspflege verbessern? Der wehrhafte Rechtsstaat ist
stets auch ein lernender, der seine gesetzlichen Regelun-
gen zum Schutz des friedlichen Zusammenlebens und
der freiheitlich-demokratischen Grundordnung überprüft
und notfalls anpasst; das ist der Kern gesetzgeberischer
Arbeit.
Der erste Teil des Gesetzes betrifft die Kompetenzen
und Zuständigkeiten des Generalbundesanwalts. Diese
sollen klargestellt und erweitert werden. Das betrifft das
Verhältnis des Bundes zu den Ländern und hat verfas-
sungsrechtlich unbedenklich zu sein. Die Justizhoheit
der Länder ist ein wesentliches und wichtiges Ordnungs-
prinzip unseres föderalen Staatswesens. Der Bund hat
daher im Bereich der Strafjustiz so zurückhaltend zu
handeln, dass diese grundsätzliche Kompetenzverteilung
zwischen Bund und Ländern nicht infrage gestellt wird.
Die vorgeschlagene Erweiterung und Klarstellung der
Aufgaben des Generalbundesanwalts wird diesen verfas-
sungsrechtlichen Vorgaben im Ergebnis gerecht, weil er
nicht in die Kompetenzen eingreift, sondern bestehende
Rechte geschärft und klargestellt werden.
Sie ist auch aus sachlichen Gründen geboten: Nach
der geltenden Rechtslage muss die staatsschutzfeind-
liche Tat bestimmt und geeignet sein, das friedliche
Zusammenleben zu stören. Das bedeutet, dass zur Be-
gründung der Zuständigkeit des Generalbundesanwalts
bislang stets die Motivlage des Täters geprüft und im Er-
gebnis ein staatsschutzfeindlicher Vorsatz bejaht werden
musste, um eine Ermittlungskompetenz zu begründen.
Das hat gerade in den Fällen zu einer unklaren Situation
geführt, in der zwar dem Grunde nach ein staatsschutz-
gefährdender Charakter der Tat vorlag, der Vorsatz des
Täters aber nicht deutlich zutage trat oder nicht ermittelt
werden konnte. Deswegen soll zukünftig richtigerweise
nur noch die objektive Eignung der Tat notwendig sein;
das ist die richtige Klarstellung.
Die Staatsanwaltschaften der Länder haben zudem
dem Generalbundesanwalt künftig auch zwingend Vor-
gänge vorzulegen, aus denen sich Anhaltspunkte für eine
Staatsschutztat ergeben. Damit wird der Generalbundes-
anwalt frühzeitig eingebunden und kann notwendige
Ermittlungen bündeln. Meine Damen und Herren, wir
haben gemeinsam dafür Sorge zu tragen, dass sich die
erweiterten Zuständigkeiten des Generalbundesanwalts
auch in einer entsprechenden Sach- und Personalausstat-
tung widerspiegeln; denn anders geht es nicht. Kompe-
tenzen müssen Mittel nach sich ziehen.
Wir ändern auch die Vorschrift über die Strafzumes-
sung, den § 46 StGB. Durch die Einfügung der Worte
„rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige men-
schenverachtende“ werden diese Motive ausdrücklich zu
einer Grundlage der Strafzumessung. Dies stellt einen
Paradigmenwechsel im Bereich der Strafzumessung dar.
Die bislang bewusst abstrakt gehaltenen Merkmale wer-
den jetzt durch Regelbeispiele ersetzt.
Ausdrücklich sei festgehalten: Wir schließen damit
keine Regelungslücke. Auch nach der bisherigen
Rechtslage können – und ich füge hinzu: müssen – die
Tatgerichte rassistische, fremdenfeindliche und sonstige
menschenverachtende Motive bei der Strafzumessung
strafverschärfend berücksichtigen.
Dass diese Motive jetzt zusätzlich und ausdrücklich im
Gesetzestext erwähnt werden, geschieht zur Erhöhung
der Sensibilität der Justiz und ist eine gesetzgeberische
Wertentscheidung, die besagt: Wir verurteilen Hasskri-
minalität in einem besonderen Maße.
Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass diese Regelung
in der Anhörung wegen der fehlenden zwingenden
Notwendigkeit von einigen Sachverständigen kritisch
beurteilt und in dieser konkreten Form auch nicht vom
NSU-Untersuchungsausschuss vorgeschlagen wurde.
Wir werden sie dennoch verabschieden, weil das ein
klares Zeichen des wehrhaften Rechtsstaates gegen
Hass, Fremdenfeindlichkeit und Extremismus ist. Das ist
in diesen Zeiten sehr wichtig.
Die Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift ist ohne
jede Frage eng mit der notwendigen Bekämpfung des
Rechtsextremismus verknüpft. Das ist und bleibt ein
sehr wichtiges Ziel.
Diese Vorschrift richtet sich aber selbstverständlich ge-
gen jede Form der Menschenverachtung, natürlich auch
gegen Linksextremismus, gegen Islamismus, gegen alle
Feinde unserer Freiheit. Der wehrhafte Rechtsstaat ver-
urteilt Extremismus jedweder Couleur.
Kollege Ullrich, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-kung der Kollegin Wawzyniak?
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 8971
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Nein.
Es bleibt unsere gemeinsame Aufgabe, die weiteren
Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses um-
zusetzen und weiter Aufklärung zu fordern, wo noch
Fragen offen sind.
Insgesamt ist aber auch weiterhin ein klares Bekennt-
nis dieser Zivilgesellschaft zur Freiheit, zur Würde des
Menschen und zum Rechtsstaat erforderlich. Deswegen
kann ich Ihnen die Annahme dieses Gesetzentwurfes gu-
ten Gewissens empfehlen.
Vielen Dank.
Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin
Wawzyniak das Wort.
Da müssen Sie jetzt durch. Wir haben das im
Ausschuss schon einmal diskutiert, und ich werde jetzt
dasselbe sagen, was ich bereits im Ausschuss gesagt
habe.
In § 46 Absatz 2 Strafgesetzbuch, den Sie jetzt än-
dern, werden alle Motive der Straftäterinnen und Straftä-
ter bei der Strafzumessung berücksichtigt. Ich finde es
aber deplatziert und völlig unsensibel, dass Sie an dieser
Stelle, an der wir jetzt über die Empfehlungen des NSU-
Untersuchungsausschusses reden – es geht hier um eine
Nazibande, die mordend durchs Land gezogen ist –,
darauf eingehen, welche anderen Gewalttaten mögli-
cherweise noch stattfinden. Ich sage Ihnen einfach: Ich
finde das echt deplatziert.
Herr Kollege Ullrich, möchten Sie antworten? – Nein.
Dann hat jetzt der Kollege Beck das Wort. Bitte
schön.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir set-zen heute eine von 47 Empfehlungen des NSU-Untersu-chungsausschusses um. Das ist gut und richtig. Wir soll-ten darüber bloß die anderen 46 Empfehlungen aufkeinen Fall vergessen.
Es wurde schon von Ihnen von der Linken angespro-chen: Es geht natürlich auch um institutionalisiertenRassismus. Es geht um die Frage: Wie konnten Polizis-ten und Staatsanwaltschaften in mehreren Mordfällensystematisch in die gleiche falsche Richtung ermitteln,die Angehörigen der Opfer zu potenziellen Verdächtigenmachen und die tatsächlichen Täter aus dem Blick ver-lieren, weil sie rassistische Übergriffe von Rechtsextre-misten an diesem Punkt ausgeschlossen haben?Diese Frage nagt an uns allen. Dieser Frage müssenwir uns auch nach Abschluss dieses Gesetzgebungsver-fahrens stellen. Genauso müssen wir uns den noch offe-nen Fragen stellen, die im NSU-Verfahren in Münchenund in den Untersuchungsausschüssen der Landtage auf-geworfen werden. Auch folgende Frage bleibt weiter imRaum: Müssen wir als Bundestag in einem entsprechen-den Untersuchungsverfahren noch einmal näher hin-schauen, oder kommt alles ans Licht? Es darf auf jedenFall in der Debatte nicht stehen bleiben, dass irgendet-was, was hätte aufgeklärt werden können, nicht aufge-klärt wird.
Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf enthältzwei Aspekte. Zum einen geht es um die Erweiterungder Zuständigkeiten des Generalbundesanwaltes. Dasbegrüßen wir ausdrücklich, auch wenn man sich überle-gen kann, ob es in der Sache weit genug geht. Es bleibtweiterhin davon abhängig, dass entweder die zuständigeStaatsanwaltschaft erkennt, dass Anhaltspunkte vorlie-gen, die dazu führen, dass vorgelegt werden muss, oderes Uneinigkeit zwischen den Staatsanwaltschaften derLänder darüber gibt, wer zuständig ist. In allen anderenFällen kann die Generalbundesanwaltschaft nicht vonselber sagen: Es weist etwas darauf hin, dass wir hier zu-ständig sind. Wir prüfen und ermitteln in dieser Fragezunächst einmal selbst, um dies zu klären. – Da hätteman weitergehen können, aber es ist unbenommen einrichtiger Schritt.Bei dem zweiten Punkt, der Änderung des § 46 Ab-satz 2 StGB – das muss ich sagen –, kann ich Ihnen nichtfolgen. Einer gesetzlichen Ergänzung des § 46 Absatz 2StGB bedarf es nicht.Das geltende Recht gebietet und gestattet es dabeijetzt schon, derartige Hassmotivationslagen undZielsetzungen bei der Strafzumessung zu berück-sichtigen. … Das geltende Recht gibt also bereitsjetzt die Möglichkeit, die in den Gesetzentwürfenals Regelbeispiel ausgestalteten Strafzumessungs-gründe bei der Strafzumessung zu berücksichtigen,ohne dass diese ausdrücklich festgeschriebensind. … Das, was durch den Gesetzentwurf geregeltwerden soll, ist bereits geltendes Recht. Damitkäme der Regelung nur eines zu: Symbolcharakter.Ich hatte eigentlich auf Applaus von der Union ge-wartet. Das war die Rede eines CDU/CSU-Abgeordne-ten zum gleichen Thema aus dem Jahre 2012. Ich finde,sie war richtiger als die heute von Ihnen, Herr Ullrich.
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8972 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
Volker Beck
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Das ist nicht nur Symbolpolitik, sondern auch eineverfehlte Symbolpolitik. Der Gesetzentwurf benenntdrei Kriterien: rassistische, fremdenfeindliche und sons-tige menschenverachtende Motive. Da fragt man sich,wenn es um Hasskriminalität geht, warum ausgerechnetdiese drei Kriterien genannt werden und nicht andere.
– Damit setze ich mich gleich auseinander. Vielen Dankfür den Hinweis.In der Begründung wird der Rahmenbeschluss der EUzur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formenund Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremden-feindlichkeit herangezogen. In diesem Rahmenbeschlusswird in Artikel 1definiert, was rassistische und fremden-feindliche Straftaten sind, nämlich solche, die Rasse,Hautfarbe, Religion, Abstammung und nationale undethnische Herkunft betreffen. Das haben Sie schon ein-mal als Gesetzgeber – da waren Sie mit FrauLeutheusser-Schnarrenberger dabei – in § 130 Absatz 1StGB umgesetzt. Da heißt es nämlich, dass „gegen einenationale, rassische, religiöse oder durch ihre ethnischeHerkunft bestimmte Gruppe“ wie gegen andere Teile derBevölkerung nicht gehetzt werden dürfe und dass diesstrafbar sei. Warum fehlt dann auf einmal jetzt das Tat-bestandsmerkmal der Religion oder der Nationalität?Vor kurzem gab es die Pegida-Demonstrationen, isla-mophobe Veranstaltungen, die sich gegen Muslimas undMuslime wegen ihrer Religion richten. Unweit meinesWahlkreises gab es in Wuppertal einen Anschlag aufeine Synagoge, bei dem absurderweise das Amtsgerichtantisemitische Beweggründe verneint hat, obwohl dieTäter den Anschlag im Zusammenhang mit dem Nahost-konflikt verübt hatten.
Wird diese Art von Gesetzgebung dazu führen, dassdie Polizei und die Justiz präziser hinschauen? Und wa-rum fehlen andere Merkmale – die hier jetzt nicht er-wähnt sind –, wenn es um Hasskriminalität geht, wie diesexuelle Identität oder eine Behinderung? Das sind häu-fig Merkmale der Opfer von Straftaten, die aus Hass be-gangen werden. Insofern ist Ihr Gesetzentwurf vollstän-dig verfehlt. Es wäre richtiger gewesen, diese Fragen inder RiStBV bei öffentlichem Interesse, wie es angedeu-tet wurde, niederzulegen, dann aber mit dem vollständi-gen Kriterienkatalog zu den am häufigsten angegriffenenGruppen in der Gesellschaft, statt mit einer beliebigenAuswahl.
Nicht nur, dass Sie Merkmale und damit Gruppenweglassen, Sie haben auch einen völlig verfehlten Be-griff in die Gesetzgebung des Bundes eingeführt, näm-lich den Begriff der Fremdenfeindlichkeit. Dazu sagt dasDeutsche Institut für Menschenrechte, ein Institut, dasdie Politikberatung der Bundesregierung in Menschen-rechtsfragen zur Aufgabe hat, Folgendes:
Herr Kollege Beck.
Ein letzter Satz.
Das letzte Zitat, bitte.
„Mit der Zuschreibung von ,Fremdheit‘ grenzt der
Begriff Menschen – mit und ohne Zuwanderungsge-
schichte – aus der vielfältigen deutschen Gesellschaft
aus.“
Das ist richtig. Dieser Begriff gehört nicht ins Gesetz;
denn damit wird in der Gesetzgebung die Täterperspek-
tive übernommen. Das ist ein völlig verunglücktes Si-
gnal. Deshalb: Symbolpolitik, aber schlechte.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege
Dr. Karl-Heinz Brunner, SPD-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Nein, die öffentliche Debatte um die Folgerungen ausden NSU-Morden darf hier und heute noch nicht enden,weil es immer noch das Warum der Angehörigen gibtund weil diese Menschen erst zur Ruhe kommen kön-nen, wenn sie Antworten bekommen: Warum hat meinVater, warum hat mein Bruder, warum hat meine Tochterihr Leben lassen müssen? Warum wurden sie getötet vonNazis?Wir kennen nur einen Teil der Antwort: Wie wurdeaus Angst und Unverständnis gegenüber anderen, gegendas Fremde schleichend und unbemerkt Hass, blankerHass auf alles, was nicht so ist, wie man selbst? Es istunsere Pflicht, dafür zu sorgen, dass sich dieses men-schenverachtende Tun nicht wiederholt. Schluss mitWegschauen, Schluss mit Verniedlichen,
in der Gesellschaft und schon gar nicht bei Polizei undGerichten und im Gestrüpp der Eitelkeiten von Ländernund Bund, wenn es um Zuständigkeiten geht. Um dieszu beseitigen, wird nun gehandelt und die Zuständigkeitdes Generalbundesanwalts gestärkt. Das ist gut, das istrichtig so.Im Gesetzentwurf wird auch etwas klargestellt, wasjedem klar denkenden Menschen – Juristen allemal – be-kannt sein müsste: Hass als Motiv muss strafverschär-fend sein. Das gilt heute wie auch künftig, weil manche
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 8973
Dr. Karl-Heinz Brunner
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– auch Staatsanwälte und Richter – erst mit der Nase da-rauf gestoßen werden müssen, nun eben mit Ergänzungdes § 46 Absatz 2 StGB und mit einer Überarbeitung derRiStBV.Zugleich aber sage ich Ihnen ganz ehrlich: Wir brau-chen nicht mehr Dienstanweisungen, nicht mehr Richtli-nien. Was wir brauchen, ist mehr Sinn und Gefühl, übri-gens auch mehr Lust, wirklich ermitteln zu lassen. Esgeht hierbei nicht nur um rechts- oder linksradikalesHandeln. Es geht auch um Homophobie; der KollegeBeck hat es angesprochen. Ich sage dies ganz bewusstund nicht nur an die Teile dieses Hohen Hauses gerich-tet, die immer noch die Augen verschließen. Denn esgibt auch heute noch Gerichtsurteile, die den Opfern vonHomophobie selbst einen Teil der Schuld zuschieben.Deshalb ist der Ansatz des LSVD grundsätzlich rich-tig. Eine explizite Nennung weiterer Gründe für Hasskri-minalität würde keine Ausrede mehr erlauben. Der Ha-ken daran ist aber: Die Bundesregierung versteht bereitsseit vielen Jahren unter Hasskriminalität auch explizitStraftaten gegen eine Person aufgrund ihrer sexuellenIdentität. Eine andere Wortwahl allein hilft also kaumweiter. Und wo beginnen wir mit der Aufzählung derentsprechenden Definitionen?Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, das eigentliche Problem ist die alltägliche Ge-walt gegen Menschen, gegen unsere Mitbürgerinnen undMitbürger. Jeder Mensch verdient Respekt, und jeder hatAnspruch auf seine Rechte – egal ob aus dem Senegaloder dem Allgäu, ob hetero, homo, obdachlos, arm,reich, behindert, Punk oder Politiker.Gewalt ist immer schlimm. Aber bei homophobenGewalttaten wird das Opfer in der Regel nicht als Indivi-duum angegriffen, sondern als Stellvertreter einerGruppe, die der Täter hasst und abwertet. Die Folgenspürt nicht nur das Opfer. Auch andere Mitglieder derGruppe werden verunsichert. Sie hätte es auch treffenkönnen. Täter, die aus Hass auf Schwule und Lesbenoder Transgender zuschlagen, zielen darauf, diese ausdem öffentlichen Leben und dem öffentlichen Raum indie Unsichtbarkeit zu treiben. Das dürfen wir nicht zu-lassen. Dazu bedarf es aber nicht explizit der Nennungim StGB; dazu bedarf es eines umfassenden nationalenAktionsplans gegen Homophobie. Dazu brauchen wirjetzt in dem vorliegenden Gesetzentwurf nichts zu re-geln. Das ist es, was ich will: den nationalen Aktions-plan. Das ist es, was wir im Koalitionsvertrag vereinbarthaben. Und das ist es, was wir in den nächsten Wochenund Monaten tun müssen. Das gebietet der Anstand, derAnstand dieses Hauses und aller Deutschen. Der An-stand und die bitteren Erfahrungen aus den NSU-Mor-den gebieten es, heute dem Gesetzentwurf zuzustimmen.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege
Reinhard Grindel, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Wawzyniak, das Thema „Konsequenzen aus derNSU-Mordserie“ ist so ernst, dass man darüber auchernsthaft diskutieren sollte. Dazu gehört für mich eineangemessene Sprache. Sie sollten einmal darüber nach-denken, ob die Art und Weise, wie Sie Ihre Punkte vor-getragen haben, angemessen war. Deswegen haben wirbei Ihrer Rede ein bisschen unruhig reagiert.
Es ist richtig: Wir wollen die Konzentration beim Ge-neralbundesanwalt. Denn eine frühzeitige Zusammen-führung von Ermittlungen, bezogen auf Straftaten mitfremdenfeindlichem oder gar rassistischem Hintergrund,kann dazu beitragen, dass Zusammenhänge zwischenTaten, vergleichbare Begehungsformen und deren Ver-knüpfung mit Rechtsextremismus oder Rechtsterroris-mus schneller erkannt werden. Eines muss neben denvielen Lehren, die wir aus den Taten des NSU ziehen,klar sein: Der Wechsel in der Zuständigkeit zwischenBundesländern darf nicht dazu führen, dass sich Täter ei-ner angemessenen Strafverfolgung entziehen.
Ich will ergänzen: Es muss auf der Ebene der Straf-verfolgungsbehörden auch mehr Bereitschaft zur Koope-ration geben. Das Motto „Meine Tat, meine Quelle, meinFall“ darf nicht die beherrschende Richtschnur von Er-mittlungen sein. Insofern ist es gut, dass wir nun ein ge-meinsames Terrorabwehrzentrum haben. Die Zusam-menarbeit der Ermittler verschiedener Behörden derLänder trägt auch dazu bei, dass das Vertrauen wächst,dass mit Ermittlungsergebnissen oder Quellen verant-wortlich umgegangen wird. Wir brauchen mehr Koordi-nation, mehr Informationsaustausch, aber auch, wenn esgeboten ist, mehr Konzentration bei der Strafverfolgung.Das ist eine der entscheidenden Lehren aus dem NSU-Komplex.Herr Fechner hat schon zu Recht darauf hingewiesen:Damit der Generalbundesanwalt seine Zuständigkeitüberhaupt ausüben kann, muss er von bestimmten Sach-verhalten Kenntnis erlangen. In der öffentlichen Anhö-rung wurde bestätigt, dass der Generalbundesanwalttrotz bestehender Regelungen in der RiStBV zu seltenvon wichtigen Vorgängen überhaupt erfährt. Die Einfüh-rung einer gesetzlichen Regelung, die zur sorgfältigenBeobachtung der Vorlagepflicht führen soll, ist daherrichtig und zwingend nötig. Diese Vorlagepflicht ist– das ist der entscheidende Punkt – so ausgestaltet, dassnicht die Staatsanwaltschaften in den Ländern beurtei-len, ob es zureichende Anhaltspunkte für eine Vorlage-pflicht gibt, sondern dass bereits bei einem Anlass zurPrüfung der Übernahme durch den Generalbundesanwalteine Übersendung der Vorlagen erfolgt. Es geht also umobjektive Gesichtspunkte, die dann zur Vorlagepflichtführen, und nicht um subjektive Erwägungen der Staats-anwaltschaften.Trotz zahlreicher fachlicher Bedenken – KollegeUllrich hat das zu Recht erwähnt – werden wir als CDU/
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8974 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
Reinhard Grindel
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CSU-Fraktion die Ergänzung der Strafzumessungsregelnnach § 46 Absatz 2 StGB mittragen, und zwar deshalb,weil ich glaube, dass der Kollege Volker Beck recht hat.Es ist nicht in jedem Fall so, dass rassistische, fremden-feindliche oder sonstige menschenverachtende Ziele derTäter in angemessener Form berücksichtigt werden.Deswegen ist es richtig und vertretbar, dass wir als Ge-setzgeber ein doppeltes Signal senden: an potenzielleTäter, denen wir sagen: „Eure Taten werden angemesse-ner bestraft werden als in der Vergangenheit“, und an dieJustiz und die Strafverfolgungsbehörde, indem wir deut-lich machen: Wir wollen, dass genauer und schnellerhingesehen wird, und wir wollen tatangemessene Ur-teile. – Das ist der Zweck dieser Gesetzesänderung.
Kollege Grindel, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Beck?
Von Herrn Beck immer. – Es wäre aber schön, wenn
Sie, Frau Präsidentin, meine Redezeit anhalten würden.
So weit geht es nicht, dass ich Herrn Beck davon etwas
schenke.
Nein, Sie brauchen da gar keine Furcht zu haben.
Dass die Redezeit angehalten wird bei einer Zwischen-
frage, das passiert immer. Aber der Herr Kollege Beck
hat noch nicht begonnen.
Bitte schön, Herr Kollege Beck.
Das gebietet die Fairness. Da sind wir uns sicher ei-
nig. – Herr Grindel, wenn es Ihnen um Genauigkeit und
um Hinweise durch den Gesetzgeber geht, dann stellt
sich doch die Frage, warum wir bei diesen drei Kriterien
stehen bleiben und warum wir Gruppen, von denen wir
wissen, dass sie regelmäßig Opfer von rechter, auch von
islamistischer Gewalt werden, wie Homosexuelle, Be-
hinderte oder Juden, anhand von Kriterien, die beschrie-
ben werden müssten, in den Gesetzentwurf nicht mit
aufnehmen. Da besteht doch die Gefahr, dass der Ge-
setzgeber von manchen bei Polizei und Justiz dahin ge-
hend missverstanden werden könnte: Es gibt Gruppen,
wo man besonders genau hinschauen muss, und es gibt
Gruppen, wo man hinschauen kann oder es auch bleiben
lassen kann.
Das ist übrigens eine Erfahrung, die in Opferbera-
tungsstellen, die Gewaltopfer aus diesen Gruppen be-
treuen, häufig so gemacht wird. Mit diesem Vorschlag
bewirken wir doch eine selektive Aufarbeitung des The-
mas Gewaltkriminalität.
Herr Kollege Beck, ich bin Ihnen für die Frage dank-bar, weil auch Reden im Parlament von den Strafrichternzur Auslegung des Gesetzes mit heranzuziehen sind.Wenn Sie sich die Neuformulierung von § 46 Absatz 2Strafgesetzbuch vornehmen, dann stellen Sie fest, dasses dort „besonders auch rassistische, fremdenfeindlicheoder sonstige menschenverachtende“ Ziele des Tätersheißt. Für mich ist es gar keine Frage, dass eine Straftataus homophoben Gründen – natürlich auch dann, wennsie religiös motiviert ist; ich komme noch an andererStelle dazu –, unter genau diese Formulierung fällt. WerSchwule angreift, wer Juden angreift, der handelt men-schenverachtend. Das ist doch wohl völlig eindeutig,und das deckt dieser Paragraf für mich ab.
Frau Wawzyniak, Sie haben zu Recht erwähnt: Hier-bei handelt es sich um keine Empfehlung des NSU-Un-tersuchungsausschusses; vielmehr hat man diese Rege-lung bei der Gelegenheit der Beratung diesesGesetzentwurfs mit aufgenommen, weil es hier umStraftaten geht, die sich eben nicht nur gegen schutzwür-dige Opfer richten, sondern die sich in Wahrheit gegenunseren Rechtsstaat, unsere Werteordnung richten. Dannist es aber zulässig, deutlich zu machen: Natürlich greiftder Rechtsterrorismus unseren Rechtsstaat an, aber ebennicht nur er, sondern auch der Linksextremismus, derterroristische Islamismus. Deshalb ist es völlig in Ord-nung – wie es Herr Kollege Ullrich gesagt hat –, dassauch diese Punkte Gegenstand des neuen § 46 Absatz 2Strafgesetzbuch werden; denn es geht hier um Straftatengegen den Rechtsstaat als solchen, die wir tatangemes-sen bestraft sehen wollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich ausder Sicht der Union noch eine Anmerkung dazu machen:Der Rechtsstaat darf nicht erst dann reagieren, wenn eskonkrete menschenverachtende Taten gibt, sondern derRechtsstaat muss bereits da einschreiten, wo der geistigeNährboden von Terrorismus bereitet wird. Es muss dortein Einschreiten geben, wo ein Klima des Hasses undder Intoleranz gegen Andersdenkende oder Andersgläu-bige Einzug hält. Deshalb ist es aus meiner Sicht nichteinzusehen, weshalb wir heute nicht auch die Sympa-thiewerbung für terroristische Vereinigungen unterStrafe stellen. Gerade angesichts wachsender Radikali-sierungstendenzen, zum Beispiel im Internet, muss derStaat doch konsequent auch hier gegen die Verbreitungvon Hass und Rassismus, von terroristischem Gedanken-gut vorgehen.
Vielleicht, liebe Kolleginnen und Kollegen, gelingt esuns zu einem späteren Zeitpunkt in dieser Legislaturpe-riode.Herzlichen Dank fürs Zuhören.
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Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die
Kollegin Michelle Müntefering.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im
Grundgesetz steht: „Die Würde des Menschen ist unan-
tastbar.“ Da steht nicht, die Würde des deutschen Men-
schen, da steht nicht, die Würde des weißen Menschen,
und da steht nicht, die Würde des heterosexuellen Men-
schen. – So habe ich noch die Worte von Johannes Rau
im Ohr. Das ist die inklusive Gesellschaft in diesen Wor-
ten kurz beschrieben. Ich finde, das ist ein wunderbarer
Gedanke.
Demgegenüber mögen in der Tat die Maßnahmen, die
wir heute beschließen, vielleicht ein bisschen unspekta-
kulär erscheinen; aber sie sind nicht weniger wichtig.
Vielmehr sind sie sinnvoll und notwendig. Denn auch
wenn die deutsche Demokratie 70 Jahre nach der Befrei-
ung von der Hitler-Herrschaft endlich stark geworden
ist: Ungefährdet ist sie nie. Rassismus und Fremden-
feindlichkeit – das haben die Kolleginnen und Kollegen
gerade schon gesagt – sind immer noch nicht besiegt.
Noch immer gibt es Neonazis in unserem Land, in unse-
rer Nachbarschaft sowie Antisemitismus und Judenhass.
Leider ist auch, bei Teilen der Bevölkerung, auch in ihrer
Mitte, die Ablehnung von Andersdenkenden, fremden
Religionen und Menschen ausländischer Herkunft trauri-
ger Teil des Alltags in Deutschland.
Der grausame Höhepunkt dieser menschenverachten-
den Geisteshaltung waren die Hinrichtungen des Natio-
nalsozialistischen Untergrunds. Niemand wird bestreiten
können, dass die Terroristen aus der Ideologie der Neo-
nazis und des Rassenwahns heraus mordeten: Menschen
aus der Mitte unserer Gesellschaft, deutsche Mitbürger
– das will ich hier ausdrücklich betonen –, neun von ih-
nen türkischer bzw. griechischer Herkunft und eine Poli-
zistin deutscher Herkunft. Das ist die erschütternde und
traurige Bilanz dieser Ewiggestrigen. Diese Taten lassen
uns mit Fassungslosigkeit und mit Trauer zurück. Sie
schaffen es aber nicht, unser demokratisches Rückgrat
zu brechen; im Gegenteil.
Bedrohung, Gewalt, Mord, das alles ist verboten. Da-
für brauchen wir keine neuen Gesetze. Aber diese zu
präzisieren und die Vergehen beim Namen zu nennen,
das ist ein wichtiges Signal, insbesondere für die Opfer
der Übergriffe.
Aus meiner Arbeit als Vorsitzende der Deutsch-Türki-
schen Parlamentariergruppe des Deutschen Bundestages,
aus vielen Gesprächen mit Menschen im Wahlkreis, in
der Türkei und bei Diskussionsrunden weiß ich, wie tief
sich die NSU-Morde in die Seele der Migrantinnen und
Migranten in Deutschland gebrannt haben, welch tiefes
individuelles, aber auch kollektives Leid sie gebracht ha-
ben und wie sehr sie das Ansehen unseres Landes im
Ausland beschädigt haben.
Auch deshalb ist es wichtig, wie wir mit diesen
schrecklichen Erfahrungen umgehen, welche Lehren wir
aus den Erkenntnissen ziehen, die der NSU-Untersu-
chungsausschuss uns gegeben hat. Das ist unsere demo-
kratische Pflicht. Zu dieser gehört immer auch Selbster-
kenntnis: lernen, dass Unfassbares auch heute möglich
ist. Deswegen sind wir heute noch nicht am Ende. Aber
wir gehen einen Schritt voran, und wir setzen ein deutli-
ches Zeichen: für die Demokratie, für alle Menschen –
nicht nur in Deutschland.
Vielen Dank.
Vielen Dank. – Letzter Redner zu diesem Tagesord-
nungspunkt ist der Kollege Dietrich Monstadt, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Meine Damen und Herren! Die schrecklichenVerbrechen des sogenannten NSU sind nach wie vor tiefin unserem Bewusstsein. Genau deshalb wissen wir alle,wie wichtig die schnelle und gründliche Arbeit desNSU-Untersuchungsausschusses war und ist. In diesemSinne diskutieren wir heute in zweiter und dritter Lesungdas Gesetz zur Umsetzung von Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses. Dies, meine Damen undHerren, geschieht nicht nur im Rahmen der Aufarbei-tung, sondern auch mit Blick auf die insgesamt 47 Emp-fehlungen, auf die sich die Ausschussmitglieder frak-tionsübergreifend geeinigt haben.Herzlichen Dank an alle beteiligten Kolleginnen undKollegen für ihr intensives Engagement in diesem Aus-schuss! Dies darf am Schluss dieser Debatte nochmalsausdrücklich hervorgehoben werden.
Jetzt, meine Damen und Herren, ist es unsere Auf-gabe und Verpflichtung, die Aufgabe und Verpflichtungdieses Parlaments, dafür zu sorgen, dass durch richtiggezogene Konsequenzen und deren Umsetzung das Ver-trauen in Rechtsstaatlichkeit und Justiz nicht verlorengeht.Im Bereich der Justiz betrifft dies auf Bundesebeneverschiedene Aspekte, die wir heute gesetzgeberischumsetzen werden. Durch die vorgesehenen Änderungenim Gerichtsverfassungsgesetz wird die Begründung derZuständigkeit des Generalbundesanwalts in diesen Fäl-len künftig schneller möglich sein. Der Generalbundes-anwalt wird gerade im Fall länderübergreifender Strafta-ten und in Fällen der Uneinigkeit zwischen mehrerenbeteiligten Staatsanwaltschaften ein solches Ermitt-lungsverfahren an sich ziehen können. Außerdem stellen
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8976 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
Dietrich Monstadt
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wir sicher, dass der Generalbundesanwalt frühestmög-lich in die Ermittlungen einbezogen werden kann, näm-lich immer schon dann, wenn es erste Anhaltspunkte fürseine Zuständigkeit gibt. Er wird nun auch dann die Er-mittlungen führen, wenn objektiv ein besonderes Staats-schutzdelikt vorliegt. Wir alle wissen, dass mögliche Er-messensentscheidungen und Kompetenzwirrwarr in derVergangenheit verheerende Folgen hatten. Genau hiersetzt der neue Satz 3 im § 142 a Absatz 1 GVG im Ent-wurf der Bundesregierung an. Bisher regelte die RiStBV,eine Verwaltungsvorschrift, die Pflicht der Staatsanwalt-schaften, Vorgänge, aus denen sich die Möglichkeit einerZuständigkeit des Generalbundesanwalts ergibt, sofortan diese abzugeben. Diesen Ansatz überführt der vorlie-gende Entwurf der Bundesregierung nun in ein Gesetz.Das ist richtig; denn so werden in besonderer Art undWeise die herausragende Bedeutung und die Notwendig-keit dieser Regelung unterstrichen.Meine Damen und Herren, der zweite wesentlicheBestandteil des vorliegenden Regierungsentwurfs zieltauf eine Änderung im § 46 StGB. Hiermit gehen wirüber die Empfehlungen des NSU-Ausschusses hinausund setzen so ein deutliches Zeichen. In § 46 Absatz 2Satz 2 des Strafgesetzbuchs sind nunmehr als strafschär-fend besonders auch rassistische, fremdenfeindlicheoder auch sonstige menschenverachtende Ziele des Tä-ters zu berücksichtigen. Wir stellen damit unmissver-ständlich im Allgemeinen Teil des StGB klar, dass derar-tige Motivationen auch bei der Strafzumessungeinbezogen werden müssen. Sie gelten damit – das findeich ausdrücklich richtig – für alle Tatbestände des Be-sonderen Teils des StGB.Doch neben der rechtspraktischen haben wir aucheine politische Verantwortung wahrzunehmen. Hier gehtes eben gerade darum, sich mit aller Schärfe gegen men-schenverachtende Straftaten zu stemmen. Dies gilt jetztim Besonderen auch durch die erweiterten Strafzumes-sungsregeln. Sie, meine Damen und Herren von der Op-position, werfen uns hier Symbolpolitik vor. Ich sage Ih-nen: Gerade hier sind deutliche Symbole wichtig undgeboten.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich am Endeder Debatte eines klar sagen: Egal ob Dschihadisten,Salafisten, linke oder rechte Extremisten – wir wehrenuns entschieden gegen alle Feinde unseres Rechtsstaats.Diese Botschaft soll und muss das Signal dieser Debattesein. Fast täglich hören wir von jungen Menschen, diesich zumeist über das Internet radikalisieren lassen. Da-bei spielt es keine Rolle, ob dies linksextrem, rechts-extrem oder glaubensbedingt geschieht. Wichtig ist, dasswir gerade bei den jungen Menschen ansetzen und klar-machen, dass wir unseren Rechtsstaat mit allen Mittelnverteidigen werden. Hier brauchen wir klare Worte undeine deutliche Ansprache. Lassen Sie uns ein Zeichensetzen und mit breiter Mehrheit den Entwurf der Bun-desregierung auf den Weg bringen.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Damit ist die Aussprache beendet.Wir kommen unter Tagesordnungspunkt 7 a zur Ab-stimmung über den von der Bundesregierung einge-brachten Gesetzentwurf zur Umsetzung von Empfehlun-gen des NSU-Untersuchungsausschusses des DeutschenBundestages.Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutzempfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 18/4357, den Gesetzentwurf derBundesregierung auf Drucksache 18/3007 anzunehmen.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zwei-ter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU- undSPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktionen Die Linkeund Bündnis 90/Die Grünen angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf ist in dritter Lesung mit dem gleichen Stimmen-verhältnis wie zuvor angenommen.Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 7 b und setzendie Abstimmung über die Beschlussempfehlung desAusschusses für Recht und Verbraucherschutz aufDrucksache 18/4357 fort.Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seinerBeschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags derFraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3150mit dem Titel „Hasskriminalität wirkungsvoll statt sym-bolisch verfolgen“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen vonCDU/CSU- und SPD-Fraktion gegen die Stimmen derFraktion Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen ange-nommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Franziska Brantner, Katja Dörner,Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENAlleinerziehende stärken – Teilhabe von Kin-dern sichernDrucksache 18/4307Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzFinanzausschussAusschuss für Arbeit und SozialesHaushaltsausschuss
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Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre hierkeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Dr. Franziska Brantner, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Damen und Herren auf den Tribünen!Wir haben heute schon einmal über Kinderarmut disku-tiert. Diese Debatte schließt zu einem gewissen Grad da-ran an.In Deutschland leben 1,6 Millionen Alleinerziehendemit Kindern unter 18 Jahren. Sie bringen sie morgenszur Kita oder Schule, sie arbeiten, meist Vollzeit, holenTochter oder Sohn wieder ab, gehen einkaufen, bereitendas Abendessen zu und kümmern sich dann noch um denHaushalt oder versuchen, noch etwas freie Zeit zu haben,wenn die Kinder schlafen. Enorm, was sie leisten. Trotz-dem: Vier von zehn Alleinerziehenden und ihre Kindersind bei uns in Deutschland arm. Ein Drittel der Allein-erziehenden im SGB-II-Bezug ist gleichzeitig berufstä-tig und stockt auf, und das, obwohl Alleinerziehende imDurchschnitt fünf Stunden mehr als Frauen in Paarfami-lien arbeiten. Das ist eine Schräglage in unserem Land,die eigentlich nur noch als beschämend bezeichnet wer-den kann.
Was ist die Konsequenz? Fast jedes zweite Kind imALG-II-Bezug wächst in einem Alleinerziehendenhaus-halt auf. Das heißt, wenn man etwas gegen Kinderarmutmachen möchte, dann muss man bei den Alleinerziehen-den ansetzen.
Unser Antrag zeigt, was nötig ist, damit Alleinerziehendenicht in die Armutsfalle tappen und Alleinerziehende ge-stärkt werden. Das ist mehr als nur eine Debatte um Steu-erfreibeträge, liebe Koalition.
Wir wollen, dass Alleinerziehende arbeiten können,wenn sie es möchten. Das ist immer noch die beste Ar-mutsprävention. Wir brauchen zum Beispiel Teilzeitaus-bildungen, vor allen Dingen solche, die auch mit kleinenKindern zu stemmen sind, und während dieser Zeit eineExistenzsicherung, die auch mit Kindern möglich ist.Das ist für uns eine ganz wichtige Forderung, die wir vo-ranbringen möchten.
Auch die Arbeitskultur muss sich verändern. Elternmüssen mehr mitbestimmen können, wann sie arbeiten.Gerade für Alleinerziehende steht nicht häufig das „Wieviel wird gearbeitet?“, sondern das „Wann wird gearbei-tet?“ im Vordergrund. Hier müssen wir wirklich einenSchritt nach vorne machen. Wir alle wissen: Man kannnur beruhigt bei der Arbeit sein, wenn man weiß, dassseine Kinder gut aufgehoben sind. Deswegen brauchenwir eine Initiative und Offensive für die Kitaqualität. Daversagen Sie leider, liebe Koalition.
Wir hatten die Debatte. Sie bringen kein Kitaqualitätsge-setz voran. Dabei wissen wir, wie dringend notwendig esist. Die Bertelsmann-Studie zeigt, dass das für Kinderzählt. Hier kommen wir leider nicht weiter.Wir müssen aber auch über das Geld reden. Am Endegeht es auch darum. Die Gesamtevaluation der familien-politischen Leistungen hat gezeigt: Der Unterhaltsvor-schuss hat einen deutlichen Einfluss auf das Armutsri-siko von Kindern. Das ist die Leistung, mit der der Staateinspringt, wenn ein Elternteil, der eigentlich Unterhaltzu zahlen hat, dieser Pflicht nicht nachkommt. Aber an-ders als im Unterhaltsrecht endet der Unterhaltsvor-schuss mit dem 13. Geburtstag. Das geht an der Realitättotal vorbei. Das Gleiche gilt für die Bezugsdauer vonsechs Jahren. Wenn sich die Eltern trennen, wenn dasKind drei Jahre alt ist, gibt es nach dem neunten Ge-burtstag nichts mehr. Das hat doch mit der Realitätnichts zu tun. Deswegen fordern wir eindeutig: Bezugs-dauer aufheben und eine Altersgrenze von 18.
Die Evaluation der familienpolitischen Leistungenhat auch gezeigt, dass der Entlastungsbetrag für Allein-erziehende – jetzt zitiere ich –… im Verhältnis zu seiner Höhe eine der effektivs-ten Leistungen zur Unterstützung der Erwerbstätig-keit ist.Er bewirkt, dass fast 20 000 Alleinerziehende unabhän-gig von Sozialleistungen leben.Im Koalitionsvertrag heißt es – auch hier zitiere ich –:Der steuerliche Entlastungsbetrag für Alleinerzie-hende beträgt seit seiner Einführung zum 1. Januar2004 unverändert 1 308 Euro, er soll angehobenwerden.Für Herrn Schäuble gilt dieser Vertrag offensichtlichnicht.Zusätzlich müsste – das ist unsere Position – ein Aus-gleich für jene her, die wenig verdienen; denn gerade al-leinerziehende Eltern haben oft ein geringeres Einkom-men. Wir fordern deswegen eine Steuergutschrift fürGeringverdienende, damit auch sie profitieren.
Aber so weit sind Sie von der Koalition in der Debattegar nicht gekommen.Wir fordern zumindest eine Erhöhung des Entlas-tungsbetrages, die sich am Verbraucherindex orientiert.Das wären dann rund 250 Euro mehr. Das würde zuSteuermindereinnahmen von 67 Millionen Euro führen.Lieber Herr Schäuble – er ist jetzt nicht da, aber ich sagees einmal so –,
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8978 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
Dr. Franziska Brantner
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67 Millionen Euro, das ist doch wirklich nicht so einwahnsinniger Betrag, aber für Alleinerziehende ist eseine Hilfe und ein wichtiges Zeichen der Anerkennung.
Ich verstehe auch nicht, warum Sie dagegen sind. Wassind denn Ihre Gründe dagegen?Ist hier eigentlich irgendjemand von uns dagegen?
Soweit ich weiß, ist niemand dagegen. Sie von der CSUsind ja dafür; das haben wir jetzt gehört. Bei der CDUweiß ich nicht, wie die Lage ist. Nadine Schön, Sie ha-ben ja getwittert, Sie sind dafür. Ich kann mir auch nichtvorstellen, dass Sie von der CDU, zum Beispiel HerrWeinberg, die Position teilen würden, dass Alleinerzie-hende irgendwie bestraft werden müssen, weil es mit derEhe nicht geklappt hat; das kann ich mir überhaupt nichtvorstellen, das kann ich mir nicht einmal bei HerrnKauder vorstellen.
Deswegen stellt sich mir wirklich die Frage: Sollten wirnicht den Familienkrach in der Regierung einfach Fami-lienkrach sein lassen und hier im Parlament vernünftigzusammenarbeiten und sagen: „Hier ist keiner dagegen;
wir als Parlament setzen das im Haushaltsverfahren ge-meinsam um und entlasten die Alleinerziehenden“? Ichkann Ihnen sagen: Alleinerziehende stärken heißt Kinderstärken. Lassen Sie uns das gemeinsam angehen!Ich danke Ihnen.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege
Marcus Weinberg, CDU/CSU-Fraktion.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Vielen Dank, FrauBrantner, für den Aufschlag und den Impuls. Ich werdenachher auf das eine oder andere von Ihnen genannteThema eingehen. Ich glaube, dass wir bei einer grund-sätzlichen Fragestellung tatsächlich einer Meinung sind:bei der Frage, wer in unserer Gesellschaft Leistungsträ-ger ist. Das sind nämlich nicht nur die Unternehmer, dieGeld investieren und Arbeitsplätze schaffen, nicht nurdie Mittelständler, die Familienunternehmer; die Leis-tungsträger unserer Gesellschaft sind auch die Alleiner-ziehenden, die es schaffen, Beruf und Familie zusam-menzubringen.
Da haben Sie komplett recht.Sie haben die Zahlen genannt: 1,6 Millionen Men-schen – Tendenz steigend – sind alleinerziehend, insbe-sondere Mütter. Sie haben auch Zahlen genannt, die Un-terschiede bei der finanziellen Absicherung vonPaarfamilien und Alleinerziehenden aufzeigen. 67 Pro-zent der alleinerziehenden Mütter mit Kindern unter 18Jahren sind erwerbstätig. Man sieht bei der Erwerbstä-tigkeit schon deutliche Unterschiede zwischen Paarfami-lien und Alleinerziehenden, die arbeiten wollen. Beson-ders gravierend ist – auch diese Zahl sei genannt –, dasstatsächlich 39 Prozent aller Haushalte von Alleinerzie-henden auf SGB-II-Leistungen angewiesen sind, wäh-rend das nur für 7 Prozent der sogenannten Paarfamiliengilt. Wenn die Lage so ist, ist es unsere Aufgabe – insbe-sondere als Familienpolitiker, aber auch als Politiker ins-gesamt –, diese Dinge anzugehen.Bei der Bewertung der Situation kommt es auf dreiDinge an. Das eine ist die finanzielle Absicherung. Dasandere ist die Frage der Infrastruktur. Das Dritte ist et-was, das auch für Alleinerziehende in besonderem Maßegilt; denn auch sie haben Anspruch darauf: Zeit mit ihrenKindern, Zeit mit ihrer Familie zu verbringen. Ichglaube, auch das müssen wir bei der Betrachtung mit inden Blick nehmen.Nun haben Sie das Thema der finanziellen Unterstüt-zungsleistungen angesprochen. Sie stabilisieren die wirt-schaftliche Situation der Alleinerziehenden, sie schützenauch vor Armut oder verringern zumindest das Armuts-risiko und steigern das Wohlergehen der Familie.Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wir haben uns in derKoalitionsvereinbarung auf etwas verständigt. Wir wol-len nämlich den seit elf Jahren feststehenden Entlas-tungsbetrag von 1 308 Euro für Alleinerziehende erhö-hen. Wir wollen ihn nach der Anzahl der Kinder staffeln,und wir werden in dieser Koalition zu einem gemeinsa-men Ergebnis in diese Richtung kommen. Darauf kön-nen Sie sich verlassen.
Uns haben Sie da an Ihrer Seite und die Kollegen derSPD genauso. Man muss dann halt einmal diskutieren,wie man dahin kommt. Es gab schon nette Appelle. PaulLehrieder hat ja unserem Finanzstaatssekretär schon so-zusagen etwas mit auf den Weg gegeben; das machenwir. Aber ich sage auch mit Blick auf die Forderung ei-nes Kollegen der SPD von vor 37 Minuten: Vorstellun-gen haben wir alle, Vorschläge sind dann immer besser.– Aber das bringen wir, glaube ich, gemeinsam auf denWeg; davon bin ich fest überzeugt.Viel zielführender ist allerdings ein anderer Punkt.Jetzt komme ich schon zur Analyse: Was tut man eigent-lich, um die finanzielle Situation der Alleinerziehendenzu verbessern? Viel zielführender ist die Erhöhung derErwerbsbeteiligung; denn das senkt Armut. Ich habe esbereits gesagt: Wir wissen, dass die Erwerbsbereitschaftder alleinerziehenden Mütter und Väter besonders hochist. Was sie sich wünschen, sind bessere Rahmenbedin-gungen. Deswegen müssen wir ein bisschen zurück-schauen: Was haben wir denn getan, und was hat eigent-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 8979
Marcus Weinberg
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lich die Rahmenbedingungen in den letzten Jahrenverändert?Da komme ich dann – Sie mögen es vielleicht nichtmehr hören – wieder auf ein Kernanliegen oder einenKernpunkt der Großen Koalition und der Jahre zuvorauch in anderen Konstellationen. Das war der Ausbauder Kindertagesbetreuung mit der Schaffung einesRechtsanspruches auf einen Krippenplatz für Erwerbstä-tige. Dann muss ich die Zahl aber noch einmal nennen,dass wir über 5 Milliarden Euro investiert haben undauch bei den Betriebskosten die 845 Millionen Euro auf945 Millionen Euro erhöhen.Das heißt, hier schaffen wir Bedingungen zur Verein-barkeit von Familie und Beruf, was besonders bei denAlleinerziehenden wirkt; denn besonders Alleinerzie-hende sind darauf angewiesen, dass sie eine Kinderta-gesbetreuung haben, und sie sind übrigens insbesonderedarauf angewiesen, dass diese Kindertagesbetreuung ge-wisse Flexibilisierungsmöglichkeiten schafft. Gestern,geschätzt um 12.07 Uhr, gab es im Kabinett die Vorlagedes Nachtragshaushaltes des Bundesfinanzministers,und 100 Millionen werden noch einmal zusätzlich inves-tiert, Kita Plus, um dies zu schaffen. Ich glaube, das isteine gute Maßnahme für die Alleinerziehenden, insbe-sondere wenn wir hiermit den Ausbau der Kindertages-betreuung weiter voranbringen.
Ich will es nur an drei Zahlen verdeutlichen. DieserKitaausbau hat tatsächlich auch sehr konkret und direktbei den Alleinerziehenden gewirkt. Erstens. Ohne dieSubventionierung der Kosten der Kinderbetreuung wä-ren 25 000 Alleinerziehende mit Kindern unter zwölfJahren weniger erwerbstätig. Zweitens. Das Armutsri-siko wird deutlich um ein Fünftel gesenkt. Drittens. Über10 000 Haushalte von Alleinerziehenden werden unab-hängig von SGB II. Das ist ja die Gesamtevaluation, diewir jetzt immer wieder sozusagen vor uns halten, wennwir über die Alleinerziehenden sprechen.Das eine war der Bereich Ausbau Kindertagesbetreu-ung, der insbesondere den Alleinerziehenden zugute-kam. Das andere ist aber auch die Fragestellung Eltern-geld und Elterngeld Plus; denn auch Alleinerziehendemüssen im ersten Jahr nach der Geburt des Kindes dieFreiheit haben, sich um das Kind zu kümmern, auch un-ter Bindungsgesichtspunkten.Ich weiß ja, dass viele Kollegen immer wieder diesesBetreuungsgeld zur Sprache bringen. Ich sage ganz deut-lich: Ich finde es richtig und gut und wichtig, wenn eineMutter mit ihrem Kind die ersten Jahre zusammen seinkann, auch bei Alleinerziehenden. Da kann man nichtdifferenzieren zwischen Paaren und Nichtpaaren.
Noch etwas haben wir in der Koalition hinbekommen.Da muss man sagen: Da haben die Parlamentarier dasumgesetzt, was unser Auftrag ist. Wir haben nämlich ge-rade bei der Fragestellung der Partnermonate dafür ge-sorgt, dass der Gesetzentwurf noch einmal in dem Sinneoptimiert wurde, dass auch die Alleinerziehenden selbst-verständlich einen Anspruch auf diese Partnermonatehaben. Dies war meines Erachtens ein gutes Zusammen-spiel zwischen SPD, CDU und CSU und insgesamt dannein Erfolg für die Alleinerziehenden.
Insoweit will ich einen zweiten Punkt der Verände-rung noch einmal skizzieren, Stichwort Erwerbstätigkeitund Zunahme der Erwerbstätigkeit. Laut Prognos-Gut-achten wurde bei der Erwerbstätigkeit von Alleinerzie-henden mit kleinen Kindern im Alter von ein und zweiJahren ein Plus von 9 Prozent und bei Müttern mit zwei-bis dreijährigen Kindern ein Plus von 6 Prozent festge-stellt. Sie sehen also: Die Erwerbstätigkeit hat zugenom-men, und das ist auch gut so.Trotzdem – das konstatiere ich – wird das ganzeThema Alleinerziehende, also die Unterstützung dieserLeistungsbereiten, dieser Leistungswilligen, für uns inden nächsten Monaten ein besonderer Punkt werden;denn wir erkennen hier, dass Menschen Verantwortungnicht nur für die Erziehung ihrer Kinder übernehmen,sondern dass sie ebenfalls hochmotiviert sagen: Ichmöchte auch arbeiten. – Deswegen wird das für uns einAuftrag sein, jetzt die anstehenden Punkte zu diskutierenund in klugen Vorschlägen in der Koalition umzusetzen;denn – auch das ist für Alleinerziehende nicht unwichtig –wir haben einen Gesamthaushalt, auf den wir schauenmüssen, und eine Neuverschuldung von null ist gut füralle, auch für die Alleinerziehenden, und daran werdenwir weiter arbeiten.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Für die Fraktion Die Linke spricht
jetzt der Kollege Jörn Wunderlich.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Jetzt diskutieren wir einen Antrag der Grünen mit demTitel „Alleinerziehende stärken – Teilhabe von Kindernsichern“. Ein schöner Titel, man könnte etwas darausmachen. Aber was machen die Grünen? Sie formulierenallgemeine Forderungen zur Vereinbarkeit von Berufund Familie,
zum Ausbau von Kitas, mit allem, was dazugehört, siewollen die Unterhaltsreform evaluieren, den Familien-ausgleich zur Kindergrundsicherung weiterentwickelnund den Unterhaltsvorschuss ausbauen. Ich muss sagen:Das alles sind Forderungen der Linken.
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8980 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
Jörn Wunderlich
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Ich habe den Eindruck, die Grünen dachten: Jetzt wollenwir auch einmal etwas zu den Alleinerziehenden brin-gen. Ja, und was macht man dann, wenn man etwas zu denAlleinerziehenden bringen will? Richtig, man schreibt beiden Linken ab. Man greift die Forderungen der Linkenauf und schreibt sie ab.
Das haben die Grünen diesmal gemacht, na ja, zugege-ben, nicht ganz richtig; einiges habt ihr offensichtlichübersehen.Die Forderung der Linken nach flexibler Arbeitszeitist so alt, sie geht inzwischen schon auf eine weiterfüh-rende Schule. Forderungen hinsichtlich Unterhaltsvor-schuss sind auch schon zehn Jahre alt. Man muss daraufhinweisen: Das wurde damals von den Grünen allerdingsnicht unterstützt. Ich zitiere aus dem Ausschuss – das istder Vorteil, wenn man schon ein bisschen länger dabeiist – aus dem Jahr 2007 – damals hat meine Fraktion ei-nen entsprechenden Antrag eingebracht –:Einer Ausweitung des Anspruchs bis zum 18. Le-bensjahr könne nicht ohne weiteres zugestimmtwerden, da dies Kosten beim Bund und bei denKommunen verursachen würde, zu deren Gegenfi-nanzierung in dem Antrag jedoch Vorschläge fehl-ten. Aus diesem Grund könnte die Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN diesen Änderungsantrag sonicht mittragen.Das war eure Argumentation zu dem Antrag, den ihr jetztselber stellt. Angesichts dieser Argumentation müsstet ihreuren Antrag eigentlich selber ablehnen. Na gut, Schwammdrüber! Jetzt wollt ihr es.
Nach Meinung der Grünen soll das Kindergeld beimUnterhaltsvorschuss nach wie vor voll angerechnet wer-den. Warum, frage ich euch? Warum soll das Kindergeldnicht, so wie wir das fordern, nur hälftig angerechnetwerden, wie bei den übrigen Unterhaltszahlungen auch?Warum sollen gerade in diesem Punkt die Alleinerzie-henden benachteiligt werden? Hier hätte man etwas ma-chen können; denn was kann ein Kind dafür, wenn einElternteil keinen Unterhalt zahlt?
Zum verbesserten Berufseinstieg möchten die Grünenlediglich einen Prüfauftrag erteilen. Ich habe es heuteschon gesagt: Wir brauchen keine weiteren Gutachtenund Sachverständigenanhörungen. Wir wissen, wo dieProbleme liegen. Wir müssen sie angehen. Prüfaufträgebraucht diese Regierung nicht. Vielleicht sollte man indiesem Zusammenhang auch einmal darüber nachden-ken, wie die Sorgen und Nöte von Eltern, ob alleinerzie-hend oder nicht, an der Wurzel angepackt werden kön-nen.Ich möchte daran erinnern: Hartz IV wurde unter Re-gierungsbeteiligung der Grünen eingeführt. Wir habenheute früh gehört, was das für Folgen hat.
Welche Auswirkungen das auf Kinder hat, wird ständigvon Studien belegt, zuletzt durch die von derBertelsmann Stiftung. Wir haben ständig Anträge in derPipeline, wir haben immer wieder Anträge eingebracht,und immer wieder haben die Grünen gesagt: Das wollenwir nicht. – Jetzt schreibt ihr von uns ab und wollt sie alseigene verkaufen. Peinlich!
Letztes Jahr forderte der DGB ein Sofortprogrammfür Eltern, die mit ihren Kindern schon länger im Hartz-IV-Bezug sind. Ich möchte Annelie Buntenbach aus derSüddeutschen zitieren, die gesagt hat – Zitat –:Es passt nicht zusammen, über Fachkräftemangelzu diskutieren und zugleich zuzulassen, dass etwa1,9 Millionen Kinder unter 18 im Hinterhof unsererWohlstandsgesellschaft in Hartz-IV-Armut lebenmüssen.Dieser Fachkräftemangel bezieht sich auch auf dieBetreuerinnen in den Kitas. Dazu wird im Antrag derGrünen nichts gesagt. Schon 2006 hat die Linke gemein-sam mit der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaftunter Hinweis auf den drohenden Mangel darauf ge-drängt, die erforderlichen Fachkräfte für die Kindergär-ten auszubilden. Die damalige Familienministerin Frauvon der Leyen hat das alles allerdings abgetan. Sie hatgesagt: Ach, ihr Linken! Die Kommunisten reden eh al-les schlecht. Quatsch! Der Markt wird es schon richten.– Jetzt wissen wir, dass jede vierte Erzieherin keine pä-dagogische Ausbildung hat oder nur einen Crashkurs ab-solviert hat. Das ist das Ergebnis der verfehlten Fami-lienpolitik in diesem Punkt. Das muss man so feststellen.
Jetzt soll der Betreuungsschlüssel zwar geändert werden,aber woher das Personal kommen soll und wie das finan-ziert wird, dazu wird im Antrag nichts gesagt.
– Nein, da müsst ihr euren Antrag einmal richtig durch-lesen. Wahrscheinlich schreibt ihr nicht nur ab, sondernlest auch nicht richtig.
Kein Kind auf der Schattenseite des Lebens zurück-lassen – das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabeund muss deswegen auch vom Bund finanziert werden.Dazu steht nichts drin. Auch hier müssten sich die Grü-nen im Grunde mit ihrer Argumentation aus dem Jahr2007 selbst ablehnen. Vielleicht sagen die Grünen aber
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Jörn Wunderlich
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auch nichts zur Finanzierung, weil sie ahnen, wie dasausgeht. Der Staatssekretär ist nicht mehr da, HerrSchäuble auch nicht. Aber wie Herr Schäuble zur Finan-zierung von Familien und sozial Schwachen steht, wis-sen wir ja.
Beim Thema Kinder und Familien verzieht er das Ge-sicht und dreht den Geldhahn zu.Auf die Beratung im Ausschuss bin ich jedenfalls ge-spannt. Wir als Linke werden uns wie auch sonst immerpositiv und korrigierend einbringen.
Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion hat jetzt
Dr. Fritz Felgentreu das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wennwir das Wort „Familie“ sagen, dann steht meistens un-willkürlich das alte schöne Bild vor unseren Augen: Va-ter, Mutter, Kinder. Dabei wissen wir genau: Draußen imrichtigen Leben sind neben dieses Bild, mit dem wirgroßgeworden sind, längst andere Formen von Familiengetreten, denen die gleiche Wertschätzung und die glei-che Anerkennung durch das Gemeinwesen gebührt. Obes also weiterhin Vater, Mutter, Kinder oder nur Vater,nur Mutter und Kind oder sogar zwei Väter oder zweiMütter sind, sie alle sind verbunden durch die Liebe, diedie Familie zusammenhält, und durch die Bereitschaft,fürsorgliche Verantwortung füreinander zu übernehmen.Sie alle verdienen unseren Respekt und unsere Unter-stützung.
Besondere Beachtung verdienen dabei die Eltern, dieheute im Mittelpunkt unserer Debatte stehen: die Allein-erziehenden. In ihren Familien – das ist heutzutage jedefünfte – fehlt der zweite Erwachsene, um die Lasten desArbeits- und Familienlebens zu teilen. Das heißt, siemüssen alles irgendwie alleine hinbekommen: Geld ver-dienen, einkaufen, vorlesen, trösten, Wäsche waschen,Staub saugen, aufräumen, kuscheln, toben, anleiten,schimpfen, den Abwasch machen, bei den Hausaufgabenhelfen, spielen, singen, hinbringen, abholen – die Listeist uferlos. Irgendwann müssen sie auch einmal schlafen.Alleinerziehende sind Helden unseres Alltags.
Mit Recht erwarten sie von uns, dass wir zur Kenntnisnehmen, was sie leisten, und dass wir ihnen mit den Mit-teln der Politik dabei helfen. Herr Weinberg – geradekann ich nur Ihren Rücken bewundern –, Sie haben indiesem Punkt recht. Deshalb begrüßt die SPD-Fraktionden Vorstoß der Grünen, über den wir heute reden. DieGrünen haben in ihrem breit angelegten Antrag nocheinmal all das zusammengetragen, über das in diesemHaus zum Thema Alleinerziehende diskutiert wird. Dabraucht die Linke auch nicht mit den Zähnen zu knir-schen, wenn ein paar linke Ideen dabei sind. Ich meine,expropriiert die Expropriateure, das war doch Ihre For-derung, oder? Wenn die Grünen diese Idee auch haben,sollte das doch kein Problem sein.Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen, bildetder Natur der Sache nach vor allen Dingen zwei Schwer-punkte: Geld und Betreuung. Das ist übrigens nicht soselbstverständlich, wie es im ersten Moment erscheinenmag. Denn es ist zwar allgemein bekannt, dass Alleiner-ziehende besonders oft von Armut bedroht sind, wenigerbekannt ist, dass zwei von drei Alleinerziehenden trotz-dem Arbeit haben; weil sie Zeit für die Kinder brauchen,allerdings oft nur in Form von Minijobs oder in Teilzeit.Nicht allein das Geld ist deshalb Thema. Auch die Frage,wo ihr Kind in guten Händen ist, wenn sie selbst arbeitengehen, ist für Alleinerziehende von existenzieller Wich-tigkeit.Die berufstätige Frau ist unter den Alleinerziehendender Normalfall. Das müssen wir bedenken, wenn wir da-rüber diskutieren, wie wir Alleinerziehenden das Lebenein bisschen leichter machen. Das ist auch der Grund,warum der SPD die überfällige Erhöhung des Entlas-tungsbetrags so wichtig ist. Der Entlastungsbetrag ist eineigener Steuerfreibetrag nur für Alleinerziehende. Er sollzumindest teilweise die Nachteile ausgleichen, die Al-leinerziehende haben, weil sie nicht vom Ehegattensplit-ting profitieren können. Der Entlastungsbetrag belohntalso die Anstrengung, weil er sich als Steuerersparnisumso stärker auswirkt, je höher das Einkommen einerAlleinerziehenden ist. Aber er ist seit elf Jahren nichtmehr angehoben worden. Deshalb war es uns in der SPDsehr wichtig, die Anhebung des Entlastungsbetrages imKoalitionsvertrag zu verankern.Es hat mich gefreut, zu hören, dass die Union dasganz genauso sieht. Herr Weinberg, wir sind nicht in al-len Punkten einer Meinung. Sie werden mich in diesemLeben nicht mehr davon überzeugen, dass es eine guteIdee ist, Eltern Geld dafür zu geben, dass sie ihr Kindnicht in die Kita schicken. Aber in diesem Punkt sind wireiner Meinung, und das wird auch so bleiben.
Wenn wir ein Paket zur Anpassung familienpolitischerLeistungen schnüren, dann muss der Entlastungsbetragmit dabei sein. Wir dürfen die berechtigten Erwartungenan uns nicht enttäuschen. Genauso wichtig ist uns aber,was die Große Koalition schon jetzt im Bereich des Aus-baus der Kitabetreuung voranbringt.
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Dr. Fritz Felgentreu
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Neben der allgemeinen Entlastung der Länder um6 Milliarden Euro für Bildung und Betreuung wendenwir eine weitere knappe Milliarde Euro jährlich als Bun-desbeitrag zu den Betriebskosten von Kitas auf. Die Mit-tel für das Sondervermögen „Kinderbetreuungsfinanzie-rung“ haben wir zum 1. Januar dieses Jahres um 1Milliarde Euro erhöht. Damit war die Koalition, liebeKollegin Brantner, schneller, als es die Grünen fordernkonnten. Denn eines ist völlig klar: Kinder und Familienfördern wir am besten und am gerechtesten durch erst-klassige Kitas und Schulen.
Niemand weiß es mehr zu schätzen als Alleinerzie-hende, wenn sie einen Platz haben, an dem es ihremKind gut geht, während sie selbst arbeiten müssen. Dasswir dabei perspektivisch noch besser werden können,gebe ich gerne zu. Ich rege zum Beispiel an, zu prüfen,ob wir Eltern, die Elterngeld Plus beziehen, nicht auto-matisch auch einen Rechtsanspruch auf einen Krippen-platz für Kinder unter einem Jahr gewähren sollten.
Das liegt in der Logik der Leistungen und käme beson-ders den berufstätigen Alleinerziehenden entgegen. DerDGB hat ja schon entsprechende Vorschläge gemacht.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein bisschen zukurz kommt mir in dem Antrag der Grünen das ThemaZeit. Mit dem Elterngeld Plus hat die Koalition bereitseinen großen Fortschritt erzielt, damit berufstätige Elternneben der Arbeit die nötige Zeit für ihre ganz kleinenKinder haben. Für die SPD-Fraktion ist das ElterngeldPlus deshalb ein großer Schritt auf dem richtigen Weg.Das Ziel dieses Weges bleibt für uns aber die Familien-arbeitszeit, also für junge Eltern die 32-Stunden-Wochemit Lohnausgleich.
Der Verband alleinerziehender Mütter und Väter sieht indiesem Modell gerade für Alleinerziehende eine guteZukunftsvision. Das tun auch wir.Lassen Sie uns in diesem Sinne den Antrag der Grü-nen zum Anlass nehmen, um weiter darüber nachzuden-ken, wie wir Alleinerziehenden zur Seite stehen können.Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss und be-danke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt die Kollegin
Gudrun Zollner, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Besucher auf der Tribüne! In diemeisten Themen, über die wir Abgeordnete hier im Ple-num reden, müssen wir uns einarbeiten, Informationensammeln, abwägen und uns eine Meinung bilden. BeimThema Alleinerziehende brauche ich das nicht zu tun;denn ich bin Alleinerziehende. Ich spreche aus eigenerErfahrung. Ich habe die Höhen und Tiefen selbst durch-lebt. Ich kenne die Sorgen, Nöte und Ängste, die manhat, wenn man zwei Kinder ab einem Alter von sechsund sieben Jahren ohne Partner großziehen muss. Heutesind meine Söhne 23 und 24 Jahre alt, und ich bin stolzauf sie.
Ein bisschen stolz bin ich dabei auch auf mich; dennes war für mich wirklich alles andere als leicht, zweikleine Jungs großzuziehen. Zur eigenen ersten Ohn-macht, auf einmal wieder allein zu sein, kommt derDruck, alles richtig machen zu wollen; denn die Kindersollen nicht auch unter der Situation leiden müssen. Da-mit aber nicht genug: Auch finanziell ändert sich im Le-ben alles schlagartig. Während man vorher noch zuzweit für den Lebensunterhalt gesorgt hat, fällt dannmeist das größere Einkommen weg. Die Kosten fürMiete, Versicherung und Auto bleiben aber gleich. Manmuss nicht BWL studiert haben, um zu wissen, dass eseng wird.Die nächste Herausforderung ist, einen gut bezahltenJob zu finden – eine fast unlösbare Aufgabe. In jedemVorstellungsgespräch hört man die Frage: Was machenSie, wenn Ihre Kinder mal krank sind? – Meist bleibt nureine Teilzeitbeschäftigung, von der man seine kleine Fa-milie nur schwer über Wasser halten kann. Enorm hilfthier der Rechtsanspruch auf einen Kinderbetreuungs-platz – den wir jetzt Gott sei Dank haben – ab dem erstenLebensjahr. Auch die rund 100 Millionen Euro extra, dieim Nachtragshaushalt 2015 für die Kindertagesstättenvorgesehen sind und mit denen ganz besonders die län-geren Öffnungszeiten abgedeckt werden sollen, ist spe-ziell für die berufstätigen Alleinerziehenden eine großeUnterstützung.
Das ist ein Schritt – von vielen – in die richtige Richtungfür Väter und Mütter, die ihre Kinder allein erziehen, aufdem Weg zu einem selbstbestimmten Leben. 70 Prozentvon ihnen sind erwerbstätig, 45 Prozent in Vollzeit.Trotzdem sind sie immer an der Schwelle zum Existenz-minimum. Jedes zweite Kind ist auf Grundsicherung an-gewiesen. Ich spreche hier und heute für die 1,6 Millio-nen Einelternfamilien in Deutschland. Ich spreche ganzbewusst von Einelternfamilien; denn auch Alleinerzie-hende mit ihren 2,2 Millionen minderjährigen Kindernsind Familie,
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Gudrun Zollner
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ein Familienmodell übrigens, das in unserer Gesellschaftzunehmend häufiger wird: Jede fünfte Familie ist heuteeine Einelternfamilie, Tendenz steigend.Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, mehr Hilfenfür Alleinerziehende hat die CSU bereits vor der Bundes-tagswahl 2013 gefordert. Dies ist eine Herzensangelegen-heit von mir und meiner Partei. Ich danke besonders mei-ner Landesgruppenvorsitzenden Gerda Hasselfeldt, dasssie sich dafür einsetzt. Im Koalitionsvertrag haben wirdeshalb auch eine Entlastung vereinbart. Die steuerlicheEntlastung für Alleinerziehende beträgt seit der Einfüh-rung zum 1. Januar 2004, also vor elf Jahren, unverän-dert 1 308 Euro. Gerade dieser Entlastungsbetrag in derSteuerklasse II kommt direkt bei den alleinerziehendenVätern und Müttern an.Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir müssenjetzt ohne Schaum vor dem Mund, ruhig und kollegialüber die Differenzen sprechen – und bitte keine ideologi-schen Attacken, welche Partei welches Familienmodellangeblich favorisiert.
Wir wissen alle, dass Alleinerziehende Enormes leistenund dass sie unsere besondere Unterstützung und Wert-schätzung brauchen. Denken wir auch an die 2,2 Millio-nen minderjährigen Kinder, die es verdient haben, einunbeschwertes Leben führen zu dürfen, und denen wireinen guten Start ins Leben sichern müssen. Deshalbwerden die Koalitionspartner in ihren zuständigenMinisterien die Haushaltspläne nochmals sichten undgemeinsam weitere Gespräche führen. Ich bin mir si-cher, dass wir eine gute Lösung finden werden.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Stefan Schwartze,
SPD-Fraktion.
Danke schön. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Unsere Bundesfamilien-ministerin hat bei der Verabschiedung des Quotengeset-zes von einem Kulturwandel gesprochen, einem Kultur-wandel, der das gesamte Arbeitsleben erfasst undaufbaut auf einem modernen Begriff der Familie; denndas traditionelle Familienmodell mit Vater, Mutter, Kindist seltener geworden: Von den 8,1 Millionen Familiensind aktuell knapp 20 Prozent Einelternfamilien. Im Jahr2012 waren 1,6 Millionen Menschen allein für ihre Kin-der verantwortlich. In neun von zehn Fällen tragen dieseVerantwortung Frauen.Mit diesen Zahlen im Hinterkopf können wir fragen:Wie muss der eingangs erwähnte Kulturwandel ausse-hen? Ich möchte hier einen konkreten Blick auf das Ar-beitsleben richten. Gerade in diesem Lebensbereich of-fenbaren sich immer wieder alte Rollenbilder – in denKöpfen der Arbeitgeber, aber auch bei manchen Kolle-ginnen und Kollegen. Immer noch kämpfen Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer, die allein für ihre Kindersorgen, gegen Vorurteile, bekommen nicht die Anerken-nung und Wertschätzung, die sie verdienen.Wir müssen endlich hin zu einem flexibleren Arbeits-leben, in dem Kinder mitgedacht werden, einem Arbeits-leben, in dem Menschen, die um 16 Uhr ihr Kind vonder Schule oder der Kita abholen, nicht mehr schräg an-geschaut werden, einem Arbeitsleben, in dem wichtigeMeetings nicht exakt auf die Schließzeiten der Kitas ge-legt werden, einem Arbeitsleben, in dem es keinenNachteil darstellt, in Personalgesprächen nach flexiblenArbeitszeitmodellen und Heimarbeit zu fragen, einemArbeitsleben, in dem die Betreuungszeiten der Kinderbei der Personalplanung der Betriebe positiv mitgedachtwerden; denn Alleinerziehende sind Heldinnen und Hel-den des Alltags.Mehr als zwei Drittel von ihnen sind erwerbstätig –und davon fast die Hälfte in Vollzeit. Wie sollte das auchanders sein? Sie müssen alleine dafür sorgen, dass dasEssen auf dem Tisch steht, dass die Schulsachen für dasLernen vorhanden sind und dass die Kinder etwas Or-dentliches zum Anziehen haben. Von der Organisationund Finanzierung der Freizeitaktivitäten sei hier einmalnoch gar nicht gesprochen.Diese Heldinnen und Helden, die alleine für ihre Kin-der sorgen, werden jedoch nicht entsprechend wahrge-nommen, geschweige denn bezahlt. Weiterhin gilt derStatus „alleinerziehend“ als Indikator für Armut. Dasdarf nicht so bleiben.Solange in unserer Gesellschaft noch immer das Bildvom arbeitenden Mann und von der Frau, die zu Hausefür die Kinder sorgt, für normal gehalten wird, solangeMenschen, die in Teilzeit arbeiten, im Verhältnis gerin-ger bezahlt werden als ihre Kollegen und Kolleginnen inVollzeit, solange die Arbeit dieser Menschen also alsweniger wert eingeschätzt wird – genau das wird durchein geringeres Gehalt ausgedrückt –, so lange bleibt derStatus „alleinerziehend“ Ausdruck eines Armutsrisikos.Ich möchte konkret bleiben und aufzeigen, welcherFachkräfteverlust in Kauf genommen wird: Laut derPrognos-Untersuchung von diesem Januar sind Alleiner-ziehende überwiegend gut ausgebildet. 79 Prozent verfü-gen über einen mittleren oder einen hohen Bildungsab-schluss. Wir brauchen diese Fachkräfte in unseremLand. Deswegen haben wir im Koalitionsvertrag auchkonkrete Entlastungen für Alleinerziehende vereinbart.Dafür wird die SPD hier im Parlament hart kämpfen.Wir wollen, wenn möglich rückwirkend zum 1. Ja-nuar 2015, den Entlastungsbetrag für Alleinerziehendeim Einkommensteuergesetz erhöhen und nach der Kin-derzahl staffeln.
Hier gilt es, unserer Ministerin für die Verhandlungenmit dem Finanzministerium den Rücken zu stärken.
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8984 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
Stefan Schwartze
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Den Appell von Paul Lehrieder an den StaatssekretärKampeter eben fand ich an dieser Stelle ganz hervorra-gend.
Die Bundesregierung hat aber auch jetzt schon ent-scheidende Schritte hin zum nötigen Kulturwandel ge-macht. Die Frauenquote, der gesetzliche Mindestlohn,die Mietpreisbremse und die Stärkung von Tarifverträ-gen gehören dazu, und das Entgeltgleichheitsgesetz ist inArbeit. Diese Gesetze haben wir gegen viele Wider-stände durchgesetzt.Das Ziel ist, eine Arbeitswelt und Strukturen zuschaffen, die es Alleinerziehenden ermöglichen, gleich-wertig am Arbeitsleben teilzunehmen – auch gegen denWiderstand antiquierter Betonköpfe. Zu diesen Struktu-ren gehört auch, dass wir eine Ausbildung in Teilzeit er-möglichen. Diese Ausbildung in Teilzeit darf sich nichtnur auf einige Leuchtturmprojekte beschränken, sondernmuss wirklich in der Fläche eine Chance bekommen.Ein letzter struktureller Aspekt darf nicht unerwähntbleiben: Das, was wir im Bund beschließen, muss in denLändern und in den Kommunen ankommen. Es müssenvor Ort die finanziellen Spielräume vorhanden sein, umdiese Maßnahmen umzusetzen.
Deshalb ist auch die Entlastung der Kommunen so wich-tig.Der von Manuela Schwesig angesprochene Kultur-wandel kommt. Wir schaffen den Rahmen dafür. Ichfreue mich auf die Beratungen.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Bettina
Hornhues, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Familienformen sindso vielfältig wie unsere Gesellschaft. Nach wie vor einbeliebtes Modell ist die klassische Familie mit Vater,Mutter und Kind, welche auch heute noch die am weites-ten verbreitete Form des familiären Zusammenlebens ist.Familien als solche unterscheiden sich aber in Größeund Struktur voneinander. Dies ist in Deutschland bei ei-nem Fünftel der Familien ganz signifikant der Fall; dennjede fünfte Familie in Deutschland ist eine Einelternfa-milie. Die Tendenz ist leider steigend. Unsere Familien-politik muss dies widerspiegeln. Bei jeder Gesetzesände-rung oder neuen familienpolitischen Maßnahme müssenwir schauen, dass wir alle Lebenslagen und -situationenberücksichtigen. Meiner Meinung nach gelingt uns dasals CDU/CSU-Bundestagsfraktion ausgesprochen gut.
Erst im letzten Jahr haben wir das neue ElterngeldPlus verabschiedet, von dem Alleinerziehende in ganzbesonderer Weise profitieren. Es lassen sich noch vieleweitere Beispiele benennen, von denen heute in dieserDebatte auch schon einige genannt wurden, dass etwaunsere Politik nicht nur die klassische Paarfamilie för-dert, sondern auch auf die besonderen Bedürfnisse vonalleinerziehenden Müttern und Vätern eingeht.Als ich nun anfing, den Antrag der Kollegen der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen zu lesen, habe ich mich zu-nächst gefreut; denn „Alleinerziehende stärken“ ist einepolitische Forderung, in der wir uns zu 100 Prozent einigsind.
Aber – jetzt kommt das große Aber; denn wie so oftkommt es auf das Wie an – fast zwei Drittel der Allein-erziehenden sind erwerbstätig. Deshalb ist die Verein-barkeit von Familie und Beruf nach wie vor dieGrundvoraussetzung für eine erfolgreiche Teilhabe amErwerbsleben und sichert dadurch auch die Teilhabe derbetroffenen Kinder am sozialen Leben. Wir setzen unsdaher für möglichst bedarfsgerechte und flexible Lösun-gen ein.Wir müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass esgerade die alleinerziehenden Mütter sind, die am Er-werbsleben unter erschwerten Bedingungen teilnehmen.Sie arbeiten zwar häufiger in Vollzeit als Mütter in Paar-familien, aber dafür vermehrt in Schicht- oder Nacht-diensten sowie auch an Wochenenden. Da Alleinerzie-hende gerade nicht auf die Hilfe des Partners bauenkönnen, brauchen sie andere Konzepte. Sofern nicht dieGroßeltern einspringen können, stehen viele Alleinerzie-hende im schlechtesten Fall vor einem echten Problem.Deshalb haben wir bereits im Koalitionsvertrag festge-legt, die Qualität in der Kinderbetreuung weiter voranzu-treiben. An dieser Aufgabe werden wir als Bund weiterarbeiten.
Meiner Meinung nach darf man die Länder aber nichtaus ihrer Pflicht entlassen. Hier stelle ich gerne dieFrage: In wie vielen Ländern sind momentan denn dieKollegen der Grünen an der Regierung beteiligt? Sehrgeehrte Damen und Herren, es sind acht Länder, Ham-burg nach der Wahl erst einmal ausgenommen. Also ge-nau in der Hälfte der Bundesländer regieren die Grünenmit.Kommen wir zurück zum eigentlichen Punkt. 90 Pro-zent der Alleinerziehenden sind Frauen. Insbesonderefür diese Gruppe der Frauen brauchen wir bedarfsge-rechte Familienförderung. Dafür werden wir uns auch inden nächsten Jahren starkmachen und daran weiter ar-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 8985
Bettina Hornhues
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beiten. Wir wissen die außergewöhnliche Erziehungs-leistung von den Alleinerziehenden sehr wohl zu schät-zen und wertschätzen auch die besondere Verantwortungals Familienernährer, eine große Last und zugleich Ver-antwortung, die die Frauen auf ihren Schultern tragen.Perspektivisch brauchen wir gute und zukunftsfähigeKonzepte, Einelternfamilien zu unterstützen.
Die Anhebung der steuerlichen Entlastung ist eine kon-krete Maßnahme, die wir noch in dieser Legislatur-periode umsetzen werden. Rahmenbedingungen sindalso das eine, die Förderung der Erwerbstätigkeit vonAlleinerziehenden ist das andere und für mich ein zen-trales Anliegen.Hierbei tragen auch die Jobcenter in den Kommunensowie die Handels- und Handwerkskammern eine beson-dere Verantwortung. Wir brauchen für Alleinerziehendemehr gute Projekte, die speziell die Herausforderungenin der alleinigen Betreuung des Kindes thematisieren,Programme, die direkt auf die Bedürfnisse von allein-erziehenden Müttern und Vätern zugeschnitten sind.Ich denke dabei vor allem an die Möglichkeit derTeilzeitausbildung, welche ich für eine hervorragendeMöglichkeit halte und dafür bei Unternehmen immerwieder werbe; denn über 50 Prozent der alleinerziehen-den Arbeitslosen haben keine abgeschlossene Berufsaus-bildung.Seit 2005 besteht die Option der Teilzeitausbildung.Leider wird diese Möglichkeit aber bisher noch viel zuwenig genutzt. So wurden im Jahr 2012 bundesweit1 344 Ausbildungsverträge in Teilzeit neu abgeschlos-sen. Das entspricht allerdings nur einem Anteil von0,2 Prozent. Dabei bietet gerade die Teilzeitausbildungjungen Eltern und vor allem Alleinerziehenden einewirkliche Chance, Berufsausbildung und Familie mitei-nander zu vereinbaren.
Wir tun also schon eine ganze Menge, um Alleiner-ziehende zu fördern und zu unterstützen. Aber nicht zu-letzt ist es für mich eine gesamtgesellschaftliche Auf-gabe: das Zusammenspiel von Bund, Ländern undKommunen auf der einen Seite und Jobcentern, Arbeit-gebern und Kammern auf der anderen Seite. Ich kannden alleinerziehenden Vätern und Müttern nur versi-chern, dass wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, auchweiterhin die besonderen Bedürfnisse und Sorgen im Fo-kus haben werden.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4307 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann haben wir
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an der EU-geführten
Ausbildungs- und Beratungsmission EUTM
Somalia auf Grundlage des Ersuchens der
somalischen Regierung mit Schreiben vom
27. November 2012 und 11. Januar 2013 sowie
der Beschlüsse des Rates der Europäischen
Union vom 15. Februar 2010 und 22. Januar
2013 in Verbindung mit den Resolutionen
1872 und 2158 (2014) des Sicherheits-
rates der Vereinten Nationen
Drucksache 18/4203
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich bitte jetzt alle Kolleginnen und Kollegen, die
Plätze einzunehmen. Diejenigen, die andere wichtige
Aufgaben haben, bitte ich, jetzt den Plenarsaal zu verlas-
sen.
Ich eröffne die Aussprache. Für die Bundesregierung
erhält der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael
Roth, das Wort.
Einen schönen guten Abend, Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wir haben jetzt fast einenweihevollen Moment. Alle hören zu. Es geht um ein fürviele Kolleginnen und Kollegen nicht ganz einfachesThema. Denn Sie wissen vermutlich noch viel besser alsich, dass die Region am Horn von Afrika zu den globa-len Krisenlandschaften zählt, mit denen wir uns im Bun-destag schon seit vielen Jahren immer wieder befassen,verbunden mit vielen Hoffnungen, aber bisweilen leiderauch mit großer Ernüchterung.Insbesondere Somalia beschäftigt uns, ein Land, dasseit Jahren von Bürgerkrieg und Hungersnöten gepeinigtwird: eine Tragödie für viele Menschen. Aber – das wis-sen wir auch – die EU engagiert sich seit vielen Jahren indieser Region und setzt dabei auf die gesamte Band-breite ihrer außenpolitischen Instrumente.Damit ist das Horn von Afrika ein gutes Beispiel fürden umfassenden Ansatz der EU, die Welt ein bisschenfriedlicher und stabiler zu machen. Wir verknüpfen näm-
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8986 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
Staatsminister Michael Roth
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lich Sicherheit mit Entwicklungszusammenarbeit undhumanitäre Hilfe mit Diplomatie.Deshalb wäre mein Vorschlag an uns alle: Lassen Sieuns heute keine rein sicherheitspolitische Debatte füh-ren. Auch die anderen Felder unseres vielseitigen Enga-gements in und für Afrika sollten wir nicht aus demBlick verlieren.Seit 2008 hat die Europäische Union mehr als 1 Mil-liarde Euro in Projekte investiert, um Somalia politischund wirtschaftlich zu stabilisieren. Ich bin überzeugt:Die Mittel, die wir jetzt gezielt in Frieden und Stabilitätin Somalia investieren, zahlen sich am Ende um einVielfaches aus. Denn all diese Projekte zielen darauf ab,dass Krisen und Konflikte in Somalia erst gar nicht wie-der aufflammen und eskalieren.Was tun wir also ganz konkret in Somalia? BeimStaats- und Verwaltungsaufbau fördern wir die Entwick-lung rechtsstaatlicher und demokratischer Strukturenund stärken den Aussöhnungsprozess zwischen den ver-schiedenen Bevölkerungsgruppen. Wir unterstützen diewirtschaftliche Erholung des Landes, indem wir dieProduktionsbedingungen in der Landwirtschaft verbes-sern und die Entwicklung eines privatwirtschaftlichenSektors fördern. Wer einmal mit den Expertinnen undExperten der Entwicklungszusammenarbeit gesprochenhat, weiß, was für ein dickes Brett dabei gebohrt werdenmuss.Seit 1994 bildet die humanitäre Hilfe einen besonde-ren Schwerpunkt des EU-Engagements. Allein zwischen2011 und 2014 leistete die EU humanitäre Hilfe im Um-fang von 240 Millionen Euro. Trotz dieses umfassendenEngagements der Europäischen Gemeinschaft und derinternationalen Gemeinschaft gilt Somalia nach wie vorals sehr fragiler Staat. Wir können alles andere als zu-frieden sein. Machen wir uns keine Illusion: Der Wegvom Failed State zu Good Governance ist kein Sprint,sondern ein langer, beschwerlicher Marathonlauf.
Somalia ist nicht nur auf den ersten Kilometern dieseslangen Laufs, sondern auf der gesamten Strecke aufunsere solidarische Unterstützung in vielen Bereichenangewiesen.
Wenn wir also Somalia nachhaltig stabilisieren wol-len, kommt es vor allem auf die Instrumente der zivilenKonfliktnachsorge und der Entwicklungszusammen-arbeit an; denn ohne ein Mindestmaß an effektiver Staat-lichkeit werden wir weder die Grundbedürfnisse der Be-völkerung bei der Versorgung mit Wasser und Energiesowie bei der Gesundheitsfürsorge befriedigen können,noch dürften ausreichend Nahrungsmittel durch dielokale Landwirtschaft produziert werden. Dafür müssenwir die somalische Regierung wieder in die Lage verset-zen, Verantwortung für ihren Staat zu übernehmen, auseigener Kraft Frieden und Sicherheit für die Bürgerinnenund Bürger des Landes zu gewährleisten. Somaliabraucht Sicherheitsstrukturen, die funktionieren und diesich selbst tragen, damit die zivilen Instrumente, derenEinsatz wir unterstützen, wirksam greifen können.Unser gemeinsames Ziel bleibt, dass 2016 endlichfreie Wahlen in einem ausreichend stabilisierten Landstattfinden. Dafür leisten neben den diplomatischen Be-mühungen des EU-Sonderbeauftragten für die Regionganz verschiedene Missionen im Rahmen der Gemeinsa-men Sicherheits- und Verteidigungspolitik einen sehrwichtigen Beitrag. Seit 2008 sichert die OperationAtalanta das humanitäre und entwicklungspolitischeEngagement durch den Schutz der Schiffe des Welt-ernährungsprogramms. Die von kriminellen Netzwerkenausgehende Piraterie wurde damit erfolgreich zurückge-drängt. Seit 2012 unterstützt die zivile Mission EUCAPNestor die somalischen Behörden beim Aufbau eigenerFähigkeiten bei der maritimen Sicherheit. Nicht zuletztmit der Ausbildungsmission EUTM Somalia unterstüt-zen wir die somalische Regierung seit 2010 beim Auf-bau demokratisch kontrollierter, den Grundsätzen desVölkerrechts und dem Schutz der Menschenrechte ver-pflichteter Streitkräfte. Die Fortsetzung der deutschenBeteiligung an dieser wichtigen Mission ist Gegenstanddes heutigen Antrags der Bundesregierung.Wir sollten ganz nüchtern auf die Entwicklung bli-cken. Wenn wir uns vergegenwärtigen, wie die Mission2010 begonnen hat, und uns die gegenwärtige Situationanschauen, dann stellen wir fest, dass es Fortschritte zuverzeichnen gibt. Heute sind die islamistischen Terror-milizen der al-Schabab unter dem militärischen Druckvon AMISOM, der Mission der Afrikanischen Union,und der somalischen Armee in weiten Teilen des Landesauf dem Rückzug. Darüber können auch die jüngstenMeldungen über furchtbare Anschläge vor allem inMogadischu nicht hinwegtäuschen. Trotz des schwieri-gen Umfelds blickt EUTM Somalia auf sichtbareErfolge zurück. Wir haben bislang 4 800 somalischeSoldaten im Rahmen der EU-Mission ausgebildet, davon1 200 in Mogadischu, wo die Ausbildung seit Anfang2014 erfolgt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir leisten konkreteHilfe. Wir zeigen Solidarität. Unser militärisches Enga-gement ist ein bescheidenes, aber notwendiges Elementeiner Afrikastrategie für Frieden, Stabilität und Sicher-heit. Ich bitte Sie deshalb im Namen der Bundesregie-rung um Ihre tatkräftige Unterstützung für die Verlänge-rung dieser Mission.Vielen herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Sevim
Dağdelen, Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! HerrStaatsminister Roth, wenn man hört, was Sie zur Förde-rung demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen inSomalia sagen, hat man den Eindruck, dass Sie über-
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Sevim Dağdelen
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haupt keine Kenntnis von der Realität in diesem Landhaben.
Sie unterstützen mit dieser Ausbildungsmission einislamistisch-autoritäres Regime, das die Scharia überalle Gesetze im Land, also über die Verfassung, gestellthat. Sie unterstützen ein Regime, in dem die sogenann-ten Gerichte die Todesstrafe verhängen, in dem sexuelleMinderheiten verfolgt werden, in dem ein Abtreibungs-verbot herrscht, in dem es keine Religionsfreiheit gibt,ein autoritäres Regime. Sie versuchen, den MenschenSand in die Augen zu streuen. Sie tun so, als wenn es umeine normale Regierung ginge, die man jetzt nur noch inden Bereichen Demokratieförderung und Rechtsstaat-lichkeit unterstützen möchte. Das hat mit der Situation inSomalia überhaupt nichts zu tun. Ich bitte Sie, sich dieRealität in diesem Land anzuschauen: Es herrscht dieScharia. Da können Sie mir nicht sagen, dass diesesLand auf dem Weg der Rechtsstaatlichkeit und der De-mokratie ist.
Wenn wir uns die Begründung der Bundesregierungfür die Verlängerung dieses Einsatzes im Antragstextselbst einmal anschauen, stoßen wir auf eine regelrechteAufzählung der Erfolge der bisherigen Bundeswehrein-sätze. Tausende somalische Soldaten wurden ausge-bildet. Dies wird in einen scheinbaren Zusammenhangmit dem Zurückdrängen der Al-Schabab-Milizen amHorn von Afrika gebracht. Aber ist die Entsendung derBundeswehr wirklich mit einer Erfolgsgeschichte ver-bunden?
Oder ist sie nicht vielmehr eine weitere abenteuerlicheUnternehmung der deutschen Außenpolitik, um mit vielGeld wenig symbolische Weltgeltung erreichen zukönnen?Ja, weil die politische Situation, die Sie laut IhremAntrag zum Positiven wenden wollen, immer weiter es-kaliert.
Sicher, die al-Schabab sind zurückgedrängt worden.Aber ich frage Sie: Zu welchem Preis? Die Erfolge sindzu einem Gutteil den Truppen des Nachbarlandes Keniazu verdanken, das im somalischen Bürgerkrieg nun kräf-tig mitmischt.Ich bitte Sie, sich auch die Reisewarnungen des Aus-wärtigen Amtes anzuschauen: Anschläge, Kämpfe, be-waffnete Auseinandersetzungen prägen das Bild Keniasin den Reisewarnungen. Immer stärker werden auch dortTouristen bedroht. Das heißt, eine der Haupteinnahme-quellen des Landes Kenia droht wegzubrechen.Sicher, al-Schabab ist zurückgedrängt; aber zugleichwurde der somalische Bürgerkrieg stark ausgeweitet. Dafrage ich Sie: Sehen so eigentlich Erfolge aus? Mittler-weile denkt die politische Klasse Kenias laut überVerhandlungen über eine politische Lösung mit den al-Schabab nach. Ich frage mich: Warum setzt die Bundes-regierung im Gegenteil weiter auf einen Krieg, der soüberhaupt nicht zu gewinnen ist?
Wir Linke finden: Wir brauchen eine politische Lösung.Auch in Somalia gilt: Verhandeln ist allemal besser, alszu schießen oder eben ein solch autoritäres Regime mitMilitärausbildern zu unterstützen.Ein Weiteres möchte ich ansprechen. Deutschland istleider nicht nur mit Militärausbildern an dem schmutzi-gen Krieg in Somalia beteiligt. Somalia ist neben Pakis-tan, Afghanistan und dem Jemen das Land, das die meis-ten Opfer durch Drohnenmorde der USA zu beklagenhat. Bei den extralegalen Hinrichtungen der Al-Schabab-Kämpfer werden eben auch viele Zivilisten getötet. Dasist das eine.Das andere aber ist, dass diese Morde mit Unterstüt-zung aus den US-Stützpunkten auf deutschem Boden,nämlich Ramstein in Rheinland-Pfalz und AFRICOM inStuttgart, Baden-Württemberg, begangen werden. Aufbeharrliches Nachfragen meiner Fraktion hat die Bun-desregierung Fragen dazu an die USA geschickt. DieUSA haben – wen wundert es? – in ihren Antworten andie Bundesregierung verneint, dass Ramstein und Stutt-gart mit in die Mordstrategie mittels Drohnen eingebun-den seien.Da frage ich Sie: Warum glauben Sie den USA, ob-wohl ehemalige Beteiligte an diesem Mordprogrammganz klar ausgesagt haben, auch im deutschen Fernse-hen, dass die US-Stützpunkte in Deutschland bei denDrohnenmorden in Somalia eine zentrale Rolle spielen?Warum gehen Sie diesen Aussagen nicht nach und ver-anlassen entsprechende Inspektionen und Untersuchun-gen der US-Stützpunkte?
Ich will es Ihnen sagen: Weil Sie nicht bereit sind, diedemokratische Souveränität in Ramstein und in Stuttgartdurchzusetzen! Wenn Sie wirklich bereit wären, demGrundgesetz in Deutschland Geltung zu verschaffen,bliebe Ihnen nichts anderes übrig –
Bitte denken Sie an die Redezeit.
– ja, das ist mein letzter Satz, Frau Präsidentin –, als
diese Mordzentren zu schließen oder zumindest sich als
Regierung und Parlament selbst ernst zu nehmen und in
diesen Stützpunkten Untersuchungen durchzuführen.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt für die Bundesregierung der Parla-mentarische Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe.
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Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Im Zentrum der deutschen Afrikapolitik steht die Unter-stützung unserer afrikanischen Partner, und zwar auf al-len Politikfeldern; Staatsminister Roth hat völlig zuRecht darauf hingewiesen. Deshalb ist Somalia auch einSchwerpunkt des sicherheitspolitischen Engagementsder Bundesregierung in Afrika.Die EU-geführte Ausbildungs- und BeratungsmissionEUTM Somalia leistet im Bereich der Sicherheitssektor-reform einen wichtigen Beitrag bei der Unterstützungdes Aufbaus der somalischen Streitkräfte und fördert da-durch die Stabilisierung und Befriedung Somalias; denndie fragile Staatlichkeit in Somalia ist weiterhin einesder zentralen Probleme am Horn von Afrika. Es gibt inAfrika sicherlich viele Probleme, aber Somalia ist einLand, das ganz besonders gelitten hat, wo die Menschenvon einer langen Leidenshistorie besonders gebeuteltwaren. Es ist ein Land, das bis zu Beginn der 90er-Jahreunter der Diktatur gelitten hat und das dann in Anarchie,Chaos und Terror gestürzt worden ist. Wo, wenn nichtdort, haben wir einen Grund, zu helfen, den Menschenzu helfen, aus diesem Terrorkreislauf von Diktatur undAnarchie herauszukommen? Es ist gut, dass wir uns da-ran, wenn auch mit bescheidenen Mitteln, beteiligen.
Der vom Kollegen Roth dargestellte politische Pro-zess des Wiederaufbaus wird nur dann zu einer langfris-tigen und nachhaltigen Stabilisierung in Somalia und derRegion führen können, wenn er sich auf eine verbesserteSicherheitslage abstützen kann. Deswegen ist diese Aus-bildungs- und Beratungsmission eine Mission, die an ei-nem ganz neuralgischen Punkt ansetzt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, circa 150 Soldatenaus elf Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind der-zeit bei EUTM Somalia im Einsatz. Italien stellt dabeidas mit Abstand größte Kontingent.
Ich will aber auch hervorheben, dass neben diesen elfEU-Mitgliedstaaten auch Soldaten aus Serbien – Serbienist der einzige Nicht-EU-Mitgliedstaat bei dieser Mis-sion – beteiligt sind. Serbien hat die Aufgabe der sani-tätsdienstlichen Erstversorgung übernommen. Ein Arztund vier Sanitätshelferinnen und -helfer leisten eine her-vorragende und für die Mission unerlässliche Arbeit.Das ist wichtig für die Menschen vor Ort. Es ist auch,glaube ich, ein wichtiges politisches Zeichen, dass wirdort den Schulterschluss gegen den islamistischen Terrorpraktizieren.
EUTM Somalia hat bislang circa 4 800 somalischeSoldaten ausgebildet, davon – Kollege Roth hat daraufhingewiesen – circa 1 200 seit dem Frühjahr letzten Jah-res in Mogadischu, was vorher dort nicht möglich gewe-sen ist. Die entsprechend ausgebildeten Kräfte gelten alsvergleichsweise zuverlässig und schlagkräftig, und siekonnten bereits an der Seite von AMISOM im Kampfgegen die radikalislamische Terrororganisation al-Scha-bab eingesetzt werden. Gleichzeitig trägt die Missionzum Aufbau und zur Konsolidierung somalischer Si-cherheitsstrukturen wesentlich bei.Bei der Bewertung der Fortschritte im Aufbau effekti-ver Sicherheitsstrukturen dürfen zwei Faktoren nicht au-ßer Acht gelassen werden. Die Armee und ihre Füh-rungsstrukturen müssen zum einen quasi von Grund aufneu aufgebaut werden. Zum anderen steht die somali-sche Armee aber gleichzeitig an der Seite von AMISOMim Kampf gegen al-Schabab. Große Erfolge werden sichdeshalb sicher nicht über Nacht einstellen, und Rück-schläge dürfen uns deshalb nicht entmutigen.Aber seit dem Beginn der Mission hat sich die Sicher-heitslage in Somalia insgesamt verbessert. In einer Re-gion, auf einem Kontinent, wo es an vielen Stellen eherkritischer wird, ist Somalia nach Jahrzehnten der Lei-denszeit ein Land, in dem es eine positive Tendenz gibt,in dem es nicht noch zusätzliche Fluchttendenzen gibt,sondern in dem es auch Perspektiven gibt, dass Men-schen zurückkehren können. Das hat etwas mit dem ge-wachsenen militärischen Druck durch AMISOM unddurch die in der Entstehung befindlichen somalischenSicherheitskräfte zu tun. Es hat auch damit zu tun, dassdie radikalislamische Terrororganisation al-Schabab ver-mehrt zum asymmetrischen Kampf übergegangen ist,weil es eben militärische Erfolge gegeben hat. Dazu hatdiese Mission beigetragen. Das ist ein wichtiger Erfolgauf dem Weg zu Stabilität und Frieden in der Region.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Mandat bleibtim Wesenskern so wie bisher bestehen. Das Dreisäulen-konzept mit Beratung, Mentoring und Ausbildung bleibtmit Konzentration auf den Verteidigungssektor bestehen.Unsere Soldatinnen und Soldaten werden wie bisher dieAusbildung im Jazeera Training Camp in Mogadischuunterstützen und zum Aufbau eigener Kapazitäten dieAusbildung der somalischen Streitkräfte mit Mentorenbegleiten. Die Obergrenze von 20 Soldatinnen und Sol-daten bleibt bestehen. Eine Begleitung der somalischenStreitkräfte in Einsätze oder eine direkte Unterstützungder militärischen Operationen von AMISOM findet un-verändert nicht statt. Dennoch können wir festhalten,dass unsere deutschen Soldatinnen und Soldaten mit ih-rer Ausbildungs- und Beratungstätigkeit mittelbar einennicht unerheblichen Beitrag zur Bekämpfung der radi-kalislamischen Terrororganisation al-Schabab leisten.Ich sprach davon, dass aufgrund der militärischen Er-folge gegen al-Schabab diese Terrororganisation ver-stärkt zum asymmetrischen Kampf übergegangen ist.Was heißt asymmetrischer Kampf? Es heißt letzten En-des Terror. Ich höre hier etwas von schmutzigem Krieg.Das, was wir eben von der Linken gehört haben, hat mitder Realität in diesem Land überhaupt nichts zu tun. Es
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Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
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ist rein schablonenhaftes Denken, das nichts mit derwahren Situation im Land zu tun hat. Das, was dort pas-siert, ist Terror. Da werden Terroranschläge auf unbetei-ligte Menschen verübt. Da werden Terroranschläge ver-übt in Hotels, am Flughafen. Unschuldige Menschenkommen dabei ums Leben. Wie viel Zynismus gehört ei-gentlich dazu, hier von einem schmutzigen Krieg undMordcamps zu sprechen? Es ist kaum zu fassen, wel-chen Zynismus die Linke hier an den Tag legt.
Wir stehen zum Glück an der Seite der Menschen, diemit unserem Einsatz auch die Hoffnung auf Frieden ver-binden. Wir dürfen nicht vergessen, dass dieser Einsatznebenbei auch unsere Soldatinnen und Soldaten vor be-sondere Herausforderungen stellt. In Somalia werdenkeine fähigkeitsbezogenen Kontingente, keine geschlos-senen Kompanien eingesetzt, sondern wir haben es miteiner Einzelpersonalabstellung zu tun. Spezialisten be-teiligen sich in unserem Auftrag an der Mission. Sie ste-hen damit auch vor ganz besonderen Herausforderun-gen.Ich hatte die Gelegenheit und bin dankbar dafür, michin der letzten Woche in Mogadischu vor Ort vom Einsatzunserer zurzeit acht Soldatinnen und Soldaten überzeu-gen zu können. Es sind einzelne abgestellte Soldaten, diedort hochmotiviert, hochspezialisiert und hochengagierteinen ganz wichtigen Einsatz leisten. Ich zolle ihnenganz ausdrücklich meinen Respekt. Wir können stolzsein, dass wir dort mit unseren Soldatinnen und Soldatenan dieser wichtigen Mission in einem schwierigen Um-feld beteiligt sind. Ich denke, unsere Soldatinnen undSoldaten verdienen den Respekt des Hohen Hauses unddie fortgesetzte politische Unterstützung für ihren ganzwichtigen Dienst im Sinne des Friedens in der Region.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Omid Nouripour,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ichwollte noch ein paar Takte zur Rede von Herrn Staatsmi-nister Roth sagen – ich sehe, er kommt gerade wiederzurück –, damit wir uns damit auseinandersetzen kön-nen. Somalia ist seit 1991 ein zerfallener Staat. Es gibtOasen der relativen Stabilität im Norden – in Puntland, inSomaliland; eher in Somaliland als in Puntland –, aber imRest des Landes gibt es immer wieder harte Kämpfe. DieÜbergangsregierung ist nicht im gesamten Land aner-kannt, und al-Schababs Macht und Stärke sind weiterhinungebrochen. Ich weiß – das ist richtig beschrieben –,dass es beim Aufbau der Staatlichkeit punktuell Fort-schritte gegeben hat. Aber man kann nicht sagen, al-Scha-bab sei auf dem Rückzug. Das ist so nicht richtig.Wir haben über 1 Million Flüchtlinge, überwiegendFrauen und Kinder, die unter den fürchterlichen Verhält-nissen sehr stark leiden. Wir wissen, dass es gerade imSüden des Landes immer wieder zu Hungersnötenkommt. Die Clanstruktur erschwert nicht nur die Regie-rungsbildung, sondern vor allem auch die Regierungs-führung in diesem Land.Was muss man an dieser Stelle tun? Wie kann manjenseits der humanitären Hilfe und Entwicklungszusam-menarbeit helfen, soweit es überhaupt möglich ist? Manmuss die Kriminalität – dazu zählt auch die Piraterie –nicht nur bekämpfen, sondern ihr vor allen Dingen denBoden entziehen. Wir werden in diesem Jahr noch ein-mal über Atalanta sprechen. Die Mission ist eine richtigeund notwendige Bekämpfung der Symptome, aber dieUrsachen der Piraterie werden dadurch nicht behoben.Wir diskutieren darüber seit Jahren, und es passiert beider Bekämpfung der Ursachen dieser Kriminalität ein-fach viel zu wenig.
Man muss natürlich der Regierung helfen, damit sieetwas leisten kann. Auch ich habe meine Distanz zu die-ser Regierung, Kollegin Dağdelen. Aber wenn Sie voneinem autokratischen Regime sprechen, dann überschät-zen Sie einfach maßlos die Fähigkeiten der Regierung.Ich glaube nicht – auch wenn es möglicherweise Akteuregibt, die es gerne hätten –, dass die Regierung das kann,was Sie gerade beschrieben haben. Natürlich muss manhelfen, dass die Clanstrukturen und das Clandenken zu-gunsten einer nationalen Identität zurückgedrängt wer-den. Dabei kann natürlich auch der Aufbau einer Armeehelfen. Nur ist leider in diesem konkreten Fall die Wahr-heit die, dass der Antrag, den die Bundesregierung unsheute vorlegt, kein Beitrag in die richtige Richtung ist.Herr Staatsminister, Sie haben vorhin gesagt, es seikein kurzer Lauf, sondern ein langer Marsch. Sie habenvöllig recht. Das Problem ist: Sie laufen in die falscheRichtung. Das macht die Situation so kompliziert.
Die Rekrutierung der Soldaten aus nur einem einzi-gen Clan ist kein Beitrag dazu, dass nationale Identität indem Land entsteht, sondern es ist eher ein riesengroßerBeitrag dazu, dass sich einzelne Clans den anderen ge-genüber im Vorteil sehen. Das ist kein Beitrag zur Be-friedung des Landes. Es ist langfristig eher ein Beitragzur Verstärkung der Konflikte, die es bisher in dem Landgegeben hat.
Hinzu kommt dann noch die schlechte Entlohnungder Soldaten. Dann gibt es noch eine unglaublich hoheZahl an Deserteuren von über 50 Prozent. Niemand vonIhnen kann die Frage beantworten, welche Befehlsstruk-tur es gibt. Wie ist die Befehlskette in der somalischenArmee? Dann stellt sich auch noch die Frage nach derVerbleibskontrolle der Waffen, die diejenigen, die wirausbilden, in die Hand bekommen müssen; denn wir
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8990 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
Omid Nouripour
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sind formal dafür zuständig, dass sie mit den Waffen um-gehen können, um ein Gewaltmonopol herzustellen. Dasalles ist unbeantwortet.Nun – das gebe ich zu – hat sich verglichen mit demletzten Jahr auf dem Papier manches verbessert. Es solljetzt ein biometrisches Passsystem eingeführt werden.Das sagt die EU. Das ist erst einmal gar nicht soschlecht. Es ist gut und könnte so mancher Probleme tat-sächlich Herr werden. Nur frage ich mich: Wenn es indie richtige Richtung geht, warum verweigern Sie jedeEvaluation? Wir hatten jetzt ein Jahr diesen Einsatz. Esgibt keine Evaluation. Die Frage der Bewertung ist einerein politische und hat mit dem, was vor Ort passiert, lei-der viel zu wenig zu tun, ohne in Abrede stellen zu wol-len, dass diejenigen, die wir entsandt haben, um auszu-bilden, wirklich eine gute Arbeit machen.
Aber die Ergebnisse müssen doch bewertet werden,wenn Sie der Meinung sind, dass sie gut sind.Es kommt noch hinzu, dass es eine EU-Mission gibt.Hier sind einige Staaten dabei. Herr StaatssekretärBrauksiepe hat gerade einige Länder genannt. Mir ist da-bei aufgefallen, dass Sie Großbritannien nicht genannthaben. Der Grund dafür ist, dass Großbritannien sichnicht im Rahmen der EU beteiligt. Die Briten haben ihreeigene Mission. Sie bilden einfach einen anderen Clanaus. Das heißt, von der EU wird ein Clan ausgebildetund mit Waffen bestückt, und von den Briten wird einanderer Clan mit Waffen bestückt und ausgebildet. Waswird das am Ende des Tages werden, wenn die Regie-rung diese Clans tatsächlich nicht unter Kontrolle haltenkann? Das wird dazu führen, dass der nächste Bürger-krieg quasi vorbereitet wird. Das ist ein riesengroßesProblem.
Deshalb ist das auf der einen Seite auf dem Papierrichtig. Aber das Umfeld, in dem alles stattfindet, isteher schwieriger geworden. Statt dass man uns erzählt,wie super gut alles funktioniert, und man davon spricht,dass Deutschland eine Verantwortung übernimmt, sollteman die Verantwortung auch einmal innerhalb der EUübernehmen. Man sollte mit den Briten darüber reden,ob es sinnvoll ist, dass sie Parallelstrukturen zu dem auf-bauen, was die EU tut und was die deutschen Soldatentun. Wenn man von mehr Verantwortung spricht, HerrKollege Roth, dann stellt sich natürlich die Frage, wiedas Auswärtige Amt all das mit einer halben Stelle inNairobi bewerkstelligen will, was notwendig ist. In So-malia ist das viel. Ich glaube, dass das einfach nicht aus-reichend ist, dass die Ambitionen, die hier formuliertworden sind, sich in der Realität nicht abbilden.
Das ist extrem bedauerlich und führt dazu, dass wir beiweitem nicht zu dem Ergebnis kommen: Diesem Mandatkann man zustimmen.
Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion hat jetzt Lars
Klingbeil das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich glaube, wir sind bei der Analyse der Situation in So-malia gar nicht weit auseinander. Wir wissen, dass dieLage im Land auch fünf Jahre nach Beginn der Trai-ningsmission in Somalia immer noch fragil ist, dassstaatliche Strukturen sich nur langsam entwickeln. Wirsehen auch, dass es Rückschläge gibt. Wir sehen, dassdie Menschen im Land von Kriminalität und Terror be-droht sind und an vielen Stellen noch Korruptionherrscht.Die Frage ist: Was ist die Antwort auf diese gemein-same Analyse? Ich finde, die Antwort darf nicht sein,dass wir uns zurückziehen und das Land auf dem Weg,den es vor sich hat, alleinlassen. Es geht vielmehr um dieFrage, wie wir uns vernünftig engagieren können. Da-rüber führen wir hier im Haus gerne eine Diskussion.
Um das Land voranzubringen und nachhaltig Friedenund Sicherheit zu schaffen, müssen wir die somalischeRegierung mit unseren internationalen Partnern bei derAusbildung ihrer eigenen Streitkräfte unterstützen. Nurwenn der Schutz der Bürgerinnen und Bürger in Somaliadurch die eigenen Streitkräfte gewährleistet werdenkann, können sich auf Dauer politische, rechtsstaatlicheund wirtschaftliche Strukturen entwickeln. Nur wenn esder somalischen Regierung gelingt, das zu gewährleis-ten, wird sie erfolgreich sein. Wir leisten hier Hilfe zurSelbsthilfe.Ich finde, wir dürfen bei aller Unzufriedenheit mit derSituation in Somalia nicht die Erfolge, die es bisher gibt,kleinreden. Bislang konnten 4 800 somalische Soldatenausgebildet werden. Somalische Soldaten sind mitStreitkräften der Afrikanischen Union in einen gemein-samen Kampf gegen die radikalislamistische Al-Scha-bab-Miliz gezogen, und wir können sehen, dass sie anvielen Stellen des Landes zurückgedrängt werdenkonnte. Die Sicherheit der Bevölkerung konnte also inTeilen des Landes deutlich verbessert werden.Langfristig kann Stabilität in Somalia nur dann er-reicht werden – da sind sich viele von uns einig; Staats-minister Roth hat es vorhin angesprochen –, wenn wirdas Mandat, das wir heute hier diskutieren und auch imParlament beschließen werden, als Bestandteil einesganzheitlichen Ansatzes verstehen, der vor allem ent-wicklungspolitische und wirtschaftliche Komponentenumfasst; die militärische Unterstützung ist nur ein klei-ner Teil davon. Wir müssen die Streitkräfteausbildungunterstützen, damit wirtschaftliche und entwicklungspo-litische Instrumente greifen können.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 8991
Lars Klingbeil
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Der Staatsminister hat vorhin angesprochen, dass dieEU bisher schon Gelder in Höhe von mehr als 1 Mil-liarde Euro in die Unterstützung Somalias gesteckt hat.Es werden jetzt weitere 100 Millionen Euro folgen, diedie Bundesregierung für Entwicklungsprojekte vor allemin den Bereichen der städtischen Wasserversorgung undder ländlichen Entwicklung zugesagt hat. Nur wennauch diese Instrumente greifen, nur wenn hier Gelderfließen, werden sich auf Dauer tragfähige staatlicheStrukturen entwickeln können. Sie sind die Grundlagefür Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Sie sind auchdie Grundlage für wirtschaftliche Entwicklung und Ver-sorgungssicherheit, die am Ende ein friedliches Zusam-menleben in Somalia ermöglichen werden. Wir alle wis-sen doch, dass es ein langer Weg ist, den wir noch voruns haben; aber das Mandat, über das wir heute reden,gehört zwangsläufig mit dazu.Wir werden das Mandat in enger Abstimmung mit dersomalischen Regierung, mit den Vereinten Nationen undder Afrikanischen Union umsetzen. Es ist vorhin ange-sprochen worden, dass es in enger Verknüpfung mit an-deren Mandaten in der Region wie etwa der OperationAtalanta wirkt. Dieses Mandat umfasst maximal 20 Sol-datinnen und Soldaten der Bundeswehr, deren Aufgabevor allem die Ausbildung von Führungskräften, eigenensomalischen Ausbildern und Spezialisten sein wird, aberauch die Sicherung von Personal, Material, Infrastrukturund Ausbildungsvorhaben.Es ist vorhin angesprochen worden, dass die Wahlenim Jahr 2016 eine entscheidende Wegmarke sein wer-den. Wir alle wissen, dass sich dabei viel für die ZukunftSomalias entscheiden wird. Deswegen ist es doch not-wendig, dass wir bis zu dieser Wahl 2016 gemeinsammit unseren Partnern deutliche Fortschritte bei der politi-schen Konsolidierung erzielen, dass wir im Bereich dergesellschaftlichen Aussöhnung und der wirtschaftlichenEntwicklung vorankommen. Mit diesen Wahlen wirdsich entscheiden, ob eine friedliche Entwicklung in So-malia möglich ist und der Demokratisierungsprozess vo-rangehen kann.Wir alle wissen: Das Mandat, über das wir heute inerster Lesung beraten und hoffentlich bald beschließenwerden, ist nur ein kleiner Teil des Weges, den Somaliavor sich hat. Aber wir sollten unser Engagement nichtbeenden, sondern sollten es immer wieder anpassen.Ich kann deswegen für meine Fraktion sagen, dass wirzustimmen werden. Wir halten die Trainingsmission füreinen wichtigen Bestandteil unserer Somaliahilfe, unse-rer Afrikapolitik.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Florian Hahn,
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen undKollegen! Wenn wir Somalia hören, sind leider immernoch die ersten Assoziationen Anarchie, Terror, Pirate-rie, Entführungen und Hunger. Kurz: Somalia ist einFailed State. Aber die Weltgemeinschaft darf nicht resi-gnieren. Es ist richtig, Somalia und seine Menschennicht alleinzulassen. Die Lage in Somalia ist heute schonbesser, als sie noch vor wenigen Jahren war; das ist Rea-lität.Die radikalislamische Al-Schabab-Miliz wurde mit-hilfe der AMISOM, einer robusten multinationalen Mis-sion der Afrikanischen Union von 22 000 Soldaten, auswesentlichen Gebieten Süd- und Zentralsomalias undvom Indischen Ozean vertrieben. Die Führung ist durchUS-Drohnenangriffe geschwächt, und die Miliz ist ak-tuell in der Defensive, kann sich aber noch in einigenRegionen behaupten. In Mogadischu und in vielen Tei-len des Landes beginnen fragile staatliche Strukturen zuwachsen, wenn auch nur sehr langsam und immer wie-der von Rückschlägen begleitet.Aber der Ausgangspunkt dieser Krise ist dramatisch.Somalia befindet sich seit 1990 im Bürgerkrieg, undseither hat praktisch kein junger Mensch mehr eineSchulbildung erhalten. Das sind fast zwei Generationen.Das ist fatal für eine Gesellschaft. Es entsteht ein Teu-felskreis aus fehlender Bildung, Flucht, Scheitern vonAufbaubemühungen, Krieg und Terror.Es ist deswegen richtig, dass die internationale Ge-meinschaft bereits vielfältig unterstützend eingegriffenhat. Basis für alle erfolgreichen Bemühungen ist eine ArtGrundsicherheit, eine Atempause von Bürgerkrieg undideologisch-religiösem Terror. Vor allem durch dieAMISOM-Truppen der Afrikanischen Union, die die EUmaßgeblich finanziert, ist es gelungen, diese Basissi-cherheit in Teilen des Landes wiederherzustellen. In denbefreiten Gebieten müssen jetzt lokale Verwaltungs-strukturen aufgebaut und muss der Zugang zu rechts-staatlicher Justiz ermöglicht werden.AMISOM kann aber nicht ewig bleiben. Ausländi-sche Truppen, davon viele aus Nachbarstaaten mitmassiven Eigeninteressen, sind auf Dauer keine guteLösung. Mittelfristig müssen die somalischen Institutio-nen Sicherheit und Ordnung daher selbst gewährleistenkönnen. Dabei will die Ausbildungsmission EUTM derEU helfen. Diese Mission ist bislang durchaus erfolg-reich. Schon fast 5 000 Soldaten wurden ausgebildet undstellen einen gewichtigen Teil der somalischen Armeedar, vor allem qualitativ.Auch wir Europäer wollen nicht ewig in Somalia blei-ben. Daher liegt ein Schwerpunkt unserer Arbeit auf derAusbildung von Ausbildern für künftige Rekruten nachdem Motto: Train the Trainer. Aktuell sind acht deutscheSoldatinnen und Soldaten in Somalia eingesetzt, sechsOffiziere und zwei Unteroffiziere, und sie machen dorteine sehr gute Arbeit. Es ist eine kleine, aber sehrwichtige Mission. Der Bundeswehreinsatz soll deshalbbis zum 31. März 2016 mit unveränderter Personal-obergrenze von 20 Soldatinnen und Soldaten fortgesetztwerden.
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8992 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
Florian Hahn
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Hauptproblem bleibt aber die Sicherheitslage. DerEinsatz ist gefährlich. Aber trotz aller Gefahren, auchwenn die Fortschritte minimal sind und es auch immerwieder begründete Kritik am Einsatz selbst gibt, glaubenwir, dass es sich lohnt, den Menschen eine Perspektivezu geben. Wir müssen hier, mehr noch als in Mali, lan-gen Atem beweisen und können nicht auf schnelle spek-takuläre Erfolge hoffen. Aber wir sind davon überzeugt,dass es möglich ist, Schritt für Schritt Sicherheitsstruktu-ren zu stärken und zu festigen.EUTM ist ein Teil eines umfangreichen internationa-len Engagements, bei dem Deutschland über die EUAMISOM unterstützt und sich direkt militärisch an denMissionen EUTM und Atalanta und der zivilen MissionEUCAP NESTOR beteiligt. Übrigens ist meiner Infor-mation nach, Herr Kollege Nouripour, Großbritannienan EUTM definitiv beteiligt. Aber dazu können Siegerne danach noch etwas sagen.
Herr Kollege Hahn, gestatten Sie eine Zwischen-
frage?
Ich habe gerade gesagt, er kann danach noch etwas
sagen, wenn er möchte.
Na gut.
Wir sind davon überzeugt, dass auch in Somalia nach-
haltig nur durch einen vernetzten Einsatz außen-, sicher-
heits- und entwicklungspolitischer Elemente geholfen
werden kann. Deshalb ist Deutschland im Bereich der
Entwicklungszusammenarbeit und bei der Demokratie-
förderung tatkräftig und vielfältig tätig.
Die Al-Schabab-Miliz kann mit militärischen Mitteln
kaum vollständig besiegt werden. Ihre Bedeutung und
Anziehungskraft werden nur dann nachlassen, wenn es
stabilere politische Verhältnisse gibt und Bildung und
Ausbildung für die jungen Menschen möglich sind.
Somalia soll ein schönes Land sein und hat Potenzial
für eine Zukunft ohne Bürgerkrieg, Hunger und Terror;
ein wahrlich großes Projekt. Unser Engagement, in
diesem Fall bei der Mission EUTM, ist ein kleiner, aber
absolut notwendiger Beitrag zu diesem wichtigen Pro-
jekt.
Lassen Sie mich an dieser Stelle noch sagen:
Deutschland nimmt bereits deutlich mehr internationale
Verantwortung wahr und engagiert sich entsprechend
mehr, als wir dies noch vor wenigen Jahren vermutet
haben. Das ist ganz in unserem eigenen Interesse not-
wendig und richtig geworden.
Mehr Engagement und mehr Verantwortung bedeuten
aber auch mehr Engagement bei den Mitteln, die dafür
zur Verfügung gestellt werden müssen. Es ist deswegen
konsequent, dass die Regierung bei ihrer Budgetplanung
Erhöhungen im Bereich der Entwicklungszusammenar-
beit, der Diplomatie und der Verteidigung vorsieht und
damit dieser Entwicklung Rechnung trägt. Das begrüße
ich ausdrücklich.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Das Wort zu einer Kurzintervention
hat jetzt der Kollege Nouripour.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege
Hahn, Herr Staatssekretär Brauksiepe, Sie haben mich
gerade darauf hingewiesen, dass ich einen falschen Ein-
druck erweckt hätte, nämlich den Eindruck, Großbritan-
nien sei kein Teil von EUTM Somalia. Ich habe noch
einmal nachgeschaut: Sie haben recht. Erstens habe ich
diesen Eindruck erweckt, ich weiß, und zweitens: Ich bin
von einer falschen Faktenlage ausgegangen. Ich bitte um
Entschuldigung dafür.
Aber der zentrale Punkt, auf den ich hinauswollte, ist
trotzdem nicht ausgeräumt. Großbritannien unterhält in
Mogadischu jenseits von EUTM Somalia eine eigene
Ausbildungsmission, bei der ein anderer Clan als der,
der von EUTM Somalia ausgebildet wird, ausgebildet
wird. Das heißt, das, was ich im Kern kritisiert habe,
nämlich dass zwei völlig verschiedene, parallele Struktu-
ren faktisch gegeneinander arbeiten, muss ich leider wei-
terhin aufrechterhalten. Das ist ein riesengroßes Pro-
blem.
Vielen Dank. – Dann ist der nächste Redner Michael
Vietz, CDU/CSU-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Situation in Somalia ist sicherlich schwie-rig. Zwar hat das Land dank der gemeinsamen Bemü-hungen der somalischen Regierung und der internationa-len Gemeinschaft einige Fortschritte erzielt, aber immernoch steht die Bevölkerung vor einem Berg an Heraus-forderungen, die es zu bewältigen gilt. Ein nicht nur inSomalia bekanntes und gültiges Sprichwort sagt: Zerstö-ren geht schnell, Bauen langsam.In den letzten Jahren haben sich Deutschland und dieEuropäische Union im Rahmen eines umfassenden stra-tegischen Ansatzes in Kooperation auch mit den Verein-ten Nationen und der Afrikanischen Union am Neuauf-bau Somalias beteiligt: Demokratieförderung, Stärkungder staatlichen und zivilgesellschaftlichen Strukturen,Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung. Es gilt, denSomaliern Perspektiven für eine gute und sichere Zu-kunft zu geben. Zu diesem mannigfaltigen Paket gehörtauch die Ausbildungs- und Beratungsmission EUTMSomalia, über deren Fortsetzung wir heute in erster Le-sung debattieren.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 8993
Michael Vietz
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Jeder Staat steht in der Pflicht, das Wohlergehen unddie Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten. Wir ken-nen dies als Responsibility to Protect. Dieses Prinzip in-ternationaler Politik wurde 2005 von den meisten Staa-ten der Erde allgemein anerkannt. Union und SPDbekennen sich im Koalitionsvertrag zu diesem Prinzipund seiner weiteren Ausgestaltung. Wenn wir dies ernstnehmen und weiter mit Leben erfüllen wollen, so dürfenwir nicht einfach an der Seitenlinie verharren, wenn einStaat hierfür Unterstützung sucht, wenn die Regierungund die Bevölkerung um Hilfe bitten, dieser Verpflich-tung gerecht zu werden. Die somalische Regierung hatum diese Unterstützung nachgesucht. EntsprechendeBeschlüsse des Rates der Europäischen Union und desSicherheitsrates der UN liegen vor. Deutschland leistetim Rahmen einer Vernetzung mit weiteren regionalenMissionen sowie unseres Engagements beim Aufbau derzivilgesellschaftlichen und nichtmilitärischen Sicher-heitsstruktur einen guten und wichtigen Beitrag.Die Herausforderungen, die Somalia nach wie vor zubewältigen hat, sind enorm: fragile Staatlichkeit, funda-mentalistischer Terror, organisierte Kriminalität, großeArmut, Flüchtlinge, eine schwierige humanitäre Not-lage. Mit Blick auf diese Gemengelage dürfen wir So-malia nicht alleinelassen. Dies liegt auch in unserem ei-genen Interesse. Das Land liegt zwar Luftlinie rund6 300 Kilometer von diesem Hohen Haus entfernt, dochdie Herausforderungen, denen sich unsere somalischenPartner stellen müssen, sind keineswegs Probleme, dienur auf das Horn von Afrika beschränkt sind.Es ist noch nicht so lange her, dass uns die Piraterievor Somalias Küste in Atem gehalten hat. Die Grundpro-bleme hierfür liegen an Land und sind noch lange nichtgelöst. Gerade als Handelsnation sind wir ebenso wieunsere Partner in der Welt auf sichere Handelsrouten an-gewiesen, mithin auf Stabilität in der Region.Fundamentalistischer Terror kümmert sich nicht umstaatliche Grenzen. In Zeiten des sogenannten „Islami-schen Staats“ und al-Qaidas bleibt es eine unserer größ-ten und wichtigsten sicherheitspolitischen Herausforde-rungen, diese einzudämmen und damit auch unsereBürger zu schützen.Darüber hinaus sollte uns auch klar sein: Wenn dieLage aufgrund der fragilen Staatlichkeit in Somalia soprekär bleibt, werden auch die Flüchtlingsströme nichtversiegen. Flucht und Vertreibung begegnen wir am bes-ten, wenn wir den Menschen vor Ort Schutz und vor al-lem Perspektiven bieten. Deswegen ist es unser wich-tigstes Ziel, unsere somalischen Partner zu befähigen,für ihre eigene Sicherheit in einem durch sie selbst ge-stalteten stabilen Staat zu sorgen. Wir wollen beratenund mit unserem Know-how beistehen.Wir leisten einen Beitrag, um das Fundament für einenachhaltige Verbesserung der Situation für die Men-schen Somalias zu errichten. Zivile Aufbauhilfe und Un-terstützung wollen nicht nur geleistet werden, Entwick-lungshilfe muss nicht nur bezahlt werden. Es brauchtauch ein entsprechendes Umfeld, um langfristig wirk-sam sein zu können. Hilfe zur Selbsthilfe – das ist imdeutschen und europäischen Interesse.Diese Unterstützung leistet die Ausbildungs- und Be-ratungsmission EUTM Somalia. Seit 2010 wurden be-kanntermaßen 4 800 somalische Soldaten ausgebildet,auch durch unsere engagierten Soldatinnen und Solda-ten, denen ich an dieser Stelle für ihren unermüdlichenEinsatz nachdrücklich danken möchte. Die im Rahmendieser Mission ausgebildeten somalischen Soldaten ha-ben seitdem einen wichtigen Beitrag dafür geleistet, dieSicherheit ihres Landes zu gewährleisten und dem Al-Schabab-Terror entgegenzutreten. Wir empfinden es alsselbstverständlich, dass das Gewaltmonopol beim Staatliegt. Mit dieser Mission helfen wir dabei, diese Selbst-verständlichkeit auch für Somalia zu verwirklichen, umweiterhin den Aufbau ziviler Sicherheits- und Verwal-tungsstrukturen zu ermöglichen.Ein wichtiges Ziel sind die für 2016 geplanten Wah-len. Für einen Erfolg der Bemühungen um Frieden undStabilität kommt es darauf an, bis dahin sichtbare undfür die Bevölkerung auch spürbare Fortschritte zu erzie-len. Daher begrüßt die somalische Regierung ausdrück-lich die Fortsetzung dieser Mission als wichtigen Be-standteil für den Wiederaufbau ihres Landes. Zerstörengeht schnell, Bauen langsam. Somalia braucht nochmehr Zeit und wünscht unsere Hilfe. Lassen wir sie nichtin einer halbfertigen Baustelle stehen.Vielen Dank.
Der Kollege Vietz war der letzte Redner in dieserAussprache, die ich damit schließe.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/4203 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Nachdem sich keinWiderspruch erhebt, gehe ich davon aus, dass Sie alledamit einverstanden sind und die Überweisung so be-schlossen ist.Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 bauf:a) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Petra Sitte, Jan Korte, Matthias W. Birkwald,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKETransparenz herstellen – Einführung einesverpflichtenden LobbyistenregistersDrucksache 18/3842Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität undGeschäftsordnung
InnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Wirtschaft und Energieb) Beratung des Antrags der Abgeordneten BrittaHaßelmann, Volker Beck , Luise Amtsberg,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN
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8994 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
Vizepräsident Johannes Singhammer
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Transparenz schaffen – Verbindliches Regis-ter für Lobbyistinnen und Lobbyisten einfüh-renDrucksache 18/3920Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität undGeschäftsordnung
InnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Wirtschaft und EnergieNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt 38 Mi-nuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dannist das so beschlossen.Dann können wir auch die Aussprache eröffnen. Icherteile als erster Rednerin das Wort der KolleginDr. Petra Sitte, Fraktion Die Linke.
Recht schönen Dank, Herr Präsident. – Meine Damenund Herren! Ich habe vor einiger Zeit, wie vermutlichauch andere Abgeordnete, eine Einladung von Umwelt-ministerin Barbara Hendricks und Daimler-Chef DieterZetsche bekommen. Unterschrieben hatte ein HerrEckart von Klaeden. Das ist der Cheflobbyist vonDaimler. Selbiger war bis zum Herbst vorvergangenenJahres Staatsminister im Bundeskanzleramt. An dem be-sagten Abend sollte es um Elektroautos gehen; das ist jaauch okay. Diese werden bekanntermaßen mit sehr vie-len öffentlichen Fördermitteln subventioniert, aber dieErfolge bleiben sehr mager. Zeit also für einen gutenLobbyisten, dafür zu sorgen, dass die Politik nicht etwavon der Stange geht. Der Storch möchte schließlich sei-nen Platz vor dem Krötentunnel nicht verlieren.Jede und jeder von uns kennt das: Uns erreichen invielfältigster Form Wünsche, die letztlich direkt oder in-direkt politische Entscheidungsprozesse, Gesetze, Pro-gramme und Richtlinien beeinflussen sollen. Um denBundestag herum gibt es ungefähr 5 000 Lobbyisten.2 221 Organisationen sind allein in der sogenannten Ver-bändeliste registriert. Das ist zugegebenermaßen einDschungel, bei dem Abgeordnete schon einen ausge-sprochen guten Orientierungssinn brauchen oder, um esfür die Union zu übersetzen, fest im Glauben sein müs-sen.
Lobbyismus ist – das will ich als Linke ausdrücklichsagen – nicht nur Teufelswerk.
Verbände, Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisatio-nen, Anwaltskanzleien, PR-Agenturen, sogenannte Denk-fabriken und Politikberater
ringen bei uns fast jede Sitzungswoche gewaltig umAufmerksamkeit.
Freilich geht es dabei auch um Verteilungskämpfe imHinblick auf öffentliche Mittel. Insofern werden durchPolitik natürlich auch Interessen umgesetzt. Aber in ers-ter Linie steht Politik in der Verantwortung, für das Ge-meinwohl zu sorgen und damit eben auch für Interessen-ausgleich.
Da ist es nicht verwunderlich, wenn am Ende auch Wi-dersprüche bleiben.Grundsätzlich dürfte es nach unser aller Verständnisvon guter Politik dazugehören, dass wir mit Betroffenenreden, sie zu unseren Anhörungen einladen und die ver-schiedenen Perspektiven kennenlernen.Problematisch wird Lobbyismus, wenn er Einzelinte-ressen unlautere Vorteile verschafft, beispielsweisedurch viel Geld, das in Kampagnen gesteckt wird, oderdurch einen privilegierten Zugang zu Ministerien, insbe-sondere dann, wenn strategische Planungen anstehen. Indiesen Fällen bestimmen nämlich dann die Vertreter vonFirmen oder Verbänden Problembeschreibungen. Nach-dem sie das getan haben, machen sie konkrete Vor-schläge zur Lösung dieser Probleme, und sie konzipierenGesetzentwürfe und Richtlinien. Schließlich werdendann Förderprogramme aufgelegt, die für sie maßge-schneidert sind. Das heißt, die Antragstellerinnen undAntragsteller werden am Ende mit hoher Wahrschein-lichkeit auch das öffentliche Geld bekommen.Von solchen Vorgängen, beispielsweise im Rahmender strategischen Planung, erfahren wir Abgeordnete sogut wie nie etwas – wie es bei den Abgeordneten der Ko-alitionsfraktionen ist, weiß ich nicht genau; aber ichhabe schon gehört, dass es da auch so sein soll –,
oder wir erfahren viel zu spät etwas. Dann liegt dieHochglanzbroschüre sozusagen schon vor. Deshalb sa-gen wir: Transparenz muss oberstes Prinzip sein. Es gehtum Chancengleichheit für alle.
Die Linke ist für ein verpflichtendes Lobbyistenregis-ter. Es soll durch eine Ombudsstelle beim Bundestag ge-führt werden. Öffentlich sollen Auftraggeber, Verbände,Organisationen oder Unternehmen werden. Öffentlichsoll das Finanzbudget werden, und öffentlich soll auchdie Personalausstattung werden. Öffentlich sollen auchEinflussformen und Ziele werden. Das heißt also, dieBeiträge, die beispielsweise von Lobbyisten zu Gesetz-entwürfen oder anderen Vorlagen geleistet wurden, müs-sen für das Parlament deutlich werden, und zwar bevorwir diese Gesetze hier behandeln.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 8995
Dr. Petra Sitte
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Sobald also Dritten wie beispielsweise Lobbyisteneine Regierungsvorlage zugeht – zur Kommentierungoder zu welchem Zweck auch immer –, bedeutet diesnach unserer Lesart eigentlich, dass der entsprechendeGesetzentwurf, die Richtlinie oder die Verordnung auto-matisch auch den anderen im gesellschaftlichen Raumtätigen Akteuren zugehen muss.Was ich bemerkenswert finde, ist, dass es nicht we-nige Lobbyisten gibt, die mittlerweile sagen: Ja, wir un-terstützen ein verpflichtendes Lobbyistenregister. – Dastun sie vor dem Hintergrund, dass sie es auch als Aus-weis ihrer eigenen Seriosität verstehen.
Ich will noch einmal anfügen: Die bisherige Verbände-liste, die wir beim Bundestag haben, kann all das nichtleisten. Da stehen nur die Verbände drin, aber wichtigeZusatzinformationen, etwa über Ressourcen und Auf-wendungen, eben nicht; deshalb kann man dann auch garnicht richtig einschätzen, was das für ein Verband, wasdas für eine Organisation ist.Insofern muss auch transparent werden, welche Lob-byisten hier im Bundestag Hausausweise bekommen.Ich muss ehrlich sagen: Ich staune manchmal, wer hierso alles über die Gänge geistert und dass die Leute dannauch einen Hausausweis haben.Schließlich, meine Damen und Herren: Ein Lobbyis-tenregister ist kein linksavantgardistisches Projekt. Inden USA, in Kanada und auch bei der EuropäischenUnion gibt es ein solches Lobbyistenregister, und die In-teressenvertreter müssen sich dort eintragen.Linke, Bündnisgrüne und SPD setzen sich seit langemfür ein solches verpflichtendes Lobbyistenregister ein.Nur die Union und die gottselige FDP haben sich niedazu durchringen können. Aber wir haben jetzt eineneue Chance. Es geht nämlich hier essenziell um Glaub-würdigkeit von Politik, es geht um unsere Glaubwürdig-keit. Dafür müssen wir aktiv etwas tun.
Schließlich gibt uns Transparenz natürlich auch dieMöglichkeit, viel mehr Informationen in unsere Geset-zesberatungen, in unsere Ausschusssitzungen und der-gleichen aufzunehmen, und dann versetzt es uns auch indie Lage, Entscheidungen insgesamt gerechter zu fällen.Danke schön.
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Bernhard
Kaster.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen undKollegen! 2008, 2009, dann 2011
und jetzt 2015: Da sind sie wieder, die Anträge zumLobbyistenregister.
Man kann festhalten: Ihre Wiedervorlage für alte Hütefunktioniert.
Damit kein falscher Eindruck aufkommt: Transparenzim Deutschen Bundestag ist für uns eine Selbstverständ-lichkeit. Wenn dennoch in der Öffentlichkeit gelegent-lich der Eindruck aufkommt, in der Gesetzgebung wür-den Interessen einseitig gegenüber anderen Interessenbevorzugt oder die unterschiedlichen Interessen nichtrichtig abgewogen, müssen wir darüber debattieren unddarauf reagieren.
Wir müssen dann aber auch ehrlich und fair zu uns sel-ber sein: Es macht doch keinen Sinn, ständig mit belieb-ten politischen Kampfbegriffen umzugehen, dabei be-wusst die tatsächlichen parlamentarischen Abläufe ganzauszublenden,
dann populistisch einen klassischen Schaufensterantragzu stellen
und diesen wiederholt vorzulegen. Klassische Schau-fensteranträge sind das, wider besseres Wissen!
Ein paar Fakten: Erstens. Seit 1972 besteht auf derGrundlage der Geschäftsordnung des Deutschen Bun-destages ein bis heute fortgeführtes und immer wiederaktualisiertes Lobbyistenregister. Dort werden aktuellvon rund 2 000 Verbänden die Namen, die Zusammenset-zung von Vorstand und Geschäftsführung, der Interessen-bereich, die Mitgliederzahl, die Namen aller Verbandsver-treterinnen und Verbandsvertreter, die Anschriften etc.geführt. Die Eintragung im Lobbyistenregister ist bei-spielsweise auch zwingende Voraussetzung für die Teil-nahme an Anhörungen. Das ist das, was wir hier imDeutschen Bundestag praktizieren.Es ist für uns überhaupt kein Problem – da kann derAntrag der Grünen durchaus eine Basis sein –, übermögliche Zusatzangaben oder Weiterungen zu diskutie-ren, soweit nicht andere Schutzbereiche berührt werdenwie beispielsweise das informationelle Selbstbestim-mungsrecht, die Berufsfreiheit oder die Koalitionsfrei-
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Bernhard Kaster
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heit nach unserem Grundgesetz. Das war aber immer dasProblem der Vorschläge, die Sie hier unterbreitet haben.
Zweiter Fakt: Interessenvertretung gehört zum Wesender parlamentarischen Demokratie. Interessenvertretungist für jeden Abgeordneten Hauptwesensmerkmal seinerTätigkeit. Das fängt bei den Interessen und Wünschenaus dem Wahlkreis an. Aber bei Ihren Anträgen lassenSie immer den Eindruck aufkommen, Sie möchten gerneunterscheiden zwischen guten Interessen und bösen Inte-ressen.
Oder, wie es einmal in der Kommentierung einer großenZeitung formuliert war: Böse Interessenvertreter nenntman Lobbyisten, gute Interessenvertreter nennt manNichtregierungsorganisationen.
Fakt Nummer drei, den ich gerne in diese Debatte ein-bringen möchte: Mir fällt kein anderes Parlament ein,das so sehr auf Transparenz und Öffentlichkeit achtetwie der Deutsche Bundestag. Die öffentlichen, kontro-versen Debatten zu wirklich fast jedem Gesetz beweisendas doch. Kaum ein Gesetz wird ohne öffentliche Anhö-rung unterschiedlichster Interessenvertreter beschlossen;und die Durchführung einer Anhörung ist im Übrigen,wie so vieles im Deutschen Bundestag, ein Minderhei-tenrecht.
Allein am vergangenen Montag fanden hier im Bun-destag sechs öffentliche Anhörungen statt.
Bei diesen Anhörungen wurden zwischen drei und elfSachverständige gehört, wie Verbrauchervertreter, Ver-treter des Deutschen Städtetages und vom DeutschenGewerkschaftsbund oder, um Beispielsfälle aus demVerbandsregister zu nennen, der Geschäftsführer vonÄrzte ohne Grenzen und andere mehr. Insgesamt wurdenzu den Anhörungen allein am vergangenen Montag51 Sachverständige der verschiedensten Institutionen– also auch Interessenvertreter – geladen. Diese Anhö-rungen sind öffentlich, und das gilt nicht nur für die An-hörungen als solche, sondern auch für die Protokolle unddie eingereichten Stellungnahmen. Alles wird ins Netzgestellt und ist öffentlich.
– Auf das Thema komme ich auch noch.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, über all dies unddarüber, wie wir Öffentlichkeit noch weiter perfektionie-ren können, lässt sich noch weiter streiten. Was abernicht geht – und das finde ich auch beschämend –, ist,dass solche Anträge, wie beispielsweise der von denGrünen heute, so begründet werden – es geht um einenAntrag im Deutschen Bundestag –, dass man schreibt,die „Durchsetzung von Interessen“ gehe „mit illegitimenVorteilen oder Geldzahlungen“ einher. „Korruption,Klüngelwirtschaft und undurchsichtige Mauscheleienbeschädigen die demokratischen Institutionen und zer-stören das Vertrauen in die Politik.“ Sie wissen ganz ge-nau, dass das im Deutschen Bundestag nicht so ist. Wi-der besseres Wissen sollten wir, auch wenn es um dieBegründung eines solchen Antrags geht, so nicht überunser Parlament sprechen. Wir sollten stolz darauf sein,welche Kultur wir im Deutschen Bundestag haben undwie auch dieses Thema hier behandelt wird.
Im Übrigen hat diese Koalition erst im vergangenenJahr zusätzlich zu der schon im Strafgesetzbuch veran-kerten Strafbarkeit des Stimmenkaufs die Abgeordneten-bestechung ins Strafgesetzbuch aufgenommen. Das warim vergangenen Jahr.
Vollkommen irreführend und an der Wirklichkeit vor-bei gehen aber auch die Passagen – Sie haben sie ebenerwähnt –, mit denen Sie tatsächlich den Eindruck erwe-cken wollen, dass sich per Register oder Ausweisregimedie einzelnen Gesprächspartner der Abgeordneten – vomBesucher aus dem Wahlkreis bis zum Verbandsvertreter –bestimmen ließen. Jeder Abgeordnete – das gehört zumWesen eines freien Abgeordneten und eines freien Parla-mentes – muss zu jedem Zeitpunkt und egal an welchemOrt Gespräche führen dürfen und können, und zwar mitwem und über was er will. Das muss die Grundlage derTätigkeit eines einzelnen Abgeordneten sein und blei-ben.
Lassen Sie mich noch einen letzten Punkt anführen,bei dem wir Ihnen im Grundsatz zustimmen: UnsereMinisterien und die Bundesregierung müssen immer soviel unabhängige Fachkompetenz selbst vorhalten, dassdie Gesetzgebungsarbeit alleine dort vorbereitet wird.Der wünschenswerte Austausch zwischen Wirtschaftund Politik sowie zwischen Politik und Wirtschaft darfnatürlich nicht so weit getrieben werden, dass man zumissverständlichen Auslegungen gelangt.
Zum Schluss erlaube ich mir, wie Sie mit Ihrem gan-zen Antrag, auch eine Wiederholung, und zwar die Wie-derholung eines Zitates unseres Bundestagspräsidentenaus einer Rede in der Dresdner Frauenkirche. DasThema war: „Interessen gegen Gemeinwohl – Gerech-tigkeit in der Politik“. Es ging darum, dass die meistenMenschen mit der Wahrnehmung von Interessen – auch
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Bernhard Kaster
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in organisierter Form – kein Problem haben – jetztkommt das wörtliche Zitat –,wenn es sich um ihre– das heißt, die eigenen –Interessen handelt, während dann, wenn eigene In-teressen mit anderen kollidieren, die ärgerlicher-weise auch noch organisiert vertreten werden, sichbeinahe reflexhaft Empörung einstellt.Das Zitat geht weiter:Und die inzwischen handelsübliche Form derEmpörung ist heutzutage mit dem Begriff „Lobby-ismus“ verbunden.Ende des Zitates und auch Ende meiner Rede.Ich bedanke mich.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin
Britta Haßelmann für Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Zuschaue-rinnen und Zuschauer! Herr Kaster, die Tatsache, dasswir diesen Antrag 2007, 2008 und 2011, damals nochgemeinsam mit der SPD – ich bin auf die Redebeiträgeder Kolleginnen und Kollegen von der SPD gespanntund darauf, ob sie sich noch daran erinnern, dass auchsie für die Einführung eines Lobbyregisters waren unddazu sogar einen Gesetzentwurf eingebracht haben –,schon einmal in den Bundestag eingebracht haben, zeigtdoch nur, wie wichtig und notwendig das ist.Ich kann überhaupt nicht verstehen, wieso Sie dieseForderung als alten Hut oder als Wiederholungsklamotteabtun. Die Einführung eines Lobbyregisters ist eine ganzzentrale Maßnahme im Sinne der Transparenz, die hierim Deutschen Bundestag gelten sollte. Das sollte eineSelbstverständlichkeit sein; denn Transparenz bedeutetfür unser Parlament einen Schutz; denn so ist Nachvoll-ziehbarkeit gewährleistet. Diese Pflicht, mit Informatio-nen offen umzugehen, zu der wir uns verpflichten, giltdann auch für Unternehmen, für Verbände, für Institutio-nen, für die Kirchen, für Gewerkschaften. Insgesamtprofitieren wir alle gemeinsam davon. Das sollte Ihnenendlich einmal klar sein.
Die Tatsache, dass wir diesen Antrag auch 2015 ein-bringen, ist dem Umstand geschuldet, dass wir Sie vonder Unionsfraktion bisher leider nicht davon überzeugenkonnten, die gute Praxis im Zuge von Gesetzgebungs-verfahren des Europäischen Parlaments, der Europäi-schen Kommission, der Parlamente Kanadas und derUSA zu übernehmen. Sie alle verfügen über ein solchesLobbyregister, weil sie wissen, dass sowohl Politik alsauch Parlament, Regierung, NGOs und Verbände davonetwas haben.
Die Bürgerinnen und Bürger könnten dann nämlich klarnachvollziehen: Wer wirkt auf die eine oder andere Artan der Gesetzgebung mit?Es geht auch nicht darum, zu sagen: Wir diskreditie-ren die einen, erklären aber die anderen zu guten Verbän-den oder Organisationen. – Das hat niemand gemacht.Es ist nur so, dass wir immer wieder mit dem Thema derunlauteren Beeinflussung konfrontiert werden. Auch dasThema Korruption kann man in diesem Kontext des Zu-sammenspiels von Politik, Wirtschaft und Dritten ruhigeinmal erwähnen. Es ist doch nichts Schlimmes, das aus-zusprechen.
Deshalb werbe ich doch so sehr für ein Register. Eswürde uns nämlich allen nützen. Wir haben im Momenteinfach keine klaren Regelungen.Selbstverständlich haben wir die Verbändeliste. Aberdenken Sie doch an die Auseinandersetzung, die wir ge-rade über die Hausausweise führen. Wer bekommt einenHausausweis? Diejenigen, die in der Verbändeliste ste-hen. Aber was ist mit den Hausausweisen, die wir überdie Fraktionen ausstellen? Da läuft im Moment sogareine Klage gegen den Deutschen Bundestag. Das istdoch ein Problem.Wir müssen immer wieder erfragen: Welche Ver-bände, welche Unternehmen haben an Gesetzgebungs-verfahren mitgewirkt, und zwar in welchem Stadium?Natürlich muss die Arbeit der Gesetzgebung eigentlichvon den Ministerien geleistet werden. Aber Sie wissengenauso gut wie ich, dass das nicht immer der Fall ist.Wir müssen jedes Mal wieder nachfragen: Wer hat anwelchen Gesetzen mitgewirkt? Welche Externen warendaran beteiligt? – Diese Fragen könnten wir uns allenund den Bürgerinnen und Bürgern mit der Einführungeines solchen verbindlichen Registers ersparen.Wir wollen keine Misstrauenskultur. Wir wollendurch Transparenz einfach offenlegen: Es ist normal undeine legitime Interessenvertretung, wenn Lobbyisten ak-tiv werden und wenn Verbände und NGOs für ihre Sachewerben. Wir müssen dies nur nachvollziehen könnenund für die Leute transparent machen.
Das gilt dann für den Gewerkschaftsbund genauso wiefür die Autoindustrie, wie für die Pharmalobby, wie fürdie Naturschutzverbände oder wie für den Bundesver-band Erneuerbare Energien. Kein Mensch bei uns in derFraktion – das ist eine massive Unterstellung – würde sa-gen: Das eine ist ein guter Verband, das andere ist ein
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Britta Haßelmann
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schlechter Verband. Ein solches Lobbyregister würde füralle gelten.
Ich frage mich: Warum verstehen wir als Parlamentund Regierung nicht, dass es in unser aller Interesse seinkönnte, ein solches Register endlich verbindlich einzu-führen und uns damit an der Europäischen Kommissionund der Praxis in Brüssel ein Beispiel zu nehmen? Das,was sie dort mit dem Transparenzregister machen, istdoch gut.
Lassen Sie uns deshalb über die wichtigen und gutenArgumente in diesem Kontext diskutieren und ins Ver-fahren gehen.
Vielen Dank. – Für die SPD spricht jetzt die Kollegin
Sonja Steffen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren auf der Tribüne!Brauchen wir in Deutschland ein verpflichtendes Lobby-istenregister? Wir beraten heute zwei entsprechende An-träge der Opposition, und ich sage es Ihnen gleich: Essind gute Anträge, Frau Haßelmann und Frau Sitte. Denndie SPD-Fraktion – das haben wir vorhin schon gehört –hat in der 17. Wahlperiode, also in der letzten Wahl-periode, einen Antrag ins Parlament eingebracht, in demdie Einführung eines verpflichtenden Lobbyistenregis-ters gefordert wurde. Damals war es die schwarz-gelbeRegierung, die diesem Antrag nicht gefolgt ist, sodasswir dafür keine Mehrheit bekommen konnten.Die Forderung ist nach wie vor aktuell. Ich teile auchin dem Punkt Ihre Meinung: Es handelt sich nicht um ei-nen alten Hut. Ich will Ihnen auch sagen, warum.Ich bin Mitglied des Geschäftsordnungsausschusses.In diesem Ausschuss hat man nicht so viel mit Verbän-den und Beratern zu tun. Aber ich bin auch Mitglied desHaushaltsausschusses, in dem ich für die Entwicklungs-zusammenarbeit zuständig bin. Wir haben heute schonviel über NGOs und verschiedene Verbände gehört.Aber um ein praktisches Beispiel zu nennen: Ich hattegestern Besuch von der Hilfsorganisation Ärzte ohneGrenzen. Heute habe ich mich mit Vertretern vonMisereor getroffen. Diese Gespräche – ich glaube, dassehen Sie alle in Ihrem jeweiligen Geschäftsbereich ge-nauso – sind für mich sehr wichtig. Niemand in diesemSaal wird ernsthaft behaupten wollen, dass dieser Aus-tausch einen unseriösen Charakter hätte.
Im Gegenteil: Wir brauchen diese Informationen, umInteressen abzuwägen und Entscheidungen zu treffen.Denn, Frau Sitte, wir sind keine Lämmer, die sich vonVerbänden, NGOs und Politikberatern die Gesetze vor-schreiben lassen.
Wir haben bereits das Verbänderegister. Das ist heuteschon öfter angesprochen worden. Schon seit 1972 gibtes eine öffentliche Liste, in der sich die Verbände eintra-gen. Aber zum einen werden in dieses Register nur Ver-bände aufgenommen. Das heißt, in diesem Register sindkeine Kommunikationsagenturen aufgeführt, und darinsind auch keine Anwaltskanzleien zu finden. Zum ande-ren ist die Aufnahme in das Verbänderegister freiwillig.Man muss die Aufnahme von sich aus beantragen. Des-halb, meine ich, reicht das Verbänderegister nicht aus.
Es ist in der Tat richtig: Auf europäischer Ebene istman schon viel weiter. Ich finde, das ist ein ganz ent-scheidendes Argument. Es gibt dort ein neues Transpa-renzregister. Ich empfehle allen einen Blick auf das On-lineportal. Das ist wirklich gut aufgebaut und sehrtransparent – so wie es sein muss. Inzwischen haben sichdort schon 8 000 Organisationen eingetragen. Es werdenjeden Tag mehr. Man kann das gut verfolgen.Gleich auf der ersten Seite des Portals werden dreiKernfragen aufgeworfen, die in diesem Zusammenhangentscheidend sind. Erstens soll deutlich werden: WelcheInteressen werden verfolgt? Zweitens: Wer verfolgtdiese Interessen? Und drittens: Wer bezahlt dafür?Das Register ist zudem mit einem Verhaltenskodexund mit Sanktionen im Falle von Verstößen gegen denKodex verknüpft.Es gibt noch ein Manko; aber ich habe den Eindruck,dass man in Brüssel darüber aktuell sehr viel und lautdiskutiert. Das Manko ist, dass zurzeit die Eintragungnoch freiwillig ist. Ich bin jedenfalls froh, dass wir jetztauch im Deutschen Bundestag darüber debattieren. Ichglaube, es ist wirklich an der Zeit.
Schauen wir einmal in die Bundesländer: Es gibt in-zwischen drei Bundesländer, die so etwas haben, näm-lich Brandenburg, Rheinland-Pfalz – sie sind noch nichtso weit, wie wir es gerne hätten, aber inzwischen auf ei-nem guten Weg – und Sachsen-Anhalt, das meines Wis-sens sogar schon ganz weit vorne liegt.Und was sagen Meinungsumfragen bei den NGOsund den Politikberatern selbst, zum Beispiel im Tages-spiegel vom November 2014? Die Politikberater selbersagen, dass sie ein solches Register befürworten. SeriösePolitikberater scheuen kein Register, weil es die Trans-parenz ihrer Arbeit betont und den Ruf der Interessen-vertreter in der Öffentlichkeit nur verbessern kann. Au-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 8999
Sonja Steffen
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ßerdem hilft es uns Politikern, zu erkennen, welcherAuftraggeber hinter einem Lobbyisten steckt. Denn wervon uns hatte nicht schon einmal eine Gesprächsanfragevon Beratern, von denen er nicht genau wusste, wer derAuftraggeber ist?Was am wichtigsten ist – das wurde heute noch nichtangesprochen –: Unsere Bürgerinnen und Bürger habenein berechtigtes Interesse daran, zu erfahren, welchenEinflüssen die Gesetzgebung unterliegt. „Mehr Demo-kratie wagen“ ist ein sehr berühmter Satz von WillyBrandt, ein Satz, den wir uns alle auf die Fahne schrei-ben sollten, gerade in Zeiten der Politikverdrossenheit.Ich meine – ich glaube, meine Fraktion steht dabei hintermir –, dass wir durch ein verbindliches Lobbyregisterdazu beitragen können, dem Vorwurf der Hinterzimmer-klüngelei entgegenzutreten. Ein Lobbyregister machtnämlich nur Sinn, wenn es verpflichtend ist, und zwarfür alle. Das treibt die schwarzen Schafe vom Markt undbeugt Misstrauen vor.
Ich will noch einmal betonen: Lobbyarbeit ist keinTeufelswerk. Sie ist gut und richtig, weil sie uns, demGesetzgeber, eine Informationsbreite verschafft. Deshalbgehört Lobbyarbeit nicht in die Schmuddelecke. Wirkönnen mit einem verbindlichen Lobbyregister viel dazubeitragen. Man muss sicherlich nicht alles von den USAübernehmen, aber in Sachen Lobbyregister ist man unsdort weit voraus; denn dort gibt es ein verpflichtendesLobbyregister schon seit langem.Die SPD-Fraktion verschließt sich Ihren Anträgennicht, meine Kolleginnen und Kollegen von der Opposi-tion; denn die SPD-Fraktion steht für transparentes poli-tisches Handeln. Nach den gesetzlichen Regelungen zurAbgeordnetenbestechung – darauf hat der KollegeKaster schon hingewiesen – und zu den Karenzzeiten fürpolitische Akteure nach dem Ausscheiden aus der akti-ven Politik ist es ein konsequenter Weg – vor allem ist esdafür an der Zeit –, ein verbindliches Lobbyregister ein-zuführen. Ich bin ganz zuversichtlich, dass wir die Kol-legen von der Union an dieser Stelle bewegen können.Herr Kaster, Sie haben vorhin vorsichtig formuliert, dassSie für den einen oder anderen Vorschlag offen sind.Lassen Sie uns in eine offene Diskussion einsteigen.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl,
CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen undKollegen! Gegenstand von Politik sind Interessen. DiePolitik muss mit Interessen umgehen. Organisierte Inte-ressenwahrnehmung, auch Lobbyismus genannt, gehörtselbstverständlich zur parlamentarischen Demokratie.Einflussnahme von Interessengruppen auf den politi-schen Diskurs ist also legitim, bedarf aber der Transpa-renz und der Korrektur, und zwar durch uns Parlamenta-rier. Wir sind die Vertreter des ganzen Volkes. Wir sinddie Vertreter des Gemeinwohls.In unserem lernenden System der parlamentarischenDemokratie brauchen wir das Gespräch mit Interessen-vertretern bzw. Lobbyisten. Wir brauchen Expertenanhö-rungen und Veranstaltungen, auf denen wir uns denSachverstand herbeiholen, den wir nicht haben können.Aber nur bei uneigennütziger Gewichtung verschiedens-ter Partikularinteressen wird das Gemeinwohl zum Ge-setz. Nicht immer spiegelt die parlamentarische Wirk-lichkeit dieses Ideal wider; das wissen wir alle nur zugut.Die größte Gefahr geht nicht – das ist der Grund, wa-rum wir Ihre Anträge ablehnen – von der Zahl der Lob-byisten aus, sondern sie liegt in der Struktur der Ein-flussnahme auf die politische Entscheidungsfindung. Ichnenne als Beispiele die Bildung von Kommissionen so-wie die Einrichtung von Räten und Sachverständigen-gremien mit Sitz selbst in den Ministerien. Wenn die Er-gebnisse der Beratungen solcher Kommissionen vomParlament eins zu eins umgesetzt werden – das alles gabes schon; ich erinnere nur an die Hartz-IV-Gesetzgebung –,dann wird das Parlament auf eine bloße Ratifikations-instanz reduziert.Wenn also in hochkomplexen Entscheidungen, diewir ja immer wieder zu treffen haben, der Aktionismusder Politik uns auch noch zu raschem Handeln zwingtund wir die Dinge gar nicht prüfen können, wenn zurUnterstützung des Parlaments von Spezialisten fertigausgearbeitete Gesetze uns auch noch als alternativlospräsentiert und sie zur Abstimmung gestellt werden, spä-testens dann sind wir weit entfernt von einer parlamenta-rischen Demokratie, wie sie sein sollte.
Lassen Sie mich jetzt zu den Lösungen kommen, diedie Grünen und die die Linken anbieten. Die Lösung fürbeide Fraktionen sei – auch die Kollegin von der SPDhat mit dieser Idee geliebäugelt – ein strafbewehrtesLobbyistenregister, ein verpflichtendes Lobbyistenregis-ter – ein ungeheures bürokratisches Monstrum, in demalles über Lobbyisten und Lobbyismus stehen muss:
der Name und die Adresse des Lobbyisten, sein Arbeit-geber und sein Gehalt, der Betrag, den seine Firma fürLobbyarbeit ausgibt, seine Gesprächspartner, seine Ge-sprächsthemen von morgens bis abends. Dies alles mussnatürlich alle drei Monate von der Bundestagsverwal-tung auf den neuesten Stand gebracht und ins Internetgestellt werden. Meine Damen und Herren, da kann Da-tenschutz selbstverständlich nur noch stören. Es geht jaum den Kampf gegen Lobbyismus. Der Zweck heiligthier jedes Mittel. Es fehlt nur noch, dass Sie jedem Lob-byisten ein „L“ auf die Stirn tätowieren wollen. Daswäre vielleicht noch eine Bereicherung.
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9000 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
Dr. Hans-Peter Uhl
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– Überhaupt nicht.
– Aber nur wenn sie von ihrem Vorschlag abrückt.Diese Anträge sind ein hilfloser oppositioneller Ak-tionismus. Diese Anträge lehnen wir ab, weil sie keinenLösungsbeitrag leisten. Wir lehnen sie nicht ab, weil wirdas Problem leugnen. Das Problem ist natürlich vorhan-den, dass Lobbyisten ungerechtfertigten Einfluss auf un-sere Arbeit nehmen können. Wir meinen aber, mit einerStigmatisierung dieser Menschen, die ja unsere Ge-sprächspartner sind und sein müssen, durch ein solchesRegister tragen wir nicht bei zu einer Lösung des Pro-blems.Nein, meine Damen und Herren, die Lösung liegtnicht darin, dass wir diese Menschen, die man Lobby-isten nennt, kujonieren. Die Lösung liegt bei uns Parla-mentariern.
Denn es ist unsere Aufgabe, mit dem, was uns als Parti-kularinteressen angeboten wird, richtig umzugehen,diese Interessen zu gewichten, sie zu bewerten und mitanderen, vielleicht widersprechenden oder widerstreiten-den Partikularinteressen zu vergleichen und aus diesemgesamten Strauß von Interessen eine Politik zu machen,die dem Gemeinwohl dient, die den sozialen Frieden er-hält,
und diese Politik dann zum Gesetz werden zu lassen.Das ist die Arbeit des Parlamentariers und dafür wer-den wir gewählt. Dafür werden wir bezahlt. Wir müssendafür arbeiten, dass wir das Vertrauen der Bevölkerungin unsere Arbeit erhalten können.Danke schön.
Vielen Dank. – Abschließende Rednerin zu diesem
Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Dr. Katarina
Barley, SPD.
Ganz herzlichen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Alsabschließende Rednerin kann ich feststellen, dass wiruns in einigen Punkten einig sind, nämlich dass in unse-rer politischen Kultur die Vertretung von unterschiedli-chen Interessen gut und richtig ist, dass wir auch daraufangewiesen sind, weil wir hier nicht in einem politischenElfenbeinturm leben können und wollen, dass die Kon-takte, die wir haben, Ausdruck einer funktionierendenVerbindung zwischen Staat, Politik und Zivilgesellschaftsind. Das wollen wir auch nicht ändern. Ich glaube, daswill keiner von uns. Es ist unsere originäre Aufgabe, dieverschiedenen Interessen aus dem Wahlkreis aufzuneh-men und zu bündeln. Da stimme ich mit dem KollegenKaster absolut überein; schließlich vertreten wir die Inte-ressen desselben Wahlkreises.
– Ja, wir sind uns in diesem Punkt sehr einig.Wir haben auch festgestellt, dass dann, wenn vonLobbyisten die Rede ist, viele Menschen eine unter-schiedliche Auffassung haben, was darunter zu verste-hen ist: Das sind die multinationalen Großkonzerne. Dassind Menschen mit viel Geld im Rücken. – Wir sind unseinig, dass es so nicht ist, sondern dass es auch NGOs,gemeinnützige Vereine, Gewerkschaften, Arbeitgeber-verbände sind. Alle diese sind Lobbyisten, und alle diesegehören auch nach meiner Auffassung in ein Lobbyis-tenregister.
Wir müssen einfach zur Kenntnis nehmen, dass dieVertretung der Interessen sich in den letzten Jahren zu ei-nem eigenen Wirtschaftszweig gemausert hat, dass zu-sätzlich zu dem Kreis der Personen, die ein eigenes Inte-resse haben, auch ein immer größer werdendes Heer vonAnwälten, Agenturen, Kanzleien und PR-VertretungenLobbyismus betreibt, teilweise mit einem gewaltigen fi-nanziellen Budget im Hintergrund. Wir müssen gleich-zeitig feststellen, dass mehr und mehr Menschen ein un-gutes Gefühl beschleicht, weil politische Prozesse für sienicht mehr nachvollziehbar sind. Manche stellen dannschon das gesamte politische System und die Demokra-tie infrage. Ich glaube, wir alle führen in unseren Wahl-kreisen Diskussionen über CETA und TTIP. Da wird dasganz besonders deutlich.Dieses wachsende Bedürfnis müssen wir ernst neh-men. Da hat sich seit 1972, als eine – natürlich – sozial-demokratisch geführte Regierung das bestehende Lob-byregister eingeführt hat, einiges verändert. Demmüssen wir uns stellen.
Dafür haben wir in dieser Legislaturperiode auchschon einiges getan. Wir hätten gern noch mehr getan,aber wir haben ja auch noch ein bisschen Zeit. Es istschon erwähnt worden: Den Straftatbestand der Abge-ordnetenbestechung haben wir neu geregelt und ver-schärft. Die Offenlegungspflichten für Nebentätigkeitenund Nebenverdienste von Abgeordneten wurden ausge-weitet. Eine Karenzzeitregelung für den Wechsel vonPolitikern in die Wirtschaft wurde eingeführt.
– Ich sage ja: Wir sind auf dem Weg.
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Dr. Katarina Barley
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Ein Lobbyregister wäre jetzt ein weiterer Baustein.Wir unterstützen deshalb die Forderung nach einem ver-pflichtenden Lobbyregister. Meine Kollegin SonjaSteffen hat es schon gesagt: Da haben wir bei den Freun-den von der Union noch ein dickes Brett zu bohren. Ichmöchte den Appell wiederholen. Ich glaube, dass einLobbyregister uns allen dabei helfen würde, diesen wa-bernden Mythos „Lobbyismus“ ein Stück weit zu ent-zaubern.
Wenn wir den Menschen deutlich machen und offen-legen, was sich dahinter verbirgt – wie ich eingangssagte, sind das nicht nur die multinationalen Großkon-zerne und die Konzerne mit ganz viel Geld im Rücken,sondern dazu gehören auch ganz viele Verbände, ge-meinnützige Organisationen und Menschen, zu denenwir alle Vertrauen haben –, dann würde dieser Kampfbe-griff „Lobbyismus“ vielleicht auch ein wenig an Kraftverlieren.Aber uns ist auch klar: Ein Lobbyregister kann nurmit einer breiten parlamentarischen Mehrheit beschlos-sen werden. Wir brauchen da ein kräftiges Zeichen desBundestages. Deswegen müssen wir noch ein bisschenwerbend tätig werden.An die Adresse der Linken und vor allen Dingen derGrünen möchte ich nur noch sagen: Ich würde vor über-steigerten Erwartungen an ein Lobbyregister warnen. Inder Einleitung zu dem Antrag steht sinngemäß: Dadurchkönnen wir Waffengleichheit und vollständige Transpa-renz herstellen. – Ich wäre da vorsichtig. Ich glaube, esist ein Schritt, ein Baustein. Aber ein Lobbyregister wirddie Versuche der unlauteren Einflussnahme auf die Poli-tik nicht verhindern. Es wird auch nicht für ein Gleich-gewicht bei den finanziellen Möglichkeiten der Interes-senvertretungen sorgen.Wie wir einen fairen Zugang unterschiedlicher Inte-ressen zum Gesetzgebungsprozess gewährleisten, bleibtam Ende vor allen Dingen, glaube ich, eine Frage derHaltung, und zwar unserer ganz persönlichen Haltung.Wir als Abgeordnete müssen durch unser Handeln so-wohl hier im Hohen Hause als auch in den Wahlkreisendeutlich machen, dass wir unsere Aufgabe sehr ernstnehmen, dass wir alle Interessen aufnehmen und abwä-gen. Daran, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann nurjeder selber arbeiten.Vielen Dank.
Danke schön. – Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/3842 und 18/3920 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –
Ich nehme an, dass Sie damit einverstanden sind, weil
sich kein Widerspruch erhebt. Dann sind die Überwei-
sungen auch so beschlossen.
Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 11, den
ich hiermit aufrufe:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes
zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vor-
schriften
Drucksache 18/4202
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich sehe,
dass Sie alle damit einverstanden sind. Dann ist das auch
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner für die Bundesregierung dem Parlamentarischen
Staatssekretär Enak Ferlemann das Wort.
E
Sehr geschätzter Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Sie alle kennen die Bilder, die zeigten,wie circa 80 nicht zugelassene Züge vor Berlin standen.Sie alle kennen die Szenarien, dass viele andere Zulas-sungen bei vielen Bahnprodukten nicht pünktlich erteiltwurden, sodass man in ganz Deutschland, vor allem imBereich des Nahverkehrs, sehnsüchtig auf die neuenZüge wartete. Die DB wartete außerdem auf die Zulas-sung von Zügen, die im Fernverkehrsbetrieb gebrauchtwurden.Woraus resultierte das? Die Industrie sagte: Andau-ernd ändern sich die Richtlinien, die Regeln, sodass wirimmer wieder neu nacharbeiten müssen. – Die Genehmi-gungsbehörde, das Eisenbahn-Bundesamt, führte aus,dass die Industrie die Leistung nicht immer so erbringe,wie sie das Eisenbahn-Bundesamt nach den aktuellenRichtlinien verlangen müsse. Die Bundesregierung warunzufrieden, weil das ganze System nicht vernünftig lief.Die Bahnbetreiber waren letztlich auch unzufrieden,weil sie nicht rechtzeitig das Wagenmaterial, das ihneneigentlich schon zugesagt worden war, auf die Gleise be-kommen konnten. Leidtragende waren am Ende auch dieReisenden, die mit älterem oder nicht ausreichendemWagenmaterial fahren mussten. All das hatte zur Folge,dass die Qualität und die Zugfolge nicht dem entspra-chen, was man eigentlich erwartet hatte. Das war einsehr unbefriedigender Zustand.Daraufhin hat das Bundesverkehrsministerium dieInitiative ergriffen, alle Beteiligten an einen Tisch geholtund versucht, die Frage zu beantworten, was in diesemSektor falsch läuft. Wir haben uns sehr an der Flugzeug-industrie orientiert, die es ja im Grunde genommen miteinem ähnlich komplexen System zu tun und ähnlicheProbleme zu lösen hat, und haben gefragt: Wie läuft dadas Zulassungsverfahren?
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Parl. Staatssekretär Enak Ferlemann
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So haben wir uns nach und nach mit allen Beteiligtendarauf verständigen können, wie wir diese Zulassungvereinfachen und beschleunigen können. Dabei ist alsErgebnis eine freiwillige Vereinbarung zwischen allenBeteiligten herausgekommen, nach der wir jetzt schonseit einiger Zeit sehr erfolgreich arbeiten. Sie werdenkeine Bilder mehr von nicht zugelassenen Zügen sehen,die irgendwo in den Hangars stehen, und nichts mehrvon großen Problemen hören, die es gab, als das Wagen-material nicht rechtzeitig auf die Strecke kam.Diese freiwillige Vereinbarung, nach der wir jetztschon arbeiten, wollen wir aber in eine dauerhafte Lö-sung gießen, in ein Gesetz. Das legen wir Ihnen heute alsEntwurf vor. Ich glaube, es ist ein sehr gelungener Ent-wurf. Was ist der Kern? Der Kern ist, dass nach wie vorkein Zug zugelassen wird ohne Genehmigung durch dasEisenbahn-Bundesamt. Mich hat es sehr gestört, dass dasEisenbahn-Bundesamt in der Diskussion vor Jahren im-mer als eine verstaubte Behörde in die Ecke gestelltwurde, die die Probleme nicht in den Griff bekommt undes gar nicht kann. Das ist falsch. Wir haben ein sehr gutaufgestelltes Eisenbahn-Bundesamt, dessen Mitarbeiteraber nun einmal nach den Richtlinien und Regulariendes öffentlichen Dienstes arbeiten müssen. Man kannden Kolleginnen und Kollegen dort nur sehr dankbarsein für den guten Job, den sie unter den Bedingungen,wie sie nun einmal sind, machen.
Aber wir haben Beschleunigungselemente evaluiertund haben gesagt – ähnlich wie es in anderen Bereichenauch ist –: Lasst doch private Prüfer zum Zuge kommen,die vielleicht flexibler und schneller bestimmte Teileprüfen können. So können wir der Industrie die Mög-lichkeit geben, schneller die Prüfverfahren durchlaufenzu können. Deswegen legen wir in diesem Gesetz fest,dass das Eisenbahn-Bundesamt alle Prüfer aus dem pri-vaten Bereich zertifizieren muss, bevor diese dann ihrePrüfungen durchführen. Daran schließt sich die Endprü-fung durch das Eisenbahn-Bundesamt an, die notwendigist, um einen Zug zulassen zu können. Ich glaube, das istein sehr gutes und effizientes Verfahren.Mit diesem Gesetz legen wir die Grundlage, dass wirin Zukunft in Deutschland, so wie wir es jetzt schon seiteinigen Monaten praktizieren, schnelle Zulassungsver-fahren haben, um der Industrie Sicherheit zu geben, umaber auch den Passagieren, den Menschen, die mit denZügen fahren, Sicherheit zu geben, und vor allem, umdiese Züge schneller auf die Strecke zu bekommen.Mit diesem Gesetz regeln wir auch eine Entbürokrati-sierung im Bereich der Werkstätten. Bei den Werkstättenhaben wir festgestellt, dass wir die Regulierung so, wiewir sie haben, nicht brauchen, weil wir einen Markt vor-finden, auf dem Konkurrenz herrscht, sodass wir ihndurch Regulierung nicht künstlich abbilden müssen unddiesen Sektor sozusagen in die Freiheit entlassen kön-nen. Es ist eine gute Lösung, dass wir in diesem Bereichzu einer Entbürokratisierung kommen.Ich glaube, dass unsere Vorschläge für diesen Sektorsinnvoll sind, und hoffe auf zügige Beratung.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke ist die
Kollegin Sabine Leidig.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!Das Problem haben wir gerade schon gehört: lange Zu-lassungszeiten für Schienenfahrzeuge. Dass das Problemschon weitgehend gelöst ist, haben wir ebenfalls gehört.Da es unterschiedliche Schuldzuweisungen gibt, möchteich feststellen: Die Bahnindustrie sagt, das Eisenbahn-Bundesamt sei schuld. Das Eisenbahn-Bundesamt er-klärt, dass die Prüfunterlagen der Bahnunternehmen oftnicht rechtzeitig vorliegen, nicht vollständig sind oder insich nicht schlüssig sind, und bemängelt außerdem, dassnicht genug Personal vorhanden ist, um schnell zu prü-fen, wie es verlangt wird.Ich glaube, dass es ein noch tieferes Problem gibt, dasein bisschen aus den Augen geraten ist. In früheren Zei-ten gab es eine ganz enge Zusammenarbeit zwischen derBahnindustrie und der – damals noch – Deutschen Bun-desbahn. Diese Zusammenarbeit bot ausreichend Zeitfür lange Testphasen, in denen neue Züge auf derSchiene, also in der Praxis, ausprobiert wurden. Man hatgemeinsam geschaut, was wo verbessert werden muss.Heute steht die Deutsche Bahn AG als Konzern denFahrzeugherstellern gegenüber. Jede Seite will Gewinnmachen, muss Gewinn machen. Es passiert immer wie-der, dass die Züge, die bereitgestellt werden, nicht alleAnforderungen erfüllen. Wir haben in der Anhörung denAusdruck gehört, dass die Fahrzeuge beim Kunden rei-fen wie Bananen. Aber Schienenfahrzeuge – Eisenbah-nen, Straßenbahnen – sind keine Bananen, und deshalbmuss man andere Maßstäbe anlegen.
Die Bundesregierung schlägt nun nicht vor, dass wiebisher einzelne spezielle Aufträge vom Eisenbahn-Bun-desamt an Spezialwerkstätten vergeben werden können– das wäre nicht so schlimm –, sondern Sie schlagen vor,dass das Zulassungsverfahren insgesamt weitgehend pri-vatisiert wird und dass das EBA am Schluss nur nochden Stempel draufdrückt. Dazu sagen wir Nein.
Die Unternehmen, die Sie ins Spiel bringen, sind ge-winnorientiert und müssen bei ihrer Arbeit 6 bis 10 Pro-zent Gewinnmarge erwirtschaften. Das kann man ihnengar nicht vorwerfen. So sind sie konstruiert. Deshalbwird die Arbeit entweder nachher um diesen Gewinnteurer, oder die Anbieter drücken die Kosten, indem sie
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Sabine Leidig
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beim Personal sparen. Wir kennen dieses Problem. Wirhaben es übrigens auch bei der Deutschen Bahn AG er-lebt. Gerade für diese sicherheitsrelevanten Bereiche istes eine gefährliche Konstruktion, wenn an solchen Din-gen gespart wird. Deshalb lehnen wir eine Privatisierungdieser eigentlich hoheitlichen Aufgabe ab.
Man kann auch die Zulassung von Automobilen nichtunbedingt als gutes Vorbild nehmen; denn Sie alle wis-sen, dass sich die Rückrufaktionen auch der großen Au-tohersteller in den letzten Jahren häufen. Wir wissen,dass die immer komplexere Technik eine besonderssorgfältige und eine unabhängige Prüfung notwendigmacht, ohne Zeit- und Kostendruck.
Deshalb fordern wir, dass das Eisenbahn-Bundesamteine starke Rolle als Aufsicht für die Deutsche Bahn AGhaben und behalten muss und dass deshalb auch mehrPersonal beim Eisenbahn-Bundesamt eingestellt werdenmuss. Wir brauchen ebenfalls eine Veränderung der Ab-läufe. Die Beschäftigten im EBA wissen sehr genau, woes klemmt. Es wäre sehr sinnvoll, viel stärker mit denBeschäftigten aus der Praxis zusammenzuarbeiten.Ich bin gespannt, Kollege Burkert von der SPD, obSie uns in dieser Linie unterstützen. Vor zwei Jahren, alsSie als Vorstandsmitglied der Eisenbahn- und Verkehrs-gewerkschaft an den früheren Verkehrsminister ge-schrieben haben, haben Sie genau diese Position vertre-ten. Ich glaube, dass sie richtig ist und war.
Ich will noch einige Vorschläge machen, wie man dieProbleme lösen kann und neue Züge und Straßenbahnenschneller und besser auf die Schiene bringt:Erstens – das sagte ich bereits –: mehr Personal fürdas EBA.Zweitens soll die Bahn wieder enger mit den Zugher-stellern zusammenarbeiten, anstatt gegen sie zu arbeiten.Es gibt schon eine Tendenz in diese Richtung: Beimneuen ICx wird es besser gemacht.Drittens. Es muss ausreichend Zeit zwischen der Be-stellung und der Auslieferung von Zügen bleiben. BeiAusschreibungen für den öffentlichen Nahverkehr mussein solcher Zeitplan möglich sein, das heißt, die Finan-zierung muss sichergestellt sein.Schließlich könnte man auch die Sonderwünsche derNahverkehrsträger ein bisschen reduzieren. Warum mussdie Zugtoilette in Hessen vorne sein und in Sachsen hin-ten? Wenn man die Standards und die Ausstattung ein-heitlicher gestaltet, dann braucht man weniger Geld undZeit und hat einen geringeren Zulassungsaufwand.Kurz gesagt, kommt es für uns als Linke auf Folgen-des an:Erstens. Prüfung und Zulassung von Eisenbahnfahr-zeugen sollen öffentliche Aufgaben bleiben. Das Eisen-bahn-Bundesamt muss für diese Aufgabe besser ausge-stattet werden.
Zweitens. Es braucht mehr Zusammenarbeit und nichtKonkurrenz zwischen den beteiligten Unternehmen.Diese Zusammenarbeit kann und soll auch politisch un-terstützt werden.Vielen Dank.
Danke, Frau Kollegin Leidig. – Nächste Rednerin ist
für die SPD die Kollegin Kirsten Lühmann.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!Schon die erste Betriebsordnung für Haupteisenbahnenin Deutschland aus dem Jahre 1892 stellte fest: „NeueWagen dürfen erst in Gebrauch genommen werden,nachdem sie untersucht und als sicher befunden sind.“Diese Vorschrift hatte noch nicht festgelegt, wer sie prü-fen soll. Allerdings stieg mit den Sicherheitserfordernis-sen auch die Zahl der Konstruktions- und Ausrüstungs-vorschriften. Von deren unabhängiger Prüfung vor derZulassung der Eisenbahnen hängt auch das Vertrauen indas Verkehrsmittel ab, und zwar ein Vertrauen, das ange-sichts der geringen Unfallzahlen durchaus gerechtfertigtist.Was im Automobil- und Flugzeugsektor selbstver-ständlich ist, nämlich die qualifizierte, schnelle und un-bürokratische Zulassung unter anderem in Form einereuropäischen Typgenehmigung, geschieht bei der Zulas-sung von neuen, noch sichereren Bahntechniken zu lang-sam und ist verbesserungswürdig. Die daraus resultie-rende mangelnde Planungssicherheit, die hohen Kostenund der hohe Zeitbedarf gehen zulasten aller: der herstel-lenden Unternehmen, der Betreibenden und nicht zuletztder Fahrgäste. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen,wollen wir ändern.
Mit der Umsetzung der entsprechenden EU-Richt-linie, die wir mit dem heute in das Parlament einge-brachten Gesetzentwurf vollziehen, tragen wir demLeitgedanken Rechnung, die operative Prüfung vonBahntechnik in bestimmtem Umfange – nicht komplett –auch Privaten zu ermöglichen. Mit dem seit Juni 2013geltenden sogenannten Memorandum of Understandingdurften in Deutschland erstmals private Organisationendie Voraussetzungen für die Zulassung von Schienen-fahrzeugen in größerem Umfange prüfen. Mit dem vor-liegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung wird fürdieses erfolgreiche Übergangsmodell nun endgültig einrechtlich verbindlicher Rahmen geschaffen. Damit wirddie Zulassung von Bahntechnik in Deutschland be-schleunigt und vereinfacht. Allerdings: Abstriche bei der
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Kirsten Lühmann
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Sicherheit des Schienenverkehrs wird es dabei nicht ge-ben. Die technischen Vorgaben, liebe Kollegen und Kol-leginnen, werden ebenso sorgfältig überprüft, wie eszum Beispiel im Pkw-Bereich schon lange Jahre gangund gäbe ist.Was ist nun neu? Bislang war das Eisenbahn-Bundes-amt die allein zuständige Prüfbehörde. Das EBA beschäf-tigt inzwischen mehr als 1 000 Mitarbeitende, die sehrkompetent und verantwortungsvoll viele Themen des Ei-senbahnwesens in Deutschland bearbeiten. Ich nenne nurdie Planfeststellungen, die Fahrgastrechte, die Betriebs-überwachungen. Anfang des Jahres haben wir ihm auchdie verantwortungsvollen Aufgaben der Lärmkartierungund der Erstellung des Lärmaktionsplans übertragen.Mit den technischen Fragen der Schienenfahrzeugzu-lassung befassen sich etwa 50 Mitarbeitende, also 5 Pro-zent der Gesamtbelegschaft. Die Anzahl der Schienen-fahrzeugprojekte pro Jahr, die eine Zulassung benötigen– dazu gehört auch die Wiederzulassung nach der Mo-dernisierung eines Zuges –, ist dagegen allein in denletzten zehn Jahren um ein Vielfaches gestiegen. DasEBA und seine Beschäftigten leisten also eine hervorra-gende und gewissenhafte Arbeit – allein ihre Kapazitätist begrenzt.
Es ist daher ein Gebot der Zeit, das heute im Eisen-bahnsektor verteilte Wissen – auch in der Zulassung –nutzbar zu machen, um das EBA an dieser Stelle zu ent-lasten und das umfassende Fachwissen ihrer Mitarbei-tenden für die tiefergehende Plausibilitätsprüfung, dievor einer Zulassung am Ende stehen muss, zu nutzen.Ähnliche Strukturmodelle funktionieren in der Luftfahrtseit Jahrzehnten – und das sehr erfolgreich.Wie läuft nun diese Zertifizierung in der Zukunft ab?Wie schon in der Übergangszeit praktiziert, wird in Zu-kunft das EBA private Organisationen nach strengenAuswahlkriterien als sogenannte Designated Bodies an-erkennen. Diese Anerkennung als projektunabhängigeund weisungsfreie Organisation zur Prüfung der nationa-len Vorschriften befähigt diese private Organisation, dieUntersuchung durchzuführen. Das Eisenbahn-Bundes-amt bleibt dabei aber – das ist uns wichtig – die Behörde,die nach der abschließenden Überprüfung der Zulassungvon Bahntechnik Rechtskraft verleiht; und das ist auchgut so.
Das EBA hat sich in den letzten Jahren internationaleinen ausgezeichneten Ruf erarbeitet. Wir werden hiernach einer gewissen Zeit jedoch überprüfen müssen, obeine internationale Anerkennung auch in Staaten außer-halb der EU funktioniert oder ob wir dazu noch weitereSchritte unternehmen müssen.Gestern hat die Deutsche Bahn ihr neues Fernver-kehrskonzept vorgestellt. Es beinhaltet 12 MilliardenEuro Investitionen in den nächsten 15 Jahren. Knapp100 zusätzliche Züge sollen 50 Millionen Bahnreisendezusätzlich transportieren.Das heute von der Bundesregierung eingebrachte Ge-setz wird mit dafür sorgen, dass das erforderliche rol-lende Material zeitgerecht zur Verfügung steht – fürmehr grüne Mobilität, für mehr Komfort und für mehrSicherheit.Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Matthias Gastel für
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! „Entwurf eines Neunten Gesetzes zur Ände-rung eisenbahnrechtlicher Vorschriften“ – das klingtlangweilig. Es klingt nach einem Spielfeld für Paragra-fenentwickler. Bei näherer Betrachtung ist es aber mehr:Es geht um die Einsparung von Kosten für die Eisen-bahnindustrie, für die Betreiber und letztlich natürlichauch für die Fahrgäste, und es geht um die schnellereund umfassendere Zugverfügbarkeit.Anerkannte private Stellen sollen Prüfaufgaben vomEisenbahn-Bundesamt übernehmen. Das EBA bleibt zu-ständig für die Überwachung der Verfahren und die ab-schließende Erteilung der Inbetriebnahmegenehmigung.Durch diese Neugestaltung erhofft man sich erheblicheBeschleunigungs- und Synergieeffekte im gesamten Zu-lassungsverfahren. Die vorgelegten Gesetzesänderun-gen werden von den Verbänden positiv beurteilt.Wie wichtig die Beschleunigung der Zulassungsver-fahren durch eine Entlastung des EBA ist, zeigt die Ver-gangenheit. Im Jahr 2012 lag fast ein Drittel des Jahres-umsatzes der deutschen Bahnindustrie wegen laufenderZulassungsverfahren auf Eis. Die Züge fehlten auf derSchiene.Wie wichtig die Beschleunigung der Zulassungsver-fahren ist, zeigen aber auch die aktuellen Pläne der Deut-schen Bahn für die Zukunft. Das gestern vorgestellteFernverkehrskonzept der Deutschen Bahn sieht die Aus-weitung der Angebote vor. Dafür braucht es mehr Züge –für den Regelbetrieb wie auch für die Reserve.Wir haben lange darauf gewartet, dass sich dieserträge Konzern endlich bewegt. Wir haben lange daraufgewartet, dass dieser tranfunzelige Apparat endlich malso etwas wie eine Leidenschaft für die Interessen seinerFahrgäste entwickelt.
Da hat der Wettbewerb wie ein kräftiger Tritt in den Hin-tern des Eisenbahnkonzerns gewirkt:
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 9005
Matthias Gastel
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Deutschland im Takt, Agenda für grüne Mobilität – daschlägt das Herz der grünen Bahnpartei höher undschneller.
Der ICE-Verkehr soll, was die Kilometer angeht, um25 Prozent zulegen. Mehr Städte sollen an den IC ange-bunden werden, und die DB nähert sich, zumindest vor-sichtig, dem integralen Taktfahrplan. Bis zum Jahr 2030sollen pro Jahr 50 Millionen zusätzliche Fahrgäste fürdie Schiene gewonnen werden.Man muss aber auch etwas Wasser in den Wein gie-ßen. Es fehlt nämlich vor allem eine Strategie für mehrPünktlichkeit. Ein Drittel der Züge hat Verspätung. DieDB definiert Pünktlichkeit zwar als Basisqualität, wasich aber vermisse, ist ein Konzept für mehr Pünktlichkeitauf der Schiene.
Was ich außerdem vermisse, ist ein Konzept für einenfunktionierenden Gastronomiebetrieb auf der Schiene;denn auch in diesem Bereich gibt es Defizite.
Die Bahn kann punkten, wenn das funktioniert. Ein Kon-zept ist aber nicht vorhanden.Unklar ist auch die Finanzierung. Auf wie viele Re-gionalisierungsmittel möchte die Deutsche Bahn zurück-greifen? Es ist Aufgabe der Bundesregierung, sicherzu-stellen, dass die Länder nicht in die Verantwortung fürdie Finanzierung des Fernverkehrs geraten. Genauso istdie Bundesregierung gefordert, endlich für mehr Wettbe-werbsgerechtigkeit zu sorgen, sodass die Schiene nichtmehr weiter benachteiligt ist; denn sie muss im grenz-überschreitenden Verkehr 19 Prozent Umsatzsteuer zah-len, der Flugverkehr zahlt nichts. Ähnlich sieht es im Be-reich Emissionshandel aus. Auch hier ist die Schienegegenüber der Straße und dem Luftverkehr benachtei-ligt.
Die Bundesregierung ist gefordert, die Gewinn- undDividendenerwartung, die sie an den Konzern DeutscheBahn hat, zu korrigieren und trotzdem zu ermöglichen,dass die notwendigen Investitionen in die Schiene finan-ziert werden, Ersatzinvestitionen genauso wie die Schlie-ßung von Lücken, auch wenn die Gewinne im Konzernschrumpfen.
Um ihr Fernverkehrskonzept umsetzen zu können, istdie DB dringend auf neue Züge angewiesen. Insofern istdie Änderung des Zulassungsrechts eine Grundvoraus-setzung für die Umsetzung der Fahrgastoffensive. Wirbegrüßen die hier vorgelegte Gesetzesänderung,
und wir plädieren für eine möglichst schnelle Umset-zung, damit das System Schiene trotz Kostensenkungenbesser funktionieren kann als bisher, damit die Bahn-unternehmen schneller zu ihren Zügen kommen und da-mit schließlich mehr Menschen und mehr Güter auf derumweltfreundlichen und energieeffizienten Schiene un-terwegs sind.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort der
Kollege Oliver Wittke.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Herr Kollege Gastel, nachdem Sie zu Be-ginn Ihrer Rede den Tagesordnungspunkt noch einmalausdrücklich vorgelesen haben, nämlich „Entwurf einesNeunten Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicherVorschriften“,
habe ich gedacht, Sie würden zum Thema reden. Aberdann haben Sie über Gastronomie bei der DeutschenBahn, über Pünktlichkeit und über die Umsatzsteuerpro-blematik gesprochen. Das war nun wirklich nicht Rege-lungstatbestand dessen, was heute auf dem Tisch liegt,was wir zu beraten und zu beschließen haben.
Herr Gastel, es hat nur noch gefehlt, dass Sie sich überdie Sauberkeit der Toiletten bei der Deutschen Bahn be-schweren. Das hätte wahrscheinlich auch noch in diesenGesetzentwurf hineingehört.
Das war am Thema vorbei.Ich weiß, es ist schwer, zum Thema zu reden und da-mit fünf Minuten zu füllen, weil es ein sperriges Themaist, aber Ihr Versuch ist in der Tat gescheitert.
Ich bin froh, dass Sie mir die Gelegenheit gegeben ha-ben, damit zumindest die ersten anderthalb Minutenmeiner Rede zu diesem sperrigen Thema zu bestreiten.
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Oliver Wittke
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Die Liberalisierung des Eisenbahnwesens in Europazu Beginn der 90er-Jahre und im Übrigen auch dieBahnreform in Deutschland 1994 sind eine große Er-folgsgeschichte. Die Bahnen transportieren seitdemmehr Menschen und mehr Güter. Sie machen das auchmit einem größeren Komfort.Vor allem hat Europa auch auf der Schiene Grenzenüberwunden. Europa ist zusammengewachsen, weil vieleVerkehre über die alten Nationalgrenzen hinweg stattfin-den. Es ist schön, dass heute der Thalys nach Köln fährt,dass die ÖBB nach München fährt und dass der ICE inAmsterdam hält. Das sind große Erfolge. Europa wächsteben auch auf der Schiene zusammen.Neue Unternehmen sind entstanden, und der Wettbe-werb belebt in der Tat das Geschäft, Frau Leidig. Wirsind nicht diejenigen, die sich die alte Reichsbahn wie-der wünschen. Wir wollen nicht eine alte verstaubteBahn, sondern wir wollen Wettbewerb auf der Schiene,weil das den Verkehr steigert, weil das den Menschennutzt und weil wir damit eine bessere Leistung zu besse-ren Preisen bekommen. Das ist auch Teil der Erfolgsge-schichte der Bahnreform und der Liberalisierung des Ei-senbahnwesens in Europa.
Diese dynamische Entwicklung ist bei weitem nochnicht abgeschlossen, und das ist gut so. Wir werden nochbesser werden, und wir wollen unseren Beitrag dazuleisten, dass die Bahn in Deutschland noch leistungsfähi-ger werden kann. Ich freue mich darüber, dass gerade dieDeutsche Bahn, unser bundeseigenes Eisenbahnunter-nehmen, diesen Wettbewerb aufgenommen und mit Bra-vour bestanden hat und auch besser geworden ist. Das istauch ein Erfolg der Bahnreform und der Liberalisierungdes Eisenbahnwesens.Es ist völlig klar, dass die gesetzlichen Regelungennicht so schnell hinterhergekommen sind. Darum ist esgut, dass wir heute das Allgemeine Eisenbahngesetz än-dern mit dem Ziel, Zulassungsverfahren zu beschleuni-gen und eine europäische Harmonisierung voranzutrei-ben.
Die Folgen davon werden eine erhebliche Beschleuni-gung und größere Synergieeffekte sein. Das ist insbe-sondere auch für deutsche Unternehmen eine Wettbe-werbsverbesserung, nicht nur für die Hersteller vonEisenbahnen, sondern gerade auch für die Eisenbahnun-ternehmen in unserem Land.Ich will an dieser Stelle für die Unionsfraktion aus-drücklich begrüßen, dass private Stellen künftig wesent-liche Prüfaufgaben übertragen bekommen. Teilsystemeder Fahrzeuge, Leit-, Sicherungs- und Energietechnikkönnen künftig auch von privaten Unternehmen geprüftwerden. Das bedeutet übrigens keine Reduzierung desQualitätsstandards; denn am Ende steht immer noch einestaatliche Institution, nämlich das Eisenbahn-Bundes-amt, das nicht nur einen Stempel daruntersetzt, sondernausdrücklich prüft, ob ordentliche Arbeit geleistet wor-den ist. Das können private Unternehmen genauso gutwie staatliche Stellen. Die letztendliche Verantwortungliegt jedoch beim Staat. Es ist klug und richtig, dass dasEisenbahn-Bundesamt das letzte Wort auch bei Untersu-chungen und bei Arbeiten von privaten Unternehmenhat.Ich sage aber ganz deutlich, dass wir darauf achtenmüssen, dass die Qualität nicht darunter leidet. Dasheißt, wir wollen weiterhin ein Vieraugenprinzip haben.Wir wollen weiterhin eine Weisungsunabhängigkeit ha-ben. Wir wollen weiterhin eine Amtshaftung haben. Wirwollen auch eine Vergütungsverordnung haben, die ge-nau das verhindert, Frau Leidig, was Sie gerade hier vor-getragen haben, dass es nämlich zu irgendwelchen Dum-pinglöhnen kommt und damit zu Minderleistungen.Nein, das alles wird es mit uns nicht geben. Ich sage dashier auch deshalb, weil wir es nicht unmittelbar im Ge-setz regeln. Vielmehr wird das, was ich hier vorgetragenhabe, in einer Sachverständigenverordnung des Bundes-ministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur gere-gelt werden. Damit werden die Qualitätsstandards so,wie es notwendig ist und wie wir es bisher gewohnt sind,eingehalten.Fazit. Mit diesem Gesetz folgen wir einer Entwick-lung, die mit einem rasanten Tempo mehr Qualität, mehrWettbewerb und eine bessere Leistung in den vergange-nen Jahren im Bahnsektor bewirkt hat. Wir passen ge-setzliche Regelungen an, die notwendig sind, um diedeutsche Wirtschaft und deutsche Unternehmen zu stär-ken. Die Entwicklung der Bahnen – ich sage ausdrück-lich „Bahnen“ und meine damit die Deutsche Bahn, abereben auch die Privatbahnen in unserem Land – in denvergangen Jahren war eine Erfolgsgeschichte. Diese Er-folgsgeschichte wollen wir weiterschreiben. Dabei istdie Änderung der eisenbahnrechtlichen Vorschriftenjetzt ein ganz wichtiger Schritt.Darum bin ich sicher, dass es eine breite Zustimmung,wenn auch nicht eine allumfassende Zustimmung gibt.Denn eines habe ich in der mittlerweile anderthalbjähri-gen Zugehörigkeit in diesem Haus mitbekommen: Esgibt eine Fraktion, die, egal was hier passiert, immerNein sagt. Das ist die Linke. Werden Sie da ruhig IhremMotto gerecht.
Sachgerecht ist das, was Sie hier vortragen, nicht. Da-rum freue ich mich auf die Diskussion im Ausschuss undin der zweiten und dritten Lesung in diesem Haus.Herzlichen Dank.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 9007
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Der Kollege Martin Burkert spricht jetzt für die SPD.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-nen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich glaube, wir sind uns hier im Haus einig, dasswir die Züge schneller aufs Gleis bringen müssen – dagibt es Konsens –, weil wir es uns schlichtweg nichtmehr leisten können, dass Züge direkt von der Fabrikaufs Abstellgleis fahren. Deswegen ist es gut, dass wirheute hier die erste Lesung dieses Gesetzentwurfs haben.Von der Bestellung bis zur Auslieferung eines Zugesvergingen in Deutschland in der Vergangenheit vierJahre; zwei Jahre davon dauerte allein der Zulassungs-prozess. Wenn sie ins Ausland gingen, dann waren dieseZeiten noch länger. Das müssen wir ändern, weil dielangen Wartezeiten erhebliche negative Folgen für dieFahrgäste haben – das haben wir schon gehört –, aberauch die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes negativbeeinflussen und den Wirtschaftsstandort Deutschlanddamit nicht voranbringen.Bislang – auch das alles haben wir schon gehört – ob-lag es allein dem Eisenbahn-Bundesamt – abgekürzt:dem EBA –, für die neu entwickelten Züge die Zulas-sung und Inbetriebnahmegenehmigung zu erteilen. ImEisenbahn-Bundesamt sitzen die Leute, die den nötigenSachverstand und die Erfahrung haben, um unser hohesSicherheitsniveau im Bahnverkehr zu gewährleisten.
Diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben unsergroßes Lob verdient, meine lieben Kolleginnen und Kol-legen.
Ich muss noch eines sagen: Ob die Probleme, die es inder Vergangenheit bei den Nahverkehrszügen gab, zumBeispiel beim Talent 2, wie in meiner Heimatstadt Nürn-berg, oder beim ICE 3, immer durch das Eisenbahn-Bundesamt verursacht wurden, kann man hinterfragen.Es liegt mir fern, heute einen Sündenbock zu suchen.Aber Fakt ist, dass manche Kritik am Eisenbahn-Bundesamt unangebracht war, da es auch auf der Her-stellerseite Fehler gegeben hat.
Doch dass der Zulassungsprozess dringend modernisiertwerden muss, können meine Fraktion und ich klar unter-schreiben.Um das Verfahren zu verkürzen, wird nun im vorlie-genden Gesetzentwurf geregelt, dass auch externe Gut-achter eingeschaltet werden dürfen. Mit diesem neuenBahn-TÜV – so nenne ich ihn einmal – sollen künftigDritte wie die DEKRA oder auch der TÜV selber sämtli-che Prüfinhalte kontrollieren und die Prüfungen abneh-men. Grundlage für diese Neuerung ist eine Vereinba-rung zwischen Herstellern, dem Eisenbahn-Bundesamt,dem Bundesverkehrsministerium und den Betreibern.Dieses sogenannte Memorandum of Understanding, beidem alle wichtigen Akteure eingebunden waren, wirdhier mit der nötigen gesetzlichen Grundlage verankert.Entscheidend und wichtig ist für uns und für mich, dassdas Eisenbahn-Bundesamt bei der abschließenden Ertei-lung der Inbetriebnahmegenehmigung weiterhin den Hutaufhat.
Das soll im Klartext heißen: Das EBA soll sich in Zu-kunft im Regelfall darauf konzentrieren können, festzu-stellen, ob die durch den TÜV und andere vorgelegtenNachweise vollständig und eindeutig sind. Ob es mitdieser neuen Praxis tatsächlich zu einer Beschleunigungdes Zulassungsverfahrens kommt, werden wir bei derangekündigten Evaluierung sicher feststellen können.Aufgrund der neuen Strukturen entstehen ja auch höhereKosten. Erst auf lange Sicht soll es durch das erhoffte er-hebliche Beschleunigungsverfahren zu einer Kostensen-kung kommen.Ich möchte an dieser Stelle aber auch auf möglicheRisiken hinweisen. Mit dem System der Privatisierungim Zulassungsverfahren werden wieder hoheitliche Auf-gaben privatisiert – das ist uns klar –, mit denen grund-sätzlich, auch beim EBA, Geld verdient werden könnte.Das gilt auch für die Sachverständigen, die künftig diePrüfaufgaben des EBA übernehmen werden. Dabei gehtes um geschätzte 500 Externe, die – auch das ist schongesagt worden – gewinnorientiert arbeiten wollen undwerden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehr-ten Damen und Herren, es muss vermieden werden, dasswir am Ende höhere Kosten, aber keinen Mehrwerthaben. Wir wollen nicht, dass es zu Erfahrungen wiebeispielsweise in der Abfallwirtschaft kommt. Hier ma-chen die Kommunen die Abgabe an private Dritte der-zeit wieder rückgängig, weil sie am Ende trotzdem nochbilliger sind als die privaten Anbieter und unter demStrich genauso gut arbeiten.
Die Verlagerung der Aufgaben auf Externe macht nurSinn, wenn Züge später nachweislich schneller zugelas-sen werden.Zur Überwachung der Sachverständigen ist eine Auf-stockung der Stellen im BMVI und beim EBA lautGesetz bereits vorgesehen. Es geht um 15 zusätzlichePersonen. In Richtung der Bundesregierung sage ich:Herr Ferlemann, ich gehe davon aus, wir sind uns einig,dass diese 15 Stellen vom Haushaltsausschuss geneh-migt und dann auch besetzt werden. Das ist ganz wich-tig, weil das alles am Ende sonst nicht hinhaut.
Wir müssen die Schiene weiter stärken. Völlig klar:Ein effizientes Zulassungsverfahren gehört ganz sicher
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9008 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
Martin Burkert
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dazu. Das steht und fällt aber mit sachkundigem Perso-nal. Wir müssen nachhaltig investieren. Ich wünscheuns, dass dieses Gesetz ohne Wenn und Aber umgesetztwird. Ich freue mich, dass die Fraktion Bündnis 90/DieGrünen das auch so sieht. Ich freue mich auf den Aus-schuss und hoffe, dass wir zügig in die zweite und dritteLesung kommen.Vielen Dank.
Abschließende Rednerin zu diesem Tagesordnungs-
punkt ist die Kollegin Daniela Ludwig, CDU/CSU.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr viel und sehr viel Richtiges ist zu diesem Thema
schon gesagt worden. Es ist berechtigterweise darauf
hingewiesen worden, dass unser Zug-TÜV, wenn ich es
mal salopp so nennen darf, schneller werden muss, effi-
zienter, besser, in Teilen mit mehr Personal ausgestattet.
Lieber Herr Burkert, da appelliere ich an Sie: Jeder
spricht mal mit seinen Haushältern und sorgt für Sensibi-
lität an dieser Stelle. Ich glaube, dann kriegen wir auch
das richtig hin; denn es ist ein berechtigtes Anliegen,
ohne Frage.
Wir tun damit Gutes für die Hersteller, weil sie künf-
tig Kosten und Aufwand sparen, wenn sie neue Züge
nicht länger monatelang sozusagen auf dem Abstellgleis
auf Halde halten müssen, bis diese endlich in Betrieb ge-
nommen werden dürfen. Wir tun etwas für die Auftrag-
geber, für die Deutsche Bahn und andere. Wir tun etwas
für die Kunden. Wir tun aber auch etwas – das kam heute
noch etwas zu kurz; ich möchte es der Vollständigkeit
halber erwähnen – für die Anwohner von Bahnstrecken,
weil sie nun schneller in den Genuss modernerer, aber
vor allem leiserer Züge kommen. Dieser Aspekt ist auch
nicht ganz von der Hand zu weisen.
Wenn wir, lieber Herr Staatssekretär, die Horrormel-
dungen der letzten Jahre Revue passieren lassen – erin-
nern wir uns, welche guten, modernen Züge nicht in
Betrieb gehen konnten, weil entweder, berechtigter-
weise, Bedenken an der Sicherheit bestanden oder aber
meistens das EBA einfach nicht schnell genug war –,
dann sollte dieses nun tatsächlich der Vergangenheit an-
gehören.
Es ist gesagt worden: Es gab einen runden Tisch mit
allen Beteiligten. Man hat sich ausgetauscht. Man hat in
einer Übergangsphase verschiedene Verfahren und
Modelle ausprobiert. Jetzt, denke ich, sind wir tatsäch-
lich so weit – ich bedanke mich ausdrücklich auch für
die Unterstützung der Grünen –, dass wir das Ganze in
Gesetzesform gießen können.
Dazu, dass wir hier Private beteiligen: Ich warne
schon davor, immer gleich Ausschlag zu bekommen,
wenn die Wörtchen „privat“ oder „gewinnorientiert“ ir-
gendwo vorkommen.
– Bei Ihnen muss ich mir die Sorge schon machen, Frau
Leidig; es tut mir leid. – Der Ansatz, zukünftig auch pri-
vate Stellen Prüfaufgaben übernehmen zu lassen, ist tat-
sächlich nur gut für das gesamte Verfahren. Wir sehen
das bei anderen Verkehrsträgern. Es war überhaupt nicht
einleuchtend, warum es auf der Schiene nicht funktio-
nieren sollte. Deswegen bin ich schon der festen Über-
zeugung, dass wir hier einen zukunftsfähigen Schritt hin
zu einem besseren, moderneren und leiseren Schienen-
verkehr tun. In diesem Sinne vielen Dank für diesen Ge-
setzentwurf.
Deswegen ist mir auch nicht bange, dass wir, wenn
wir es dann beschlossen haben nach der zweiten und
dritten Lesung, gut beobachten werden, wie es läuft.
Wenn es am Anfang vielleicht das eine oder andere Pro-
blemchen gibt, ist das, denke ich, völlig normal. Aber
ich bin voll bei Ihnen, Herr Burkert: Wir werden es na-
türlich evaluieren, wir werden uns anschauen: Wo gibt es
noch die eine oder andere Stelle, die wir ein bisschen
schleifen müssen? – Aber im Großen und Ganzen bin ich
sehr zuversichtlich, dass wir – schon schlau geworden
aus den Übergangsphasen – hier ein sehr, sehr gutes
neues System im wahrsten Sinne des Wortes auf die
Gleise setzen. Ich freue mich auf die weiteren Beratun-
gen und hoffe, dass wir unser Gesetzgebungsverfahren
etwas einfacher und etwas schneller zu Ende führen kön-
nen als so manches Zulassungsverfahren für den einen
oder anderen Zug.
Danke schön.
Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 18/4202 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dazugibt es keine anderen Vorschläge. Dann ist die Überwei-sung so beschlossen.Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 4 auf:Beratung des Antrags der AbgeordnetenFriedrich Ostendorff, Harald Ebner, NicoleMaisch, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMännliche Eintagsküken leben lassenDrucksache 18/4328Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 9009
Vizepräsident Johannes Singhammer
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Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdiese Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Weil sichkein Widerspruch erhebt, ist das auch so beschlossen.Damit eröffne ich die Aussprache und erteile alserstem Redner das Wort dem Kollegen FriedrichOstendorff, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Schönen Dank, dass Sie denrichtigen Titel des Antrages – „Männliche Eintagskükenleben lassen“ – genannt haben. Wir haben uns extraMühe damit gegeben, und jetzt ist doch wieder das Wort„Tötung“ auf der Medienwand erschienen. Genau daswollten wir nicht.Schon seit vielen Jahren – immer wieder einmal –steht das Dilemma des Tötens der männlichen Kükenvon hochspezialisierten Legehennenhybriden auf der Ta-gesordnung. Jährlich werden über 40 Millionen Tiere amTage des Schlupfes aus wirtschaftlichen Gründen getö-tet.Über die Art und Weise der Tötung möchte ich an die-ser Stelle gar nicht sprechen. CDU-Kollege Stier undähnlich gelagerte Abgeordnete
werden uns Grünen auch sicher so die moralischen Be-denken als übertriebene Emotionalität auslegen. HerrStier, sparen Sie sich diese Redezeit! Wir müssen dasProblem bereden.Bei den vernunftbegabten Kolleginnen und Kollegenwird hingegen bekümmert genickt und beteuert, dass derMissstand des Tötens gerade erst geschlüpften Lebensbeendet werden müsse, aber es gebe ja leider keine Al-ternative dazu.Die Zucht eines Zweinutzungshuhnes wird als Zeit-vertreib für Ökos belächelt. Dabei ist dieser Weg der ein-zig Richtige. Es ist doch absurd, zu welchen extremenAuswüchsen die Hochleistungszucht bei den Nutztierenin den vergangenen Jahrzehnten geführt hat, nämlich soweit, dass mit der männlichen Hälfte der Population ei-nes Tieres nichts anzufangen ist. Es wird Leben produ-ziert, um es wenige Minuten nach dem Schlüpfen wiederzu vernichten. Das ist nichts anderes als Qualzucht, unddie ist laut Tierschutzgesetz verboten.
Die Methode der Wahl für die großen Geflügelhaltun-gen ist die Früherkennung des Geschlechts im bebrüte-ten Ei; denn dann könnte die extreme Situation derHochleistungszucht so bleiben, wie sie ist, aber immer-hin wäre das sinnlose Sterben der männlichen Küken be-endet. Das wäre doch schon mal etwas. Sie werden unsgleich aber erklären, dass man weiter forschen, forschen,forschen müsse, bis diese Methode praxisreif sei. Dastun wir schon seit vielen Jahrzehnten und sind nicht rich-tig weitergekommen.Natürlich gibt es die Alternativen nicht, wenn derDruck nicht spürbar, das Töten der Tiere kostengünstigerund der Verzicht darauf sehr mühsam ist. Natürlich wer-den keine Anstrengungen unternommen, dies abzustel-len, wenn sowieso kein Hahn danach kräht. Umso er-freulicher ist es, dass der gesellschaftliche Druck sostark geworden ist, wenn es um die Behandlung undNutzung von Tieren geht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, hier muss es ummehr als um Rentabilität und Stückzahlen gehen; dennbei rein ökonomischer Betrachtung ist das Verfahrenmehr als schlüssig. Es gibt Hennen, die viele Eier legen,und es gibt andere Rassen, die sehr schnell sehr schwerwerden. Das ist Pech für die männlichen Nachkommender Legehennen. Hier geht es jedoch nicht um überzähli-ges Material wie beim Zuschnitt von Autoblechen, son-dern es geht um Lebewesen. Wir Grünen sind nichtlänger bereit, uns diese ewigen Hinhaltereden weiter an-zuhören.
Minister Schmidt gibt gerne den wertkonservativen,ethisch geprägten Christenmenschen. Er kündigt großeTaten an, die dann dem Vergessen anheimgegeben wer-den. So hat er auch für Ostern 2015 einen Plan zum Be-enden des Kükenschredderns angekündigt.
Nehmen wir einmal bestenfalls an, ein solcher Plankäme tatsächlich an die Öffentlichkeit. Wer glaubt dennnach dem ersten Jahr mit dem Minister noch, dass er ir-gendetwas Substanzielles abliefert, das über Absichtsbe-kundungen für den Sankt-Nimmerleins-Tag hinausgeht?
Seit vielen Jahren führen wir diese Diskussion nunschon. Egal welche Argumente und Ausflüchte wirgleich wieder hören werden: Jede Markteinführung, jedeInnovation, geht so schnell vonstatten, wie die Umständees notwendig machen.Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen GrundSchmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.Kollege Stier, das steht in § 1 des Tierschutzgesetzes undsei für Sie und für alle, die mit diesem Text nicht so ver-traut sind, noch einmal gesagt. Wir sind gerne bereit, dieDiskussion darüber zu führen, ob die Wirtschaftlichkeiteines Verfahrens einen vernünftigen Grund darstellt odernicht. Aber, meine Damen und Herren, diesen Grundgibt es nicht. Von daher ist die Entscheidung klar.
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9010 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
Friedrich Ostendorff
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Unsere Forderung: Es ist an der Zeit. Forschung istlange genug betrieben worden. Nehmen Sie Ihre Verant-wortung wahr! Handeln Sie endlich!
Für die CDU/CSU hat jetzt das Wort der Kollege
Dieter Stier.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Mit dem Antrag
von Bündnis 90/Die Grünen „Männliche Eintagsküken
leben lassen“ behandeln wir heute ein sehr sensibles
Thema, welches nachvollziehbarerweise viele Menschen
in unserem Land berührt. Gleichzeitig, lieber Kollege
Ostendorff, ist uns aber auch bewusst, dass sich dieses
Thema – das zeigt mir auch der Beginn Ihrer Rede – her-
vorragend dafür eignet, in bekannter Weise von Ihnen,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der antragstellen-
den Fraktion, für eine wiederholte Ideologisierung der
Agrarbranche missbraucht zu werden.
Darin, dass wir bei dem von Ihnen angesprochenen
Thema vor einer Herausforderung stehen, sind wir uns
mit Ihnen sehr wohl einig. Allein der vorgeschlagene
Weg der Lösung unterscheidet uns, wie immer, vonein-
ander.
Deutschlands Brütereien stehen in ihrem alltäglichen
Geschäft vor demselben Problem: Auf 100 befruchtete
Eier kommen rund 50 weibliche und 50 männliche Kü-
ken, und das ist durch uns nicht veränderbar. Die männli-
chen Vertreter der Legerassen verfügen aber über einen
sehr geringen Fleischansatz. Dies veranlasst die Betriebe
vor dem Hintergrund der Praktikabilität und der Wirt-
schaftlichkeit, ihren Bestand nach der Geschlechterfest-
stellung zu verringern.
Dieses Vorgehen weckt bei jedem tierschutzverbun-
denen Halter, bei jedem Produzenten, bei jedem in der
Gesellschaft und selbstverständlich auch bei uns Politi-
kern nicht unbedingt großes Wohlbehagen. Und ja,
meine Damen und Herren, ich meine, es passt auch nicht
mehr in unsere heutige Zeit.
Aber für Veränderungen brauchen wir realistische Lö-
sungen, die es weiterhin erlauben, in gewohnter Qualität
für ganz Deutschland produzieren zu können, ohne dabei
die Betriebe ins wirtschaftliche Aus zu drängen.
Ihr Antrag, liebe Oppositionspartei, ist, mit Verlaub,
sowohl für die Beschreibung der gegenwärtigen Situa-
tion als auch für das Aufzeigen echter Lösungen untaug-
lich.
Mit Ihrer Wortwahl appellieren Sie erneut an die Ge-
fühle. Sie schüren Horrorvorstellungen, die die All-
tagspraxis völlig verkennen.
Sie reden einzig über Verbote, nicht aber zum Beispiel
über vorgeschriebene Betäubungsdosierungen. Sie sind
auch nicht bereit, über die Auslegung des in unserem
Tierschutzgesetz vorgesehenen „vernünftigen“ Grundes
für Ausnahmen – das haben Sie gerade gesagt – von der
Generalklausel des Verbots von Schmerzen, Leiden oder
Schäden für ein Tier zu diskutieren.
In Nordrhein-Westfalen versucht Ihr Minister
Remmel, das Problem mit der Brechstange zu lösen, was
aus unserer Sicht aber nicht zum Erfolg führen wird. Das
hat ihm auch das Verwaltungsgericht Minden mit Urteil
vom 30. Januar 2015 ins Stammbuch geschrieben, indem
es diese Ordnungsverfügung für rechtswidrig erklärt hat.
Herr Kollege Stier, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Maisch?
Aber selbstverständlich.
Vielen Dank, Herr Kollege Stier, dass Sie meine
Frage zulassen. – Sie haben ja gesagt, die beiden Lö-
sungsansätze, die wir in unserem Antrag vorgeschlagen
haben, also das Geschlecht bereits im Ei zu erkennen
und ein Zweinutzungshuhn zu züchten, seien untauglich.
Es gibt eine schwarz-grüne Landesregierung in Hes-
sen. Sie hat den Weg der Geschlechtserkennung im Ei
als Königsweg bezeichnet. Jetzt möchte ich Sie fragen:
Finden Sie, dass auch die schwarz-grüne Landesregie-
rung eine untaugliche Agrarpolitik im Bereich der Kü-
ken macht?
Liebe Kollegin Maisch, lassen Sie mich noch etwasweiterreden. Ich komme dann auf genau diese beidenMethoden zu sprechen. Ich habe nicht gesagt, dass ichdiese als untauglich empfinde, sondern ich habe Ihrenersten Vorschlag, das regelmäßige Verbot, das Sie for-dern, für untauglich erklärt.
Jetzt möchte ich Ihnen das gerne weiter erklären.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 9011
Dieter Stier
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Ein vorschnelles Verbot, meine Damen und Herren,hätte nichts weiter als den planmäßigen Entzug vonWirtschaftlichkeit in den Betrieben bis zur letztendli-chen Schließung zur Folge. Ich sage Ihnen auch: DasProblem würde nicht bereinigt, sondern nur ins Auslandverschoben. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion setztdeshalb – jetzt komme ich dazu – auch auf die Weiter-entwicklung von Methoden zur frühzeitigen Ge-schlechtsbestimmung im befruchteten Ei als Strategiezur Vermeidung der bisherigen Praxis.
Herr Kollege Stier, gestatten Sie eine weitere Zwi-
schenfrage, diesmal des Kollegen Ebner?
Aber sicher lasse ich auch noch die Frage des Kolle-
gen Ebner zu.
Das Mikro möchte nicht.
Das hat seinen Grund.
Herr Kollege Stier, Sie hatten gesagt, Minister
Remmel in Nordrhein-Westfalen wollte das mit der
Brechstange machen und sei deshalb dann auch vom Ge-
richt zurückgepfiffen worden. Meine Frage ist, ob Sie
bereit wären, zur Kenntnis zu nehmen, dass das Gericht
lediglich festgestellt hat, dass für diese Verfügung eine
spezielle Ermächtigungsgrundlage gefehlt hat. Das Ge-
richt hat also gar nicht festgestellt, dass insgesamt mit
der Brechstange vorgegangen worden ist, sondern nur,
dass eine spezielle Ermächtigungsgrundlage gefehlt hat,
die das Bundesministerium für Ernährung und Landwirt-
schaft schaffen müsste. Damit ist der Ball wieder bei Ih-
nen. Wären Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen?
Ich nehme das gerne zur Kenntnis. Das hätten Sie
gern, dass der Ball bei uns ist. Selbstverständlich fehlt
die spezialgesetzliche Ermächtigungsgrundlage für die-
ses Ansinnen, das Sie verfolgen. Das ist aber noch nicht
das Ansinnen, mit dem man eine Lösung herbeiführen
könnte. Deshalb erachte ich den Beschluss des Gerichtes
als außerordentlich vernünftig.
Wir waren bei der Geschlechtsbestimmung im be-
fruchteten Ei. Vielleicht kann ich ja auch einen Satz
noch zu Ende führen. Ich will ausdrücklich unserem
Minister Christian Schmidt und auch Ihnen, liebe Frau
Staatssekretärin, danken, dass Sie sich des Themas in be-
sonderer Weise annehmen. Die Koalition stellt nämlich
zum Beispiel über das BMEL Mittel im Umfang von
mehr als 2 Millionen Euro bis 2015 für gezielte Ver-
bundforschungsprojekte der Universität Leipzig zur Ver-
fügung. Nach unseren Erkenntnissen soll in absehbarer
Zeit eine entsprechende Technologie zur Verfügung ste-
hen.
Ich will auch auf die Bruderhahn Initiative Deutsch-
land e. V. hinweisen. Auch die Züchtung wird – darin
sind wir gar nicht so weit auseinander – ihren Beitrag
auf dem Weg zu Zweinutzungsrassen leisten.
Wie Sie sehen, haben wir wesentliche Forderungen Ihres
Antrages bereits erfüllt.
Allerdings müssen hierfür noch flächendeckend an-
wendbare Verfahren entwickelt werden, die eine Fest-
stellung des Geschlechts vor dem Einsetzen des
Schmerzempfindungsvermögens des Hühnerembryos er-
möglichen. Da man nach dem derzeitigen wissenschaft-
lichen Kenntnisstand vor dem zehnten Bebrütungstag
keine Schmerzempfindlichkeit des Hühnerembryos an-
nimmt, sind also Forschungsergebnisse abzuwarten, die
ein Verfahren zur Geschlechtsbestimmung vor diesem
zehnten Bebrütungstag ermöglichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind also sehr
wohl bereits auf einem Weg, die von Ihnen beschriebene
Thematik einer Lösung zuzuführen. Deshalb ist für mich
der vorliegende Antrag entbehrlich.
Ich will zum Schluss eine Aussage Ihrer grünen Par-
teikollegin und hessischen Landwirtschaftsministerin
Priska Hinz aus einem Interview mit Agra-Europe zitie-
ren: „Immer mehr Menschen haben die Nase voll von ei-
ner ständigen Schwarz-Weiß-Malerei.“ Das hat sie rich-
tig erkannt. Sie sollten auch im Bund auf Ihre eigene
Kollegin hören. Ich lade Sie jedenfalls zur Mitwirkung
bei der Lösung der vorliegenden Problematik mit der ge-
botenen Sachlichkeit ein.
Herzlichen Dank.
Für die SPD, Entschuldigung, für die Fraktion Die
Linke spricht jetzt die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann.
Sie haben das Wort.
Auf die Koalition warte ich noch, bei der ich für euchmitreden kann.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Gäste! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Dass jährlich allein in Deutsch-land über 45 Millionen Eintagsküken getötet werden, istbekannt. Sie werden getötet, weil sie genetisch für eine
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9012 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
Dr. Kirsten Tackmann
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hohe Eierleistung gezüchtet werden, aber als Hähnchendiese Leistung nicht erbringen können.Diese männlichen Eintagsküken haben doppeltesPech. Denn da sie aus einer Legelinie stammen, habensie eine so geringe Fleischleistung, dass sie mit ihrenBrüdern und Schwestern aus den Mastlinien nicht mit-halten können. Keine Eier und zu wenig Fleisch: Das istbisher ihr Todesurteil.Nun steht im Tierschutzgesetz eindeutig – das wurdeschon gesagt –, dass Wirbeltiere nicht ohne einen ver-nünftigen Grund getötet werden dürfen. Das ist natürlicheine sehr unbestimmte Formulierung. Aber fehlendeProfitabilität kann ganz sicher kein vernünftiger Grundsein, Tiere zu töten.
Deshalb hat Nordrhein-Westfalen das Töten von Ein-tagsküken verboten. Aber dieses Verbot wurde vom Ver-waltungsgericht einkassiert; davon war gerade die Rede.Dasselbe Gericht fordert aber eine umsetzbare Alterna-tive zum Töten. Die Frage an uns lautet also nach meinerÜberzeugung: Was muss getan werden, damit wir dasTöten der Küken rechtssicher verbieten können?
Ich denke, dass die Antwort zügig gegeben werdenmuss; denn schon 2001 standen ethische Bedenken ge-gen diese Praxis im Tierschutzbericht der damaligen rot-grünen Bundesregierung. Es muss endlich etwas getanwerden. Bisher hat sich zu wenig Greifbares ergeben,weil – das ist durchaus eine These, die wichtig ist – zuviele von diesem System profitieren. Deswegen brau-chen wir heute ganz klar die Botschaft: Die Zeit der Dul-dung ist vorbei. Wir wollen als Gesetzgeber endlich Lö-sungen auf dem Tisch haben.
Man kann zwar bei Hühnern leider das Geschlechtnicht beeinflussen, wie es bei Kühen gängige Praxis ist.Vielleicht können bald deutlich vor dem Schlupf die Eieridentifiziert werden, aus denen männliche Kükenschlüpfen würden. Aber das ist aus unserer Sicht nureine sehr begrenzte Lösung. Wir sind für eine grundsätz-liche Lösung. Entweder schafft man eine Möglichkeit,die männlichen Küken aus den Legelinien zu mästen undzu vermarkten, oder wir halten wieder Hühner, die so-wohl eine gute Legeleistung als auch eine gute Mastleis-tung erbringen, also sogenannte Zweinutzungshühner.Dazu gibt es bereits Projekte. Selbst die Geflügelzüch-terbranche ist unterdessen bereit, hier Angebote zu ma-chen. Aber bisher ist das eine Nische für Idealisten, weildie hohen Erzeugungskosten die Vermarktung erschwe-ren, erst recht unter dem Preisdiktat des Lebensmittel-einzelhandels. Die Erfahrungen, die dort gesammeltwerden, sind sicherlich sehr wichtig. Wenn das aberkeine Nische bleiben soll, müssen wir anders ansetzen.Die Züchtung muss sicherlich vorangebracht werden.Aber am Ende muss das eigentliche Problem gelöst wer-den. Wer Küken retten will, muss faire Marktregeln ein-führen; denn die Erzeugungskosten steigen natürlich,wenn pro Tier weniger Eier und weniger Fleisch mit ei-nem höheren Futteraufwand produziert werden. Deswe-gen müssen dann höhere Erzeugerpreise gezahlt werden.Das heißt aber gerade für mich als Linke nicht zwangs-läufig, dass auch die Lebensmittel teurer werden müs-sen. Denn aus unserer Sicht würde das Geld dann wiederin den falschen Taschen landen. Wer faire Erzeuger-preise und bezahlbare Lebensmittel will, muss dieMarktmacht der Lebensmittelkonzerne und der Super-marktketten beschränken und sie zwingen, an einer Lö-sung mitzuarbeiten.
In den Niederlanden geht das sogar freiwillig. Dortbietet eine Supermarktkette zum Beispiel nur fair gehan-delte Bananen an und verzichtet auf Gewinn, damit derPreisabstand zu den herkömmlichen Bananen nicht zugroß wird. Auf den Hühnerbereich übertragen hieße das:Eier und Fleisch von Zweinutzungshühnern werdenbeim Erzeuger fair bezahlt und im Supermarkt durch Ge-winnverzicht bezahlbar angeboten. Es geht also. Jetztmuss man nur noch handeln.Vielen Dank.
So, Frau Kollegin Jantz, jetzt haben Sie das Wort für
die SPD.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Woran denken Sie, wenn Sie das Wort „Homogenisator“hören? Dieses Wort hat etwas Klinisches. „Homogeni-sieren“ bedeutet im weitesten Sinne ein Gleichmachenoder ein Vermischen von zerkleinerten Bestandteilen.Der Homogenisator ist eine Maschine, die durch rotie-rende Messer oder Walzen tagtäglich männliche Eintags-küken tötet. Ich danke den Grünen für das Signal, ge-meinsam mit uns dieses Thema anzugehen. Nicht nur imSinne des Tierschutzes ist das massenhafte, sinnlose Tö-ten männlicher Küken nicht mehr hinnehmbar. Vielmehrsollte eine moderne Gesellschaft grundsätzlich auf sol-che Praktiken verzichten und zumindest den Ausstiegdaraus ganz massiv vorantreiben.
Ich möchte einmal grundsätzlich die Dimension desProblems klarmachen. Wir kennen die genaue Zahl dergetöteten Küken nicht; denn darüber gibt es gar keinekonkreten Statistiken. Hochgerechnet, nimmt man eine50-zu-50-Verteilung weiblicher und männlicher Kükenan, können wir davon ausgehen, dass pro Jahr mindes-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 9013
Christina Jantz
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tens 45 Millionen männlicher Eintagsküken geschred-dert oder vergast werden.
Da drängt sich natürlich die Frage nach dem Warumauf. Die Zucht von Legehennen ist einzig auf die maxi-male Eierproduktion ausgerichtet. In einem solchen Sys-tem werden die männlichen Küken als überflüssig be-trachtet. Sie sind der Überschuss einer im industriellenMaßstab produzierenden Branche. Obendrein setzen diemännlichen Tiere dieser Hybridrasse im Vergleich zunormalen Hühnern kaum Fleisch an. Dafür werden wie-derum extra Masthähnchen gezüchtet.Nur um die Dimension zu verdeutlichen: Den gut45 Millionen Legehennen stehen mehr als 600 Millionensogenannte Broiler oder, besser gesagt, Brathähnchengegenüber. Das sind gewaltige Zahlen. Sie werfen nichtnur, finde ich, ein schlechtes Licht auf die Produzenten,sondern auch auf das Konsumverhalten. Wir konsumie-ren inzwischen zu viel Fleisch und vergessen dabei, wases bedeutet, ein Lebewesen zu essen. Wir müssen dieMenschen stärker sensibilisieren bei ihrer Entscheidungbeim Eierkauf, an der Fleischtheke, am Grillhähnchen-stand vor dem Supermarkt.
Denn insbesondere ein Umdenken beim Einkauf wirddazu beitragen, das Leben der Tiere zu verbessern.Deshalb kann, wie es so schön heißt, die Einführungder Möglichkeiten der In-Ovo-Geschlechtsbestimmungbeim Haushuhn nur ein erster Schritt auf einem langenWeg sein. Leider ist derzeit noch keine praxisreife Tech-nologie verfügbar, die sich für den flächendeckendenEinsatz zum Nachweis des Geschlechts des Embryos imbefruchteten Hühnerei eignet. Die Erkennung muss– das ist angesprochen worden – vor dem zehnten Be-brütungstag erfolgen, da die Embryonen nur bis dahinnoch kein Schmerzempfinden haben; so der bisherigewissenschaftliche Kenntnisstand.Daher befördert die Bundesregierung nach wie vormit hoher Priorität das noch nicht abgeschlossene Ver-bundforschungsprojekt der Universität Leipzig zur Im-Ei-Geschlechtsbestimmung. Eine entsprechende Tech-nologie wird voraussichtlich in absehbarer Zeit zur Ver-fügung stehen, die sich dann auch für einen breiten Ein-satz eignen wird.Doch dies kann nach meiner Meinung nur der Ein-stieg sein. Wir müssen dazu kommen, dass keine Kükenmehr getötet werden müssen; denn, wie schon richtig ge-sagt wurde, nach § 1 Satz 2 des Tierschutzgesetzes be-darf es eines vernünftigen Grundes für das Töten vonTieren. Dies gilt auch für das Töten von männlichen Kü-ken von Legelinien. Nach § 15 Absatz 1 Satz 1 des Tier-schutzgesetzes obliegt die Durchführung des Tierschutz-gesetzes und der aufgrund des Gesetzes erlassenenRechtsverordnungen den nach Landesrecht zuständigenBehörden. Daher ist im Falle des Tötens von Tieren injedem Einzelfall vor Ort von den zuständigen Behördenzu entscheiden, ob ein vernünftiger Grund für das Tötenvorliegt. Die Tötung männlicher Küken darf dabei nurdas allerletzte Mittel sein.
Wir brauchen allerdings auch praxisgerechte, reali-sierbare Lösungen. Ein generelles Tötungsverbot würdezu einer Verlagerung der Tierschutzproblematik in an-dere Länder führen. Ich sehe insbesondere auch dieWirtschaft in der Verantwortung, sich dieser Problematikintensiv anzunehmen und ihren Beitrag zur Entwicklungvon Alternativen zur Tötung männlicher Küken zu leis-ten.
In meinen Augen ist zum Beispiel das Zweinutzungs-huhn die Alternative zum Status quo. Zweinutzung be-deutet, dass das Huhn sowohl zum Eierlegen als auchzum Fleischverzehr genutzt werden kann. Derzeit wer-den beispielsweise am Institut für Tierernährung desFriedrich-Loeffler-Instituts Fütterungsversuche mit demZweinutzungshuhn „Lohmann Dual“ – so heißen dieseRassen tatsächlich – durchgeführt. Platt formuliert: Eswird daran geforscht, wie Hähnchen besser Fleisch an-setzen können.Ich finde, Stigmatisierungen und Verbote helfen unsnicht weiter. Wir müssen zu praxisnahen, tierschutzge-rechten und verbindlichen Regelungen kommen
und aktiv den Dialog mit allen Beteiligten fortschreiben.Im Sinne des Tierschutzes lade ich die Grünen ein, die-sen Weg mit uns gemeinsam zu gehen.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Abschließender Redner zu diesem Ta-
gesordnungspunkt ist der Kollege Artur Auernhammer
für die CDU/CSU.
Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da-men und Herren! Als die Änderung der Tagesordnungbekannt geworden ist – in diesem Zusatzpunkt geht esum das Leben der männlichen Küken –, hat sich der eineoder andere Kollege, der nicht vom Fach ist, gefragt:Was ist denn das für ein Thema? Die breite Debatteheute – darin ist schon viel Richtiges gesagt worden –hat gezeigt: Es geht darum, dass in zehn Jahren über 400Millionen Küken getötet worden sind. Das ist eigentlichdas Thema. Das sollte uns auch bewegen. Ich bin dank-bar für die offene und ehrliche Debatte hier. Aber den
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Artur Auernhammer
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Lösungsweg, den Königsweg, haben wir noch nicht ge-funden. Daran müssen wir noch arbeiten.Die Zucht von Zweinutzungstieren – das ist angespro-chen worden – ist außerordentlich zu begrüßen. Wir ken-nen das von der Rinderhaltung. Wir kennen das auch vonanderen Zuchtbereichen. Die Zweinutzungszucht istweiter nach vorn zu bringen und wird mit Sicherheit ei-nen großen Beitrag leisten. Ich bitte in erster Linie diegesamte Ökobranche, in diese Richtung zu züchten, indiese Produktion einzusteigen; denn sie als Vorreiter die-ser Lösung sollte mit gutem Beispiel vorangehen.
Es ist auch schon die Möglichkeit der Geschlechtsbe-stimmung bereits im Ei angesprochen worden. Wir sinddabei auf dem Weg. Ich gehe auch davon aus, dass derHerr Bundesminister noch vor Ostern etwas ankündigenwird, Herr Kollege Ostendorff.
– Wenn ein CSU-Minister etwas ankündigt, dann kommtauch etwas Vernünftiges dabei heraus.
– Ein gewisser parteipolitischer Touch sei auch in dieserwichtigen Diskussion erlaubt.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchtehier auch die Rolle der Verbraucher ansprechen und andie Verbraucher appellieren. Warum sind wir denn soweit gekommen? Die Eier können nicht billig genugsein. Das Brathähnchen kann nicht billig genug sein.Wer im Supermarkt zehn Eier kauft und dafür gerademal 1 Euro bezahlt, der hat für mich keinerlei Berechti-gung mehr, über tote Küken zu diskutieren. Es muss einMehr an Erlös für die Erzeuger da sein, damit die Zwei-nutzungszucht auch wirtschaftlich darstellbar ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wirdiese innovativen Vorschläge der Grünen umsetzen wol-len, stellt sich die Frage: Wozu wird es führen, wenn wirzu schnell an die Thematik herangehen? Ich erinnere andie Erfahrung, die wir bereits bei der Legehennenhal-tungsverordnung gemacht haben: Die Hühner sitzennicht mehr in deutschen Käfigen, sondern in irgendwel-chen ausländischen Käfigen, und die Eier sind trotzdemim deutschen Supermarkt.
Wir brauchen eine Lösung, die die Produktion im Landhält, die unsere Eierproduzenten und unsere Geflügel-fleischproduzenten im Land stärkt. Sie sollen mit dieserProduktion auch ihr Geld verdienen dürfen.
Ich möchte auch noch das Flüssigei erwähnen. Dieswird in Lebensmitteln verarbeitet; das sieht der Verbrau-cher gar nicht mehr. Woher dieses Flüssigei kommt, istmanchmal sehr zu hinterfragen. Deshalb warne ich vornationalen Alleingängen. Das ist das Lieblingsthema un-serer Verbotspartei hier. Ich warne vor solchen nationa-len Alleingängen. Wir brauchen eine gemeinsame Lö-sung, einen europäischen Ansatz. Wenn Sie als Grünedabei den Vorreiter machen wollen, dann machen Siedas gern. Bitte! Ich unterstütze Sie.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4328 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Weil ich keinerlei
Widerspruch sehe, gehe ich davon aus, dass Sie damit
einverstanden sind. Damit ist die Überweisung auch so
beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes
zur Änderung des Bundesfernstraßengesetzes
Drucksache 18/4281
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache ebenfalls 25 Minuten vorgesehen. –
Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist auch dieses so
beschlossen.
Damit kann ich die Aussprache eröffnen. Erster Red-
ner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege
Patrick Schnieder, CDU/CSU.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ein Kernkenn-zeichen der Verkehrspolitik der Unionsfraktion lässt sichmit der Umschreibung zusammenfassen: Wir wollenMobilität ermöglichen. Da, wo Verkehr stockt, wo esHindernisse gibt, wollen wir alle Maßnahmen ergreifen,um diese Hindernisse zu beseitigen, damit Mobilitätmöglich wird. Dem soll das Gesetz, über das wir hier be-raten, dienen, und zwar bezieht es sich auf einige Aus-nahmefälle. Der Gesetzentwurf enthält zunächst einmaldie Rheinbrücke bei Leverkusen im Zuge der A 1. DerBundesrat hat angeregt, dass wir auch die Rader Hoch-
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Patrick Schnieder
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brücke bei der A 7 einbeziehen. Wir werden in der Ko-alition und im Ausschuss sicherlich noch über einenÄnderungsantrag dahingehend beraten, ob wir nicht zu-sätzlich auch die Brücke im Zuge der A 40 bei Duisburgund möglicherweise auch die Neckartalbrücke im Zugeder A 6 aufnehmen.Wir wollen den Rechtsweg beim Bundesverwaltungs-gericht konzentrieren. Das Bundesverwaltungsgerichtsoll erste und letzte, also einzige, Instanz bei der Über-prüfung von Planfeststellungsbeschlüssen sein. Hinter-grund ist, dass wir das Verfahren beschleunigen wollen.Damit haben wir gute Erfahrungen gemacht bei den Ver-kehrsprojekten Deutsche Einheit. Bei den genanntenProjekten gibt es eine große Eilbedürftigkeit; sie müssenschnell umgesetzt werden. Dort sind Ersatzneubauten er-forderlich. Da haben wir nicht viel Zeit zu verlieren.Ganz im Gegenteil: Die Zeit drängt sehr. Deshalb müs-sen wir jeden Versuch unternehmen, um dort zu einerBeschleunigung zu kommen.
Das Bundesverwaltungsgericht ist Rechtsmittelge-richt. Deshalb können wir auch keine allgemeine gesetz-liche Regelung dahin gehend erlassen, dass wir das füreine Vielzahl von Projekten machen wollen. Wenn wirdas Bundesverwaltungsgericht hier als erstinstanzlichesund sogar einziginstanzliches Gericht einsetzen wollen,dann geht das nur in begründeten Ausnahmefällen.Diese liegen hier meines Erachtens aufgrund der hohenEilbedürftigkeit, die gegeben ist, vor.Am Beispiel der Rheinbrücke im Zuge der A 1 beiLeverkusen kann man das, glaube ich, sehr deutlich se-hen. Wir haben eine hohe Verkehrsbelastung. Die Brü-cke ist heute schon für den Schwerlastverkehr gesperrt,das heißt nicht nur für die 40-Tonner, sondern auch füralle Fahrzeuge mit mehr als 3,5 Tonnen. Es ist also auchder Handwerksbetrieb betroffen, der Umwege in Kaufnehmen muss. Wir können tagtäglich Staus und Ver-kehrsbehinderungen erleben. Der volkswirtschaftlicheSchaden ist also hoch, und auch Schaden einzelner Un-ternehmen ist gegeben. Deshalb muss schnell gehandeltwerden. Bei den anderen Vorhaben, die ich genannthabe, ist das genauso. Insofern ist hier dieser Ausnahme-tatbestand gegeben, sodass diesbezüglich auch keineverfassungsrechtlichen Probleme bestehen.Ich will aber betonen, dass das natürlich nur ein Bau-stein ist bei der Aufgabe, die mit diesen Sonderfällen aufuns zukommt. Deshalb bin ich dem Bundesverkehrsmi-nister sehr dankbar, dass wir nicht nur die Mittel für Brü-ckenertüchtigung und Brückenneubau im Verkehrsetatdeutlich erhöht und auf über 1 Milliarde Euro verdoppelthaben – das wird auch in den nächsten Jahren erforder-lich sein –, sondern dass wir auch ein SonderprogrammBrückenmodernisierung aufgelegt haben, um bei denBrücken, die in die Jahre gekommen sind und bei denenSanierungs- oder Neubaubedarf besteht, handeln zu kön-nen. Und auch das wird letztlich nicht ausreichen.Alle müssen an einem Strang ziehen. Wir müssenauch an die Länder appellieren, die letztlich für das Bau-recht zuständig sind, dass dort keine Hindernisse in denWeg gelegt werden, sondern dass man die Verfahrenmöglichst schnell und zielgerichtet durchführt. Wassonst passiert, sehen wir heute beispielhaft an derSchiersteiner Brücke. Dort hat der Bund frühzeitig seineHausaufgaben gemacht; er hat erkannt, dass die Brückeneu gebaut werden muss. Auch Hessen hat seine Haus-aufgaben gemacht. Nur in Rheinland-Pfalz hat man vielzu lange darüber gestritten, ob man diese sechsspurigoder mit einer anderen Breite weiterführt.
Daran sieht man beispielhaft, dass alle an einemStrang ziehen müssen, um solche Vorhaben vernünftigzum Ende führen und damit die Bedürfnisse der Men-schen und der Wirtschaft bedienen zu können.
Ich verstehe die Aufregung von Ihrer Seite, weil dortbeispielhaft gezeigt wird, wie ideologische Kämpfe unddas Verzögern aus politischen Gründen zu einem Riesen-schaden in einer Region führen. Das kann man in undum Mainz tagtäglich besichtigen.Deshalb bitte ich darum, dass wir das, was im Gesetz-entwurf steht und was wir mit den Änderungsanträgennoch einbringen werden, im Ausschuss intensiv disku-tieren, damit wir hier schnell zu vernünftigen Lösungenkommen.Vielen Dank.
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt der Kollege
Matthias Birkwald.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen undHerren! Als Kölner Bundestagsabgeordneter der Linkenweiß ich aus eigener Erfahrung: Die Leverkusener Brü-cke, Baujahr 1965, ist zwar vier Jahre jünger als ich;aber sie ist völlig marode, und darum muss sie dringendneu gebaut werden.
Vor kurzem konnte ich mich noch freuen, wenn ich,vom Bergischen Land kommend, den Kölner Dom sah.Da dachte ich: Gleich bist du zu Hause. Heute denke ichstattdessen: Jetzt musst du bremsen. Denn hier beginntder durch die Teilsperrungen der maroden Brücke verur-sachte Rückstau.Der Kölner Stadt-Anzeiger listete am vergangenenMontag zwischen Emmerich und Bonn sage undschreibe 13 marode Rheinbrücken auf und kommentierte– Zitat –:An manchen Tagen reicht die Lkw-Wand auf demrechten Fahrstreifen … bis weit hinter Burscheidzurück.
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Matthias W. Birkwald
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13 von 28 Rheinbrücken marode – unglaublich! Deshalbsagt die Linke: Ja, die Leverkusener Brücke mussschnell saniert werden.
Meine Damen und Herren, bereits 2012 attestiertenFachleute der Brücke, sie sei in einem kritischen Bau-werkszustand. Seitdem ist nichts passiert – seit drei Jah-ren. Jetzt wollen Sie mit Ihrem Gesetzentwurf die Klage-möglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger auf eineeinzige Instanz verkürzen, um die Sanierung zu be-schleunigen. Erst nichts tun und dann die Rechte derBürgerinnen und Bürger einschränken?
So, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD undUnion, geht das nicht.
Die Bürgerinnen und Bürger sind doch nicht schuldan den maroden Brücken in Köln, Duisburg oder Mainz.Die völlig verfehlte Investitions- und Verkehrspolitikdieser Großen Koalition, die ist schuld. Ihr Investitions-programm von gestern kommt viel zu spät und ist immernoch viel zu mickrig. Die Verantwortung dafür trägtWolfgang Schäuble, weil er als Finanzminister mit demBleifuß auf der Schuldenbremse steht. Dieser Bleifußzwingt die Menschen, ihre Lebenszeit im Investitions-stau rund um die Leverkusener Brücke oder in verspäte-ten und überfüllten Nahverkehrszügen zu vergeuden.Das muss aufhören.
CDU/CSU und SPD tanzen ums Goldene Kalb derschwarzen Null. Sie verzichten auf eine Vermögen-steuer, und dafür nehmen Sie billigend in Kauf, dassBrücken, Schienen und Straßen verrotten. Und dannwollen Sie auch noch demokratische Bürgerrechte be-schneiden! Das alles geht gar nicht. Das ist eine völligplanlose und gefährliche Politik.Was sind die Folgen? Der Kölner IG-Metall-Chef,Dr. Witich Roßmann, beklagt, dass Tausende Kollegin-nen und Kollegen von Ford tagtäglich bis zu einerStunde länger zur Arbeit brauchen. Die FAZ vom 10. Fe-bruar dieses Jahres beziffert die Reparatur- und Folge-kosten durch längere Fahrzeiten und erhöhten Spritver-brauch allein an der Leverkusener Brücke auf insgesamt250 Millionen Euro – ohne die zusätzlichen Umweltbe-lastungen übrigens.Dabei sind die drei gesperrten Rheinbrücken inKöln, Duisburg und Mainz erst der Anfang. 6 000 der39 000 Brücken des Bundes gelten als sanierungsbe-dürftig – 6 000! Für die kommunalen Brücken sieht dasDeutsche Institut für Urbanistik bis zum Jahr 2030 einenInvestitionsbedarf von 17 Milliarden Euro. Den gesam-ten kommunalen Investitionsstau beziffert es übrigensauf 118 Milliarden Euro: für Schulen, Straßen, Bäderusw. Gemessen daran reicht das gestrige Investitionspro-gramm des Bundes von 10 Milliarden Euro bis 2018vorne und hinten nicht.Für Köln heißt das: 2017 gibt es 52 Millionen Eurozusätzlich vom Bund. Das klingt viel; aber schon die Sa-nierung der Mülheimer Brücke kostet die Stadt mindes-tens 65 Millionen Euro. Die ist nämlich kaputt, weil sieals Ausweichstrecke für die marode Leverkusener Brü-cke herhalten musste.Meine Damen und Herren, das alles ist eine völligverfehlte Verkehrspolitik. Es wird immer deutlicher: Wirbrauchen nicht nur Geld für die Sanierung von kaputtenBrücken. Nein, wir brauchen auch einen Ausbau des öf-fentlichen Personennahverkehrs. Wir müssen Schieneund Wasserstraßen als Alternativen zum Lkw-Verkehrausbauen, und wir brauchen mehr Rechte für die Bürge-rinnen und Bürger und nicht weniger.Danke schön.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat der Kollege
Gustav Herzog von der SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich vermute, es steht im Arbeitsvertrag des General-sekretärs der rheinland-pfälzischen CDU, dass er bei je-der passenden und unpassenden Gelegenheit das Landkritisieren muss.
Das kann ich noch verstehen. Aber es wäre gut, wenn ersich vorher in der Sache schlaugemacht hätte, Herr Kol-lege Schnieder. Ich will Ihnen aus einem Brief zitieren,den die Staatssekretärin Bär meinem Kollegen Held ge-schrieben hat, weil er darum gebeten hatte, eine weitereMaßnahme in Rheinland-Pfalz zu finanzieren. Die Kol-legin Bär schreibt:Das Gesamtvolumen der Bedarfsplanmaßnahmen,für die ein unanfechtbares Baurecht vorliegt, beliefsich vor der Entscheidung für die zugesagten Bau-beginne im Juli dieses Jahres bundesweit auf rund4,7 Milliarden Euro. Daher konnten nicht alle bau-reifen Projekte für eine Baufreigabe berücksichtigtwerden.Jetzt kommt es:Aus diesem Grund, aber auch vor dem Hintergrunddes außerordentlich hohen Finanzvolumens der be-reits in Rheinland-Pfalz laufenden Bauvorhabenmit entsprechend hohen Vorbelastungen in den Fol-gejahren, war eine Zustimmung zu Baubeginn …nicht möglich.
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Gustav Herzog
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Das heißt: Rheinland-Pfalz hätte gerne, der Bund hataber nicht. Nehmen Sie das bitte einmal mit in das Ver-kehrsministerium.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Vorredner vonder Linken hat die Verkehrspolitik der Koalition insge-samt kritisiert. Das hängt sicherlich mit seiner heutigenAnwesenheit im Verkehrsausschuss zusammen. Dorthabe ich ihn so noch nicht gesehen. Ich will ihn einmaldarauf hinweisen, dass diese Koalition einiges auf denWeg gebracht hat.
Sie haben die Binnenschifffahrt genannt. Wir haben da-für gesorgt, dass die WSV-Reform in ruhigem, aber steti-gem Fahrwasser vorangeht.
Wir haben dafür gesorgt, dass mit der LuFV der Bahngenügend Mittel zur Verfügung stehen, noch mehr fürden Lärmschutz zu machen. Wir werden auch mit demBundesverkehrswegeplan einen Kurswechsel vollzie-hen, nämlich weg von den Spatenstichen hin zu mehrNachhaltigkeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Kurs imBundesverkehrswegeplan heißt: Erhalt vor Neu- undAusbau. Deswegen ist heute dieser Gesetzentwurf auchein klares Symbol für diesen Kurswechsel, der notwen-dig ist, nämlich mehr Erhalt vor Neu- und Ausbau. Unshat mit der A 1 das Alltagsgeschäft eingeholt. Ich habeeinmal nachgeschaut: Allein in Nordrhein-Westfalensind in der Zeit von 1960 bis 1980 sehr viele Brückengebaut worden. In der Zwischenzeit hat aber in diesembedeutenden Land der Verkehr gegenüber dem, was da-mals an Steigerung gesehen worden ist, über 50 Prozentzugenommen. Allein über die A 1, die einmal für40 000 Fahrzeuge konstruiert war, rollen jeden Tag140 000 Fahrzeuge; darunter ein entsprechender Anteilan Schwerlastverkehr. Deswegen kann man den Planernvon früher keinen Vorwurf machen. Sie konnten nichtwissen, dass der Verkehr, insbesondere der Schwerlast-verkehr, so zunehmen würde.Die Schwierigkeit ist: All diese Bauwerke müssen so-zusagen unter rollendem Rad saniert werden. Das isteine wahnsinnige Aufgabe für die entsprechenden Pla-nungsbehörden. Herr Kollege Birkwald, vielleicht hättenSie einmal ins Internet unter Straßen.NRW geschaut.Dort ist sehr umfangreich und sehr leicht nachvollzieh-bar erklärt worden, was in den letzten Jahren geleistetworden ist,
bis hin zu den Probebohrungen, die notwendig sind, weiles sowohl in Bezug auf Altlasten bzw. Chemie als auchvon der Natur ein hochsensibles Gebiet ist. Man kannnicht einfach sagen: Hier baue ich eine neue Brücke. Dieleisten gute Arbeit, und wir werden sie dabei von Berlinaus unterstützen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es kein einfa-ches Thema ist, sieht man daran, dass der Bundestag 1991mit einem Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzbegonnen hat, dann ein Planungsvereinfachungsgesetzfolgte, 1996 ein Genehmigungsbeschleunigungsgesetz,2006 das grundlegende Infrastrukturplanungsbeschleu-nigungsgesetz und 2013 ein Planungsvereinheitlichungs-gesetz. Wir haben uns also immer angestrengt, zuschauen, wie wir es schneller machen können, auch weilder Umfang der Untersuchungen und Überprüfungenimmer größer geworden ist.Kollege Schnieder hat recht: Das Bundesverwal-tungsgericht als erste und einzige Instanz vorzusehen, istnun nicht der goldene Weg.
Klagen gegen Planfeststellungsbeschlüsse werden vonnur einer Instanz in der Sache überprüft und entschieden.Wir haben es uns bei entsprechenden Entscheidungen inder Vergangenheit nicht leicht gemacht. Auf der Listefinden sich 57 Projekte, die dort entweder wegen derHerstellung der deutschen Einheit, der Einbindung derneuen Mitgliedstaaten in die EU, der Verbesserung derHinterlandanbindung der deutschen Seehäfen, ihressonstigen internationalen Bezuges oder – das ist jetzt fürdie bereits erwähnten Straßen wichtig – der besonderenFunktion zur Beseitigung schwerwiegender Ver-kehrsengpässe aufgeführt sind. Nur wenn eines dieserKriterien zutrifft, nehmen wir ein Projekt in die Liste inder Anlage des Bundesfernstraßengesetzes auf. Ichdenke, das trifft für das Projekt an der A 1 zu, für die Ne-ckarbrücke an der A 6, ganz sicher auch für die A 7 überdem Nord-Ostsee-Kanal, ebenso für das Projekt an derA 40 in Duisburg.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben 2006eine Entschließung angenommen, nach der im Zusam-menhang mit dem Bundesverkehrswegeplan überprüftwerden soll, ob die Kriterien und die Auswahl der Pro-jekte noch zeitgemäß sind. Ich glaube, das ist eine guteAufgabe, die wir gerne in die Diskussion zum Bundes-verkehrswegeplan aufnehmen. Wir schauen auch hier:Stimmen die Kriterien noch? Sind die Projekte noch dierichtigen, oder gibt es auch andere Möglichkeiten, dort,wo es dringend notwendig ist, schneller zu bauen? Andiese Arbeit wollen wir uns gerne machen.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat die KolleginDr. Wilms vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
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Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste auf der Tribüne! Kollege Herzog, da haben
Sie ja wieder richtig viel weiße Salbe draufgeschmiert,
um Ihr Versagen auf allen Ebenen zu verdecken.
Sie reden da über eine Neukonzipierung des Bundesver-
kehrswegeplans, den Sie mit neuen Kriterien versehen
wollen. Und was hören wir tatsächlich von Ihrem lieben
Koalitionspartner? „Wir müssen die Ortsumfahrungen
retten, wir müssen die Wahlkreisbindung wieder stär-
ken.“ Damit machen wir mit der Wünsch-dir-was-Liste
genauso weiter wie bisher. So läuft das nicht, Kollege!
Wir reden heute aber über etwas ganz anderes. Das
Verkehrsministerium traut sich in die Tiefen der Juriste-
rei. Es geht um ein beschleunigtes Planungsverfahren für
Bundesfernstraßen, Herr Ferlemann. Darüber sollten wir
uns heute sicherlich unterhalten, damit diese Schrotthau-
fen wie die Leverkusener Rheinbrücke oder auch die Ra-
der Hochbrücke zügig erneuert werden können. Aber ich
stelle die Frage: Reicht das allein wirklich aus, um die
Verkehrsinfrastruktur in diesem Lande vor dem Zerbrö-
seln zu bewahren? Was Sie mit diesem Gesetzentwurf
vorhaben, ist das Herausnehmen einer Ebene der Ge-
richtsbarkeit. Ich sage Ihnen: Das bringt nicht viel. Es
wird deutlich, wo wir alle bisher geschlampt haben. Statt
die Ursachen für das Desaster bei unserer vorhandenen
Verkehrsinfrastruktur zu bekämpfen, doktern Sie jetzt
nur noch an den Symptomen herum. Dass Sie sich wirk-
lich einmal trauen, einen großen Wurf zu machen, sehe
ich hier nicht.
Das scheint Ihnen etwas zu viel Aufwand zu sein, Herr
Kollege Ferlemann; denn dazu gehören Mumm und auch
die Bereitschaft, ein Risiko einzugehen. Aber daran fehlt
es Ihnen ja, wie wir an der leidigen Ausländermautde-
batte, Bauart CSU, sehen.
Zu lange wurde der Erhalt unserer Straßen sträflich
vernachlässigt; aber dafür haben Sie lieber immer neue
Straßen eingeweiht. Gerade Sie sind ja häufig genug auf
Bildern, Herr Kollege Ferlemann. Nun sind Sie dabei,
diese falsche Politik weiter fortzusetzen. Unsere großen
Brückenbauwerke aus den 60er- oder 70er-Jahren kom-
men in die Jahre – Kollege Birkwald hat es schon gesagt,
und ich lege noch ein paar Jährchen obendrauf – und
müssen Schritt für Schritt repariert oder erneuert wer-
den. Das hätte eigentlich vorhersehbar sein müssen,
wenn Sie sich endlich einmal wie ein ehrbarer
Kaufmann verhalten würden. Dann hätten Sie schon
längst die Abschreibung auf das Anlagevermögen der
Straßen ermittelt. Damit hätten Sie einen sauberen Hin-
weis auf den Bedarf an Investitionen gehabt, um die vor-
handenen Straßen in ihrem Wert zu erhalten. So arbeitet
jeder Kaufmann, oder er geht pleite – und Sie gehen
pleite, auch politisch.
Ohne dieses Frühwarnsystem wurden unsere Brü-
ckenbauwerke jahrelang abgenutzt. An die Zukunft
wurde nicht gedacht, immer nur neuen Beton gießen,
mehr nicht.
Vor allem beginnen Sie jetzt, viel zu spät, mit ersten klei-
nen Schritten zu handeln,
mit dem Herausnehmen einer Ebene in der Rechtspre-
chung. Das heißt, Sie sagen unseren Bürgern: Wir haben
Murks gemacht, aber ihr sollt darunter leiden. Ihr dürft
euch zukünftig nicht mehr so intensiv beteiligen.
Gehen Sie also lieber den anderen Weg! Gehen Sie auf
die Menschen vor Ort zu, binden Sie sie in die Lösungs-
findung ein! Das erwarten die Menschen von der Politik
heute, und nicht die Nummer, die Sie hier ablaufen las-
sen.
Machen Sie nicht nur länger die Politik der kleinen
Schritte. Setzen Sie Zeichen, dass Ihnen der Erhalt der
Verkehrswege wirklich wichtig ist. In Ihrem Privatisie-
rungsnebel, werte Kolleginnen und Kollegen dieser Rie-
sengroß-Koalition des Stillstandes, kann ich davon
nichts erkennen.
Danke.
Vielen Dank. – Als nächster Kollege hat Gero
Storjohann von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Das war ja eben ein starker Auftritt, FrauDr. Wilms.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 9019
Gero Storjohann
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Ich habe nur nicht verstanden, was Sie eigentlich sagenwollten.
– Die ganze Zeit habe ich zugehört. – Sind Sie nun fürdiesen Gesetzentwurf, oder sind Sie dagegen?
Man muss wissen, dass die Grünen auch in Schles-wig-Holstein in der Landesregierung sind, und ich habeeinen Brief vom Verkehrsminister Meyer bekommen,der eindringlich darum gebeten hat, dass die RaderHochbrücke in Schleswig-Holstein bitte in die Anlagedieser Liste aufgenommen werden soll.
Wir haben uns als Landesgruppe CDU Schleswig-Holstein auch dafür eingesetzt, dass dies so erfolgt, undich bin dankbar, dass es von der Bundesregierung aufge-nommen worden ist. Nun sehe ich meine Kollegin ausSchleswig-Holstein, die das nicht zu würdigen weiß. Daspasst nicht, Frau Kollegin.
Ich wollte Sie hier loben, dass die Grünen endlich ein-mal dafür sorgen, dass Planungsverfahren beschleunigtwerden. Wir wissen sehr wohl, dass wir Beteiligungs-rechte in diesem Augenblick reduzieren. Aber vor dieAlternative gestellt, dass die Rader Hochbrücke, eineleistungsfähige 1 500-Meter-Stahlkonstruktion aus demJahr 1972,
irgendwann nicht mehr zu benutzen ist, müssen wir jetztdort einsteigen, und das wollen wir auch.
Wenn Sie dagegen sind, sagen Sie das, und sagen Sie esauch laut in Schleswig-Holstein.Den ganzen Sommer über gab es lange Staus, nichtnur von Pendlern, nicht nur von der Wirtschaft, auch vonTouristen, die nach Dänemark wollten oder von Däne-mark zurückkamen oder in Schleswig-Holstein Urlaubmachen wollten. Es war gang und gäbe, dass man übereine Stunde in diesem Stau stand. Wir haben nicht soviele Brücken wie am Rhein. Bei uns muss man 70,80 Kilometer fahren, um die nächste Brücke zu errei-chen, um sie mit einem Lkw zu überqueren. Wir habenzwar leistungsfähige kleine Fähren, aber auch da warendie Staus enorm.Wir standen also vor der Entscheidung: Machen wirnichts, oder beschleunigen wir ein wenig?
Deshalb bin ich dankbar, dass die Bundesregierung hierdie Rader Hochbrücke aufgenommen hat, und wir wei-sen darauf hin, dass wir zurzeit immer noch keinenSchwerlastverkehr über diese Brücke führen können.Schleswig-Holstein ist ein Windland. Dort werdennicht nur Windanlagen gebaut, sie werden auch transpor-tiert. Ich habe nun gehört, Herr Birkwald, wir sollen inAlternativen denken. Wir sollen neue Wasserwege undneue Schienenwege schaffen. Aber auch wenn wir dasversuchen, sind die Linken dagegen.
Wenn wir die Fehmarnbeltquerung machen wollen, eineneue wunderbare Schienenverbindung, um auf diesemWege etwas zu transportieren, dann sind die Grünen da-gegen. Also, egal was wir machen, es ist nie richtig.
Nun machen wir einen kleinen Schritt, der einer Lösungentgegenkommt, und auch dagegen sind Sie noch. Ichbin maßlos enttäuscht von Ihnen, Frau Wilms, sonst sindSie so eine nette Kollegin.
Dass es überhaupt nicht einfach war, den vorliegen-den Gesetzentwurf in seinem Umfang auf den Weg zubringen, wissen wir auch. Wir hatten massiven Wider-stand aus dem Justizministerium zu überwinden, zuRecht, weil die Ausnahme begründet werden muss. Aberich bin dankbar, dass sich der Justizminister auf den Wegbegeben hat und das Problem als so wichtig erkannt hat,dass wir jetzt zu einer Lösung kommen. Die Grünenkann ich heute also leider nicht loben.
– Das stimmt ja überhaupt nicht, Frau Wilms. Bei derWasser- und Schifffahrtsdirektion waren wir uns am An-fang doch verhältnismäßig einig.
Wichtig ist, dass wir mit diesem Gesetzentwurf füreine erhebliche Zeitersparnis sorgen,
und dass lange Klageverfahren, deren Dauer womöglichdie Restnutzungsdauer der alten Brücke, der RaderHochbrücke, erheblich überschreiten, vermieden wer-den.
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9020 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
Gero Storjohann
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Wir haben das Problem erkannt, einen Lösungsvorschlagerarbeitet, und an die zügige Umsetzung gehen wir jetztim Ausschuss und dann wieder hier im Plenum.Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/4281 an den Ausschuss für
Verkehr und digitale Infrastruktur vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Ernährung und
Landwirtschaft zu dem Antrag
der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Caren
Lay, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Keine Privatisierung von Ackerland und
Wäldern durch die Bodenverwertungs- und
-verwaltungs GmbH
Drucksachen 18/1366, 18/2036
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
Dr. Kirsten Tackmann von der Linken das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Gäste! Wir sind im UN-Jahr des Bodens, und ichbin froh, dass das nicht eine leere, plakative Kampagneist, sondern dass dieses Thema offensichtlich vieleMenschen bewegt, und zwar weit über die Landwirt-schaft hinaus.Boden ist eine natürliche Ressource, die begrenzt ist.Sie ist die Grundlage für unsere Versorgungssicherheitbei Lebensmitteln und Energie. Deswegen müssen wirmit Boden schonend umgehen.
Aber neben der Bodenfruchtbarkeit und den Flächenver-lusten durch Siedlungs- und Straßenbau bewegt viele vorallen Dingen eine Frage: Wer kann sich Bodeneigentumeigentlich noch leisten?„Kaufen Spekulanten den Osten auf?“, fragte derTagesspiegel 2013 und brachte die Befürchtungen aufden Punkt. Als Linke haben wir das Problem schon viellänger thematisiert. Im Zentrum steht die Kritik an derbundeseigenen Bodenverwertungs- und -verwaltungsGmbH, der BVVG. Sie verwaltet und privatisiert imAuftrag des Bundestages die Flächen der volkseigenenGüter der DDR, die kostenfrei in Bundesvermögen über-gegangen sind.Bis 2014 hat die BVVG 800 000 Hektar Landwirt-schafts- und knapp 600 000 Hektar Forstflächen privati-siert – insbesondere seit 2007 mit fatalen Folgen. Dassagt übrigens nicht nur die Linke. Till Backhaus, SPD-Agrarminister in Mecklenburg-Vorpommern, bezeich-nete kürzlich die Privatisierung von Grund und Bodenals Kardinalfehler der deutschen Einheit. Besser wäreeine treuhänderische Übernahme eines Teils der Flächendurch das Land gewesen, um sie an Agrarbetriebe wei-terzuverpachten.Genau das fordert die Linke schon ganz lange,
weil wir vor allem zwei fatale Folgen der Bodenprivati-sierung sehen. Erstens steigen spätestens seit 2007 dieBodenpreise in eine Höhe, die durch landwirtschaftlicheArbeit nicht mehr zu bezahlen ist. Das hat mit der Kapi-talflucht in feste Werte im Zuge der Finanzkrise zu tun,aber auch mit der BVVG, die unterdessen Flächen euro-paweit ausschreibt und zum Höchstgebot verkauft. DieFolge: Zwischen 2007 und 2013 stiegen die Bodenpreisein Ostdeutschland um 154 Prozent. Dies geschah sehrzur Freude des Finanzministers, der jährlich etwa500 Millionen Euro von der BVVG überwiesen be-kommt, für ostdeutsche Äcker, die er kostenfrei über-nommen hat, und auf Kosten der ortsansässigen Land-wirtschaftsbetriebe, die ihre Produktionsgrundlage, denBoden, zu Wucherpreisen kaufen müssen. Ich finde dasunanständig, erst recht, weil das Geld für gute Löhneund mehr Tierwohl fehlt.
Ja, auch in Westdeutschland steigen die Bodenpreise,aber mit 54 Prozent deutlich geringer. Ja, die Boden-preise sind in Westdeutschland höher als in Ostdeutsch-land, aber dort gibt es auch eine höhere Wertschöpfung.Deswegen kann man die absoluten Summen nichtvergleichen. Es ist vor allen Dingen die Dynamik, die sobeunruhigt. Ursache ist zwar nicht nur die Bodenprivati-sierung, aber 2013 erfolgten immerhin 44 Prozent allerBodenverkäufe in Ostdeutschland durch die BVVG. FürMecklenburg-Vorpommern wurde gerade berichtet, dassdie Bodenpreise bei der BVVG am allerhöchsten waren.Ich finde das inakzeptabel.
Das hat vor allen Dingen eine zweite fatale Folge. Im-mer häufiger kauft landwirtschaftsfremdes Kapital dieÄcker, Wiesen und gleich ganze Betriebe. Auch davorhat die Linke lange vergeblich gewarnt. Gerade hat eineBund-Länder-Arbeitsgruppe geschätzt, dass zwischen
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 9021
Dr. Kirsten Tackmann
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20 und 35 Prozent der Flächen an Nichtlandwirte gehen.Verlierer sind die ortsansässigen Betriebe, egal ob eskleine Familienbetriebe oder große Familienbetriebesind, Genossenschaften oder GmbH. Das Problem sindKapitalgesellschaften, die Zehntausende Hektar in ver-schiedenen Regionen Ostdeutschlands aus der Ferne be-wirtschaften lassen und aggressiv, zum Beispiel auchüber Anteilskäufe, expandieren.Lassen wir also wenigstens die restlichen BVVG-Flächen in öffentlicher Hand. Um noch einmal mit TillBackhaus zu sprechen: Dann hätten auch Familienbe-triebe und Junglandwirte, Biobauern und arbeitsinten-sive Unternehmen eine Chance.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat der Kollege
von der Marwitz das Wort von der CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleis-tet.So steht es in Artikel 14 des Grundgesetzes. Seit 1990verfolge ich als Wiedereinrichter eines ostdeutschenLandwirtschaftsbetriebes, wie sehr nach dem Mauerfalldieses Grundrecht in den fünf neuen Bundesländernstrapaziert wurde. Enteignungen und Zwangskollektivie-rung in der Zeit des Sozialismus haben den ostdeutschenBauernstand nahezu ruiniert – ein Faktum, wissenschaft-lich belegt und vielfach beschrieben.Doch weniger bekannt ist die Tatsache, dass Funktio-näre und Lobbyisten der ostdeutschen Agrarbetriebe inden Nachwendejahren nichts unversucht ließen, eineWiederbelebung bäuerlich geführter Betriebe und Rück-führungen von Flächen an Enteignete zu verhindern. Dieehemaligen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossen-schaften nutzten die Gunst der Stunde und formiertensich mithilfe des Landwirtschaftsanpassungsgesetzesneu. Nur wenige behielten den Genossenschaftsstatus.Die meisten firmierten um in juristische Personen. Wiewir heute wissen, wurden im Zuge dieser Umwandlungvielen ehemaligen Genossen ihre Ansprüche mehr oderweniger entzogen.Es sind die sozialistischen Agrarstrukturen, FrauDr. Tackmann, die den Konzentrationsprozess in der ost-deutschen Landwirtschaft bereitet haben.
Die umgewandelten Gesellschaften sind es, die den au-ßerlandwirtschaftlichen Investoren als Einstieg in dieUrproduktion dienen.Mit Blick auf diese geschichtliche Entwicklungmöchte ich feststellen, dass die Verbindung von Besitz,Tradition und Unternehmertum im Sinne des Artikels 14Absatz 1 und 2 des Grundgesetzes Eckpfeiler unsereswirtschaftlichen Wohlstands in Deutschland sind. Des-halb warne ich vor einer staatlichen Reglementierungdes Bodenmarkts.Nun zu Ihrem Antrag und zum weiteren Umgang mitder BVVG. Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe Boden-markt hat in ihrem Abschlussbericht festgestellt, dass dieBVVG mit ihrem stetig sinkenden Flächenbestand kaumnoch Einfluss auf agrarstrukturelle Entwicklungen neh-men kann. 187 000 Hektar Äcker und Wiesen befindensich noch im Eigentum der BVVG, gerade einmal rund3,5 Prozent der ostdeutschen landwirtschaftlichen Nutz-fläche. Hinzu kommt, dass diese Flächen mittlerweilelang- und mittelfristig verpachtet sind.Natürlich können Ausschreibungen eine preistrei-bende Wirkung haben. Wir sollten jedoch zwischen Ur-sache und Wirkung genauer differenzieren. Ich denke,dass der zweifelsohne sprunghafte Preisanstieg auf demPacht- und Bodenmarkt im Wesentlichen eine Folge feh-lender Anlagealternativen ist. Die Kapitalzinsen sind insBodenlose gefallen, und im Ost-West-Vergleich sindlandwirtschaftliche Flächen in Ostdeutschland nach wievor sehr günstig zu haben. Sie haben von Steigerungenin Höhe von 54 Prozent gesprochen; der Preis der ost-deutschen landwirtschaftlichen Nutzfläche ist aber nurhalb so hoch wie in Westdeutschland.Um der BVVG einen stärkeren agrarstrukturellenFokus zu geben, haben wir bei den Privatisierungs-grundsätzen bereits nachgebessert und zum Beispiel dieLosgrößen reduziert. In einer Lebensverlängerung imHinblick auf die BVVG über das Jahr 2025 hinaus seheich jedenfalls keinen gesellschaftlichen Mehrwert. Ganzim Gegenteil: Das Dilemma der BVVG bleibt bestehen.Sie steht zwischen Baum und Borke. Auf der einen Seitegibt es den Druck des Finanzministers und die Notwen-digkeit, nicht gegen Wettbewerbs- und Haushaltsrecht zuverstoßen. Auf der anderen Seite soll die Flächenprivati-sierung nach § 1 des Treuhandgesetzes auch ökologi-schen und strukturellen Gegebenheiten Rechnung tra-gen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist dieQuadratur des Kreises. Das führt dazu, dass von allenSeiten auf den Sack eingedroschen wird, obwohl mandoch eigentlich den Esel meint.Auch eine Übertragung der BVVG-Flächen auf dieBundesländer ist aus meiner Sicht eine sinnlose Kompe-tenzverschiebung. Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern planen, die verbleibenden BVVG-Flächenzu erwerben. Wenn ich höre, dass zum Beispiel dieLandgesellschaft Sachsen-Anhalt bei entsprechendenLosen einen ähnlichen Verkaufspreis wie die BVVG er-zielt, sehe ich mich bestätigt, dass wir es in erster Liniemit marktwirtschaftlichen Anpassungsprozessen undnicht mit einer gezielten Preistreiberei der BVVG zu tunhaben.Lassen Sie mich noch kurz auf einen weiteren PunktIhres Antrags eingehen. Sie fordern die Einführung einerVermögensteuer, einer Steuer auf hohe Vermögen. Abge-
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9022 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
Hans-Georg von der Marwitz
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sehen davon, dass Vermögen aus bereits versteuertenEinnahmen gewachsen sind, kann ich Ihnen garantieren,dass sich das mobile Privatvermögen alsbald vor demZugriff des Staates retten wird. Betroffen werden amEnde die immobilen Vermögensgegenstände sein, allenvoran die der deutschen Bauern. Denn deren Kapital istin ihrer Produktionsgrundlage – in Boden, Maschinen,Arbeit und Vieh – gebunden.Dass man mit Forderungen auch zu weit gehen kann,konnten Sie kürzlich bei unseren französischen Nachbarnbeobachten. Dort haben die Sozialisten die Reichensteuerklammheimlich auslaufen lassen. Die Einnahmen bliebennämlich deutlich hinter den Erwartungen zurück, ganzzu schweigen vom immensen Imageschaden.
Meine Damen und Herren, meiner Ansicht nach ist esgeradezu aberwitzig, mit einem Griff in die Substanz derBetriebe Strukturpolitik betreiben zu wollen. Als Land-wirt sage ich Ihnen: Wer Kühe melken möchte, muss sieordentlich füttern und nicht schlachten.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat der Kollege
Friedrich Ostendorff von Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
gut, dass wir im UN-Jahr des Bodens auch über den As-
pekt der BVVG reden. Denn Boden ist die Quelle des
Lebens, des Wachstums. Boden ist die Grundlage des
Wirtschaftens in der Landwirtschaft. Boden ist uns gege-
ben, damit wir sorgsam mit ihm umgehen und ihn be-
wahren, sodass er auch zukünftigen Generationen noch
zur Verfügung steht: für zukünftiges Leben, für zukünfti-
ges Wachstum und für zukünftiges Wirtschaften. Boden
ist eine natürliche Ressource, die nicht vermehrbar ist.
Boden ist Kapital. Aber ist Boden auch eine Kapital-
anlage? Oder: Sollte Boden eine Kapitalanlage sein? Wir
erleben einen enormen Ansturm auf Boden, verbunden
mit einer Preissteigerung, die ihresgleichen sucht. Seit
der Weltfinanzkrise 2008 wurden Boden und Landwirt-
schaft als sogenannte Anlageklassen, als Asset Class
oder auch als Real Investment, entdeckt. Nichts ist so
real, so bodenständig, so lebensnotwendig wie Landwirt-
schaft. Aber wollen wir diese Lebensgrundlage verkau-
fen und verramschen, wollen wir diese Lebensgrundlage
aufs Spiel setzen?
Der Preis für landwirtschaftliche Flächen – Kollegin
Tackmann wies richtig darauf hin – stieg seit der Weltfi-
nanzkrise um 64 Prozent, in den neuen Bundesländern
– es gibt unterschiedliche Zahlen – um weit über
100 Prozent. Die Preise für BVVG-Flächen des Bundes
stiegen allein innerhalb eines Jahres in Sachsen-Anhalt
um 21 Prozent, in Mecklenburg-Vorpommern um 25 Pro-
zent. Viele kleine und mittlere Landwirte können bei
diesen Preisen nicht mehr mithalten. Das schafft keine
ausgewogene Agrarstruktur, und das bringt keine nach-
haltige ländliche Entwicklung.
Die falsche Verkaufspraxis der BVVG führt zu einem
Ausverkauf des Bodens an kapitalkräftige Investoren-
gruppen und landwirtschaftliche Großunternehmen.
Deshalb stimmen wir Grünen dem Verkaufsstoppantrag
der Linken zu.
Warum werden die verbleibenden Bundesflächen
nicht dazu genutzt: etwa als Flächenpool für die Förde-
rung von Junglandwirten oder als Ergänzung für aufsto-
ckungsbedürftige kleine Landwirte oder für eine lang-
fristige, günstige Verpachtung an Betriebe mit einem
hohen Mehrwert für die Region? So kämen wir weiter,
lieber Hans-Georg von der Marwitz.
Aber eins muss auch noch gesagt werden, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen: Es reicht leider nicht aus, nur über
die Flächen der BVVG zu reden, es geht um viel mehr:
Wir müssen letztlich zu einer anderen, vielfältigeren Ag-
rarstruktur kommen. Wir brauchen zum Beispiel richtige
– bäuerliche – Genossenschaften für lebendige, lebens-
werte Dörfer, keine Agrarunternehmen, die nur juristisch
eine eingetragene Genossenschaft sind.
Ungesunde Bodenverteilung wollen wir Grüne been-
den. Eine ungesunde Bodenverteilung besteht heute,
wenn sich der Besitz oder die Bewirtschaftung von Land
in einem Dorf oder in einer Region in den Händen von
wenigen Agrarunternehmen konzentriert, egal in wel-
cher Rechtsform.
Wir brauchen ein agrarisches Leitbild, das Leitplanken
setzt für eine sinnvolle zukünftige Entwicklung in der
Landwirtschaft für Vielfalt auf dem Lande und in den
Dörfern. Nur so, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann
Boden seine Funktion bewahren als Quelle des Lebens,
des Wachstums und als Grundlage des Wirtschaftens in
der Landwirtschaft.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat die KolleginPflugradt von der SPD-Fraktion das Wort.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 9023
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Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Sehr geehrte Gäste! Im Koalitionsvertrag zwi-schen CDU, CSU und SPD heißt es:In Verhandlungen zwischen Bund und Ländernwird geklärt, ob die noch in der Hoheit des Bundesverbliebenen Treuhandflächen interessierten Län-dern übertragen werden können.So weit, so gut.Die Bedingungen für eine Übertragung der Flächenmüssen so gestaltet sein, dass sie den spezifischen agrar-strukturellen, umweltpolitischen sowie verfassungs- undhaushaltsrechtlichen Voraussetzungen gerecht werden;das haben wir heute Abend schon mehrfach gehört.Interesse an einer Übernahme der von der bundesei-genen Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH,BVVG, verwalteten Flächen haben die Länder Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern schon zu Beginndes letzten Jahres bekundet. Hierüber sind der Bund unddie genannten Länder bereits lange im Gespräch. DasBundesfinanzministerium erklärte dazu, dass der Bundseine grundsätzliche Bereitschaft zum Verkauf erneuernwürde. Noch konnte leider keine Einigung erzielt wer-den; denn einige Fragen gestalten sich als schwierig, vorallem rechtliche Fragen sind noch offen. Eine wesentli-che Voraussetzung für die Übertragung der vorhandenenFlächen ist unter anderem, dass sich Bund und Länderüber einen geeigneten Kaufpreis verständigen. An die-sem Punkt sind wir derzeit aber noch nicht.Bevor die Länder in derart konkrete Preisverhandlun-gen mit dem Bund einsteigen, muss im Vorfeld im Detailgeklärt sein, worüber verhandelt wird. Außerdem müs-sen die Verkaufsobjekte definiert und wertsteigernde so-wie wertmindernde Faktoren berücksichtigt werden. Dasnimmt eine Menge Zeit in Anspruch und befindet sichweiter im laufenden Verhandlungsprozess.Aufgrund der komplizierten und komplexen Materieist eine tiefgreifende Vorarbeit notwendig. Ein Ende derVorgespräche ist momentan nicht in Sicht, und der Aus-gang der Verhandlungen ist zurzeit völlig offen.In meinem Bundesland Mecklenburg-Vorpommernlag der Durchschnittspreis im Jahre 2014 mit rund19 730 Euro pro Hektar ein Fünftel über dem des Jahres2013. Damit hat der Verkaufswert wieder einen deutli-chen Sprung nach oben gemacht.Rund 60 700 Hektar Landfläche hatte die BVVG-Niederlassung am Ende des Jahres 2014 verpachtet.Viele Flächen sind demnach verpachtet und können garnicht unmittelbar verkauft werden. Die Verpachtung istwiederum an besondere Kriterien gebunden, die auf denErhalt von Arbeitsplätzen und auf die Wertschöpfung imländlichen Raum abzielen. Das sind zwei ganz wichtigePunkte. Davon profitieren vor allem ökologisch wirt-schaftende Betriebe. Eine Forderung Ihres Antrages istdamit bereits erfüllt – zumindest in Mecklenburg-Vor-pommern.
– Auch praktisch.
Der Preisdruck bei den Landverkäufen ist nicht nurauf die Verkaufspraxis der BVVG zurückzuführen, son-dern auch auf den Automatismus von Angebot undNachfrage.Die BVVG benutzt in ihren Ausschreibungen dasVergleichspreissystem. Damit wird der anzuwendendeFlächenpreis für jeden Verkauf gesondert festgesetzt,wobei die relevanten Daten aus ähnlichen früheren Ver-äußerungen zum Vergleich herangezogen werden. DasVergleichspreissystem ist laut einem Gutachten der EU-Kommission mit den einschlägigen Vorschriften undGrundsätzen für eine Grundstücksbewertung vereinbar.Gerade beim Verkauf von Flächen der BVVG und auchbeim Verkauf kleinerer Flächen sollten unabhängigeSachverständige aber direkt von der BVVG Auskunftüber den Verkaufswert der Fläche erhalten, um Intrans-parenz bei der Vergabe zu vermeiden. Ich glaube, das istein wichtiger Punkt.Die Privatisierung der ehemals volkseigenen land-und forstwirtschaftlichen Flächen geht momentan in dieletzte Phase. Die Übertragung an die Alteigentümer, beider die BVVG als Privatisierungsstelle des Bundes fun-giert, soll in den nächsten Jahren abgeschlossen werden.Der Verkauf von Forstobjekten wird voraussichtlich be-reits in diesem Jahr weitestgehend beendet sein.Die Naturschutzflächen sind schon so gut wie kom-plett veräußert worden. Gegenwärtig hat die bundesei-gene Gesellschaft knapp 187 000 Hektar Landfläche undrund 19 000 Hektar Wald im Bestand. Davon will dieBVVG noch in diesem Jahr rund 23 000 Hektar Landund circa 6 000 Hektar Waldfläche verkaufen. Bis zumJahr 2025 sollen alle Flächen verkauft werden – das be-deutet, rund 20 000 Hektar im Jahr.Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, halten deshalb ander Vereinbarung im Koalitionsvertrag fest, dass in Ver-handlungen zwischen Bund und Ländern geklärt werdensolle, ob die betroffenen Länder Interesse haben, dienoch in der Hoheit des Bundes verbliebenen Flächenvom Bund zu erwerben. Die Länder hätten somit dieMöglichkeit, ein Existenzgründerprogramm unter ande-rem für Junglandwirte zu etablieren.
Die SPD-Bundestagsfraktion erklärt sich hinsichtlichweiterer Forderungen gesprächsbereit. Im Zentrum stehtdabei vor allem eine Verschiebung des aktuell auf 2025datierten Endes der Privatisierung und damit eine wei-tere zeitliche Streckung des Privatisierungsprozesses.Dies würde eine stärkere räumliche und zeitliche Tren-nung der einzelnen Ausschreibungen ermöglichen.Bei gleichzeitig kleineren Losgrößen würde auchkleineren und mittleren Landwirtschaftsbetrieben dieMöglichkeit eröffnet werden, sich erfolgversprechend anAusschreibungen zu beteiligen. Der Kaufdruck würdevermindert, sodass die Liquidität der Betriebe, die sichum Bodenerwerb bemühen, weniger stark beanspruchtwürde. Vorstellbar ist demnach eine Obergrenze der aus-
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9024 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015
Jeannine Pflugradt
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geschriebenen Lose. Im Jahr 2014 lag die durchschnittli-che Losgröße der unbeschränkt alternativ zur Pacht bzw.zum Kauf ausgeschriebenen Lose bei rund 17 Hektar.Kleine Lose sind tendenziell unattraktiver für großeaußerlandwirtschaftliche und überregionale Investoren.Somit können passgenauere Lose für einzelne Betriebein die Ausschreibung gelangen. Außerdem sind be-schränkte Ausschreibungen für arbeitsintensive Betriebeund Junglandwirte sowie Existenzgründer ein wichtigesElement zur Steuerung des Flächenerwerbs im Sinne ag-rarstruktureller Zielvorstellungen. Es sind damit positiveEffekte für die Beschäftigung in ländlichen Räumen so-wie der für die Zukunft des Sektors wichtigen Jungland-wirte oder Existenzgründer verbunden.Ein Verbleib der gebliebenen Treuhandflächen beimBund, also ein Privatisierungsstopp, wie Sie es, meinelieben Kollegen von den Linken, in Ihrem Antrag for-dern, schließen wir, die SPD-Bundestagsfraktion, aus.
Die Privatisierungspflicht ist Bestandteil des Treuhand-gesetzes und wird weiter verfolgt.Schönen Dank.
Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat die Kollegin
Stauche von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnenund Kollegen! Einer meiner ersten Gedanken beim Le-sen des heute zu behandelnden Antrags war: Hier fehlteigentlich noch das Schlagwort: „Junkerland in Bauern-hand“. – Das hatten wir schon.
Auch die Tatsache, dass es das linke Mantra von der Ver-mögensteuer in den Antrag geschafft hat, passt genau insBild.Zum besseren Verständnis des vorliegenden Antragsmöchte ich gern kurz über den Tellerrand schauen, näm-lich ins Parteiprogramm der Partei Die Linke. Dort heißtes unter anderem:Wir wollen eine demokratische Vergesellschaftungweiterer strukturbestimmender Bereiche auf derGrundlage von staatlichem, kommunalem, genos-senschaftlichem oder Belegschaftseigentum.
So unkonkret, wie das formuliert ist, so deutlich ist dieAbsicht:
Nicht nur Einrichtungen der kommunalen Daseinsvor-sorge sollen vergesellschaftet sein, sondern darüber hi-naus auch wichtige Wirtschaftsbereiche.Wohin soll das führen? Ich kann nur so viel sagen:Das hat schon einmal nicht funktioniert.
Mein Kollege Hans-Georg von der Marwitz hat eben be-reits deutlich gesagt: Die heutige Diskussion findet nurstatt, weil es eine solche Vergesellschaftung schon ein-mal gegeben hat. – Mit deren Folgen müssen wir unsheute noch befassen.
Es ist natürlich lobenswert, wenn sich heute die Nach-folgepartei der Verantwortlichen von damals darum be-müht, die Lage zum Besseren zu verändern.
– Na ja, ihr seid trotzdem Nachfolger. – Aber ich kannnur noch einmal betonen: Dann soll man es nicht nocheinmal mit den gleichen Methoden probieren.
Sie werfen der BVVG vor, Preistreiberei auf dem Bo-denmarkt zu betreiben. Dazu einige Zahlen: Im Jahr2013 sind die Agrarpreise in den neuen Bundesländernim Durchschnitt tatsächlich um 10 Prozent gestiegen, inden alten Bundesländern allerdings um 13 Prozent. Dortist die BVVG nicht am Markt aktiv gewesen. DerDurchschnittspreis für 1 Hektar landwirtschaftlicher Flä-che lag damals im Osten bei 10 500 Euro, im Westen bei25 200 Euro. Ich glaube, es ist kein Geheimnis, dassPreisbildung auf verschiedenen Faktoren beruht, wiezum Beispiel Bodengüte, Nutzungsart und regionaleLage.
Wir leben in der sozialen Marktwirtschaft, auch wenndie Linke das nicht akzeptiert. Das heißt, Preise bildensich durch Angebot und Nachfrage. Hieran ist dieBVVG natürlich beteiligt; denn sie ist ein Anbieter. Al-lerdings verfügt sie nur noch über 3 Prozent der land-wirtschaftlichen Fläche in den neuen Bundesländern.Lediglich ein Drittel der landwirtschaftlichen Bodenver-käufe in den neuen Bundesländern geht auf das Kontoder BVVG, wenn Übertragungen nach dem Entschädi-gungs- und Ausgleichsleistungsgesetz, EALG, nicht be-trachtet werden. Direktverkäufe an Pächter berühren denfreien Markt ebenfalls nicht, da diese ohne Ausschrei-bung verkauft werden. Wenn wir auch diese herausrech-nen, beträgt der Anteil der BVVG-Verkäufe in denneuen Bundesländern nur noch zwischen 12 und 15 Pro-zent.Es erscheint mir also etwas übertrieben, die BVVGals Hauptverantwortliche für den Preisanstieg im Agrar-bereich zu bezeichnen. Ich habe den Eindruck, das ver-steckt sich auch im Antrag der Linken. Dort heißt es:Insbesondere die durch die Privatisierungsregelnunterstellte Mitverantwortung für den Anstieg derPreise für Bodenpacht und -kauf in Ostdeutschlandsorgt für Protest.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2015 9025
Carola Stauche
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(B)
Der Verfasser des Antrags schreibt also selbst, dass essich um nicht mehr als eine Vermutung handelt, dass dieBVVG für den massiven Preisanstieg verantwortlich sei.Auf dieser Grundlage die Arbeit der BVVG torpedierenzu wollen, erscheint mir sehr weit hergeholt.Auch rein praktisch ergibt der Antrag keinen Sinn. InSachsen und Thüringen ist die Arbeit der BVVG bereitsnahezu abgeschlossen. Hier würde er ohnehin keine Wir-kung mehr entfalten. Der größte Teil der verbleibendenBVVG-Flächen ist derzeit verpachtet und kann deshalbnicht ohne Weiteres verteilt werden. Ein Verkaufsmora-torium würde die Alteigentümer benachteiligen – manbedenke das bitte auch –, die bisher keine Möglichkeitenzum Rückkauf nach dem EALG hatten. Denn auch ansie müssen wir denken.Die Länder Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vor-pommern stehen zurzeit mit dem Bund in Verhandlun-gen über eine Flächenübertragung. Der Prozess läuftalso bereits. Dafür bedarf es des vorliegenden Antragsnicht.Ich komme zu dem Schluss: Die Arbeit der BVVGberuht auf der bewussten Entscheidung für die sozialeMarktwirtschaft. Die Forderung, BVVG-Flächen nichtweiter zu privatisieren, ist unnötig und verkennt die Re-alitäten des Jahres 2015. Deshalb werden wir den Antragablehnen.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Ernährung und Landwirtschaft zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Keine Privatisierung
von Ackerland und Wäldern durch die Bodenverwer-
tungs- und -verwaltungs GmbH“. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 18/2036, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/1366 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Damit ist diese Beschlussempfehlung mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim-
men der Opposition angenommen worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-
derung des Agrar- und Fischereifonds-Infor-
mationen-Gesetzes und des Betäubungsmit-
telgesetzes
Drucksache 18/4278
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) –
Sie sind damit einverstanden, wie ich sehe.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/4278 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses zu
dem Antrag der Abgeordneten Luise Amtsberg,
Volker Beck , Hans-Christian Ströbele,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Kontoeröffnungen für Flüchtlinge ermögli-
chen
Drucksachen 18/905, 18/4137
Auch hier sollen die Reden zu Protokoll gegeben
werden.2) – Auch damit sind Sie einverstanden, wie ich
sehe.
Wir kommen deshalb jetzt gleich zur Abstimmung.
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 18/4137, den Antrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/905 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist
diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koali-
tion gegen die Stimmen der Opposition angenommen
worden.
Wir sind damit am Schluss unserer Tagesordnung,
liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich wünsche Ihnen ei-
nen schönen Abend, zumindest was noch davon übrig
ist.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 20. März 2015, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.