Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie allezur ersten Plenarsitzung im neuen Jahr und nutze die Ge-legenheit gerne, Ihnen auch auf diesem Wege noch ein-mal persönlich alles Gute für das begonnene neue Jahrzu wünschen.Seit der letzten Sitzungswoche haben die KolleginAzize Tank ihren 65. Geburtstag sowie die KolleginBarbara Lanzinger und der Kollege Ralf Kapschackihren 60. Geburtstag gefeiert. Im Namen des gesamtenHauses möchte ich hierzu herzlich gratulieren und fürdas neue Lebensjahr alles Gute wünschen.
Der Kollege Wolfgang Tiefensee hat sein Bundes-tagsmandat niedergelegt. Für ihn ist der Kollege DetlefMüller nachgerückt, der bereits in der 16. Legislatur-periode Mitglied des Deutschen Bundestages war. Fürden verstorbenen Kollegen Andreas Schockenhoff hatdie Kollegin Ronja Schmitt die Mitgliedschaft im Deut-schen Bundestag erworben. Schließlich ist der KollegeThorsten Hoffmann für den ausgeschiedenen KollegenRonald Pofalla als Mitglied des Deutschen Bundestagesnachgerückt. Ich darf Sie im Namen des Hauses herzlichbegrüßen und wünsche uns und Ihnen eine gute Zusam-menarbeit.
Wir müssen noch eine Wahl durchführen. Die SPD-Fraktion schlägt vor, als ordentliches Mitglied des Bei-rats bei der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas,Telekommunikation, Post und Eisenbahnen den Kol-legen Johann Saathoff als Nachfolger für den KollegenDirk Becker zu berufen. – Dagegen gibt es offenkundigkeinen Widerspruch. Dann ist der Kollege Saathoff alsordentliches Mitglied des Beirats gewählt.Interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesord-nung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punktezu erweitern:ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionender CDU/CSU und SPDBundeshaushalt 2014 ohne neue Schulden
ZP 2 Abgabe einer Regierungserklärung durch dieBundeskanzlerinanlässlich der Terroranschläge in FrankreichZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten NicoleMaisch, Friedrich Ostendorff, Harald Ebner,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENGute Ernährung für alleDrucksache 18/3733Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachtenVerfahren
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten UllaJelpke, Sevim Dağdelen, Jan Korte, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion DIE LINKEDeutsche Beteiligung an der EU-Polizeimis-sion in der Ukraine beendenDrucksache 18/3314Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Federführung strittigb) Beratung des Antrags der Abgeordneten SabineLeidig, Herbert Behrens, Caren Lay, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKE so-wie der Abgeordneten Matthias Gastel, Cem
Metadaten/Kopzeile:
7474 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Präsident Dr. Norbert Lammert
(C)
(B)
Özdemir, Harald Ebner, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENOffene Fragen zum Bahnhofsprojekt Stutt-gart 21 aufklärenDrucksache 18/3647Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschussZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der FraktionDIE LINKEGriechenlands Zukunft im Euro-RaumVon der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden.Der Tagesordnungspunkt 3 – Aktionsplan „ZivileKrisenprävention“ – wird von der heutigen Tagesord-nung abgesetzt. Stattdessen wird die Bundeskanzlerineine Regierungserklärung anlässlich der Terroranschlägein Frankreich abgeben.Schließlich mache ich noch auf mehrere nachträgli-che Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatz-punktliste aufmerksam:Der am 18. Dezember 2014 überwie-sene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich demAusschuss für Wirtschaft und Energie
zur Mitberatung überwiesen werden:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiter-entwicklung des Personalrechts der Beam-tinnen und Beamten der früheren DeutschenBundespostDrucksache 18/3512Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss
InnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Wirtschaft und EnergieDer am 14.November 2014 überwiesenenachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Aus-schuss für Wirtschaft und Energie zurMitberatung überwiesen werden:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Dämp-fung des Mietanstiegs auf angespanntenWohnungsmärkten und zur Stärkung des Be-stellerprinzips bei der Wohnungsvermittlung
Drucksache 18/3121Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitDer am 18. Dezember 2014 überwie-sene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Auswärti-gen Ausschuss , dem Innenausschuss
und dem Ausschuss für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung zurMitberatung überwiesen werden:Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENIguala ist kein Einzelfall – Zur Menschen-rechtslage in MexikoDrucksache 18/3552Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger AusschussInnenausschussAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungDer am 18. Dezember 2014 überwie-sene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Auswärti-gen Ausschuss , dem Ausschuss für Men-schenrechte und Humanitäre Hilfe unddem Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung zur Mitberatung über-wiesen werden:Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, Irene Mihalic, Uwe Kekeritz,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENSicherheitsabkommen brauchen StandardsDrucksache 18/3553Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Auswärtiger AusschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungSind Sie mit diesen Veränderungen der Tagesordnungeinverstanden? – Ich höre dazu keinen Widerspruch.Dann ist das so beschlossen.Liebe Kolleginnen und Kollegen! Exzellenzen! LiebeGäste auf der Besuchertribüne! Meine Damen und Her-ren! In der vergangenen Woche wurde Frankreich vonbrutalen terroristischen Anschlägen erschüttert. 17 Men-schen wurden skrupellos ermordet, andere zum Teil le-bensgefährlich verletzt: Journalisten, Künstler und Poli-zisten, die für die Republik ihren Dienst taten, unterihnen ein Muslim, sowie vier Franzosen jüdischen Glau-bens. Die Ereignisse haben uns alle schockiert undempört; denn wir haben sofort verstanden: Der Mord-anschlag von Paris galt nicht allein einer bestimmtenZeitung und den Menschen, die sie machen, er galt derFreiheit der Meinung und der Presse. Er war ein de-monstrativer Angriff auf die freie und offene Gesell-schaft, auf unsere geschriebene und ungeschriebene Ver-fassung, unsere Überzeugungen und unsere Werte.Wir fühlen uns mit unseren französischen Freundenverbunden im Schmerz und in der Trauer um die Opfer,aber auch in der Entschlossenheit, dieser Herausforde-rung gemeinsam zu begegnen. Franzosen und mit ihnenMenschen überall in der Welt, auch viele Deutsche, ge-ben seit Tagen eine ebenso entschiedene Antwort auf
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7475
Präsident Dr. Norbert Lammert
(C)
(B)
diesen Angriff auf die Grundlagen unseres gesellschaft-lichen Zusammenlebens. Die demonstrativ erhobenenStifte und Plakate als Zeichen für das freie Wort, die mil-lionenfach geteilte Parole „Je suis Charlie“, „Ich binJournalist, bin Jude, bin Polizist, bin Ahmed“, vermittelndie unmissverständliche Botschaft: „Nous sommes tousCharlie“. Wir alle sind gemeint. Wir lassen uns nicht ein-schüchtern, und schon gar nicht werden wir die Prin-zipien aufgeben, die seit der Französischen Revolutiongemeinsame Grundlage der europäischen Zivilisationgeworden sind: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.
Wir sind überzeugt: Wenn es Freiheit geben soll,muss sie für alle gelten. Wenn es Gleichheit geben soll,muss sie für alle Menschen gleiche Rechte und Pflichtenbedeuten, unabhängig von Herkunft, Glaube und Ge-schlecht. Wenn Brüderlichkeit mehr ist als ein Wort,muss sie sich in Solidarität für die Schwächeren, die Är-meren, die Benachteiligten in unseren Gesellschaftenausdrücken.Demokratie ist die in Europa gewachsene Verfassungder Freiheit. Aber wir wissen auch, zumal aus der langenschwierigen eigenen Geschichte, dass Freiheit nur mög-lich ist, wenn Zweifel erlaubt sind: Zweifel an dem, waswir kennen, was wir gelernt haben, was wir wissen undzu wissen glauben, was wir zu glauben gelernt haben.Der Zweifel ist der Zwillingsbruder der Freiheit. OhneZweifel an tradierten Positionen und Kritik an bestehen-den Verhältnissen gibt es weder Fortschritt noch Frei-heit. Deshalb hat die Freiheit der jeweils eigenen Mei-nung, der Rede, der Kunst und nicht zuletzt der Presseeine herausragende, unaufgebbare Bedeutung für die Le-bensbedingungen in unseren demokratisch verfasstenGesellschaften. Deshalb werden wir sie von niemandemzur Disposition stellen lassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Entschlossen-heit braucht es über den Tag hinaus; denn die Bedrohungist nicht eingebildet, sie ist real, jederzeit und überall,auch bei uns. Wir werden in Staat und Gesellschaft stär-ker als bisher vorbeugend handeln müssen, wollen wirverhindern, dass junge Männer und auch Frauen für denIslamismus und Dschihadismus anfällig werden undfrustriert, verblendet und verführt von Deutschland ausfür eine menschenverachtende Ideologie in einen gottlo-sen Krieg ziehen.Mit Kulturkampf hat Terrorismus sicher nichts zu tun,mit Religion schon gar nicht. Unser Gegner ist nicht derIslam, sondern der Fanatismus,
nicht Religion, sondern Fundamentalismus.Wir dürfen auch nicht übersehen, dass es längst einenerbitterten Machtkampf in der islamisch geprägten Weltgibt, der wenig mit Religion, aber viel mit platten Herr-schaftsansprüchen zu tun hat.Wer in Deutschland die angebliche „Islamisierung desAbendlandes“ auf öffentlichen Straßen und Plätzen pro-klamiert, betreibt Demagogie statt Aufklärung.
Wer wirklich an Aufklärung interessiert ist, muss sichals Christ fragen, ob er Muslimen vorurteilslos und auf-geschlossen gegenübertritt und ihnen einen gleichbe-rechtigten Platz in unserer Gesellschaft ermöglicht. Wemunter den Muslimen über rhetorische Floskeln hinaustatsächlich an Aufklärung gelegen ist, muss sich mit derFrage auseinandersetzen, warum noch immer im NamenAllahs Menschen verfolgt, drangsaliert und getötet wer-den.
Diese Herausforderung, meine Damen und Herren,begegnet uns allerdings nicht nur als unerklärliche undunentschuldbare Tat verirrter einzelner Fanatiker. Auchmit staatlicher Autorität wird im Namen Gottes gegenMindeststandards der Menschlichkeit verstoßen.Saudi-Arabien hat wie beinahe alle Länder dieserWelt das Attentat in Paris „als feigen Terrorakt“ verur-teilt, „der gegen den wahren Islam verstößt“, und zweiTage später den Blogger Raif Badawi in Jeddah öffent-lich auspeitschen lassen. Wegen Beleidigung des Islamsund Auflehnung gegen die Autoritäten ist er zu tausendPeitschenhieben verurteilt worden, die nach dem Urteilin den nächsten 20 Wochen alle acht Tage vollzogenwerden sollen.Die gutgemeinte Erklärung, man dürfe den Islamnicht mit dem Islamismus verwechseln, der religiös be-gründete Terrorismus habe mit dem Islam nichts zu tun,reicht nicht aus – und sie ist auch nicht wahr, ebenso we-nig wie die beschwichtigende Behauptung, die Kreuz-züge hätten nichts mit dem Christentum zu tun und dieInquisition auch nicht und die Hexenverbrennung natür-lich auch nicht.Die Zusammenhänge sind jeweils offenkundig. DieFrage, wie die gezielte Demütigung und Vernichtungvon Menschen im Namen Gottes überhaupt möglich ist,und die noch wichtigere Frage, wie sichergestellt werdenkann, dass so etwas nie wieder geschieht, sind durch Ta-buisierung nicht zu beantworten.
Umso notwendiger und wichtiger ist die eindeutigeStellungnahme von führenden Repräsentanten islami-scher Vereine und Verbände, wie wir sie am Dienstag-abend am Brandenburger Tor eindrucksvoll erlebt haben.Deshalb möchte ich den Veranstaltern und allen Teilneh-mern an dieser Kundgebung meinen Dank und unserenRespekt ausdrücken.
Ich freue mich, dass heute Morgen an dieser Veran-staltung im Deutschen Bundestag neben den Botschaf-tern Frankreichs und Israels Repräsentanten aller Reli-gionsgemeinschaften teilnehmen, die ich herzlich beiuns begrüße.
Meine Damen und Herren, religiöse Orientierungenhaben für gesellschaftliches wie für politisches Handelnweltweit keineswegs an Bedeutung verloren, sondern of-fensichtlich zugenommen. Religion und persönliche
Metadaten/Kopzeile:
7476 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Präsident Dr. Norbert Lammert
(C)
(B)
Glaubensüberzeugungen gehören auch zur Lebenswirk-lichkeit in Deutschland als einem säkularen Staat. Dasfriedliche Zusammenleben von Menschen, Völkern, Na-tionen und Kulturen ist aber nur möglich auf der Basisvon Verständigung, Verständnis und Toleranz. Deshalbist die Ermutigung zum Dialog richtig.Ein solcher Dialog von Menschen unterschiedlicherÜberzeugungen und mit unterschiedlicher kulturellerHerkunft hat aber nur dann Aussicht auf Erfolg, wenndie Bereitschaft besteht, zuzuhören, dazuzulernen undunterschiedliche Überzeugungen wechselseitig zu re-spektieren. Auch und gerade in liberalen Gesellschaftengilt, dass die wechselseitige Rücksichtnahme im priva-ten wie im öffentlichen Leben das Zusammenleben er-leichtert. Es ist auch Politikern zumutbar, Journalistenund Künstlern nicht weniger, mit den Freiheitsrechtenunserer Verfassung verantwortlich umzugehen und Rück-sicht zu nehmen auf das, was anderen buchstäblich hei-lig ist.
Die ganz große Mehrheit in unserem Land bekenntsich zur religiösen Vielfalt, zur weltoffenen Gesellschaft.Deutschland steht zu seiner humanitären Verpflichtung,Menschen, die traumatisiert dem Krieg und immer häu-figer dem islamistischen Terror entkommen sind, Schutzzu bieten, und es nimmt im internationalen Bündnisseine Aufgabe wahr, Staaten und Völkern, die unter demTerror leiden, beizustehen. Über unsere Betroffenheitangesichts des Anschlags in Frankreich vergessen wirnicht, dass zeitgleich unschuldige Menschen, daruntervor allem Muslime, zu Tausenden Opfer des Terrorismuswerden, unvorstellbare Verbrechen mit unglaublichenBegründungen, in Nigeria, in Pakistan, in Syrien oderdem Irak – jeden Tag!Wir alle müssen die Werte der westlichen Demokra-tie, die längst universelle Werte der Menschheit gewor-den sind, gemeinsam verteidigen, und wir werden ihreGegner entschlossen bekämpfen. Die Idee der unantast-baren Würde des Menschen wird am Ende stärker seinals ideologisch verblendeter Hass.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere besondereSolidarität gilt in diesen Tagen unseren französischenFreunden. Unser tiefes Mitgefühl ist bei allen Angehöri-gen der Getöteten und bei den vielen Verletzten.Ich bitte Sie, sich im Gedenken an die Opfer, als Zei-chen unseres Respektes, unserer Anteilnahme und unse-rer Solidarität von den Plätzen zu erheben.
Ich danke Ihnen.Ich rufe nun den Zusatzpunkt 2 unserer Tagesordnungauf:Abgabe einer Regierungserklärung durch dieBundeskanzlerinanlässlich der Terroranschläge in FrankreichNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-rung 60 Minuten vorgesehen. – Hierzu stelle ich Einver-nehmen fest. Dann verfahren wir so.Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hatdie Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Wir sind erschüttert und fas-sungslos über den Tod von 17 unschuldigen Menschen,die am Mittwoch der vergangenen Woche in Paris demblanken Hass des internationalen Terrorismus zum Opfergefallen sind. Unser Mitgefühl gilt den Angehörigen derOpfer, den Verletzten und dem französischen Volk. Ichhabe Präsident Hollande das tiefempfundene Beileid derMenschen in Deutschland übermittelt.Deutschland und Frankreich verbindet eine besondereFreundschaft. Deutschland und Frankreich stehen in die-sen schweren Tagen zusammen. Deutschland und Frank-reich stehen in dem Bewusstsein zusammen, dass eshier, bei uns in Deutschland, keine Sicherheit gibt, wennes dort, in Frankreich, keine Sicherheit gibt. Wir stehenin dem Bewusstsein zusammen, dass das deutsche unddas französische Schicksal in unserer globalisierten Weltuntrennbar miteinander verbunden sind. Wir stehen auchin dem Bewusstsein zusammen, dass der Terror nichterst mit dem 11. September 2001 in die Welt gekommenist und dass er auch nicht von heute auf morgen ver-schwinden wird.Terror war nie weg. Terror hat immer existiert: in denKonzentrationslagern, in den Gulags, in den Morden anWalther Rathenau oder Matthias Erzberger, in den Mor-den an Martin Luther King, an Zoran Djindjic, an HannsMartin Schleyer oder in den schrecklichen Morden desNSU. Diese Aufzählung ist beileibe nicht vollständig,schon gar nicht systematisch; darauf kommt es mir auchgar nicht an.Terror steckt auch in den Bomben auf Deutsche, diein Tunesien Urlaub machen wollten, oder in den Bom-ben, die in Bussen zündeten, die durch israelische Städtefuhren. Terror steckt auch in der beklemmenden Abfolgeder Mordtaten, die wir allein im letzten Jahr erlebenmussten: in der Enthauptung von Geiseln im Irak, in dergrausamen Verfolgung und Ermordung aller, die sich derHerrschaft und der totalitären Glaubensauslegung des ISim Irak und in Syrien entgegenstellen, im Anschlag aufdas Jüdische Museum in Brüssel, in den tödlichenSchüssen auf einen kanadischen Soldaten vor dem Parla-ment in Ottawa, in der Geiselnahme und Ermordung vonMitarbeitern und Gästen eines Cafés in Sydney, in demauch in seiner Dimension kaum fassbaren Massenmordan mehr als 100 Kindern in einer Schule in Pakistan, inden Gräueltaten der Gruppe Boko Haram in Nigeria, de-ren ganzes Ausmaß wir nur erahnen können.Nun, zu Beginn des neuen Jahres, hat der Terror Pariserschüttert. Er richtete sich gegen drei Gruppen vonMenschen: gegen die Journalisten von Charlie Hebdo,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7477
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(C)
(B)
ermordet für ihre Zeichnungen, gegen die Polizisten, er-mordet in Ausübung ihres Dienstes, gegen die Kundeneines koscheren Supermarkts, ermordet, weil sie Judenwaren oder die Mörder davon ausgingen, dort Juden an-zutreffen.In den schlimmen Stunden, die Paris und die Franzo-sen zwischen Mittwochmittag und Freitagnachmittag derletzten Woche durchlitten, ging es um zwei der großenÜbel unserer Zeit, die nicht immer, aber häufig Hand inHand gehen: um mörderischen islamischen Terrorismusund Antisemitismus, den Hass auf Juden. Wir gedenkenheute hier im Bundestag der 17 bei diesen Anschlägenermordeten Menschen.Das weltweite Entsetzen über die Anschläge und derTrotz, mit dem viele reagiert haben, hatten schnell zweiSymbole: „Je suis Charlie“, die Plakate, die die Men-schen als Zeichen ihrer Identifikation mit der Satirezei-tung hochhielten, und die Zeichenstifte, das Werkzeugder Karikaturisten. Millionen Menschen aus aller Weltspüren, dass es in der Auseinandersetzung mit den Ter-roristen um eine unserer Grundfreiheiten geht: um dieFreiheit der Presse, die Freiheit, zu schreiben, zu filmen,zu veröffentlichen – ohne Zensur. Es ist der Artikel 5 un-seres Grundgesetzes, der diese Freiheit garantiert. Er ge-hört für mich neben dem Artikel 1 zur Unantastbarkeitder Würde des Menschen, dem Artikel 2 zur freien Ent-faltung der Persönlichkeit, dem Artikel 3 zur Gleichheitaller Menschen vor dem Gesetz und dem Artikel 4 zurFreiheit des Glaubens zu den größten Schätzen unsererGesellschaft.
Die Pressefreiheit ist nicht zu trennen von der Mei-nungsfreiheit des einzelnen Bürgers. Ja, Bürger sein undnicht Untertan, das ist doch nur möglich, wenn es einefreie Presse gibt, wenn wir ungehindert an die Informa-tionen kommen können, die uns eine eigene Meinung,ein eigenes Urteil erlauben.Viele Staaten auf der Welt haben sich auf dem Papierihrer Gesetze und Verfassungen der Pressefreiheit ver-schrieben. Die Wirklichkeit spricht oft eine andere Spra-che: „Reporter ohne Grenzen“ listet für 2014 66 Journa-listen auf, die wegen ihrer Arbeit getötet wurden,119 Entführungen, 178 Journalisten in Haft. „Reporterohne Grenzen“ schreibt, die Morde an Journalisten wür-den immer grausamer, und die Zahl der Entführungenwachse rasant. Aus zu vielen Ländern gibt es von ver-folgten, gequälten und ermordeten Journalisten zu be-richten. Pressefreiheit auf dem Papier ist also noch nichtviel wert, sie ist immer konkret, sonst gibt es sie nicht. Inviel zu vielen Ländern dieser Welt gibt es sie nicht.Wir in Deutschland, wir in Europa haben wahrlichkeinen Grund, mit erhobenem Zeigefinger zu sprechen,zu leidvoll war das jahrhundertelange Blutvergießen aufunserem Kontinent, bis hin zum von Deutschland began-genen Zivilisationsbruch der Schoah. Aber wir könnennach all den Schrecken der Vergangenheit davon erzäh-len, dass wir in Europa endlich einen Umgang mit unse-rer Vielfalt gelernt haben, der aus dieser Vielfalt dasmeiste macht. Wir können davon erzählen, dass die Ei-genschaft, die uns dazu befähigt hat, die Toleranz ist. Sieist eine anspruchsvolle Tugend. Sie ist nicht mit Stand-punktlosigkeit zu verwechseln, wie auch die Freiheitniemals mit Bindungslosigkeit zu verwechseln ist, son-dern stets und für jeden mit Verantwortung verbundenist. Das gilt für unser persönliches Leben wie für diePolitik wie auch für die Medien; das gilt für alle.Freiheit und Toleranz haben niemals das geringsteVerständnis für Gewalt durch Links- oder Rechtsextre-mismus, für Antisemitismus oder für Gewalt im Nameneiner Religion. Freiheit und Toleranz sind ihre eigenenTotengräber, wenn sie sich nicht vor Intoleranz schützen.Religionsfreiheit und Toleranz meinen nicht, dass imZweifelsfall die Scharia über dem Grundgesetz steht.Freiheit und Toleranz bedeuten nicht wegsehen oder dasMessen mit zweierlei Maß.Ich bin am Sonntag zusammen mit meinen Kollegenaus der Bundesregierung, den Ministern Sigmar Gabriel,Thomas de Maizière und Frank-Walter Steinmeier, inParis gewesen. Auch die Vizepräsidentin des DeutschenBundestages, Claudia Roth, der stellvertretende Frak-tionsvorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Hans-PeterFriedrich, und die Vorsitzenden von Bündnis 90/DieGrünen, Simone Peter und Cem Özdemir, waren da, umden Millionen von Franzosen auf den Straßen und Plät-zen Frankreichs zu zeigen: Deutschland fühlt sich ihnenin Freundschaft und Solidarität nah.Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass dieMörder von Paris mit ihren Taten jeden mitfühlendenMenschen angewidert und abgestoßen haben, dann ha-ben die mehr als 3 Millionen Menschen in Paris und an-deren französischen Städten am Wochenende wie auchdie Menschen vorgestern bei der Mahnwache am Bran-denburger Tor diesen Beweis geliefert.
Es ist ein Meer von Freiheitsfreunden, die im Angesichtder Verbrechen das Gemeinsame ineinander entdecken– vielleicht klarer als je zuvor –, ein Meer von Bürgern,die sich aufrichten, wenn der Terror sie in die Knie zwin-gen will, ein Meer von Menschen, das sich nicht derkranken Logik der Terroristen folgend in christlich, mus-limisch, jüdisch, nichtgläubig spalten lässt.Auch wir in Deutschland wollen und werden unsnicht spalten lassen. Wir lassen uns nicht spalten von de-nen, die heute Menschen in Deutschland anpöbeln, be-drohen und angreifen, wenn sie sich irgendwie als Judenzu erkennen geben oder für den Staat Israel Partei ergrei-fen. Wir machen unmissverständlich klar: Jüdisches Le-ben gehört zu uns, es ist Teil unserer Kultur und Identi-tät. Diskriminierung und Ausgrenzung dürfen bei unskeinen Platz haben.
Deshalb werden wir antisemitische Straftaten konse-quent mit allen rechtsstaatlichen Mitteln verfolgen. DieBekämpfung des Antisemitismus ist unsere staatlicheund bürgerliche Pflicht. Das gilt genauso auch für An-griffe auf Moscheen. Auch sie nehmen wir nicht hin,auch sie werden konsequent verfolgt; denn wir lassen
Metadaten/Kopzeile:
7478 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(C)
(B)
uns nicht von denen spalten, die angesichts des islamisti-schen Terrors Muslime in Deutschland unter einen Ge-neralverdacht stellen. Jede Ausgrenzung von Muslimenin Deutschland, jeder Generalverdacht, verbietet sich.
Als Bundeskanzlerin nehme ich die Muslime in unseremLand dagegen in Schutz, und das tun wir in diesemHause alle.
Die allermeisten Muslime in Deutschland sind recht-schaffene, verfassungstreue Bürger. Wir müssen hierzweierlei auseinanderhalten: Wir garantieren, dass derGlaube des Islam in Deutschland im Rahmen unsererVerfassung und der übrigen Gesetze frei ausgeübt wer-den kann, und wir bekämpfen jede Form islamistischerGewalt mit der ganzen Entschlossenheit unseres Rechts-staates.Das bedeutet unter anderem:Erstens. Hassprediger und Gewalttäter, die im Namendes Islam vorgehen, ihre Hintermänner und geistigenBrandstifter des internationalen Terrorismus werden mitaller Konsequenz und mit allen Mitteln bekämpft, dieuns als Rechtsstaat zur Verfügung stehen.Zweitens. Die Bundesregierung hat gestern die Ein-führung eines Ersatz-Personalausweises beschlossen,der nicht zum Verlassen Deutschlands berechtigt. Damitwollen wir die Ausreise deutscher Staatsbürger in Kon-fliktgebiete und Terrorlager unterbinden; denn wir be-trachten das Phänomen der Ausreise zumeist jungerMenschen, die sich in Syrien und im Irak terroristischenGruppierungen anschließen, mit großer Sorge. Diejeni-gen, die später nach Deutschland zurückkehren, habenmit ihrer zunehmenden Verrohung auch für uns inDeutschland das größte Gefahrenpotenzial.Drittens. Die Bundesregierung wird in Kürze das Ge-setzesvorhaben des Justizministers zur verbesserten Be-kämpfung der Terrorismusfinanzierung und zur Strafbar-keit der Ausreise in Konfliktgebiete beschließen. Eshandelt sich hierbei um die Umsetzung der entsprechen-den UN-Resolution.Viertens. Der Europäische Rat im Februar 2015 wirdsich auch mit den Maßnahmen befassen, die die Innen-minister von elf EU-Mitgliedstaaten am letzten Wochen-ende in Paris beraten haben: Maßnahmen zum Kampfgegen den illegalen Waffenhandel, zur Zusammenarbeitder Transitstaaten, zur Überwachung der Reisebewegun-gen an den EU-Außengrenzen und zum Abgleich derFluggastdaten von Gefährdern.Fünftens. Wir müssen den Sicherheitsbehörden insge-samt die erforderliche personelle und finanzielle Aus-stattung verschaffen, die sie benötigen, um unsere Si-cherheit bestmöglich zu gewährleisten.
Wir müssen sie in die Lage versetzen, ihre Arbeit auchunter veränderten Lageanforderungen und verändertentechnischen Rahmenbedingungen zu erbringen. Demdient auch die Novelle des Bundesverfassungsschutzge-setzes, und ich möchte diese Möglichkeit nutzen, um al-len, die sich um die Sicherheit unseres Landes verdientmachen, ein herzliches Dankeschön zu sagen.
Sechstens. Der Europäische Gerichtshof und das Bun-desverfassungsgericht haben den Rahmen beschrieben,in dem eine Regelung der Mindestspeicherfristen fürKommunikationsdaten erfolgen kann. Angesichts derparteiübergreifenden Überzeugung aller Innenministervon Bund und Ländern, dass wir solche Mindestspei-cherfristen brauchen, sollten wir darauf drängen, dassdie von der EU-Kommission hierzu angekündigte über-arbeitete EU-Richtlinie zügig vorgelegt wird, um sie an-schließend auch in deutsches Recht umzusetzen.
Siebtens. Bei der Arbeit unserer deutschen Nachrich-tendienste und auch bei der Zusammenarbeit mit unserenPartnerdiensten muss ohne jeden Zweifel stets die Ba-lance von Freiheit und Sicherheit gewahrt werden. Aberebenso ohne jeden Zweifel ist und bleibt der Informa-tionsaustausch auch über Ländergrenzen hinweg für un-sere Sicherheit absolut unverzichtbar.
Achtens. Deutschland wird sich als Teil der interna-tionalen Gemeinschaft unvermindert politisch, humani-tär sowie mit militärischer Ausrüstung und Ausbildungam Kampf gegen die Terrormiliz IS im Irak oder in Sy-rien beteiligen. Unsere Beteiligung wird nicht in Syrienstattfinden, aber die IS ist dort tätig.Neuntens. Wahrlich nicht zuletzt müssen wir daraufhinwirken, dass sich junge Menschen bei uns gar nichterst von extremistischen Rattenfängern angesprochenfühlen. Die Bundesregierung unterstützt deshalb vielfäl-tige Aktivitäten und Projekte, die Toleranz fördern, So-zialkompetenz und Demokratieverständnis stärken, ge-rade auch für die Jugend- und Elternarbeit. Wir müssenbereits in den Familien allen Formen extremistischerDiskriminierung und Gewalt den Boden entziehen.Meine Damen und Herren, Terroristen sagen, siewollten den Staat und seine Repräsentanten, den Westen,ein System oder wie immer es heißt, treffen. Auslösersoll eine misslungene Kindheit, eine misslungene Schul-karriere, persönliche Zurücksetzung sein. Andere sagen,außerdem sei Religion im Spiel. – Nein, all das über-zeugt mich nicht.Jeder Terrorist, der eine Explosion auslöst oder derSchüsse abgibt, weiß, dass er Menschen trifft, die er inder Regel nicht einmal kennt, die ihm nichts getan ha-ben, die ihm nichts schuldig sind. Jeder Terrorist trifftdaher eine eigene persönliche Entscheidung, für die er
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7479
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(C)
(B)
die Verantwortung übernehmen muss. Sie kann mit einermisslungenen Kindheit nicht gerechtfertigt werden. Siehat auch mit Religion insgesamt nichts zu tun.
Wahrscheinlich hat sie mit einer speziellen Auslegungvon Religion zu tun, die in der Anmaßung besteht, ander Stelle Gottes handeln, strafen, töten zu dürfen. Dasaber ist für mich Gotteslästerung; nichts anderes.
Die tatsächlichen Beweggründe von Terrorismus lie-gen anderswo. Sie liegen in der Überzeugung, über an-deren zu stehen, weil man meint, Gottes Stellvertretungzu sein, weil man eine historische Mission haben will,weil man überzeugt ist, durch Glaube, Herkunft, Ab-stammung, Geschlecht über anderen zu stehen.Die allermeisten Menschen in Deutschland sind keineFeinde des Islam. Sie sind in ihrem Urteil unsicher, auchratlos. Sie sind nicht mit dem Koran aufgewachsen, ichpersönlich auch nicht. Sie tun sich schwer damit, wennich den Gedanken des früheren BundespräsidentenWulff unterstütze, als er zum Tag der Deutschen Einheitim Jahre 2010 sagte – ich zitiere ihn noch einmal –:Zuallererst brauchen wir aber eine klare Haltung,ein Verständnis von Deutschland, das Zugehörig-keit nicht auf einen Pass, eine Familiengeschichteoder einen Glauben verengt, sondern breiter ange-legt ist. Das Christentum gehört zweifelsfrei zuDeutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zuDeutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Ge-schichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zuDeutschland.
Die Menschen fragen mich, welcher Islam gemeintist, wenn ich diesen Gedanken zitiere. Sie wollen wis-sen, warum Terroristen den Wert eines Menschenlebensso gering schätzen und ihre Untaten stets mit ihremGlauben verbinden. Sie fragen, wie man dem wieder undwieder gehörten Satz noch folgen kann, dass Mörder, diesich für ihre Taten auf den Islam berufen, nichts mit demIslam zu tun haben sollen. Ich sage ausdrücklich: Dassind berechtigte Fragen. Ich halte eine Klärung dieserFragen durch die Geistlichkeit des Islam für wichtig, undich halte sie für dringlich. Ihr kann nicht länger ausgewi-chen werden.
Meine Damen und Herren! Wir alle haben Fremdbil-der im Kopf. Niemand von uns ist ohne Fremdbilder. Siebestehen aus Erfahrungen, Gehörtem, aus ungeprüfteneigenen Vorstellungen, auch aus Ängsten. Sie sind teilsrichtig und teils falsch. Bei manchen werden Fremdbil-der zu Feindbildern. Das lässt sich durch Aufklärungund Kennenlernen verhindern.Langfristig hilft nur Demokratie als Lebensprinzip. Inder Schule können Heranwachsende lernen, wie Stand-punkte zu entwickeln sind und dass das bessere Argu-ment am Ende zählt. In den Schüler- und Jugendvertre-tungen kann gelernt werden, wie legitime Ansprüchedurchgesetzt und Kompromisse geschlossen werden.Auch Betriebs- und Personalräte können Schulen derDemokratie sein, ebenso Sportvereine, in denen erfahrenwerden kann, wie das Einhalten von Regeln allen dient.In den Städten und Gemeinden engagieren sich un-zählige Bürger unseres Landes. Sie beraten, weil sie Be-scheid wissen. Viele finden den Weg in die Kommunal-parlamente. Sie stellen sich der Wahl der Bürgerinnenund Bürger. Tausende verbringen ihre Freizeit damit,sich in der Kirchenarbeit zu engagieren. Bis ins hohe Al-ter arbeiten Frauen und Männer für andere, sorgen sichdarum, dass Altersgenossen mit Lebensmitteln versorgtwerden, begleiten sie, bringen Patienten in Krankenhäu-sern Lesestoff und setzen sich an ein Bett, um ein Ge-spräch zu beginnen. Diese Bürgerinnen und Bürger, siesind die stillen Helden unseres Lebens.
Wir sollten unsere Gesellschaft wachrütteln für diesesLebensprinzip der Demokratie: für das Mitreden, Mit-entscheiden, Hilfeleisten und dafür, Verantwortung zuübernehmen. Kaum etwas ist wichtiger für unser Le-bensgefühl als die Erfahrung, geschätzt, gebraucht undin dieser großen zivilen Gemeinschaft der Freiheit undVerantwortung respektiert zu werden. Das ist unser Ge-genentwurf zur Welt des Terrorismus, und er ist stärkerals der Terrorismus.Herzlichen Dank.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bun-deskanzlerin, ich stimme Ihnen bei der schärfsten Verur-teilung der erlebten Terroranschläge in vollem Umfangezu. Ich begrüße auch die gemeinsame Verurteilung durchden Bundestag, halte diese allerdings für selbstverständ-lich.Diese Attentate sind ein Angriff auf die Demokratie,die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit und das Rechtauf Leben. Es ist völlig legitim, Satire mal als ge-schmackvoll, mal als geschmacklos einzuschätzen. AberSatire darf alles, sonst kann sie ihren Charakter nichtaustragen.
Metadaten/Kopzeile:
7480 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Dr. Gregor Gysi
(C)
(B)
Ein großes Erlebnis war für mich die Mahnwache amBrandenburger Tor auf Einladung der muslimischen Ver-bände. Die gemeinsame Verurteilung der terroristischenAkte durch Christinnen und Christen, Muslima undMuslime, Jüdinnen und Juden, Atheistinnen und Atheis-ten, kurz: durch die gesamte Gesellschaft, war ein wich-tiger Akt.Wir müssen nun allerdings den Missbrauch der Ter-roranschläge durch die Anführer der Pegida-Bewegungverhindern.
Ein demokratisches, tolerantes und weltoffenes Zusam-menleben mit friedlichen Bürgerinnen und Bürgern,auch mit anderer Kultur und anderen Religionen, mussgefördert werden. Die große Mehrheit der Menschenging für diese Ziele auf die Straße. Pegida spricht füreine Minderheit, nicht für das Volk. Die große Mehrheitdenkt und handelt völlig anders.
Deshalb ist es wichtig, dass wir Pegida geschlossen ver-urteilen. Niemand sollte versuchen, zum halben parla-mentarischen Arm dieser Bewegung zu werden.
Es existieren abstrakte Ängste vor dem Fremden. Mit-läufer, die keine Nazis sind, müssen wir für die Gesell-schaft zurückgewinnen; das wird schwer genug. Wirbrauchen eine gemeinsame Aufklärungskampagne durchein Aufklärungsbündnis aller Fraktionen im Bundestag,aller kirchlichen Konfessionen und aller Gewerkschaftenzusammen mit der Kunst, der Kultur, dem Sport und denWissenschaften.
Aber die Hauptverantwortung liegt bei der Politik. Ichsage das hier so offen: Beim Abbau von Ängsten habenwir alle versagt. Wir sollten diesbezüglich selbstkritischüber uns nachdenken.
Menschen in Not brauchen Hilfe. Staat und Gesell-schaft sind verpflichtet, ihnen zu helfen. Das gilt nichtnur für durch Krieg und Bürgerkrieg traumatisierteFlüchtlinge, sondern auch für alle Bürgerinnen und Bür-ger, die in große Not geraten sind. Deshalb müssen wirallen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern, wie Siees getan haben, Frau Bundeskanzlerin, danken, die soviel Zeit damit zubringen, Flüchtlingen und anderen zuhelfen.
Aber ich füge hinzu: Die Demonstrantinnen und Demon-stranten von Pegida würden, wenn sie in der gleichen Si-tuation wären wie die Flüchtlinge, ebenso Hilfe verlan-gen und erwarten und wahrscheinlich auch bekommen.Der Ruf der Union nach stärkeren Geheimdienstensowie schärferen Gesetzen und insbesondere nach einerVorratsdatenspeicherung löst – das gilt auch für das, wasSie dazu gesagt haben, Frau Bundeskanzlerin – die Pro-bleme nicht, im Gegenteil.
Dieser Versuch wurde jedes Mal unternommen und bliebwirkungslos. In Frankreich gibt es eine umfassende Er-fassung von Vorratsdaten sowie eine sehr enge Zusam-menarbeit von Geheimdiensten und Polizei. Das schreck-liche Attentat konnte so aber nicht verhindert werden.Das Gegenteil ist richtig: Umfassende Bürgerrechte undeine stärkere Demokratie sind wichtige Voraussetzungenim Kampf gegen den Terrorismus.
Der Terrorismus, für den der Islam missbraucht wird,hat Ursachen. Al-Qaida und „Islamischer Staat“ sindauch Folge und Produkte von Militärinterventionen. Al-Qaida entstand im Krieg in Afghanistan während der Be-satzung durch die Sowjetunion. Damals rüsteten dieUSA die Taliban und diese Terrorgruppe im Kampf ge-gen die Sowjetunion auf nach dem Motto „Der Feindmeines Feindes ist mein Freund“. Nach dieser Logikwurde auch im Bürgerkrieg in Syrien verfahren. DieUSA, Saudi-Arabien, Katar und andere Golfstaaten un-terstützten Terrororganisationen im Kampf gegen Assad.Der „Islamische Staat“ entstand. Erst spät, viel zu spätwurde diese offene Unterstützung eingestellt. Der Irak-krieg von 2003 war völkerrechtswidrig und ein großerFehler mit verheerenden Folgen.
Wenn wir die Ursachen und Bedingungen von Terro-rismus wirksam bekämpfen wollen, dann heißt das füruns: Wir müssen weltweit für die Achtung des Rechtsauf Leben eintreten.
Das wiederum verlangt, zu begreifen: Erstens. Die Stra-tegien von NATO und den USA, Regimewechsel und dieDurchsetzung ökonomischer Interessen von außen durchKrieg herbeizuführen, sind nicht nur gescheitert. ImKrieg wird Leben vernichtet. Dadurch entsteht eine Ver-achtung des Rechts auf Leben. Diese Verachtung ist eineBedingung des Terrorismus. Im Krieg entsteht mehr undneuer Hass, der zur Verachtung von Leben, aber auch zurBereitschaft zu Terrorismus führen kann. Wenn als Kol-lateralschaden eine Hochzeitsgesellschaft in Afghanistangetötet wird, was, glauben Sie von Union, SPD und Grü-nen denn, entsteht im Umfeld: Freundschaft, Dankbar-keit oder Hass?Man kann anderen Gesellschaften auch nicht eine an-dere Kultur aufzwingen. Der Afghanistan-Krieg sollteal-Qaida zerstören. Diese Terrororganisation ist aber nurumgezogen nach Pakistan und hat dort gerade über100 Kinder getötet. Not und Elend in Afghanistan habensich vergrößert. Sie alle wissen, dass Ihre Entscheidungfür den Afghanistan-Krieg falsch war, haben aber nichtden Mut, das einzuräumen und die entsprechendenSchlussfolgerungen zu ziehen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7481
Dr. Gregor Gysi
(C)
(B)
Ohne die genannte falsche Aufrüstung in Syrien undohne den falschen Irakkrieg gäbe es den „IslamischenStaat“ nicht, zumindest nicht so, wie er heute existiert.
Die Staaten in Libyen, im Irak, im Sudan und in Somaliasind zerstört. Wer Terrorismus überwinden will, mussKriege stoppen.
Deutschland darf sich nie wieder an Kriegen beteiligenund – wie beim Jugoslawien-Krieg – das Völkerrechtüber Bord werfen.Zweitens. Die deutschen Waffenexporte, zumindestdie an Diktaturen und in Kriegs- und Krisengebiete,müssen doch unverzüglich gestoppt werden, auch undgerade an das auspeitschende Saudi-Arabien.
Drittens. Terrorismus nutzt auch Hunger, Armut,Elend und Bildungsnotstand oder die Angst der Men-schen, in Hunger, Armut, Elend oder Bildungsnotstandabzustürzen, aus. Der Kampf gegen Hunger, Armut,Elend und Bildungsnotstand ist also nicht nur aus huma-nistischen Gründen, nicht nur wegen der sozialen Ge-rechtigkeit erforderlich, sondern auch, um begünsti-gende Bedingungen für den Terrorismus zu überwinden,um die Achtung für Menschenleben zu erhöhen.
Jedes Jahr sterben auf der Erde 70 Millionen Men-schen und davon 18 Millionen an Hunger oder den Fol-gen von Hunger, obwohl wir weltweit Nahrungsmittelbesitzen, die die Menschheit zweimal ernähren könnten.Wir können die Fragen der Hungernden nicht beantwor-ten, wir müssen den Hunger endlich überwinden.
Es entsteht immer mehr Reichtum in immer wenigerHänden, während sich andererseits die Armut weltweitverbreitet, auch in Europa, auch in Deutschland. Wirbrauchen eine andere Entwicklungspolitik für die Kri-senregionen, die Not und Elend überwindet, die Ent-wicklung ermöglicht; nicht die Interessen der eigenenKonzerne dürfen der Maßstab sein. Das ist übrigensauch die beste Friedenspolitik und die beste Politik zurBekämpfung von Ursachen von Flucht.Viertens. Auch die Menschheitsfragen wie die Nach-haltigkeit in der Ökologie, die Verhinderung einer Kli-makatastrophe müssen endlich gelöst werden. Wenn ge-rade bei großen Staaten ökonomische Interessen denVorrang haben, dann bringt das eine Verachtung zumRecht auf Leben zum Ausdruck.Wir brauchen also, wenn wir Terrorismus wirksambekämpfen wollen und auch aus vielen anderen Grün-den, gerade in den USA und im gesamten Westen undauch hier in Deutschland eine Wende in der Politik. Las-sen Sie uns die Situation ernst nehmen und gemeinsamüber Konsequenzen beraten.
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin
Kotting-Uhl das Wort.
Herr Gysi, ich hatte mich zu einer Zwischenbemer-
kung gemeldet, als Sie davon geredet haben, dass der
Kriegseinsatz in Afghanistan mit ursächlich für den Ter-
rorakt verantwortlich ist, der vor kurzem passiert ist, und
für den Terror insgesamt, den wir erleben. Ich möchte
mich als eine Parlamentarierin, die nie für diese Einsätze
in Afghanistan war, die keinem dieser Einsätze je zuge-
stimmt hat, sondern sie immer konsequent abgelehnt hat,
und zwar mit einer Argumentation, in der Sie, die Frak-
tion Die Linke, und ich uns durchaus nahe stehen, gegen
die Unterstellung verwahren, dass das gesamte Parla-
ment mit Ausnahme der Fraktion Die Linke diesen heu-
tigen Terror mitverursacht hat. Der Terror war vor dem
Einsatz in Afghanistan da.
Das Wort erhält nun der Kollege Thomas Oppermann
für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit denAnschlägen von Paris wollten die Terroristen nicht nurin Frankreich, sondern in ganz Europa Angst und Schre-cken verbreiten. Das war ein Angriff auf die freie Presse,das war der Versuch, freie Menschen in einer offenenGesellschaft einzuschüchtern, aber das ist den Terroris-ten nicht gelungen; sie haben ihr Ziel nicht erreicht.
Denn die Franzosen haben am Sonntag die stärksteAntwort gegeben, die man sich vorstellen kann. Sie ha-ben nicht nach Vergeltung und Rache gerufen, sie habennicht den Polizeistaat gefordert, sondern Millionen sindauf die Straße gegangen, um zu trauern, aber auch umklar zu zeigen: Wir lassen uns von den Terroristen nichtspalten, wir stehen zusammen, wir bieten dem Terror dieStirn, und wir verteidigen die Freiheit, die Demokratieund die Menschlichkeit.
Frankreich hat damit der Welt eindrucksvoll gezeigt,dass Freiheit und Demokratie stärker sind als die zerstö-rerischen Kräfte von Terror und Hass. Ich finde, dafürmüssen wir den Franzosen dankbar sein.
Die Terroranschläge in Paris lenken den Blick auchauf die Situation der Muslime in Deutschland; denn sie
Metadaten/Kopzeile:
7482 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Thomas Oppermann
(C)
(B)
haben es in diesen Zeiten schwer. Ihr Glaube, ihre Reli-gion, der Islam, wird durch die tägliche Berichterstat-tung über die Kriege im Nahen Osten und in Afrika nurnoch in der hässlichen Fratze des Dschihadismus darge-stellt und wahrgenommen. Abend für Abend setzen sichdiese Bilder in den Köpfen fest. Dass sich die Terroristenauf den Islam berufen und damit das religiöse Empfin-den vieler friedlicher Muslime mit Füßen treten, das isteigentlich schon schlimm genug. Wenn jetzt aber Millio-nen friedfertiger Muslime in Deutschland in einen Topfmit Terroristen geworfen werden, dann ist das eine un-verantwortliche politische Brandstiftung.
Wir alle wissen: Das kann leicht zu einer Eskalation derGewalt führen. Deshalb müssen wir uns jetzt vor dieMuslime stellen.
Die Organisation Pegida und ihre Demonstranten for-dere ich auf, endlich aufzuhören mit der Stimmungsma-che gegen Andersgläubige und gegen Einwanderer inDeutschland.
Diese Leute hätten dem Bundespräsidenten zuhören sol-len, als er am Dienstag auf dem Pariser Platz gesagt hat:Egal ob Juden, Christen, Muslime oder Nichtgläubige:„Wir alle sind Deutschland!“ – Das sollte sich Pegida zuHerzen nehmen.
Ich freue mich, dass an die 100 000 Menschen inLeipzig, in München, in Hannover, in Berlin und in an-deren Städten auf die Straße gegangen sind und dagegendemonstriert haben. Das zeigt, dass die demokratischeMitte in Deutschland die unsäglichen Aktionen von Pe-gida nicht länger widerspruchslos hinnehmen will.
Aber wir müssen uns auch fragen, warum sich über500 junge Menschen aus Deutschland islamistischenTerrormilizen angeschlossen haben. Der islamistischeTerror übt mit seiner Ideologie von Gewalt, Macht undMärtyrertum offenbar eine große Anziehungskraft aufimmer mehr junge Menschen aus. Unter dem Deckman-tel der Religion nutzt er die Schwäche junger Menschen.Wer keinen Schulabschluss hat, wer keine Arbeit findet,wer ein schwaches Selbstwertgefühl besitzt, wer sichausgegrenzt fühlt und keine Aufstiegschancen hat, derist anfälliger für eine solche Ideologie. Die Bundeskanz-lerin hat zu Recht darauf hingewiesen, dass das in keinerWeise Terror und Gewalt rechtfertigen kann.Aber richtig ist trotzdem: Ausgrenzung ist immer derNährboden für Radikalisierung. Deshalb müssen wirdiese Radikalisierung im Ansatz verhindern.
Deshalb ist es gut, dass die Jugendministerin die Mittelfür Prävention aufgestockt hat. Wir haben alle notwendi-gen arbeitsmarktpolitischen Instrumente. Wir müssendie Jugendlichen fördern und fordern, und wir müssensie aus dieser Ecke herausholen, bevor die salafistischenHassprediger sie dort abholen können.
Dabei müssen uns selbstverständlich auch die muslimi-schen Verbände in Deutschland unterstützen.Meine Damen und Herren, Prävention hilft vor allemauf lange Sicht. Aber im Augenblick müssen wir sagen:Was in Paris passiert ist, das kann überall in Europa pas-sieren. Wir hier in Deutschland hatten sicher auchGlück. Aber in den vergangenen Jahren ist es gelungen,mehrere Anschläge zu verhindern. Ich habe deshalb Ver-trauen in unsere Sicherheitsbehörden und möchte ihnenausdrücklich für ihre schwierige Arbeit danken.
Die Menschen erwarten zu Recht, dass wir alles tun,um uns vor diesem Terror zu schützen. Eine potenzielleGefahr sind vor allem die vielen Rückkehrer aus Syrienoder aus dem Irak. Gestern hat das Kabinett den Gesetz-entwurf des Innenministers beschlossen, um gewaltbe-reiten Dschihadisten den Personalausweis entziehen zukönnen, wenn sie ausreisen wollen. Der Justizministerwird einen Gesetzentwurf zur Bekämpfung der Terrorfi-nanzierung und zur schärferen Bestrafung von Reisen inTerrorcamps vorlegen. Das sind richtige und notwendigeSchritte.Gesetze allein aber genügen nicht. Ich will – das, wasich heute in der Zeitung über IS-Aktivisten in Wolfsburggelesen habe, bestärkt mich darin –, dass unsere Sicher-heitsbehörden in der Lage sind, gewaltbereiten Rück-kehrern 24 Stunden am Tag auf den Füßen zu stehen.Kein gewaltbereiter Syrien-Rückkehrer darf sich inDeutschland mehr unbeobachtet fühlen, meine Damenund Herren.
Wenn die personellen Ressourcen dafür nicht ausrei-chen, dann müssen wir sie rasch erhöhen.Auch über das Thema Mindestspeicherfristen solltenwir in der Koalition in Ruhe reden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7483
Thomas Oppermann
(C)
(B)
Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart:Wir werden die EU-Richtlinie über den Abruf unddie Nutzung von Telekommunikationsverbindungs-daten umsetzen.Daran fühlen wir uns gebunden. Allerdings ist die Um-setzung zurzeit nicht möglich; denn der Europäische Ge-richtshof hat die EU-Richtlinie für nichtig erklärt und füreine Neufassung sehr strenge Auflagen erteilt.Deshalb ist es jetzt an der Kommission, eine neueRichtlinie zu erarbeiten. Das sollten wir zunächst abwar-ten.
Das gebietet auch der Respekt vor den beiden höchstenGerichten in Deutschland und in der EuropäischenUnion. Wir sollten ohnehin – da stimme ich der Kanzle-rin zu, und das machte auch der französische Premiermi-nister in seiner Rede vor der Nationalversammlung deut-lich – die ganze Diskussion mit Augenmaß undNachdenklichkeit führen; denn wenn wir unsere Freiheitim Interesse einer vermeintlich perfekten Sicherheit zusehr einschränken, dann fehlt am Ende beides; dann ha-ben wir weder Freiheit noch Sicherheit.
Wenn wir Pegida und den damit verbundenen Stim-mungsmachern in unserem Land das Wasser abgrabenwollen, dann müssen wir auch offen über Einwanderungreden. Deutschland verliert im kommenden Jahrzehnt injedem Jahr 400 000 Menschen im erwerbsfähigen Alter,und diese Lücke lässt sich nicht allein durch eine Erhö-hung der Erwerbsbeteiligung von Frauen oder durch dieQualifizierung von Arbeitslosen schließen. Dazu brau-chen wir qualifizierte Einwanderer in großer Zahl, unddarauf müssen wir alle vorbereiten.
Deutschland ist schon jetzt ein Einwanderungsland.Wir sind das drittattraktivste Einwanderungsland derWelt. Allein in den letzten beiden Jahren sind über900 000 ganz überwiegend gut und sehr gut ausgebildeteEinwanderer aus der EU zu uns gekommen.
Ohne diese Einwanderer gäbe es keine Überschüsse inden Sozialversicherungen. Ohne diese Einwanderer unddie Steuern, die sie zahlen, hätten wir im letzten Jahrauch keinen ausgeglichenen Haushalt erreicht, meineDamen und Herren.
Wir brauchen die Zuwanderung auch, um die Rentenin einer alternden Gesellschaft finanzieren zu können.Ohne Einwanderung wird natürlich auch die Investitions-tätigkeit von Unternehmen gedämpft; denn Unternehmeninvestieren nicht, wenn die Bevölkerung schrumpft. Nurals Einwanderungsgesellschaft können wir Wachstumsge-sellschaft bleiben. Deshalb ist die Einwanderung positivfür Deutschland. Besonders die Freizügigkeit in der EUist ein großer Jobmotor.Ich will deshalb, dass wir in der Koalition gemeinsamüber Einwanderung diskutieren. Wir müssen die beste-henden Regeln überprüfen, und wir müssen offen disku-tieren, nach welchen Regeln Einwanderer nach Deutsch-land kommen sollen. Auf diese Klarheit haben dieMenschen in diesem Land einen Anspruch.
Daneben muss natürlich völlig klar sein, dass wirFlüchtlinge, die aus humanitären Gründen nach Deutsch-land kommen, bei uns aufnehmen. Wir müssen sieschneller integrieren; das heißt vor allem, sie durchSprachkurse schnell mit der deutschen Sprache vertrautmachen.Deutschland wird sich durch Zuwanderung verän-dern. Unser Land wird internationaler und vielfältiger.Aber das ist in einer globalisierten Welt kein Schadenund kein Nachteil; im Gegenteil, das ist ein Vorteil; dasist ein ökonomischer und kultureller Vorteil für Deutsch-land. Deshalb brauchen wir ein positives Verhältnis zurEinwanderung. Und daran, meine Damen und Herren,sollten wir gemeinsam arbeiten.Vielen Dank.
Anton Hofreiter ist der nächste Redner für die Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Acht Tage sind seit den schrecklichen An-schlägen in Paris vergangen: acht Tage der Trauer, achtTage des Schocks über die Angriffe auf unsere Freiheit,unsere Werte; aber auch acht Tage, die bei allem Schre-cken, bei aller Trauer Mut machen. Die Menschen sindin Frankreich, in Deutschland und überall auf der Weltzusammengerückt. Wir erleben nicht Wut und Rache-durst, sondern Besonnenheit und trotzigen Mut.
Die Botschaft ist eindeutig: Wir lassen uns nicht ein-schüchtern. Wir lassen uns unsere offene und freie Ge-sellschaft nicht nehmen. Wir stehen zusammen – für To-leranz und ein friedliches Zusammenleben verschiedenerKulturen und Religionen.
Diese acht Tage bergen ein Versprechen. Ein Verspre-chen darauf, dass es den Terroristen nicht gelingt, uns zu
Metadaten/Kopzeile:
7484 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Dr. Anton Hofreiter
(C)
(B)
spalten; wir stehen zu unseren Werten. Ein Versprechendarauf, dass wir uns angesichts des Schreckens auf un-sere Stärken, Menschenrechte, Demokratie, Bürger-rechte, Meinungs- und Pressefreiheit, unseren Zusam-menhalt besinnen. Das wird nicht leicht. Es ist eineHerausforderung für uns alle, um dieses VersprechenWirklichkeit werden zu lassen. Aber nur das kann dieAntwort auf die Anschläge auf die Redaktion vonCharlie Hebdo und auf den koscheren Supermarkt sein,auf die Anschläge gegen die Pressefreiheit, gegen dieReligionsfreiheit.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Attentäter vonParis waren Franzosen. Aus Deutschland und Europareisen Hunderte junge Menschen in den Nahen Osten,um Gewalt und Terror zu säen. Sie sind Europäer, siesind Deutsche. Es sind keine Fremden, es sind keine an-deren, es sind Söhne und manchmal auch Töchter unse-rer Gesellschaft. Was treibt junge Menschen zu solch un-menschlichen Taten? Was hätten wir tun können, um sievon diesem Pfad des Hasses und der Gewalt abzubrin-gen? Und was können wir zukünftig dagegen tun?Zur Antwort gehören sicherlich Integration und Bil-dung. Wir brauchen Prävention. Wir müssen verhindern,dass junge Menschen zu brutalen, unberechenbaren Fun-damentalisten werden.
Gleichzeitig müssen wir darüber nachdenken, wie wir,auch wenn es sehr schwer sein mag, möglichst viele der-jenigen in unsere Gesellschaft zurückholen können, diesich bereits radikalisiert haben. Nur wenn wir die Wur-zeln des Hasses in unserer eigenen Gesellschaft ange-hen, können wir das Versprechen der letzten acht Tagewahr werden lassen. Da haben wir alle – Christen, Mus-lime, Juden, Agnostiker, Atheisten – eine sehr großeAufgabe vor uns.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Terror inmittenEuropas fordert uns heraus. Wie können wir für die Si-cherheit unserer Bürgerinnen und Bürger sorgen? Hiersind Stärke und Augenmaß gefordert. Zorn ist einschlechter Ratgeber. Westliche Regierungen haben die-ses Augenmaß bereits einmal missachtet. Nach dem11. September 2001 haben sie unsere Werte teilweise ausden Augen verloren. Die Politik hat Freiheiten im Na-men des Kampfes gegen den Terror unverhältnismäßigeingeschränkt. Auch in Deutschland wurden Grund-rechte missachtet und der Datenschutz verletzt. Wir hal-fen in Europa den USA, wie aus dem Bericht des Senatserkennbar ist, bei der Folter. Damit haben wir unsereGlaubwürdigkeit, unsere eigenen Werte beschädigt. Die-sen Fehler dürfen wir nicht erneut begehen. Wir dürfendiese Lehren nicht vergessen.
Mehr Datenspeicherung und vermeintliche Gesetzes-verschärfung sind falsche Reflexe. Wenn unsere Freiheitangegriffen wird, dann dürfen wir unsere Freiheit dochnicht selbst aufgeben.
Die Sicherheit steht im Dienste der Freiheit, im Diensteder Menschen, nicht umgekehrt. Gegen Kalaschnikowsmacht die Vorratsdatenspeicherung der Daten aller Bür-ger, auch aller unbescholtenen Bürger, doch keinen Sinn.Das haben die Anschläge in Paris gezeigt. In Frankreichgibt es die Vorratsdatenspeicherung seit 2006. Sie ist un-verhältnismäßig. Sie stellt alle Bürger unter Generalver-dacht. Die Attentäter waren doch bereits polizeibekannt.Wir brauchen eine gut ausgestattete Polizei, die ausrei-chend Geld und Personal hat, damit sie rechtsstaatliche,solide Polizeiarbeit leisten kann.
Offene Gesellschaften sind verwundbar und werdenimmer verwundbar sein. Wir müssen den Mut haben,uns dieses einzugestehen. Nur dann können wir beson-nen handeln. Nur dann können wir das Versprechen derletzten acht Tage wahr werden lassen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Kritik in einer offe-nen Gesellschaft kann so hart sein, dass sie verletzt. Sa-tire kann schmerzen. Aber die Antwort darauf darf nie-mals Gewalt sein.
Aber so haben die Attentäter von Paris geantwortet. Siesind losgezogen und haben Menschen ermordet. Einegrausame und verblendete Tat. Dabei haben sie sich aufden Islam berufen. Aber es ist kein Kampf des Islam ge-gen den Westen, sondern ein Kampf von Feinden derFreiheit gegen Freunde der Freiheit. Die meisten Opferdes weltweiten islamistischen Terrors sind selbst Mus-lime. Nahezu zeitgleich zu den Anschlägen in Paris töte-ten fundamentalistische Terroristen der Boko Haram inNigeria Hunderte von Menschen. In Syrien, im Irak mor-den und foltern die Terroristen des IS.Gewalt im Namen der Religion ist ein Problem, dasviele Religionen kennen. Es ist kein singuläres Problemdes Islam. Aber ein Teil der Antwort darauf muss imStreit innerhalb des Islam gefunden werden. Imameweltweit haben Gewalt und Hass verurteilt, zum wieder-holten Male. Der Zentralrat der Muslime hat gemeinsammit anderen zu einer Kundgebung für Toleranz undWeltoffenheit aufgerufen. Viele von uns Abgeordnetenwaren am Brandenburger Tor. Wir danken dem Zentral-rat sehr für seine Initiative.
Millionen von Muslimen weltweit stehen fassungslosvor dem, was im Namen ihrer Religion verübt wird. Sie
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7485
Dr. Anton Hofreiter
(C)
(B)
machen unmissverständlich klar, dass sie diesen Miss-brauch nicht dulden werden. Aber nur wenn der kritischeDiskurs innerhalb des Islam weiter stattfindet und wennwir dabei an der Seite der Muslime stehen, können wirdas Versprechen der letzten acht Tage wahr werden las-sen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den letzten achtTagen haben wir viele Zeichen der Toleranz, des Mitein-anders, des Zusammenstehens erlebt. Umso empörtermacht es mich, wenn ich nach Dresden blicke, wenn ichsehe, dass dort am letzten Montag wieder Tausende Pe-gida-Anhänger auf den Straßen waren. Wer bei Pegidamitmarschiert, will eine geschlossene, eine enge Gesell-schaft, eine die ausgrenzt, und zwar nach innen und au-ßen, und eine die letzten Endes mehr Hass erzeugt.
Vor diesen Rissen in unserer Gesellschaft dürfen wirnicht die Augen verschließen. Der Antisemitismus ge-hört leider immer noch zur traurigen Realität in Deutsch-land und in Europa. Viele Menschen in Deutschland ha-ben Vorurteile gegenüber dem Islam. Rechtsextremistenund -populisten wie Le Pen haben hohe Zuläufe.2015 steht Europa vor einer Reihe von wichtigenWahlen: in Griechenland, in Spanien, in Großbritannien,in Frankreich. Bei diesen Wahlen wird nicht allein überdie nationale Politik, sondern auch über die ZukunftEuropas entschieden. Jetzt ist es an uns Europäern, zuzeigen, was für ein Europa wir wollen: ein Europa, dasfür Menschenrechte, Freiheit und Demokratie steht. Dieletzten Tage lassen mich hoffen, dass die Menschen wie-der erleben, was wir mit Europa gewonnen haben, wasuns an Europa liegt – einem Europa, in dem die Men-schen wieder miteinander diskutieren, einem Europa, indem sich die Menschen füreinander interessieren, einemEuropa, in dem die Menschen für die Werte Europas undfüreinander einstehen, einem Europa, das lebendig ist.
Die ganz große Mehrheit der Menschen hat erkannt,dass es Zeit ist, Farbe zu bekennen: gegen Rassismus,gegen Vorurteile, gegen Menschenfeindlichkeit. Nurwenn wir gemeinsam für die Demokratie, für die Frei-heit eintreten, nur dann können wir das Versprechen derletzten acht Tage wahr werden lassen. Die letzten achtTage machen mir da große Hoffnung.Vielen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Volker Kauder das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Als uns die Nachricht von dem schrecklichen Verbre-chen in Paris erreicht hat, waren wir zunächst fassungs-los und konnten gar nicht glauben, dass Terroristen ineine Redaktion eindringen, die Namen der einzelnenJournalisten aufrufen und sie beim Namensaufruf er-schießen. Das ist eine Qualität, die wir so bisher nochnicht erlebt haben. Wir alle verneigen uns vor den Ange-hörigen der Opfer, vor unseren französischen Freunden.Ja, es ist völlig richtig, dass wir als eine erste Konse-quenz aus diesem furchtbaren Verbrechen sagen: Wirstehen in Europa zusammen.
Dass wir zusammenstehen, hat der Zug durch Paris amvergangenen Sonntag so eindrucksvoll gezeigt. Dass wirin Europa bei einer der vielleicht größten Herausforde-rungen zusammenstehen, um Menschlichkeit und De-mokratie durchzusetzen, haben wir am Dienstag amBrandenburger Tor erlebt. Mich hat in besonderer Weisebeeindruckt, dass hier in Berlin und in anderen StädtenDeutschlands Menschen zu Tausenden zusammenge-kommen sind – spontan, ohne dass es irgendjemand or-ganisiert hat. Was sich da am Brandenburger Tor gezeigthat, das ist ein Deutschland, auf das wir stolz sein kön-nen.
Es waren alle aus der Gesellschaft dabei, alle Religions-gruppen. Dies hat mich beeindruckt.Es ist der Satz des Bundespräsidenten zum Abschlussseiner Rede, der uns leiten muss: „Wir alle sind Deutsch-land“ – wir alle, die wir hier in Deutschland leben, Mus-lime, Juden, Christen, Angehörige aller anderen Reli-gionsgruppen.
Es gibt Ereignisse in der Politik, im persönlichen Le-ben, bei denen nachher nichts mehr so ist, wie es vorherwar. Viele von uns spüren, dass das, was da in Paris ge-schehen ist, und die Solidaritätskundgebungen, die esauch bei uns gegeben hat, vielleicht einiges verändernkönnten, in einer Geschwindigkeit, wie wir es zunächstgar nicht zu hoffen gewagt haben.Ich habe bei den vielen Begegnungen mit Christen,Muslimen, Hindus und Vertretern anderer Religionendieser Welt erfahren, was es bedeutet, wenn man wegenseines Glaubens, seiner Einstellung bedrängt und ver-folgt wird. Ich habe immer wieder erlebt, dass die Re-aktionen nach Anschlägen auf Kirchen und andere Ein-richtungen unterschiedlich bzw. zögerlich waren. Umsomehr müssen wir anerkennen – und wir erkennen esauch an –, dass sich die Muslime angesichts der Ereig-
Metadaten/Kopzeile:
7486 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Volker Kauder
(C)
(B)
nisse eindeutig von Gewalt distanziert haben. Auf derVeranstaltung des Zentralrats der Muslime, die michsehr bewegt hat, wurde gesagt: Mord und Terrorismushaben mit dem Islam nichts zu tun.
Die notwendige und auch schwierige Diskussion istdamit aber noch lange nicht beendet. Sie wird weiterge-hen, und sie muss auch weitergehen. Ich stimme all je-nen zu, die heute Morgen gesagt haben, dass dies eineAufgabe der Muslime selbst ist, dass wir sie dabei unter-stützen müssen, indem wir anerkennen, dass sich da et-was bewegt. Aber es muss auch klar sein – darauf istvom Bundestagspräsidenten und von der Bundeskanzle-rin hingewiesen worden –, dass die Werte und die Men-schenrechte, die wir durch die Französische Revolutionund die Aufklärung für uns gewonnen haben, die die Ge-nerationen vor uns für uns erstritten haben, nicht zurDisposition stehen dürfen und auch nicht zur Dispositionstehen.
Wir dürfen auch nicht zulassen, dass universale Men-schenrechte – das wird immer wieder versucht – von ei-nigen auf einmal als eine Errungenschaft des Westensgesehen werden, die mit anderen gar nichts zu tun haben.Ich erlebe in Gesprächen immer wieder, dass es heißt:Eure Menschenrechtsposition hat mit unserem kulturel-len Verständnis nichts zu tun. – Liebe Kolleginnen undKollegen, die universellen Menschenrechte sind in derMenschenrechtscharta der UNO niedergelegt, und siehaben nichts mit kulturellem Verständnis in dem einenoder anderen Land zu tun. Wir müssen sie verteidigen.
In der Menschenrechtskonvention, die 1948, also imletzten Jahrhundert, beschlossen wurde, sind Erkennt-nisse enthalten, die in die heutige Zeit übertragen wer-den können. Jeder hat das Recht, seinen Glauben freiund unbedrängt öffentlich zu leben. Dazu gehört natür-lich auch, nichts zu glauben; auch dies ist geschützt. Inder Menschenrechtskonvention steht ausdrücklich auch– dies gehört dazu –, dass jeder das Recht hat, seinenGlauben frei zu wechseln, dass es ein Menschenrecht ist,seinen Glauben zu ändern. Fast alle Länder dieser Welt– bis auf ganz wenige – haben das unterschrieben. Manist immer wieder erstaunt, dass selbst in Ländern, die dieMenschenrechtskonvention unterschrieben haben, dieMenschenrechte nicht oder nicht ganz eingehalten wer-den. Deswegen haben wir die Verpflichtung, immer wie-der auf die Menschenrechtskonvention hinzuweisen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habeschon vor vielen Jahren darauf hingewiesen, dass esohne Religionsfreiheit nirgendwo auf der Welt Freiheitgeben kann. Ich habe immer wieder darauf hingewiesen– das ist eine Erkenntnis zahlreicher Reisen, die ich un-ternommen habe –, dass das Verweigern von Religions-freiheit und das Unterdrücken von Menschen, sodass sieihren Glauben nicht frei leben dürfen, Anlass für größteAuseinandersetzungen sind. Das muss gerade in dieserZeit gesagt werden. Dazu gehört ganz klar: Wer für Reli-gionsfreiheit weltweit eintritt, tritt natürlich auch für Re-ligionsfreiheit in unserem Land ein. Ich will mich garnicht über Inhalte der einzelnen Religionen unterhalten.Ich sage nur: Religionsfreiheit in unserem Land bedeu-tet, dass jeder das Recht hat, seine Gebets- oder Gottes-häuser zu bauen. Das heißt: Natürlich haben die Mus-lime, unterstützt von uns, das Recht, hier ihre Moscheenzu bauen.
Aber es gehört auch noch etwas anderes dazu – dasmuss ich sagen, nachdem der türkische Ministerpräsi-dent in dieser Woche Deutschland besucht hat –: So wiewir wollen und dafür eintreten, dass die Muslime hierihre Moscheen bauen dürfen, so wollen wir, dass auchdie Christen in der Türkei ihre Kirchen bauen dürfen.
Dieser Zustand ist noch längst nicht erreicht.Wir haben heute zu Recht immer wieder gehört, dassunsere Werte, zu denen natürlich die Freiheitsrechte unddas zentrale Recht der Pressefreiheit gehören, nichtpreisgegeben werden dürfen und wie wichtig die Presse-freiheit für eine freie Gesellschaft ist. Das betrifft abernicht nur die Pressefreiheit, sondern auch die Freiheitder Kunst, die Freiheit, darin seine Meinung auszudrü-cken. Es wäre furchtbar, wenn Schriftsteller in Zukunftihre Bücher prüfen lassen müssen, bevor sie sie veröf-fentlichen. Das geht überhaupt nicht. Die Freiheit vonPresse, Kunst und Kultur muss geschützt werden.
Wenn wir uns in der Welt umschauen, dann stellenwir fest, dass die Pressefreiheit von denen besonders ge-fürchtet wird – dazu gehört leider Gottes auch manchesLand in unserer unmittelbaren Nachbarschaft –, dieMenschenrechte und Freiheit in ihrem Land nicht hun-dertprozentig verwirklichen. Deswegen muss dafür inbesonderer Weise eingetreten werden. Da kann es natür-lich sein, dass Dinge geschehen, die nicht jeder richtigund gut findet. Die Bundeskanzlerin hat darauf hinge-wiesen, dass zur Freiheit Verantwortung gehört. Freiheitund Verantwortung sind zwei Seiten derselben Medaille.Natürlich muss jeder selbst prüfen, wo Grenzen sind.Aber diese können nicht gesetzlich festgelegt werden.Ich will nicht gesetzlich festlegen, ob diese oder jeneKarikatur zulässig ist, überhaupt nicht. Trotzdem sageich: Wir alle haben allen Grund, uns immer wieder zuprüfen, wie nahe wir einem anderen treten dürfen in derAusnutzung unserer Freiheit. Ich kann nur darauf hin-weisen: Besondere Sorgfalt muss darauf gelegt werden,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7487
Volker Kauder
(C)
(B)
mit den religiösen Gefühlen und den heiligsten Symbo-len einer Religion nicht verantwortungslos zu spielen.
Das kann nicht durch eine Verschärfung von Gesetzenerreicht werden, sondern da ist die Gesellschaft aufgeru-fen, zu widersprechen und zu sagen: Wir wollen zwar,dass dies möglich ist, aber wir akzeptieren nicht, dassdies gemacht wird. – Insofern haben wir manchmal allenGrund, zu widersprechen, wenn christliche Symbole indieser Weise betroffen sind. Es wäre aber auch schön,wenn der eine oder andere die Muslime versteht und inSchutz nimmt, wenn deren heiligste Symbole attackiertwerden.
Ich finde, wir in der Bundesrepublik Deutschland, dieRegierung, aber auch die Große Koalition, haben ange-messen reagiert. Natürlich müssen sich Regierung undParlament aber die Frage vorlegen: Können wir noch et-was tun, können wir noch etwas verbessern, um das Ri-siko eines solchen Anschlags zu verringern? Ganz aus-schließen lässt es sich nicht. Ich finde die Maßnahme,die jetzt beschlossen worden ist, um ausreisebereitejunge Menschen an der Ausreise zu hindern, indem manihnen den Personalausweis entzieht, richtig. Es ist auchsinnvoll, diejenigen zu beobachten, die wieder einreisen.Aber wir müssen uns auch mit einer anderen Fragebeschäftigen. Alle für die Sicherheit relevanten Persön-lichkeiten unterschiedlicher parteipolitischer Zugehörig-keiten sagen, dass wir die Möglichkeiten, Kontaktdatenzu prüfen, um daraus Erkenntnisse zu erzielen, verbes-sern müssen. Es geht um den Begriff der Vorratsdaten-speicherung; dieser Begriff gefällt mir gar nicht, aberbisher ist nichts Besseres auf dem Markt. Ich möchte miteinem Missverständnis aufräumen – das haben auch Sie,Herr Hofreiter, wieder angesprochen –: Die Vorratsda-tenspeicherung ist nicht ausschließlich ein Präventions-instrument, sondern eines von vielen möglichen Ermitt-lungsinstrumenten.
Ohne sie wüssten wir so manches nicht, auch in Frank-reich nicht. Ich möchte darauf hinweisen, dass man dieeine oder andere Erkenntnis – wie groß war die Zelle,und mit wem haben die telefoniert? – nur durch den Zu-griff auf diese Daten gewonnen hat.
– Wir bereden das in aller Ruhe. – Aber da unsere Provi-der, unsere Kommunikationsgesellschaften jetzt Flatra-tes anbieten, bei denen nach wenigen Stunden alle Datengelöscht werden, werden Sie niemanden mehr finden.Wie wollen Sie denn Verbrechen im Internet aufdecken,wenn niemand mehr eine Spur im Internet hinterlässt?Deswegen müssen wir uns mit der Frage beschäftigen,ob wir eine solche Möglichkeit nutzen wollen oder nicht.
Ich bin dankbar dafür, dass offenbar Bewegung in diesesThema gekommen ist, dass die Bereitschaft gestiegenist, etwas zu tun, in den verfassungsrechtlichen Grenzennatürlich.Die Menschen müssen den Eindruck haben, dass wirdas tun, was möglich ist. Daher ist es auch wichtig, da-rauf hinzuweisen, dass Menschen nicht mit unangemes-senen Formulierungen in der Öffentlichkeit auftretensollten. Da Pegida und andere hier mehrfach angespro-chen worden sind, will ich Folgendes dazu sagen: Wirhaben uns von den Äußerungen, die dort fallen, klar dis-tanziert. Ich bekomme jeden Tag Hunderte von E-Mails,weil ich gesagt habe: Was dort streckenweise formuliertwird, ist unakzeptabel. Das sage ich noch einmal: Dortfallen Äußerungen, die wir nicht akzeptieren dürfen unddenen wir widersprechen.
Mich hat es etwas befremdet, dass heute Morgen indieser Debatte wieder einmal über diese Gruppe gespro-chen wurde. Am letzten Samstag waren aber in Dresden35 000 Menschen auf dem Platz – das waren mehr alsPegida zusammenbringt –, um sich zu diesem Rechts-staat zu bekennen. Darüber sollten wir häufiger reden.Wir sollten häufiger darüber reden, dass es mutige Men-schen gibt, die sich zu diesem Rechtsstaat bekennen, zuOffenheit, zu Liberalität und zu Toleranz.
Darüber müssten auch die Medien häufiger berichten.Sie sollten nicht über die Gruppe berichten, die unserLand nicht repräsentiert, sondern häufiger über diejeni-gen, die das repräsentieren, was die allermeisten Men-schen in diesem Land für richtig halten.Meine sehr verehrten Damen und Herren, noch einHinweis. Herr Kollege Oppermann, wenn ein Koali-tionspartner will, dass man über ein Thema redet, dannredet man darüber. Das gilt für Sie, und das gilt auchdann, wenn wir etwas wollen und dann darüber reden.Eines möchte ich aber schon sagen: In der Diskussionüber ein sogenanntes Zuwanderungs- bzw. Einwande-rungsgesetz ist der Eindruck erweckt worden, als ob wiruns in einem völlig rechtsfreien Raum bewegen würden.
– Nein, heute Morgen hat der Kollege Oppermann ge-sprochen, Frau Kollegin. – Dazu will ich nur sagen: Mankann ja aus Ihrer Sicht sagen, dass man sich das eineoder andere anschauen will. Wir haben aber ein ganzesPaket von Regelungen für Zuwanderung und Einwande-rung. Da gibt es keinen rechtsfreien Raum.
Metadaten/Kopzeile:
7488 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Volker Kauder
(C)
(B)
Sie haben zu Recht drauf hingewiesen, dass ohne Ein-wanderung bzw. Zuwanderung unsere Sozialversiche-rungssysteme, die Arbeitsplatzsituation usw. anders aus-sähen. Man kann doch nicht auf der einen Seite sagen,dass sich eine gute Entwicklung vollzogen habe, wasstimmt, und auf der anderen Seite sagen, es gebe über-haupt keine Regelungen und deswegen müsse man etwasunternehmen. Deshalb rate ich auch hier zu einem grö-ßeren Maß an Gelassenheit. Wir haben sehr viel ge-macht.Jetzt will ich noch einen Punkt ansprechen. Wir habendafür gesorgt, dass die Asylverfahren schneller ablaufenund die Menschen, wenn sie hier sind, schneller in Ar-beit kommen können. Das ist sehr schön formuliert wor-den; jetzt kommt es aber darauf an, das umzusetzen.Da kann ich nur sagen: Es wäre eine große Tat undauch notwendig, damit Menschen nicht in der Isolationleben und auf dumme Gedanken kommen, dass wir alldenjenigen, die Arbeit und Ausbildung suchen, auch Ar-beit und Ausbildung verschaffen. Diesen Punkt sehe ichan erster Stelle. Nicht über neue Zuwanderung sollte ge-redet werden, sondern diejenigen, die da sind, solltenjetzt endlich in Arbeit gebracht und in die Gesellschaftintegriert werden.
Hier viel zu erreichen, das ist eine große Aufgabe, dievor uns liegt. Dieser Aufgabe werden wir uns stellen. Dasind wir an Ihrer Seite.
Eva Högl ist die nächste Rednerin für die SPD-Frak-
tion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! DieAnschläge in Paris waren ein Angriff auf wehrlose Men-schen. Sie waren ein Angriff auf die Meinungs- undPressefreiheit. Die Morde waren aber vor allen Dingenein Angriff auf unsere offene Gesellschaft, unsere Werteund unsere Demokratie. Wir alle waren gemeint mit die-sen Anschlägen.Die Attentäter wollen damit eines erreichen: Sie wol-len die Menschen in Frankreich, in Deutschland, uns allein Europa und in der Welt, tief verunsichern und unsereGesellschaft spalten. Meine Damen und Herren, daswird ihnen nicht gelingen.
Für uns ist klar: Unsere demokratische Gesellschaftdarf sich nicht einschüchtern lassen. Freiheit undRechtsstaatlichkeit lassen wir uns nicht nehmen. Wirwerden die Freiheit nur dann verteidigen können, wennwir eine offene und freie Gesellschaft erhalten, in derPresse- und Meinungsfreiheit sowie Religionsfreiheit,Einwanderung und Vielfalt selbstverständlich sind. Des-halb reagieren wir auf Terror, auf Morde und auf Extre-mismus mit Augenmaß und mit den Mitteln unseresRechtsstaates; denn wir sind nicht wehrlos.Es gibt überhaupt keinen Grund für hektischen ge-setzgeberischen Aktionismus.
Die Gefahr, die von gewaltbereiten Extremisten ausgeht,die aus Kriegsgebieten in Syrien und Irak nach Deutsch-land zurückkehren, ist uns bekannt. Unsere Sicherheits-behörden sind hier sehr wachsam und handlungsfähig.Wir bekämpfen Terrorismus ganz entschieden und habenschon Wochen vor den Anschlägen in Paris wichtige Re-gelungen zur Terrorismusbekämpfung auf den Weg ge-bracht.Ich erwähne, dass der Bundesinnenminister bereits imHerbst ein sehr weitgehendes Betätigungsverbot des ISerlassen hat. Neben der Verwendung von Kennzeichendes IS sind nunmehr auch die Unterstützung und dieSympathiewerbung strafbar.Gestern hat das Bundeskabinett einen Gesetzentwurfverabschiedet, der vorsieht, ausreisewilligen Dschihadis-ten neben dem Reisepass auch den Personalausweis zuentziehen, wenn sie unter dem Verdacht stehen, terroris-tische Aktivitäten zu verfolgen. Eine Ausreise über dieTürkei beispielsweise in den Nahen Osten ist dann nichtmehr möglich.Künftig werden sich radikale Islamisten auch dannstrafbar machen, wenn sie Deutschland verlassen wol-len, um sich an Gewalttaten im Ausland zu beteiligenoder sich für die Teilnahme daran in einem Camp ausbil-den zu lassen. Damit setzen wir eine UN-Resolution um.Außerdem werden wir mit einem eigenständigenStraftatbestand der Terrorismusfinanzierung die Finanz-quellen von Terroristen trockenlegen.Das sind drei wichtige Maßnahmen zur Terrorbe-kämpfung, die wir auf den Weg gebracht haben.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden auchden Verfassungsschutz schlagkräftiger machen. Das istauch dringend erforderlich. Wir haben im NSU-Untersu-chungsausschuss gesehen, dass es viele Unzulänglich-keiten bei den Nachrichtendiensten gibt und insbeson-dere die Zusammenarbeit der Verfassungsschutzämtervon Bund und Ländern verbessert werden muss. Wirwerden auch die personelle und technische Ausstattungder Sicherheitsbehörden weiter verbessern.Eines ist auch sehr wichtig: die europäische Koopera-tion. Wir als SPD begrüßen ganz ausdrücklich den Be-schluss der EU-Innenminister in Paris vom Sonntag, ge-meinsam und in enger Abstimmung in Europa gegenTerror vorzugehen. Für uns gilt: Wir brauchen in Europamehr Zusammenarbeit und nicht weniger.
Wir bauen auch die Prävention aus und stärken dengesellschaftlichen Zusammenhalt. Wir werden alles da-für tun, dass sich kein junger Mensch menschenfeindli-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7489
Dr. Eva Högl
(C)
(B)
chen und gewalttätigen Organisationen anschließt. Wirunterstützen alle Aktivitäten, die den interreligiösen Dia-log fördern und sich gegen Hass und gegen Gewalt rich-ten. Wir reden nicht nur, sondern wir handeln auch.
Wir haben deshalb das so wichtige Bundesprogramm„Demokratie leben! Aktiv gegen Rechtsextremismus,Gewalt und Menschenfeindlichkeit“ und somit Aktivitä-ten zur Demokratieförderung ganz deutlich unterstützt,indem wir in diesem Jahr insgesamt rund 50 MillionenEuro dafür bereitstellen. Dieser wichtige Beschluss desBundestages ist eine ganz starke Aussage, weil wir da-mit viele Initiativen, Verbände und Vereine bei der För-derung von Demokratie sehr wirksam unterstützen kön-nen.
Unsere gemeinsame Antwort auf Terror ist: Sicherheitund Zusammenhalt, Freiheit ohne Angst. Diesen Wegwerden wir gemeinsam weitergehen.Herzlichen Dank.
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Gerda Hasselfeldt für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieAnschläge in Paris haben uns alle erschüttert und fas-sungslos gemacht. Unsere Gedanken sind in diesen Ta-gen bei den Opfern und deren Familien. In dieser De-batte ist schon zum Ausdruck gekommen – ich will esauch meinerseits unterstreichen –: Unbestritten ist: DieseAnschläge waren Anschläge auf unsere Freiheit, auf un-sere Werte, auf die Art und Weise, wie wir zusammenle-ben, wie wir miteinander umgehen. Es waren Anschlägeauf die offene Gesellschaft in der westlichen Welt.
So groß die Trauer und die Betroffenheit auch sind,die Reaktion der Menschen in Paris, in Berlin, in vielenanderen Städten Europas, ja in der ganzen Welt machtauch Mut. Sie haben Solidarität mit Frankreich gezeigtund zeigen sie nach wie vor über die Grenzen hinweg.Sie stehen auf, sie gehen auf die Straße für unsere Werte,für Freiheit, für Demokratie, für Toleranz und gegen Fa-natismus, gegen Fundamentalismus und gegen Terror.Am Dienstagabend nahmen Tausende von Menschen ander Mahnwache der Muslime für Toleranz und Welt-offenheit in Berlin teil. Ich danke den Organisatoren fürdie rasche Reaktion auf die schrecklichen Ereignisse inParis. Im gemeinsamen Manifest der großen Religions-gemeinschaften in Deutschland wird auch deutlich: ImNamen Gottes darf nicht getötet werden. Daran, dass50 Staats- und Regierungschefs in Paris auf die Straßegehen, dass sich Millionen von Menschen zum Marschder Freiheit aufmachen und dass ein muslimischer Ar-beiter in dem von Terroristen heimgesuchten jüdischenGeschäft vier Menschen rettet, wird deutlich: UnsereWerte sind stärker als der Terror.
Die Reaktionen der Menschen, der Politiker zeigenauch: Wir in der freien, offenen Gesellschaft lassen unsnicht auseinanderdividieren, wir lassen uns nicht spalten,und wir lassen uns auch nicht einschüchtern. Im Gegen-teil: Wir rücken ein Stück näher zusammen, nicht nur inDeutschland, sondern auch in Europa und in der Welt.Ich hoffe sehr, dass vom Anfang dieses Jahres, so bitterder 7. Januar 2015 für uns alle war, das Signal ausgeht,dass es an der Zeit ist, uns unserer Grundwerte, derWerte, die uns zusammenhalten, wieder bewusster zuwerden, als es vielleicht sonst im Alltag der Fall ist, unddiese auch aktiv zu verteidigen. Denn die Würde jedeseinzelnen Menschen, egal woher er kommt und wie eraussieht, die gegenseitige Toleranz, das Recht auf Le-ben, die Pressefreiheit, die Meinungsfreiheit, die Glau-bensfreiheit – all das, liebe Kolleginnen und Kollegen,sind Werte, die uns zusammenhalten, Werte, die unsauch die Kraft geben, gegen Fundamentalismus, gegenFanatismus und gegen Terror anzugehen.
Aber natürlich stellen sich in so einer Situation auchFragen, beispielsweise: Kann so etwas auch bei uns pas-sieren? Sind wir gerüstet? Tun wir alles für die Sicher-heit? Auch wenn wir wissen, dass nicht alles zu verhin-dern ist, haben wir die Aufgabe – das ist die originäreAufgabe des Staates –, für die Sicherheit unserer Bürgerzu sorgen.Wir alle wissen: ISIS und Al-Qaida bedrohen nichtnur einige fremde Staaten weit weg von uns, sondern siebedrohen auch uns. Wir alle wissen: Wer unsere Wertevernichten will, der greift uns an. Wer unsere französi-schen Freunde mit Terror und mit Schrecken überzieht,der meint auch uns.Deshalb war und ist es richtig, dass wir die Kurden inihrem Kampf gegen die Barbarei der Dschihadisten un-terstützen, mit humanitärer Hilfe, mit Ausrüstung undauch mit Waffen. Deshalb war und ist es richtig, dass wirdie Menschen in den betroffenen Regionen vor Ort un-terstützen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, deshalb istes auch richtig, dass wir die Ausreise der Dschihadistenunterbinden und Rückkehrer genauer beobachten.
Unser Kampf gegen den Terrorismus beginnt nichterst nach den Anschlägen in Paris. Aber diese Anschlägein Paris sind vielleicht Grund und Anlass, noch einmal inaller Ruhe und ohne Aktionismus zu überdenken, ob wir
Metadaten/Kopzeile:
7490 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Gerda Hasselfeldt
(C)
(B)
alles getan haben und ob wir unseren Kampf vielleichtnoch etwas verstärken müssen. Unser Kompass muss da-bei, denke ich, ein zentraler Grundsatz unserer Rechts-tradition sein, nämlich die Verhältnismäßigkeit. Es mussgelten: So viel Freiheit wie möglich, so viel Sicherheitwie nötig.Ich will mich im Wesentlichen auf drei Punkte be-schränken:Erstens. Wir brauchen einen besseren Überblick da-rüber, woher die Gefährder kommen und wohin sie wol-len. Dazu gehört, dass wir an den Außengrenzen der Eu-ropäischen Union die Kontrollen intensivieren. Dazugehört auch ein internationaler Informationsaustausch;dieser muss verbessert werden.
Das gilt zum Beispiel auch für die Fluggastdaten.Zweitens. Wir unterstützen die Bundesregierung beiallen Maßnahmen im Kampf gegen den Extremismus.Das gilt für den Bundesinnenminister – auch für dieMaßnahmen, die er gestern wieder eingeleitet hat – ge-nauso wie für den Bundesjustizminister. Ich bin sehrfroh, dass nun die Umsetzung der UN-Resolution aufden Weg gebracht wird; denn, meine Damen und Herren,wer terroristische Vereinigungen finanziell unterstützt,der muss strafrechtlich leichter verfolgt werden könnenals bisher.
Gleiches gilt auch für den Besuch von Terrorcamps.Ich füge aber bewusst hinzu: Unserer Meinung nachreicht das nicht. Wir sollten auch Sympathiewerbung fürterroristische Vereinigungen, wie das früher der Fall war,wieder unter Strafe stellen.
Unsere Botschaft muss sein: Islamistischer Terror hatauf deutschem Boden keinen Platz.Drittens. Wir müssen die Mindestdauer der Speiche-rung von Verbindungsdaten neu regeln; das wurde vor-hin schon angesprochen. Ich plädiere sehr dafür undbitte darum, das ohne parteipolitische Scheuklappen zumachen und auf den Rat der Sicherheitsleute und der Si-cherheitsbehörden, der Polizeigewerkschaften, all derje-nigen, die mit der Bekämpfung von Kriminalität undTerrorismus zu tun haben,
zu hören und diese Ratschläge auch ernst zu nehmen.
Es kann doch nicht sein, dass wir Verbindungsdaten imBereich der Telekommunikation dann speichern, wennes um Rechnungen geht, aber dann, wenn es um die Be-kämpfung von Kriminalität und Terrorismus geht, nicht.Das ist nicht mein Verständnis von Sicherheit für dieBürger unseres Landes, meine Damen und Herren.
Es ist vielmehr unsere Aufgabe – so verstehe zumin-dest ich meine politische Arbeit, ebenso die Kolleginnenund Kollegen meiner Fraktion –, für das Wohlergehender Bürger und für ein glückliches Leben der Menschenzu sorgen. Zu einem glücklichen Leben gehören Freiheitund Sicherheit; das eine, meine lieben Kolleginnen undKollegen, geht nicht ohne das andere. Freiheit und Si-cherheit gehören in einem demokratischen Rechtsstaatzusammen.
Nur aus der Balance dieser beiden Werte schöpft unsereGesellschaft ihre Kraft.Lassen Sie uns mit der gebotenen Sorgfalt und Gelas-senheit, mit der gebotenen Ernsthaftigkeit, aber auch mitder notwendigen Entschiedenheit an die Lösung dieserAufgabe gehen!Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen damit zum nächsten Tagesordnungs-punkt, Tagesordnungspunkt 4 a und 4 b, sowie zum Zu-satzpunkt 3 unserer Tagesordnung:4 a) Beratung des Antrags der Fraktionen derCDU/CSU und SPDGesunde Ernährung stärken – Lebensmit-tel wertschätzenDrucksache 18/3726Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der EuropäischenUnionb) Beratung des Antrags der Abgeordneten KarinBinder, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEGute Lebensmittel für eine gesunde Er-nährungDrucksache 18/3730Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7491
Präsident Dr. Norbert Lammert
(C)
(B)
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten NicoleMaisch, Friedrich Ostendorff, Harald Ebner,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENGute Ernährung für alleDrucksache 18/3733Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitAusschuss für GesundheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Dazu höre ichkeinen Widerspruch. Also können wir so verfahren.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst dem Bundeslandwirtschaftsminister ChristianSchmidt.
Christian Schmidt, Bundesminister für Ernährungund Landwirtschaft:Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Das Thema Ernährung mit all seinen Facettenmobilisiert uns heute in Berlin. Gestatten Sie mir aber,dass ich mich, bevor wir uns dem Thema Ernährung mitall seinen Facetten widmen, bei dem stellvertretendenVorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, FranzJosef Jung, für seinen Einsatz und für sein Engagementin unserem gemeinsamen Themenbereich herzlich be-danke.Das so wichtige Amt hat er nun, wie die Fraktion ent-schieden hat, auf gleicher Ebene im Bereich der Außen-und Sicherheitspolitik übernommen, nachdem AndreasSchockenhoff bedauerlicherweise von uns gegangen ist.Lieber Franz Josef, herzlichen Dank! Du kehrst damitein Stück zu den Wurzeln zurück, aber im Kern musst duals Rheingauer Winzer und Politiker mit Herz bitte auchunserer Sache verbunden bleiben. Die Grüne Wochesteht dir genauso offen wie uns allen.
Mein Gruß geht natürlich auch an Gitta Connemann.Es steht mir aber nicht zu, heute zu besprechen und zuerörtern, wie es im Ausschuss weitergehen wird. Daswird bei anderer Gelegenheit erfolgen.Ich möchte mich dafür bedanken, dass sich die einge-brachten Anträge sehr intensiv mit der Thematik der Er-nährung befassen. In diesem Jahr findet zum 25. Maleine gemeinsame Grüne Woche statt. Das Wort „grün“ inder Grünen Woche ist kein politisches Grün, sondern einGrün, das das Selbstbewusstsein des Landes ausdrückt.Die Lodenjankerträger haben Berlin in den 20er-Jahrenmit einer neuen Farbe überrascht. Schon damals wurdeklar, dass die Stadt ohne das Land nicht leben kann.In diesem Jahr findet zum 80. Mal – zum 25. Malwieder gemeinsam – die Grüne Woche statt. Lassen Siemich bei dieser Gelegenheit auch an die agra in Mark-kleeberg erinnern, auf der die wichtige Entwicklung deslandwirtschaftlichen Bereichs in der damaligen DDR do-kumentiert wurde. Dies wird auch jetzt in Leipzig imRahmen von Landwirtschaftsausstellungen in vielfälti-ger Weise fortgesetzt. Die Deutsche Landwirtschafts-Gesellschaft hat sich hier sehr aktiv engagiert und einge-bracht.
Wenn wir alle wollen, dass sich alle Menschen aufunserer Erde ausreichend und angemessen ernähren kön-nen, dann müssen wir effizient produzieren. Wenn wirdabei unsere natürlichen Ressourcen als Lebensgrund-lage für unsere Kinder und Enkel sowie alle nachfolgen-den Generationen erhalten wollen, dann müssen wirnatürlich effizient nachhaltig sein. Das ist ein hoher Auf-trag.Auf der zweiten Welternährungskonferenz – der ers-ten seit vielen Jahren, die die Vereinten Nationen ausge-richtet haben – hat Papst Franziskus den denkwürdigenSatz gesagt: „Gott vergibt immer … Die Erde aber ver-gibt nie.“ Das ist ein wichtiger Hinweis, den wir alle auf-nehmen müssen. Wir müssen zu einer nachhaltigenBewirtschaftung kommen, um die Ernährung der Men-schen zu sichern.Dem Millenniumsziel „Armut und Hunger bekämp-fen“ sind wir einen Schritt nähergekommen, aber nochimmer gibt es 800 Millionen Menschen auf der Welt, dieunter Unterernährung bzw. Mangelernährung leiden.Dem stehen 500 Millionen Menschen gegenüber, derenErnährung nicht ganz den Regeln und Vorschlägen derDeutschen Gesellschaft für Ernährung entspricht. Sieleiden unter Adipositas durch Überernährung bzw. Fehl-ernährung. Darüber sollte man sich überhaupt nicht er-heben; denn in vielen Fällen ist Fehlernährung eineFolge der sozialen Umstände.Deswegen müssen wir das im Verbund sehen. EinAuftrag, den ich aus Rom mitgenommen habe, ist übri-gens, dass wir diese Frage zwischen den verschiedenenRessorts und Politikbereichen abstimmen und entspre-chende Maßnahmen ergreifen. Ich bedanke mich beimBundesentwicklungsminister und beim Bundesministerfür Gesundheit dafür, dass wir diese Maßnahmen bereitsauf den Weg gebracht haben. Das Präventionsgesetz istein Teil dieses integrativen Verständnisses von Ernäh-rungspolitik.Wie wollen wir uns ernähren, und wie wollen wir dasrealisieren? Mein Anspruch ist, dass wir den gesell-schaftlichen Diskurs über die Zukunft der Ernährung ge-stalten und Deutschland zum Vorreiter in der Beantwor-tung dieser Fragen machen.
Metadaten/Kopzeile:
7492 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Bundesminister Christian Schmidt
(C)
(B)
Aber wie machen wir das, und wohin soll die Reise ge-hen? Wie sind die Rahmenbedingungen? Ich glaube, hiermüssen wir eine politische und kulturelle Debatte füh-ren.Es geht um die Frage, wie wir mit dem Wissen umge-hen, dass laut vielen Erkenntnissen – manchmal stellensich Erkenntnisse als überholt heraus und werden durchneuere ersetzt – Essen schädlich sein kann, aber Essenfür die menschliche Existenz unverzichtbar ist. Denkenwir an die Vorstellungen, die Jean-Jacques Rousseau vorJahrhunderten entwickelt hat, also „Zurück zur Natur“und der Mensch sei der Schädiger der Natur, und das seizu beenden. Man spürt, dass diese Denkweise mögli-cherweise zwar sehr idealistisch ist, aber einige Denk-fehler beinhaltet. Das kann es nicht sein.Wir dürfen uns jedoch auch nicht erheben und so tun,als wüssten wir ganz genau, was jeder zu essen odernicht zu essen habe. Wir müssen extreme gesundheitli-che Gefahren reduzieren. Wir müssen aber vor allem in-formieren. Wir dürfen den Teller nicht mit Regelungenvollpacken.Es ist notwendig, dass wir verbindliche Informationengeben. Die Lebensmittelinformationsverordnung, die aufeuropäischer Ebene beschlossen wurde und die ich um-gesetzt habe, mit ihren Regelungen zur Allergenkenn-zeichnung loser Ware zeigt, wie spannend die Abwä-gung zwischen einer Art Beipackzettel auf der einenSeite und einer viel zu kursorischen und nicht ausrei-chend in die Tiefe gehenden Information für Lebensmit-tel auf der anderen Seite ist. Ich denke, wir haben guteMaßstäbe gefunden. Damit will ich nicht sagen, dasssich daran nichts ändern kann, wenn wir aufgrund vonneuen Erkenntnissen neue Informationen bereitstellenmüssen. Aber diese Informationen müssen gut abgreif-bar und verständlich sein. Wir können und werden esnicht schaffen, dass wir jeden Menschen vor einemEssen zu einem Kundenseminar einladen und ihm dannvielleicht auch noch die Entscheidung abnehmen.
Wir müssen allerdings bei Kindern und Jugendlichensehr genau auf die Ernährung schauen. Schulverpfle-gung ist in der Tat ein ganz wichtiger Punkt. Ich nennehier das Deutsche Netzwerk Schulverpflegung. Wirmüssen und werden daran arbeiten, dies finanziell ent-sprechend zu unterstützen. Ich halte das für eine ganzwichtige Maßnahme.In der Schulverpflegung wird die Grundlage dafür ge-legt, wie man sich ernährt und was man isst. Dabei lerntman, dass nicht nur die vier Ps allein die Ernährung aus-machen: Pasta, Pommes frites, Pizza und Pfannkuchen,wie unsere Untersuchung gezeigt hat. Diese sind gut,aber nur in Maßen. Ich denke, hier besteht Handlungsbe-darf, dieses Thema in einer fürsorglichen, aber nicht diri-gistischen Art und Weise anzupacken.Lassen Sie mich nicht nur die Frage stellen: „Wiewollen wir produzieren?“, sondern auch auf die Fragenzu sprechen kommen, die besonders strittig diskutiertwerden. Ich möchte noch einmal darauf zurückkommen,was die Kritiker in diesem Zusammenhang sagen. Erstgestern habe ich gelesen, dass eine Gruppe von Men-schen gegen Tierhaltung überhaupt ist. Das ist zwar eineklare Position, aber die Frage, wie sich dann der Menschernähren soll, wird nicht beantwortet.Ich denke, dass wir bei der Tierhaltung Bedarf fürVerbesserung und Veränderung haben. Da tun wir auchwas. Ich will das an zwei Beispielen zeigen: Das eineBeispiel bezieht sich auf den Bereich der Geflügelkäfigeim Rahmen der Tierhaltungsverordnung, die wir jetzt an-gegangen sind und die in Kürze auf den Tisch gelegt undauf den Verordnungsweg gebracht wird, und das andereBeispiel bezieht sich auf Modell- und Demonstrations-vorhaben für mehr Respekt bei der Haltung von Schwei-nen. Hier hat unser Haus viel Geld in die Hand genom-men. Wir suchen nun bis zu 120 Betriebe, die in derPraxis testen, wie wir beispielsweise mit der Frage derReduzierung von nichtkurativen Eingriffen umgehenkönnen.Wichtig ist mir, dass der Trend, der da und dort inWortmeldungen zu erkennen ist, sich nicht in der Wahr-nehmung verfestigt. Es ist nicht so, dass unser Essenheute schlechter wäre als früher. Nein, es ist besser, es istgesünder, und es ist besser überwacht.
Es ist auch nicht so, dass Tiere im Stall unter unsägli-chen Bedingungen gehalten werden. Es gibt Ausreißer,über die wir reden müssen.Aber man sollte den Erlebnisbauernhof auf der Grü-nen Woche – das werde ich auch heute Nachmittag inmeiner Eröffnungsrede ansprechen, aber aus Respekt ge-genüber dem Parlament, finde ich, sollte ich das jetztschon sagen – durch einen Erlebnisbauernhof ergänzen,der zeigt, wie die Landwirtschaft vor 50 oder 100 Jahrenausgesehen hat.
Sie werden feststellen, dass Tierhaltung nach modernenSystemen, an denen wir auch heute arbeiten, weitaustierfreundlicher ist als die Tierhaltung früher.
Wir sollten auch vor denen Respekt haben, die ich alsdie stolzen Lodenjankerträger aus den 20er-Jahren be-zeichnet habe. Es ist nicht schön, und es ist nicht in Ord-nung, dass ein Berufsstand – damit meine ich nicht dieFunktionäre, sondern den Landwirt und die Landwirtin –sich in der gesellschaftlichen Diskussion nicht mehr wie-derfindet und sich potenziell immer gleich auf die An-klagebank gestellt sieht. Wir müssen den Dialog überFragen suchen. Wir müssen aber auch die, die produzie-ren, respektieren.
Ich bin sicher, dass uns das gelingt. Dann müssen wirauch über die kritischen Fragen der Grünen Gentechnikbzw. der Novel Foods – Novel Foods sind Sachen, die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7493
Bundesminister Christian Schmidt
(C)
(B)
mit Wachstum und Pflanzen gar nichts mehr zu tun ha-ben – reden. Das können wir nicht einfach laufen lassen,genauso wenig, wie wir die Grüne Gentechnik oder bei-spielsweise Wachstumsbeschleuniger in Hormonabga-ben bei Fleisch laufen lassen können. Das geht nicht.
Deswegen müssen die Standards auf europäischer Ebeneso bleiben, wie sie sind. Ich glaube, das ist in der letztenWoche sehr deutlich geworden.
Bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass wir in diesenFragen viel Gutes an guten Beispielen zeigen können,dass es aber auch darum geht – damit komme ich zurzweiten Welternährungskonferenz zurück –, unsereErkenntnisse, unser Wirtschaften und auch unsere Erfah-rungen auf andere Länder zu übertragen. Ich treffe mor-gen und übermorgen an die 70 Landwirtschaftsminister-kollegen aus der ganzen Welt und Vertreter der VereintenNationen, der Welternährungsorganisation und vonNichtregierungsorganisationen, mit denen wir über dieFrage reden wollen, wie wir das, was die Schöpfung unsals Möglichkeit gibt, für die Ernährung nutzen könnenund wo wir etwas ändern und wo wir besser werdenmüssen. Ich denke, dass von Berlin ein Zeichen in dierichtige Richtung ausgehen kann.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Minister. – Nächste Rednerin ist
für die Fraktion Die Linke die Kollegin Karin Binder.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Meine Damen und Herren! Die promi-nente Redezeit haben wir heute einerseits sicherlich demHerrn Minister, aber andererseits auch der Internationa-len Grünen Woche zu verdanken. Ich denke, es ist einegute Gelegenheit, bei einem solchen Anlass in Berlin un-seren Themen auch im Bundestag mehr Aufmerksamkeitzu verschaffen. Das darf sich aber nicht darin erschöp-fen, dass Sonntagsreden gehalten oder Schaufensteran-träge vorgelegt werden. Nein, wir müssen hier und heuteauch Verbindlichkeit schaffen.
Ich teile meinen Redebeitrag in zwei Bereiche auf,nämlich in den großen Bereich Klarheit und Wahrheitund den ebenso großen Bereich Theorie und Praxis. ZurKlarheit und Wahrheit gehören für mich Information,Kennzeichnung, das Thema Werbung und die Lebens-mittelbuch-Kommission.Damit fange ich am besten gleich an. Die DeutscheLebensmittelbuch-Kommission ist eine Einrichtung, diebeispielsweise definieren darf, wie viel Leber eine Le-berwurst enthalten muss, damit sie als solche bezeichnetwerden darf – der Anteil an Leber darf tatsächlich geringsein –, oder bis zu welchem Anteil Schweinefleisch– dieser Anteil darf tatsächlich größer als erwartet sein –sich eine Wurst Geflügelwurst nennen darf. Ich haltedies für nicht zulässig. Diese Kommission hat die Auf-gabe, Verbraucherinteressen zu wahren und nicht die In-teressen der Lebensmittelwirtschaft. Diese hat sich aberleider bisher in dieser Kommission in den meisten Fällendurchgesetzt.
Deshalb fehlt echte Information und gibt es keine Trans-parenz. Wir müssen in unserem Ausschuss für Ernäh-rung und Landwirtschaft dringend darüber reden, wieeine solche Kommission künftig zusammengesetzt wird,wie sie zu arbeiten hat, wie viel Transparenz hergestelltwerden soll, was zu veröffentlichen ist und wer hier tat-sächlich das Sagen hat, und zwar im Interesse der Ver-braucherinnen und Verbraucher.
Klarheit und Wahrheit bedeuten auch Informations-anspruch der Verbraucherinnen und Verbraucher nachdem Verbraucherinformationsgesetz. Bisher gibt es ei-nen solchen Anspruch nicht. Wenn ein Verbraucher beieiner Firma anruft, um mehr über die sozialen Herstel-lungsbedingungen zu erfahren, dann wird er keine Aus-kunft bekommen. Wir möchten aber, dass im Verbrau-cherinformationsgesetz ein solcher Anspruch verankertwird. Menschen haben ein Recht darauf, zu erfahren, un-ter welchen ökologischen und sozialen Bedingungen Le-bensmittel produziert werden. Das muss verbindlich ge-regelt werden.
Ein weiteres Thema ist die Kennzeichnungspflicht. Siewerden feststellen, dass sich derzeit auf Verpackungen diesogenannte GDA-Kennzeichnung befindet. Auch hier hatsich leider die Lebensmittelwirtschaft durchgesetzt. Wirwürden gerne die Ampelkennzeichnung einführen, undzwar verbindlich; denn nur so lässt sich beim Einkaufenschnell erkennen, wie hoch der Anteil an Zucker, Fettoder Salz tatsächlich ist und ob es Alternativen gibt.Beim Einkaufen kann man Produktbeschreibungen in1,2 Millimeter Schriftgröße nicht geschwind überflie-gen, um eine vernünftige Entscheidung zu treffen. Des-halb wollen wir die Ampelkennzeichnung verbindlicheinführen.Lebensmittelwerbung darf außerdem nicht irrefüh-rend sein. Wir wollen keine Vermengung von echter In-formation und Werbung. Wir wollen erst recht nicht,dass Kinder durch Lebensmittelwerbung bespaßt undverführt werden. Wir wollen, dass die Bereiche, für diesich Kinder interessieren, frei von Werbung sind. Egalob es um Gummibären oder Müsli- und Schokoriegelgeht, Kinder sollen nicht als Kunden gewonnen und kon-ditioniert werden.
Metadaten/Kopzeile:
7494 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Karin Binder
(C)
(B)
Denn falsches Ernährungsverhalten wird oft schon imKindesalter angeeignet, und diese Fehlernährung setztsich im Erwachsenenalter fort.Kommen wir nun zum Thema „Theorie und Praxis“.Ein wichtiger Punkt ist die Verführung von Kindern imKassenbereich; das hat in den letzten Tagen hohe Wellengeschlagen. Zwei Stunden nachdem ich eine Erklärungdazu abgegeben habe, habe ich eine Rückmeldung vonder Süßwarenindustrie erhalten; es ging also ziemlichschnell.
Eltern, die mit ihren Kindern im Supermarkt einkaufen,wissen, wovon ich rede. Kurz vor der Kasse beginnt dieSüßwarenzone. Kinder, die nach dem Einkauf ohnehinmüde, quengelig und aufgedreht sind, bleiben in diesemBereich in der Regel stehen, weil sie unbedingt diesesoder jenes noch haben möchten. Die Eltern, die sicher-lich wissen, dass diese Produkte nicht guttun und dass eszu Hause ausreichend Süßigkeiten gibt, kaufen dieseProdukte dann doch, um Ruhe zu haben. Wir wollen denKassenbereich süßwarenfrei haben,
damit Kinder nicht zu einem höheren Konsum von Sü-ßigkeiten verführt werden.
So viel zur Quengelzone.Jetzt komme ich zum Thema „Gesunde Ernährung füralle“. Mir ist es wichtig – ich finde auch die Ansätze indem Antrag der Koalitionsfraktionen nicht schlecht –,die DGE-Standards, also die Standards der DeutschenGesellschaft für Ernährung, verbindlich zu verankern,auch für die Gemeinschaftsverpflegung, auch für Senio-renheime, auch für Krankenhäuser, aber insbesonderefür Schulen und Kindertagesstätten. Ich halte es für ex-trem wichtig, hier verbindlich geregelte Qualitätsstan-dards zu haben, weil nur so tatsächlich qualitativ hoch-wertige Verpflegung gewährleistet ist und nicht der Preisdie Schulverpflegung diktiert.Leider ist das heute der Fall. Deshalb ist für michauch ganz klar: Wir brauchen eine Verbindlichkeit, undwir brauchen eine verbindliche Finanzierung durch denBund. Anders werden das die Bundesländer und dieKommunen nicht hinbekommen. Wir brauchen eineSchulverpflegung, deren Qualität definiert ist und für diees einen Zuschuss vom Bund von 4 bis 5 Euro pro Kindgibt. Der Bund muss für die Für- und Vorsorge der Kin-der zuständig sein, er muss Prävention im Sinne einergesunden Ernährung betreiben.
Das müssen wir verbindlich regeln, damit beimThema der gesunden Ernährung Theorie und Praxisnicht auseinanderklaffen und damit die Kinder schon injungen Jahren Zugang zu einer gesunden Ernährungs-weise bekommen. Dann können sie auch als Erwachsenedas, was sie als Kinder erfahren haben, praktizieren undein gesundes Leben führen.
Jetzt habe ich noch einen letzten Punkt. Der betrifftdie Lebensmittelvernichtung.
Frau Kollegin, denken Sie an die vereinbarte Rede-
zeit.
Ich habe noch einen Schlusssatz.
Wenn wir wollen, dass die Vernichtung von Lebens-
mitteln um 50 Prozent reduziert wird und die Ver-
schwendung von Lebensmitteln aufhört, dann müssen
wir die gesamte Kette ins Auge fassen. Es müssen ver-
bindliche Regeln für die Lebensmittelerzeugung und den
Handel her. Dazu brauchen wir die Ergebnisse einer Stu-
die, die leider noch nicht vorliegen. Ich kann Sie nur auf-
fordern: Lassen Sie zu, dass auch der Handel und die
Hersteller in die Pflicht genommen werden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächste Rednerin ist für die SPD die Kollegin Ute
Vogt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Inunserem Antrag „Gesunde Ernährung stärken – Lebens-mittel wertschätzen“ heißt es: „Politik und Staat könnenund wollen den Menschen keinen bestimmten Lebensstilvorgeben.“
Ich denke, es ist richtig, dass wir deutlich machen: Esgeht nicht darum, dass wir Menschen vorschreiben, wassie in ihren Einkaufskorb legen oder was sie am Ende es-sen und trinken sollen, aber es geht schon darum, dasswir hier Mitverantwortung dafür tragen, dass sich dieMenschen darauf verlassen können, dass die Lebensmit-tel, die sie kaufen, auch sicher sind.
Es ist für uns ein soziales Grundrecht, dass Lebens-mittel gesund und bezahlbar sind und dass Menschen dieMöglichkeit haben, gesunde Lebensmittel zu erwerben,egal ob sie sie an der Lebensmitteltheke kaufen, ob sieauf den Markt gehen, ob sie unmittelbar beim bäuerli-chen Erzeuger einkaufen oder ob sie im Discounter ihreLebensmittel erstehen. Ich denke, dafür stehen wir in derVerantwortung.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7495
Ute Vogt
(C)
(B)
Es gibt erfreulicherweise und Gott sei Dank sehr vieleverantwortungsvolle Lebensmittelproduzenten, vor al-lem auch in der bäuerlichen Landwirtschaft. Wir werdenauf der Grünen Woche Gelegenheit haben, viele von ih-nen zu treffen und uns davon zu überzeugen, dass inDeutschland Lebensmittel von hoher Qualität produziertwerden.
Aber es gibt genauso Bereiche, in denen oft schwer-wiegende Missstände herrschen. Wir können heute Mor-gen diese Debatte nicht führen, ohne nicht auch daraufhinzuweisen, dass gerade erst vor drei Tagen wieder eineneue Meldung über den Einsatz von Antibiotika bei derFleischerzeugung in unseren Gazetten zu lesen war. Ichzitiere aus der Süddeutschen Zeitung: „Ekel für wenigGeld“. So lautete dort eine Überschrift. In einer Untersu-chung des BUND wurde festgestellt, dass billigesFleisch besonders häufig mit antibiotikaresistenten Kei-men belastet ist. Das war im Übrigen eine Untersuchung,wie sie von der Stiftung Warentest vor etwa einem Jahrschon einmal durchgeführt worden war – mit leider ähn-lich erschreckenden Ergebnissen. Laut Zeitung warendrei von vier Putenfleischproben schwer belastet.Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch hier sind wirin der Verantwortung, Fehler, die im System liegen,ebenfalls zu beheben. Es leiden hier Verbraucherinnenund Verbraucher. Es leiden hier im Übrigen auch Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer, die in diesen Betriebenarbeiten und zum Teil ausgebeutet werden, und es leidennicht zuletzt auch die Tiere, die man unter Bedingungenhält, die nichts mehr mit artgerechter Haltung zu tun ha-ben.
Wenn es um Ernährung und gesunde Lebensmittelgeht, spielen viele Faktoren eine Rolle. Durch die Ein-führung des Mindestlohns haben wir es zum Beispiel ge-schafft, gerade in der Lebensmittelbranche zumindestbessere Arbeitsbedingungen als solche an der unterstenGrenze festzulegen. Was trotzdem noch angepackt wer-den muss – ich bin froh, dass Ministerin Nahles diesesThema angeht –, ist das Thema Werkverträge, das ge-rade im Bereich der Fleischproduktion eine große Rollespielt. In diesem Bereich werden oft osteuropäische Ar-beiterinnen und Arbeiter missbraucht, um billig zu pro-duzieren.
Es geht darum, dass wir das, was der Minister mit derEinrichtung des „Kompetenzkreises Tierwohl“ angesto-ßen hat, gerade auch in der Lebensmittelproduktion ernstnehmen, dass wir wahrnehmen, dass Tiere, die zusam-mengepfercht leben, krank werden, dass diejenigenTiere, die krank werden, mehr Antibiotika brauchen unddass das dann wiederum zu einer Schädigung der Ver-braucherinnen und Verbraucher führt. Deshalb sollteman die Haltungsbedingungen den Tieren anpassen undnicht umgekehrt. Auch das ist eine Regelung, die für unsim Zusammenhang mit dem Grundrecht auf gute und si-chere Lebensmittel notwendig ist.
Für uns gehört dazu, dass wir uns der Aufgabe stellen,das Tiergesundheitsrecht neu zu ordnen und auch dieVerordnungspraxis zu überprüfen. Aber ich will aus-drücklich sagen: Die Praxis der Verordnung von Anti-biotika – ungeprüft, ohne vorherige Spezifizierung – istnicht nur ein Thema für die Tierärzte, sondern auch derHumanmedizin. Dieses Thema betrifft nicht zuletzt dieHygienemaßnahmen in den Krankenhäusern. Ich glaube,das ist das nächste große Themenfeld, das wir zusam-men mit unseren Gesundheitspolitikerinnen und -politi-kern angehen sollten.
Schließlich geht es uns darum, dass wir die Macht derVerbraucherinnen und Verbraucher stärken, dass wir da-für sorgen, dass die Lebensbedingungen von Tieren ver-bessert werden und dass die Herkunft der Produkte aufden Produktverpackungen nachlesbar ist, dass es Labelsmit nachvollziehbaren Beschriftungen gibt und dass esnicht bei dem Wirrwarr bleibt, wie wir es im Moment invielen Kennzeichnungsbereichen leider haben.In diesem Zusammenhang bin ich durchaus IhrerMeinung, Kollegin Binder, dass wir auch das Thema Le-bensmittelbuch-Kommission behandeln sollten; denn eskann nicht sein, dass das Ministerium mit großem Enga-gement das Internetportal www.lebensmittelklarheit.debeworben hat und dass wir auf der anderen Seite eineKommission haben, die eigentlich permanent zur Verun-klarung beiträgt. Wir sind gerne bereit, da noch einmaldie Initiative zu ergreifen.
Schließlich möchte ich noch darauf hinweisen: DieStruktur der Lebensmittelbranche in Deutschland um-fasst vier große Anbieter, die ein Oligopol bilden. Diesevier Großen haben eine besondere Verantwortung, wennes darum geht, den Wert der Lebensmittel entsprechendzu schätzen. Es geht nicht, dass diejenigen, die sichMühe geben, Lebensmittel von hoher Qualität zu erzeu-gen, im Preis ständig gedrückt werden, dass man dieHersteller geißelt und knebelt, weil man gemeinsampraktisch Monopolmacht hat. Auch hier appelliere ich andie Verantwortung dieser Unternehmen.Ich denke, dass wir in der Koalition auch schauenmüssen, ob wir nicht eine Möglichkeit finden, in Formeines Ombudsmanns oder einer Ombudsfrau eine Stellezu schaffen, bei der sich auch die melden können, die alsHerstellerinnen und Hersteller, als Produzenten unterenormen Druck kommen, weil die Lebensmittelbrancheso aufgestellt ist, wie sie ist, und weil die Konkurrenz imMoment leider hauptsächlich über den Preis läuft.
Metadaten/Kopzeile:
7496 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
(C)
(B)
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin
Nicole Maisch für Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichmöchte mit einem Lob anfangen – das soll man ja ma-chen, wenn es angemessen ist –: Der Antrag der Koali-tion ist nicht schlecht.
– Ja, darin sind gute Forderungen. Das ist auch einmalganz schön. Wir haben sonst viel zu streiten, gerade imBereich Landwirtschaft und Ernährung. Es ist gut, dasses den gemeinsamen Willen aller drei Gruppen gibt, diehier Anträge vorgelegt haben, dass es den Kindern inden Schulen und Kindergärten, was das Essen betrifft,besser gehen soll. Ich finde es erst einmal gut, dass die-ser gemeinsame Wille da ist.
Das ist ein gutes Zeichen, und vor allem ist es ein starkesSignal an die Bundesregierung, die da aktiv werdenmuss.Aber, ich finde, die Große Koalition müsste sichschon noch mehr Gedanken machen. Das letzte Mal, alsSie kooperiert haben, haben Sie das Kooperationsverbotin die Verfassung hineingeschrieben. Sie wollen jetzt dasThema Ernährung in den Lehrplänen verankern, Siewollen einen TÜV für Caterer an Schulen, Sie wollenEinfluss auf die Ausschreibung beim Schulessen – unddas alles ohne jede Bundeszuständigkeit. Da wünscheich Ihnen viel Erfolg, ganz ehrlich; aber ich glaube, Siemüssten zuerst einmal einen großen Fehler beheben,nämlich das, was Sie bei der letzten Föderalismusreformverbockt haben.
Das heißt: Weg mit dem Kooperationsverbot! Dann kön-nen Sie auch beim Schulessen aktiver werden.
Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei all Ihren schönenForderungen. Sehr viel davon fußt darauf, dass der Minis-ter sehr stark aktiv werden muss. Bei allem Respekt,glaube ich, kann man sagen: Der größte Aktivposten indieser Großen Koalition, in dieser Regierung ist er bis-her nicht gewesen. Das wissen Sie auch. Deshalb habenSie zum Beispiel zum Thema Lebensmittelverschwen-dung treuherzig in Ihren Antrag geschrieben:Wir bekräftigen die Forderungen aus dem Antrag„Lebensmittelverluste reduzieren“ …Dieser Antrag ist von Oktober 2012.Passiert ist seitdem nicht viel. Dieses „Wir bekräfti-gen“, Herr Schmidt, übersetze ich gern für Sie: Damitmeinen Ihre Leute von CDU/CSU und SPD: HerrSchmidt, kommen Sie in die Puschen! Setzen Sie um,was wir hier gemeinsam schon vor fast drei Jahren be-schlossen haben!
Aber interessanter als das, was Sie aufgeschrieben ha-ben, ist das, worüber Sie in Ihrem Antrag schweigen,nämlich darüber, was unser gutes Essen bedroht, wasQualität, Gesundheit, Vielfalt und Würde von Menschund Tier infrage stellt. Sie sagen in diesem Antrag – an-ders als die Rede von Frau Vogt vielleicht vermuten lässt –kein Wort zu den Arbeitsbedingungen in der Fleisch-branche,
zu den Zuständen in den Schlachthöfen. Es gibt keineForderung, die lautet: Weg mit dem mafiösen Miss-brauch von Werkverträgen! Weg mit dem Lohnraub! –Es findet sich nichts gegen die Ausbeutung vor allemvon osteuropäischen Beschäftigten. Sie haben keine For-derung zu gutem Arbeitsschutz und keine Forderungzum Ende des Missbrauchs von Werkverträgen.
Es ist schön, so etwas hier in Reden zu sagen; aber ichhätte mir gewünscht, dass Sie das gemeinsam mit derUnion aufschreiben. Das haben Sie bisher noch nichthinbekommen.
Ich finde, man muss an dieser Stelle auch den Fleisch-baronen und ihren Subunternehmern – aus welchenMilieus auch immer sie kommen – sagen: Wir schreibendas Jahr 2015 und nicht das Jahr 1915, und so müssendie Arbeitsbedingungen in den Schlachthöfen auch sein.
Sie haben in Ihrem Antrag auch keine Forderung zumThema „multiresistente Keime“. Meine Vorrednerin hatgesagt: 88 Prozent der bei Discountern gekauften Puten-fleischproben waren mit antibiotikaresistenten Keimenverseucht. – Ja! Daraus muss man aber Konsequenzenziehen.
Da reicht es nicht, wenn man sich hier vorn hinstellt undjammert, sondern da muss man sagen: Weg mit den Re-serveantibiotika aus unseren Ställen! Aber das kriegenSie, glaube ich, auf der anderen Seite des Hauses nichtvermittelt, und deshalb steht es nicht in Ihrem Antrag.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7497
Nicole Maisch
(C)
(B)
Dann muss man auch sagen: „Weg mit den Mengen-rabatten für Antibiotika!“, damit sich diese Dauermedi-kation finanziell überhaupt nicht mehr lohnt. Auch dassteht nicht im Antrag. Das ist die Schwäche Ihres An-trags: dass Sie da, wo es knirscht und kneift mit derUnion, einfach den Mantel des Schweigens ausbreiten.
Was falsch läuft bei unserem Essen, das steht nicht inIhrem Antrag. Das passt nicht auf den schwarz-roten Er-lebnisbauernhof.
Zu viel Transparenz stört die Harmonie bei der GrünenWoche. Deshalb wollen Sie auch gar nicht mehr Infor-mation für Verbraucherinnen und Verbraucher. Dabeiläuft doch genau da so viel schief.Gestern haben die Verbraucherzentralen eine Studieveröffentlicht, gemäß der für 63 Prozent der untersuch-ten Lebensmittel mit irreführenden Aussagen geworbenwird. Meistens sind es Gesundheitsversprechen – besse-res Wachstum, gesunde Knochen, scharfe Augen –, undsehr oft werden Eltern mit solchen falsch etikettiertenKinderlebensmitteln übers Ohr gehauen. Wir sagen: Ver-brauchertäuschende Werbung, irreführende Produktauf-machung gehört verboten! Da müssen Sie sich dranset-zen. Da helfen freiwillige Vereinbarungen nicht weiter.Ich möchte Ihnen noch einen Vorschlag aus unseremAntrag unterbreiten, von dem ich denke, es macht sehrviel Sinn, ihn zu diskutieren, weil spätestens über denBundesrat dieser Vorschlag auch hier wieder auftaucht.Wir haben es mit dem Slogan „Kein Ei mit der Drei“ ge-meinsam geschafft, dass Eier aus Käfighaltung weitge-hend aus unseren Regalen verschwunden sind, übrigensauch beim Discounter. Bei den Frischeiern finden Siekaum noch solche, die mit einer „3“ gekennzeichnetsind, auch nicht bei Aldi und Lidl.
Die, die jetzt den Kopf schütteln, nehme ich gerne ein-mal mit zum Einkaufen. „Kein Ei mit der Drei“ – daswar ein Erfolg.
Wir wollen, dass es für Fleisch eine analoge Kenn-zeichnung gibt. Wir wollen, dass es in Zukunft nicht nurheißt: „Kein Ei mit der Drei“, sondern auch: „Kein Steakmit der Drei“ und „Kein Schnitzel mit der Drei“.
Dann bekommen wir wirklich Transparenz in denFleischmarkt. Dann können die Verbraucherinnen undVerbraucher endlich frei entscheiden.
Weil wir gerade beim Fleisch sind: Herr Schmidt, Siehaben ja die Leute erwähnt, die Tierhaltung ganz ableh-nen. Das sind die Veganer. Das sind nicht so furchtbarviele; von denen braucht man sich nicht bedroht zu füh-len. Aber die haben eine Eigenschaft: Die können ganzhervorragend kochen. Ich habe vorhin mit meiner AGbesprochen: Wir laden Sie gerne einmal ein, mit uns zu-sammen in eines der vielen veganen Restaurants in Ber-lin essen zu gehen. Das heißt nicht, dass man am Endesämtliche Einstellungen der Veganer übernehmen muss,aber man kann zumindest sehen, dass man nicht gleichverhungert, wenn man vegan isst.
Kolleginnen und Kollegen, am Samstag werden wie-der Tausende Menschen hier in Berlin für besseres Essenund eine andere Landwirtschaftspolitik demonstrieren.Ich glaube, es ist ein Fehler, vor allem des Bauernver-bandes, aber auch von großen Teilen der Union, zu glau-ben, dass sich diese Demonstration gegen die Bauernrichtet. Mitnichten! Das ist eine Demonstration gegenIhre Agrarpolitik.
Wenn Sie sagen, wir griffen die Bauern an, dann verste-cken Sie sich hinter der Branche. Das ist eine Demon-stration, die sich gegen eine falsche Agrarpolitik richtet.
Deshalb werden wir am Samstag hier wieder demon-strieren. Ich glaube, dass es auch diesmal wieder sehrviele Leute sein werden, die sagen: Wir wollen eine an-dere Agrarpolitik. Wir wollen besseres Essen. Und dafürgehen wir gemeinsam auf die Straße.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Maisch. Ich darf Sie ins-
besondere für die präzise Einhaltung der Redezeit loben.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Katharina
Landgraf, CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Unsere heutige Debatte findet ja kurz vor demMittagessen statt. Vielleicht gönnen Sie sich trotz desEröffnungsrundganges über die Grüne Woche heuteAbend bereits nachher schon ein warmes Mittagessen ineinem der Restaurants des Bundestages. Angenommen,Sie schaffen das zeitlich und lassen sich erwartungsvollnieder: Was würden Sie dann sagen, wenn der Oberkell-ner freudestrahlend statt des üblichen Bestecks zweiBrechstangen aus hartem Stahl neben Ihren Teller legt,für die heiße Vorspeise einen unförmigen Löffel bringt,
Metadaten/Kopzeile:
7498 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Katharina Landgraf
(C)
(B)
der wie ein Gesetzesparagraf aussieht, und außerdemstatt der gewohnten Speisekarte ein Blatt aus dem Bun-desanzeiger mit den aktuellen Speiseverordnungen fürdas Restaurant und seine hungrigen Gäste überreicht?
Freundlich kommentiert der Kellner: Das ist unser krea-tiver Beitrag, um das Thema gesunde Ernährung endgül-tig zu knacken. – „Wie bitte?“, werden Sie verdutzt fra-gen. Mit einer Brechstange kann man sicherlich eineWalnuss aufschlagen, um an die Frucht zu kommen.Aber gesundes Essen nach der Vorgabe des Bundesan-zeigers? Nein danke!
Die Nahrungsaufnahme als eine der ältesten Kultur-techniken der Zivilisation funktioniert wohl kaum miteiner Brechstange. Wir brauchen dafür andere Instru-mente, die wir mit Geschick und Grips einsetzen. AmEnde wollen wir alle die Mahlzeit auch genießen und sienicht als profane Energieaufnahme empfinden.Ich lasse Ihnen allen jetzt gern jegliche Freiheit, dieseeben geschilderte imaginäre Szene zu interpretieren.
Fakt ist doch eines: Die Brechstange ist sicherlich hilf-reich für grobe Dinge auf dem Bau oder beim Abriss,aber völlig ungeeignet für solche feinsinnigen Dinge desLebens wie eben die Ernährung. Sie ist eher eine Ange-legenheit des Kopfes, der Sinne und des Wissens. Nichtsist persönlicher und direkter auf den Menschen bezogenals die Ernährung. Sie ist lebensnotwendig, lebensbeja-hend und im negativen Falle sogar lebens- und gesund-heitsbedrohend. Man kann es nicht oft genug wiederho-len: Jeder Mensch trägt hier eine direkte persönlicheVerantwortung. Wenn er diese noch nicht oder nichtmehr wahrnehmen kann, so sind es engagierte Men-schen, die diesen Schutzbefohlenen zur Seite stehenmüssen. Politik und Staat müssen hier flankierend undhilfreich wirken, ohne jedoch die eigentliche persönlicheVerantwortung des Einzelnen zu übernehmen oder dieseübernehmen zu wollen.Das ist auch die Zielrichtung unseres heutigen An-trags. Entscheidend für das Ernährungsverhalten undinsgesamt für eine gesunde oder ungesunde Ernährungist die Lebenskompetenz des Menschen mit seinem Wis-sen, seiner Bildung, seinen Erfahrungen und nicht zu-letzt mit seinen ganz persönlichen Veranlagungen. Letz-tere stellen Eltern nicht selten vor ein Rätsel. Bei meinenacht heranwachsenden Enkeln erlebe ich selbst mit gro-ßem Erstaunen, wie unterschiedlich sich das jeweiligeErnährungsverhalten entwickelt.Erziehungswissenschaftler und Weiterbildungsexper-ten sagen mir, dass rund 80 Prozent der Lebenskompe-tenz des Menschen nicht in den allgemeinbildendenSchulen entwickelt wird. Man eignet sie sich durch er-fahrungsbezogenes Lernen im Leben vor und nach demSchulbesuch an.
Also ist die gesunde Ernährung eine generationenüber-greifende und in jedem Lebensalter wichtige Lernauf-gabe. Ihre Erfüllung ist gelebte Eigenverantwortung ei-nes jeden Menschen: für sich selbst und für alle seineSchutzbefohlenen.Als Familienpolitikerin möchte ich auch hier mit al-lem Nachdruck feststellen: Der zentrale Ort für die Ent-wicklung der erforderlichen Ernährungskompetenz istim Normalfall die Familie in ihrer Vielfalt mit ihren Tra-ditionen und Gepflogenheiten.
Eltern und Großeltern vermitteln noch vor der Schulbil-dung ihren Kindern und Enkelkindern das Thema „Ge-sunde Ernährung“ mit ihrem persönlichen Wissen undihrem persönlichen Vorbild.Dieses traditionelle und nicht zu ersetzende Lebens-zentrum wird durch Politik und Staat mit vielfältigen In-strumenten aktiv unterstützt; so in der Hauptsache durchdie schulische und berufliche Bildung sowie durch öf-fentliche Aufklärung. Außerdem sind Bildungsangebotefür Eltern, insbesondere für werdende Mütter, ebenfallsgrundlegende Hilfen.
Eine hochwertige und altersgerechte Schulverpfle-gung sowie eine fundierte schulische Ernährungsbildungsind eine bedeutende öffentliche Unterstützung der ge-sunden Ernährung von Kindern und Jugendlichen. Bei-des ist insofern wichtig, weil immer mehr Kinder undJugendliche über etliche Jahre hinweg tagsüber einelange Zeit in der Schule verbringen. Die anlässlich desersten „Bundeskongresses Schulverpflegung 2014“ imNovember vorigen Jahres durch das Bundesministeriumfür Ernährung und Landwirtschaft initiierte Qualitäts-offensive zur Verbesserung des Schulessens ist Basis füreine gemeinsame Strategie von Bund, Ländern, Kommu-nen und Schulen.Der Bundestag unterstützt seit 2008 den NationalenAktionsplan IN FORM als Deutschlands Initiative fürgesunde Ernährung und Bewegung. Damit soll erreichtwerden, dass Kinder gesünder aufwachsen, Erwachsenegesünder leben und von einer höheren Lebensqualitätund einer gesteigerten Leistungsfähigkeit profitieren.Die Fortführung von IN FORM bis zum Jahr 2020 mussallerdings mit einer stärkeren Breitenwirkung der viel-fältigen Aktivitäten und Projekte verbunden werden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste auf derBesuchertribüne, die Internationale Grüne Woche, dieheute Abend eröffnet wird, ist die traditionelle und welt-weit bekannte Leistungsschau der Land- und Ernäh-rungswirtschaft. Jährlich nutzen rund 400 000 Besuche-rinnen und Besucher dieses Treffen, um Speisen undGetränke aus den Regionen Deutschlands wie auch ausaller Welt zu probieren und Tiere in Augenschein zunehmen. Sie informieren sich über die Entwicklungen inder Produktion von Lebensmitteln. Die InternationaleGrüne Woche bietet vielfältige Gelegenheiten zur Kom-munikation über die Zukunft der Branche sowie über be-stehende und zu lösende Probleme.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7499
Katharina Landgraf
(C)
(B)
Essen und Trinken haben in den Lebenswelten derBürgerinnen und Bürger immer mehr einen festen unddauerhaften Platz. Das ist nicht zuletzt der umfangrei-chen Präsentation in den Medien geschuldet. Die Ver-braucherinnen und Verbraucher in unserem Land erlebenin ihrem Alltag eine nur schwer zu überblickende Viel-falt und Menge an Angeboten von landwirtschaftlichenProdukten und Nahrungsmitteln. Wie nie zuvor könnensie dabei auf sichere, qualitativ hochwertige und auch er-schwingliche Lebensmittel, insbesondere auf regionaleProdukte, zurückgreifen. Dafür gebührt den Landwirtenund auch den Nahrungsmittelproduzenten Dank undWertschätzung.
Die Entscheidung darüber, in welcher Weise die An-gebote und Möglichkeiten genutzt werden, sind stets in-dividuell geprägt, jedoch auch durch viele äußere Fakto-ren wie Werbung und Verbraucherinformationen positivoder negativ beeinflusst. Die zunehmende Diskrepanzzwischen dem vielfältigen Angebot von hochwertigenLebensmitteln, die eine gesunde Ernährung ermöglichenund befördern, und dem stetigen Anwachsen ernäh-rungsbedingter Krankheiten auf der anderen Seite erhöhtfür uns Politiker den Handlungsdruck. Es ist unbestrit-ten: Viele gesundheitliche Probleme haben ihre Ursachein ungesundem Ernährungsverhalten, zum Beispiel imübermäßigen Verzehr von energiereicher Kost. Das istein gesellschaftliches Dilemma, aus dem wir nicht mitBrechstange und Paragrafen herauskommen. Wir brau-chen noch mehr zündende Ideen, die jeden dazu inspirie-ren, bei der gesunden Ernährung mit ganzem Herzen da-bei zu sein. Klar ist: Es ist das gemeinsame Ziel derKoalition von CDU/CSU und SPD, in Deutschland einnachhaltig wirkendes gesellschaftliches Umfeld zuschaffen, das es allen Menschen ermöglicht, sich gesundund bewusst zu ernähren, und die Bürgerinnen und Bür-ger in allen Lebenswelten dazu motiviert.Meine Damen und Herren, meine Rede hatte ich miteiner fiktiven Szene aus dem Bundestagsrestaurant be-gonnen. Schließen möchte ich mit einem realen Bild, dasuns das Problem veranschaulicht: Auf dem modern ge-stalteten Bahnsteig des Bitterfelder Bahnhofs, der un-scheinbar grau ist, kann man etwas entdecken: einenFarbtupfer mit den Slogans „Frisch und Lecker“ und„Einfach genial!!!“ – mit drei Ausrufezeichen und einemerhobenen Daumen darunter. Im Hintergrund sind vielebunte Bonbons einer bekannten Marke zu sehen. DasPlakat verziert die Seiten- und Rückwand eines üblichenSelbstbedienungsautomaten mit allerlei Süßem – festoder auch flüssig. Wenn irgendwann mal ein mit solcherWerbung versehener Automat nicht nur in Bitterfeld fri-sches Obst und gesunde Getränke feilbieten sollte, dannhaben wir – symbolisch gesehen – etwas gekonnt in Sa-chen gesunde Ernährung. Aber auch hier sollten wirnicht mit der Brechstange agieren.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin
Caren Lay von der Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Auch ich freue mich sehr, dass wir zum wichti-gen Thema gesunde Ernährung heute in der Kernzeitsprechen können. Ich finde auch, dass wir es bei so ei-nem wichtigen Thema nicht bei formlosen Appellen be-lassen sollten, sondern tatsächlich Butter bei die Fischegeben und über genau diejenigen Bereiche sprechen soll-ten, die eine gesunde Ernährung und die Informationüber gesunde Ernährung gefährden. Deswegen meineich, dass wir beim Thema gesunde Ernährung beispiels-weise auch über das geplante Freihandelsabkommenzwischen der Europäischen Union und den USA, TTIP,sprechen müssen.
Ich finde es gut, dass der Minister heute auch einigekritische Worte zu einzelnen Punkten gefunden hat; dennin der Südwest Presse hat er noch vor einiger Zeit er-klärt, TTIP sei für die Verbraucher keine Bedrohung,sondern eine Chance. Da höre ich wohl nicht richtig!Wenn das Freihandelsabkommen eine Chance ist, dannist es eine Riesenchance für die Konzerne, aber dochnicht für die Verbraucherinnen und Verbraucher.
Herr Minister, Sie befürchten beispielsweise – das ha-ben Sie auch gesagt –, dass die regionalen Herkunftsbe-zeichnungen möglicherweise aufgeweicht werden, dassdann beispielsweise eine Spreewald-Gurke auf denMarkt kommt, die den Spreewald noch nie gesehen hat.Diese Befürchtung teile ich.Nehmen wir das Thema Hormonfleisch. Es ist be-kannt, dass in der gigantischen und durchindustrialisier-ten Fleischproduktion in den USA Wachstumshormonezum Einsatz kommen. Diesen lehnen die Verbraucherin-nen und Verbraucher bei uns ab. Der Import von Hor-monfleisch in die EU ist zu Recht verboten. Wir finden,dass das so bleiben soll. Deswegen freut mich, dass derMinister dieses Thema heute angesprochen hat. Aller-dings sehen die NGOs die Gefahr, was den Import diesesHormonfleisches in die Europäische Union anbelangt,noch nicht gebannt.Das Gleiche gilt für die Gentechnik. Bei vielen Ver-braucherinnen und Verbrauchern in Europa gehen dieAlarmglocken an, wenn sie hören, dass in den USA derGroßteil der Soja-, Mais- oder Zuckerrübenpflanzengentechnisch verändert ist. In Deutschland beispiels-weise lehnen 80 Prozent der Verbraucherinnen und Ver-braucher Gentechnik ab. Deswegen sagen wir: Europadarf auch zukünftig kein Markt für Gentechnik sein.
Wenn wir uns einig sind im Bereich Gentechnik-importe, wenn wir uns einig sind im Bereich Hormon-
Metadaten/Kopzeile:
7500 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Caren Lay
(C)
(B)
fleischimporte und auch beim Schutz regionaler Her-kunftsbezeichnungen, dann freut mich das, Herr Minister.Aber ich muss schon sagen, dass das geplanteFreihandelsabkommen aus meiner Sicht an anderen Stel-len viel größere Gefahren birgt. Auch die müssen heuteangesprochen werden, beispielsweise die geplanten pri-vaten Schiedsgerichte und die Investorenklagen. Zum ei-nen führen sie zu einem erheblichen Demokratieprob-lem. Zum anderen hat es Auswirkungen auf den BereichLebensmittel und Ernährung, wenn beispielsweise einUS-amerikanischer Hersteller über den Weg dieserSchiedsverfahren einklagen kann, den selbst produzier-ten holländischen Gouda oder die Spreewaldgurke aufden europäischen Markt zu bringen. Wenn Sie es ernstmeinen mit Ihrer Kritik, dann müssen Sie auch den Muthaben, sich über die privaten Schiedsgerichte mit denKonzernen anzulegen.
Ein weiteres Grundproblem: Wir müssen überlegen, obwir als Gesetzgeber überhaupt noch die Möglichkeit ha-ben werden, Standards und Regelungen zu definieren,die die Gewinne der Konzerne schmälern, oder ob wirentgangene Gewinne am Ende durch Steuermittel kom-pensieren müssen.Die Kernfrage beim Freihandelsabkommen ist nicht:Kann man hier und da ein wenig herumdoktern und daseine oder andere Schlimme verhindern? Das ist offenbarIhre Position. Vielmehr geht es aus meiner Sicht um dieFrage: Ist mehr Freihandel, ist mehr Globalisierung nichtgrundsätzlich der falsche Weg? Das ist die Position derLinken. Wir wollen mehr regionale Produktion, und wirwollen regionale Wertschöpfungsketten. Deswegen sa-gen wir: Dieses Freihandelsabkommen, das TTIP, mussverhindert werden.
Ich freue mich deswegen, dass schon Millionen Unter-schriften gegen das TTIP gesammelt wurden. Ich freuemich, dass wir bei der „Wir haben es satt!“-Demo amSamstag die Gelegenheit haben werden, unter anderemdagegen zu demonstrieren.Lassen Sie mich zum Schluss etwas zum Verbrau-cherinformationsgesetz sagen; denn das gehört zu die-sem Thema dazu. Das Verbraucherinformationsgesetz inder derzeitigen Form ist gut gemeint, aber leider ziem-lich wirkungslos. 90 Prozent der Anfragen werden man-gelhaft beantwortet: zu spät, zu teuer oder unvollständig.Das ergaben eine Studie der VerbraucherorganisationFoodwatch und nicht zuletzt eine Kleine Anfrage derLinksfraktion.Für uns Linke ist ganz klar: Das VIG muss erstensleichter anwendbar sein. Es muss zweitens eine Aus-kunftspflicht der Unternehmen gegenüber den Verbrau-chern beinhalten. Die Informationen müssen drittenskostenfrei sein; denn Transparenz darf nicht vom Geld-beutel der Verbraucher und der Organisationen abhän-gen.
Schließlich – und das ist mein letzter Punkt – werdenin der jetzigen Form des VIG die Behörden ausgebremst,Informationen weiterzugeben. Die Bundesgesetze sindunklar, und deswegen gibt es immer wieder Situationen,in denen die Behörden nicht die Namen der Unterneh-men nennen können, wenn beispielsweise die Pestizid-grenzwerte im Paprika überschritten oder die Hygiene-standards in einer Bäckerei oder in einem Restaurantnicht eingehalten werden. Es dient deshalb der gesundenErnährung, wenn wir als Linke heute erneut fordern: Dasderzeitige Verbraucherinformationsgesetz muss drin-gend novelliert werden; denn nur durch andere Instru-mente können wirkungsvolle Informationen an dieVerbraucherinnen und Verbraucher, die sich gesund er-nähren wollen, weitergegeben werden.Vielen Dank.
Für die SPD spricht jetzt die Kollegin Jeannine
Pflugradt.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Werte Gäste auf den Tribünen! „Gesunde Er-nährung stärken – Lebensmittel wertschätzen“: Warumsprechen wir heute darüber? Heutzutage nehmen sich dieMenschen weniger Zeit für ihre Mahlzeiten. Das Essenist kein Erlebnis mehr, sondern nur noch reine Nah-rungsaufnahme, und es wird nur noch selten regelmäßigim Familienverbund genossen. Selbst die grundlegendenDinge scheinen nicht mehr selbstverständlich. Die stän-dige Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln in Deutschlandführt dazu, dass wir uns über die Werte des Essens undTrinkens zu wenig Gedanken machen und Nahrungsmit-tel nicht mehr richtig wertschätzen. Ein Bewusstseins-wandel kann nur durch Aufklärung und Eigenmotivationder Menschen zu selbstbewussten sowie mündigen Ver-brauchern erfolgen.Kitaeinrichtungen und Schulen als Lernort sind dafürwichtige Anlaufstellen. Heute geht zum Beispiel jedesdritte Kind ohne Frühstück in den Unterricht. Das istschwer vorstellbar, aber leider wahr. Hier können Kitasund Schulen ansetzen und den Wert von gesunder sowieausgewogener Ernährung vermitteln. Sich mit Essen undLebensmitteln auszukennen, hat heute viel mit dem so-zialen Status zu tun. Essen ist zu einem Identifikations-mittel geworden. Das Interesse an gutem Essen hat zuge-nommen, und parallel dazu entwickelt sich die Küchewieder zum zentralen Bestandteil des familiären Lebens.Aber tatsächlich richtig gekocht wird weit weniger alsfrüher. Wir brauchen deshalb langfristige Programme,die alle Menschen in jeder Lebenslage direkt erreichen.Ein anderer Aspekt der Wertschätzung von Nahrungs-mitteln ist die Preisgestaltung. Über diese können wirvermitteln, was uns das Essen wert ist, welches wir kon-sumieren. Preise erhalten dadurch als Teil der Wert-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7501
Jeannine Pflugradt
(C)
(B)
schöpfungskette eine herausragende Bedeutung. Sie sa-gen dem Verbraucher nicht nur, dass das Produkt vonhoher Qualität ist, sondern auch, dass es hochwertig pro-duziert wurde. Leider geht der Trend derzeit noch zumBilligmarktsegment. „Hauptsache billig“ müssen unsereLebensmittel sein. Das ist für mich persönlich verwir-rend; denn wenn wir uns zum Beispiel einen Neuwagenkaufen, entscheiden wir über den Preis, ob der Wagen,den wir kaufen, eine gute Qualität hat. Warum zahlenwir also nicht auch etwas mehr für ein gutes StückFleisch oder für frisches Obst und Gemüse?Wertschätzung umfasst somit die Produktion, denKauf und den Verzehr des Nahrungsmittels sowie dieVermeidung von Abfall. Hier ist meiner Meinung nachaber jeder einzelne Verbraucher gefragt. Das erfordertein Umdenken beim Konsum.Mit dem weiteren Ausbau der Ganztagsschulen inDeutschland muss auch das Verpflegungssystem fürKinder und Jugendliche überdacht werden. Schulver-pflegung verstehen wir Sozialdemokraten als gesamtge-sellschaftliche Aufgabe, die als gleichwertiger Bestand-teil in das Schulleben integriert werden sollte.
Die Sensibilisierung für dieses Thema muss dort be-ginnen, wo die Lernbereitschaft von Menschen am größ-ten ist, nämlich in den Kitas und in den Schulen.Zunächst betrifft das die Bereitstellung einer ausgewo-genen, gesunden Verpflegung, die sich mindestens anden Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft fürErnährung orientieren sollte. Zumindest aber sollte ge-prüft werden, wie ein gesichertes Kontrollsystem dieEinhaltung dieser Standards gewährleisten kann. Des-halb fordern wir, die SPD-Bundestagsfraktion, die Bun-desregierung auf, in Zusammenarbeit mit den Bundes-ländern den Worten unseres Bundesministers ChristianSchmidt Taten folgen zu lassen, nämlich die DGE-Qua-litätsstandards für die Kita- und Schulverpflegungflächendeckend in Deutschland zu etablieren und einNationales Qualitätszentrum Schulessen, wie es Bundes-minister Schmidt auf dem Bundeskongress Schulver-pflegung angekündigt hat, einzuführen. Dieses Zentrumsollte bei der Deutschen Gesellschaft für Ernährung undden Schulvernetzungsstellen angesiedelt sein.
Frau Kollegin Pflugradt, gestatten Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Maisch?
Gern.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Sie haben gerade da-
von gesprochen, dass Bund und Länder gemeinsam die
DGE-Standards zur Pflicht machen sollen. Das finden
wir sehr gut. Ich möchte Sie fragen, wie Sie in diesem
Zusammenhang zum Kooperationsverbot stehen: Finden
Sie es förderlich für eine solche Zusammenarbeit im Bil-
dungsbereich?
Das Kooperationsverbot ist nicht förderlich. Ich per-sönlich habe da auch einen ganz eigenen Standpunkt: Ichplädiere für die Aufhebung des Kooperationsverbotes,damit die Länder einen Partner an der Seite haben, näm-lich den Bund.
Zurück zu meiner Rede: Ein wichtiger Schritt ist, dieDGE-Standards an Kitas und Schulen im Ausschrei-bungsverfahren und in den Verträgen mit den Trägern zuverankern. Nur wer sich daran hält, sollte den Auftragzur Verpflegung von Kindern und Jugendlichen bekom-men. Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt die Forde-rung nach einem Qualitätsnachweis, dem sogenanntenErnährungs-TÜV für Anbieter.Vergessen werden darf bei der heutigen Debatte nicht,dass die Gemeinschaftsverpflegung auch in anderen Be-reichen des Lebens, also über Kita und Schule hinaus fürden eigenen Lebensstil bedeutend ist. Ich spreche michan dieser Stelle mit Nachdruck dafür aus, angepassteQualitätsstandards als Mindeststandards vorzusehen undsie insbesondere bei der Verpflegung in Krankenhäu-sern, Pflegeeinrichtungen und anderen öffentlichen Kan-tinen genauso strikt durch die Länder umsetzen zu lassenwie bei der Verpflegung von Kindern und Jugendlichen.
Kranke und pflegebedürftige Menschen sowie Arbeit-nehmer im Arbeitsalltag benötigen eine vollwertige Er-nährung, die an ihre Bedürfnisse und Lebensumständeangepasst sein sollte. Das muss zumindest in der Ge-meinschaftskantine gewährleistet sein.Gerade die Vernetzungsstellen Schulverpflegung leis-ten im Lebensabschnitt Kita und Schule gute Arbeit,wenn es um die Verbreitung von Qualitätsstandards undQualifizierung geht. Sie sind für die Einrichtungen diezentrale Anlaufstelle bei allen Fragen rund um dieSchulverpflegung und erhöhen dadurch auch die Akzep-tanz der Verpflegungsangebote. Die SPD-Bundestags-fraktion fordert die Bundesländer deshalb auf, weiterhinihren finanziellen Beitrag zur Unterstützung der Vernet-zungsstellen Schulverpflegung zu leisten, damit derBund nach 2016/2017 nicht aus der Finanzierung aus-steigt. Die Vernetzungsstellen müssen als zentrale Bera-tungsstellen für die Kita- wie die Schulverpflegung ver-ankert werden. In einigen Bundesländern arbeiten dieVernetzungsstellen mit den Landfrauen zusammen. Sieunterstützen die Schulen deutschlandweit dabei, denErnährungsführerschein als Bildungsmaßnahme fürGrundschulkinder anzubieten, durchzuführen und beiErfolg zu überreichen. Diese Bildungsmaßnahme sollteweiterhin durchgeführt werden können, wenn nicht so-gar ausgebaut werden.Ich freue mich, dass der Nationale AktionsplanIN FORM weiterhin durch den Bund gefördert wird undNiederschlag im kommenden Präventionsgesetz findenwird, in dem die Folgen von Fehlernährung sowie Bewe-gungsmangel angemessen berücksichtigt werden müs-
Metadaten/Kopzeile:
7502 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Jeannine Pflugradt
(C)
(B)
sen. Ich wünschte mir, dass an einigen Stellen der Initia-tive IN FORM Anpassungen vorgenommen würden,zum Beispiel, wenn geförderte Projekte keinen Mehr-wert bieten und keinen Beitrag zur Prävention gegenÜbergewicht leisten. Das gilt insbesondere, wenn gleich-zeitig an anderen Stellen gespart wird. Nur gute Projektemüssen fortgeführt und durch weitere Maßnahmen er-gänzt werden. Die Projekte müssen genau betrachtetwerden, um festzustellen, ob sie zielführend sind.Insbesondere Kinder aus bildungsfernen und einkom-mensschwachen Familien sind von Fehlernährung be-troffen. Gerade für uns Sozialdemokraten ist es eineFrage der sozialen Gerechtigkeit, für ihre Teilhabe angesunder Ernährung zu sorgen. Wir wollen sie vor Fehl-ernährung schützen und allen Kindern unabhängig vonHerkunft, Bildung und Einkommensstatus der Elterneine Chance auf ein gesundes Leben geben.
Zum Abschluss möchte ich einen Aspekt eines gesun-den Lebensstils aufgreifen, der mir persönlich sehr wich-tig ist. Nach einem Ranking der Deutschen Diabetes Ge-sellschaft steht eine Stunde Bewegung am Tag an ersterStelle, wenn es um die Wirksamkeit einzelner Methodenzur Prävention von übergewichtsbedingten Krankheitengeht. Bewegung und ausgewogene Ernährung gehörenalso zusammen und müssen gemeinsam betrachtet wer-den. Körperlich aktiv zu sein, bedeutet nicht, ständigSport zu treiben. Vielmehr sollten die Möglichkeiten ge-nutzt werden, im Alltag das Maß an eigener Bewegungzu steigern: Anstatt des Autos kann man mal das Fahrradnehmen oder anstatt des Fahrstuhls die Treppe; da fasseich mir an die eigene Nase. Es gilt, ein Bewusstsein fürpositive Effekte von Bewegung zu schaffen, also dieMotivation zur Alltagsbewegung zu stärken.Im Alltag müssen vor allem zielgruppenspezifischeMöglichkeiten zur Bewegung geschaffen werden. DieAnreize zur Bewegung müssen so attraktiv wie möglichgestaltet sein. Sportvereine können den Wunsch nachsportlicher Betätigung erfüllen und sind darüber hinausein wichtiger gesellschaftlicher Anlaufpunkt hinsichtlichder sozialen Integration. Der soziale Status darf – dasgilt auch hier – kein Hindernis für die Mitgliedschaft ineinem Verein sein.Am Ende meiner Rede möchte ich die herausragendeStellung der Familie für die Weitergabe eines gesundenLebensstils hervorheben. Wir alle vermitteln als Elternmit jedem Wort und jeder Handlung direkt und unmittel-bar Werte fürs Leben.Wir sind lange Zeit die Vorbilder für die eigenen Kin-der, für den eigenen Nachwuchs. Ich hoffe jedenfalls fürmich, dass mein Sohn das genauso sieht.Unsere Kinder zu unterstützen und Hilfestellung zugeben, wenn sie diese brauchen, ob beratend oder finan-ziell, das muss für alle Eltern oberste Priorität haben. Eingesunder Lebensstil enthält deshalb notwendigerweisebeide von mir angesprochenen Komponenten, eine aus-gewogene Ernährung und ein Mindestmaß an körperli-cher Aktivität. Beides sollte durch gesetzliche Rahmen-bedingungen oder empfohlene Richtlinien unterstütztwerden. Den Weg dorthin muss aber jeder Mensch al-leine gehen.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Harald Ebner, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen undKollegen! Die Koalition hat einen ordentlichen Antragzur Ernährung vorgelegt.
Da steht auch nichts wirklich Falsches drin. Aber
angesichts der aktuellen Herausforderungen in dem ge-samten Bereich Ernährung und Landwirtschaft wirkt daseher wie ein hilfloser Versuch, irgendwo mit dem Stop-fen anzufangen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenndie ganze Scheune marode ist, dann hilft es wenig, vornedran eine kleine, aber feine neue Hundehütte mit einemschicken Dach zu stellen. Das sieht zwar gut aus, aber esregnet trotzdem noch ins Heu rein.
Gesunde Ernährung gibt es nämlich nur auf der Basiseiner gesunden Lebensmittelerzeugung. Im UNO-Jahrder Böden sei an das Ökolandbauprinzip erinnert: gesun-der Boden, gesunde Pflanzen und Tiere, gesunde Le-bensmittel, gesunder Mensch.Herr Minister Schmidt, dabei geht es nicht darum,dass die IGW die Landwirtschaft der letzten 50 Jahrezeigt, sondern dass sie auch zeigt, wie es in den nächstenzehn Jahren weitergeht.
Es geht um eine bäuerliche Landwirtschaft als Grund-lage einer gesunden Agrarstruktur. Es geht um eine Er-zeugung ohne ungesunde Zutaten wie Gentechnik oderPestizide. Es geht um eine Erzeugung, die Menschen,Tiere und Agrarökosysteme gesund hält.An dieser Stelle ein Wort zu den Antibiotika. Der pro-phylaktische Einsatz von Antibiotika ist ja verboten undnicht nur nicht wünschenswert. Das sollte auch der HerrMinister wissen.
Es geht aber auch um die Erhaltung unserer Standardsbei TTIP und CETA, um Wahlfreiheit und Transparenz.Wir erleben seit Jahrzehnten ein dramatisches Höfe-sterben. Aber statt bei der GAP-Reform die Interessender kleinen und mittleren Betriebe zu vertreten, hat die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7503
Harald Ebner
(C)
(B)
Bundesregierung die Interessen der Agrarindustrie ver-treten. Denn wer profitiert von den nach oben ungede-ckelten Direktzahlungen? Das sind doch nicht die klei-nen und mittleren Betriebe.Eine gesunde Agrarstruktur braucht natürlich aucheine vielfältige Wertschöpfungskette. Vielfalt und Quali-tät erfordern Kompetenz, wie sie im Lebensmittelhand-werk angelegt ist. Insofern sind wir zu Recht stolz aufdie Vielfalt unserer Wurst- und Backwaren. Natürlichmüssen wir zur Stärkung von Landwirtschaft und Hand-werk unsere geografischen Spezialitäten verstärkt unter-stützen. Aber Minister Schmidt möchte angesichts vonTTIP nicht mehr jede Wurst schützen.Zu gesunden Zutaten gehören ganz bestimmt nichtGentechnik oder Pestizide. Die Ablehnung der Gentech-nik ist gut begründet. Ihre Folgen sind bekannt: wenigerSortenvielfalt, Monopolisierung, Patentierung, steigendePestizidmengen und eine fortschreitende Industrialisie-rung der Landwirtschaft.Und was macht die Große Koalition? Sie machen inder EU den Weg frei für neue Anbau- und Importzulas-sungen. Jetzt wollen Sie auch noch bei TTIP die in Eu-ropa bereits bestehende Kennzeichnungspflicht fürGentech-Zutaten in Lebens- und Futtermitteln opfern.Minister Schmidt hat in der Tagesschau einen Vorschlagpräsentiert, nach dem die Bürgerinnen und Bürger künf-tig jeden einzelnen Artikel mittels Barcode und Smart-phone auf mögliche Gentech-Zutaten abscannen müs-sen, wenn sie wissen wollen, ob Gentech drin ist. Das istdoch der absolute Gipfel der Verbrauchertäuschung.Man schreibt es nicht im Klartext drauf, und dann wirdes schon keiner merken.
Ich bin wirklich fassungslos. Die Verhandlungen sindnoch nicht einmal richtig in die heiße Phase gekommen,da räumt die Bundesregierung schon freiwillig dieGrundpfeiler des europäischen Verbraucher- und Um-weltschutzes ab.Sie streben in Ihrem Koalitionsvertrag die Kennzeich-nungspflicht für Nachkommen von geklonten Tieren undderen Fleisch an. Das finden wir richtig. Aber Sie wissendoch ganz genau, dass eine solche Kennzeichnung mitdieser Art von TTIP, mit diesem Verhandlungsmandatund unter den aktuellen Verhandlungsbedingungen nichtzu bekommen ist. Auch die Ausweitung der bestehendenGentechnikkennzeichnung auf tierische Lebensmittel,die unter Verwendung von gentechnisch verändertenFuttermitteln produziert werden, wird mit CETA undTTIP so nicht zu realisieren sein. Das wurde in unserenGesprächen mit Ausschuss und Minister in den USAmehr als deutlich. Das hat uns auch unsere Studie nocheinmal bestätigt. Wenn Sie die Wahlfreiheit der Verbrau-cher bei TTIP opfern, rettet uns auch kein Opt-out mehrvor der Gentechnik.Liebe Kolleginnen und Kollegen insbesondere vonSPD und Union, in Ihrem Antrag stehen viele guteDinge.
– Schön. – Aber eine bessere Wertschätzung – KolleginPflugradt hat die Wertschätzung angesprochen – von Le-bensmitteln werden wir nur erreichen, wenn wir Lebens-mittel wertorientiert erzeugen mit einer Land- undLebensmittelwirtschaft, die unsere natürlichen Lebens-grundlagen erhält,
anständig mit Mensch und Tier umgeht und auf moderneökologische Konzepte statt auf Risikotechnologien setzt.Mit Ihrem heutigen Antrag haben Sie pünktlich zur IGWden Tisch hübsch eingedeckt. Jetzt sollten Sie über denTellerrand schauen und mit uns die Agrarwende und dieGentechnikfreiheit unterstützen.Danke schön.
Für die CDU/CSU spricht jetzt die Kollegin
Mechthild Heil.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir haben es bereits gehört: Heute beginnt dieGrüne Woche. Dies ist ein Grund, einmal mehr über ge-sunde Ernährung und über die Wertschätzung von Le-bensmitteln gemeinsam zu sprechen. Wir haben inDeutschland eine luxuriöse Situation: Noch nie warenLebensmittel so günstig wie heute. Vor 100 Jahren habenwir etwa 50 Prozent unserer Konsumausgaben für Nah-rungsmittel aufgebracht, heute sind es nur noch 15 Pro-zent. Auch das ist sozial, Frau Vogt. Lebensmittel warennoch nie so sicher wie heute: 99,7 Prozent aller angebo-tenen Lebensmittel sind sicher. Damit sind sie viel siche-rer als noch vor einem Jahrzehnt.
Noch viel wichtiger ist: Die allermeisten Deutschenhaben genug zu essen. Das ist auch für unser Land nichtimmer selbstverständlich gewesen. Ein Blick auf dieWelt zeigt, wie außergewöhnlich gut es uns heute inDeutschland geht. Wir müssen sehen, dass weltweit je-des Jahr mehr Menschen an Hunger sterben als an Aids,Malaria und Tuberkulose zusammen. Über 800 Millio-nen Menschen auf der Welt hungern. Jeder Deutsche, je-der von uns, wirft im Schnitt im Jahr ungefähr 82 KiloLebensmittel weg. Das dürfen wir nicht hinnehmen. Dasdarf uns nicht egal sein, und das müssen wir ändern.
Deswegen sage ich an dieser Stelle noch einmal herz-lichen Dank an unsere damalige Verbraucherschutz-
Metadaten/Kopzeile:
7504 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Mechthild Heil
(C)
(B)
ministerin Ilse Aigner, die die Initiative „Zu gut für dieTonne“ ins Leben gerufen hat. Mit dieser Initiative hatsie viele erstmals auf dieses Problem aufmerksam ge-macht. 2012 – wir haben es eben schon gehört – habenwir einen fraktionsübergreifenden Antrag für die Ein-dämmung der vermeidbaren Lebensmittelverluste vorge-legt. Manches hat sich seitdem getan, aber das ist nochlängst nicht genug. Deshalb wollen wir heute unsereForderung noch einmal ganz stark bekräftigen.Uns geht es darum, die gesunde Ernährung zu stär-ken. Die Kollegin Landgraf hat schon einige wichtigePunkte aufgezählt, zum Beispiel hohe Standards bei derVerpflegung in Schulen und Kitas zu verankern und beiKindern und Jugendlichen verstärkt für Ernährungsauf-klärung zu sorgen. Das alles geschieht unter dem Motto:Gesundheit bekommt man nicht im Handel, sonderndurch den Lebenswandel. Dieser Kneipp’schen Weisheitmöchte ich hinzufügen: Gesundheit kann man auch nichtvon der Politik verordnet bekommen.Zwei Aspekte in dem Antrag sind mir besonderswichtig.Erstens. Ernährung ist nur ein Bestandteil eines ge-sunden Lebensstils. Zu einem gesunden Lebensstil ge-hört weitaus mehr, zum Beispiel Bewegung – wir habenes schon gehört –, Erholung, vielleicht auch Ausgegli-chenheit und – das sage ich als Rheinländerin – be-stimmt auch eine Portion Lachen.
Zweitens. Unsere Politik will Menschen zu einem ge-sunden Lebensstil ermuntern und sie dabei unterstützen.Wir wollen die Menschen aber nicht zwingen und nichtbevormunden, auch dann nicht, wenn es zu ihrem angeb-lich Besten geschieht. Ich betone das in meinen Redenimmer wieder, weil es für mich von zentraler Bedeutungist und weil es zugleich auch der Kern unserer christlich-demokratischen Verbraucherpolitik ist: In einer freienGesellschaft sind staatliche Beschränkungen ein hoherPreis, den wir nur dort zahlen dürfen, wo es für das Wohlder Bürgerinnen und Bürger absolut unvermeidlich ist.
Nehmen wir ein Beispiel aus dem Antrag, das auchhier schon Erwähnung gefunden hat und durch diePresse gegangen ist: Wir wollen gemeinsam mit derWirtschaft darauf hinwirken, dass „quengelfreie“ – ge-meint sind natürlich: süßigkeitenfreie – Kassen in Super-märkten angeboten werden. Der Schokoriegel und dieGummibärchen an der Kasse sind für Kinder verführe-risch, und das Quengeln in der Kassenschlange ist fürKinder eben auch immer einen Versuch wert; die meis-ten von uns kennen das. Einige Supermärkte haben mitsogenannten Familienkassen schon darauf reagiert. Ja,wir begrüßen solche Initiativen aus der Wirtschaft. Aberwas wir nicht brauchen, sind staatliche Regulierungenzur Warenpräsentation in Supermärkten. Unser Antragsieht sie auch nicht vor. Es wird kein staatliches Verbotvon Quengelzonen geben. Hier ist nicht irgendein Ge-setz die Lösung, sondern an dieser Stelle sind Erziehungund Ernährungsbildung gefragt.
Denn eine Frage bleibt unbeantwortet: Was dürftedann überhaupt noch im Kassenbereich liegen? Batte-rien? Kosmetik?
Zeitungen und Zeitschriften, von deren Cover die Kindervon retuschierten Schönheiten oder Schokoladenglasur-Muffins angelacht werden?
Wollen wir wirklich staatlich vorgeben, welches Waren-sortiment supermarktkassentauglich ist? Von mir dazuein klares Nein.
Natürlich will ich, genauso wie wohl jeder hier imSaal und die Besucher auf der Tribüne, dass sich dieMenschen gesund ernähren und sich ausreichend bewe-gen. Ja, sie sollen ein glückliches und langes Leben füh-ren; klar, das will jeder von uns. Unsere Aufgabe – auchunsere Aufgabe als Politiker – ist dabei, für Bedingun-gen zu sorgen, unter denen es möglich ist, die Menschenzu einem gesunden Lebensstil zu motivieren, für Aufklä-rung und Information zu sorgen und die Menschen zufördern und zu unterstützen. Das alles sehe ich als Auf-gabe des Staates an. Aber zu denken, der Staat, die Poli-tik wisse immer und in jedem Bereich besser, was fürden Einzelnen gut ist, ist für mich anmaßend.
Denn die staatliche Überregulierung geht auf Kosten derEntscheidungsfreiheit jedes Einzelnen.
Das ist die Währung, in der wir für ein Mehr und Mehran staatlicher Fürsorge bezahlen. Deshalb muss immergenau abgewogen werden, in welchen Fällen der Staateingreifen muss und wo der staatliche Eingriff die Frei-heit des Einzelnen unverhältnismäßig beschränkt.Die Union und wir von der CDU stehen für eine Poli-tik der sicheren Lebensmittel, der Förderung eines ge-sunden Lebensstils, der Vermeidung von Lebensmittel-abfällen und der Wertschätzung unserer Lebensmittel.Das geschieht durch Aufklärung und Bildung. Und: DieUnion steht für eine Politik der Wahlfreiheit der Ver-braucher.Vielen Dank.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7505
(C)
(B)
Vielen Dank, Frau Kollegin Heil. – Nächste Rednerin
ist für die SPD die Kollegin Helga Kühn-Mengel.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
„Essen hält Leib und Seele zusammen“, sagt ein Sprich-
wort und betont damit auch seine Bedeutung für Kom-
munikation und Miteinander. Aber gesunde Ernährung
beeinflusst, wie wir wissen, nicht nur das Wohlbefinden,
sondern ist auch Grundlage für körperliche Gesundheit.
Für immer mehr Menschen entwickelt sich die Ernäh-
rungssituation zum Risikobereich. Über die Hälfte der
Erwachsenen und etwa 15 Prozent der 3- bis 17-Jährigen
sind übergewichtig, ein Viertel der Erwachsenen und
6 Prozent der Kinder und Jugendlichen deutlich adipös.
Die Folgeerkrankungen sind bekannt. Die Bedeutung
der nicht übertragbaren Erkrankungen, der non-commu-
nicable diseases, wird von der WHO deutlich herausge-
stellt.
In Europa verursachen diese chronischen Erkrankun-
gen bereits 86 Prozent der vorzeitigen Todesfälle und
77 Prozent der Krankheitslast; das wurde jetzt noch ein-
mal von der Deutschen Allianz gegen Nichtübertragbare
Krankheiten herausgestellt. Es geht hier nicht nur um
Leben und Lebensqualität, sondern eben auch um Folge-
kosten. Wir haben in Deutschland viele Projekte, die da-
rauf abzielen, das Verhalten der Einzelnen zu beeinflus-
sen und zu verändern; aber Appelle an Einsicht und
Vernunft sind nicht sehr erfolgreich, sind nicht langfris-
tig, sind nicht flächendeckend erfolgreich. Vor allem er-
reichen sie in zu geringem Maße diejenigen Bevölke-
rungsgruppen, die keinen hohen Bildungsstand haben
und nur über ein geringes Haushaltseinkommen verfü-
gen. Gerade diese Gruppen sind jedoch besonders belas-
tet. Schon die erste bundesweite und europaweit größte
Untersuchung zur Gesundheit von Kindern und Jugend-
lichen, 2002 in Auftrag gegeben und in den Folgejahren
durchgeführt, gab eindeutige Hinweise darauf, dass
Adipositas, Merkmale von Essstörungen, Bewegungs-
mangel, Tabakkonsum, Alkoholkonsum verstärkt bei
Kindern und Jugendlichen aus sozial belasteten Verhält-
nissen festzustellen sind, und eine Folgeuntersuchung,
KiGGS Welle 1 von Dezember 2013, bestätigte die Ten-
denzen: Menschen aus dem untersten Fünftel der Ein-
kommens- und Vermögensverteilung haben, wie Profes-
sor Rosenbrock feststellt, in jedem Lebensalter ein
ungefähr doppelt so hohes Risiko, zu erkranken.
Wie erreichen wir die Menschen besser? Wir haben
im Präventionsparagrafen im SGB V schon vor Jahren
einen wichtigen Halbsatz eingeführt: dass Prävention
das Ziel haben muss, die Ungleichheit von Gesundheits-
chancen zu vermindern. Deswegen: Es geht nicht nur um
Verhaltensprävention, sondern auch um Verhältnisprä-
vention, darum, Rahmenbedingungen so zu verändern,
dass gesundes Leben von Anfang an gefördert wird.
Nur ein solches Vorgehen erreicht alle Schichten, vor al-
lem diejenigen, die in besonderem Maße belastet sind.
Deswegen ist es richtig, dass im jetzt vorliegenden Ent-
wurf des Präventionsgesetzes ein ganz besonderer
Schwerpunkt – einer von acht – gesetzt wird bei der Ar-
beit mit Kindern und Jugendlichen. Ein weiterer
Schwerpunkt wird bei der Stärkung des Settingansatzes
gesetzt, also bei der Arbeit in den Lebenswelten der Kin-
der. Über die Lebenswelten erreicht man alle: im Be-
trieb, im Wohnheim, im Heim, in der Pflege, im Quar-
tier. Nur ein Beispiel: Wenn wir den Kindergartenalltag
umstrukturieren, wenn gemeinsam ein gesundes, nahr-
haftes Frühstück zusammengestellt und eingenommen
wird, wenn naturnahe Erlebnisse, gemeinsames Einkau-
fen und Zubereiten eines gesunden Essens, partizipatives
Gestalten gelernt und die Erkenntnisse dann auch noch
nach Hause getragen werden, haben wir ein wichtiges
Ziel erreicht. Kinder nehmen solche Angebote mit gro-
ßer Offenheit und auch gern an. Kochen erfüllt eine
Vielzahl von Bedürfnissen; das wurde jetzt auch auf ei-
nem Workshop der Bayerischen Landesarbeitsgemein-
schaft Zahngesundheit in Wildbad Kreuth festgestellt –
manchmal kommt auch Gutes von dort.
Kinder, so die Studie, fanden es toll, zu kochen, weil sie
dann gemeinsam etwas mit den Eltern machen, weil sie
zeigen können, was sie gelernt haben, weil sie es span-
nend finden – wörtlich –, wie aus einfachen Dingen ein
richtiges Essen wird.
Also kann man doch sagen, dass wir auch im Zeitalter
der fortschreitenden Digitalisierung offenbar eine gute
Chance haben, auch auf eine eher klassische Art und
Weise zur Förderung der Gesundheit beizutragen.
Als Nächster spricht der Kollege Alois Gerig für die
CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Eingangs möchte ich den Verantwortlichen für diese De-batte ein großes Kompliment aussprechen. 12.20 Uhrmittags am Eröffnungstag einer der weltweit größten Er-nährungsmessen hier in Berlin: Es gibt keinen besserenZeitpunkt für eine Debatte über gesunde Ernährung unddie Wertschätzung von Lebensmitteln.
Ich frage Sie durchaus sehr ernsthaft – und nicht nurwegen des Regenwetters draußen –: Haben Sie in denvergangenen Tagen Ihre Teller immer leergegessen?
Metadaten/Kopzeile:
7506 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Alois Gerig
(C)
(B)
Johann Philipp Förtsch hat bereits im Jahr 1690 in einemSingspiel folgenden Vers verwendet:Weil Speis und Trank in dieser Weltdoch Leib und Seel’ zusammenhält.Dieser Vers hat eine ungebrochene Bedeutung bis zumheutigen Tag.Ja, es ist nicht selbstverständlich, dass sich die Men-schen gut ernähren können. International gab es vieleKriege wegen Nahrungsmitteln. Aktuell – so haben wirheute mehrfach gehört – können sich geschätzte800 Millionen Menschen nicht satt essen. Dagegen lebenwir hier in Deutschland im wahren Schlaraffenland. Un-sere Regale sind voll mit bezahlbaren sehr guten Produk-ten. Deshalb ist es vielleicht sogar ein bisschen verständ-lich, dass sich gewisse Wohlstandsbegleiterscheinungeneinstellen.Die Wertschätzung für Lebensmittel, für die Produ-zenten – hier denke ich insbesondere an die Urproduzen-ten, unsere Landwirte; darauf komme ich noch zurück –,für die Natur und für die Ressourcen ist in der Tat einStück weit verloren gegangen. Es geht uns allen, wie wirglücklicherweise unisono bekunden, um die Bewahrungder Schöpfung. „Moral“, „Ethik“, „Nachhaltigkeit“,„Respekt“ und „Verantwortung“ sind geflügelte Worte,die wir bei unserer politischen Arbeit jeden Tag sehrernst nehmen müssen.Das Kernthema Lebensmittelverschwendung wurdeangesprochen, und ich möchte jetzt kurz auf die Land-und Ernährungswirtschaft eingehen. Sie hat eine gewal-tige wirtschaftliche Bedeutung – insbesondere für dieländlichen Räume. 4,5 Millionen Menschen in Deutsch-land sind dort tätig; das sind rund 11 Prozent aller Er-werbstätigen.Gleichwohl gibt es weiterhin einen gewaltigen unge-bremsten Strukturwandel in der Landwirtschaft. Nurcirca 2 Prozent der Erwerbstätigen sind Landwirte. Wo-ran liegt das? Dafür gibt es durchaus viele Gründe. Niewar – ich kenne keinen Betrieb – Reichtum der Grunddafür, Höfe zu schließen.Die Landwirte arbeiten hart. Die Tierhalter tun diesoft an 365 Tagen im Jahr. Die Abhängigkeit vom Wetterund andere Unbilden des Lebens sorgen ebenfalls fürProbleme, und die schlechte wirtschaftliche Lage – dieEinkommen in der Landwirtschaft liegen weit unter demgewerblichen Vergleichslohn – tut das Übrige.
Das Schlimmste aber – das erlebe ich live und höreich jeden Tag; lassen Sie mich das sagen – sind die An-feindungen gegenüber unseren Landwirten von außen.Es gibt Diffamierungen und Beschuldigungen. Dasnimmt unseren Bauern die Freude an ihrer Arbeit – mitfatalen Folgen.Auch ich sage: Natürlich gibt es schwarze Schafe. Diesollen wir auch benennen. Aber weit mehr als 90 Prozentunserer Landwirte leisten eine hervorragende Arbeit. Sieproduzieren die weltweit mit am besten kontrolliertenNahrungsmittel – sowohl in der pflanzlichen als auch inder tierischen Produktion.
Was ist zu tun? Wir müssen den Dialog in der Gesell-schaft führen. Wir brauchen solche Debatten wie dieheutige. Wir brauchen auch eine Politik der Wertschät-zung und müssen diese Politik aktiv begleiten. Wir müs-sen uns und der Bevölkerung klarmachen, dass Verbrau-cher, die Konsumenten, und die Erzeuger voneinanderprofitieren. Auch über Moral, Ethik und den Lebensmit-telhandel müssen wir reden.Ich sage ganz klar: Unsere Landwirte sind immer be-reit – das wird auch offen bekundet –, höhere Standardsumzusetzen. Ich bin dem Minister für den Hinweis sehrdankbar, dass sich in den letzten 50 Jahren im Bereichdes Tierwohls sehr viel positiv verändert hat. Aber esgeht auch darum, dass man gute Produkte nicht zuRamschpreisen herstellen kann. Es ist verheerend, wennin den Flyern samstags ausgerechnet Nahrungsmittel alsLockmittel angepriesen werden.
Es muss jedem hier in Deutschland bewusst sein: Tier-wohl kann es nicht zum Schnäppchenpreis geben.
Also müssen wir weiterhin gemeinsam aufklären unddeklarieren. Ich befürworte ausdrücklich die Tierwohl-Offensive, die privatwirtschaftlich durch die ganze Bran-che initiiert wurde. Das sind Chancen, sich aufeinanderzuzubewegen.Ich bin gegen eine einseitige Ordnungspolitik, insbe-sondere gegen eine national einseitige Ordnungspolitik,weil wir Gefahr laufen, dadurch Produktion aus demLand zu verlagern. Frau Maisch, Sie haben das ThemaEier angesprochen. Wir alle erinnern uns mit Schreckendaran, dass der Selbstversorgungsgrad in Deutschlandunter 50 Prozent gefallen war,
weil wir die Hühnerhaltung einseitig und sehr schnellverändert haben.
– Wenn Sie mit mir reden wollen, müssen Sie eine Zwi-schenfrage stellen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7507
Alois Gerig
(C)
(B)
Ich bin dafür, dass wir europaweit gleiche Standardsund gleiche Wettbewerbsbedingungen haben. Ich binauch dafür, dass wir sehr gute Bedingungen für die Hal-tung unserer Tiere haben. Aber der Verbraucher ist derGekniffene, wenn wir die Produktion aus dem Land ja-gen;
denn unsere Regale werden nachher mit Produkten ge-füllt, die vielleicht weniger hohen Standards genügen.Ich könnte noch viel sagen, aber meine Zeit läuftschon langsam ab.Ich mache einen Vorschlag. Ich finde, in großen Tei-len ist diese Debatte heute hier sehr fair verlaufen. Las-sen Sie uns doch alle gemeinsam mit gutem Beispielvorangehen. Lassen Sie uns Themen und Probleme an-packen, gemeinsam, gerne auch fraktionsübergreifend:zum Wohle unserer Landwirtsfamilien, die das verdienthaben, und im Sinne unserer regionalen, gesunden Nah-rungsmittel. Bürger und Verbraucher müssen erkennen,was sie kaufen. Sie müssen durchaus noch ein bisschenkritischer werden. Auf TTIP kann ich jetzt nicht mehreingehen, würde ich sonst noch gerne machen.
Lieber Kollege Gerig, Ihre Zeit ist nicht abgelaufen,
sie kommt erst noch. Aber die Redezeit ist leider zu
Ende.
Lieber Herr Präsident, danke für den Hinweis. – Es
geht um den Erhalt unserer schönen und von allen Bür-
gern geliebten Kulturlandschaft.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und uns allen eine
schöne und erfolgreiche Internationale Grüne Woche.
Nutzen wir sie für gute, konstruktive Gespräche! Ihnen
allen, insbesondere unserer Ernährungsbranche, wün-
sche ich ein gutes neues Jahr.
Danke schön.
Für eine Kurzintervention erteile ich jetzt das Wort
dem Kollegen Ostendorff.
Herr Kollege Gerig, ich bin ein bisschen älter. Gestat-
ten Sie mir, dass ich noch einmal erzähle, wie das da-
mals mit den Hühnern war.
Ich glaube, dass Sie das nicht genau wissen können, weil
Sie damals noch nicht im Parlament waren.
Es gab in der Tat Klagen der Bundesländer Nieder-
sachsen und Nordrhein-Westfalen. Die damalige nord-
rhein-westfälische Landwirtschaftsministerin Bärbel Höhn
und der damalige niedersächsische Landwirtschaftsmi-
nister Funke, der die Klage zuerst geführt hat – er wurde
später Bundeslandwirtschaftsminister – waren der Mei-
nung, dass man Hühner nicht länger in Käfigen in
Löschblattgröße ihr Leben fristen lassen sollte. Dies hat
das höchste deutsche Gericht für richtig befunden.
Ich bin niemand, der Recht und Gesetz anzweifelt.
Von daher stimme ich dem Gericht ausdrücklich zu. Diese
Rechtsprechung galt es dann umzusetzen. Deutschland
hat in einem langen Prozess zwischen Bundeslandwirt-
schaftsministerium – die zu der Zeit amtierende Ministe-
rin hieß Renate Künast – und den Bundesländern ent-
schieden, wie man das Gerichtsurteil umsetzt. Dies ist
– insbesondere darauf wollte ich hinaus; Kollege
Priesmeier weiß das auch noch – von hohen Zuschüssen
für die Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und Küs-
tenschutz“ flankiert worden. Für den Umstieg hätten die
Hühnerhalter enorme staatliche Hilfen erhalten.
Allerdings beobachteten wir im Folgenden, dass es
immer wieder Hinweise an die Verbände der Geflügel-
wirtschaft gab: Verhaltet euch ruhig! Wartet ab, was pas-
siert! Macht nichts! – Das hat allerdings dazu geführt,
dass Nachbarländer – insbesondere das für uns Nord-
rhein-Westfalen und besonders für Westfalen immer
schwierige Nachbarland Holland – gesagt haben:
„Macht so weiter! Wir sehen das anders, und wir werden
anders reagieren“, und das haben sie getan.
Der Handel, lieber Alois Gerig, hat so reagiert, dass er
entschieden hat, dass Eier mit der Kennziffer 3 nicht
mehr in den Verkauf kommen. Ich habe selber Gesprä-
che mit Aldi und mit anderen Kolleginnen und Kollegen
geführt. Aldi hat gefragt: Wo gibt es in Deutschland Eier,
die nicht die Kennziffer 3 haben? – Diese Eier gab es
nicht, weil die Wirtschaftsverbände dazu aufgerufen hat-
ten, die Umstellung nicht vorzunehmen und das im Bun-
deshaushalt bereitgestellte Geld nicht abzurufen. Diese
Mittel sind fast gar nicht in Anspruch genommen wor-
den. Es waren enorme Summen.
Das hat in der Tat dazu geführt, dass Holland eine
starke Marktstellung erhalten hat. Ich finde nur, die
Schuldzuweisung, die du damit verbunden hast, war bei
der Faktenlage eindeutig falsch.
Herr Kollege Gerig, Sie haben die Möglichkeit, da-
rauf zu erwidern, und ich sehe, dass Sie sie wahrnehmen
wollen.
Ich nehme sie sehr gerne wahr. – Lieber KollegeOstendorff, es ist richtig: Ich bin noch nicht so lange inder Politik, aber, wie man an meinen grauen Haaren er-kennen kann, durchaus schon lange auf der Welt. Ichwollte mit meiner Aussage niemanden angreifen, wedereine Partei noch irgendwelche Personen. Ich habe ledig-lich auf die Aussage der Kollegin Maisch reagiert, die
Metadaten/Kopzeile:
7508 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Alois Gerig
(C)
(B)
gesagt hat, wie gut die Eier in unseren Regalen sind. Mirist dazu noch eingefallen, dass wir nicht alle Eier sehen,die wir in den Regalen haben. Wissen wir, was in all denProdukten enthalten ist, in denen Eier verwendet wur-den?
Ich will überhaupt nicht verteidigen, was damals inder Geflügelhaltung gelaufen ist. Ich habe das nur alsMahnung dafür genannt, was passieren kann, wenn wirnational einseitig Gesetze verabschieden. Wir müssenuns sehr gut überlegen, welche ordnungspolitischenMaßnahmen und welche Gesetze wir angehen, auch imHinblick auf den Tierschutz. Vielleicht ist es unklug, zuschnell allzu viele Enddaten zu setzen, die wir aus wis-senschaftlicher Sicht – und ich bin dankbar, dass wirsehr viel Geld für die Forschung aufwenden – später inder Praxis nicht halten können. Der Verbraucher ist derGekniffene, wenn die Produktion ins Ausland verlagertwird. Der Verbraucher muss die Chance haben, gezieltnach regionalen deutschen Produkten zu greifen. Das istder Verbraucher, den ich mir wünsche. Dann haben wirWin-win-Situationen in Deutschland.Ich weiß, es ist ein steiniger Weg. Ich sage noch ein-mal: Lassen Sie ihn uns gemeinsam gehen!
Jetzt hat die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß für die
SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer aufden Tribünen! Alle Menschen müssen essen. Das klingtnatürlich sehr banal, ist es aber nicht. Mir ist in meinerUmgebung schon bedeutet worden, dass etlichen Kolle-ginnen und Kollegen nun zur Mittagszeit der Magenknurrt. Das heißt, wir befassen uns hier mit einem Poli-tikfeld, das existenziell ist. Es ist deshalb nicht verwun-derlich, dass die Meinungsforschung durch eine Um-frage bei den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschlandherausgefunden hat, dass die wichtigste Forderung derMenschen an die Politik ist, dass wir, das Parlament, fürgesunde und sichere Lebensmittel zu sorgen haben. DasThema bewegt die Menschen. Es ist unbestritten, dassdie meisten sich und ihre Kinder gesund ernähren wol-len. Wie wir von der Kollegin Kühn-Mengel, die unsdazu eindrucksvolle Zahlen vorgetragen hat, gehört ha-ben, gelingt das jedoch nicht allen oder oft nur mit äu-ßersten Mühen und Anstrengungen. Wir wollen das än-dern.Ich freue mich, dass wir mit unserem Antrag bei denUrsachen der Schwierigkeiten ansetzen. Es muss für alleMenschen leichter werden, sich gesund zu ernähren, undzwar egal, wie viel Geld jemand verdient oder welchenSchulabschluss er besitzt. Verbraucherinnen und Ver-braucher, insbesondere Eltern und Kinder, werden heut-zutage mit ungesunden Lebensmitteln und dem dazuge-hörenden Marketing geradezu überflutet. Im Automatenauf dem Bahnsteig gibt es praktisch nur Schokoriegel.Der Schulkiosk verkauft vor allem Cola und Brause. DieKantine, wenn es denn überhaupt eine gibt, bietet wenigan, das schmackhaft und gesund ist. Im Supermarkt ander Kasse steht, wie wir verschiedentlich gehört haben,auf Augenhöhe von Kindern Süßkram. In Grundschulenwerden Produktproben von Keksen und Würstchen ver-teilt. Chipshersteller sponsern Schulfußballturniere in-klusive T-Shirts mit Logo. In Produkten, die als gesundund geeignet für Kinder oder sogar für Babys erschei-nen, steckt viel zu viel Zucker, Fett oder Salz. Gegendiese Flut kommen viele alleine kaum noch an, erst rechtnicht Kinder. Besonders betroffen von Fehlernährungund den daraus folgenden Erkrankungen sind Familienmit niedrigem Einkommen; auch hierzu hat Frau Kühn-Mengel die Zahlen genannt.Die aktuelle Situation vergrößert also die soziale Un-gleichheit. Gegensteuern können wir hier nicht, indemwir Menschen vorschreiben, was sie essen oder wie siesich verhalten sollen. Nein, wir müssen gesündere Ver-hältnisse schaffen. Selbstverständlich wollen wir weiter-hin Ernährungsaufklärung und Verbraucherbildung anSchulen fördern, auch wenn sich nicht gleichzeitig etwasdaran ändert, welche Lebensmittel wo angeboten undwie sie vermarktet werden. Wenn sich aber das Ernäh-rungsumfeld nicht ändert, dann werden Aufklärungs-und Bildungskampagnen nicht viel nutzen. Wir müssendafür sorgen, dass es leichter wird, das erworbene Wis-sen auch anzuwenden.Um das Bild der Flut noch einmal aufzugreifen: Wennzu erwarten ist, dass eine Stadt regelmäßig überflutetwird, würden wir auch nicht lediglich den Schwimmun-terricht fördern oder Prospekte verteilen, die erklären,wie man Boote baut, und dann hinterher vielleicht sagen:Wer nicht genug Geld und Zeit hatte, sich ein Boot zubauen, ist selber schuld, dass er sich nicht gerettet hat. –Nein, wir würden dann Dämme bauen. Wir würden esals gesamtgesellschaftliche Aufgabe begreifen, die Men-schen gemeinsam vor der Flut zu schützen. Genau sol-che Dämme müssen wir auch gegen die Flut ungesunderLebensmittel und mangelnder Bewegung bauen.
Unser Antrag setzt hier erste wichtige Impulse. Wirwollen verpflichtende Qualitätsstandards für Schulmen-sen und öffentliche Kantinen, damit alle Kinder lernen,wie gut gesundes Essen schmecken kann. Wir wollenkünftig keine Werbung mehr für ungesunde Lebensmit-tel wie Süßigkeiten, Süßgetränke oder Knabberzeug inGrundschulen und Kitas. Wenn Schulen werbefrei sind,dann kann Ernährungsbildung auch sehr viel besser wir-ken.Wir wollen die Lebensmittelwirtschaft in die Pflichtnehmen. Supermärkte sollen süßigkeitenfreie Kassen an-bieten, um Eltern das Einkaufen mit Kleinkindern er-träglicher zu machen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7509
Elvira Drobinski-Weiß
(C)
(B)
In Großbritannien ist das übrigens längst Alltag. Auchbei uns gibt es mittlerweile einige Geschäfte, die das an-bieten. Wir wollen aber, dass das Ernährungsministe-rium – der Herr Staatssekretär ist noch da – gemeinsammit der Wirtschaft eine Strategie zur Reduktion von Zu-cker, Fett und Salz in Fertigprodukten entwickelt. Auchdafür – man soll es kaum glauben – gibt es in EuropaVorbilder, nämlich Finnland, Dänemark und Großbritan-nien sowieso.Sie alle kennen das afrikanische Sprichwort: Esbraucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen. – Inder Tat. Auf die Ernährung bezogen heißt das: Es sindalle mitverantwortlich für die steigenden Raten ernäh-rungsbedingter Krankheiten wie Diabetes, Herzerkrankun-gen oder Krebs. Deshalb sind auch alle gefordert, dabei zuhelfen, diesen Trend umzukehren und insbesondere dieErnährung von Kindern in diesem Land zu verbessern.Gefordert sind wir also alle, auch die Wirtschaft, dienoch sehr viel Luft nach oben hat, was ausgewogeneProduktrezepturen und ehrliche Werbung angeht. Wirmüssen dafür sorgen, dass alle, die Verantwortung ha-ben, diese auch wahrnehmen können. Wir bauen dannDämme, wo es nötig ist.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Drobinski-Weiß. – Ab-
schließender Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist
der Kollege Rudolf Henke von der Unionsfraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Eine gute Küche ist das Fun-dament allen Glücks. – Das hat Auguste Escoffier, fran-zösischer Meisterkoch, vorgetragen. Auguste Escoffierverdanken wir die Küchenrevolution des vorigen Jahrhun-derts hin zu einer leichteren, hin zu einer verdaulichenKüche. Man höre und staune: Der erste Küchenchef derRitz-Restaurants hat sogar von der Notwendigkeit mehr-gängiger Menüs Abschied genommen. Es sind auchSkeptiker wie George Bernard Shaw, die sich mit der Er-nährung befassen. Er hat einmal gesagt: Keine Liebe istaufrichtiger als die Liebe zum Essen. – Wir sehen daran,in welche Emotionalität wir eintauchen, wenn wir unsmit der Frage der Ernährung und der Wertschätzung vonLebensmitteln befassen. Ich freue mich, dass ich aus derSicht der Gesundheitspolitik als Arzt ein paar Gedankendazu beitragen darf.In unserem gemeinsamen Antrag werben wir, die Ko-alitionsfraktionen, für die Bedeutung einer gesunden undausgewogenen Ernährung für einen gesunden Lebensstilund für die Prävention ernährungsbedingter Krankhei-ten. Das Thema ist nicht ganz neu. Hippokrates von Kos,der von 460 bis 377 lebte und von dem der hippokrati-sche Eid stammt, verdanken wir drei Lehrsätze: Was unsam Leben erhält, kann uns auch krank machen. Krank-heiten überfallen den Menschen nicht wie ein Blitz ausheiterem Himmel, sondern sind die Folgen fortgesetzterFehler wider die Natur. Um die Gesundheit zu erhalten:nicht bis zur Sättigung essen, sich vor Anstrengungennicht scheuen.Ich bin dankbar für die vielen richtigen und wichtigenHinweise in dieser Debatte auf die Notwendigkeit, dieVerhältnisse zu beeinflussen. Aber das wäre nur die eineSeite; denn genauso wichtig ist es natürlich, den Auf-bruch aus selbstverschuldeter Unmündigkeit im Sinneder Aufklärung zu ermöglichen, damit man sich nicht alsden Verhältnissen ausgeliefert empfindet. Sagen wir denMenschen auch, dass es nötig ist, ihr eigenes Verhaltenselbst in die Hand zu nehmen und zu steuern und nichtfehlzuinterpretieren, dass sie gegenüber der Werbungausgeliefert seien.
In der Tat ist beispielsweise die Fettleibigkeit ein be-deutender Risikofaktor für viele ernste gesundheitlicheBeschwerden; darauf ist schon verschiedentlich auf-merksam gemacht worden. Wir müssen davon ausgehen,dass die Kosten durch ernährungsbedingte Krankheitenjährlich bei bis zu 70 Milliarden Euro liegen können. DieFolgekosten erklären circa 7 Prozent der Kosten im Ge-sundheitswesen. Alle rechnen damit, dass diese Kostenweiter ansteigen wegen Erkrankungen wie Adipositas,Bluthochdruck, koronaren Herzkrankheiten oder Diabe-tes mellitus. Diese Krankheiten sind nicht nur das Dramader Betroffenen, sondern auch ein gesellschaftliches Pro-blem. Ernährungsbedingte Krankheiten bedeuten He-rausforderungen für die Gesundheit, für die Wirtschaft,für die Entwicklung in Deutschland und in Europa. Des-wegen sind präventionspolitische Ansätze eine gesell-schaftspolitische Aufgabe von hohem Stellenwert.Das wollen wir mit dem Präventionsgesetz aufgrei-fen, das wir noch in diesem Frühjahr beraten werden.Der Gesetzentwurf sieht vor, dass die Krankenkassenihre verfügbaren Mittel für die Gesundheitsvorsorge ver-doppeln, dass gesundheitsförderliche Verhaltensweisenstärker unterstützt und gesundheitliche Risiken reduziertwerden. Angebote zur Prävention und Gesundheitsför-derung müssen zielgenauer auf tatsächlich wirksameMaßnahmen und auf solche Bevölkerungsgruppen kon-zentriert werden, die bisher schlecht erreicht wurden.Fakt ist leider auch, dass mit vielen Präventionsleis-tungen oftmals nur die erreicht werden, die ohnehin be-reits gesundheitsbewusst leben und auf ihre Ernährungbesonders achten. Von allen in Anspruch genommenenPräventionskursen in Deutschland sind derzeit nur5 Prozent dem Thema Ernährung gewidmet. Kranken-kassen machen also viel mehr erfolgreiche Bewegungs-kurse, viel mehr erfolgreiche Stressbewältigungskurse.An die Ernährung gehen die Leute trotz der Bedeutung,die sie für die Gesundheit hat, nicht so gerne heran. Dashat vielleicht etwas mit der von Shaw genannten Liebezum Essen zu tun. Es stellt sich daher die Frage: Wiekann man eine bessere Nutzung präventiver Leistungengerade im Bereich der Ernährung erreichen? Da ist esschon von Bedeutung, dass wir mit den Präventionskur-sen der Krankenkassen mehr Angebote zur Stärkung vonEltern und Kindern zur Verfügung stellen.
Metadaten/Kopzeile:
7510 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Rudolf Henke
(C)
(B)
Gesundheit beginnt nicht erst im Erwachsenenleben.Je früher Kinder lernen, auf sich zu achten, desto erfolg-reicher sind Präventionsmaßnahmen.
Deshalb ist es wichtig, mit den Kleinsten zu beginnenund dies in allen Altersgruppen fortzuführen. Der Ge-meinsame Bundesausschuss soll durch das Präventions-gesetz die Möglichkeit erhalten, die Kinder- und Jugend-untersuchungen in diesem Sinne weiterzuentwickeln unddarüber zu entscheiden, welche Untersuchungen auch imSchul- und Jugendalter sinnvoll und notwendig sind undzu welchen Aspekten der Arzt oder die Ärztin die Elternberaten soll. In den bevorstehenden Beratungen des Prä-ventionsgesetzes wollen wir darauf achten, dass diesenAspekten Rechnung getragen wird.Meine sehr verehrten Damen und Herren, gestern ha-ben wir im Gesundheitsausschuss des Bundestages einweiteres mit Ernährung zusammenhängendes Thema in-tensiv besprochen, nämlich das fetale Alkoholsyndrom,also die vorgeburtliche, oft schwerwiegende Schädigungeines Kindes durch Alkoholkonsum während derSchwangerschaft. Der entscheidende Punkt, was dasAufnehmen von Produkten der Landwirtschaft angeht,ist hier, dass wir sagen: Es gibt bestimmte Lebenssitua-tionen, zum Beispiel im Straßenverkehr, bei der Arbeitmit Maschinen, wenn man Arzneimittel zu sich nimmtoder wenn man schwanger ist, für die das Gebot „garkein Alkohol“ gelten muss.
Eine letzte Bemerkung. Es ist davon gesprochen wor-den – ich glaube, Mechthild Heil hat es gesagt –, dasswir die Freiheit der Entscheidung des Verbrauchers er-halten wollen. Wie schaffen wir es aber, den Trend zuimmer mehr Übergewicht zu brechen? Es gibt weltweitnicht einen einzigen Staat, der zeigen kann, dass derTrend zur Zunahme des Durchschnittsgewichts der Be-völkerung umgekehrt worden ist – nicht ein einzigesLand, egal welche Wirtschaftsordnung oder welche Ge-sellschaftsordnung ein Land hat. Nicht einem einzigenLand in der Welt ist das bisher gelungen. Ich finde, wirmüssen nicht in dieser, aber in der nächsten Legislatur-periode auch über die Frage nachdenken, inwieweitdurch Elemente, wie wir sie zur Reduktion des Tabak-konsums eingesetzt haben – ich denke an steuerlicheMaßnahmen, etwa an bestimmte Verbrauchsteuern imBereich ungesunder Lebensmittel –, Erfolge erzielt wer-den können. Ich kann da keine Ergebnisse vorwegneh-men. Das gelingt mit Sicherheit nicht in dieser Legisla-turperiode. Aber ich finde, wir müssen diese Frage miteiner Zukunftsperspektive diskutieren, weil es unser ge-meinsames Ziel sein muss, sowohl dem Bewegungsman-gel wie auch der Fehlernährung zu begegnen.Der italienische Schauspieler Giorgio Pasetti hat ei-nen klugen Satz gesagt:Die gesündeste Turnübung ist das rechtzeitige Auf-stehen vom Esstisch.Ich wünsche Ihnen guten Appetit, wenn Sie jetzt zumMittagessen gehen.
Stehen Sie davon rechtzeitig wieder auf!Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/3726, 18/3730 und 18/3733 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Nach dieser intensiven Debatte über das richtige und
gute Essen wünsche ich denen, die jetzt in die Mittags-
pause gehen, einen guten Appetit.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Susanna
Karawanskij, Kerstin Kassner, Klaus Ernst, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Bundesverantwortung wahrnehmen – Kom-
munen bei Unterbringung von Flüchtlingen
und Asylbewerbern sofort helfen und Kosten
der Unterkunft für Hartz-IV-Leistungsbe-
rechtigte schrittweise übernehmen
Drucksache 18/3573
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
Finanzausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Damit eröffne ich die Aussprache und erteile das
Wort der Kollegin Susanna Karawanskij für die Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Liebe Gäste! Am Tage seiner Amtseinführung hatder erste linke Ministerpräsident, Bodo Ramelow inThüringen, als erste Amtshandlung den Winterabschie-bestopp für Flüchtlinge nicht nur gefordert, sondern ver-fügt.
Das ist richtig so, das ist gut so, und das sollte auch bei-spielhaft sein;
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7511
Susanna Karawanskij
(C)
(B)
denn diese Aufgabe ist eine gesamtgesellschaftlicheAufgabe, die wir zu stemmen haben. Wir können unddürfen unsere Verantwortung nicht beiseiteschieben. Wiralle hier sind gefordert, schnell und vor allen Dingenauch gewissenhaft zu handeln. Die Aufgabe, Flüchtlingemenschenwürdig unterzubringen, sie gut zu versorgenund rasch zu integrieren, ist vor allen Dingen internatio-nal und europäisch begründet.Wir müssen all denen das Wasser abgraben, die denschrecklichen terroristischen Überfall in Paris missbrau-chen, die nun noch mehr gegen friedliche Mitbürgerin-nen und Mitbürger anderer Herkunft und Religionhetzen. Wir sollten hier im Hohen Hause beide Sätzeverinnerlichen: „Nous sommes Charlie“ und „NoPegida“.
Mehr denn je brauchen wir dauerhaft Aufklärung undDebatten, um der Instrumentalisierung der Morde vonParis mit der gesamten Kraft der Demokratie entgegen-zutreten; denn skrupellos wird von einigen Unverbesser-lichen gegen den Islam im Allgemeinen, aber auch ge-gen Asylsuchende und Flüchtlinge gewettert. UnsereZiele müssen ein echtes Miteinander und auch die ge-lebte Solidarität sein.
Das bedeutet, dass wir Politikerinnen und Politiker allenSorgen und Ängsten der Menschen mit Offenheit begeg-nen müssen. Es sind oft genug Ängste vor allen Dingenvor sozialem Abstieg, aber auch Ängste, die mit unbe-gründeten Vorurteilen verbunden sind. Umso wichtigerist es, dass wir uns heute auch mit der Finanzierung derUnterbringung, Betreuung und Versorgung von Flücht-lingen und Asylsuchenden beschäftigen.Die Unterbringung von Menschen, die aus Not zu unskommen, verursacht in den Ländern und Kommunenohne Zweifel einiges an Kosten. Es ist wichtig, die Kom-munen von dem finanziellen Druck zu befreien, damitkeine Abwehrhaltung eingenommen wird. Gerade wenndie Finanzen auf Kante genäht sind, muss der Bundseine Verantwortung wahrnehmen, und das tut er bislangleider immer noch zu wenig.
Vizekanzler Sigmar Gabriel forderte im November2014, die Kommunen bei der Unterbringung von Flücht-lingen mit 1 Milliarde Euro zu unterstützen. Anfang desJahres forderte er, dass der Bund die Kosten für dieFlüchtlingsunterkünfte übernehmen solle. Wir begrüßensolche Forderungen. Aber lassen Sie uns doch bitte nichtvollkommen im Dunklen und vor allen Dingen nicht dieauf Lösungen wartenden Kommunen, wie solch einefinanzielle Entlastung für die Kommunen konkret ausse-hen soll. Es ist bislang herzlich wenig Konkretes pas-siert. Es liegt kein aktueller Gesetzentwurf vor. Ich ge-winne langsam den Eindruck, dass hier wieder einmalvollmundige Versprechen gemacht worden sind, aberden Worten keine entsprechenden Taten folgen.Meine Damen und Herren auf der Regierungsbank, esist angesichts der aktuellen Lage und Situation höchsteZeit, hier eine Lösung zu finden. Es darf nicht mehr aufZeit gespielt werden.
Es ist bedauerlich genug, dass das jüngste Gesetz zurweiteren Entlastung von Ländern und Kommunen nurein Tropfen auf den heißen Stein war und eben nicht dieVersprechen des Koalitionsvertrags einlöste. Sie solltenbei Ihren Gesetzentwürfen auch ein wenig weiter den-ken, dauerhaft für gute Lösungen sorgen und auch indiesem Fall für Kommunen eine Lösung entwickeln.Wir als Linke verfolgen daher eine Doppelstrategie.Aus aktuellem Anlass fordern wir, die Kommunen finan-ziell so auszustatten, dass eine schnelle und gute Hilfefür Flüchtlinge möglich ist. In einem zweiten Schritt– da denken wir langfristig – wollen wir die Kommunennachhaltig bei der Erfüllung ihrer Aufgaben unterstüt-zen, und zwar nicht nur exakt bei den Ausgaben für dieFlüchtlingsunterbringung.
Frau Kollegin Karawanskij, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage?
Nein. Die Koalitionäre haben ja noch genug Zeit, da-rauf einzugehen. – Das Grundproblem ist ja die chroni-sche Unterfinanzierung der Kommunen.Ich möchte hier noch einmal auf unsere konkretenForderungen eingehen. Wir Linke fordern die Abschaf-fung des Asylbewerberleistungsgesetzes. Asylbewerbe-rinnen und Asylbewerber dürfen nicht Bürgerinnen undBürger zweiter und dritter Klasse sein. Solange diesesGesetz noch nicht abgeschafft ist, muss der Bund denLändern die Ausgaben für die Leistungen an Asylsu-chende zu 100 Prozent erstatten.
Daneben muss der Bund auch bei den Leistungen fürKosten der Unterkunft und Heizung, kurz KdU, Verant-wortung übernehmen; denn diese sind eine nicht uner-hebliche Belastung für die Kommunen. Wir fordern hiereinen Stufenplan für die Kostenübernahme. So sollen dieKommunen zunächst um 50 Prozent, ab dem Jahr 2017um 75 Prozent und ab dem Jahr 2019 um 100 Prozententlastet werden.Meine Damen und Herren, nutzen wir heute die Gele-genheit! Lassen Sie uns gemeinsam auf Bundesebenemehr Verantwortung übernehmen! Stimmen Sie unseremAntrag zu! Lassen Sie uns ein gemeinsames Zeichen derDemokratie setzen! Lassen Sie uns kurzfristig wie lang-fristig die kommunalen Finanzen auf ein stabiles Funda-ment stellen!Vielen Dank.
Metadaten/Kopzeile:
7512 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
(C)
(B)
Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt das Wort
dem Kollegen Marian Wendt.
Herr Präsident, vielen Dank. – Ich möchte nur für die
Koalition feststellen, dass wir mit dem Programm zur
Entlastung der Kommunen schon begonnen haben, auch
wenn es die Vertreter der Linksfraktion vielleicht noch
nicht ganz mitbekommen haben: 500 Millionen Euro in
diesem Jahr, 500 Millionen Euro im nächsten Jahr,
35 Millionen Euro für Impfkosten. Das Wichtigste, was
wir festgelegt haben, sind aber baurechtliche Vereinfa-
chungen bei der Unterbringung von Flüchtlingen.
Es geht ja nicht nur um die reinen Kosten, sondern auch
darum, wie die Menschen human untergebracht werden
können. Ich komme aus einem Wahlkreis – das ist der
Wahlkreis Nordsachsen, um Leipzig herum –, wo dies
geschieht, wo die Möglichkeiten durch die Änderung
des Baurechts genutzt werden, um humane Unterbrin-
gung umzusetzen.
Ich glaube – da spreche ich für die Fraktion der CDU/
CSU insgesamt –, dass es die größte Entlastung für die
Kommunen wäre, wenn wir die Voraussetzungen schaff-
ten, dass den Menschen geholfen werden kann, die wirk-
lich Hilfe benötigen, dass vor allem die aus dem Irak und
aus Syrien unterstützt werden, zugleich aber dafür sorg-
ten, dass die, die kein Recht zum Aufenthalt in unserem
Land haben, möglichst zügig wieder ausreisen. Deswe-
gen halten wir einen Winterabschiebestopp nicht für
sinnvoll. Durch mehr freie Kapazitäten würde man die
Kommunen am besten unterstützen. Allein in meinem
Wahlkreis machen die, die aus Serbien kommen und ent-
sprechend abgeschoben werden müssten, 25 Prozent
aus.
Wenn das passieren würde, würde unser Landkreis sehr
stark entlastet werden.
Vielen Dank.
Frau Kollegin Karawanskij, Sie haben die Möglich-
keit, darauf zu erwidern.
Kollege Wendt, wir beide kommen aus demselben
Wahlkreis, Nordsachsen. Insofern ist mir die Situation
sowohl in Sachsen als auch in Nordsachsen nicht ganz
unbekannt. Ich bin ebenfalls sowohl mit dem Landrat als
auch mit den Bürgermeistern im Gespräch. Sie haben
mich möglicherweise falsch verstanden. Ich habe nicht
gesagt, dass der Bund nichts tut. Ich habe nur gesagt,
dass das ein Tropfen auf den heißen Stein ist. Ich habe in
der Debatte über den Gesetzentwurf zur Entlastung der
Länder und Kommunen gesagt, dass das ein Schritt in
die richtige Richtung ist, bei weitem aber noch nicht aus-
reicht. Wenn Sie hier davon sprechen, dass eine men-
schenwürdige Unterbringung das Ziel ist, dann trennt
uns in dieser Frage tatsächlich sehr wenig. Nur wir sind
nicht der Meinung, dass man diese Frage über Gewerbe-
gebiete bzw. Baurechtsverordnungen lösen sollte.
Wir haben dazu den Vorschlag eingebracht, dass bei-
spielsweise eine bessere interkommunale Zusammenar-
beit möglich sein sollte; denn es gibt tatsächlich Kom-
munen, die in ihrem kommunalen Wohnungsbestand
freie Kapazitäten haben. Man kann beispielsweise über
die Lockerung des Königsteiner Schlüssels nachdenken
und – nach unserem aktuell vorliegenden Vorschlag –
darüber, dass man die Kommunen und Landkreise von
den Kosten entlastet und das über die Länder ausgleicht.
Insofern trennt uns von dem Anliegen nichts. Nur, wir
hätten es gern ein bisschen präziser. Wir haben einen
konkreten Antrag vorgelegt. Dazu bitten wir Sie einfach
um Zustimmung.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass gerade im Win-
ter – das habe ich vorhin zu Beginn meiner Rede gesagt –
der Abschiebestopp, den Bodo Ramelow als erste Amts-
handlung eingeführt hat, richtig ist. Dass er damit nicht
so verkehrt liegt, kann man daran ablesen, dass auch
Schleswig-Holstein dem gefolgt ist. Ich hoffe, dass auch
noch weitere Bundesländer folgen werden. Das ist ein-
fach ein humanitärer Akt. Ich habe auch gesagt, dass es
eine gesamtgesellschaftliche und auch eine europäische
Aufgabe ist, der wir uns hier zu stellen haben.
Jetzt hat das Wort der Kollege Axel Fischer für dieUnionsfraktion.
Axel E. Fischer (CDU/CSU):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Beim Lesen des Antrags „Bundesverantwortung wahr-nehmen“ der Linken habe ich mich zweimal vergewis-sern müssen, welches Datum dieser Antrag trägt, undzwar mit Blick auf die Finanzsituation der Kommunen.Ihre Darstellung allgemein verarmter und weiter darben-der Kommunen wäre vielleicht 2009 in Zeiten der gras-sierenden Finanzkrise mit hoher Arbeitslosigkeit ange-messen gewesen. Heute ist sie es sicher nicht mehr; dennschon die christlich-liberale Bundesregierung war sichder prekären Lage der Kommunen im Zuge der Wirt-schafts- und Finanzkrise 2009 bewusst und hat schnellund umfassend Abhilfe geleistet. Die Große Koalitionknüpft mit ihrer konsequenten kommunalen Finanzent-lastung heute nahtlos an. So können Länder und Kom-munen heute auf Basis der größten Kommunalentlastungin der Geschichte durch den Bund handeln.
Meine Damen und Herren, das ist verantwortungs-volle Politik, die SPD, CDU und CSU hier gemeinsam
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7513
Axel E. Fischer
(C)
(B)
zum Wohle der Kommunen und der Menschen leisten.Dazu gehören – ich zähle sie jetzt auf, weil Sie gemeinthaben, das sei nur ein Tropfen auf den heißen Stein –zum Beispiel folgende Maßnahmen:Kinderbetreuung: Für den Ausbau der Kinderbetreu-ung für unter Dreijährige und die Beteiligung an derFinanzierung der Betriebskosten hatte der Bund bereitsinsgesamt 4 Milliarden Euro in den Jahren 2009 bis2013 und ab 2014 jährlich 770 Millionen Euro bereitge-stellt. Im Zusammenhang mit der Ratifizierung desFiskalvertrages hat der Bund zusätzlich für Investitionen580,5 Millionen Euro und für Betriebskosten 201318,75 Millionen Euro, 2014 37,5 Millionen Euro und ab2015 jährlich 75 Millionen Euro zur Verfügung gestellt.Kosten der Unterkunft und Heizung, Grundsicherungfür Arbeitsuchende: Hier fordern Sie eine schrittweiseÜbernahme der Kosten durch den Bund. Fakt ist: DerBund trägt bereits heute etwa ein Drittel dieser Kosten.In der vergangenen Legislaturperiode wurden die Kom-munen durch eine höhere Bundesbeteiligung in den Jah-ren 2011 bis 2017 um etwa 9 Milliarden Euro entlastet.Ab diesem Jahr werden die Kommunen darüber hinausmit 1 Milliarde Euro pro Jahr zusätzlich unterstützt. Daserfolgt in den Jahren 2015 bis 2017 hälftig durch einenhöheren Bundesanteil an den Kosten der Unterkunft undHeizung und hälftig durch einen höheren Gemeindean-teil an der Umsatzsteuer.Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung:Die Verständigung im Jahr 2011 und die schrittweise er-folgende Erhöhung der Erstattung der Nettoausgaben derKommunen verursacht Entlastungen im Zeitraum von2012 bis 2017 von weit über 20 Milliarden Euro.
Zur weiteren Entlastung der Kommunen hat der Bund2012 zugesagt, jeweils die aktuellen Nettoausgaben deslaufenden Kalenderjahres zu erstatten. Für 2014 erstattetder Bund nunmehr knapp 5,5 Milliarden Euro und über-nimmt auch in den Folgejahren die Nettoausgaben voll-ständig.Steuern: vollständige Entlastung der Länder und Ge-meinden von Steuermindereinnahmen im Rahmen desSteuervereinfachungsgesetzes 2011 in Höhe von rund2 Milliarden Euro bis 2017.Entflechtungsmittel: Die Entflechtungsmittel werdenin den Jahren ab 2014 bis zu ihrem Auslaufen im Jahr2019 in unveränderter Höhe von jährlich 2,6 MilliardenEuro weitergezahlt.Bildung: Trotz Zuständigkeit der Länder beteiligt sichder Bund mit circa 13,5 Milliarden Euro von 2010 bis2017 am Hochschulpakt. Zudem regelt der Koalitions-vertrag, dass die Kommunen darüber hinaus im Rahmender Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes imUmfang von 5 Milliarden Euro jährlich von der Einglie-derungshilfe entlastet werden sollen. Im geltendenFinanzplan ist diese Entlastung bereits vorgemerkt. Dergesetzlichen Umsetzung steht somit nichts mehr imWege; sie kann rechtzeitig erfolgen.Meine Damen und Herren, Sie sehen: Es kommt nichtvon ungefähr, dass Städte und Gemeinden bereits in denletzten Jahren Überschüsse ausgewiesen haben. Dasheißt, sie haben insgesamt mehr Geld eingenommen, alssie ausgegeben haben, und das trotz steigender Ausga-ben für soziale Leistungen. Allein im ersten Halbjahr desvergangenen Jahres haben die Kommunen Rekordüber-schüsse in Höhe von mehr als 5,3 Milliarden Euro aus-gewiesen – wohlgemerkt in einem halben Jahr. Mit die-sen Überschüssen sind auch viele finanzschwächereKommunen wieder in der Lage, langfristig zu planenund notwendige Investitionen zu tätigen.Die Sachinvestitionsausgaben der Kommunen steigenbereits seit 2012 wieder an. Das freut uns und zeigt deut-lich, wie wichtig uns Selbstorganisation und Selbstver-waltung der Bürger vor Ort sind, wie groß wir Subsidia-rität schreiben. Ich verbinde diesen großen Erfolg für diekommunale Selbstverwaltung immer gerne mit demNamen unseres langjährigen Kollegen Peter Götz, derwie kein anderer jahrzehntelang mit Herzblut für dieEntlastung der Kommunen gekämpft hat.
Meine Damen und Herren, die Linken zeichnen in ih-rem Antrag trotzdem ein Zerrbild der Finanzsituation derKommunen im Allgemeinen und fordern den Bund auf,Verantwortung zu übernehmen. Sie unterschlagen dabeidie vielfältigen Anstrengungen und Maßnahmen, mit de-nen der Bund in den vergangenen Jahren die Kommunenin herausragender Weise finanziell und administrativentlastet und unterstützt hat; ein paar Beispiele habe ichgenannt.
Mit den vielfältigen Maßnahmen des Bundes in den ver-gangenen Jahren und den bereits beschlossenen Unter-stützungen in den kommenden Jahren können die Kom-munen selbstbewusst und befreit in die Zukunft blicken.So stelle ich mir bei der Lektüre des Antrags dieFrage: Worauf zielt er eigentlich ab? Sie schreiben darin,dass Sie Aufgaben der Kommunen in eine Bundesauf-tragsverwaltung überführen wollen. Über die Länder, diefür die Kommunalfinanzen und die Wahrnehmung derAufgaben durch die Kommunen in unserem Staat ver-antwortlich sind, findet sich in Ihrem Antrag nichts – garnichts!
Wir wollen eigenständige Kommunen, in denen dieMenschen überall in Deutschland nach ihren Sitten undGebräuchen das Zusammenleben dezentral möglichstweitgehend selbst gestalten und regeln können.
Wir wollen eben nicht, dass bundesweit alle nach derPfeife einer Zentralinstanz tanzen müssen. Auch deshalb
Metadaten/Kopzeile:
7514 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Axel E. Fischer
(C)
bejahen wir die Länder als weitere Elemente des Födera-lismus. Es ist doch bezeichnend, dass die Länder inIhrem Antrag gar nicht vorkommen, und das, obwohl Sieals Linke mit der Übernahme von Regierungsverantwor-tung in mehreren Ländern mittlerweile die Geschickeder Menschen lenken und in Thüringen sogar einenMinisterpräsidenten stellen. Warum verleugnen Sie dieseVerantwortung in Ihrem Antrag? Warum zeigen Sie nurauf den Bund und klammern die Länder völlig aus?Die Linke formuliert in diesem Hause häufig dieForderung nach mehr Geld für viele oder gar für alle.Warum wollen Sie sich eigentlich so klammheimlich ausIhrer Verantwortung stehlen, wenn es um das Bezahlender Rechnung geht? Warum sind Sie nicht einmal ehrlichund sagen offen, dass die finanziellen Probleme derKommunen vor allem regionale Probleme der vomStrukturwandel betroffenen Industrieregionen im WestenDeutschlands sind? Ich werde Ihnen sagen, warum:Denn dann müssten Sie erklären, warum Sie die knappenBundesmittel nach dem Gießkannenprinzip über dasLand verteilen wollen, anstatt den von Überschuldungbetroffenen Kommunen zielgenau zu helfen. Lassen Siemich auch klarstellen: Die Finanzierung kommunalerSpaßbäder ist bestimmt nicht Aufgabe des Bundes.
Kommunen, die durch ein Anwachsen des Zuzugs ausanderen EU-Mitgliedstaaten besonders betroffen sind,sehen sich mit erheblichen Belastungen bei der kommu-nalen Daseinsvorsorge konfrontiert. Hier leistet derBund Unterstützung und wird das auch weiterhin tun.Dies sind wir bereits im vergangenen Jahr angegangen.Die besonders betroffenen Kommunen wurden per ein-maliger Soforthilfe um 25 Millionen Euro entlastet. Dieserfolgte über eine entsprechende Anhebung der Bundes-beteiligung an den Kosten für Unterkunft und Heizung.Im Zusammenhang mit der Änderung des Asylbewer-berleistungsgesetzes wurden Länder und Kommunen um31 Millionen Euro, ab 2016 sogar um 43 Millionen Eurojährlich entlastet.Abschließend komme ich auf das Datum Ihres An-trags zurück, den 17. Dezember 2014. Denn währendIhre Fraktion noch mit der Ausformulierung von finan-ziellen Forderungen an den Bund beschäftigt war, hattesich die Bundeskanzlerin bereits mit den Ländern überdie Hilfen zur Unterbringung von Asylbewerbern ver-ständigt. Bund und Länder – alle Länder – waren sichdarüber einig, dass für die finanzielle Unterstützung vonLändern und Kommunen durch den Bund eine ausgewo-gene und abschließende Regelung für die Jahre 2015 und2016 getroffen wurde. Das passierte am 11. Dezemberdes vergangenen Jahres, immerhin eine Woche vor demDatum, an dem Sie diesen Antrag eingebracht haben.Das zeigt eines: Diese Bundesregierung und die GroßeKoalition lösen Probleme gemeinsam mit den Ländern,bevor Sie überhaupt in der Lage sind, die Probleme zuerkennen und entsprechende Forderungen zu schreiben.Herzlichen Dank.
Nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen die Kollegin Britta Haßelmann.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen undHerren! Liebe Besucherinnen und Besucher! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Herr Fischer, Sie haben eben dieSituation der Kommunen sehr einseitig zu beschreibenversucht und gleichzeitig den Vorwurf an die Linke ge-richtet, dass deren Beschreibung der kommunalen Lagebesonders einseitig gewesen wäre. Ich finde das nichtzielführend.
Ich finde es richtig, darüber zu sprechen, dass in denletzten Jahren Fehler korrigiert und vom Bund aus ge-meinsame Maßnahmen mit den Ländern vereinbart wor-den sind. Dafür war auch nicht – nach Ihrer Farbenlehre –die CDU oder gar die FDP verantwortlich.Vielmehr haben Bund und Länder in der letzten Le-gislaturperiode gemeinsam erkannt, dass die Kosten fürdie Grundsicherung im Alter, die durch die Folgen pre-kärer Beschäftigung und Altersarmut entstehen, nichtmehr fast ausschließlich von den Kommunen gestemmtwerden können. Von den fast 5 Milliarden Euro, Ten-denz steigend, hat der Bund bis zur letzten Legislatur nur16 Prozent übernommen. Vor diesem Hintergrund be-durfte es einer gemeinsamen Kraftanstrengung der Län-der insgesamt und des Bundes, hier zu sagen: Das gehtnicht. Wir müssen in Zukunft 100 Prozent der Kostender Grundsicherung im Alter übernehmen; denn dieKommunen haben null Steuerungsfähigkeit, haben nullEinfluss auf diese Bundesaufgabe und brauchen die Ver-antwortung des Bundes. – Insofern war es richtig undgut, das zu tun.
Wenn Sie über die Kommunen sprechen, dann lohntes sich, auch über die sehr heterogene Situation derKommunen zu sprechen. Nur dann werden Sie denKommunen insgesamt gerecht. Die Kommunen sindnicht alle in derselben Situation. Es gibt Kommunen, dieihre Haushalte aufgrund guter Steuereinnahmen in er-heblichem Maße sanieren konnten. Im letzten Jahr gabes zusätzliche Steuereinnahmen von 1,5 Milliarden Eurofür die Kommunen. Es gibt selbstverständlich Kommu-nen, die davon profitiert haben. Aber es gibt gleichzeitigganz viele Kommunen, die davon in keiner Art undWeise profitiert haben. Verlieren Sie diese doch nicht ausdem Blick. Wir müssen das doch insgesamt betrachten.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7515
Britta Haßelmann
(C)
(B)
Wir haben mittlerweile eine Zweiklassengesellschaftbei den Kommunen. Es gibt Kommunen, denen es gutgeht und die aus eigener Kraft Aufgaben übernehmen,investieren, vor Ort gestalten können, und es gibt Kom-munen, die das längst nicht mehr können und nicht wis-sen, wie sie mit ihren Kassenkrediten und der Notver-waltung umgehen sollen. Wir müssen dieser Situationinsgesamt gerecht werden, und zwar die Länder und derBund; das ist ganz wichtig.
Dazu haben Sie uns sehr viele Zahlen genannt, sei esbei der Grundsicherung im Alter oder sei es die geradevom Bundesrat beschlossene Flüchtlingsunterstützung inHöhe von 500 Millionen Euro, auf die sich Bundestagund Bundesrat verständigt haben. Ja, diese Zahlen sindrichtig. Aber folgende Zahlen haben Sie nicht erwähnt:In den Kommunen besteht ein Investitionsstau in Höhevon 118 Milliarden Euro. Warum ist das so? Warumwidmen wir als Bund uns diesem Thema nicht? Wir wis-sen, dass die Kommunen dieses Problem nicht aus eige-ner Kraft bewältigen können. Hier kann sich der Bundnicht wegdrücken.
Gleichzeitig gibt es bei den Kommunen Kassenkre-dite in Höhe von 48 Milliarden Euro. Diese sind nichteinfach abzuarbeiten. Für Kommunen in einer Haus-haltsnotlage ist das ein Block, der da steht und nicht ein-fach zu bewältigen ist. Gleichzeitig haben wir es mitKosten für Sozialleistungen in Höhe von 48,7 MilliardenEuro zu tun. Diese betreffen soziale Pflichtaufgaben desBundes. Deshalb knüpfen wir, auch wir Grüne, natürlichimmer wieder beim Bund an. Man kann es sich nicht soeinfach machen und sagen: Das ist Länderaufgabe. So-ziale Pflichtaufgaben, soziale Leistungen des Bundes,die für die Kommunen Pflichtaufgaben sind, haben wirvon Bundesseite aus mitzufinanzieren. Das ist unsereVerpflichtung.
Im Jahr 2017 werden die Kommunen insgesamt Kos-tenaufwendungen für Sozialleistungen in Höhe von54,5 Milliarden Euro haben. Da ist es gut, 100 Prozentder Kosten für die Grundsicherung im Alter zu überneh-men. Das sind 5 bis 6 Milliarden Euro. Das ist aber einTropfen auf den heißen Stein. Deshalb ist es richtig, sichzu überlegen: Wo sind weitere Punkte, bei denen wir fürBundesleistungen auch Verantwortung aus dem Bundes-haushalt übernehmen müssen? Da appelliere ich an Sie:Tun Sie nicht so, und verschieben Sie die Verantwortungnicht immer nach dem Motto „Wir tun genug, jetzt sindmal die Länder dran“. Am Ende geht es doch um dieMenschen, die vor Ort in den Städten und Gemeinden le-ben und gleichwertige Lebensbedingungen und aucheine gute Lebenssituation haben wollen.Sie haben das Thema Kinderbetreuung angesprochen.Das ist ein sehr gutes Beispiel. Wir haben einen Rechts-anspruch auf Kindertagesbetreuung beschlossen. DieserRechtsanspruch gilt für alle, das heißt 100 Prozent.Wenn in einer Stadt wie Bielefeld zum Beispiel 43 oder44 Prozent der Menschen mit Kindern, die dort leben,diesen Rechtsanspruch geltend machen wollen, dannmüssen wir auch Kindertagesbetreuungsplätze für soviele Kinder bereithalten. Gezahlt werden vom Bundaber nur 37 bzw. 38 Prozent. Da machen wir in Berlin esuns zu einfach. Wir können doch nicht einen Rechtsan-spruch auf Kindertagesbetreuung ab dem vollendetenersten Lebensjahr beschließen, dann die Kosten aber nurfür eine Quote bezahlen und sagen: Den Rest zahlen dieKommunen vor Ort. Wir tragen hier eine Verantwortung,der wir als Bund im Moment nicht nachkommen. Des-halb appelliere ich an Sie: Tun Sie nicht so selbstgefäl-lig. Wir haben massenhaft Aufgaben, die wir zu bewälti-gen haben.
Ich komme zu dem letzten Punkt, den ich ansprechenmöchte. Neulich haben Sie die Abschaffung des Asylbe-werberleistungsgesetzes, die meine Fraktion beantragthatte, abgelehnt. Wir halten es für falsch, dass die Kom-munen so viel Verantwortung für Menschen, die fliehen,übernehmen müssen. Das ist aber nur der eine Aspekt.Der andere Aspekt ist ein humanitärer: Warum werdenMenschen, die zu uns fliehen, die Asyl suchen, die aufder Flucht sind, bei den sozialen Leistungen aufgrunddes Asylbewerberleistungsgesetzes anders behandelt, re-gelrecht deklassifiziert? Unterhalb des Existenzmini-mums gibt es noch ein Minimum für Menschen auf derFlucht. Das ist falsch.
Wir haben für unsere Initiative zur Abschaffung hierkeine Mehrheit gefunden. Es ist aber richtig, diesesThema anzugehen.Deshalb ist es wichtig, sich Gedanken darüber zu ma-chen, wo die Verantwortung des Bundes liegt. Sie habenvon den 500 Millionen Euro gesprochen. Diese Maß-nahme ist gut und richtig – darauf haben sich Bund undLänder verständigt –, aber jetzt kann man sich nichtselbstgefällig zurücklehnen; denn wir wissen, es werdennoch viel mehr Menschen kommen. Viele Menschensind vor Krieg und Terror auf der Flucht. Denen müssenwir – das ist unsere humanitäre Verantwortung – hierAsyl gewähren, denen müssen wir hier Raum und Platzbieten. Wir müssen sie willkommen heißen. Das tunganz viele Bürgerinnen und Bürger durch unglaublichesEngagement und Unterstützung vor Ort. Wir müssen un-seren Beitrag leisten, indem wir die Kommunen in dieLage versetzen, diese Flüchtlingsarbeit, diese Flücht-lingsunterstützung zu leisten.
Es reicht nicht aus, zu sagen: Wir haben doch jetzt ein-mal etwas gegeben. – Es geht um Integrationskurse, Mi-grationsberatung, die Betreuung von traumatisiertenMenschen, die Aus- und Weiterbildung für junge Flücht-
Metadaten/Kopzeile:
7516 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Britta Haßelmann
(C)
(B)
linge, die nach Deutschland kommen, und um unbeglei-tete minderjährige Flüchtlinge.
Liebe Kollegin Haßelmann, darf ich Sie an die verein-
barte Redezeit erinnern?
Ich bin sofort fertig. – Zum Thema BImA: Warum
werden die Immobilien nicht kostengünstiger zur Verfü-
gung gestellt?
Es geht auch um die Gesundheitskarte, die eingeführt
werden muss. All das sind Aufgaben, bei denen die
Kommunen die Unterstützung nicht nur der Länder, son-
dern auch des Bundes brauchen. Deshalb: Lehnen Sie
sich hier nicht zurück und sagen: Wir haben schon genug
getan. – Hier gibt es eine große Herausforderung. Wer
vor Krieg und Terror flieht, muss unabhängig von der
Kassenlage auf Hilfe in unserem Land bauen können.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Swen
Schulz, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Linke for-dert in ihrem Antrag, dass der Bund seine Verantwortungwahrnehmen soll, dass er bei der Unterbringung vonFlüchtlingen und Asylbewerbern helfen soll und dass erdie Kommunen entlasten soll. Das ist im Grundsatz allesrichtig, und darum machen wir das auch.
Wir haben eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen,ganz ohne auf den Antrag der Linken zu warten. Ich willgerne noch einmal einen Überblick geben: Zunächst tunwir ganz grundsätzlich viel für die Kommunen, unab-hängig von der Frage Flüchtlinge und Asylbewerber.Wir übernehmen die vollen Kosten für die Grundsiche-rung im Alter und bei Erwerbsminderung. Das macht bis2018 eine Gesamtentlastung in Höhe von etwa 25 Mil-liarden Euro aus. 2015 und 2016 kommen je 1 MilliardeEuro hinzu, 2017 sogar noch mehr als 1 Milliarde Euro.Die Koalition hat weiterhin vereinbart, die Kommunenab 2018 um 5 Milliarden Euro jährlich zu entlasten. Wirleisten viel bei der Kinderbetreuung: 750 MillionenEuro. Wir stocken die Mittel für den Städtebau auf:700 Millionen Euro. Meine sehr verehrten Damen undHerren, dieser Koalition muss wahrlich niemand erklä-ren, dass die Kommunen gestärkt werden müssen, unduns Sozialdemokraten schon gar nicht, um das noch hin-zuzufügen.
Nun konkret zu den Flüchtlingen und Asylbewerbern.Außenminister Steinmeier hat es vor einiger Zeit so for-muliert: Die Welt scheint aus den Fugen zu geraten. Dasführt dazu, dass mehr Menschen nach Deutschland kom-men und Schutz suchen. Bei all den Diskussionen, diewir hier so führen, müssen wir uns immer im Klaren da-rüber sein, dass die unmittelbaren Nachbarstaaten derKrisenländer ungleich mehr zu schultern haben. Aber– klar – es gibt eine Zunahme der Zahl von Flüchtlingenund Asylbewerbern in Deutschland. Das stellt mancheKommune tatsächlich vor Probleme.Auch in dieser Hinsicht hat die Koalition bereits ge-handelt. Das ist teilweise schon gesagt worden. 500 Mil-lionen Euro stehen in diesem Jahr, 2015, für Unterstüt-zungsmaßnahmen zur Verfügung. Für das Jahr 2016stehen noch einmal 500 Millionen Euro zur Verfügung.Wir haben das Asylbewerberleistungsgesetz refor-miert. Dies bringt in diesem Jahr eine Entlastung für dieKommunen von 31 Millionen Euro. Ab 2016 werden essogar 43 Millionen Euro sein.Außerdem haben wir, Frau Haßelmann, die mietfreieAbgabe von Bundesimmobilien zur Flüchtlingsunter-bringung beschlossen. Wir haben eine Entlastung im Zu-sammenhang mit den Kosten der Zuwanderung aus derEU vereinbart: 25 Millionen Euro. Außerdem haben wirUnterstützung bei Maßnahmen im Gesundheitswesenbeschlossen: 10 Millionen Euro jährlich. In diesem Jahrhaben wir 40 Millionen Euro für zusätzliche Integra-tionskurse in den Haushalt eingestellt. Zudem haben wirweitere 10 Millionen Euro im Rahmen der Programmeder sozialen Stadt bereitgestellt.Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch hiersagen wir selbstbewusst: Wir nehmen unsere Verantwor-tung ernst. Wir unterstützen die Kommunen und helfenihnen, die Flüchtlinge und Asylbewerber gut aufzuneh-men.
Ich will aber nicht behaupten – damit es hier keineMissverständnisse gibt; Frau Haßelmann hat auf die Un-terschiede hingewiesen –, dass damit jetzt alle Problemegelöst sind. Die Frage, ob sich der Bund über die bisheri-gen Leistungen hinaus engagieren muss, ist verständlich;denn letztlich ist die Flüchtlingspolitik eine nationaleAufgabe. So müssen wir diese auch verstehen.
Ich sage das nicht nur, weil Sigmar Gabriel einen ent-sprechenden Vorstoß unternommen hat, sondern weilich, wie andere Abgeordnete sicherlich auch, die Situa-tion vor Ort sehe, die eben teilweise schwierig ist. Es istvollkommen klar, dass wir in der Gesellschaft größereSchwierigkeiten bekommen, wenn es etwa heißenwürde: Wir müssen das Schwimmbad schließen, weilwir eine Flüchtlingsunterkunft einrichten müssen. – Wirdürfen auf gar keinen Fall in eine Situation kommen, in
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7517
Swen Schulz
(C)
(B)
der die Hilfe für Flüchtlinge und Asylbewerber in Kon-flikt gerät mit der Daseinsvorsorge, mit wichtigen Leis-tungen für die Bürgerinnen und Bürger. Es muss beideszusammen gehen. Es geht auch beides zusammen, gutekommunale Leistungen und eine gute Aufnahme vonFlüchtlingen und Asylbewerbern, meine sehr verehrtenDamen und Herren.
Darum werden wir gemeinsam mit den Ländern undKommunen weitere Maßnahmen erörtern und dann auchzu Lösungen kommen.Damit könnte ich es – gerade als Mitglied des Haus-haltsausschusses – eigentlich auch schon bewenden las-sen. Wir alle sollten und wollen ja auch Flüchtlinge undAsylbewerber nicht nur als ein Problem für die öffentli-chen Haushalte, nicht nur als Kostenfaktor sehen.
Vor allem ist es ein Gebot der Menschlichkeit, derNächstenliebe und unseres Grundgesetzes, Menschen inNot zu helfen. Wenn das Geld kostet, dann kostet daseben Geld – das wir aufbringen können. Für die Flücht-linge muss es doch unverständlich sein, welche Diskus-sionen wir in Deutschland manchmal führen.Natürlich können wir nicht alle aufnehmen. Natürlichmuss es eine neue europäische Flüchtlingspolitik geben.Natürlich müssen wir dazu beitragen, dass die Menschengar nicht erst fliehen müssen. Die Verfahren müssensorgfältig durchgeführt, aber auch schnell entschiedenwerden. Dafür setzen wir mehr Personal ein. Zudem ha-ben wir im Bundesrat mit teilweiser Unterstützung derOpposition die sicheren Herkunftsstaaten neu definiert.Jede Rhetorik aber nach dem Motto „Das Boot ist voll“ist hanebüchener Unsinn und menschenfeindlich.
Wie sicherlich viele von Ihnen, liebe Kolleginnen undKollegen, habe ich in meinem Wahlkreis Debatten überdieses Thema. Besonders heftig wurde es bei mir in Ber-lin-Spandau, als ich den zuständigen Berliner Senatoraufgefordert habe, eine als provisorisch gedachte Ein-richtung, Flüchtlingsunterkunft, längerfristig offenzuhal-ten, weil wir nicht wissen, wohin sonst mit den Men-schen. Manche Anwohner waren sehr aufgebracht. Dahabe ich wirklich sehr harte Worte gehört. Ich will hiernicht auf Einzelheiten dieses konkreten Falles eingehen.Ich kann Kritik dann auch verstehen; denn eine großeUnterkunft für Flüchtlinge und Asylbewerber ist für An-wohner, für Nachbarn zunächst einmal eine Belastung.In diesem Fall wurde denen zudem etwas anderes zuge-sagt als das, was tatsächlich gemacht wurde.
Herr Kollege Schulz, gestatten Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Vogler?
Ich würde gerne meinen Gedanken zu Ende führen.
Bitte schön.
Wir sollten daraus lernen, und zwar erstens, dass wirKonflikte mit der Nachbarschaft nach Möglichkeit redu-zieren müssen, zuallererst durch Informationen, durchBegegnung und Dialog. Aber manches kostet eben auchGeld, etwa wenn es um bauliche Fragen oder um Ange-bote für Kinder und Familien und die Betreuung derMenschen geht.Zweitens müssen wir ehrlich sein. Wir müssen unsklar darüber werden, was passiert, und wir müssen dasden Bürgern tatsächlich sagen. Auf gar keinen Fall dür-fen wir den Fehler wiederholen, den wir früher einmalbei den sogenannten Gastarbeitern gemacht haben, alswir dachten, dass die alle bald wieder weg sein werden.Nein, viele werden bleiben. Wir müssen klar sagen: Dasist gut. Die Menschen sind willkommen. Deutschlandbraucht Zuwanderung.
Ich habe mit großem Interesse ein Interview in derSüddeutschen Zeitung mit dem Oberbürgermeister derStadt Goslar, Oliver Junk, gelesen. Er ist Christdemokratund will mehr Flüchtlinge in seiner Stadt. Er sagt wört-lich:Wir verlieren Einwohner. Schrumpfende Regionenaber werden weniger attraktiv für die Wirtschaft.Das ist eine Abwärtsspirale, aus der wir raus wol-len. … Die Stadt Goslar profitiert von Flüchtlingen,sie sind eine Bereicherung …Der Mann hat recht.
Wir sind aus ganz handfesten wirtschaftlichen und de-mografischen Gründen auf Zuwanderung angewiesen.Wir müssen mehr Einwanderung wagen, und wir müssenuns eben auch darauf einstellen und die Menschen unter-stützen. Das beginnt bei frühen Sprachkursen. In mei-nem Wahlkreis in Berlin-Spandau haben sich Frauen ausder Nachbarschaft gemeldet und ihre Hilfe für ersteSprachkurse angeboten, weil da staatlich nichts passiert.Ich bin wirklich von diesem ehrenamtlichen Engage-ment beeindruckt, das es an verschiedenen Stellen gibtund für das wir uns gar nicht genug bedanken können.Aber ich bin sicher, dass wir das auch staatlich besserunterstützen können und müssen.Das ist nur ein Beispiel. Es gibt weitere Themen, wei-tere Baustellen. Eric Schweitzer vom DIHK etwa willFlüchtlingen Ausbildung verschaffen und fordert daherein Verbot der Abschiebung während der Ausbildung.Immerhin haben wir mit dem schnelleren Zugangzum Arbeitsmarkt, mit der Abschaffung von Residenz-pflicht und Sachleistungsprinzip, mit der Verbesserungder Unterstützungsmaßnahmen und mit dem schnelleren
Metadaten/Kopzeile:
7518 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Swen Schulz
(C)
(B)
Zugang zum BAföG schon einiges geschafft. Jetzt müs-sen weitere Schritte folgen, etwa bei der Bildung, aberauch bei der Gesundheitsversorgung. Ein Zuwande-rungsgesetz gehört dazu, ist sozusagen der Rahmen. DieSPD fordert das schon lange. Unser Koalitionspartnerfängt mit der Diskussion an. Wir werden das forcieren.Wenn wir ein Zuwanderungsgesetz bekommen, setzen wirein klares, ein unmissverständliches Zeichen: Deutsch-land ist ein offenes Land, das Menschen aus anderenLändern nicht als Last wahrnimmt, sondern anerkenntund willkommen heißt.
In diesem Sinne: Wir haben viel gemacht, aber habennoch einiges vor.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Das Wort zu einer Kurzintervention
erhält jetzt die Kollegin Vogler, Fraktion Die Linke.
Lieber Kollege Schulz, ich wollte, weil Sie eben die
Geschichte aus Ihrem Wahlkreis erzählt haben, darauf
hinweisen, dass wir an vielen Orten Probleme damit ha-
ben, die Flüchtlinge angemessen, würdevoll und integra-
tiv unterzubringen. Wir waren vor einigen Tagen in mei-
nem Wahlkreis im Münsterland, der eher im ländlichen
Raum liegt, unterwegs. Petra Pau als Vizepräsidentin
war mit dabei. Wir haben mit Kommunalpolitikerinnen
und Kommunalpolitikern sowie mit Menschen aus
Flüchtlingsinitiativen gesprochen. Wir haben immer wie-
der gehört: Die Unterbringung ist ein ganz großes Pro-
blem. Wenn es selbst bei uns im ländlichen Raum ein
Problem ist, dann liegt es ja auf der Hand, dass es in
Städten wie Berlin, Duisburg oder Köln ein noch viel
größeres Problem ist.
Ich würde Sie fragen wollen, ob es nicht sinnvoll
wäre, Immobilien der Bundesanstalt für Immobilienauf-
gaben, der BImA – sie verfügt über viele, viele Immobi-
lien, ist aber gehalten, diese finanziell bestmöglich zu
verwerten –, oder auch andere Liegenschaften des Bun-
des, die im Augenblick nicht genutzt sind, alte Eisenbah-
nerwohnungen usw., den Kommunen kostenfrei zur Ver-
fügung zu stellen, damit sie mehr Möglichkeiten haben,
die Flüchtlinge dezentral, würdevoll und integrativ un-
terzubringen.
Herr Kollege Schulz.
Liebe Kollegin, Sie haben vollkommen recht. Auch
die Bundesimmobilien sind eine Möglichkeit, zur Pro-
blemlösung beizutragen. Deswegen haben wir das ent-
sprechend beschlossen. Die BImA stellt mietzinsfrei Im-
mobilien zur Flüchtlingsunterbringung zur Verfügung.
Es muss dann vor Ort geklärt werden, welche Liegen-
schaften dafür geeignet sind. Aber das ist möglich. Das
ist ein Beschluss der Großen Koalition und, wie ich
glaube, auch ein guter Beitrag.
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält jetzt der Kollege
Alois Karl das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich IhrenAntrag gelesen habe, habe ich mir gedacht: Das kann ichnur sportlich nehmen. Der französische Baron Pierre deCoubertin hat die Begründung der Olympischen Spieleder Neuzeit unter das Motto „Höher, schneller, weiter“gestellt. Wenn er Ihren Antrag gelesen hätte, hätte ervielleicht noch „maßloser“ hinzugefügt.
Es ist eine Ansammlung von Halb- und Nebenwahrhei-ten, die wir hier lesen. Sie bringen ein tatsächlich beste-hendes Problem, nämlich die explodierende Anzahl vonAsylbewerbern und Flüchtlingen, in Verbindung mit demNiedergang der kommunalen Finanzen und fordern, derBund solle die Defizite durch Zuschüsse egalisieren. Soeinfach ist die Sache natürlich nicht.Wir haben große Aufgaben zu bewältigen; FrauHaßelmann, da haben Sie schon recht. Wir lehnen uns daauch nicht zurück. Wir wissen, dass auch in den nächs-ten Jahren – in den nächsten Monaten wahrscheinlichschon – neue große Aufgaben auf uns zukommen wer-den. Aber wir ziehen daraus andere Schlüsse als Sie. Wirsagen, wenn wir unser Geld auf diejenigen, die es wirk-lich nötig haben, konzentrieren und es nicht für diejeni-gen verwenden, die eigentlich kein Bleiberecht bei unshaben, dann haben wir die notwendigen Ressourcen, undwenn wir sie nicht haben, werden wir sie im Bundes-haushalt zur Verfügung stellen. Das ist für uns die richtigangewendete Humanität, die in unserem Lande prakti-ziert werden muss und die sich in unserem Lande durch-setzen sollte. Das, glaube ich, ist der gravierende Unter-schied, den ich in Ihrer Rede gerade ausfindig gemachthabe.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist nichtsganz Neues, dass sich die Zahl der Asylsuchenden inDeutschland explosionsartig erhöht. Vor 36 Jahren, 1979,hatten wir 50 000 Asylbewerber, im Jahr darauf über100 Prozent mehr, nämlich mehr als 100 000. Vor25 Jahren, im Jahr 1990, hatten wir in Deutschland200 000 Asylbewerber, kurz darauf, 1992, 450 000.Meine sehr geehrten Damen und Herren, eine solcheEntwicklung ist für diejenigen, die damit befasst sind,immer eine große Herausforderung. Das ist der Bund,das sind die Länder, und das sind die Kommunen. AxelFischer hat darauf hingewiesen, dass hier natürlich die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7519
Alois Karl
(C)
(B)
Länder in der Pflicht sind – selbstverständlich –, dassaber auch der Bund seine Verantwortung wahrnimmt.
Herr Kollege Karl, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Dehm?
Kollege Dehm? Ja, wir haben uns schon lange nicht
mehr gesehen.
Bitte schön.
Ich will versuchen, diesen kameradschaftlichen Ton
beizubehalten. – Kollege Karl, wären Sie bereit, über
den Begriff „explosionsartig“ noch einmal nachzuden-
ken?
Ja. – „Explosionsartig“ bedeutet: sich in ganz unge-wöhnlichem Maße vermehrend. Wenn eine Zahl von ei-nem zum nächsten Jahr von 50 000 auf 100 000 steigt,ist das eine geradezu extreme Steigerung. Das ist imDeutschen die ungefähre Bedeutung dieses Ausdrucks.Normalerweise sind Sie des Deutschen ja durchausmächtig.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, selbstver-ständlich hat sich die Situation in den letzten 25 oder15 Jahren verändert, wie ich vorhin gesagt habe. Wir ha-ben heute eine ganz andere Willkommenskultur inDeutschland; Herr Schulz, Sie haben darüber gespro-chen, und das ist in der Tat richtig. In den letzten Mona-ten habe auch ich eine außerordentlich positive Verände-rung festgestellt. Es wurden viele private Initiativengegründet, und Organisationen im karitativen Bereichhaben sich engagiert. Ich erwähne allerdings auch dieKirchen und die Klöster, die ihre Tore geöffnet und vieleAsylanten und Flüchtlinge untergebracht haben. Ihnenmöchte ich an dieser Stelle im Namen meiner Fraktionfür diesen außerordentlichen Akt der Nächstenliebe – sohaben wir das früher bezeichnet –, die in unserem Landein den letzten Monaten um sich gegriffen hat, ganz herz-lich und ausdrücklich danken. Auch das gehört zurRealität und zur Wahrheit in diesem Land.
Es ist völlig selbstverständlich – da lassen wir keinJota daran rühren –, dass wir jenen, die wegen ihrer poli-tischen Überzeugung, wegen ihrer Glaubensüberzeu-gung, wegen der anderen Tatbestandsmerkmale, die wirin Artikel 16 a des Grundgesetzes finden, Asyl beantra-gen können, unsere helfende Hand reichen müssen; dasist gar keine Frage. Das kostet auch Geld; Sie haben dasgesagt. Was uns aber ein wenig unterscheidet – FrauHaßelmann, ich gehe noch mal auf Ihre Rede ein –: Alljenen, die aus anderen Gründen – aus wirtschaftlichenGründen – unsere Gastfreundschaft suchen, muss ich sa-gen, dass wir einen Unterschied machen zwischen recht-mäßig beantragtem Asyl und unrechtmäßig beantragtemAsyl. Da unterscheiden wir uns von Ihnen, und da,meine ich, sollten Sie noch einmal überlegen, ob Sienicht auch unsere Position einnehmen können.
Es ist richtig, dass wir Serbien, Bosnien-Herzegowinaund Mazedonien jetzt endlich zu sicheren Herkunftslän-dern definiert haben. Sie wissen, dass ungefähr 25 Pro-zent der Asylbewerber aus diesen Ländern kommen und99 Prozent dieser Anträge abgelehnt werden, es aberMonate dauert und viel Geld kostet, Asylbewerber ausdiesen Ländern rechtmäßig abzuschieben. Wir hättenviel mehr Kapazitäten zur Verfügung für jene, die ausSyrien, aus dem Irak und aus vielen anderen Ländern un-ter Einsatz ihres Lebens über das Mittelmeer oder sonstwoher kommen, um bei uns Asyl zu suchen; auf dieseMenschen könnten wir uns dann zu Recht konzentrieren.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie ausdrücklichdarum, dass Sie, wenn wir wieder eine Initiative starten,sichere Herkunftsländer zu definieren, berücksichtigen:Falls tatsächlich in Ländern wie Albanien und Montene-gro, Ländern, die ja alle in die EU wollen, die Men-schenrechte mit Füßen getreten werden – Sie unterstüt-zen diese Haltung offensichtlich auch noch –, dannhätten diese Länder in der EU nichts zu suchen und ihreAnträge müssten von vornherein mit einem Federstrichabgewiesen werden.Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Bundmacht viel; das haben wir schon gehört, das muss ichnicht alles noch einmal aufzählen. Wir haben dem Bun-desamt für Migration und Flüchtlinge, BAMF, 650 Stel-len zur Verfügung gestellt, damit es die große Zahl vonAsylanträgen schneller bearbeiten kann. Auch die zwei-mal 500 Millionen Euro, die der Bund den Städten undGemeinden 2015 und noch einmal 2016 für die Unter-bringung von Asylbewerbern zur Verfügung stellt, sindgenannt worden. Ich rufe auch noch einmal in Erinne-rung, dass der Bund auch Bundesliegenschaften kosten-frei zur Verfügung stellt.Für die Gemeinden, meine sehr geehrten Damen undHerren – auch an Sie als erste Rednerin der Linken nochmal gesprochen, Frau Karawanskij –, tun wir unendlichviel – mehr als in den Jahrzehnten zuvor.
Wenn man den Beitrag des Bundes, der zwischen 2010und 2020 an die Gemeinden fließt, aufaddiert, wird manauf etwa 170 Milliarden Euro Bundesleistung kommen.Das ist schon etwas. Ich meine auch, dass wir manchesgemeinschaftlich tun müssen. Wir müssen auf der einenSeite einen ausgeglichenen Haushalt zustande bringen,
Metadaten/Kopzeile:
7520 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Alois Karl
(C)
(B)
aber auch viel Unterstützung leisten im Lande und weitdarüber hinaus.Ich bin dem Freistaat Bayern ausdrücklich dankbar,dass er bereits vorweggenommen hat, was die Linkenjetzt in ihrem Antrag fordern: Der Freistaat Bayern stelltall seine Kommunen frei von den ungedeckten Kostender Unterbringung und der Versorgung von Flüchtlingenund Asylbewerbern, die jetzt in die Städte und Gemein-den Bayerns gekommen sind. Das ist der Nachahmungwert. Hier dürften Sie durchaus, legitimerweise Plagia-teur sein. Eine Wallfahrt nach Bayern diesbezüglich,liebe Frau Karawanskij – Frau Jelpke, die jetzt nach mirreden wird, können Sie gleich mitnehmen –, würde nie-mandem schaden.
Ich lade ausdrücklich dazu ein.
– Ja, das kann man auch sagen.Meine sehr geehrten Damen und Herren, unserenStädten und Gemeinden geht es – das ist auch schon ge-sagt worden – unterschiedlich gut. Ich freue mich aus-drücklich darüber, dass in Deutschland mittlerweilemehr als 1 000 Kommunen eine Pro-Kopf-Verschuldungvon null haben; das ist gut so. Alle anderen müsstenauch danach streben, das zu erreichen. Es gibt auch man-che – Sie haben das gesagt –, die hohe Kassenkredite un-terhalten; sie umfassen insgesamt 47 Milliarden Euro.Aber da, meine Damen und Herren, müssen wir auch zuunterscheiden wissen: Die Hälfte von diesen 47 Milliar-den Euro, 24 Milliarden Euro, entfallen auf lediglich27 Kommunen, davon 16 aus Nordrhein-Westfalen. EinViertel dieser Kassenkredite, 12 Milliarden Euro, werdenvon lediglich 8 Kommunen beansprucht, davon 7 ausNordrhein-Westfalen. Das sollte dem einen oder anderenvielleicht ein wenig zu denken geben. Mir steht es nichtan, jetzt Ursachenforschung zu betreiben.Ich sage, dass wir unseren Aufgaben in der Tat nach-kommen und dass wir unsere Verpflichtungen auch inZukunft erfüllen werden. Sie reden uns hier keinschlechtes Gewissen ein; denn das haben wir gar nichtnötig.
Herr Kollege Karl.
In der Vergangenheit ist schon unendlich viel getan
worden, und wenn mehr Flüchtlinge kommen, dann wer-
den wir darauf entsprechend reagieren.
Vielen herzlichen Dank.
Nächste Rednerin ist Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrKollege Karl, ich finde, man kann nicht davon reden,dass Flüchtlingsbewegungen explodieren. Das ist allen-falls die Ursache dafür, dass immer mehr Flüchtlingehierher kommen. Explodieren tun Waffen und Bomben,und ich glaube, gerade Deutschland ist nicht ganz un-schuldig daran, dass so viele davon in die Welt verbrachtwerden.
Ich will hier noch einmal sehr deutlich sagen: DerAntrag, den die Linke heute hier eingebracht hat, ist An-lass – das zeigt auch die jetzige Diskussion – für eineganz wichtige Debatte. Wir müssen darüber diskutieren,wie sich die Kommunen, die Länder und vor allen Din-gen der Bund an der Beseitigung der zum Teil katastro-phalen Zustände in den Flüchtlingslagern beteiligen kön-nen.Herr Karl, ich war auch gerade in München. VieleFlüchtlinge dort – mindestens 100 Menschen – wurdenbei der Erstaufnahme in Zelten untergebracht. Sie sagenhier, Sie würden genug tun. Deshalb frage ich Sie ernst-haft: Was sind Ihre Kriterien für Asylstandards? Wassind Ihre Kriterien für die Würde der Menschen, diehierher in unser Land kommen und Schutz suchen? Eskann nicht wahr sein, dass eine Unterbringung in Zeltendiesen Kriterien entspricht.
Massenunterkünfte für Asylbewerber sind per se un-würdig.
Ich denke, gerade auch deswegen sind sie häufig Zielrassistischer Hetze und Gewalt. Das muss endlich derVergangenheit angehören, und ich gehe ganz fest davonaus, dass das auch geschieht.Die Stadt Schwerte will jetzt Flüchtlinge in dem frü-heren KZ-Außenlager Schwerte-Ost des ehemaligenKZs Buchenwald unterbringen. Das finde ich wirklichabsolut geschmacklos. Es kann ja wohl nicht sein, dassFlüchtlinge in solchen Einrichtungen, die geschichtlich,historisch auch für die Flüchtlinge katastrophal seinmüssen, untergebracht werden.
Es gibt aber auch gute Beispiele. In dieser Wochekonnten wir zum Beispiel im ARD-Morgenmagazin se-hen, dass sich der Bürgermeister der sächsischen StadtGröditz entschieden hat, Flüchtlinge nur noch in Woh-nungen unterzubringen. Man konnte dort die Bürger hö-ren – auch Leute, die vorher Ängste hatten –, wie siesich mit den Flüchtlingen bekannt gemacht haben; siehaben sie durch die Begegnung im Alltag kennengelernt.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7521
Ulla Jelpke
(C)
(B)
Es gibt also Möglichkeiten. Einer der zentralen Punkte,die die Kommunen leisten müssen, ist die dezentrale Un-terbringung in Wohnungen. Das geht aber eben nur,wenn sich auch der Bund daran beteiligt und die Kom-munen nicht alleine lässt.
Man kann auch auf die Geschichte verweisen. DieStadt Dortmund und auch andere Städte haben seit Jah-ren die dezentrale Unterbringung in Wohnungen als Ziel.Meiner Meinung nach brauchen wir genau das, und wirmüssen hier auch über eine andere Flüchtlingspolitik re-den.Wir werden im Ausschuss hauptsächlich darüber re-den müssen – das ist klar –, wie der Bund hier Verant-wortung übernehmen kann, aber man muss auch übereine andere, neue Flüchtlingspolitik reden; denn das,was hier passiert, entspricht noch der Abschreckungspo-litik in den 80er- und 90er-Jahren, als es den Flüchtlin-gen möglichst schlecht gehen sollte, damit sie schnellwieder gehen.
Deswegen müssen eben auch solche Dinge wie Resi-denzpflicht, Arbeitsverbote und gekürzte Sozialleistun-gen endlich der Vergangenheit angehören, auch wenn dieRegelungen jetzt leicht verbessert worden sind.Die Linke will einen grundsätzlichen Wandel in derAufnahmepolitik. Menschenwürdige Aufnahmepolitikund schnelle Integration müssen die Ziele dieses Wan-dels sein. Dazu gehören eben hohe Standards bei der Un-terbringung und vor allen Dingen auch bei der Betreu-ung; denn auch die Beratung fehlt heute fast vollständigfür Menschen, die bei uns Schutz suchen.Wir fordern deshalb, dass das System der Verteilungvon Asylsuchenden auf die Bundesländer deutlich flexi-bler gehandhabt wird. Es ist einfach nicht nachvollzieh-bar, dass man Flüchtlinge, die hierherkommen und Ver-wandte oder Bekannte in Pirna haben, nach Hagen odersonst wohin schickt. Durch die flexible Verteilung kanndas Engagement der Bürgerinnen und Bürger für dieFlüchtlinge und gegen Rassismus viel stärker unterstütztwerden als durch die Rückkehr zu Massenunterkünften.Eine neue humanitäre und integrative Aufnahmepolitikist im Übrigen auch die richtige Antwort auf rassistischeHetze und auf Bewegungen wie Pegida. Sie nutzen ge-nau diese Massenunterkünfte, um immer wieder zu mo-bilisieren.Wir freuen uns auf die Debatte mit Ihnen über eineandere Flüchtlingspolitik und vor allen Dingen über Ver-antwortung, die der Bund mit wahrzunehmen hat, wennes um die Aufnahme von Flüchtlingen geht.Ich danke Ihnen.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Bernhard Daldrup
für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Wir haben uns vorgestern imNamen von Humanität und Solidarität vor dem Branden-burger Tor versammelt. Heute Morgen haben der Bun-destagspräsident und die Bundeskanzlerin zu den Terror-anschlägen in Paris und den Angriffen auf Demokratieund Toleranz Stellung bezogen.Jetzt reden wir im Rahmen dieser Debatte aufgrundder wachsenden Zahl von Flüchtlingen und Asylbewer-bern ganz konkret über die Konsequenzen für praktischePolitik. Es ist mir zunächst einmal ähnlich wie HerrnKarl und wie wahrscheinlich uns allen gemeinsam einbesonderes Anliegen, mich bei den vielen Menschen, beiden Tausenden von Menschen in den Städten und Ge-meinden unseres Landes für ihr Engagement, für ihrepraktische Solidarität, für ihre Mitmenschlichkeit zu be-danken. Das müsste tausendfach geschehen.
Ich sage das auch deshalb, weil ich mich – ich selberwar zu dieser Zeit Ratsmitglied – sehr gut daran erin-nere, wie das Anfang der 90er-Jahre war. Ich sehe, dasssich viel zum Guten verändert hat. Aber ich sage auch:Nichts ist von Dauer. Pegida weist den Weg zu Rechtsra-dikalismus und Fremdenfeindlichkeit. Der Schoß ist im-mer noch fruchtbar.Darum ist es mir besonders wichtig, auf einen Aspekthinzuweisen, der vielleicht nur einen kleinen Betrag aus-macht, aber dennoch von eminenter Bedeutung ist, näm-lich die Förderung politischer Bildung gegen Rechtsradi-kalismus und für Demokratie, wie zum Beispiel durchdas Programm „Demokratie leben“, dessen Mittel um10 Millionen Euro erhöht worden sind. Ich halte das fürsehr wichtig.
Sie wissen, dass ich als kommunalpolitischer Spre-cher gerne über die Lage der kommunalen Finanzenrede. Frau Karawanskij, wir machen das ja regelmäßig.Bei Ihrem Antrag allerdings rate ich zur Vorsicht. Wa-rum? Frau Haßelmann hat eben darauf hingewiesen: DasWachstum der Kassenkredite, die Höhe der Sozialausga-ben, die Investitionsschwäche der Kommunen habeneine deutlich längere Vergangenheit und vor allen Din-gen auch andere Ursachen als die Notwendigkeit zur Un-terbringung einer wachsenden Zahl von Flüchtlingen.Wenn wir jetzt anfangen, die Debatte um die allge-meine Lage der Kommunen und ihre erforderliche Ent-lastung mit den Kosten der Aufnahme von Flüchtlingenzu vermischen, wenn wir alles in einen Topf werfen,dann entsteht daraus leicht eine Melange mit einemmöglicherweise bitteren Nachgeschmack.
Metadaten/Kopzeile:
7522 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Bernhard Daldrup
(C)
(B)
Allzu leicht liefert man vermeintliche Argumente, diedie Ressentiments in der Bevölkerung eher verstärken.Dabei sollte es unsere Aufgabe sein, Vorurteile aufzulö-sen, aber nicht, sie zu befördern.
Dazu liefert Ihr Antrag leider keinen Beitrag. Es wärenotwendig, sich mit der Situation der Flüchtlinge undAsylbewerber in den Kommunen konkret auseinander-zusetzen; ich komme darauf gleich zurück.Ich will auch nicht, Frau Haßelmann, bestreiten, dassIhre Analyse und Ihre Beschreibung zutreffend sind. Ichwill auch nichts schönrechnen. Aber trotzdem will ich,ohne im Einzelnen und ausführlich darauf einzugehen,darauf hinweisen – das wissen Sie auch –, dass Bundes-regierung und Bundestag schon eine Menge zugunstender Kommunen gemacht haben: die Übernahme derKosten für die Grundsicherung in Höhe von 25 Milliar-den Euro in dieser Legislaturperiode und in diesem Zu-sammenhang auch die Entlastung in Höhe von 1 Mil-liarde jährlich bis 2017 – das ist angesprochen worden –,die Hilfen beim Städtebau und die Hilfen beim Kitaaus-bau, der übrigens nicht quotengebunden ist. Diese Hilfenkommen an. Sie lassen sich nicht wegreden; sie lassensich auch nicht marginalisieren. Das ist ein Erfolg dieserKoalition, und den lassen wir uns nicht kleinreden.
Trotzdem will ich an dieser Stelle auch sagen: DieForderung nach einer stärkeren Entlastung bei den So-zialausgaben sozusagen mit einem Antrag zur besserenFinanzierung von Flüchtlingsunterbringungen aufzuwär-men – ich kenne schließlich auch Ihre anderen Anträge –hat etwas von Copy-and-Paste; sie hat wenig Neuigkeits-wert. Deswegen halte ich fest:Erstens. Bundesregierung und Bundestag setzenSchritt für Schritt die im Koalitionsvertrag zugesagtenWege zur Kommunalentlastung um. Da ist noch nicht al-les erreicht; es wird noch weitergehen, auch was die Dif-ferenzierung betrifft. Übrigens werden – darauf legenwir großen Wert – auch die 10 Milliarden Euro für dieInvestitionsförderung sicherlich zur Stärkung der Inves-titionskraft der Kommunen eingesetzt werden.Zweitens. Es sind bereits sehr konkrete Hilfen in derAsylpolitik und zur besseren Flüchtlingsunterbringungvon Bund und Ländern, übrigens auch im Zuge der Än-derung – nicht der Abschaffung – des Asylbewerberleis-tungsgesetzes, beschlossen worden. Beispielsweise ent-lastet die zeitnahe Eingliederung in die regulärenLeistungssysteme und Hilfen nach SGB II und XII beiVorliegen eines humanitären Aufenthaltstitels die Kom-munen um 39 Millionen Euro in 2015; 2016 werden es52 Millionen Euro sein. Das sind alles keine gewaltigenBeträge, aber sie sollten nicht kleingeredet werden.Die Integrationskurse – mein Kollege hat schon da-rauf hingewiesen – wurden um 40 Millionen Euro auf244 Millionen Euro erhöht. Die Personalaufstockungbeim BAMF ist schon erwähnt worden. Dass Asylver-fahren zeitlich schnell und zügig durchgeführt werdensollen, ist eine Vereinbarung im Koalitionsvertrag.Die erleichterte Möglichkeit zur Arbeitsaufnahmenach drei Monaten, die faktische Abschaffung der Resi-denzpflicht, die Änderungen im Bauplanungsrecht unddie mietzinsfreie Überlassung von Flächen und Gebäu-den der BImA schaffen mehr Möglichkeiten für eine an-gemessene Unterbringung. Auch die Erhöhung der Mit-tel der zuvor unterfinanzierten Migrationsberatung fürErwachsene sei erwähnt.Der Bund hilft den Kommunen auf unterschiedlicheArt und Weise, auch wenn es nicht hinreichend ist undwir weiter daran arbeiten müssen. Aber vieles davon ent-lastet die Transfersysteme und sorgt für Integration undAkzeptanz.Besonders wirkungsvoll ist aber, dass in den Jahren2015 und 2016 jeweils 500 Millionen Euro bereitgestelltwerden, davon die Hälfte durch den Bund über eineneinmaligen Festbetrag an der Umsatzsteuer. Die weitereHälfte wird durch die Länder über einen Zeitraum von20 Jahren getilgt.Natürlich muss dieses Geld bei den Kommunen lan-den. Das ist doch gar keine Frage, Herr Karl. Daraufkomme ich gleich noch zurück. Leider sind aber die Lin-ken mit ihrer reflexartigen Kritik wegen zu geringer Fi-nanzmittel genauso berechenbar wie die Opposition inmeinem Bundesland NRW. Sie kommen zwar nicht ausNordrhein-Westfalen, Herr Karl, aber Sie sind genausoberechenbar. Weil permanent der Eindruck erwecktwird, als wäre die Situation in Nordrhein-Westfalen et-was anders, will ich Ihnen ein paar Informationen vortra-gen.Die Verteilung der Flüchtlinge auf Einrichtungen inden Bundesländern erfolgt nach dem KönigsteinerSchlüssel. Nordrhein-Westfalen werden 21 Prozent allerFlüchtlinge zugewiesen. Das sind etwa 40 000 Men-schen. Das ist mehr als die Einwohnerzahl der Kom-mune, in der Sie früher Oberbürgermeister gewesensind: Neumarkt hat meines Wissens 38 000 Einwohner.Das sind also riesige Aufgaben, die bewältigt werdenmüssen. Nordrhein-Westfalen erhält 108 Millionen Eurovom Bund. 54 Millionen Euro davon werden in Nord-rhein-Westfalen unmittelbar und ungeschmälert an dieKommunen weitergeleitet. Die Landespauschale wirdnach dem Flüchtlingsaufnahmegesetz um 40 MillionenEuro auf 183 Millionen Euro erhöht.
– Hören Sie gut zu! – Weitere 14 Millionen Euro stehenfür gemeinsame Herausforderungen der Kommunen zurVerfügung: 3 Millionen Euro für Gesundheitsförderungsowie zusätzliche Mittel für Weiterbildung und Sprach-förderung, zusätzliche Plätze in Ganztagsschulen unddie soziale Arbeit mit traumatisierten Kindern, und1 Million Euro zusätzlich wird für die Förderung ehren-amtlicher Arbeit zur Verfügung gestellt.Das Land Nordrhein-Westfalen legt noch 37 Millio-nen Euro obendrauf, die ganz wesentlich für die Errich-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7523
Bernhard Daldrup
(C)
(B)
tung neuer Erstaufnahmeeinrichtungen mit insgesamt10 000 Plätzen investiert werden. Ich rede über ganz an-dere Größenordnungen als die, in denen in den anderenBundesländern investiert wird. In der Summe werdenalso nicht nur die 108 Millionen Euro vom Bund, son-dern 145 Millionen Euro zur Verfügung gestellt.Das alles erfolgt in großer Übereinstimmung mit denkommunalen Spitzenverbänden in Nordrhein-Westfa-len. Warum sage ich das an dieser Stelle? Ich sage dasdeswegen, weil ich glaube, dass die finanzielle Unter-stützung der Kommunen für die Unterbringung vonFlüchtlingen kein Feld für Schwarzer-Peter-Spiele unterdemokratischen Parteien sein darf.
Die Gewinner solcher Debatten stehen jenseits der De-mokratie. Die Vorschläge, die im Rahmen der Bund-Länder-Finanzbeziehungen sowieso verhandelt werdenund zwischen den Kommunen und den Ländern nochziemlich umstritten sind, sind an dieser Stelle nicht be-sonders ideenreich und innovativ. Deswegen glaube ich,dass man zum gegenwärtigen Zeitpunkt Ihrem Antrag,meine Damen und Herren von der Linken, nicht zustim-men kann.Wir sollten ganz gezielt über eine Politik nachdenken,die Flüchtlingen hilft, zum Beispiel durch einen Rechts-anspruch auf Spracherwerb und Integration in den Ar-beitsmarkt, durch die Einführung eines kommunalenWahlrechts für Nicht-EU-Bürger oder durch ein Einwan-derungsgesetz. Auf die Fakten und die wirtschaftlicheBegründung dafür hat mein Kollege schon hingewiesen.Wir sollten damit konzeptionell statt populistisch umge-hen. Wir Sozialdemokraten sind gerne dazu bereit undladen Sie dazu ein, daran mitzuwirken.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Als letzter Redner zu diesem Tages-
ordnungspunkt erhält jetzt der Kollege Ingbert Liebing,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Mit dem Antrag der Linkenwird der Bogen weit gespannt – das zeigt die Debatte –:von der Unterbringung von Flüchtlingen über das Asyl-recht bis hin zu der allgemeinen Finanzlage der Kommu-nen. Mir liegt sehr viel daran, dass wir dabei keinen fal-schen Eindruck erwecken. Wir dürfen die Diskussionüber die Unterbringung von Flüchtlingen nicht allein aufden finanziellen Aspekt verengen; denn es gibt einegroßartige Bereitschaft in den Kommunen quer durchganz Deutschland, Flüchtlinge aufzunehmen.Ich bin am vergangenen Sonntag in einer kleinen Ge-meinde mit 3 000 Einwohnern gewesen, in der eine neuezentrale Landeseinrichtung für die Unterbringung von500 Asylbewerbern errichtet werden soll. 500 Asyl-bewerber auf 3 000 Einwohner, das stellt die Gemeindevor eine große Herausforderung. Aber die Gemeindesagt Ja zu dieser Einrichtung und will sich darum küm-mern. Im Ort bilden sich Initiativen, die die Flüchtlingewillkommen heißen und freundlich aufnehmen wollen.Für mich gehört zu diesem Thema auch, solche Leistun-gen und eine solche Aufnahmebereitschaft zu würdigenund anzuerkennen. Das möchte ich gerne an den Anfangmeiner Rede stellen. Das, was ich in Boostedt erlebthabe, war großartig.
Meine Damen und Herren von der Linken, Sie greifenmit Ihrem Antrag die Finanzierung der Flüchtlingsunter-bringung auf. Das ist sicherlich ein aktuelles Thema.Aber Ihr Antrag mündet in einem Rundumschlag undendet mit dem alten Lamento, der Bund müsse alles aufder kommunalen Ebene finanzieren und alle Problemeder Kommunen lösen. Das ist natürlich Quatsch und un-seriös.
Es ist unseriös, weil Sie noch nicht einmal sagen, wieviel die Umsetzung Ihrer Vorschläge kosten soll. Überwelche Dimension reden wir denn? Beim Asylbewerber-leistungsgesetz kämen auf den Bund Kosten in Höhe vonetwa 3 Milliarden Euro zu. Bei einer hundertprozentigenÜbernahme der Kosten der Unterkunft von Langzeitar-beitslosen im Bereich des SGB II geht es um einen Be-trag von etwa 10 Milliarden Euro. Wir reden hier alsoschlankweg über 13 Milliarden Euro. Sie sagen nicht,wie viel das kostet und wie das finanziert werden soll.Das alles ist nichts anderes als ein Schnellschuss. WasSie machen, ist populistisch und einfach unseriös.
Unseriös sind auch Ihre Aussagen zu den Kosten derUnterbringung der Flüchtlinge in den Kommunen. DieTinte unter der Vereinbarung zwischen Bund und Län-dern, in der wir uns darauf verständigt haben, welcheLeistungen der Bund übernehmen will, um Länder undKommunen zu unterstützen, war noch nicht trocken, alsSie im letzten Dezember Ihren Antrag gestellt und gefor-dert haben, dass noch mehr kommen müsse. Die 1 Mil-liarde Euro – dieser Betrag ergibt sich in der Summe indiesem und im nächsten Jahr –, auf die wir uns verstän-digt haben, ist eine wichtige Hilfe für die Länder und inerster Linie für die Kommunen.Immerhin gibt es drei Bundesländer, die bereits heutedie Kosten der Flüchtlingsunterbringung in den Kommu-nen komplett tragen. Das sind Bayern, das Saarland undMecklenburg-Vorpommern. Es kann kein Zufall sein,dass in diesen drei Bundesländern drei Innenminister derCDU und der CSU mit ihrer Zuständigkeit für dieFlüchtlingsunterbringung und für die Kommunen diesesThema vorangebracht und genau so geregelt haben.
Metadaten/Kopzeile:
7524 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Ingbert Liebing
(C)
(B)
Frau Karawanskij, Sie sagen in Ihrem Antrag, derBund solle die Leistungen nach dem Asylbewerberleis-tungsgesetz komplett übernehmen. In Bayern zahlt dieseLeistungen komplett das Land. Wenn der Bund dieseLeistungen übernimmt, dann kommt nicht 1 Euro zu-sätzlich in den bayerischen Kommunen an, sondern Sieentlasten die bayerische Landeskasse. Ich weiß nicht, obdas im Interesse Ihres Antrags war, aber solche Folge-wirkungen sollte man eigentlich mitberücksichtigen.
Wichtig ist, was denn eigentlich bei den Kommunenankommt; denn im Gegensatz zu den drei Ländern, dieich eben genannt habe, gibt es andere Länder, die ganzanders mit dem Thema umgehen. Nordrhein-Westfalenwurde schon genannt. Wenn wir in diesem und imnächsten Jahr den Kommunen zweimal 500 MillionenEuro zusätzlich zur Verfügung stellen, damit sie sichbesser um die Unterbringung von Flüchtlingen kümmernkönnen, dann entfällt im Falle von Nordrhein-Westfalennur die Hälfte auf die Kommunen, die andere Hälfte ver-sickert im Landeshaushalt. Das ist nicht im Sinne derVereinbarung, das ist nicht im Sinne des Erfinders gewe-sen. Das ist ein Missbrauch dieser Mittel und geht zulas-ten der Kommunen. Das gehört zur Gesamtgeschichtedazu.Ich erlebe es in meinem eigenen Bundesland Schles-wig-Holstein, wo die Landesregierung bei jedem Themaschreit: Der Bund muss mehr zahlen. – Hier leistet derBund mehr, aber die Landesregierung hat seit Novembernoch nicht einmal sagen können, was sie denn jetzt mitdem zusätzlichen Geld des Bundes überhaupt machenwill. Sie hat noch nicht einmal ein Konzept, wie siediese zusätzlichen Mittel einsetzen möchte. Auch das istalles unseriös.
Stattdessen, Frau Haßelmann, fordert Ihre Partei-freundin Heinold, Finanzministerin in Schleswig-Hol-stein,
in dieser Woche noch einmal mehr Geld, obwohl wirdoch gerade diese Vereinbarung abgeschlossen haben.Die Vereinbarung besagt ausdrücklich: Für diese zweiJahre wird eine angemessene und abschließendeRegelung über die Finanzierung der Flüchtlingskostengetroffen, und zwar mit dieser zusätzlichen Leistung desBundes.Es ist nicht in Ordnung, dass dann, wenn der Bundmit den Bundesländern eine Vereinbarung über eine ab-schließende Regelung trifft, Ländervertreter, in dem Falldie grüne Finanzministerin, sagen: April, April, daranhalten wir uns nicht. Wir fordern noch einmal etwasobendrauf. – Eine solche Vorgehensweise ist auch schäd-lich; denn dadurch wird doch die Bereitschaft auf Bun-desebene, auch hier im Hause, reduziert, solche Verein-barungen zu treffen. Wenn man sich auf Verträge nichtverlassen kann, dann kann man sie künftig nicht mehrabschließen. Deswegen ist diese Vorgehensweise soschädlich.
In Ihrem Antrag sprechen Sie den Bund an und stellenForderungen an den Bund. Ich vermisse darin eine klareForderung auch an die Länder. Wenn wir über die Fi-nanzsituation der Kommunen sprechen, dann müssenwir immer wieder daran erinnern, dass in allerersterLinie die Bundesländer für eine aufgabengerechte undangemessene Finanzausstattung zuständig sind. Deswe-gen halte ich es für falsch, dass wir mit solchen Vor-schlägen, wie Sie sie hier vorgelegt haben, die Bundes-länder noch weiter entlasten und sie aus ihrerVerantwortung entlassen.Wir sind freiwillig unserer Verantwortung gerecht ge-worden und haben viel geleistet. Andere Kollegen habendarauf schon hingewiesen. Aber bei dem Thema derFlüchtlingsunterbringung können die Bundesländer vielund mehr tun als bisher, um den Kommunen zu helfenund deren Situation gerecht zu werden.Das wichtigste Thema aus meiner Sicht ist, dass dasAsylrecht auch konsequent umgesetzt wird. Dazu ge-hört, dass wir diejenigen, die Asylrecht genießen, beiuns willkommen heißen und uns angemessen und ver-nünftig um sie kümmern. Das ist eine Selbstverständ-lichkeit. Aber genauso gehört dazu, dass diejenigen, diediese Fluchtgründe nicht haben, die sich nicht auf dasAsylrecht berufen können, wieder nach Hause zurückge-bracht werden. Es muss eine Selbstverständlichkeit sein,dass Recht und Gesetz umgesetzt werden.
Deswegen passen Forderungen wie die nach einemWintererlass nicht, wonach bis Ende März nicht abge-schoben werden soll, weil schlechtes Wetter ist und es zukalt ist. Das Asylrecht kann nicht der Wetterlage ange-passt werden.
Deswegen sind diese Entscheidungen in Thüringen undSchleswig-Holstein so falsch. Das verschärft den Pro-blemdruck der Kommunen. Dort werden die jeweiligenLandesregierungen ihrer Verantwortung nicht gerecht.Wir leisten das, was wir tun können, und sogar nochmehr. Wir sind bereit, uns diesem Thema zu stellen, so-wohl im Hinblick auf die Finanzlage der Kommunen alsauch im Hinblick auf die Flüchtlingsunterbringung. Wirkönnen miteinander erwarten, dass die Länder ihren An-teil dazu beitragen. Das gehört zum Gesamtpaket. Dasfehlt im Antrag der Linken. Bei der weiteren Diskussionwerden wir auch darüber intensiv sprechen können.Vielen Dank.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7525
(C)
(B)
Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/3573 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Strittig ist jedochdie Federführung. Die Fraktionen der CDU/CSU undder SPD wünschen Federführung beim Haushaltsaus-schuss, die Fraktion Die Linke wünscht Federführungbeim Finanzausschuss.Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag derFraktion Die Linke – Federführung beim Finanzaus-schuss – abstimmen. Wer stimmt für diesen Überwei-sungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen? – Damit ist der Überweisungsvorschlag mit denStimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmender Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der FraktionDie Linke abgelehnt.Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag derFraktionen CDU/CSU und SPD – Federführung beimHaushaltsausschuss – abstimmen. Wer stimmt für diesenÜberweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Da-mit ist der Überweisungsvorschlag gegen die Stimmender Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b so-wie die Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf:23 a) Beratung des Antrags der AbgeordnetenPeter Meiwald, Christian Kühn ,Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENFeinstaubemissionen aus BaumaschinenreduzierenDrucksache 18/3554Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheit
Ausschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr und digitale Infrastrukturb) Beratung des Antrags der AbgeordnetenPeter Meiwald, Nicole Maisch, AnnalenaBaerbock, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMehrweganteil an GetränkeverpackungenerhöhenDrucksache 18/3731Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheit
Ausschuss für Ernährung und LandwirtschaftZP 4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten UllaJelpke, Sevim Dağdelen, Jan Korte, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion DIE LINKEDeutsche Beteiligung an der EU-Polizeimis-sion in der Ukraine beendenDrucksache 18/3314Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Federführung strittigb) Beratung des Antrags der Abgeordneten SabineLeidig, Herbert Behrens, Caren Lay, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKE so-wie der Abgeordneten Matthias Gastel, CemÖzdemir, Harald Ebner, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENOffene Fragen zum Bahnhofsprojekt Stutt-gart 21 aufklärenDrucksache 18/3647Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschussEs handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.Wir kommen zunächst zu den unstrittigen Überwei-sungen.Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b sowie Zusatz-punkt 4 b. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vor-lagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-schüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? –Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungenso beschlossen.Wir kommen dann zu einer Überweisung, bei der dieFederführung strittig ist.Zusatzpunkt 4 a. Interfraktionell wird Überweisungdes Antrags der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Deut-sche Beteiligung an der EU-Polizeimission in derUkraine beenden“ auf Drucksache 18/3314 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD wünschenFederführung beim Auswärtigen Ausschuss. Die Frak-tion Die Linke wünscht Federführung beim Innenaus-schuss.Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag derFraktion Die Linke – Federführung beim Innenaus-schuss – abstimmen. Wer stimmt für diesen Überwei-sungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Der Überweisungsvorschlag der Fraktion DieLinke ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD undBündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FraktionDie Linke abgelehnt.Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag derFraktionen der CDU/CSU und der SPD – Federführungbeim Auswärtigen Ausschuss – abstimmen. Wer stimmtfür diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt da-gegen? – Wer enthält sich? – Der Überweisungsvor-schlag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD undBündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FraktionDie Linke angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf. Es handeltsich um die Beschlussfassung zu einer Vorlage, zu derkeine Aussprache vorgesehen ist.
Metadaten/Kopzeile:
7526 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
(C)
Tagesordnungspunkt 24:Beratung der Beschlussempfehlung und desBerichts des Ausschusses für Wirtschaft undEnergie zu der Verordnung derBundesregierungDritte Verordnung zur Änderung der Außen-wirtschaftsverordnungDrucksachen 18/3257, 18/3363 Nr. 2, 18/3588Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 18/3588, die Aufhebung der Ver-ordnung auf Drucksache 18/3257 nicht zu verlangen.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Frak-tion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Frak-tion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion DIE LINKEGriechenlands Zukunft im Euro-RaumIch eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeDiether Dehm.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Jean-Claude Juncker sagte im Dezemberzur Wahl in Griechenland, er sähe in der nächsten grie-chischen Regierung lieber „vertraute Gesichter“. DemPASOK-Vorsitzenden Venizelos huldigte Bundesaußen-minister Steinmeier – ich zitiere –:Aus unserer Sicht käme es darauf an, dass dieKräfte, die den Fortschritt in Griechenland gesi-chert haben, in der Lage sind, diesen Weg fortzuset-zen.Wer sind denn diese vertrauten Gesichter? DerPASOK-Vorsitzende und Minister Venizelos bekam2010 von der jetzigen IWF-Chefin Lagarde einen USB-Stick, auf dem die Namen von über 2 000 griechischenSteuerhinterziehern mit Schweizer Konto standen. Die-ses vertraute Gesicht Venizelos ließ den USB-Stick mitvertrauten Namen zwei Jahre lang in seinem Schreib-tisch vergammeln – ein wahrhaft vertrautes Gesicht undvertraut den Steuerhinterziehern von der DeutschenBank, die ihn vertraulich beraten hatten.
Oder der Regierungschef Samaras von der Nea Dimo-kratia, der Schwesterpartei der CDU, von dem griechi-sche Abgeordnete hartnäckig behaupten, er habe ihreStimme zu kaufen versucht, um bei der – gescheiterten –Präsidentenwahl im Dezember seinen rechten Kandida-ten durchzubringen – ein vertrautes Gesicht für die Fi-nanzoligarchen!Inzucht, Korruption und der Staat als Selbstbedie-nungsladen. Das sind die vertrauten Gesichter der jahr-zehntelangen Vetternwirtschaft dieser beiden durch unddurch korrupten Parteien ND und PASOK,
mit denen die Große Koalition hier übrigens in brüderli-cher Hilfe verbunden ist.Alexis Tsipras hingegen ist die seriöse Stimme
und das gute neue Gesicht des jungen Griechenland,
das sich aus dem Schlamassel erhebt, den Sie angerichtethaben, ein junger Vertreter der ältesten Demokratie, vonder Sie sich in vielen Fragen eine Scheibe abschneidenkönnen.
Mittlerweile beruft sich selbst die Welt auf BrüsselerStimmen, die einen Schuldenschnitt für Griechenlandwollen. Was sind wir hier, was sind Gregor Gysi, SahraWagenknecht, Dietmar Bartsch verteufelt worden, alswir schon 2013 einen neuen Schuldenschnitt geforderthaben?
Damals waren es noch 94 Prozent der griechischenSchulden, die in privater Hand waren, in der Hand vonBanken und Großspekulanten; die wären damals betrof-fen gewesen. Heute sind 88 Prozent der griechischenStaatsschulden in traurigem Besitz der europäischenSteuerzahler. Allein für die deutschen Steuerzahler gehtes um rund 75 Milliarden Euro.
– Melden Sie sich zu Wort! Ich antworte dann gern.
– Das geht immer! Das geht in diesem Parlament immer!
Sie verwechseln das mit anderen Parlamenten. – DieBanker und Steuerhinterzieher bekamen von FrauMerkel aber erst die Zeit, ihre Schäfchen ins Trockeneund die Schrottpapiere in öffentliche Hand zu bringen.
Das alte Prinzip wurde wieder einmal wahr: Gewinnewerden privatisiert, Verluste der Allgemeinheit aufge-bürdet.Die vertrauten Gesichter waren von vertrauten Bera-tern wie Goldman Sachs bei der Euro-Einführung syste-matisch und mit Lügen beraten worden, bewusst mit Lü-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7527
Dr. Diether Dehm
(C)
(B)
gen beraten worden; sonst wäre es zu der Euro-Einführung gar nicht gekommen.
Die Griechen bezahlen dafür jetzt mit unendlichemSchmerz. Das Elend habe ich in meiner Rede im Dezem-ber ausführlich dargestellt, zum Beispiel Anstieg derZahl der Totgeburten um 21 Prozent und der Kinder-sterblichkeit um 43 Prozent.Dagegen will SYRIZA, will Alexis Tsipras, nicht nurfür die Griechen, sondern für das ganze Europa: die Be-kämpfung der humanitären Krise im Land, die Reorgani-sation des Staates – beispielsweise Verminderung derZahl der Ministerposten von 18 auf 10 –, die Bekämp-fung von Korruption und Steuerhinterziehung – übri-gens, bei Steuerhinterziehung war die Troika immer sehrlax und sehr flexibel, während sie bei den sozialen Kür-zungen immer eisern und unerbittlich war –, die Wieder-belebung der Wirtschaft und die Stärkung der Arbeitneh-merrechte.
Sie haben die Chance, Ihre Fehler wiedergutzuma-chen, wenn Alexis Tsipras am 25. Januar zum Minister-präsidenten gewählt werden wird.
Dann sinnen Sie nicht auf Rache, sondern helfen Sie!Dann tricksen Sie nicht, auch wenn Ihnen das Ergebnisnicht gefallen sollte! Dann werfen Sie Alexis Tsiprasund seinem Linksbündnis nicht Knüppel zwischen dieBeine, sondern akzeptieren Sie das demokratische Vo-tum des griechischen Volkes!
Auch wir haben die Wahl: Troika oder Menschen-rechte, Troika oder wirtschaftliche Vernunft.
Es gilt, Demokratie und Sozialstaatlichkeit wieder zu er-tüchtigen.
Es gilt, einer Deflation entgegenzuwirken. Es gilt, einelanganhaltende Rezession zu verhindern, die ganz Eu-ropa in den Schlund ziehen kann.
Ein Neuanfang in Griechenland ist eine Chance fürEuropa zum Umdenken.
Herr Kollege Dehm, jetzt müssen Sie bitte zum
Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. – Solidarität mit Griechen-
land und einem sozialen Aufbruch mit Alexis Tsipras ist
darum Solidarität mit den Menschen auch bei uns und in
ganz Europa.
Für die Bundesregierung spricht jetzt der Parlamenta-
rische Staatssekretär Dr. Michael Meister.
D
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Am 25. Januar finden in Griechenland Parlamentswah-len statt.
Das Ergebnis ist offen, und wir als Bundesregierung be-teiligen uns nicht an Spekulationen, wie eine solcheWahl ausgeht.
Während der Kollege Dehm eben versucht hat, hieram Pult den griechischen Wahlkampf zu führen,
werden wir als Bundesregierung uns am Wahlkampf inGriechenland nicht beteiligen.
Wir haben 2012, als während des ersten und vor Be-ginn des zweiten Hilfsprogramms für Griechenland eineParlamentswahl in Griechenland stattgefunden hat, dengriechischen Wahlkampf zur Kenntnis genommen, ha-ben das Ergebnis zur Kenntnis genommen und haben mitden Verantwortlichen die notwendigen Schritte hinsicht-lich der Reformprogramme besprochen. Auch damalshaben wir keine Empfehlungen im Wahlkampf und zuEntscheidungen der griechischen Innenpolitik gegeben.Den Respekt, den wir vor drei Jahren gelebt haben, denleben wir auch jetzt.
Metadaten/Kopzeile:
7528 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Parl. Staatssekretär Dr. Michael Meister
(C)
(B)
Insofern ist die Haltung der Bundesregierung, HerrDehm, unverändert.
Wir unterstützen Griechenland bei dem Bemühen, zunachhaltigem Wachstum zu kommen.
Wir unterstützen Griechenland bei dem Bemühen, zunachhaltiger, dauerhafter Beschäftigung von Menschenzu kommen.
Wir unterstützen Griechenland dabei, zu nachhaltig trag-fähigen Staatsfinanzen zu kommen.
Diese Haltung, die wir jetzt seit mehr als vier Jahren ein-nehmen, werden wir unabhängig vom Wahlausgang inGriechenland auch nach diesen Wahlen und einer ent-sprechenden Regierungsbildung einnehmen.
Was ist das Problem? Das Problem ist, dass in Grie-chenland zweifellos an den Stellen, die ich eben genannthabe, strukturelle Veränderungen notwendig waren undsind
und dass wir zur Kenntnis nehmen mussten, dass die Ka-pitalmärkte Griechenland die Zeit, die notwendig war,um diese Reformen durchzuführen, nicht gegeben ha-ben. Da haben wir uns in großer europäischer Solidaritätdazu entschlossen, Griechenland im Rahmen des erstenund des laufenden zweiten Hilfsprogramms die Zeit fürdie notwendigen Reformen zu geben.Wir leben in Europa in einer Verantwortungsgemein-schaft. Wir leben die Verantwortung, indem wir die bei-den Hilfsprogramme angeboten und zur Verfügunggestellt haben. Und die Griechen leben in der Verantwor-tung, die vereinbarten notwendigen Strukturreformenentsprechend zur Umsetzung zu bringen. An dieserStelle will ich darauf hinweisen, dass die Gültigkeit vonVerträgen, die wir schließen, hier Verträge der griechi-schen Regierung mit der Troika, nicht davon abhängt,welche Personen der Regierung angehören, sondern dieVerträge, die geschlossen wurden, gelten unabhängigvon Regierungsbeteiligungen,
von Personen und Parteien. Deshalb unterstellen wir,dass, ganz gleich, wie die Wahl ausgeht und wie die Re-gierungsbildung ausgeht, die Verträge, die wir geschlos-sen haben, weiter gelten werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Griechenland hatdie Zeit seit 2010 genutzt. Wir können deutliche Erfolgesehen. Nach sechs Jahren Rezession haben wir in Grie-chenland 2014 zum ersten Mal ein realwirtschaftlichesWachstum von 0,6 Prozent gesehen. Und wenn die Vor-hersagen eintreten, wird Griechenland im laufenden Jahreine der am stärksten wachsenden Volkswirtschaften in-nerhalb der Euro-Zone sein. Es wird ein Wachstum dergriechischen Volkswirtschaft von nahezu 3 Prozent vor-ausgesagt. Das ist eine positive Wende.
Wir hatten in Griechenland ein Staatsdefizit von15 Prozent bezogen auf das Jahr 2009. Wir finden imJahr 2014 ein Staatsdefizit, das unter 3 Prozent liegt. Dasheißt, Griechenland gehört mittlerweile zu den Ländern,die 2014 das Maastricht-Kriterium von 3 Prozent einge-halten haben; eine sehr positive Entwicklung. Aber die-ser Rückgang ist nicht hinreichend, sondern er bedeutet,dass man weiter vorangehen muss und weiter konsoli-dieren muss.Wir hatten in Griechenland in den vergangenen Jah-ren einen Abbau von Beschäftigung. Aber auch dies hatsich im Jahr 2014 verändert. Wir haben 2014 in Grie-chenland zum ersten Mal seit Beginn der Programmewieder einen Aufbau der Beschäftigung. Es ist prognos-tiziert, dass auch in diesem Jahr dieser Beschäftigungs-aufbau mit mehr Schwung weitergeht. Wir gehen davonaus, dass wir Ende 2015 etwa 2,5 Prozent mehr Men-schen in Beschäftigung haben werden als zu Beginn desJahres.
Dementsprechend reduzieren sich die Arbeitslosen-zahlen. Die Arbeitslosigkeit in Griechenland ist zwar aufeinem sehr hohen Niveau. Aber wir sehen eine Trend-wende. Die Arbeitslosenzahlen in Griechenland gehenzurück. Genau das wollen wir erreichen. Wir sind sicher,dass die Arbeitslosigkeit weiter zurückgehen wird. Auchbei den Einkommen haben wir eine Trendwende. Nach-dem mehrere Jahre lang die Einkommen zurückgegan-gen sind, haben sie sich mittlerweile stabilisiert. Die Ein-kommen der Menschen beginnen wieder zu steigen.
In genau dieser Situation findet jetzt die Wahl statt.Bei dieser Frage geht es um etwas ganz Einfaches. HerrDehm, mich treibt nicht die Frage um, ob in der nächstenRegierung Kommunisten sitzen, sondern die Frage:Wird der Erfolgsweg, der in Griechenland in den vergan-genen fünf Jahren eingeschlagen wurde – wie ich ebendargestellt habe: mit sehr viel Erfolg –, von einer Re-formregierung weitergeführt,
oder wird dieser Erfolgsweg abgebrochen, sodass all dieMühen, die die Menschen in Griechenland auf sich ge-nommen haben, umsonst waren? Das ist die Frage, diejetzt beantwortet werden muss.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7529
Parl. Staatssekretär Dr. Michael Meister
(C)
(B)
Über diese Frage werden wir mit der künftigen griechi-schen Regierung in Ruhe sprechen.
Herr Dehm, Sie haben die Themen Schuldenstandund Schuldenschnitt angesprochen. Ich will Sie daraufhinweisen, dass Sie sich offenkundig mit dieser Sacherelativ wenig beschäftigt haben. Die Tilgungszahlungenfür Griechenland sind – je nachdem, ob Sie auf das ersteoder zweite Hilfsprogramm schauen – bis 2020 bzw.2023 ausgesetzt. Das heißt, die Frage der Schuldenbe-dienung stellt sich für Griechenland in den nächsten Jah-ren überhaupt nicht.
Deshalb ist der Schuldenstand für die Frage, wie es inGriechenland weitergeht, momentan vollkommen irrele-vant.
Wir sollten aber keine irrelevante Frage diskutieren, son-dern wir sollten uns auf die entscheidenden relevantenFragen konzentrieren und darauf Antworten geben. Aberweil Sie das nicht wollen, weichen Sie auf Felder aus,die überhaupt keine Relevanz haben.
Meine Damen und Herren, das zweite Griechenland-Programm wäre am 31. Dezember 2014 ausgelaufen.Griechenland hat den Antrag gestellt, dieses Programmum zwei Monate zu verlängern, bis Ende Februar 2015.Der Deutsche Bundestag hat am 18. Dezember vergan-genen Jahres zugestimmt. Wir halten uns genau an die-ses Programm. Wenn das Programm zu Ende ist, dannwird die neue griechische Regierung entscheiden müs-sen, ob sie einen neuen Antrag stellt: entweder eine zeit-liche Ausdehnung des bestehenden Programms odermöglicherweise ein neues Programm. Das ist aber keineEntscheidung, die der Deutsche Bundestag, die Europäi-sche Kommission oder wer auch immer zu treffen hat,sondern es ist eine Entscheidung, die die griechische Re-gierung zu treffen hat. Wenn die griechische Regierungihre Entscheidung getroffen hat, dann wird die Bundes-regierung den Deutschen Bundestag über den Antrag,sofern er gestellt wurde, informieren.Meine Damen und Herren, ich gehe davon aus, dassjede griechische Regierung mit dieser Fragestellung se-riös umgehen wird; denn in dem Moment, in dem manVerantwortung hat, trägt man nicht nur Verantwortungfür das, was man sagt, sondern auch für das, was ausdem Handeln bzw. Nichthandeln folgt.Ich habe vorhin gesagt, dass wir Verantwortung fürGriechenland gelebt haben. Die Griechen müssen Ver-antwortung für sich leben. Das heißt im Klartext: Als wirHilfe und damit mehr Zeit gewährt haben – ganz gleich,ob im Rahmen des ersten oder des zweiten Programms –,war für uns immer klar, dass diese Zeit genutzt werdenmuss, um Probleme zu lösen. Deshalb wird es keine Pro-gramme geben, die nicht dazu beitragen, dass die Pro-bleme eines Landes, das Hilfsprogramme benötigt – indiesem Fall Griechenland –, auch gelöst werden.In diesem Geist sollten wir diskutieren. In diesemGeiste sollten wir das, was wir in Europa positiv erreichthaben, weiterführen.Danke schön, meine Damen und Herren.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Manuel Sarrazin,
Bündnis 90/Die Grünen.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Unglücklich ist das Land, über dessen Innen-politik so intensiv in Deutschland diskutiert werdenmuss, könnte man vielleicht sagen. Wir haben jetzt zweiReden gehört, in denen versucht wurde, die griechischeLage zu beschreiben und vielleicht an der einen oder an-deren Stelle politisches Kapital daraus zu schlagen. Kei-ner der beiden Redner hat das eigentliche Thema der Ak-tuellen Stunde genannt, nämlich: Griechenland hat eineZukunft im Euro-Raum. – Punkt.
Jetzt könnte man sich schon fragen, warum dies eigent-lich weder Herr Dehm, der hier der größte Freund derGriechen ist – Diether, du bist ein guter Freund von Ale-xis Tsipras;
das ist okay, er ist ein netter Kerl –, noch der Vertreterder Bundesregierung gesagt haben.Um es ein bisschen zuzuspitzen: Sie haben es ver-säumt, nach Veröffentlichung der Spiegel-Meldung amSonntag mit einem eindeutigen Dementi klarzustellen,dass Griechenland im Euro-Raum bleibt,
und haben die Debatte tagelang weiterlaufen lassen unddamit die Gespenster der Vergangenheit beschworen.
Da können Sie über Tsipras und Diether Dehm reden, soviel Sie wollen. Der Unterschied zwischen Ihnen undDiether Dehm ist: Ihnen glauben die Märkte noch.
Wie können Sie es überhaupt verantworten, nach fünfJahren dieser unsäglichen Austrittsdebatte nichts dazu zusagen? Sie haben gesagt: Wenn man nichts tut, ist man
Metadaten/Kopzeile:
7530 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Manuel Sarrazin
(C)
(B)
mitverantwortlich. – Ihr Schweigen war meiner Ansichtnach unverantwortlich.
Jetzt muss man auch mal sagen: Ich weiß gar nicht,wer dieser Meldung im Spiegel eigentlich geglaubt hat.Ich glaube, ihr von der Linken seid nicht so doof, dassihr der Meldung geglaubt habt.
Alle gehen dann raus und kommentieren es irgendwie;es laufen Hinterbänkler von der Union herum, und dannkommen wieder alle möglichen Debatten.Wir haben Griechenland in den letzten Jahren unge-fähr 250 Milliarden Euro geliehen. Glaubt irgendje-mand, dass sich Merkel und Schäuble, wenige Wochen be-vor die letzte Tranche von ungefähr 1,5 Milliarden Euroausgezahlt werden soll, plötzlich überlegen: „Jetzt ma-chen wir es doch ganz anders“? So hirnverbrannt kanndoch nicht mal eine Große Koalition agieren.
Man muss aber auch sagen: Die große Koalition derFreunde Griechenlands besteht nicht aus der Linksparteiund der CDU/CSU. Ich weiß, dass ihr von der Linkeneuch in dieser Hinsicht mit manchen CSU-lern sehr einigseid; aber das ist dann Gauweiler und nicht Fuchtel.
Um es klarzustellen: Ich werde niemals vergessen,wie Gregor Gysi in der mündlichen Verhandlung überdie Griechenland-Hilfe vor dem Bundesverfassungsge-richt in Karlsruhe gesagt hat: Kein weiteres deutschesGeld nach Griechenland! – Das war eine deutsche De-batte, die ihr dort geführt habt, und keine europäische.Da hilft es auch nicht, eine solche Aktuelle Stunde zuverlangen.
Diether, weil ich schon geahnt habe, dass an dieserStelle die CDU/CSU klatschen wird: Ich werde ebensoniemals vergessen, wie die unsägliche Geschichte zu-stande kam, als die Bild-Zeitung irgendwo anrief und ir-gendjemanden suchte, der das mit dem Kauf der griechi-schen Inseln forderte. Wer war sich nicht doof genug,das zu fordern? Das waren damals Abgeordnete von derFDP und der Mittelstandsbeauftragte der CDU/CSU. Siesind bei diesem Thema mit der Linkspartei in einemBoot,
weil Sie keine Stabilität beim Thema Griechenland anden Tag legen.
Es gibt in diesem Haus eine Fraktion, der bewusst ist,dass das Wichtigste, was Griechenland braucht, Stabili-tät ist. Diese Fraktion hat seit 2009 immer gesagt: Grie-chenland bleibt im Euro, weil wir es wollen, und wennes ein bisschen kostet, dann kostet es ein bisschen; wennes ein bisschen mehr kostet, kostet es ein bisschen mehr.Dieser Überzeugung waren nicht die Linkspartei und dieCDU/CSU, sondern die Grünen – sie sind die FreundeGriechenlands. So ist das nämlich!
– Die SPD hat dann auch mitgemacht.
Jeder weiß, dass in Griechenland viele Fehler passiertsind; ich möchte das ausdrücklich sagen. Der IWFwürde niemals behaupten, er hätte alles richtig gemacht.Die Troika würde niemals behaupten, sie hätte alles rich-tig gemacht.
Ich rede in Athen auch mit Leuten vom IWF und inBrüssel mit Leuten, die sagen, dass unterschiedliche Sa-chen falsch gemacht wurden. Sie würden nicht sagen:Nur wir haben alles falsch gemacht. Sie würden sagen:Auch Herr Samaras und Herr Papandreou haben Fehlergemacht. – Meiner Ansicht nach waren die Grünen nierelevant genug. Aber wenn die Grünen im politischenSystem Griechenlands ebenso wichtig gewesen wären,dann würde ich sagen, auch sie hätten Fehler gemacht.Genauso muss man sagen, dass Herr Tsipras ein Kindseines gesellschaftlichen Systems ist. Er ist keinSchreckgespenst, Diether. Es könnte sich jedoch früheroder später herausstellen, dass er im Gegensatz zu euchein Realpolitiker ist, und dann werdet ihr, so wie ihr esgerade gegenüber anderen getan habt, auch Herrn Tsi-pras beschimpfen.
Ich bin fest davon überzeugt, dass es zwischen Ankündi-gungen und Wahrheit eine entscheidende Variable gibt,und das ist die Handlungsfähigkeit, die man verändernkann.
Deswegen ist es wichtig, dass wir Griechenland, egalwelche Regierung an die Macht kommt, auf seinem Wegbegleiten, um Fehler im Bereich Soziales, aber auch in
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7531
Manuel Sarrazin
(C)
(B)
anderen Bereichen wie Korruption und Staatswesen zukorrigieren. Das dürfen wir nicht durch Debatten übereinen Austritt gefährden. Das wird Griechenland nie-mals helfen. Wir sollten auf die Nachhaltigkeit in unse-ren Handlungen im sozialen und im ökologischen Sinneachten. Dafür müssen wir gemeinsam einstehen.Danke.
Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Johannes Kahrs,
SPD-Fraktion.
Sehr geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Wir haben jetzt drei Wortmeldungen ge-hört, die unterschiedlicher nicht hätten sein können: zumeinen die haltlose, manchmal dümmliche Polemik vonder Linken, wie man sie halt kennt, dann den Sachvor-trag der Bundesregierung, in dem die Fakten darstelltwurden,
und schließlich den Beitrag von den Grünen, in demdeutlich wurde, dass in diesem Hause Konsens darüberbesteht, dass Griechenland eine Zukunft im Euro-Raumhat. Dafür haben der Bundestag und die Bundesregie-rung in all den unterschiedlichen Facetten, die ich seit1998 kenne, immer gestanden.Natürlich hätte man einige Meldungen im Spiegel de-mentieren können. Natürlich kann man dem einen oderanderen vorwerfen, dass er einen Fehler gemacht hat. Dain unserem Land häufig gefragt wird: „Warum geben wirden Griechen immer wieder Geld?“, muss man in dieserDebatte darauf verweisen, dass in diesem Hause, von derSPD über die Grünen bis zur CDU/CSU, Konsens da-rüber besteht, dass wir den Griechen helfen wollen
und dass wir wollen, dass Griechenland eine Zukunft imEuro-Raum hat. Das sind wir Europa und den Griechenschuldig. Das ist die eine Seite der Medaille.Die andere Seite der Medaille ist, dass die Griechennatürlich ihren Teil dazu beitragen müssen, dass sie eineZukunft im Euro-Raum haben. Es muss deutlich werden,dass das Vertrauen, das die Europäische Union, die Bun-desrepublik Deutschland, der IWF und insbesondere diedeutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Grie-chenland setzen, auch gerechtfertigt ist. Es gibt immerzwei Seiten einer Medaille; das ist nun einmal so.
Wir können jetzt lange darüber philosophieren, wa-rum die Griechen in diese Situation hineingeschlittertsind. So etwas passiert ja nicht in drei Jahren, sonderndaran waren sehr viele griechische Regierungen unter-schiedlichster Art beteiligt.
Das Ganze ist über Jahrzehnte gewachsen. Da ist auchviel Misswirtschaft entstanden. Ich glaube, man mussimmer wieder dafür werben und dafür kämpfen, dasssich die Situation ändert. Denn wir alle haben ein Inte-resse daran, dass die Griechen alleine und vernünftigklarkommen, damit sie nicht immer auf ausländischeHilfe angewiesen sind; schön finden die das auch nicht.Deswegen ist es gut, wenn Griechenland die griechischeZukunft allein bestimmen kann. Dabei sollten wir ihnenhelfen.Nicht gut ist allerdings, Herr Dehm, dass Sie sich inder heutigen Diskussion, in der wir alle gemeinschaftlichfür eine Zukunft Griechenlands im Euro-Raum werben,hierhinstellen und stumpf griechischen Wahlkampf ma-chen. Ehrlich gesagt: Ich weiß nicht, wer in Griechen-land die Wahl gewinnt. Ich werde es auch nicht entschei-den.
– Wer meine Leute sind, das können Sie sowieso nichtbeurteilen.
Ich bin mir ganz sicher, dass die Leute, die Sie geradebejubeln, nicht Ihre Leute sind; denn die finden Sie auchpeinlich. Im wahren Leben wissen die, dass Sie es nichtkönnen.
Wenn man sich das dann in der Sache anschaut, stelltman fest, dass sich der griechische Oppositionsführer inden letzten Wochen und Monaten sehr stark geänderthat. Er hat Dinge erzählt, die Ihnen hier nicht über dieLippen kommen würden.
Er weiß nämlich auch: Wenn er die Chance hat, dieseWahl zu gewinnen, dann wird er sehr vernünftig seinmüssen. Noch einmal: Ich entscheide am Ende nicht,wer in Griechenland die Wahl gewinnt. Ich will es auchgar nicht entscheiden. Das sollen die Griechen entschei-den,
ohne Hilfe von Herrn Dehm und ohne billige Polemik.Das ist eine rein griechische Entscheidung.Dann werden die Griechen eine Regierungsbildungvornehmen. Auch das ist hervorragend so und wird vonuns nicht beeinflusst. Dann wird die griechische Regie-rung, wie auch immer sie zusammengesetzt sein wird,
Metadaten/Kopzeile:
7532 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Johannes Kahrs
(C)
(B)
entscheiden, was sie tun will. Das nennt man, HerrDehm, Demokratie.
Damit haben Sie aber ein Problem; das weiß ich.
Aber das macht überhaupt nichts. Und wenn die griechi-sche Regierung eine Entscheidung trifft und sagt, siewürde gerne mit der Europäischen Union diesen Weggemeinsam weitergehen, dann wird man mit ihr darüberreden müssen.
Natürlich wird man ihr auch sagen, dass die alte grie-chische Regierung Verträge geschlossen hat, und zwarfür Griechenland. Daran wird sich auch eine neue Regie-rung halten. Das ist auch gut so. Dann wird man dieseDiskussion führen. Das Schöne an Deutschland ist:Diese Diskussion führt nicht nur die Regierung – so gutdas alles war, was Herr Meister gesagt hat –, sonderndiese Diskussion wird auch im Deutschen Bundestag ge-führt, und zwar genau dann, wenn es an der Zeit ist, undnicht, wenn die Linkspartei eine Aktuelle Stunde bean-tragt hat.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Bartholomäus
Kalb, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Die Zukunft Griechenlands liegt im Euro-
Raum; darüber sind wir uns einig. In diesem Zusammen-
hang möchte ich ausdrücklich das unterstreichen, was
der Kollege Sarrazin hier gesagt hat. Ich sage das wohl-
begründet und mit Überzeugung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe
mich zunächst gefragt, warum die Linke diese Aktuelle
Stunde beantragt hat. Sie war doch so besorgt, dass der
Spiegel-Artikel in diesem Zusammenhang und die Vor-
gänge danach Einfluss auf die Wahlen in Griechenland
haben könnten. Es war Ihnen zunächst ja peinlich, hier
über all diese Themen zu sprechen. Wenn man nicht da-
rüber reden sollte, was ursprünglich Ihre Intention war,
dann hätte man sagen müssen: Antrag auf Beendigung
der Debatte. – Ich würde mich hinsetzen, und dann wäre
die Sache erledigt.
Jetzt habe ich aber bei der Rede des Herrn Dehm ge-
lernt, dass er hier seinerseits in ungeahnter Weise Wahl-
kampf für seine politische Richtung machen wollte. Das
ist ein Vorgang, den ich bisher im Deutschen Bundestag
noch nicht erlebt habe.
Unabhängig davon sage ich, dass wir mit dem Thema,
das in dem Artikel, der diese Diskussion ausgelöst hat,
angesprochen worden ist, sehr vorsichtig umgehen soll-
ten. Wir dürfen nicht leichtfertig Diskussionen führen,
ob ein Land Mitglied oder nicht Mitglied in der Euro-
Zone sein soll. Was ich in diesem Zusammenhang
meine, habe ich zu Beginn gesagt.
Wir haben unabhängig von der Mitgliedschaft Grie-
chenlands in der Euro-Zone für Griechenland eine Ver-
antwortung, weil Griechenland Mitglied der Europäi-
schen Union ist. Auch wenn ein anderer Schritt
gegangen würde, wäre das nicht ohne Konsequenzen
und ohne Folgen für uns.
Ein ganz wichtiger Punkt ist Verlässlichkeit. Ich
glaube, wir dürfen feststellen – viele haben das schon
festgestellt –, dass sich Griechenland bisher immer auf
unsere Solidarität und die der gesamten Euro-Zone ver-
lassen konnte; die beiden Hilfsprogramme für Griechen-
land und die Anstrengungen der Bundesrepublik
Deutschland sind ja dargestellt worden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es gibt momentan keinen Grund, über einen Schulden-schnitt oder sonstige Schritte zu diskutieren, weil wirGriechenland, was die Zinsbedienung und die Tilgungangeht, sehr weit entgegengekommen sind, sodass sichdiese Frage im Moment gar nicht stellt.Aber Verlässlichkeit hat natürlich nicht nur eine, son-dern zwei Seiten. Solidarität ist keine Einbahnstraße.Verlässlichkeit bedeutet auch, dass internationale Ver-träge, die ein Land durch seine legitimen Vertreter ge-schlossen hat, von deren Nachfolgern eingehalten wer-den müssen. Ich gehe davon aus, dass Griechenland auchin Zukunft Vertragstreue an den Tag legen wird.Ich glaube, das ist im ureigensten Interesse Griechen-lands; denn die Griechen – der Herr Staatssekretär hatdas eindrucksvoll dargestellt – haben viel unternommen.Das griechische Volk hat Opfer bringen müssen, hat Ein-schnitte hinnehmen müssen. Das war ja alles nicht soganz einfach und nicht so ganz leicht. Insofern wäre essehr schade, wenn die Erfolge, die erreicht worden sind– von der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit über dieVerbesserungen auf dem Arbeitsmarkt und die Rück-gewinnung der Wirtschaftskraft bis hin zur Haushalts-konsolidierung; dies alles wurde schon dargestellt –, zu-nichtegemacht würden, wenn dieser hoffnungsvolleProzess gestört würde. Ich meine, es liegt im beiderseiti-gen Interesse, in unserem Interesse bzw. dem der Euro-Zone und im Interesse der griechischen Bürger, dass dereingeschlagene Weg, der richtig ist, weitergeführt wird.Wir werden auch in Zukunft die dafür notwendige Soli-darität aufbringen.
Man sieht ja auch, dass diese schwierigen Reform-prozesse, die zunächst als bittere Medizin empfundenwerden, durchaus Erfolge zeitigen. Wir haben das bei Ir-land, Spanien und Portugal gesehen. Warum sollen dieseReformen nicht auch in Griechenland letztlich zu für unsalle nutzbringenden Ergebnissen führen?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7533
Bartholomäus Kalb
(C)
(B)
Meine sehr verehrten Damen und Herren, für michsteht ein Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone über-haupt nicht zur Debatte. Ein solcher Austritt würde nachmeiner Überzeugung die Probleme in Griechenland nurverschärfen. Daran kann es keinen Zweifel geben; ichglaube, ich habe das hinreichend dargelegt. Der Erhaltder vollständigen Euro-Zone scheint in unser aller Inte-resse zu liegen, im Interesse der gesamten Euro-Zoneund im Interesse der gesamten Europäischen Union.Auch daran kann es keinen Zweifel geben.Wir haben heute natürlich eine etwas günstigere Si-tuation als mitten in der Finanzkrise, weil sich die euro-päischen Institutionen weiterentwickelt haben, weil wirauch hier Reformen durchgeführt haben, weil wir unsgegen Krisen stärker gewappnet haben.
Herr Kollege Kalb, es wäre jetzt in unserem Interesse,
wenn die Redezeit eingehalten würde.
Ja. – Der Euro ist das sichtbarste Symbol der europäi-
schen Einigung und ein wesentlicher Beitrag zur Siche-
rung des Wohlstands der Menschen in allen beteiligten
Staaten.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Als Nächster hat das Wort Andrej
Hunko, Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrSarrazin, ja, Griechenland hat eine Zukunft im Euro-Raum. Das sagt auch die Linke ganz klar. Aber wir sa-gen auch ganz klar:
Griechenland hat keine Zukunft unter dieser Troika-Politik, die dieses Land in den Abgrund gestürzt hat.
Ich will daran erinnern, dass wir seit fünf Jahren da-rüber diskutieren und wir von Anfang an gesagt haben:Diese Programme, die Griechenland aufgezwungen wer-den, sind unsozial, undemokratisch und ökonomischkontraproduktiv.
Ich glaube, dass die Entwicklung der letzten fünf Jahrediese Einschätzung bestätigt hat. Das sind die Gründe,warum wir diese Programme abgelehnt haben. Wirhaben sie natürlich auch abgelehnt, weil ein Großteil dersogenannten Hilfsgelder nicht der griechischen Bevölke-rung zugutekamen, sondern zu über 80 Prozent in dieFinanzmärkte geflossen sind.
Diese Reformen waren unsozial. Ich will das, auchwenn wir schon viele Beispiele dafür vorgetragen haben,belegen und aus der Welt – Springer-Presse – vom28. Dezember 2014 zitieren. Dieser Artikel stützt sichauf einen Bericht von über 160 Menschenrechtsorgani-sationen, der kurz vor Weihnachten veröffentlichtwurde. Ich zitiere:Es steht mehr als schlecht um sein Land,– Griechenland –wie ein aktueller Bericht der FIDH, eines interna-tionalen Dachverbands von 178 Menschenrechtsor-ganisationen, dokumentiert.
Die Autoren ziehen eine erschreckende Bilanz derRettungspolitik der Troika aus Europäischer Zen-tralbank , EU-Kommission und IWF. Seitdem Ausbruch der Krise wurden demnach nicht nurPensionen und Einkommen um teilweise 50 Pro-zent gekürzt, sondern Millionen Menschen ihrerExistenz beraubt. „Die entsetzlichen Auswirkun-gen, die die Krise nicht nur auf die Wirtschaft,sondern auch auf die Demokratie und die Men-schenrechte hatte, können nicht mehr geleugnetwerden“, schreiben die FIDH-Autoren. „Wir wer-den Zeugen eines Übergangs in einen Zustand, beidem elementare Grundrechte und der Rechtsstaatherausgefordert und abgebaut werden.“Noch immer seien 28 Prozent der Griechen arbeits-los, die Jugendarbeitslosigkeit liege bei 61 Prozent.Seit dem Ausbruch der Krise hätten 180 000 Klein-unternehmen schließen müssen … Laut inoffiziel-len Quellen sind 2,5 Millionen Bürger ohne Kran-kenversicherung.– Bei 10 Millionen Einwohnern. –Auch das hat gravierende Folgen: Binnen eines hal-ben Jahres stieg die HIV-Infektionsrate um 52 Pro-zent, 62 Menschen starben an dem wieder aufge-tauchten West-Nil-Virus. Seit dem Ausbruch derKrise hat sich die Selbstmordrate verdoppelt.So weit Die Welt vom 28. Dezember 2014.Das ist der Scherbenhaufen der bisherigen Griechen-land-Politik, und das muss neu justiert werden.
Metadaten/Kopzeile:
7534 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Andrej Hunko
(C)
(B)
Viele internationale Organisationen und Parlamentehaben in der Zwischenzeit diese Troika-Politik kritisiert,die maßgeblich von der deutschen Politik mitgeprägtwurde. Ich erinnere an die Parlamentarische Versamm-lung des Europarates im Juni 2012. Auch das Europäi-sche Parlament hat im vergangenen Jahr eine Resolutionverabschiedet, in der es zum Beispiel heißt, dass dasMandat der Troika als „unklar, intransparent und einerdemokratischen Kontrolle entbehrend wahrgenommen“werde.
Weiter heißt es, es stehe außerhalb des europäischenRechts. Die Kürzungen hätten negative Auswirkungenauf die Wirtschaftspolitik.Herr Dr. Meister, Sie sprechen von einer positivenEntwicklung, von einem Erfolgsweg. Die Wirtschaft inGriechenland ist jedoch um über 25 Prozent eingebro-chen. Die sozialen Folgen habe ich eben benannt. Es istdoch blanker Zynismus, wenn man dann von einer posi-tiven Entwicklung und von einem Erfolgsweg spricht.
Die Wahlen in Griechenland bieten die Chance auf ei-nen Umschwung dieser Politik nicht nur in Griechen-land, sondern in ganz Europa. Es gibt in Griechenlandden Spruch: Anatropi stin Ellada, minima stin Europi.Zu Deutsch: Der Umschwung in Griechenland ist einZeichen für Europa.Wenn man sich einmal die Debatte anschaut, die inanderen europäischen Ländern und auf internationalerEbene geführt wird, zum Beispiel in der New YorkTimes, dann stellt man fest, dass gesagt wird, dass in Eu-ropa ein anderer Weg mit Blick auf die Wirtschafts- undFinanzpolitik notwendig ist.
Europa steht am Rande einer Rezession und ist schon ineine Deflation hineingeschlittert. Das kann langwierigeFolgen und weitere Rezessionen nach sich ziehen. Des-halb muss dringend umgesteuert werden. Der möglicheWahlsieg von SYRIZA kann ein Auftakt sein und einepolitische Diskussion auch in anderen europäischen Län-dern befördern. Es ist dringend notwendig, dass wir eu-ropaweit umsteuern, weil die bisherige Wirtschafts- undFinanzpolitik die gesamte Euro-Zone in die Krise ge-führt hat.Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion erhält jetzt das Wort Michael
Roth.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Auf der Zuschauertribüne begrüße ich den neuen grie-chischen Botschafter, Panos Kalogeropoulos. Herzlichwillkommen! Wir freuen uns, dass Sie dieser Debattebeiwohnen.
Wir alle in Europa haben Griechenland viel zu ver-danken. Deutschland und Griechenland sind seit vielenJahrzehnten enge Freunde und Partner. Griechinnen undGriechen haben in Deutschland eine neue Heimat gefun-den. Sie kamen als sogenannte Gastarbeiter zu uns oderflüchteten vor einer furchtbaren Militärdiktatur. DieseGriechinnen und Griechen machen unser Land reicher.Hunderttausende von Bürgerinnen und Bürgern mit grie-chischen Wurzeln verbinden uns mit dem Heimatlandder Demokratie.Im Bundestag und in der Regierung gibt es viele, de-nen die deutsch-griechischen Beziehungen ein ganz be-sonderes Herzensanliegen sind. Ich selbst habe in demknappen Jahr meiner Amtszeit als Staatsminister für Eu-ropa viele Male Griechenland besucht. Ich weiß, dass esviele Abgeordnete und viele Regierungsvertreter gibt,die intensiven Kontakt zu den Griechen pflegen. Mir wieauch vielen anderen war es immer wichtig, damit einZeichen zu setzen: Deutschland steht fest und solidarischan der Seite Griechenlands, gerade auch in diesenschweren Zeiten der wirtschaftlichen und sozialen Krise,die das Land durchlebt.
Dass Wahlen in unseren EU-Partnerländern Interesseund Aufsehen hervorrufen, belegt doch eines: Ja, es gibteben doch eine europäische Öffentlichkeit. Der Ausgangvon Wahlen in Frankreich, in Slowenien oder auch inGriechenland ist für uns in Deutschland mindestensebenso bedeutsam wie Wahlen in unseren Bundeslän-dern. Es ist also gut, dass wir unseren Blick auch nachAthen, nach Thessaloniki oder nach Syros richten. Aberes gilt eben auch: Parlamentswahlen und auch vorgezo-gene Wahlen sind in der EU ein völlig normaler demo-kratischer Vorgang.
Daher rate ich uns allen zu ein bisschen mehr Gelas-senheit und auch Vertrauen im Vorfeld der Wahlen. Dennam 25. Januar haben die Griechinnen und Griechen dasWort. Wir sollten uns von Deutschland aus nicht in dengriechischen Wahlkampf einmischen, auch nicht mitaufgeregten Debatten über Schreckensszenarien. Wirsollten uns auch hier im Deutschen Bundestag davor hü-ten, bereits im Vorfeld von Wahlen, bevor auch nur eineinziger Stimmzettel in einer Wahlurne liegt, Analysenvorzunehmen.Ganz im Gegenteil: Jetzt sollte für uns im Vorder-grund stehen: Wie können wir Griechenland ermutigen,den eingeschlagenen Weg der Reformen entschlossenweiterzugehen? Wie können wir den Menschen etwaigeÄngste vor Reformen nehmen? Wir alle wissen, egal wowir politisch stehen: Es gibt noch sehr viel zu tun. Diegriechische Wirtschaft muss wieder flottgemacht wer-den. Der Staat muss modernisiert werden. Strukturrefor-men müssen konsequent durchgeführt werden. Dabei
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7535
Michael Roth
(C)
(B)
muss vor allem auch die soziale Balance gewahrt wer-den.Die Menschen in Griechenland brauchen jetzt Jobsund Perspektiven. Das gilt vor allem für die 1,2 Millio-nen Menschen ohne Arbeit. Jeder zweite Jugendliche inGriechenland hat keinen Job, hat keine Perspektive. Dasist eine Tragödie, und zwar nicht nur für Griechenland,sondern für uns alle, die wir ein Herz haben.
Deshalb werden die Europäische Union und Deutsch-land weiterhin als Partner bereitstehen, um Griechenlandtatkräftig zu unterstützen.Der Vorwurf, den ich auch von Ihrer Seite immer wie-der höre, stimmt nicht: Es gibt keine reine Austeritäts-politik. Die europäische Agenda legt mittlerweile denSchwerpunkt auf einen Dreiklang aus Haushaltskonsoli-dierung, Strukturreformen sowie Wachstum und Inves-titionen für mehr Beschäftigung, übrigens auch aufDrängen des Bundestages und der deutschen Bundesre-gierung.Schauen wir uns doch die Politik der vergangenenMonate in Europa an: Wir treiben konkrete Initiativenfür Wachstum und Beschäftigung und für die Stärkungdes sozialen Zusammenhalts in Griechenland und an-derswo in Europa voran. Nun müssen diese Initiativencouragiert und entschlossen umgesetzt werden.Die Bundesregierung ist sich sicher: Die gute Zusam-menarbeit wird auch mit der kommenden griechischenRegierung fortgesetzt. Denn wir alle wollen, dass Grie-chenland Mitglied der Euro-Zone bleibt. Es gibt in die-ser Frage keinerlei Kurswechsel.
Ich finde, der griechischen Regierung und den Bürge-rinnen und Bürgern Griechenlands gebühren Respekt,Anerkennung und Dank für all das, was sie bislang ge-leistet haben. Wir alle wissen: Dies ist teilweise mitschweren Zumutungen verbunden gewesen. Alle, diejetzt von einem Rückzug aus dem Euro oder gar aus derEU fabulieren, die ihr Heil im Nationalstaat alter Prä-gung, den es so nicht mehr gibt, suchen, sollten wissen:Unsere Antwort heißt immer noch und jetzt erst recht:Ein gemeinsames Europa ist gut für Griechenland, abereben auch gut für Deutschland.
Vielen Dank. – Jetzt hat das Wort Dr. Gerhard Schickvon Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Warum kommt es zu dieser Debatte? Es kommt dazu,weil die Zusammengehörigkeit im Euro-Raum wiedereinmal zur Disposition gestellt worden ist. Angefangenhat es mit irgendwelchen Quellen des Spiegel in derBundesregierung. Dazu hat mein Freund und KollegeManuel Sarrazin das Nötige gesagt: So etwas darf mannicht so lange laufen lassen, es sei denn, man hat ein In-teresse daran. – Ich muss sagen: Ich finde, es war unver-antwortlich, das laufen zu lassen.
Ähnliches gilt aber auch für die Linkspartei und an-dere, die meinten, man könne die Zusammengehörigkeitin Europa wieder einmal ein bisschen zur Dispositionstellen. Ich glaube, wer aus den letzten Jahren der Krisein Europa, vielleicht aber auch aus den letzten Tagen et-was gelernt hat, dem muss doch klar sein: Europa gehörtzusammen. Wir werden keine Rückschritte bei der euro-päischen Integration machen, bloß weil es ökonomischund sozial derzeit etwas schwierig ist.
Irgendwann kam die Aussage: Es gibt keinerlei Kurs-wechsel. – Dabei haben Sie sich zu Recht auf die Fragebezogen, ob Griechenland im Euro-Raum bleiben soll.Hierbei haben Sie unsere volle Unterstützung. Aber esgibt natürlich einen Punkt, an dem ein Kurswechselschon nötig wäre.
– Natürlich. – Stellen Sie sich doch einmal vor, die Wirt-schaft in Deutschland würde über fünf oder sechs Jahreso zusammenschrumpfen und die Arbeitslosigkeit sodramatisch steigen, wie es in Griechenland der Fall war.Wer in diesem Haus würde es dann wagen, zu sagen:„Wir machen weiter so“? Niemand würde das wagen.
Deswegen ist es, glaube ich, richtig, zu sagen: Es gibtVeränderungsbedarf. Auch wir sehen ihn, nicht in derForm, dass wir die Hausaufgaben der griechischen Poli-tikerinnen und Politiker machen müssen, sondern weilwir Sorge um unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger inEuropa haben.
Das gilt erstens im Hinblick auf die Gesundheitsver-sorgung und die sozialen Härten. Wenn so viele jungeMenschen perspektivlos sind, dann ist das keine gute Sa-che für Europa. Wir wollen, dass die Menschen, die inden nächsten Jahren in Europa leben, Europa mit Zu-kunftsperspektive und neuem Aufbruch verbinden undnicht mit der Perspektivlosigkeit, die viele Menschen inGriechenland heute empfinden müssen. Ich finde, dassollte auch unsere heutige Debatte prägen.
Metadaten/Kopzeile:
7536 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Dr. Gerhard Schick
(C)
(B)
Neben der Gesundheits- und Sozialpolitik gilt daszweitens in Bezug auf die Frage: War es denn richtig, soeinseitig auf eine schnelle Schuldensenkung zu setzen?Man muss sagen: Das hat ja wohl nicht geklappt.
Der Schuldenstand Griechenlands ist heute deutlich hö-her, als er damals war. Der Versuch, dieses Problem miteiner Radikalkur zu lösen, hat nicht geklappt. Deswegenmuss man da ein Stück weit anders agieren. Sie, HerrStaatssekretär, haben gerade gesagt, die griechischeWirtschaft wachse in der Euro-Zone insgesamt amstärksten. Aber das können Sie doch wohl nicht sagen,ohne hinzuzufügen, dass die Euro-Zone insgesamt in ei-ner desaströsen wirtschaftlichen Lage ist, dass wir drin-gend mehr Investitionen brauchen und dass die Situationüberhaupt nicht zufriedenstellend ist. Ich bitte Sie, daendlich nachzulegen.
Drittens gilt es, sich genau mit der Frage eines Schul-denschnitts zu beschäftigen. Klar ist doch: Aktuell istder Schuldenstand Griechenlands nicht das zentrale Pro-blem, weil das Land mit einem Zinsdienst von 1,8 Pro-zent der Wirtschaftsleistung im Moment nur geringeZinsen auf seine Staatsschulden zahlt; nach anfänglichenFehlern wurden die Schulden ja inzwischen für längereZeit gestundet. Ein Schuldenschnitt bringt also keine un-mittelbare Entlastung; das ist richtig. Aber wer kann sichdenn vorstellen, dass ein solcher Schuldenstand wirklichabgetragen werden kann?
Das ist eine große Hypothek für die Zukunft. Deswegenist die Forderung, die wir seit längerem erheben und dieviele Ökonomen unterstützen, richtig: Wir brauchen ei-nen Weg der Entschuldung, der natürlich wieder an be-stimmte Konditionen und Vereinbarungen geknüpft ist.Genau das ist unser Vorschlag.
Dieser Vorschlag ist in der längeren Perspektive zwarrichtig, schafft aber kurzfristig keine Entlastung. Wirkönnen aber nicht einfach zusehen; denn die soziale undwirtschaftliche Lage bleibt weiter schwierig. Da brauchtes Antworten, und zwar nicht nur die, dass die griechi-sche Regierung da irgendwas einfordert. Wir müssen– auch aus unserem Interesse an einer funktionierendenEntwicklung in Griechenland – schauen, dass wir Inves-titionen stärken und dass die Schwächsten in der griechi-schen Gesellschaft Unterstützung bekommen; das ist unsallen wichtig wegen der Zukunft Europas.Danke schön.
Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Antje
Tillmann, CDU/CSU, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Im letzten Jahrhaben wir den 100. Jahrestag des Ausbruchs des ErstenWeltkriegs begangen, der Ausbruch des Zweiten Welt-kriegs jährte sich zum 75. Mal. Gott sei Dank haben wirseitdem keine solchen Jahrestage mehr!Europa ist für mich nicht nur eine Union in Finanzan-gelegenheiten, sondern vor allem eine Friedens- undWerteunion. Europa ist mir persönlich sehr viel mehrwert als ein Hilfspaket. Diese Werteunion bedeutet aber,dass man vertrauensvoll zusammenarbeitet und Regeln,die man sich gegeben hat, einhält
und dass man versucht, eine Politik zu machen, die nichtzulasten der europäischen Partner geht. Wer Fehler inseiner Landespolitik macht, sollte diese Fehler auchselbst ausbügeln müssen. Trotzdem gibt es Situationen,wo wir füreinander einstehen müssen und Hilfen erfor-derlich sind.
Genau so ist es gewesen. Es ist auch keineswegs so, dassGriechenland das einzige Land gewesen wäre, das Feh-ler gemacht hat. Ich erinnere nur an 2005, wo wir dierote Laterne in Europa getragen haben, wo wir dazu bei-getragen haben, den Stabilitäts- und Wachstumspakt auf-zuweichen. Das war nicht zuletzt der Beginn einerStaatsschuldenkrise in Europa; es gab also auch Fehler,die wir gemacht haben.
Seitdem haben wir alle gemeinsam versucht, Europafinanzpolitisch sicherer zu machen. Griechenland hatuns aufgerüttelt. Wir haben teilweise – nicht nur wegender Banken- und Staatsschuldenkrise, auch wegen Grie-chenland – finanzpolitisch den Atem angehalten. Daswar aber auch positiv: Es hat dazu geführt, dass wirMaßnahmen auf den Weg gebracht haben, bei denen wirnicht geglaubt hätten, dass das in dieser Geschwindig-keit geht. Ich nenne den Fiskalvertrag, bei dem innerhalbvon anderthalb Jahren fast alle Mitgliedstaaten der Euro-päischen Union eine Schuldenbremse in ihren Verfas-sungen ratifiziert haben.
Deutschland hat sich verpflichtet, seinen Schuldenstandbis 2022 auf unter 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktszu reduzieren.Und schon geht es wieder los: Sollen die Verträge ein-gehalten werden? Die erste Null im Haushalt führt dazu,dass viele Seiten sagen: Na, so ernst war das nicht ge-meint. – Da sind wir gefragt, die Verträge, die wir unter-schrieben haben, einzuhalten.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7537
Antje Tillmann
(C)
(B)
Wir haben den Stabilitäts- und Wachstumspakt wiederfitgemacht, wir haben das 3-Prozent-Defizitkriteriumkonkretisiert. Doch auch da geht es schon wieder los: Eswird jetzt interpretiert und ausgelegt, es sollen zusätzli-che Maßnahmen in die 3 Prozent eingerechnet werdendürfen. Auch da besteht die Gefahr, dass Verträge, diegerade erst vereinbart wurden in der EuropäischenUnion, schon wieder nicht eingehalten werden.Gut, dass wir den ESM eingeführt haben aufgrund derSituation in Griechenland. Wie hätte es ausgesehen,wenn ein größeres Land uns dazu gezwungen hätte, ei-nen solchen Mechanismus einzurichten! Wie gut, dasswir an dieser Stelle anhand eines kleineren Landes Er-gebnisse und Gefahren diskutieren konnten!Innerhalb kürzester Zeit haben wir eine Bankenunionsamt Aufsicht und Bankenabwicklung vereinbart. Hättenwir diese Bankenunion schon vor der Griechenland-Krise gehabt, dann hätte ein großer Teil der griechischenProbleme da abgeladen werden können, wo er hingehört:bei den Anteilseignern, bei denjenigen, die aus Krisenmit Gewinn hervorgehen. Wir haben erstmalig einBail-in eingeführt: Anteilseigner müssen sich nun in Kri-sensituationen an der Rettung von Instituten beteiligen.Das hätte auch Griechenland schon geholfen. Auch hiertun wir gut daran, darauf Wert zu legen, dass diese Ver-einbarungen eingehalten werden.Griechenland hat sich auf den Weg gemacht, die Ver-einbarungen, die es eingegangen ist, einzuhalten. Ja, dasist ein langer und schmerzhafter Weg – ich weiß, dasswir den Menschen in Griechenland viel abverlangen mitdiesen Maßnahmen –; aber Griechenland hat sich aufden Weg gemacht, und die ersten zarten Pflänzchen desErfolgs kann man sehen: Das Wachstum liegt bei 3 Pro-zent, und bei der Unterschreitung des Maastricht-Kriteri-ums von 3 Prozent Defizit steht Griechenland besser daals manch anderes Land, das heute auch in der Diskus-sion ist. Diesen Weg sollten wir weitergehen.Wenn wir bei all diesen Verträgen jedes Mal, wenn ir-gendwo Wahlkampf ist, eine Diskussion im DeutschenBundestag führen würden, dann könnten wir uns Ver-handlungen ganz sparen. Deshalb gibt es aus meinerSicht auch überhaupt keinen Grund, das heute zu thema-tisieren. Auch vonseiten Griechenlands gibt es aktuellnicht den Wunsch, die Verträge zu ändern. Sie sind abge-schlossen und werden hoffentlich bis Ende Februar aucheingehalten. Nach der Wahl wird man gucken, wie esdann weitergeht.Selbstverständlich kann man zu jeder Zeit über neueSituationen sprechen. Ich tue das am liebsten dann, wennich glaube, dass bei allen Anstrengungen in manchenBereichen noch Luft nach oben ist. Das ist beim Kampfgegen die Steuerhinterziehung,
bei der Privatisierung und bei der Verschlankung derVerwaltungen der Fall. Je besser sich Griechenland hieraufstellt, umso besser können wir reagieren und an dereinen oder anderen Stelle nachjustieren.Ich glaube aber, im Moment tun wir alle gut daran,unsere Zusagen einzuhalten – wir in Deutschland undauch Italien und Frankreich mit ihren Haushalten, aberauch Griechenland. Wir sollten das tun, damit diese Wer-tegemeinschaft bestehen bleibt. Europa ist wertvoll – fürDeutschland und für Griechenland.
Ich hoffe, dass wir dieses wertvolle Europa nichtdurch Finanzprobleme gefährden. Das sollten wir nichttun. Wir werden gemeinsam eine Lösung finden. Aufdiesen Weg haben wir uns alle gemeinsam gemacht.
Vielen Dank. – Als nächster Redner spricht Ewald
Schurer, SPD.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnenund Kollegen! In meinem Bewusstsein und, ich denke,auch im Bewusstsein des Parlaments hier ist und bleibtGriechenland selbstverständlich inmitten des politischenEuropas und der Währungsunion. Das ist vom Vertragher so angelegt. Nach gewissen Irritationen ist und bleibtGriechenland integrativer Bestandteil dieser Europäi-schen Währungsunion.Griechenland gehört in meinem Bewusstsein genausozu Europa wie jedes der 16 Bundesländer zu Deutsch-land. Das ist Ausdruck des föderativen europäischen Be-wusstseins und für mich eine zentrale Aussage, die vonden Kolleginnen und Kollegen in der Debatte hier bisherweitgehend bestätigt wird.Bei den Wahlen am 25. Januar 2015 werden die grie-chischen Bürgerinnen und Bürger von Thessaloniki imNorden über Athen bis zur griechischen Inselwelt undnicht der Deutsche Bundestag entscheiden. Die Wahlwird ein politisches Datum markieren, und mit deren Er-gebnis werden wir vernünftig umgehen müssen. Daswerden wir – so zeigt es diese Debatte – auch tun. DerBundestag entscheidet diese Wahlen keinesfalls. Dieoffene und qualitativ gute Diskussion ist aber eine Bot-schaft, die auch in der Öffentlichkeit in Griechenlandankommt, ohne hier im engeren Sinne irgendwie wahl-beeinflussend wirken zu wollen.Es ist eine Tatsache, dass Griechenland in diesemschwierigen Prozess der letzten fünf bis sechs Jahre fastein Drittel an Wertschöpfung, an wirtschaftlicher Tätig-keit und an Arbeitsplätzen verloren hat. Um die Kritikder Opposition aufzunehmen: Das ist sicherlich subopti-mal gelaufen.Wir müssen uns der jetzigen gesellschaftlichen Reali-tät in Griechenland zuwenden. Es kann jetzt mit Blickauf den europäischen Geist nur darum gehen, dass sichjedwede Regierung – es wird eine Koalition geben –, dienach dem 25. Januar 2015 antritt, sehr schnell der gesell-
Metadaten/Kopzeile:
7538 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Ewald Schurer
(C)
(B)
schaftspolitischen und ökonomischen Realität zuwendenwird. Ich bin davon überzeugt, dass das gelingen wird.Ich habe im Internet gelesen, dass der Spitzenkandi-dat von SYRIZA gesagt hat, dass er die Haushaltskonso-lidierung im Falle eines Wahlsieges weiterhin uneinge-schränkt fortsetzen wird. Er unterstützt das, was wirSozialdemokraten und die Union, aber auch die Grünengesagt haben. Wir wollen alles tun, damit es in Grie-chenland wieder Investitionen in Wertschöpfung gibt.Konsolidierung und Wertschöpfung: Das muss für diegriechische Regierung und für die EU als Partner Grie-chenlands die große Formel sein.Ich bin davon überzeugt, dass Griechenland nach denerschütternden Absenkungsprozessen künftig zum Bei-spiel auch wieder eine soziale Infrastruktur braucht.Natürlich brauchen die Menschen in Griechenlandmöglichst bald auch wieder einen Zugang zum Gesund-heitssystem. Die Menschen dort brauchen eine Gesund-heitskarte – wie in Deutschland und auch in anderen eu-ropäischen Ländern –; das ist unbestritten. Dahin musses beim ökonomischen und sozialen Wiederaufbau desLandes gehen. Das ist die Ziellinie, zumindest von unsSozialdemokraten. Ich habe hier in der bisherigen Dis-kussion dazu sehr viel Zustimmung wahrgenommen.Griechenland braucht den Ausbau der gesamten tech-nischen und logistischen Infrastruktur für eine bessereWertschöpfung,
weil es am Ende darum geht, künftig die Schulden desLandes, unabhängig von der technischen Linie, zu bedie-nen. Es braucht wieder einen gestärkten Wertschöp-fungsprozess – der Herr Staatssekretär Meister hat ihnganz am Anfang angesprochen –, weil er die Vorausset-zung für neue Arbeit, höhere Leistungen und damit dasZurückzahlen der Schulden am Ende des Tages als mit-telfristige und langfristige Perspektive ist. Nur so gehtes. Dieses Ziel muss Griechenland in der Zukunft verfol-gen. Darüber gibt es trotz verschiedener Interpretationenvielleicht einen Minimalkonsens heute in dieser dochguten Debatte des Deutschen Bundestages.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Ende der De-batte, aber auch meines Beitrages sei noch einmal gesagt:Das europäische Bewusstsein hat neben den ökonomi-schen und sozialen Tatbeständen auch eine psychologi-sche Komponente. Die Solidarität mit Griechenland inder jetzigen Phase ist von allen Rednerinnen und Red-nern in irgendeiner Weise zum Ausdruck gebracht wor-den.Die Botschaft, die von dieser heutigen AktuellenStunde Richtung Griechenland ausgeht, ist ganz klar:Die Bundesregierung, die Koalition, teilweise auch dieOppositionsparteien, wollen die positive EntwicklungGriechenlands, egal wie die Wahlen ausgehen. In diesemSinne glaube ich, dass wir diese Entwicklung mit Opti-mismus und mit Tatkraft unterstützen werden.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Jürgen Hardt
von der CDU/CSU das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!In den vergangenen fünf Jahren, seit wir uns hier mitdem Thema Euro-Rettung beschäftigen, sind drei vonvier Parteien hier im Hause mit diesem Thema, wie ichfinde, sehr verantwortungsvoll umgegangen.
– Ich meine die in diesem Hause vertretenen Parteien. –Wir haben damals vor einer schwierigen Entscheidunggestanden. Im Grunde standen wir vor einer Weggabe-lung mit drei ganz unterschiedlichen Wegen.Der erste Weg wäre gewesen: Deutschland und dieanderen Staaten zahlen alles. Das wäre nicht nur denSteuerzahlern in diesen Ländern schwer vermittelbar ge-wesen, sondern das hätte auch mit Blick auf die Ursa-chen der Krise keine Probleme gelöst. Das hätte unsvielleicht einen kleinen zeitlichen Aufschub verschafft,aber das Problem wäre umso schwerer auf uns zurückge-fallen.Der zweite Weg wäre gewesen: Wir kapitulieren vorder Situation und nehmen in Kauf, dass der Euro-Raumdiffundiert und zusammenbricht. Was das für die euro-päische Wirtschaft, insbesondere für die deutsche Wirt-schaft – Exportnation Nummer eins –, für Folgen gehabthätte, sehen wir heute bei einem Blick auf die SchweizerBörse. Dort kann man sehen, wohin es führt, wenn derKurs einer Währung kurzfristig nach oben schnellt undmit welchen Schwierigkeiten die Wirtschaft dann zukämpfen hat. Das wäre auch aus deutscher Sicht keineLösung gewesen.Der dritte Weg war der komplizierte, anstrengendeund langwierige, aber, wie wir heute sehen, letztlich er-folgreiche Weg. Wir haben gesagt: Wir wollen diesenLändern, die Hilfe brauchen, solidarisch zur Seite ste-hen. Wir wollen ihnen helfen. Wir wollen ihnen aberauch abverlangen, dass sie die notwendigen Reformendurchführen.Insofern war die Meldung, die herumgeisterte, esgäbe in der Politik der Bundesregierung gegenüber Grie-chenland einen Kurswechsel, eine selbstgebratene Zei-tungsente. Wir haben stets all unsere Hilfsprogramme,unabhängig davon, an welches Land sie gerichtet waren,mit den Ländern gemeinsam ausgestaltet und gesagt:Hier sind die Hilfen, auf die ihr euch verlassen könnt.Dort sind die notwendigen Anpassungsmaßnahmen, dieihr vornehmen müsst.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7539
Jürgen Hardt
(C)
(B)
In dieser ganzen Diskussion, gerade in diesen Tagen,hat der Musikant der Linken – so möchte ich ihn heuteeinmal bezeichnen – mit seiner Büttenrede – das sage ichim Hinblick auf seine kämpferische Rede –
eine reine Wahlkampfveranstaltung abgehalten. An IhreAdresse sage ich ganz konkret: Wir dürfen Ursache undWirkung nicht miteinander verwechseln. Die Situationin Griechenland ist für ganz viele Menschen bitter: fürjunge Menschen, Rentner, Menschen, die auf sozialeUnterstützung angewiesen sind, die einen Arbeitsplatzsuchen und ihren vorherigen vielleicht verloren haben,weil das bisherige Unternehmen nicht mehr wettbe-werbsfähig ist. All das ist bitter, aber die Ursache dafürliegt natürlich in einer verfehlten Wirtschafts- und Fi-nanzpolitik griechischer Vorgängerregierungen.
Es gibt dann die Behauptung, dass die sogenannteAusteritätspolitik der falsche Weg sei, um wirtschaftlichauf die Beine zu kommen.
Ich sage Ihnen ganz konkret: Die Staaten in der Euro-päischen Union, angefangen bei Deutschland, die diesolidesten Staatsfinanzen haben, haben auch beim Ar-beitsmarkt, bei der Wirtschaftsentwicklung und bei In-vestitionen und Wachstum die besten Zahlen.
Von daher ist diese These allein durch die reale Betrach-tung der Europäischen Union, wie sie sich heute dar-stellt, zu widerlegen.
Dass in einem europäischen Land gemäß der Verfas-sung demokratische Wahlen durchgeführt werden, istnichts, was uns oder die Finanzmärkte in irgendeinerWeise erschrecken müsste. Es müsste uns vielmehr er-schrecken, wenn keine Wahlen stattfinden würden. Dennes ist in europäischen Staaten üblich, dass sie als Demo-kratien regelmäßig Wahlen durchführen.Ich glaube, dass die Regierung der Griechen, die nachder Wahl zustande kommt, auch nichts an den funda-mentalen Rahmenbedingungen ihrer Arbeit ändern kann.Diese bestehen darin, dass wir auf einem Weg der lang-samen und schweren Konsolidierung der Staatsfinanzensind. Ich glaube deshalb, dass es unabhängig von derFrage, wer dieses Land zukünftig regieren wird, mitGriechenland in der Euro-Zone weitergehen wird. Ichglaube, dass das im Interesse der gesamten Euro-Zone,aber auch im Interesse Griechenlands ist.Die Belastungen Griechenlands durch die Staats-schulden, die überwiegend aus den Programmen finan-ziert werden, sind verglichen mit dem, was man auf demKapitalmarkt an Zinsen zahlen müsste, relativ niedrig.Insofern ist das Verbleiben in dem System auch im grie-chischen Interesse. Es ist allein haushalterisch von gro-ßem Vorteil. Die Hilfsprogramme, die die EuropäischeUnion anbietet, sind ebenfalls einzigartig. Auf sich alleingestellt könnte ein Staat so etwas nie erreichen.Insofern habe ich keine Sorge, dass die Bürgerinnenund Bürger Griechenlands bei ihrer Wahlentscheidungim Hinterkopf haben, was sie geleistet und an Opfern ge-bracht haben, und dass sie sich darüber im Klaren sind,dass sie die Chance haben, die Früchte dieser Opfer unddieser Leistungen einzufahren, wenn sie auf dem Kursbleiben, den wir gemeinsam mit ihnen eingeschlagen ha-ben.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Als letzter Redner in dieser Debatte
hat Norbert Barthle für die CDU/CSU das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine sehr verehr-ten Damen und Herren! Am Ende einer solchen Aktuel-len Stunde muss man sich die Frage stellen: Cui bono?Wem nutzt es eigentlich?Ich glaube, genutzt hat es Griechenland. Wir konntenheute die Gelegenheit ergreifen, vor dem DeutschenBundestag nochmals klarzustellen, dass wir die ZukunftGriechenlands im Euro-Raum sehen. Es ist Aufgabe die-ses Parlaments, das entsprechend zum Ausdruck zu brin-gen. Lieber Kollege Manuel Sarrazin, du bist doch derje-nige, der immer sagt: Das ist nicht Angelegenheit derRegierung, sondern des Parlaments. – Die Regierungmuss also nicht auf jeden durch eine Zeitungsmeldungentstehenden Medienhype reagieren, sondern wir tun dasund stellen klar, wie die Sachlage ist: Unsere Einstellungzu Griechenland hat sich in keiner Weise verändert.
Die Situation hat sich verändert. Das ist richtig. Wirhaben Brandmauern errichtet. Wir haben den ESM unddie Bankenunion. Wir haben Portugal, Irland und Spa-nien gesichert. Insofern gibt es nicht mehr die Anste-ckungsgefahren, die es seinerzeit gab. Aber unsere Posi-tion ist dieselbe geblieben.Wem hat das nichts genutzt? Ich bin überzeugt, denLinken.
Und warum? Herr Kollege Dehm, die Art und Weise,wie Sie den griechischen Wahlkampf ins deutsche Parla-ment gezogen haben, finde ich etwas beschämend. Siehaben ein Bild von Griechenland gezeichnet, das ich mirnicht zu eigen mache. Sie haben die Namen Samaras,
Metadaten/Kopzeile:
7540 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Norbert Barthle
(C)
(B)
Venizelos und Papandreou genannt. Sie haben von poli-tischer Inzucht und Korruption geredet,
und dann haben Sie eine Person und eine Partei ange-sprochen, nämlich Tsipras und die SYRIZA, und dasseien die Guten.
Dieses Bild von Griechenland habe ich nicht, HerrDehm. Deshalb mache ich mir das, was Sie darstellen,nicht zu eigen. Ich finde das beschämend.
Eines muss man auch Herrn Tsipras vorwerfen, HerrDehm. Er erklärt nicht nur seinem Volk, sondern der ge-samten Öffentlichkeit, dass Griechenland vor allem vonder Schuldenlast, die ihm die europäischen Geldgeberauferlegt haben, erdrückt werde. Er spricht sogar von„Fiscal Waterboarding“. Das ist meines Wissens eineziemlich üble Methode, jemanden zu quälen.
– Ich mache keinen Wahlkampf, sondern ich stelle Dingerichtig.
Sie sollten sich einmal mit der Sachlage auseinanderset-zen.Es gab ein erstes Griechenland-Programm. Das warenbilaterale Kredite. Kredite aus dem ersten Griechenland-Programm muss Griechenland in den Jahren 2020 bis2040 tilgen, und Griechenland bezahlt keine Zinsen fürdiese Kredite. Es zahlt über Jahre keine Tilgung undkeine Zinsen.Es gab ein zweites Griechenland-Programm im Rah-men der EFSF. Die Kredite aus diesem Programm mussGriechenland von 2023 bis 2057 tilgen. Es muss keineZinsen zahlen. Griechenland muss also derzeit weder til-gen noch Zinsen zahlen. Wo herrscht dort bitte „FiscalWaterboarding“?
Die einzigen Kredite, die Griechenland derzeit be-dient, sind die des IWF. Ich habe kein Problem damit,dass Griechenland mit dem IWF über eine Streckungdieser Kredite verhandelt. Wer aber die europäischenGeldgeber ins Benehmen setzt und behauptet, sie seienschuld an den in Griechenland bestehenden Schulden-problemen, zeichnet ein falsches Bild.Damit komme ich zu den Grünen. Sie haben sich dieForderung nach einem Schuldenschnitt zu eigen ge-macht. Das werde ich im Leben nicht verstehen.
Denn jede Diskussion über einen Schuldenschnitt unter-gräbt das letzte Vertrauen privater Geldgeber; öffentlicheGeldgeber lassen wir einmal außen vor.
Sie haben offenbar nicht verstanden, worum es geht. Zielunserer europäischen Rettungsschirme ist nicht, einemLand seine Schulden abzunehmen,
sondern Ziel ist es, das betreffende Land in die Lage zuversetzen, sich zu erträglichen Zinsen auf dem Kapital-markt wieder selbst zu versorgen, also auf eigenen Fü-ßen zu stehen. Das ist unser Ziel.
Der ESM ist kein Schuldentilgungsfonds, sondern einRettungsfonds. Das haben Sie offensichtlich noch nichtbegriffen. Ziel muss es sein, dass sich Griechenlandmöglichst schnell wieder selbst Kredite zu erträglichenZinsen – wie schon einmal geschehen – auf dem Kapital-markt beschaffen kann;
darauf sind unsere Bemühungen gerichtet. Darin unter-stützen wir das Land mit all unseren Kräften.
Zum Ende der Debatte weise ich noch auf Folgendeshin: Herr Gabriel hat die europäischen Geldgeber davorgewarnt, sich erpressen zu lassen. Auch das ist richtig.Solidarität? – Ja, aber wir verstehen unter Solidarität et-was anderes als die Linken. Wir sind nicht nur mit Lin-ken solidarisch, sondern mit allen. Aber Solidarität setztauch Solidität voraus, also Hilfe gegen Selbsthilfe. Da-bei bleibt es. Ich bin zuversichtlich, dass Griechenlandeine gute Zukunft hat. Ich wünsche diesem Land allesGute.Danke.
Vielen Dank. – Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:Beratung des Antrags der BundesregierungAusbildungsunterstützung der Sicherheitskräfteder Regierung der Region Kurdistan-Irakund der irakischen StreitkräfteDrucksache 18/3561
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7541
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
(C)
(B)
Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
InnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungHaushaltsausschuss gemäß § 96 der GONach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazukeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und bitte die Kolleginnenund Kollegen, die an dieser Aussprache teilnehmen wol-len, sich zu setzen, damit wir die Debatte beginnen kön-nen.Als erster Redner in der Debatte hat der Herr Bundes-minister Dr. Frank-Walter Steinmeier das Wort.
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister desAuswärtigen:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir alle erinnern uns noch sehr gut: Kaum vier Monateist es her, als wir hier im Hohen Haus mit großem Ernstüber unsere Verantwortung im Kampf gegen ISIS debat-tiert haben. Mit Entsetzen in der Stimme sind Sie inIhren Redebeiträgen der Blutspur gefolgt, die ISIS beiseinem scheinbar unaufhaltsamen Vormarsch im Irakhinterlassen hat.Vor vier Monaten hatten die terroristischen Hordenschon ein Drittel des Landes unter ihre blutige Herr-schaft gebracht. Es schien nur noch eine Frage der Zeitzu sein, bis der gesamte Irak in ihre Hände fallen würde.Auf dem Weg dorthin wurde alles niedergebrannt undniedergemetzelt, was sich ihnen in den Weg stellte. Sys-tematisch wurden Dörfer dem Erdboden gleichgemacht,die männlichen Bewohner ermordet, Frauen vergewal-tigt und auf neu errichteten Sklavenmärkten verkauftoder zur Befriedigung der ISIS-Kämpfer während derKampfpausen – ein unvorstellbares Martyrium – nachSyrien geschickt.Gerade vier Monate ist es her, als uns der Hilfeschreider Menschen aus Sindschar erreichte. Tag für Tag tieferdrang der barbarische Feldzug des ISIS in die Bergland-schaft des Nordirak vor. Tal für Tal, Dorf für Dorf fiel indie Hände von ISIS. Tausende waren tot. Der Rest warschutzlos. Die irakische Armee war nicht präsent oderkämpfte nicht. Die kurdischen Peschmerga waren kaumimstande, sich gegen gut ausgerüstete ISIS-Truppen zurWehr zu setzen.Den Menschen im Sindschar, vornehmlich Jesiden,denen, die noch lebten, blieb nichts als die Flucht, einegefahrvolle Flucht, auf der viele noch Opfer des ISISwurden oder auf bergigen Pfaden bei sengender Hitzeund ohne Wasser verdurstet sind. Diejenigen, die sichmit letzter Kraft retten konnten, haben überlebt, weil eseinen Zufluchtsort im kurdischen Arbil gab, in Flücht-lingslagern, in Kirchen oder bei Verwandten. Dass dieserZufluchtsort erhalten geblieben ist, dass die Region Nord-irak-Kurdistan nicht in die Hände des ISIS gefallen ist,dass der Vormarsch des ISIS gerade hier zum Halten ge-bracht worden ist, das ist zuallererst das Verdienst derPeschmerga. Es ist deren Mut und Bereitschaft zu ver-danken, sich den ISIS-Horden auch mit unzureichenderAusrüstung entgegenzustellen.
Aber dass wir aus Deutschland heraus einen Beitragdazu leisten konnten, darüber bin ich froh.
Ich bin froh, dass wir Verantwortung in Kenntnis allerRisiken und inmitten von Unwägbarkeiten übernommenhaben. Den Dank dafür höre ich nicht nur in Arbil, son-dern auch in Bagdad. Aber ich sage das nicht, weil wireinen Anlass zum Schulterklopfen oder zur Selbstzufrie-denheit hätten; denn nichts ist erledigt.Humanitär ist nichts erledigt, weil ZehntausendeFlüchtlinge in überforderten Lagern sind und mit demNötigsten versorgt werden müssen. Sie müssen geradejetzt im Winter vor dem Erfrieren geschützt werden. Wirsind Gott sei Dank ganz vorne dabei mit humanitärerHilfe. 100 Millionen Euro haben wir bereitgestellt. Aberwir sind weiter gefordert. Ich darf sagen: Auch dank derHaushaltsentscheidung dieses Parlaments werden wirweiterhelfen können. Dafür meinen herzlichen Dank.
Auch politisch ist nichts erledigt. Der politische Neu-anfang unter Ministerpräsident al-Abadi war gut. SeinSchritt auf diejenigen zu, die in der irakischen Politikausgegrenzt waren, war richtig. Die Einigung mit demNordirak über die Verteilung der Öleinnahmen war not-wendig. Aber all das reicht nicht. Die Unterstützung vie-ler sunnitischer Stämme für ISIS wird nur enden, wennSunniten sichtbare Präsenz in Staat und Armee einge-räumt wird. Nur so wird ISIS der Boden für seine ver-brecherische Politik entzogen. Genau darum muss es imKern im Irak jetzt gehen.Aber auch militärisch ist nichts erledigt. Die Pesch-merga – das wissen Sie – sind keine Offensivarmee. Siewerden kaum in der Lage sein, großflächige Geländege-winne zu erreichen. Worauf es jetzt ankommt, ist – dasscheint manchem wenig zu sein –, zu sichern, was imAugenblick gehalten wird. Dazu haben wir beigetragen.Ich will sagen: Das ist zentral für Arbil, für die Men-schen in der Region und auch für die Sicherheit derFlüchtlinge; denn auch humanitäre Hilfe wird nur an-kommen, wenn wir die nicht von ISIS besetzten Teiledes Nordiraks als Zone von Ruhe und Sicherheit bewah-ren.Um dies zu gewährleisten, haben uns sowohl Bagdadals auch Arbil um weitere Unterstützung gebeten, weilgerade auch in den Kämpfen der letzten Monate nichtnur Ausrüstungs-, sondern auch Ausbildungsmängeldeutlich geworden sind. Ich verspreche: Wir werdennichts an unserer humanitären Verpflichtung oder an derpolitischen Verantwortung bei der Suche nach Lösungen
Metadaten/Kopzeile:
7542 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
(C)
(B)
vernachlässigen, aber ich plädiere sehr dafür, dass wiruns der erbetenen Ausbildungsunterstützung der Irakernicht verweigern.Die Bundesregierung hat entschieden, der Bitte zufolgen und mit maximal 100 Soldatinnen und Soldatenund im Verbund mit anderen Europäern Ausbildungs-hilfe in der Region Kurdistan-Irak zu leisten, nicht mehrund nicht weniger. Es geht nicht um einen Kampfeinsatz,es geht nicht um Partneringmodelle à la Afghanistan, esgeht strikt um bedarfsorientierte Ausbildung und Bera-tung von der Schwerstverwundetenversorgung über Mi-nenräumung bis zum Umgang mit Sprengfallen.Wir kooperieren mit internationalen, vornehmlich eu-ropäischen Partnern, aber alles bleibt in der Gesamtver-antwortung der kurdischen Behörden. Ich finde, das istverantwortbar, dazu sollten wir bereit sein, und deshalbbitte ich um Ihre Unterstützung.
Abschließend, liebe Kolleginnen und Kollegen: In deröffentlichen Diskussion ist gelegentlich die Frage aufge-worfen worden, ob es für diesen Einsatz überhaupt einesMandates des Deutschen Bundestages bedarf. Es magGründe für die damit verbundene Rechtsauffassung ge-ben. Wir haben uns dennoch für diesen Weg und für ei-nen Antrag auf ein Bundestagsmandat entschieden.Sie wissen, einer Ermächtigung nach Kapitel VII derUN-Charta bedarf es für das entschiedene Ausbildungs-und Beratungsengagement im Nordirak nicht. Bagdadund Arbil haben erstens eindeutig und schriftlich genauum dieses Engagement gebeten. Zweitens hat der Si-cherheitsrat festgestellt, dass ISIS eine Bedrohung fürden Weltfrieden und die internationale Sicherheit dar-stellt.Beschlossen wurde nicht nur eine Resolution, zumSchutze der Staaten Maßnahmen zu treffen, durch dieder Zufluss von Foreign Fighters in die Konfliktregiongestoppt und ebenso die Financiers der radikalislamisti-schen Gruppierungen verfolgt werden; aufgefordert hatder Sicherheitsrat vielmehr auch die internationale Ge-meinschaft, darüber hinaus den Irak in seinem Kampfgegen ISIS zu unterstützen. Dieser Aufforderung kom-men wir im Rahmen unserer rechtlichen Möglichkeitennach. Damit ist den völkerrechtlichen wie den grundge-setzlichen Voraussetzungen Genüge getan. Ich bitte umdie Unterstützung dieses Hauses.Danke schön.
Vielen Dank. – Als nächste Rednerin spricht Christine
Buchholz, Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! SpiegelOnline meldet gerade, dass der Wissenschaftliche Dienstdes Bundestages die Verfassungsmäßigkeit dieses Ein-satzes in Zweifel zieht. Die Linke teilt diese Einschät-zung und fordert die Regierung auf, sich dazu zu positio-nieren.
Wir sind nicht der Meinung, dass die Schwelle für Aus-landseinsätze der Bundeswehr weiter herabgesetzt wer-den soll.
Aber lassen Sie mich inhaltlich gegen dieses Mandatargumentieren. Im Jahr 2001 haben die USA und ihreVerbündeten ihren sogenannten Krieg gegen den Terrorbegonnen. Afghanistan und Irak wurden angegriffen undbesetzt. Das hat den Terror offenkundig nicht gestoppt.Schaut man sich die Gräueltaten des IS und die Ausbrei-tung von terroristischen Organisationen in Ländern wieJemen, Syrien, Irak an
und schaut man sich die terroristischen Aktivitäten inEuropa an, wie die schrecklichen Anschläge in Paris,dann muss man feststellen: Es gehört zur Ehrlichkeit, zusagen: Es ist auch der von den USA und ihren Verbünde-ten geführte Krieg gegen den Terror, es sind die Droh-nenangriffe auf Hochzeitsgesellschaften, es sind dienächtlichen Razzien in Dörfern, es ist Abu Ghureib, wasHass geschürt und einen fruchtbaren Boden für die Aus-weitung des Dschihadismus geschaffen hat.
Ohne den Angriff auf den Irak im Jahre 2003, ohnedie folgende Invasion des Landes durch die US-geführteKoalition der Willigen, die Hunderttausende Menschendas Leben kostete und die religiöse Spaltung vertiefte,würde es den sogenannten Islamischen Staat, diese un-heilige Allianz aus Dschihadisten und Anhängern desfrüheren Diktators Saddam Hussein, gar nicht geben.
Die vergangenen Bundesregierungen haben den soge-nannten Krieg gegen den Terror mal direkt, mal indirektunterstützt. Auch im Irak ist Deutschland schon längstTeil der Koalition der Willigen.
Die Linke hält diese Ausrichtung im Grundsatz fürfalsch.
Bei dem Bundeswehreinsatz, der heute erstmals imPlenum diskutiert wird, geht es nicht nur um die Ausbil-dung von Kämpfern in Irakisch-Kurdistan; vielmehr sollder geplante Einsatz auch das Regime in Bagdad unter-stützen. Dieses Regime kann sich nur mithilfe von radi-kalschiitischen Milizen halten, die, so Amnesty Inter-national, völlig straflos Verbrechen an sunnitischenGefangenen und Zivilisten begehen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7543
Christine Buchholz
(C)
(B)
Der Innenminister in Bagdad selbst ist Führer einer die-ser Milizen.
Dort, wo die schiitischen Milizen Orte erobern, gibtes sogenannte ethnische Säuberungen, zum Beispiel inDschurf al-Sachar, wo im Oktober 80 000 Sunniten vorden Milizen flohen. Im Dezember haben Offiziere derirakischen Armee das sunnitisch besiedelte Ackerbauge-biet um Bagdad zur „Killing Zone“ erklärt, in der jederMensch getötet werde. Ich sage: Die Bundeswehr darfnicht zum Bündnispartner eines solchen Regimes wer-den.
Denn es bringt genau die Bedingungen hervor, die zursektiererischen Spaltung des Landes und zum Aufstiegdes sogenannten Islamischen Staates geführt haben.
– Nun regen Sie sich nicht auf. Sie haben ja genug Rede-zeit in diesem Saal.Der Luftkrieg der Koalition der Willigen geht unter-dessen weiter. Diese Bomben treffen immer wieder auchZivilisten. Obgleich es darüber Belege gibt, wird hier imBundestag nicht einmal die Frage nach zivilen Opferngestellt. Ich sage Ihnen: Der Tod von Frauen, Kindernund Männern schafft neuen Hass und stärkt genau jene,die Sie zu bekämpfen vorgeben.
Schauen wir uns das Mandat genau an: Die Bundes-wehr soll also nicht nur die kurdischen Peschmerga, son-dern auch irakische Streitkräfte ausbilden. Die Bundes-wehr entsendet Offiziere auch in die Stäbe der irakischenStreitkräfte und in die Stäbe der Kriegskoalition inKuwait. Die einzusetzenden Fähigkeiten reichen von Be-ratung, Ausbildung und Führung bis hin zur Lagebild-erstellung durch das militärische Nachrichtenwesen.Schrittweise treibt die Bundesregierung Deutschland im-mer tiefer in einen Krieg hinein, dessen Ende unabseh-bar ist, und das macht die Linke nicht mit.
Das Elend der zum Teil schwer traumatisiertenFlüchtlinge im Nordirak ist kaum zu ertragen. Wir sa-gen: Ja, es muss mehr humanitäre Hilfe im Norden ge-leistet werden, um die katastrophale Situation derFlüchtlinge zu verbessern. Auch muss das absurde PKK-Verbot endlich aufgehoben werden, um den kurdischenWiderstand zu stärken.
Doch all das wird zunichtegemacht, wenn die Bun-desregierung gleichzeitig weiter Öl ins Feuer gießt undim Bündnis mit US-Luftwaffe und radikal-schiitischenMilizen sunnitische Bevölkerungsteile in die Hände desIS treibt. Verlassen Sie den Weg von Krieg und Waffen-lieferungen! Stellen Sie den Frieden und den Kampf ge-gen Armut und Ausgrenzung im Irak ins Zentrum IhrerBemühungen! Ändern Sie Ihre Politik! Denn dann kön-nen Sie tatsächlich von sich behaupten, die Ursachen desinternationalen Terrorismus zu bekämpfen; mit diesemMandat allerdings nicht.
Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat die Bundes-ministerin Dr. Ursula von der Leyen das Wort.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin derVerteidigung:Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Wir waren mit einer Delegation vor fünfTagen in Bagdad und Arbil. An diesem Tag haben 4 Mil-lionen Menschen in Frankreich und viele Hunderttau-sende in Deutschland eindrucksvoll und unmissverständ-lich gezeigt, dass die schrecklichen Ereignisse derletzten Wochen und Monate uns alle angehen. Es gehtdabei nicht allein um den Kampf gegen den Terror – da-rum geht es auch –, sondern auch um die Werte, die an-gegriffen worden sind:
die Achtung vor dem Leben anderer, das Recht, die ei-gene Religion frei und friedlich zu leben, die Freiheit derMeinung und des Wortes. Liebe Kolleginnen und Kolle-gen, es ist diese Überzeugung, die uns eint – von denStraßen von Paris bis tief in die Flüchtlingslager in Arbilhinein.
Die Franzosen haben es auf den Punkt gebracht. Sie ha-ben gesagt: Je suis Charlie. Je suis flic. Je suis juif. „Ichbin Charlie“, das lässt sich fortsetzen: Ich bin Jeside. Ichbin Kurde. Ich bin Christ. Ich bin Moslem.In Frankreich hat der Terror 17 Menschen das Lebengekostet, und wir trauern um jeden einzelnen. In Syrienund im Irak hat ISIS Millionen Menschen brutalster Ver-folgung ausgesetzt, sie zu Flüchtlingen gemacht, Zigtau-sende niedergemetzelt; die meisten davon übrigens mus-limischen Glaubens. Daher ist es gut, dass unter den über60 Staaten, die sich zusammengetan haben, um ISIS zustoppen, neben vielen westlichen Ländern vor allemauch arabische Staaten die Initiative ergriffen haben.
Metadaten/Kopzeile:
7544 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
(C)
(B)
Ich habe am Montag die Gelegenheit gehabt, mit demjordanischen König zu sprechen. Er hat mir versichert,dass die arabischen Staaten es als ihre eigene Pflicht an-sehen, den Terror zu stoppen, der den Irak an den Randdes Abgrunds gebracht hat, aber inzwischen auch dieMenschen überall auf der Welt bedroht. Er sagte es un-gefähr so: Das ist unser Kampf, den wir führen wollen.Wir wollen ihn gewinnen, aber wir brauchen eure Hilfe. –Meine Damen und Herren, diese Hilfe wollen wir ihnengeben.
Ebenso haben es die irakische Zentralregierung unddie kurdische Regionalregierung zum Ausdruck ge-bracht. Sie wollen sich ISIS entgegenstellen, sie wollenan der Einheit des Iraks und an der Teilhabe aller arbei-ten, aber sie brauchen dafür Unterstützung.Daher ist es auch gut, dass Deutschland sich ebenfallsnach seinen Möglichkeiten einbringt: politisch – daraufist Frank-Walter Steinmeier eingegangen –, mit Hilfe fürdie Flüchtlinge – ich verweise auf Gerd Müller als Bun-desminister für Zusammenarbeit –, aber nicht zuletztauch mit Hilfe für diejenigen, die sich ISIS militärischentgegenstellen. Im Norden des Iraks sind das die Kur-den, die seit Monaten ISIS abwehren und den Flüchtlin-gen Schutz geben. Wir konzentrieren uns mit unsererHilfe auf die Region Kurdistan-Irak. Mir war aber auchwichtig, in Bagdad deutlich zu machen, dass diese Un-terstützung dem Gesamtirak gilt. Das wird verstanden.Und Staatspräsident Masum hat sich dafür auch aus-drücklich bedankt.Meine Damen und Herren, unsere bisherige Unter-stützung war wirksam. Kommandeure der Peschmergahaben uns eindrucksvoll geschildert, wie wichtig zumBeispiel der Einsatz der MILAN-Rakete ist. Zuvor stan-den sie ISIS machtlos gegenüber. Sie mussten ohnmäch-tig mitansehen, wie von ISIS mit Sprengmaterial gefüllteAutos oder Lastwagen in die Peschmerga-Stellungenhineingelenkt wurden, quasi fahrende Bomben mit ver-heerender Wirkung. Mithilfe der MILAN waren diePeschmerga in der Lage, etliche solcher Selbstmordkom-mandos zu stoppen, das heißt, den Feind auch auf Dis-tanz zu halten. Das hat nicht nur viele Menschenlebengerettet, sondern das hat auch den Mut und die Zuver-sicht der Peschmerga gehoben, ISIS tatsächlich standhal-ten zu können. Das, meine Damen und Herren, ist in un-serem Sinne; denn diese Peschmerga stehen nicht nur fürihr Land ein. Sie stehen auch für uns alle gegen ISIS ein.
Wir wollen daher auf diesen Erfahrungen aufbauen.Wir wollen unsere Hilfe verstetigen. Präsident Barsanihat uns gegenüber noch einmal sehr deutlich gemacht,dass die Kurden beides brauchen: Ausrüstung und Aus-bildung. Die Peschmerga sind gut organisiert; sie sindentschlossen, standzuhalten – aber es fehlt an vielem.Das beginnt bei wintertauglichen Stiefeln, geht über dieeben erwähnte MILAN weiter, endet aber nicht zuletztauch bei Sanitätsmaterial. Sie haben uns geschildert, wieviele Peschmerga, wenn sie an der Front verletzt werden,sterben, die nicht sterben müssten, weil basales Ver-bandsmaterial fehlt und banale Techniken wie beispiels-weise das Abbinden bei einem Durchschuss nicht be-herrscht werden. Es fehlt Material, es fehlt Wissen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten genauhinhören, was gebraucht wird, und prüfen, ob und wiewir helfen können. Wir wollen mit diesem Mandat einAusbildungszentrum in Arbil aufbauen, das unter derLeitung der Kurden steht, aber dessen Ausbildungsbe-reich wir koordinieren. Das geschieht gemeinsam mitanderen europäischen Partnern und in Abstimmung mitder Allianz. Dabei richten wir uns ausdrücklich nachdem Ausbildungsbedarf, den die Peschmerga anzeigen.Das beginnt bei der Grundausbildung, geht über Minen-abwehr bis hin zur eben erwähnten medizinischen Ver-sorgung. Bis zu 100 Soldaten wollen wir einbringen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, diejenigen, die dortan vorderster Front kämpfen, brauchen unsere Hilfe.Diese Hilfe muss und wird nicht nur aus Deutschlandkommen. Wir können aber einen spürbaren, einen sub-stanziellen und einen nachhaltigen Beitrag leisten. Dafürbitte ich um Ihre Zustimmung.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Dr. FrithjofSchmidt, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir alle in diesem Haus teilen die Überzeugung, dass dieTerrororganisation ISIS bekämpft werden muss. Um esklar zu sagen: Meine Fraktion hält auch die militärischeAusbildung von kurdischen Kämpferinnen und Kämp-fern für einen sinnvollen Beitrag dazu. Das hat ja auchbisher schon stattgefunden, allerdings nicht vor Ort imIrak, sondern hier in Deutschland. Das war gut so.Jetzt hat die Bundesregierung entschieden, doch einenAusbildungseinsatz vor Ort im Irak durchzuführen. Wirgehen ganz offen in die Prüfung dieses Mandates. Wirhalten seine Absicht durchaus für sinnvoll, und wir ste-hen zu dem Grundsatz: Im Zweifel muss es ein Mandatgeben. Es muss dann aber auch inhaltlich die rechtlichenVoraussetzungen für einen Einsatz der Bundeswehr imAusland erfüllen.
Ich sehe nicht – und ich sage ganz bewusst: leider nicht –,dass Ihnen das mit diesem Mandat gelungen ist.Ich teile Ihre Position, dass die völkerrechtlichen Vo-raussetzungen für ein solches Mandat gegeben sind. Esgibt die Aufforderung der irakischen Regierung an dieUN-Mitgliedstaaten, ihr Unterstützung im Kampf gegenISIS zu leisten. Es gibt eine Einladung durch die iraki-sche Zentralregierung und durch die kurdische Regional-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7545
Dr. Frithjof Schmidt
(C)
(B)
regierung an die deutsche Regierung. Das ist völker-rechtlich ausreichend. Aber ein Mandat, das Sie nachArtikel 24 des Grundgesetzes beantragen, muss zusätz-lich die Bedingung erfüllen, dass der Auslandseinsatz imRahmen eines Systems kollektiver Sicherheit stattfindet.Das ist bisher – und ich sage wieder: leider – offenkun-dig nicht der Fall. Es gibt kein UN-Mandat, und es bleibtein politischer Fehler, dass Sie sich nicht energisch dafüreinsetzen.
Jetzt versuchen Sie, das Fehlen eines Mandates durchzwei Elemente rechtlich einfach zu ersetzen. Sie bezie-hen sich auf die vage formulierte Resolution 2170 desSicherheitsrates vom August 2014, in der ganz allge-mein zur Unterstützung des Iraks beim Kampf gegen dieTerroristen aufgerufen wird, und Sie beziehen sich aufeine Erklärung des Präsidenten des Sicherheitsrates vomSeptember 2014, die noch allgemeiner formuliert ist undaußerdem von ihrem Status her völkerrechtlich nichtbindend ist. Damit können Sie das Fehlen eines UN-Mandates wirklich nicht ersetzen. Das reicht nicht. Dasist nicht verfassungskonform.
Herr Außenminister, ich verstehe in diesem Zusam-menhang nicht, warum die Bundesregierung nichtwenigstens einen Beschluss der Europäischen Unionherbeigeführt hat, der die Mitgliedstaaten zu Ausbil-dungsmissionen im Irak auffordert. Das könnte das Feh-len eines UN-Mandates heilen. Deshalb frage ich dieBundesregierung ausdrücklich: Weshalb haben Sie dasbisher nicht getan? Warum setzen Sie stattdessen aufdiese abenteuerliche Interpretationsakrobatik von UN-Texten? Ich verstehe das nicht. Auch der gute Zweckheiligt nicht das Aushöhlen der politischen Vorgabendurch unsere Verfassung. Das darf nicht sein.
Ich habe noch eine andere politische Kritik an IhremMandatstext. Sie vermengen bei der Formulierung derAufgaben die Ausbildungsmission mit einem Blanko-scheck für Waffenlieferungen in den Nordirak, und zwarfür den Zeitraum eines ganzen Jahres. Gerade gestern er-reichten uns die Nachrichten, dass die Bundeswehr nichtweiß, an welche Einheiten und wohin genau die bishergelieferten Waffen in Kurdistan gehen. Die Bundesregie-rung erklärt dazu dann einfach, dass ihr keine Erkennt-nisse vorliegen, dass gegen die Endverbleibserklärungverstoßen wird. Wer auf dieses Problem nur mit Sokrates– „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ – antwortet, der hatdas Problem der Proliferation nicht einmal ansatzweiseverstanden.
Sie müssen diesen Blankoscheck für Waffenlieferungenaus diesem Mandat wieder streichen.Ich kann meiner Fraktion – und ich sage: leider – bis-her nicht empfehlen, einem so formulierten Mandat zu-zustimmen.Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Bevor ich das Wort an den nächsten
Redner übergebe, hat Dr. Neu das Wort zu einer Kurzin-
tervention.
Sehr geehrte Damen und Herren! Ich kann in dieser
Frage dem Kollegen Schmidt durchaus zustimmen.
Wenn man sich die rechtliche Begründung anschaut,
dann erkennt man, dass hier ein Kuddelmuddel rechtli-
cher Hilfskonstrukte herangezogen wurde, das darüber
hinwegtäuschen soll, dass es keine explizite Resolution
des Sicherheitsrates gibt, die die militärischen Möglich-
keiten eröffnet. Das heißt, Sie bauen hier etwas Halbsei-
denes auf und sagen dann: Wir können das schon ma-
chen.
Der Punkt ist: Sie bemühen Artikel 24 des Grundge-
setzes. Womit eigentlich? Es gibt kein Sicherheitskollek-
tiv in Form eines Ad-hoc-Systems. Es ist die UNO, ge-
gebenenfalls die NATO, wenn es nach dem Urteil von
1994 geht. Aber darauf können Sie sich nicht beziehen.
Sie können sich auch nicht auf die derzeitige Gemein-
schaft als loser Verbund beziehen, weil auch das nicht
zulässig ist. Ich bin froh, dass – ich habe gehört, dass
auch noch andere den Wissenschaftlichen Dienst be-
müht haben – der Wissenschaftliche Dienst meine Posi-
tion in dieser Frage so bestätigt hat. Es gibt allerdings ei-
nen Wermutstropfen. Der Bezug auf Artikel 87 a als
erweiterter Verteidigungsbegriff zieht auch nicht; denn
das würde Artikel 24 GG überflüssig machen. Artikel 24
hindert Artikel 87 a daran, ausgedehnt zu werden. Wenn
die SPD der Auffassung ist – intern natürlich –, dass das
eine Grauzone ist, und die Linke ein bisschen anstachelt,
sie möge doch klagen, so kann ich nur sagen: Wir wer-
den Ihnen die Kastanien nicht aus dem Feuer holen. –
Sie haben die Mehrheit. Machen Sie doch eine Reform
des Grundgesetzes. Ändern Sie den Artikel. Dann kön-
nen Sie handeln wie Sie wollen. Das, was Sie gerade ab-
liefern, ist desaströs.
Als nächster Redner hat Rainer Arnold von der SPD
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! In vielen Teilen der Erde leiden die Menschen unterdem Terror der selbsternannten Gotteskrieger. Dassdieses Problem längst auch in Europa angekommen ist,haben wir alle in der letzten Woche auf erschreckendeArt und Weise erfahren müssen.
Metadaten/Kopzeile:
7546 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Rainer Arnold
(C)
(B)
Der Irak ist Teil des Problems, und trotzdem ist imIrak einiges anders. Es geht dort nicht um punktuelleterroristische Attacken; dort sind Mörderbanden unter-wegs, die ihre Kämpfer aus der halben Welt zusammen-holen, um dort ein Kalifat, also ein religiös verbrämtes,brutales, menschenverachtendes und totalitäres Staats-system zu errichten. Diese Schwierigkeiten werden vonder engen Wechselbeziehung zwischen den Problemenin Syrien und im Irak und vom Problem des innerenZerfalls des Iraks überlagert.Es ist wohl wahr: Der Irak wurde in den letzten Jah-ren nicht gut regiert. Nur: Können wir den Menschen,die jetzt unter dem Terror leiden, sagen: Wir lassen euchdeshalb im Stich, weil ihr eine fürchterlich schlechteRegierung hattet? – Was ist das für eine zynische Heran-gehensweise, die die Linke hier mal wieder vorgeführthat?
Wir waren vor einigen Tagen im Irak. Der Besuch inArbil und Bagdad hat deutlich gemacht: Alle, die dortVerantwortung tragen, haben endlich verstanden, dasssie unglaublich voneinander abhängen, dass sie diesesLand nur zusammenhalten und stabilisieren können,wenn sie gut zusammenarbeiten. Dies ist ein Fortschritt.Die Probleme in Syrien und im Irak kann man in derTat nicht militärisch, sondern nur politisch regeln. Abermit dem IS gibt es keine politische Lösung. Dieser Kon-flikt wird am Ende militärisch entschieden. Da frage ichschon: Können wir zuschauen, wenn der IS MillionenMenschen in die Flucht treibt, wenn der IS Hunderttau-sende ermordet und vertreibt? – Ich glaube, nicht.Wir haben traditionell eine besondere Verbindung zuden Kurden im Norden Iraks; auch in der deutschen Zi-vilgesellschaft gibt es viele gute, gewachsene Verbin-dungen. Deshalb glaube ich schon, dass wir Deutschegerade für die Kurden in dem Gebiet eine besondere Ver-antwortung tragen; das gilt natürlich auch für Christen,Jesiden und Angehörige anderer Religionsgemeinschaf-ten.Es ist gut, dass die Bundesregierung schnell und in ei-nem guten Umfang humanitäre Hilfe auf den Weg ge-bracht hat; das ist und bleibt ein Schwerpunkt des deut-schen Engagements insbesondere im Norden Iraks. DieEntwicklung in den letzten Monaten zeigt den Bürgerin-nen und Bürgern in Deutschland auch, dass Peter Struckbereits vor Jahren recht hatte, als er sagte: „Unsere Si-cherheit wird … auch am Hindukusch verteidigt …“ –Ich sage: Die deutsche Sicherheit wird auch im Irak ver-teidigt.
Es ist nun einmal so, dass zerfallende Staaten oder Staa-ten, die Rückzugsraum für Terroristen sind, Ausbil-dungs- und Trainingszentren für Menschen akzeptieren,die auch unser Leben und unsere Sicherheit bedrohen.
Eines ist auch klar: Wenn der IS im Irak obsiegenwürde, dann würde diese fürchterliche, fundamentalisti-sche, terroristische Idee gerade in den verwirrten Köpfenderer, die bei uns auf der Verliererstraße sind, gewaltbe-reit sind und eine Affinität zur Gewalt haben, eine neueund stärkere Strahlkraft gewinnen. Deshalb ist es per-spektivisch so wichtig, dass der IS dort nicht auf die Sie-gerstraße gelangt.Wenn das alles so ist und wir uns auch einig darübersind, dass wir selbst dort nicht eingreifen wollen – ichmeine, wir sollten dort auch nicht eingreifen –, dannmüssen wir diejenigen, die das an unserer Stelle tun undauch für unsere Interessen sterben, am Ende so starkma-chen, dass sie diesen Gegner zunächst einmal stoppen– dies ist gelungen – und ihn perspektivisch und mittel-fristig tatsächlich zurückdrängen können. Wir tun dasgemeinsam mit 60 anderen Partnern. Es ist richtig undwichtig, dass die arabische Welt zunehmend erkennt: Esist zuallererst ihr Problem, und sie muss zuallererst mehrleisten. In diesem Bereich ist aber alles auf einem gutenWeg. Deutschland stellt verantwortungsvoll Ausbildungund Ausstattung bereit.Es gibt eine innere Logik: Wer ausbildet, der mussauch dafür sorgen, dass die Soldaten der Peschmerga ne-ben ihren erlernten Fähigkeiten auch das notwendigeGerät haben, um sich dem Terror entgegenzustellen.Wenn es um große Waffensysteme geht, wird es schwie-rige Debatten geben; die sollten wir sorgsam führen. Wirsollten keine schnellen Entscheidungen treffen. Es gibtaber auch Dinge, die schnell gehen können. Die FrauMinisterin hat die dramatischen Berichte angeführt – wirhaben es gehört –, dass Menschen sterben, nur weil Ver-bandsmaterial fehlt. Daher mein Appell an die Regie-rung: Helfen Sie schnell und unbürokratisch! Liefern SieKleidung und Verbandsmaterial! Unsere Unterstützungdafür haben Sie.Wenn wir gemeinsam mit dem einen Drittel derLänder der Vereinten Nationen, die sich an der Anti-IS-Allianz beteiligen – Deutschland leistet keinen beson-ders großen, aber einen angemessenen Beitrag –, unsereVerantwortung im Interesse der Menschen im Irak undim Interesse unserer Stabilität in den nächsten Monatenwahrnehmen, dann wird es uns kurzfristig gelingen – dabin ich zuversichtlich –, den Terror zu stoppen; das ha-ben wir bei unserem Besuch gesehen und gehört. Mittel-fristig wird es auch gelingen, den Terror des IS aus demIrak zu verdrängen. Damit mich am Ende niemandfalsch versteht: Ich meine damit nicht, dass er von derBildfläche verschwindet. Er wird uns möglicherweisenoch viele Jahre an anderer Stelle, in anderen Zusam-menhängen beschäftigen.Deutschland sollte seinen Interessen und seiner Ver-antwortung gerecht werden. Deshalb stimmen wir die-sem Mandat zu.Vielen Dank.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7547
(C)
(B)
Als nächster Redner spricht Philipp Mißfelder von
der CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Zunächst möchte ich der Bundesregie-
rung meinen Dank aussprechen für den ganzheitlichen
Ansatz, den sie bezüglich der Ausrichtung dieses Man-
dats gewählt hat. Es fügt sich in eine lange Reihe von
wichtigen Entscheidungen ein, die wir bezüglich Kurdis-
tan/Nordirak getroffen haben.
Die mit Abstand schwierigste Entscheidung – neben
der Entscheidung, die wir heute treffen – war sicherlich
die im September, was ja mit Sondersitzungen sowohl
der Ausschüsse als auch des gesamten Plenums verbun-
den war. Die Verteidigungsministerin hat damals zu
Recht von einem Tabubruch gesprochen; denn wir haben
Waffen in ein Spannungsgebiet geliefert, was wir sonst
– mit Ausnahme unseres Verbündeten Israel – nicht ma-
chen. Ich finde, diese Ausnahme von der Regel ist genau
zum richtigen Zeitpunkt erfolgt. Die Entwicklung gibt
uns im Nachhinein recht. Es ist schon angesprochen
worden: Die Kurden haben viele Garantien und Verspre-
chen gegeben, und sie haben diese Versprechen auch ge-
halten.
Ich möchte daher zunächst einmal die kurdischen
Streitkräfte dazu beglückwünschen, dass sie so erfolg-
reich gegen den IS vorgegangen sind. Aus einer nahezu
hoffnungslosen Situation heraus haben sie das Blatt ge-
wendet. Es gilt, sie dabei zu unterstützen, dass sie nicht
erneut in eine hoffnungslose Situation geraten. Deshalb:
Mein herzlicher Glückwunsch und alles Gute für die
Streitkräfte im Norden des Irak!
Der Kampf gegen den „Islamischen Staat“ wird aller-
dings nicht nur durch militärische Mittel zu gewinnen
sein, sondern vor allem dadurch, dass man nicht nur den
Norden des Irak, sondern den Irak insgesamt stabilisiert.
Insofern ist der ganzheitliche Ansatz – vernetzte Sicher-
heit, entwicklungspolitische Maßnahmen, aber auch dip-
lomatische Gespräche – genau der richtige Weg.
Unser Engagement wird weiterhin von der Hoffnung
getragen, dass der Irak nicht auseinanderfällt. Allerdings
ist die Situation nach wie vor sehr fragil. Man darf nicht
unterschätzen, dass es Kräfte im Irak gibt, die dieses
Land jederzeit auseinanderbrechen lassen könnten. Des-
halb muss man gewappnet sein.
Die Ertüchtigung unserer Partner ist deshalb ein zen-
trales Vorhaben. Es ist richtig, Barzani und Talabani im
Norden bei den anstehenden Reformen zu unterstützen.
Ich bin dafür, dass wir neben der Ausbildungsmission
auch einen politischen Beitrag dazu leisten, eine wirkli-
che Militärreform oder Wehrreform im Norden durchzu-
setzen.
Natürlich ist das Engagement der Peschmerga zu be-
grüßen. Aber die enge Bindung an einzelne Stämme ist
im Norden des Irak langfristig sicherlich eine Herausfor-
derung. Ich nenne als Beispiel die Jesiden. Vielen hier
im Bundestag ist die Situation der Kurden keineswegs
gleichgültig. Frau Buchholz, ich teile das, was Sie gesagt
haben, in 99 Prozent der Fälle nicht, aber ich unterstelle
Ihnen, dass Sie ein ehrliches Interesse an der Region
haben.
Es kommt darauf an, zu entscheiden, welchen politi-
schen Beitrag wir leisten können, um die verschiedenen
kurdischen Kräfte miteinander zu versöhnen. Deshalb
halte ich eine Wehrreform bzw. eine Militärreform für
zentral; denn dadurch verfügen nicht nur einzelne
Stämme über Einheiten, sondern es findet eine Demo-
kratisierung statt, was zu einem besseren politischen
System im Norden führt. Dafür können wir einen zentra-
len Beitrag leisten. Dabei setze ich meine Hoffnungen
auch in die aktuelle Regierung im Norden Kurdistans im
Irak, die wir brauchen, um dort erfolgreich zu sein.
Wir müssen die humanitäre Hilfe verstärken. Dort,
wo es möglich ist, müssen wir die Zusammenarbeit in
der Entwicklungspartnerschaft so weit vorantreiben,
dass die Region nicht in der Flüchtlingsschwemme un-
tergeht. Das ist eine riesengroße Herausforderung, nicht
nur für die Türkei, sondern insbesondere auch für Kurdi-
stan. Was dort passiert, stellt uns vor eine Aufgabe, die
uns sicherlich noch eine lange Zeit beschäftigen wird.
Die Flüchtlinge sind nicht gekommen, um im Nordirak
zu bleiben, aber die Prognose, dass sie dort längere Zeit
bleiben müssen, ist eindeutig. Deshalb glaube ich, dass
man auch darüber reden muss, wie man mit dieser Masse
von Menschen umgeht. Die Stadt Arbil – das haben ja
viele von uns, die diese Region besucht haben, selber ge-
sehen – ist überhaupt nicht darauf vorbereitet. Es darf
nicht passieren, dass, nachdem wir die militärische
Katastrophe abgewendet haben, durch eine humanitäre
Katastrophe das Geschäft von ISIS übernommen wird.
Insofern ist unser Engagement gleichrangig wichtig, und
wir müssen es an dieser Stelle auch forcieren.
Ich danke in diesem Zusammenhang dem BMZ, dass
es so engagiert Projekte vorantreibt. Wir sollten das
BMZ dabei unterstützen, dies noch zu verstärken, wo es
möglich ist. Ich glaube auch, dass es der richtige Weg
ist, sowohl die kurdischen Streitkräfte als auch die Aus-
bildungsmission der internationalen Allianz, die einen
größeren Ansatz und den Gesamtirak im Blick hat und
nicht auf Kurdistan begrenzt ist, zu unterstützen. Das
gibt uns vielleicht die Gelegenheit, die irakischen Streit-
kräfte insgesamt zu stärken. Das wäre notwendig, um
überhaupt wieder politischen Spielraum zu schaffen.
Deshalb blicke ich optimistisch auf dieses Mandat.
Trotzdem bleibt uns die Herausforderung erhalten. Des-
halb ist dieses Engagement auch sinnvoll. Ich bitte um
Ihr Vertrauen für dieses Mandat.
Herzlichen Dank.
Als nächster Redner spricht Florian Hahn, ebenfallsvon der CDU/CSU.
Metadaten/Kopzeile:
7548 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
(C)
(B)
Sehr geehrte Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen!
Ich kann mich noch gut erinnern, als in der letzten Som-
merpause die Diskussion um mögliche Hilfeleistungen
für die Kurden im Nordirak vor dem heranrückenden
bzw. heranstürmenden ISIS begann. Wir standen damals
vor drei Alternativen: erstens nichts zu tun und zuzuse-
hen, wie ganze Volksgruppen bestialisch ausgerottet zu
werden drohten, zweitens selbst in den Konflikt militä-
risch und mit „boots on the ground“ einzugreifen oder
drittens diejenigen zu unterstützen, die sich in der Re-
gion dem IS entgegenstellen. Wir haben uns nach reifli-
cher Überlegung und Diskussion neben der humanitären
Hilfe für die dritte Variante entschieden.
Es war richtig, den Kurden im Nordirak Waffen, Mu-
nition und Ausrüstung zu liefern. Die Peschmerga konn-
ten in den letzten Monaten den weiteren Vormarsch des
ISIS aufhalten. Der Einsatz der von uns gelieferten Mit-
tel war dabei entscheidend. Das haben die Kurden kürz-
lich bei den Gesprächen in Arbil mit unserer Ministerin,
an denen ich mit Kollegen teilnehmen konnte, sehr ein-
drucksvoll deutlich gemacht. Endlich haben die Kurden
etwas in der Hand, um dem heranstürmenden Daesh et-
was entgegenzusetzen. So konnte beispielsweise am Tag
unseres Besuchs in Arbil ein Selbstmordanschlag ver-
hindert werden. Ein Lkw, beladen mit Sprengstoff, von
einem Selbstmordattentäter gesteuert, konnte durch den
Einsatz der MILAN-Rakete noch vor den Reihen der
Peschmerga bekämpft und ausgeschaltet werden. Auch
konnte ein gelieferter Dingo bereits Leben retten. Bei
dem Beschuss desselben, der zur völligen Zerstörung
des Fahrzeugs führte, konnten die kurdischen Insassen
so gut wie unverletzt aussteigen.
Aber nicht nur die bessere Bewaffnung hat zu einer
gestiegenen Verteidigungsfähigkeit der Peschmerga ge-
führt, sondern auch die damit verbundene Steigerung der
Moral, des Selbstbewusstseins; denn endlich konnte der
Mythos der Unbesiegbarkeit des IS gebrochen werden.
Trotzdem ist die Gefahr durch den IS noch lange nicht
gebannt. Nach den Anschlägen in Paris ist uns noch
klarer, dass die Kurden im Irak den IS für ihre eigene
Sicherheit und Freiheit, aber auch für uns alle bekämp-
fen. Zu Recht hat der UN-Sicherheitsrat festgestellt, dass
vom IS eine Bedrohung des Weltfriedens und der inter-
nationalen Sicherheit ausgeht und dass alle Staaten
aufgefordert sind, den Irak im Kampf gegen den IS zu
unterstützen. Schon 60 Nationen, nicht nur aus dem
Westen, haben sich dieser Allianz gegen den IS ange-
schlossen. Gemeinsam muss verhindert werden, dass es
zu einer Ausweitung des Schreckenskalifats kommt, zur
Unterjochung einer ganzen Region, zum Abschlachten
aller Menschen mit abweichenden religiösen Auffassun-
gen. Die Unterstützung der Menschen vor Ort hilft letzt-
lich auch uns. Deshalb halte ich einen Ausbildungsein-
satz insbesondere zusammen mit niederländischen und
italienischen Partnern grundsätzlich für politisch richtig
und wichtig.
Die Kurden haben uns erzählt, dass die etwa 800 ge-
fallenen Kämpfer der Peschmerga hauptsächlich deshalb
ums Leben kamen, weil sie insgesamt nur ungenügende
Kenntnisse über das richtige Verhalten im modernen Ge-
fecht, über den Umgang mit Minen und die notwendige
Erstversorgung nach Verwundung haben. Die Ausbil-
dung in diesen Bereichen ist daher richtig, dringend ge-
boten und wird Leben retten. Es handelt sich also um
keinen Kampfeinsatz, sondern um eine Ausbildungsmis-
sion mit einer Mandatsobergrenze von 100 deutschen
Soldatinnen und Soldaten.
Unsere Soldaten sollen bei ihrer Ausbildung durch
kurdische Kräfte geschützt werden. Offen gesagt, habe
ich ein wenig Sorge, ob das ausreichend ist. Schließlich
sind wir dort, weil die Peschmerga eben nicht gut ausge-
bildet sind. Ich hätte mir deshalb eine höhere Mandats-
obergrenze gewünscht. Schließlich haben wir bei ande-
ren Ausbildungsmissionen, wie in Mali, deutlich mehr
Soldaten im Einsatz. Wir sollten daher auf die Sicherheit
unserer Soldaten ganz besonders achten, sie zusammen
mit den internationalen Partnern sicherstellen und mögli-
cherweise bedarfsgerecht nachsteuern.
Zur Endverbleibsklausel möchte ich Folgendes sagen:
Wir sollten uns ganz genau überlegen, ob wir den Kur-
den unterstellen, dass sie denen Waffen verkaufen, die
sie gerade um ihrer eigenen und unserer Sicherheit wil-
len bekämpfen.
Angesichts der militärischen Situation im Nordirak
sollten wir nicht vergessen, dass im kurdischen Gebiet,
das eine eigene Bevölkerung von etwa 5 Millionen Men-
schen hat, inzwischen 1,6 Millionen Flüchtlinge ange-
kommen sind, die von den Kurden verantwortungsvoll
versorgt werden. Das ist eine unglaubliche Herausforde-
rung für diese Region, bei der wir bereits Unterstützung
leisten und auch weiterhin Unterstützung leisten müssen.
Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/3561 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:Beratung des Antrags der BundesregierungFortsetzung der Entsendung bewaffneterdeutscher Streitkräfte zur Verstärkung derIntegrierten Luftverteidigung der NATO aufErsuchen der Türkei und auf Grundlage des
sowie des Beschlusses des Nordatlantikratesvom 4. Dezember 2012Drucksache 18/3698
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7549
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
(C)
(B)
Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und EntwicklungHaushaltsausschuss gemäß § 96 der GONach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hatAchim Post von der SPD das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir reden über die Verlängerung des Mandats
Active Fence in der Türkei. Beginnen müssen wir mit
der dramatischen Lage in Syrien. Seit fast vier Jahren
leidet die syrische Bevölkerung nun schon unter dem
Bürgerkrieg. Das ist eine humanitäre Katastrophe, die ei-
nem das Herz zerreißt: 200 000 Menschen wurden bis-
lang getötet. 1,5 Millionen Kinder, Frauen und Männer
mussten fliehen. Zehnmal so viele Flüchtlinge wie zu
Beginn des Mandats vor zwei Jahren sind mittlerweile in
der Türkei. Das ist eine große Aufgabe für die Türkei,
die bewundernswert gemeistert wird. Aber, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, wir müssen auch sagen: So klar
die Türkei Assad bekämpft, so zweifelhaft ist ihre Hal-
tung zum ISIS.
All dies verlangt geradezu nach einer Debatte und
letztlich nach einer Entscheidung im Deutschen Bundes-
tag. Deshalb diskutieren wir heute über die Fortschrei-
bung des laufenden Bundestagsmandats. Sie wissen,
dass das Bundeskabinett eine Verlängerung des Mandats
bis zum 31. Januar 2016 beschlossen hat. Damit sollen
auch weiterhin zwei deutsche Patriot-Abwehrsysteme an
der Grenze zu Syrien stationiert werden.
Warum ist aus unserer Sicht, aus Sicht der SPD-Bun-
destagsfraktion, eine Verlängerung notwendig? Mit die-
sem Mandat verfolgen wir unser aller Ziel: eine Befrie-
dung und politische Lösung des Konflikts.
Lassen Sie mich drei Punkte nennen.
Erstens. Die Türkei braucht Solidarität. Die Lage für
die Türkei hat sich deutlich erschwert. Jeden Tag kom-
men mehr Flüchtlinge. Gerade durch den Konflikt in Sy-
rien ist unser NATO-Partner eines der am stärksten be-
lasteten Länder der Region.
Zweitens. Die Türkei braucht Sicherheit. Die Türkei
verfügt über kein eigenes Raketenabwehrsystem. Die
ballistischen Raketen des syrischen Regimes könnten
große Teile des türkischen Territoriums erreichen. Auch
das Restrisiko syrischer Chemiewaffen kann nicht völlig
ausgeschlossen werden.
Diese schwierige Lage kann die Türkei nicht alleine
bewältigen. Sie ist deshalb auf Unterstützung angewie-
sen, auch auf unsere Unterstützung, meine Damen und
Herren.
Als Mittel militärischer Abschreckung soll das Man-
dat auch weiterhin verhindern, dass sich der syrische
Konflikt auf die Türkei ausweitet. Dies leisten mit gro-
ßem Einsatz bis zu 400 Soldatinnen und Soldaten der
Bundeswehr, denen der Dank des Deutschen Bundestags
gebührt.
Dabei bleibt klar: Die Obergrenze von 400 Soldatin-
nen und Soldaten wird nicht überschritten. Der Einsatz
trägt nicht zur Unterstützung einer Flugverbotszone bei.
Unsere Beteiligung ist und bleibt ausschließlich eine
Maßnahme der Verteidigung.
Deshalb gilt nach wie vor Punkt drei: Die Türkei
braucht Verlässlichkeit. Insbesondere Deutschland als
strategischer Partner der Türkei sollte diese Verlässlich-
keit zeigen.
Zusammengefasst. Die SPD-Fraktion unterstützt eine
Verlängerung der Beteiligung deutscher Streitkräfte an
der Mission Active Fence.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin davon über-
zeugt, dass Deutschland damit zum Schutz der Bevölke-
rung in der Türkei, der einheimischen Bevölkerung und
der Flüchtlinge, beiträgt. All diese Menschen haben So-
lidarität, haben Sicherheit und haben Verlässlichkeit ver-
dient.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Als nächste Rednerin spricht Sevim Dağdelen von
den Linken.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Leider ist Bundesaußenminister Steinmeier bei die-ser wichtigen Debatte nicht zugegen.
– Ich habe „leider“ gesagt. Ich habe gar nicht hinterfragt,ob das berechtigt oder nicht berechtigt ist.Man muss zunächst einmal konstatieren, dass dieBundesregierung mit dieser Einsatzverlängerung für dieBundeswehr die deutsche Öffentlichkeit schlicht hintersLicht führt.Zunächst einmal stimmen die Begründungen in keins-ter Weise. Sie sagen, Sie kämen Erdogan gegen die syri-sche Bedrohung zur Hilfe. Dazu wurden im Wesentli-chen drei Vorfälle als Grundlage für diesen Einsatz
Metadaten/Kopzeile:
7550 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Sevim Dağdelen
(C)
(B)
angeführt, bei denen Syrien türkische Souveränität ver-letzt haben soll.Da ist zunächst einmal der Abschuss eines türkischenMilitärflugzeugs durch die Syrer. Das Erdogan-Regimesagte, der Abschuss ist über internationalem Luftraumerfolgt. Aber der NATO-Bericht äußert große Zweifel ander Version der Türkei. Darüber hat Monitor noch imvergangenen Jahr berichtet. All diese Berichte scheinenSie schlicht nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen.Zweitens führten Sie das Attentat in der Stadt Reyh-anli an. Bis heute gibt es keine Feststellung, dass Täterdie Syrer sind. Es gibt im Gegenteil jedoch zahlreicheBerichte, die in die Richtung des türkischen Geheim-dienstes weisen.Auch die dritte Begründung für diesen Einsatz, derGranatenbeschuss von türkischem Territorium durch diesyrische Armee, ist sehr zweifelhaft angesichts dessen,dass dieser Beschuss offensichtlich aus den von den Re-bellen kontrollierten Gebieten kam.Trotz dieser fragwürdigen Begründungen durch dieTürkei für diesen Einsatz bezeichnen Sie die Türkei alseinen vertrauensvollen Partner, der Solidarität und Zu-verlässigkeit verdient und dem es mit der fortgesetztenStationierung der Patriots unter die Arme zu greifen gilt.Sie gehen sogar so weit, Erdogan Besonnenheit gegen-über Syrien zu attestieren.Doch ich frage Sie von der Regierung: Verhält sichder NATO-Partner Türkei gegenüber den Menschen inSyrien tatsächlich besonnen? Im letzten Jahr griffen isla-mistische Terroristen das armenische Dorf Kassab imNorden Syriens von der Türkei aus an und zerstörtendort die christlichen Kirchen und verwüsteten das ganzeDorf. Kassab ist vom türkischen Territorium fast kom-plett umschlossen, kann man sagen. Meinen Sie deshalbwirklich, es sei der türkischen Regierung verborgen ge-blieben, dass islamistische Gotteskrieger mit schwerenWaffen von ihrem Territorium aus auf Kassab schießen?Wie wollen Sie eigentlich Ihr Attest der Besonnenheitfür Erdogan den Nachfahren der Überlebenden des Völ-kermords an den Armeniern, der sich in diesem Jahr zumhundertsten Mal jährt, erklären, die jetzt vor diesen isla-mistischen Gotteskriegern flüchten müssen, die sie vontürkischem Territorium aus angreifen?
Sie sagen jetzt: Die Türkei muss mehr gegen den Ter-ror tun. – Aber angesichts des Verhaltens der türkischenRegierung klingt dies zumindest in meinen Ohren wieblanker Hohn. Denn wie können Sie mit Ihrem Attestder Besonnenheit für das Erdogan-Regime den Men-schen in Kobane unter die Augen treten, die sich seitMonaten gegen die Angriffe des „Islamischen Staates“verteidigen? Wie erklären Sie den mutigen Frauen undMännern in Kobane, dass der NATO-Partner Türkei dieGrenze gegenüber den kurdischen Enklaven im NordenSyriens geschlossen hat, während die türkische Grenzegegenüber den vom „Islamischen Staat“ kontrolliertenGebieten offen ist? Das möchte ich von Ihnen wissen.
Sie als Bundesregierung haben sich solidarisch mitCharlie Hebdo erklärt. Gestern wurde die Veröffentli-chung der türkischen Version der Satirezeitung in derTürkei verboten, und sie wurde überall konfisziert. Wie-der einmal wurden Journalistinnen und Journalisten inder Türkei angegriffen. Dazu dürfen wir und vor allenDingen Sie als Bundesregierung nicht schweigen.
Zeigen Sie endlich, dass Sie nicht einverstanden sindmit der Repression und der Terrorförderung Erdogansund seiner Marionette – so wird Ministerpräsident Davu-toglu in der Türkei trefflich beschrieben – in Syrien.Dieser Terror schlägt jetzt eben auch nach Europa zu-rück. Dies erklärte uns der libanesische Außenministerbereits im Frühjahr letzten Jahres bei einer Reise des Au-ßenministers Steinmeier. Die Terrorförderung gegenAssad und gegen Syrien, meinte er damals, ist brandge-fährlich, weil sich der Terror irgendwann gegen Europarichten wird.
Deutsche Außenpolitik darf nicht weiter auf einerTäuschung der Bevölkerung und der Partnerschaft mitautoritären Regimen beruhen. Deshalb bitte ich Sie:Kehren Sie um! Beenden Sie endlich Ihre Nibelungen-treue zum Erdogan-Regime in der Türkei, und ziehenSie die Bundeswehr dort ab!
Als nächster Redner hat der Staatssekretär Dr. Ralf
Brauksiepe das Wort.
D
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Frau Dağdelen, erlauben Sie mir nur den ei-nen Hinweis: „Erdogan-Regime“ ist nicht die bei uns üb-liche Bezeichnung für demokratisch gewählte Staats-oberhäupter oder demokratisch gewählte Regierungen.
Wir verstehen unter „Regime“ etwas anderes.
Zum Mandat, über das wir hier heute debattieren. ImNovember des Jahres 2012 hatte unser NATO-PartnerTürkei die NATO zum Schutz seiner Bevölkerung undseines Territoriums um Unterstützung gebeten.
Dieser Bitte gingen zahlreiche Grenzverletzungen vonsyrischer Seite mit Toten unter der türkischen Zivilbe-völkerung voraus. Deswegen sollte für uns alle nachvoll-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7551
Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
(C)
(B)
ziehbar sein, dass sich unser Bündnispartner zunehmendbedroht fühlte. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Tür-kei unverändert der vom syrischen Bürgerkrieg amstärksten betroffene NATO-Verbündete ist. Deutschlandverfügt neben wenigen anderen Partnern über die erfor-derlichen Waffensysteme, die im Verbund den Schutzgegen ballistische Raketen gewährleisten können. Des-halb hatten wir uns im Jahr 2012 entschieden, ab Januar2013 zusammen mit den USA und den Niederlanden Pa-triot-Flugabwehrraketensysteme in der Türkei zu statio-nieren. Das sind die bekannten Fakten.Der Einsatz hat sich in diesen Jahren militärisch be-währt. Über die rein militärische Komponente hinaus hatdieser Einsatz auch weiter gewirkt, hat auch politisch ge-wirkt. Mit dieser solidarischen Maßnahme sind eineAusweitung der bewaffneten Auseinandersetzung überSyrien hinaus und eine Beeinträchtigung der Sicherheitder Türkei wirksam verhindert worden.Unsere Bereitschaft im Bündnis hatte auch einen wei-teren, einen abschreckenden Effekt. Er hat dem Assad-Regime nämlich deutlich die Grenzen aufgezeigt und so-mit letztlich dazu beigetragen, dass Syrien sein Chemie-waffenprogramm offengelegt hat und die Waffen dannmit vereinten Kräften der internationalen Gemeinschaftvernichtet werden konnten. Durch die von der deutschenMarine abgesicherte Vernichtung syrischer Giftgasbe-stände auf hoher See konnte das Bedrohungspotenzial indieser Region zerstört werden. Auch das ist ein wichti-ger politischer Erfolg, der erreicht worden ist, liebe Kol-leginnen und Kollegen.Die Folgen des syrischen Bürgerkriegs und der Vor-stoß der Terrormiliz IS haben starke Auswirkungen aufdie gesamte Region. Über 1,5 Millionen Flüchtlingewurden allein von der Türkei aufgenommen und verlan-gen unserem Partner große Anstrengungen ab. In dieserschwierigen Lage hat uns unser NATO-Partner erneutgebeten, im Rahmen der Integrierten Luftverteidigungder NATO türkisches Territorium und türkische Staats-bürger zu schützen. Das und nichts anderes ist der Kerndieses Mandates, über das wir hier heute erneut debattie-ren: Ein NATO-Partner hat um Hilfe gebeten.Für die Bundesregierung ist völlig klar: Bündnissoli-darität ist ein hohes Gut, ein Gut, dem gerade wir Deut-schen uns verpflichtet fühlen sollten, weil wir davonüber Jahrzehnte in besonderer Weise profitiert haben.Wir stehen zu unseren Partnern in der Allianz, und wirstehen zu unseren Zusagen. Das ist ein starkes Zeichenfür die NATO und auch für die gesamte internationaleGemeinschaft.Deswegen wiederhole ich mich noch einmal: Wennman sieht, dass es seit der Stationierung der NATO-Ra-ketenabwehr in der Türkei keine wesentlichen Grenzver-letzungen von syrischer Seite mehr gegeben hat, dannsollte die abschreckende und damit erfolgreiche Wir-kung unserer Mission für jeden Menschen guten Willensauch offensichtlich und erkennbar sein, liebe Kollegin-nen und Kollegen. Dennoch lässt sich aufgrund der fra-gilen Sicherheitslage in Syrien eine Bedrohung durchballistische Raketen – und seien es nur fehlgeleitete –und durch solche ohne chemische Kampfstoffe derzeitnicht wegdiskutieren. Deswegen ist es auch nachvoll-ziehbar, dass sich unser Bündnispartner Türkei von dendamit verbundenen Auswirkungen auch weiterhin be-droht fühlt.Für uns alle, denke ich, steht außer Frage, dass wir,wie schon bisher, mit Nachdruck an politischen Lösun-gen der Konflikte arbeiten. Das heißt aber ebenso, dasswir, wenn wir von Partnern um Hilfe gebeten werdenund wir über Möglichkeiten und Fähigkeiten verfügen,einen konkreten Beitrag zu leisten, auch mit einem sol-chen konkreten Engagement Bündnissolidarität lebenund uns als verlässlicher Partner erweisen werden.Nach wie vor sieht auch der NATO-Oberbefehlsha-ber, sieht die NATO insgesamt eine begründete Bedro-hung für die Türkei. Es besteht weiterhin ein Risiko,dem immer noch begegnet werden muss. Deshalb erklärtsich Deutschland seit zwei Jahren bereit, bis zu 400 Sol-datinnen und Soldaten in die Türkei zu entsenden. Zu-sammen mit den USA und den Niederlanden halten wirFlugabwehrraketensysteme vom Typ Patriot in der Tür-kei im Einsatz. Auch wenn die Niederlande diesen Auf-trag im NATO-Rahmen an eine spanische Patriot-Einheitweitergegeben haben, ändert sich hierbei operativ nichts.Für den Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten,liebe Kolleginnen und Kollegen, sind drei Punkte ent-scheidend:Erstens. Der Einsatz erfolgt ausschließlich zu defensi-ven Zwecken, also zum Schutz der türkischen Bevölke-rung und des türkischen Staatsgebietes.Zweitens. Der Einsatz dient nicht der Einrichtungoder Überwachung einer Flugverbotszone in Syrien. DasBundestagsmandat zieht hier eine ganz klare Grenze.Drittens. Unsere Soldatinnen und Soldaten werdendem NATO-Oberbefehlshaber unterstellt. Er ist durchden NATO-Rat beauftragt. Der Einsatz erfolgt im Rah-men der sogenannten Integrierten Luftverteidigung derNATO im Einklang mit dem dazugehörigen Verteidi-gungsplan.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann feststellen:Der Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten hat sich indiesem Jahr bewährt. Bis heute schützen wir die türki-sche Bevölkerung und das türkische Territorium erfolg-reich vor Angriffen mit syrischen Raketen, und das beihoher Akzeptanz durch die Menschen, wie ich erst vorwenigen Tagen bei einem Besuch feststellen konnte,
und unter Bedingungen, die sich durch das gute Mitei-nander mit den türkischen Soldaten, die dort eng mit unszusammenarbeiten, deutlich verbessert haben. Ichmöchte allen, den deutschen Soldatinnen und Soldatenund auch denen unserer Partner, meinen Dank und mei-nen Respekt für diesen erfolgreichen Einsatz ausspre-chen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Metadaten/Kopzeile:
7552 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
(C)
(B)
Die bereits angesprochenen Rahmenbedingungen un-seres rein defensiven Einsatzes bleiben unverändert. AlsStichwort nenne ich die Obergrenze von 400 Soldatin-nen und Soldaten, die wir bei weitem nicht erreichen.Knapp 250 Soldatinnen und Soldaten sind dort vor Ort.Unser Partner USA wird sein Engagement ebenfallsfortsetzen, und Spanien hat seine Bereitschaft zur Teil-nahme vom Ende dieses Monats an bereits beschlossen.Wir sind weiter eingebunden in ein Bündnis von Part-nern und leisten weiterhin unsere Solidarität. Deswegenbitte ich Sie um Ihre Zustimmung zur Verlängerung desMandates Active Fence Turkey für die kommendenzwölf Monate.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Jetzt hat der Kollege Dr. Tobias
Lindner von den Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten
heute zum dritten Mal über das Mandat Active Fence.
Bei jeder Beratung über dieses Mandat hat sich die Lage
in der Türkei und im türkisch-irakisch-syrischen Grenz-
gebiet elementar verändert. Deswegen ist es bei jeder
Beratung notwendig, sorgfältig zu prüfen, ob die Gründe
für dieses Mandat noch gegeben sind.
Meine Fraktion hat es sich nie einfach gemacht. Ich
erinnere mich an die erste Beratung. Genau die Gründe,
Herr Staatssekretär, die Sie eben genannt haben, die Be-
dingungen, unter denen die Patriot-Systeme stationiert
werden können – die Unterstellung unter den NATO-
Oberbefehlshaber und die Unmöglichkeit, in den syri-
schen Luftraum einzugreifen –, waren und sind für uns
elementar. Dieses Mandat muss auf das beschränkt blei-
ben, wofür es da ist, nämlich die Türkei, unseren Bünd-
nispartner, schützen zu können.
Es muss aber auch darum gehen, bei jeder Beratung
neu zu erörtern: Ist die Situation der Bedrohung noch ge-
geben? Wir haben hier eine ambivalente Situation, liebe
Kolleginnen und Kollegen: Zum einen können wir zum
Glück feststellen, dass hoffentlich alle Chemiewaffen in
Syrien vernichtet worden sind; das ist ein großer Fort-
schritt.
Wir müssen allerdings mit Bedauern feststellen, dass es
in Syrien nach wie vor ballistische Waffen gibt, die na-
türlich eine Bedrohung für die Türkei darstellen können,
und wir müssen mit noch größerem Bedauern feststellen,
dass durch das Erstarken des „Islamischen Staates“ eine
Situation eingetreten ist, die sich für mich persönlich
noch verworrener als vor einem Jahr darstellt. Deswegen
kann ich persönlich nachempfinden, dass sich der NATO-
Bündnispartner Türkei bedroht fühlt und um Hilfe gebe-
ten hat.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
DasHilfeersuchen eines Bündnispartners ist eine ernste An-gelegenheit, und es darf nur in gewichtigen Fällen dazukommen, dass man einem solchen Ersuchen nicht nach-kommt. Aber genauso möchte ich feststellen: Ein sol-ches Hilfeersuchen entbindet uns als Parlament nicht da-von, genau hinzusehen und zu prüfen: Sind Gründedafür gegeben? Vor allem entbindet es die Bundesregie-rung nicht, darauf hinzuwirken, dass man etwas gegendas Entstehen von Bedrohungen in der Region tut undmehr humanitäre Hilfe in dieser Region geleistet wird.
Wenn wir einen Bündnispartner unterstützen, dannsollten wir das nicht blind tun. Kritik an der türkischenRegierung ist an dieser Stelle nicht nur gerechtfertigt,sondern sogar geboten. Die türkische Regierung hat inden letzten zwölf Monaten nicht immer eine rühmlicheRolle in diesem Konflikt gespielt. Im Gegenteil, sie istaus meiner Sicht nicht konsequent genug gegen islamis-tischen Terror in dieser Region vorgegangen. Sie mussklarstellen, dass es weder direkte noch indirekte Unter-stützung – auch nicht durch Unterlassen – von Islamistengibt, und sie muss noch mehr Anstrengungen an den Taglegen, um den Friedensprozess mit den Kurden voranzu-treiben.
Wenn wir über dieses Mandat reden, müssen wir alsDeutscher Bundestag, gleich wie wir abstimmen, auchunsere Verantwortung gegenüber den Soldatinnen undSoldaten, die wir in diesen Einsatz entsenden, im Blickhaben. Ich sage das in Gegenwart auch des Vorsitzendendes Deutschen BundeswehrVerbandes, den ich auf derTribüne begrüßen darf. Durch meine schriftliche Fragean die Bundesregierung ist offenbar geworden, dass wirdie Zusage gegenüber den Soldatinnen und Soldaten, diesich in einen Auslandseinsatz begeben, dass sie nachvier Monaten Dienstzeit im Ausland zwanzig Monate inDeutschland ihren Dienst tun können, bei diesem Ein-satz inzwischen in über einem Drittel der Fälle nicht ein-halten können. Ich fordere deshalb an dieser Stelle dieBundesregierung auf: Wenn dieses Mandat im Bundes-tag beschlossen wird, dann müssen Sie alles, aber auchwirklich alles tun, damit wir diese Zusage gegenüber denSoldatinnen und Soldaten einhalten können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Türkei hat unsum Unterstützung gebeten. Diese Bitte müssen wir ernstnehmen und genauso ernsthaft prüfen. Wir sollten einsolches Ansinnen nur aus gewichtigen Gründen verweh-ren. Wir dürfen unsere Augen aber nicht vor einer frag-würdigen Politik und vor der Belastung unserer Solda-tinnen und Soldaten verschließen. Mit diesen Prämissenwird meine Fraktion in die anstehenden Ausschussbera-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7553
Dr. Tobias Lindner
(C)
(B)
tungen zu diesem Mandat gehen und dann in der zweitenund dritten Lesung ihre Entscheidung treffen.Ich danke Ihnen.
Als nächster Redner hat der Kollege Thomas
Hitschler das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir beraten heute über die Fortsetzung desBundeswehreinsatzes in der Türkei. Derzeit befindensich auf Bitten der türkischen Regierung etwa 260 Sol-datinnen und Soldaten der Bundeswehr im Osten unseresNATO-Partnerlandes als Teil einer NATO-Mission. Auf-trag der Bundeswehr ist in erster Linie, die Grenzregionum die Stadt Kahramanmaras mit den bodengestütztenMittelstrecken-Flugabwehrraketen Patriot zu schützen.Im Gegensatz zu den selbsternannten patriotischenAbendlandverteidigern hierzulande sind die Patriot-Sys-teme der Bundeswehr aufgrund einer realen Bedrohungdort.Infolge des grauenvollen Bürgerkriegs schossen syri-sche Regierungstruppen 2012 mehrfach über die ge-meinsame Landgrenze in türkisches Gebiet. In der Näheder Grenze liegt die Region Kahramanmaras. Allein inder Großstadt gleichen Namens leben mehr als einehalbe Million Menschen. Hinzu kommt, dass es unmit-telbar vor der Stadt ein großes Flüchtlingslager mit17 000 syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen gibt. DieseMenschen haben in dem Konflikt bereits so gut wie allesverloren.Wir müssen uns etwas vor Augen führen: Im Jahr2012 verfügte das syrische Regime über ein beträchtli-ches Arsenal an Chemiewaffen und über Mittel, dieseauf die Türkei abzufeuern. Von Kahramanmaras bis zursyrischen Grenze sind es etwa 100 Kilometer. Eine bal-listische Rakete fliegt in der Regel mit mehrfacherSchallgeschwindigkeit und überbrückt diese Distanz ineinem Augenblick. Die Menschen in und um Kahraman-maras lebten im Sommer 2012 mit der Situation, dassalles, was sie kannten, ohne Vorwarnung ausgelöschtwerden konnte. Daher bat die Regierung des NATO-Mit-glieds Türkei im Herbst 2012 um Beistand. Dieser Bitteleisteten wir Folge.Mit den Patriot-Systemen füllt die Bundeswehr ge-meinsam mit anderen Partnern eine Fähigkeitslücke dertürkischen Streitkräfte, indem sie einen aktiven Schutz-schild an der türkisch-syrischen Grenze errichtet. DieseFähigkeit, die wir als besondere Spezialität in unser ge-meinsames Bündnissystem einbringen, kann die Türkeiselbst nicht vorweisen. Man muss Hilfe leisten, wennman darum gebeten wird – das ist etwas, auf das in einerFreundschaft und in einem Bündnis Verlass sein muss.Die Patriot-Systeme der Bundeswehr sind wie dieSoldatinnen und Soldaten, die sie bedienen, in diesemBereich top. Im Militärjargon wird von einer Kill Proba-bility von mehr als 90 Prozent gesprochen. Das bedeutet,dass mit einer Wahrscheinlichkeit von über 90 Prozentein auf die Region Kahramanmaras abgefeuerter Flug-körper abgefangen werden kann. Den Menschen inKahramanmaras und im gesamten Grenzgebiet wird so-mit ein Stück weit Sicherheit zurückgegeben. Sie ver-trauen auf ihren Bündnispartner Deutschland und damitauch auf uns, liebe Kolleginnen und Kollegen.Vor ein paar Wochen hatte ich die Chance, mir in An-kara und in Kahramanmaras selbst ein Bild von der Lagezu machen. Die türkische Regierung ist dankbar für dendeutschen Beitrag und vertraut auf unsere Freundschaftund auf unsere Bündnissolidarität, so wie wir dankbarsein sollten, dass die Türkei insgesamt 1,6 MillionenBürgerkriegsflüchtlinge aus humanitären Gründen auf-genommen hat und diese schier unglaubliche Anzahl anMenschen als Gäste willkommen heißt. Auch wenn ichnicht jede innenpolitische Entwicklung in der Türkei be-grüße, ja vieles stark kritisiere: In Bezug auf die Flücht-lingsproblematik können wir der Türkei nur herzlichdanken.
Die Regierung in Ankara weiß aber auch, dass derKonflikt in Syrien noch lange nicht beigelegt ist. DieGefahr eines erneuten Raketenschlags auf türkischemBoden bleibt also bestehen. Zugegeben: Die Bedro-hungslage hat sich für die Türkei etwas verschoben. DieBitte unseres Partners bleibt aber bestehen, und sie istauch gerechtfertigt. Daher bitte ich Sie, den Wunsch dertürkischen Regierung nach einer Fortsetzung der Bun-deswehrmission sehr ernst zu nehmen.Dass es die Türkei mit der Partnerschaft innerhalb derNATO ernst meint, zeigt auch die mittlerweile gute Si-tuation unserer Soldatinnen und Soldaten vor Ort. ObUnterbringung, sanitäre Einrichtungen, Verpflegung,Zusammenarbeit mit den türkischen Streitkräften – allesscheint nach meinem Eindruck mittlerweile sehr gut zulaufen. Wir alle wissen, dass das nicht immer so war.Die Soldatinnen und Soldaten vor Ort, von denenmanche dreimal oder öfter im Rahmen von Active Fenceim Einsatz waren, verdienen ebenfalls den Respekt unddie Anerkennung dieses Hauses.
Vielleicht erinnert sich die eine oder der andere noch andie Gelben Bänder der Verbundenheit, die wir alle vorden Feiertagen unterschrieben haben. Diese Geste derVerbundenheit ist vor Ort unglaublich gut angekommen.Ich hatte die Ehre, der Truppe in Kahramanmaras einesdieser Bänder zu übergeben als Zeichen dafür, dass wirdie Soldatinnen und Soldaten nicht vergessen, dass wirnicht einsame Entscheidungen treffen und dann einmalsehen, wie sich die Lage entwickelt. Nein, ich habe vorOrt mitgeteilt, dass die Mehrheit des Deutschen Bundes-tages dankbar ist, wenn Menschen ihrem Land auch über
Metadaten/Kopzeile:
7554 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Thomas Hitschler
(C)
(B)
die Feiertage dienen, und sie dann nicht vergessen sind;ganz im Gegenteil.
Nutzen wir diese Debatte, um den Soldatinnen undSoldaten vor Ort ein klares Zeichen der Unterstützungfür den Einsatz und die gute Arbeit, die sie leisten, zusenden! Nutzen wir die Chance, unseren Freunden in derTürkei zu zeigen, dass wir an ihrer Seite stehen, wenn sieuns brauchen! Bitte stimmen Sie daher der Verlängerungdes Mandats zu.
Als nächster Redner hat der Kollege Philipp
Mißfelder, CDU/CSU, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Ich schließe mich dem Dank an die Sol-
datinnen und Soldaten, die dort wirklich hervorragende
Arbeit leisten, an. Herr Kollege Hitschler hat es schon
angesprochen: Dass die Host Nation Türkei jetzt bessere
gastgeberische Qualitäten zeigt als am Anfang, ist auf je-
den Fall beruhigend. Das Land ist ja generell dafür be-
kannt, ein sehr guter Gastgeber zu sein. Das war zu Be-
ginn der Operation allerdings nicht so. Insofern schließe
ich mich Ihrem Optimismus an, dass das so bleiben
wird.
Ich möchte zur Situation in der Türkei noch ein paar
Anmerkungen machen, weil das für den Rahmen des
Mandats nicht ganz unwichtig ist. Staatssekretär
Brauksiepe hat vorhin dankenswerterweise richtigge-
stellt, dass wir mit der Türkei sehr eng verbunden sind
und das Land als wichtigen NATO-Partner ansehen.
Frau Dağdelen, ich glaube, auch ein großer Teil der
türkischstämmigen Bevölkerung in Deutschland teilt Ihre
Einschätzung nicht. Man kann sicherlich vieles kritisie-
ren; aber Ihre einseitigen Überlegungen zur türkischen
Regierung gehören hier nicht hin. Sie können kritische
Punkte ansprechen; aber wir sollten nicht versuchen, an-
hand dieses Mandats, das durch außenpolitische Rah-
menbedingungen geprägt ist, hier im Deutschen Bundes-
tag innertürkische Debatten zu führen.
Ich bin der festen Überzeugung, dass die Türkei für
uns der Dreh- und Angelpunkt ist, wenn es um die strate-
gische Ausrichtung der Nahostpolitik oder auch der
Nordafrikapolitik Deutschlands geht. Gar keine Frage:
Wir brauchen die Türkei als verlässlichen Partner. Ge-
rade haben wir über Kurdistan im Nordirak gesprochen.
Ohne das Engagement der Erdogan-Administration hätte
Kurdistan im vergangenen Jahr sicherlich nicht eine so
gute Entwicklung genommen. Trotzdem gibt es dort na-
türlich große Probleme, auch wegen des Machtkampfs
im Nahen Osten. Ich denke dabei an die Auseinanderset-
zungen zwischen Saudi-Arabien und dem Iran und als
aufstrebende Macht auch der Türkei.
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kol-
legin Dağdelen zu?
Selbstverständlich.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Es mag sein, dass es so-
wohl in der Türkei als auch in Deutschland unterschied-
liche Ansichten über Erdogan, seine Macht und die
Strukturen gibt. Aber zu zwei Dingen möchte ich Sie
hier kurz befragen.
Erstens. Was sagen Sie zu den konkreten Punkten, die
ich in meiner Rede erwähnt habe, beispielsweise dazu,
dass der Abdruck einiger Seiten aus der Satirezeitung
Charlie Hebdo gestern verboten worden ist, die Ausga-
ben der entsprechenden Zeitungen konfisziert worden
sind und Journalisten angegriffen worden sind? Möchten
Sie dazu weiter schweigen?
Zweitens. Was denken Sie, wie man den Menschen,
die in Kobane seit Monaten gegen den IS kämpfen, er-
klären kann, dass die IS-Kämpfer in den Krankenhäu-
sern auf türkischem Territorium behandelt werden kön-
nen, aber die kurdischen Kämpferinnen und Kämpfer
vor der Grenze verbluten müssen, weil sie wegen des
Embargos nicht ins Land dürfen? – Auf diese Fragen
hätte ich gerne eine Antwort.
Als Drittes möchte ich Sie fragen, weil Ihr Kollege,
Herr Brauksiepe, ohne irgendeinen Beleg behauptet
hat, dass die Mehrheit der Bevölkerung in der Türkei
für den Patriot-Einsatz sei, ob Sie zur Kenntnis genom-
men haben, dass das bislang erst ein repräsentatives
Meinungsforschungsinstitut, der German Marshall Fund,
untersucht hat. Dieses amerikanische Institut hat im No-
vember 2012 eine Umfrage gemacht, nach der über 57
Prozent der Menschen in der Türkei gegen den Patriot-
Einsatz waren.
Wie kommen Sie oder Ihr Kollege dann dazu, ohne ir-
gendeinen Beleg zu behaupten, dass die Mehrheit der
Bevölkerung für den Einsatz sei? Bislang gibt es keine
Umfrageergebnisse in dieser Richtung.
Ich fange mit der letzten Frage an, Frau Dağdelen. Ichweiß nicht, auf welcher empirischen Grundlage die Aus-sage von Herrn Brauksiepe erfolgt ist. Ich kann nur sa-gen, dass ich in Gesprächen mit Vertretern der Türkeiden Eindruck hatte, dass der Einsatz durchaus willkom-men ist. Ich kenne die Umfrage nicht – das sage ich ganzoffen –, verweise aber darauf, dass wir bei Mandaten fürEinsätze, die wir für sinnvoll erachten, auch häufig mitUmfragewerten konfrontiert werden, die wir nicht be-friedigend finden. Militärische Aktivitäten scheinen of-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7555
Philipp Mißfelder
(C)
(B)
fenbar immer eine politische Führungsaufgabe zu sein,um es einmal so zu formulieren.Zu Ihren beiden anderen Fragen. Was die Zeitschriftangeht, habe auch ich mit großem Interesse die türki-schen Reaktionen verfolgt. Das finden wir natürlichnicht gut; das ist gar keine Frage. Die Meinung inDeutschland ist ganz klar, dass Satire definitiv zur freienMeinungsäußerung gehört. Ich möchte allerdings an die-ser Stelle bemerken, dass ich auch großen Respekt vorden Gefühlen aller Menschen habe, die gläubig sind. Dasgilt sowohl, wenn im Kölner Dom jemand Unruhe stif-tet, als auch dann, wenn in der Erlöser-Kirche in MoskauUnruhe gestiftet wird oder Mohammed aus der Sicht desGläubigen beleidigt wird. Diese religiöse Verletztheitrechtfertigt allerdings nicht, Menschen in Straflager zusperren. Sie rechtfertigt auch nicht, Menschen in die Luftzu sprengen oder zu erschießen. Das hat die türkischeRegierung aber auch nicht getan.
– Dass eine Partei in einem Land, das mehrheitlich sehrgläubig ist, versucht, gesellschaftliche Entwicklungenwie die Ausprägung des Islams, an der Sie sich bekann-termaßen stören – man kann in der Tat sehr intensiv dis-kutieren, ob die AKP auf dem richtigen Weg ist –, abzu-bilden, trägt sicherlich erst einmal zur Befriedung bei.Das ist gar keine Frage. Aber wir sind mit der Wahl derMittel der Türkei nicht einverstanden. Das machen wirauch bei jeder Begegnung mit dem Botschafter deutlich.Sie haben Kobane angesprochen. Die Situation dortzeigt, wie schwierig die Aufgabe ist. Darauf werde ichnoch im Fortgang meiner Rede eingehen.Der Einsatz ist deshalb notwendig, weil die Türkeisich innenpolitisch in einer ganz anderen Bedrohungssi-tuation befindet als wir. In jüngster Zeit hat es wiederSelbstmordattentate gegeben. Das trägt in der Türkei in-nenpolitisch zu einer aufgeheizten Stimmung bei, die beiuns, wie ich glaube, mindestens genauso groß wäre,wenn wir in Berlin, Köln oder anderswo in Ballungszen-tren mit solchen konkreten Bedrohungssituationen kon-frontiert wären. Das darf man nicht unterschätzen.Der zweite wichtige Punkt ist die grundsätzliche Aus-einandersetzung zwischen der Türkei und Syrien. Auchan dieser Stelle widerspreche ich der Türkei in vielenPunkten massiv. Denn wir dürfen die Debatte darüber,wer das kleinere Übel ist – die islamistischen Fundamen-talisten, die gegen Assad kämpfen, oder Assad selbst –,nicht führen. Auch von russischer Seite ist zu hören, dasssie Assad im Vergleich zu ISIS als das kleinere Übel be-trachten. Das darf nicht der Maßstab sein. Ähnlich istdas Argumentationsmuster der türkischen Seite, dienicht offiziell, aber durch die Blume sagt: Wir müssenmit der Opposition in Damaskus, auch wenn sie nichtgemäßigt sein sollte, zusammenarbeiten, um Assad, denschlimmeren Schlächter, auszuschalten. – Das darf nichtMaßstab unserer Politik sein, und das ist es auch nicht.Aber es zeigt die Komplexität dieses Konflikts. DieFeststellung, dass es keinen Frieden mit Assad gebenwird – das habe ich selbst mehrmals gesagt, und das ha-ben auch Vertreter der Regierung zur Genüge getan –und dass nur eine Friedenslösung ohne Assad vorstellbarist, ist so nicht mehr zu halten. Die Situation hat sichverändert. Des Weiteren hat sich die Opposition, die dieTürkei anfangs tatkräftig unterstützt hat, in eine so nega-tive Richtung entwickelt, dass man sich eigentlichwünscht, dass keine der beiden Seiten die Macht erhältbzw. behält. Vor diesem Hintergrund ist die Komplexitätdes Syrien-Konflikts auf jeden Fall gegeben.Nichtsdestotrotz sage ich, dass ein politischer Prozessmit unzähligen Gesprächen, den wir nach wie vor anstre-ben, auch wenn sich der Fokus der Öffentlichkeit ver-schoben hat, richtig ist. Wir müssen mit der Türkei engund vertrauensvoll zusammenarbeiten. Insofern bewerteich den Besuch des türkischen Ministerpräsidenten inBerlin zu Beginn dieser Woche als Erfolg. Wir solltenunseren Weg fortsetzen. Die Verlängerung des Mandatsist richtig.Herzlichen Dank.
Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege
Florian Hahn, CDU/CSU, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir sollten uns die Situation der Türkei und ihrer Bevöl-kerung noch einmal deutlich vor Augen führen. Derüberwiegende Teil der Außengrenzen der Türkei istnicht gerade von Sicherheit und Stabilität gekennzeich-net. 900 Kilometer Grenze zu Syrien und 350 KilometerGrenze zum Irak zeigen das. Hunderttausende Flücht-linge sind inzwischen über diese Grenzen in die Türkeigeflohen, geflüchtet vor dem Bürgerkrieg und der barba-rischen Daesh, die auf bestialische Weise mordet undvergewaltigt; wir alle kennen die Bilder. Vor diesemHintergrund kann ich verstehen, dass die Türkei und vorallem ihre Bevölkerung ein riesiges Sicherheitsbedürfnishaben, das sich die meisten von uns nicht vorstellen kön-nen. Vielleicht hilft uns die Erinnerung an die Zeit vor1990, als gerade wir Deutsche ein solch großes Bedürf-nis nach Sicherheit und Stabilität hatten.Wir müssen und wollen als verlässlicher Partner inder NATO der Türkei in dieser Situation weiterhin zurSeite stehen und sie unterstützen. Wir haben deswegenvor zwei Jahren das Mandat Active Fence zum erstenMal auf den Weg gebracht. Hintergrund war die mögli-che Bedrohung der Türkei durch Kurzstrecken- und Mit-telstreckenwaffen sowie durch chemische Waffen ausdem Bürgerkriegsgebiet Syrien. Deshalb haben wir ge-meinsam mit unseren Freunden aus den Niederlandenund den Vereinigten Staaten mit dem Patriot-System ei-nen Schutzschild aufgebaut. Wir waren uns schon da-mals einig, dass das Risiko eines syrischen Angriffsnicht sehr hoch ist. Inzwischen hat sich dieses Bedro-hungsszenario verändert. Nach meiner Einschätzung hat
Metadaten/Kopzeile:
7556 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Florian Hahn
(C)
(B)
sich das Risiko verringert. In den letzten zwei Jahrenwurden keinerlei ballistische Angriffe auf die Türkei un-ternommen. Die chemischen Waffen konnten wir inzwi-schen gemeinsam weitestgehend vernichten.Verstehen Sie mich nicht falsch: Gerade mit Blick aufdas vorhin skizzierte Sicherheitsbedürfnis der türkischenBevölkerung halte ich einen plötzlichen und überstürz-ten Abzug der Patriot-Systeme für nicht richtig; das wäreein falsches Zeichen. Allerdings sollten wir das kom-mende Jahr nutzen, um in enger Abstimmung mit unse-rem Bündnispartner Türkei zu klären, ob man wirklichnoch von einer Bedrohung durch Raketen ausgehen kannoder ob wir nicht auf andere Weise eine viel nützlichereUnterstützung anbieten können. Schließlich bedeutet einsolcher Einsatz, der uns pro Jahr 20 Millionen Euro kos-tet, gerade für unsere Soldatinnen und Soldaten einenicht zu unterschätzende Belastung. Die meisten der aufdem Patriot-System ausgebildeten Soldaten müssen je-des Jahr – der Kollege Lindner hat das schon dargelegt –für mehrere Monate in die Türkei in den Einsatz, wegvon zu Hause, weg von der Familie. Wenn dieser Einsatzdann sicherheitspolitisch kaum noch einen Nutzen hat,ist er langfristig nicht mehr darstellbar. Zudem werdenerhebliche Fähigkeiten im Bereich der Luftverteidigungdurch diesen Einsatz gebunden. Die Möglichkeit derNATO, auf andere Szenarien zu reagieren, ist damit starkeingeschränkt. Für die Türkei als wirtschaftlich aufstre-bende und erfolgreiche Nation in einer unruhigen Re-gion wäre vielleicht mittelfristig der Aufbau eigener Ka-pazitäten im Bereich der bodengebundenen Luftabwehrratsam.Inzwischen haben 1,7 Millionen Menschen Zufluchtin der Türkei gesucht. Ihre Unterbringung und Versor-gung ist für den türkischen Staat eine unglaubliche He-rausforderung. Ich kann mir vorstellen, dass wir als Part-ner bei der Bewältigung dieser Herausforderung vor Ortin der Türkei noch viel hilfreicher sind als mit unserenPatriot-Systemen in Kahramanmaras.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/3698 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:Beratung des Antrags der AbgeordnetenFriedrich Ostendorff, Nicole Maisch, ChristianKühn , weiterer Abgeordneter undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDie Zukunft der Tierhaltung – Artgerechtund der Fläche angepasstDrucksache 18/3732Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung und LandwirtschaftNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazukeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, sich zu setzenbzw. ihre Gespräche außerhalb des Saals fortzusetzen.Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hatFriedrich Ostendorff, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Die Agrarier wollenzur Eröffnung der Grünen Woche; deshalb herrscht eingewisser Zeitdruck, dass ihr, Kolleginnen und Kollegen,die Plätze einnehmt.Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin be-sorgt, besorgt und erbost. In den vielen Jahren und Jahr-zehnten, in denen ich mich agrarpolitisch engagiere,habe ich schon sehr viel erlebt. Diskurse können hart,müssen aber immer sachlich geführt werden. Das Maßder unsachlichen Feindseligkeit hat dieser Tage Aus-maße angenommen, die auch mich überrascht haben.Die Grünen redeten, so der Generalsekretär des Deut-schen Bauernverbands, Herr Krüsken, über Landwirte„wie Pegida über Ausländer“.
Solche Äußerungen, liebe Kolleginnen und Kollegen derCDU/CSU, gehen eindeutig zu weit. Derartig furchtbareVergleiche verbitte ich mir aufs Schärfste.
Wer sich sprachlich auf dieses unterirdische Niveau begibt,der diskreditiert sich als Gesprächspartner für konstruktiveDiskussionen, den lassen wir Grüne in Zukunft allein dieGräben ausheben und vertiefen.Wir Grüne sind für die Landwirtschaft, für lebendigeländliche Räume, für artgerechte Tierhaltung und vor al-len Dingen für eine Situation für die Bäuerinnen undBauern, in der sie sorgsam und nachhaltig mit Bodenund Tieren umgehen können und angemessen dafür ent-lohnt werden.
Die Agrarpolitik der CDU/CSU hat die Landwirt-schaft jedoch in eine Sackgasse geführt. Von den zahlrei-chen Missständen will ich exemplarisch drei aufführen.Ich könnte noch 20 andere hinzufügen; aber dazu fehltdie Zeit.Erstens. 5 Prozent der Betriebe bekommen rund42 Prozent der EU-Direktzahlungsansprüche – das sind2,4 Milliarden Euro Steuergeld – pro Jahr. Dabei wäregenug Spielraum auf nationaler Ebene gewesen, dieseGelder in den Erhalt und die Förderung der ländlichenRäume zu investieren. Doch Sie als Bundesregierung ha-ben sich anders entschieden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7557
Friedrich Ostendorff
(C)
(B)
Zweitens. Allein die Region Weser-Ems, beispielhaftfür viele andere Veredelungsregionen in Nordwest-deutschland, produziert einen Gülleüberschuss für250 000 Hektar Ackerland. Die Flächen sind mit Nähr-stoffen überlastet, das Grundwasser erst recht.Drittens. Durch die Exportorientierung der Bundesre-gierung sind die Erzeugerpreise deutlich volatiler gewor-den. Die Bauern werden zu Produktionssteigerungenverleitet, die der Weltmarkt in Kürze nicht mehr aufneh-men kann und auch heute schon nur noch bedingt auf-nimmt. Das ist keine nachhaltige Politik.Das sind Missstände, die alle Bäuerinnen und Bauernbewegen.
Zeitgleich mit der nicht mehr verkraftbaren Intensi-vierung der Landwirtschaft wird der Preisdruck auf dieTierhalter dermaßen verschärft, dass sie gezwungensind, ihre Tierbestände über ein selbst gewolltes Maß hi-naus zu vergrößern. Tierhalter wollen ihre Tiere anstän-dig behandeln; aber bei einem Schweinefleischpreis von1,25 Euro pro Kilo wird das sehr schwierig. Bäuerinnenund Bauern sind keine verrohten Tierquäler, nur weilkein Bio-Logo am Hoftor klebt. Doch die ökonomischenZwänge sind zum Teil so stark, dass die Gefahr besteht,Abstriche beim Tierschutz zu machen, um die Rentabili-tät und das Familieneinkommen zu sichern. Liebe Kolle-ginnen und Kollegen, das ist das politische Problem.
Wenn eine Stalleinheit aus knapp 40 000 Hähnchenbestehen muss und die Tiere in 33 Tagen schlachtreifsein müssen, da die Tierhaltung sonst nicht mehr renta-bel ist, dann gibt es viele Fragen, Fragen, die auch wir zulösen haben. Minister Schmidt hat vor wenigen Tagengesagt – er sagt ja manchmal auch bemerkenswerteDinge –: „Ab einer bestimmten Größe stoßen die Betreu-ungsmöglichkeiten an ihre Grenzen.“
Wie wahr! Deshalb ist der Strukturwandel keine zu be-grüßende Entwicklung, sondern ein Verlust, ein Verlustfür den ländlichen Raum, ein Verlust für den landwirt-schaftlichen Mittelstand und den Tierschutz. Dem müs-sen wir entgegenwirken.
Die Entwicklung zu immer größeren Anlagen inKombination mit einem schon unanständigen Preisdum-ping bei tierischen Produkten, Nitrat und Phosphat imGrundwasser und antibiotikaresistenten Keimen imFleisch und im Stall führen zu einem wachsenden Unbe-hagen der Bevölkerung gegenüber dem, was in den ab-geschotteten Tierhaltungsanlagen zwischen Nordsee undRuhrgebiet passiert.Dieses Unbehagen werden übermorgen wieder vieleTausend Demonstrierende unter dem Motto „Wir habenes satt!“ auf die Straßen von Berlin tragen. Diese Men-schen sind keine Bauernhasser. Diese Menschen mögendas Land; sie mögen die Natur. Sie wollen hochwertigeLebensmittel von artgerecht gehaltenen Tieren, die fürihre Ställe nicht zurechtgestutzt und nicht mit Antibio-tika gepusht werden. Ihre und unsere Aufgabe, liebeKolleginnen und Kollegen, ist es, diese beiden Gruppenzusammenzubringen, endlich eine Diskussion aufzuneh-men, wie wir in Zukunft in Deutschland Landwirtschaftbetreiben wollen, ob wir die Lieferanten für China seinwollen und die chinesischen Milchbauern in den Ab-grund schicken wollen oder ob wir hier, angepasst an dieBedürfnisse unserer europäischen Bevölkerung, produ-zieren wollen.Die Feindseligkeit aber, die von Ihnen, von CDU undCSU, teilweise beschworen wird,
gibt es in dieser Form gar nicht. Sie verhindert konstruk-tive Entwicklungsprozesse hin zu einer tier- und um-weltverträglichen nachhaltigen Landwirtschaft, vor allenDingen mit fairen Preisen für alle Beteiligten.Wenn Sie weiterhin nur die Klientelpolitik des Bau-ernverbandes umsetzen, die für die größten 5 Prozent derBetriebe auf dem Rücken des bäuerlichen Mittelstandsausgetragen wird, dann machen Sie eine Politik gegendie Landwirtschaft, eine Politik gegen lebendige ländli-che Räume, eine Politik gegen artgerechte Tierhaltungund vor allen Dingen eine Politik gegen die Masse derBäuerinnen und Bauern.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Dieter Stier, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Termingerechtzum heutigen Beginn der 80. Internationalen GrünenWoche in Berlin starten Sie, liebe Kolleginnen und Kol-legen von Bündnis 90/Die Grünen, mit Ihrem Antragabermals den Versuch, einen Generalangriff auf die deut-sche Land- und Ernährungswirtschaft zu reiten.
Nun könnte man als Agrarpolitiker ja froh sein, dasswir diese Landwirtschaftsdebatte am Nachmittag undnicht fünf Minuten vor Mitternacht in diesem HohenHause führen. Man könnte das, wenn Sie diese Debattenicht abermals zeitgleich mit dem Besuchs- und Ge-sprächswunsch von zwei EU-Kommissaren und dem Er-öffnungsabend der Internationalen Grünen Woche, demgrößten Ereignis der Branche in unserem Land, termi-nieren würden.
Ich bin der Meinung, dass wir zu diesem Zeitpunkt alsAgrarpolitiker des Gastgeberlandes für diese Gesprächezur Verfügung stehen sollten. Ich hielte das für unser
Metadaten/Kopzeile:
7558 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Dieter Stier
(C)
(B)
Land, für Europa und für die Lösung der auch von Ihnenangesprochenen Themen für sehr wichtig.
Mit dem von den Oppositionsfraktionen heute gewähltenDebattenzeitpunkt machen Sie das jedoch zum wieder-holten Male teilweise unmöglich. Ich finde das nichtredlich.Ich will zunächst aber den heutigen Abend, den un-mittelbar bevorstehenden Eröffnungsabend der GrünenWoche in unserer Hauptstadt, zum Anlass nehmen, michim Rahmen dieser Debatte bei allen in der Branche Täti-gen dafür zu bedanken, dass sie 365 Tage im Jahr, egalob Wochentag, Sonntag oder Feiertag, für ihre Tiere sor-gen, sowie dafür, dass sie den ländlichen Raum pflegenund die Verantwortung dafür übernehmen, dass die Men-schen in unserem Land und in Europa satt sind.
Ich hätte mir gewünscht, dass Sie sich fraktionsübergrei-fend diesem Dank anschließen können und nicht geradeheute mit neuen Forderungen an die Branche auftreten.Ich verhehle nicht, meine Damen und Herren, dassich mir auch wünschen würde, dass die Medien in unse-rem Land gerade anlässlich der Grünen Woche dieseWertschätzung vermehrt erkennen ließen und über diefleißige Arbeit vieler in der Branche Tätiger berichtenwürden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ARD-Morgen-magazin – die ARD ist immerhin ein gebührenfinanzier-ter öffentlich-rechtlicher Sender –
berichtet heute, dass ausgerechnet Berlin sich zum Zen-trum der veganen Szene entwickelt.
Statt anlassbezogen über einen bäuerlichen Betrieb oderüber einen Betrieb der Ernährungsbranche zu senden– dabei ist mir, lieber Kollege Ostendorff, der konventio-nell produzierende genauso wichtig wie der Biobetrieb –,wurde heute Morgen im Ersten Deutschen Fernsehen be-richtet, dass man mittlerweile auch eine vegane Leder-peitsche im Sexshop erwerben könne, welche aus altenFahrradschläuchen hergestellt werde.
Mir zumindest fehlt dafür jedes Verständnis.Beim Lesen Ihres Antrags habe ich festgestellt: Ichstimme immerhin damit überein, dass der Viehbesatz inmanchen Regionen vielleicht zu hoch ist und dass wirdarüber diskutieren sollten. Sie suggerieren aber, dassdas flächendeckend so sei, und das ist einfach falsch.Deshalb lehne ich auch die Einführung von Obergrenzenab.Mein Heimatbundesland Sachsen-Anhalt weist alsFlächenland heute einen deutlich geringeren Viehbesatzauf als vor 25 Jahren. Es gäbe hier genügend weitereMöglichkeiten, durch Tierhaltung und Veredelung Wert-schöpfung und damit Arbeitsplätze im ländlichen Raumzu schaffen. Sicherlich gibt es in einigen Fällen auchMissstände – das bestreiten wir überhaupt nicht –, aberunsere Tierschutzgesetzgebung ist heute schon – nichterst seit der Novelle des Tierschutzgesetzes, die wir inder letzten Legislaturperiode auf den Weg gebracht ha-ben – auf einem hohen Niveau, und sie ermöglicht denLandesbehörden auch einen entsprechenden Vollzug imSinne der Tiere. Dieser Rechtsvollzug muss stattfinden.Auch hier beweist das Land Sachsen-Anhalt am Beispieldes Falls Straathof, dass es dazu in der Lage ist.
Wenn ich nun einige Forderungen aus Ihrem Antragherausgreife, dann stelle ich fest, dass diese teilweiseauch nicht schlüssig sind, wenn es um einen verbesser-ten Tierschutz geht. Mir erschließt sich nach wie vornicht, warum Sie einem Tier innerhalb von Deutschlandin einem meist hochmodernen Transportfahrzeug nur ei-nen vierstündigen Transport zumuten wollen, im euro-päischen Maßstab aber für acht Stunden plädieren.Ich komme zu einer weiteren Feststellung aus IhremAntrag. Auch ich bin der Meinung: Es muss nicht täglichFleisch in der Ernährung sein.
Ich schätze jeden, der das anders sieht, kann und willaber niemandem seine Art und Weise der Ernährung vor-schreiben.Nun zu weiteren Inhalten Ihres Antrags. Sie schilderndie Welt der Landwirtschaft in den düstersten Farben,die man sich nur vorstellen kann: Konsumenten würdenkonventionell erzeugtes Fleisch rundweg ablehnen;Tierhaltung fände nur in drangvoller Enge statt; derlandwirtschaftliche Alltag bestünde ausschließlich ausTierleid, verseuchten Böden, vergifteten Gewässern undverpesteter Luft. Das ist Ihr verhängnisvolles Zerrbildder Realität.Meine Damen und Herren, Sie stellen den gesamtenAntrag unter den Leitgedanken der artgerechten Tierhal-tung.
Der Notwendigkeit einer solchen stimme ich zu. Wir allesind uns darüber einig, dass unsere Nutztiere vernünftiggehalten werden sollen. „Vernünftig“ bedeutet in erster
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7559
Dieter Stier
(C)
(B)
Linie „artgerecht“. Selbstverständlich muss es für dieUmsetzung artgerechter Haltungsbedingungen auch ver-nünftige Kriterien geben. Diese erachte ich durch unserebestehenden Gesetze und Verordnungen, aber auchdurch politische Initiativen als schon ausreichend vor-handen.Natürlich kann man darüber hinausgehende Forde-rungen entwickeln. Die müssen sich aber immer amMaßstab der Praxistauglichkeit messen lassen. Hierzubleibt Ihr Antrag gute Ideen schuldig. Was Sie zu bietenhaben, ist, wie immer, nichts Neues,
eine üppige Sammlung alter Forderungen im aggressi-ven Gewand restriktiver Instrumente.
Durch Ihre Diktate, Zwangsverpflichtungen und Be-schränkungen wäre die Landwirtschaft in Deutschland invielen Fällen nicht mehr handlungsfähig.Dass wir nicht den Regulierungsmethoden von ges-tern anhängen und trotzdem den Tierschutz in der land-wirtschaftlichen Nutztierhaltung konsequent stärken, dashaben wir mit unserer Tierwohl-Initiative, für die ichMinister Christian Schmidt außerordentlich dankbar bin,unter Beweis gestellt. Wir werden mit dieser dasTierwohl weiter stärken. Es wird Mitte des Jahres ersteErgebnisse beim Prüf- und Zulassungsverfahren für seri-enmäßig hergestellte Stalleinrichtungen geben.Lassen Sie mich gegen Ende meiner Rede auch nocheinmal Ihr negativ aufgeladenes Bild der Landwirtschaftaufhellen und richtigstellen. Landwirtschaftliche Unter-nehmer sind nicht der Gegner ihrer eigenen Nutztiere,sondern haben stets ein persönliches Interesse an einerartgerechten Tierhaltung. Deswegen setzen sie auchMaßnahmen zu dieser um. Zur Nutztierhaltung gehörtaber dennoch eine unabdingbare Tatsache, der man sichstellen muss: Nutztierhaltung bedingt immer einen aus-gewogenen Kompromiss zwischen den Bedürfnissen derTiere einerseits und den wirtschaftlichen Anforderungender Menschen andererseits. Nur vor diesem Hintergrundkann auch eine artgerechte Tierhaltung von Nutztierenverstanden werden. Diese Einsicht kann ich bei Ihnen je-doch leider nicht erkennen. Ihr vorliegender Antragbleibt daher auch bei mehrmaliger Betrachtung nichtsweiter als die Aneinanderreihung der gescheiterten An-tragsversuche der letzten Jahre.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschlie-ßend feststellen: Wenn jährlich deutlich mehr als410 000 Besucher der Internationalen Grünen Wochemit unserer Landwirtschaft und unserem ländlichenRaum zufrieden sind, dann können wir keine soschlechte Agrarpolitik gemacht haben. Nachdem Sieheute ja noch aufs Demonstrieren zu sprechen gekom-men sind, was zurzeit groß in Mode ist, und darauf ver-wiesen haben, dass es am Samstag eine Demo unter demMotto „Wir haben es satt!“ gibt, Herr Ostendorff, sageich Ihnen: Es gibt auch eine Demo unter dem Motto„Wir machen Euch satt“. Ich werde zu der zweitenDemo gehen.Vielen Dank.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Dr. Kirsten Tackmann, Fraktion Die Linke.
Ich glaube, bei uns allen dreht sich das Kopfkino jetztnoch um die vegane Lederpeitsche.
Aber kommen wir zurück zum eigentlichen Thema:Früher haben wir Agrarpolitiker uns ja oft beschwert,dass die Debatten erst so spät in der Nacht stattfandenund vielfach überhaupt nicht beachtet wurden. Heutegibt es gleich drei Agrardebatten an einem Tag: eine amhelllichten Vormittag und zwei noch vor dem Sand-männchen. Also ich finde, das ist ein großer Fortschritt.
Die Diskussionen zur Zukunft der Landwirtschaftsind ja richtig und wichtig. Es ist gut, dass es vielennicht gleichgültig ist, wer die Lebensmittel wo und wieproduziert. Es ist auch gut, dass am kommenden Sonn-abend friedlich demonstriert wird, weil moralische undethische Werte und auch die natürlichen Lebensgrund-lagen bedroht sind. Demokratie lebt doch von Mei-nungsvielfalt und Einmischung. Ich als Linke habe esauch satt, dass Geld die Welt immer mehr regiert.
Nur der Ton der Debatte ist mir manchmal etwasschrill. In einer Welt der Reizüberflutung muss manmanchmal zuspitzen; das ist richtig. Aber auch dannkann und muss die Kritik sachlich bleiben. Das gilt füralle Seiten, auch für den Bauernverband. Wenn seinGeneralsekretär wirklich gesagt hat: „Teile der Grünenreden über Landwirtschaft wie Pegida über Ausländer“,dann hat er sich, wie ich finde, im Ton vergriffen undsollte das zurücknehmen.
Die Kritik ist aber leider oft auch etwas einseitig. Ja,auch die Landwirtschaft muss sich bewegen und mussumdenken. Ich erlebe aber in den Betrieben sehr viel
Metadaten/Kopzeile:
7560 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Dr. Kirsten Tackmann
(C)
(B)
mehr davon als in Lobbyistenkreisen oder bei den Funk-tionären. Gerade als Tierärztin finde ich das Prinzip ganzwichtig, dass die Haltungsbedingungen an die Bedürf-nisse der Tiere angepasst werden und nicht umgekehrt.Das gilt übrigens auch für Heim- und Haustiere. Ichfinde es auch gut, dass mein eigener Berufsstand, der derTierärzte, sich unterdessen sehr intensiv in die Debatteeinbringt.Gerade als Linke will ich aber, dass sich die Kritikvor allem an die richtet, die von dem jetzigen Systemprofitieren, also zuallererst an Supermärkte, die Lebens-mittel billig verschleudern und selbst dabei satte Ge-winne einstreichen, denen egal ist, ob die Erzeugerpreiseauch die Erzeugerkosten decken. Ich finde, das könnenwir als Gesetzgeber nicht dulden.
Deshalb gehört eine gerechtere Gewinnverteilung vomStall bis zum Supermarkt in diese Debatte. Dann müssenLebensmittel auch nicht zwangsläufig teurer werden,wenn Tiere unter besseren Bedingungen gehalten wer-den. Als Linke sage ich auch ganz klar: Ich möchte nichtnur über das Wohl der Tiere in den Ställen diskutieren,sondern auch über das Wohl der Menschen, die sie be-treuen.
Sie sollen gut ausgebildet sein. Sie sollen fair bezahltwerden. Auch ihre Arbeitsbedingungen müssen sich ver-bessern.
Der öffentliche Druck ist unterdessen sehr erfolg-reich. Wir haben Bewegung in die Diskussion gebracht,auch im Bundestag. Vielleicht nicht bei Herrn Stier, abersonst durchaus. Selbst Kollege Holzenkamp von derUnion sagte gestern öffentlich, dass sich die Landwirt-schaft neu denken muss. Auch er äußert kartellrechtlicheBedenken gegen die Marktdominanz von vier großenSupermarktketten. Auch die Initiative Tierwohl der Le-bensmittelbranche ist doch eine Reaktion auf den öffent-lichen Druck.Der Bundesagrarminister beharrte zwar gerade in ei-nem Interview mit der Märkischen Oderzeitung darauf,Deutschland brauche keine Agrarwende, aber zwei Sätzespäter sagt er: „Allerdings betrachte ich Megaställe, indenen niemand mehr den Überblick hat, mit Sorge.“ Ichfinde: Auch seine Seele kann noch gerettet werden.
Apropos Megaställe: Die Linke hat bereits im Juni2014 einen Antrag in den Bundestag zu diesem brennen-den Problem eingebracht. Wir fordern unter anderem,die Größe von Tierbeständen am Standort und in Regio-nen zu deckeln. Um nicht wieder falsch verstanden zuwerden: Es geht nicht darum, dass kleinere oder größereBestände mehr oder weniger Tiergesundheitsproblemehaben. Aber wir wollen keine 40 000 Schweine oder400 000 Hähnchen an einem Standort,
erst recht nicht, da wir wissen, dass im Fall einer Tier-seuche, zum Beispiel der Schweinepest oder der Vogel-grippe, alle Tiere vorsorglich getötet werden müssen.Das ist nicht zu verantworten.
In der Debatte im Juli 2014 gab es noch viel Kritik andiesem Vorschlag. Unterdessen wird sehr ernsthaft undbreit darüber diskutiert, ob solche Bestandsobergrenzennicht doch gebraucht würden. Auch dort haben wir inder Debatte etwas bewegt. Heute legen die Grünen einenumfangreichen Katalog von Vorschlägen vor. Ich finde,dass dieser Katalog eine intensive Behandlung verdient.Dort stehen viele Dinge, die wir teilen; vielleicht nichtalle. Aber ich finde, diese Diskussion muss jetzt weiter-gehen. Vielleicht kann sie etwas sachlicher und fachli-cher stattfinden. Ich hoffe da auf die SPD.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Christina Jantz, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Rechtzeitig zurGrünen Woche beglücken uns die Bündnisgrünen mit ei-nem Antrag zur Zukunft der Tierhaltung, die artgerechtund der Fläche angepasst sein soll.
Die Überschrift ist gut. Inhaltlich kommt der Antrag anvielen Stellen über bloße Symbolforderungen leidernicht hinaus; sei es drum.Sie kennen mich, meine Damen und Herren, und wis-sen, dass ich gerne die Gelegenheit nutze, um über denTierschutz zu sprechen. Mit schlichten Forderungenkommen wir nämlich nicht weiter, sondern nur mit einervernünftigen Agrar- und Tierschutzpolitik, die nicht stig-matisiert, sondern alle Beteiligten mitnimmt. Als Tier-schutzbeauftragte meiner Fraktion freue ich mich, dasses uns gelungen ist, dem Tierschutz in der Koalition undin der Regierung Gehör zu verschaffen.
Gute Tierschutzpolitik geht einher mit guter Agrarpoli-tik, Verbraucherpolitik, Arbeits- und Sozialpolitik undnatürlich mit dem Umweltschutz.Lassen Sie mich an dieser Stelle einige Punkte he-rausgreifen, die wir im Bereich des Tierschutzes im Rah-men eines breiten Dialoges mit allen Beteiligten bereitsangeschoben haben und umsetzen werden. Bereits seit
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7561
Christina Jantz
(C)
(B)
Jahren ist es unser erklärtes Ziel, die Haltungsbedingun-gen von Tieren zu verbessern. Ich zum Beispiel kann dieBilder von grausamen Bedingungen in Mastställen, dieimmer wieder im Fernsehen flimmern, nur sehr schwerertragen. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber wirmüssen endlich etwas tun. Die Haltungsbedingungensind den Tieren anzupassen und nicht die Tiere passendzurechtzustutzen wie beispielsweise durch das Kupierenoder dem Abkneifen von Schnäbeln.
Hier gibt es sicher nicht nur eine Lösung. So einfach istes leider nicht. Die Haltungsbedingungen müssen insge-samt angepasst und optimiert werden.Wozu eine völlig artfremde Tierhaltung führt, sehenwir beispielsweise in der Putenmast. Die Tiere werdenauf engstem Raum zusammengepfercht und gemästet.Damit die Tiere dies überhaupt überleben und so schnellwachsen, werden oftmals Antibiotika eingesetzt. Dasheißt, wollen wir den kritisierten Antibiotikaeinsatz tat-sächlich reduzieren, müssen sich insbesondere die Hal-tungsbedingungen ändern und müssen wir den Tierenmehr Platz für ein gesundes und artgerechtes Leben bie-ten. Damit sage ich nicht, dass ich für ein generelles An-tibiotikaverbot bin. Wenn Tiere krank sind, müssen sieselbstverständlich behandelt werden. Antibiotika dürfenaber kein Mittel sein, um artfremde Haltungsbedingun-gen zu ermöglichen.Dennoch teilen mir viele Putenhalter mit, dass sie ge-zwungen sind, die Tiere wie beschrieben auf engemRaum zusammenzupferchen. Der Preis, den sie pro Tiererzielen, ist zu gering, um andere Haltungsbedingungenumsetzen zu können. Das Fleisch wird vom Einzelhan-del nämlich größtenteils als Sonderangebot verkauft, seies an der Fleischtheke oder als Bestandteil von Wurst,Fertiggerichten und, und, und. Ich fordere daher dasMinisterium, aber auch uns alle auf, nach Möglichkeitenzu suchen, diesen viel zu sehr ausgeweiteten „Sonder-angeboten“ zu begegnen.
Wie wir feststellen, reichen freiwillige Bekenntnisseund öffentliche Diskussionen nicht immer aus; es bedarfdoch des motivierenden Drucks des Gesetzgebers, wiebeispielsweise bei dem von uns auf den Weg gebrachtenPrüf- und Zulassungsverfahren für Tierhaltungssysteme.In einem ersten Schritt wollen wir die Haltung von Lege-hennen verbessern. Die Erfahrungen damit sollen direktgenutzt werden, um die Bedingungen für weitere Tier-arten zu verbessern. Natürlich dürfen die Vorgaben keineInvestitionen hemmen, und dennoch müssen sie zu ech-ten Verbesserungen führen und Rechtssicherheit für Her-steller und Landwirte schaffen.Wir sind uns mit dem Landwirtschaftsminister einig,dass wir die erforderlichen gesetzlichen Anpassungenauf nationaler Ebene vornehmen müssen. Aber auch aufeuropäischer Ebene müssen wir um Mitstreiter werbenund die Vorhaben vorantreiben. Auch deshalb haben wiruns seitens der SPD-Fraktion im letzten Jahr mit Exper-ten aus dem europäischen Ausland sowie Vertretern derVerbände und NGOs zu genau diesem Thema ausge-tauscht: Verbesserung der Tierhaltung.Aus meiner Sicht lässt sich eine gute Tierhaltungnicht auf die Anzahl der in einem Stall gehaltenen Tierereduzieren. Für mich ist vielmehr das Wie entscheidend.Die Gespräche und Erfahrungen zeigen ganz deutlich:Nur im Dialog gelangen wir zu besseren Haltungsbedin-gungen. Wir wollen keine Schnellschüsse. Wir wollentragfähige Entscheidungen. Wir wollen spürbare Verbes-serungen für die Tiere, keine bloße Deckelung des Be-standes. Denn was bringt es einer Kuh, wenn sie zwarnur mit 15 weiteren Kühen im Stall steht, dafür aber an-gebunden ist?
Ich stimme mit Ihnen überein, dass wir auch aufgrundder Emissionsproblematik nachsteuern müssen; das wirdmeine Kollegin Rita Hagl-Kehl gleich weiter ausführen.Auch hier brauchen wir gut durchdachte Lösungen, dennsonst spielen wir mit dem Vertrauen in die Versorgungs-sicherheit und mit der Existenz vieler Bauern in diesemLand. Wir brauchen die Landwirte, denn auch sie sindwichtige Experten, wenn es um Verbesserungen in derTierhaltung geht. Ich stehe für einen offenen Dialog mitallen Beteiligten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen denTierschutz messbar verbessern. Das heißt auch, dass wirIndikatoren entwickeln müssen, die hierüber Auskunftgeben. Auch dafür muss die Forschung für eine moderneLandwirtschaft und im Sinne des Tierschutzes gestärktwerden. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich for-dere nicht ein bloßes Mehr an Geldern für die For-schung. Vielmehr müssen die Forschungsprojekte undihre Zielsetzungen aufeinander abgestimmt werden undzwischen dem Bund und den Ländern besser koordiniertwerden, die Ergebnisse zusammengeführt und transpa-rent dargestellt werden.Meine Damen und Herren, packen wir es weiter an,im Sinne des Tierschutzes!Herzlichen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Thomas Mahlberg, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! In meiner Heimatstadt Duis-burg gibt es seit 50 Jahren ein Delfinarium. Die Duisbur-ger waren große Pioniere in Mitteleuropa, wenn es umdie Delfinhaltung geht. Die Zuchterfolge und der Besu-cherzuspruch im Delfinarium im Zoo Duisburg sprechen
Metadaten/Kopzeile:
7562 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Thomas Mahlberg
(C)
(B)
für sich. Trotzdem versuchen Tierschützer und auchviele Grünen-Politiker, den Delfinarien den Garaus zumachen.
Die Delfinhaltung war schon in der vergangenenWahlperiode ein großes Politikum. In einer Anhörungdes Ausschusses – das habe ich noch einmal nachgelesen –haben sich die meisten Sachverständigen für die Delfin-haltung ausgesprochen. Auch im Landtag Nordrhein-Westfalen, dem ich zehn Jahre lang angehört habe, fandletztes Jahr im Naturschutzausschuss eine Experten-anhörung statt, bei der mehrere Experten der Behaup-tung, die Delfinhaltung sei Tierquälerei, widersprochenhaben.
Eine wissenschaftlich fundierte Basis zur Bewertungder Delfinhaltung ist also gegeben und eindeutig: DieDelfinhaltung ist keine Tierquälerei. Aber nein, denGegnern der Delfinhaltung ist das nicht genug; denn dasFachliche ist ihnen egal. Sie machen mit ihren Diffamie-rungskampagnen weiter. Das, liebe Kolleginnen undKollegen von den Grünen, sehe ich auch bei Ihnen, wennich mir Ihren Antrag zur Nutztierhaltung anschaue.
– Ich komme jetzt zu Ihrem Antrag. – Es gibt eine ge-wisse Parallele bei der Vorgehensweise. Auch Sie sindbesondere Gutmenschen, die nach Verboten rufen, abernatürlich keine Lösungen anbieten. Auch Ihnen ist esegal, was die Fachleute und die Praktiker von IhrenWunschvorstellungen halten.Warum sind Sie eigentlich nicht bereit, die vielenpositiven Entwicklungen in der Landwirtschaft zu se-hen? Sind Sie im Ernst der Überzeugung, dass unseremoderne Tierhaltung die Gesundheit der Menschen etwagefährdet? Was ist daran verwerflich, dass unsere gesun-den und sicheren Lebensmittel so viel Nachfrage imAusland finden? Warum gibt es diese Exportfeindlich-keit bei Ihnen? Wir haben eben im Gesundheitsaus-schuss im Gespräch mit Phil Hogan einiges darüber ge-hört, was uns gerade der Export bringt.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FraktionBündnis 90/Die Grünen, Ihr Antrag greift unbestrittenwichtige Themen auf – da waren sich, glaube ich, alleRedner unisono einig –, ist aber gespickt mit Ihrer Ver-botsmentalität, die uns an dieser Stelle nicht weiter-bringt. Lassen Sie uns über die Zukunft unserer Nutztier-haltung reden, aber lassen Sie uns das wissensbasiertund praxisorientiert tun.Ein guter Ansatz ist die Tierwohl-Initiative „EineFrage der Haltung – neue Wege für mehr Tierwohl“ desBundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft.Mit der im September 2014 gestarteten Initiative will dasMinisterium die verschiedenen Maßnahmen, zum Bei-spiel die Brancheninitiative Tierwohl und das Tier-schutzlabel des Deutschen Tierschutzbundes, koordinie-ren und damit konkrete Verbesserungen im Tierwohlerreichen, „die sich am wirtschaftlich und auch wissen-schaftlich Machbaren orientieren“.Unser Bundesminister Christian Schmidt hat uns ineiner Ausschusssitzung seinen Maßnahmenkatalog vor-gestellt. Zusammen mit dem von ihm eingesetzten„Kompetenzkreis Tierwohl“ greift er wichtige Punkteauf: Sachkunde der Tierhalter, Stalleinrichtung, Tier-schutz bei Schlachtung, Forschung, nichtkurative Ein-griffe bei Nutztieren.Das Thema der nichtkurativen Eingriffe findet sichauch in Ihrem Antrag. Und was ist Ihr Vorschlag? GroßeÜberraschung: ein striktes Verbot. Warum verschweigenSie aber, dass mit einem sofortigen strikten Verbot mehrTierleid und weniger Tierwohl entstünde? Sie wissendoch genau, dass das Schwanzkupieren bei Schweinenund das Schnabelkürzen bei Geflügel keine Spaßbe-schäftigung der Tierhalter ist. Die Tierhalter nehmen esvor, weil sie Schlimmeres verhindern wollen. Liebe Kol-leginnen und Kollegen von den Grünen, Sie wissendoch, dass es sonst zu Kannibalismus kommen könnteund damit Verletzungen und Entzündungen die Tiereplagten.Es ist Ihnen doch bewusst, dass die Problematikdurchaus komplex ist und dass es mit einem Verbot nichtgetan ist. Warum haben Sie nicht den Mumm, das öffent-lich zu sagen? Warum setzen Sie auf so billige Quasi-lösungen, die letztendlich niemandem – und schon garnicht den Tieren – helfen würden? Klar ist: Auch wirwollen, dass die Haltungseinrichtungen den Bedürfnis-sen der Tiere angepasst werden und nicht umgekehrt;das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit.
Wir wollen einen Ausstieg aus den nichtkurativen Ein-griffen; das ist auch klar. Dieses Ziel steht für jedennachzulesen gleich an Platz zwei des Maßnahmenkata-logs des Bundesministeriums. Dort finden Sie, imGegensatz zu Ihrer populistischen Forderung, einen for-schungsbasierten und praxisnahen Ansatz.
Lernen Sie doch von uns und unserem Bundesminister:Zuerst wird geforscht und in der Praxis erprobt, was– wissenschaftlich abgesichert und praxisreif – zum Re-gelfall gemacht werden soll.
Zu Ihrer Ignoranz gegenüber fachlicher Kompetenzund zu Ihrem Dauermantra gehört die nun wieder erho-bene Forderung nach Tierbestandsobergrenzen. Es ha-ben sich bereits sehr viele Agrarexperten dazu geäußertund bestätigt – wir haben es, glaube ich, gerade von derKollegin Jantz gehört –, dass das Tierwohl nicht allein
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7563
Thomas Mahlberg
(C)
(B)
von der Größe des Bestandes abhängig ist. Beispielhaftmöchte ich an dieser Stelle Herrn Dr. Lars Schrader, denLeiter des Instituts für Tierschutz und Tierhaltung desFriedrich-Loeffler-Instituts – er ist sicherlich auch Ihnenals Fachmann bekannt – mit den Worten zitieren, dass„die viel diskutierte Größe der Bestände für die Tierge-rechtheit keine Rolle spielt“. Viel wichtiger als die Be-standsgröße ist die Betreuung durch den Tierhalter, dierichtige Fütterung, ein gut strukturierter und an die Be-dürfnisse der Tiere angepasster Stall. Es ist ein Irrweg,davon auszugehen, dass es einem Tier in einem kleine-ren Bestand automatisch besser geht. Wir müssen wegvon der Bestandsgrößendebatte und hin zu einer Einzel-tierbetrachtung, wie ich meine.Uns in der Unionsfraktion geht es nicht um ideologi-sche Grabenkämpfe, sondern um messbare Fortschrittein Sachen Tierschutz. Ihnen, liebe Kolleginnen und Kol-legen von den Grünen, geht es in erster Linie um Stim-mungs- und Angstmache.
Mit Ihrem Antrag, meine ich, beweisen Sie erneut, dassSie nicht wirklich interessiert sind, ernsthaft und kon-struktiv über die Zukunft der Nutztierhaltung und unse-rer Landwirtschaft insgesamt zu diskutieren. Es scheintIhr politisches Kalkül, eine ganze Branche zu diffamie-ren, die Bürgerinnen und Bürger in Angst zu versetzenund mit unausgegorenen Vorschlägen zu überschütten.Mit Ihrem ideologischen Dünkel verlangen Sie eineLandwirtschaft, die rückwärtsgewandt ist und die nichtimstande wäre, die wachsende Weltbevölkerung sicherund gesund zu ernähren.Sie beziehen sich in Ihrem Antrag auf die immer zurZeit der Internationalen Grünen Woche stattfindendeDemo „Wir haben es satt!“; das ist ja gerade zur Sprachegekommen. Ich habe gehört, es gibt Teilnehmer hübenwie drüben, an der einen und der anderen Demo. Umsomehr freue ich mich, dass am Samstag eine Gegendemounter dem Motto „Wir machen Euch satt“ stattfindenwird. Dort wollen Landwirte von großen und kleinen,von ökologischen und konventionellen Betrieben zeigen,dass sie gesprächsoffen sind. Sie wollen sowohl mit denVerbraucherinnen und Verbrauchern als auch mit derPolitik reden. Sie wollen, dass man mit ihnen redet, stattüber sie.
Ich frage Sie: Ist das zu viel verlangt?Wir als Unionsfraktion wollen die Zukunft der Tier-haltung und der Landwirtschaft zusammen mit unserenLandwirten und nicht gegen sie gestalten.
Wir wollen diesen Prozess im Dialog mit Verbraucherin-nen und Verbrauchern und auf einer fundierten wissen-schaftlichen Grundlage führen. Wir greifen nicht zurückauf einfache Lösungen, die in Wirklichkeit keine Lösun-gen sind. Wir wollen weiterhin unserem Auftrag ausdem Grundgesetz nachgehen und die Tiere als unsereMitgeschöpfe schützen. Dafür werden wir die Tierwohl-Offensive des Bundesministeriums, die auch in unseremKoalitionsvertrag verankert ist, kritisch begleiten undkonstruktiv mitgestalten. Wir haben es satt – um IhrenLieblingskampfspruch zu verwenden, liebe Grünen –,dass Sie unsere bäuerlichen Familien diskreditieren. Wirlehnen Ihren Antrag, den Sie hier vorgelegt haben, ent-schieden ab.Herzlichen Dank.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Rita Hagl-Kehl von der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Tierhaltung ist ein wichtiges Thema, das fürverschiedene, eng miteinander verbundene Bereiche derLandwirtschaft von großer Bedeutung ist. Im Hinblickauf den Tierschutz besteht die Notwendigkeit, bessereTierhaltungsbedingungen in den landwirtschaftlichenBetrieben zu ermöglichen, um den Bedürfnissen derTiere gerecht zu werden. Durch eine artgerechte Tierhal-tung wird sowohl die hochqualitative Produktion vonLebensmitteln als auch die Tiergesundheit langfristigaufrechterhalten, wie meine Kollegin Christina Jantz be-reits ausgeführt hat. Genauso bedeutsam ist die artge-rechte Tierhaltung aber auch für den Umweltschutz. DieArt und Weise, wie Nutztiere gezüchtet werden, beein-flusst direkt das Niveau der Verschmutzung von Luft,Boden und Grundwasser. Die zu hohe Anzahl der Tierein Tierhaltungsanlagen oder der Zuwachs an Anlagenselbst führt zur Erhöhung der Güllemenge, die zur Be-lastung von Luft und Grundwasser durch hohe Ammo-niak- und Nitratemissionen deutlich beiträgt.
Der Nitratgehalt des Grundwassers ist regional ver-schieden, wobei in Regionen mit Massentierhaltung oderSonderkulturen besonders hohe Werte erreicht werden.Die Belastung der Gewässer wird durch Überdüngungimmer größer. Deswegen muss die Nitratbelastung ge-senkt werden.
Es sollten nicht mehr Tiere gehalten werden, als miteigenem Futter versorgt werden können. Der Import vonFuttermitteln führt zu einem Überschuss an Gülle, derdie Umwelt belastet. Der Nitratgehalt im Grundwasserhat in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen. Diezu hohen Nitratmengen können große Schäden sowiehohe Kosten für die Entfernung der Nitrate aus demTrinkwasser verursachen. Dafür gibt es ausreichend Bei-spiele. Zum Beispiel in der Stadt Plattling in Niederbay-ern, in meinem Wahlkreis, wird das zu hoch belasteteGrundwasser mit Wasser aus Tiefenbohrungen ver-
Metadaten/Kopzeile:
7564 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Rita Hagl-Kehl
(C)
(B)
mischt, um den Nitratgehalt zu reduzieren. Meine Fragelautet: Wer trägt die Kosten? Der Verbraucher, wir alle.
Ein anderes Beispiel dafür ist München, wo das Wasseraus den Gebirgsregionen hergeleitet wird und den Land-wirten, die ökologisch wirtschaften, Flächen billig ver-pachtet werden.Wie Ihnen sicher bekannt ist, belegen wir in der EUden zweitschlechtesten Platz, was die Wasserqualität an-belangt, und das liegt nicht nur an dem Messverfahren.Im Oktober 2013 hat die EU-Kommission gegenDeutschland ein Vertragsverletzungsverfahren wegen un-zureichender Umsetzung der Nitratrichtlinie der EU ein-geleitet. Dieses Verfahren ist auch der Grund für dieNovellierung der Düngeverordnung, die das Haupt-instrument zur Umsetzung der Richtlinie darstellt. Natür-lich muss uns allen daran gelegen sein, die Wasserquali-tät zu verbessern, damit wir unseren Kindern undEnkelkindern ein Land hinterlassen können, in dem mandas Leitungswasser weiterhin trinken kann.
Ein Ziel der vorgesehenen Änderung der Dünge-verordnung ist die Einbeziehung aller organischen undorganisch-mineralischen Düngemittel in die nach EG-Nitratrichtlinie einzuhaltende Obergrenze von 170 Kilo-gramm Stickstoff je Hektar im Durchschnitt des Betrie-bes. Um die ökologische Verträglichkeit der Tierhaltungzu gewährleisten, müssen diese Werte unbedingt berück-sichtigt werden. Die ökologisch verträgliche Tierhaltungsollte als Teil der Landwirtschaftspolitik, die auf Nach-haltigkeit und ressourcenschonende Produktion ausge-richtet ist, betrachtet werden. Eine nachhaltige Landwirt-schaft sollte sowohl im Interesse der Landwirte und derVerbraucher sein als auch der Umwelt und dem Tierwohldienen und dabei eine Qualitätsstrategie verfolgen.
Das ist der Kern einer zukunftsfähigen Agrarpolitik, fürdie wir uns als SPD-Bundestagsfraktion einsetzen.Zum Schluss möchte ich noch kurz auf die Demon-stration eingehen, die vorhin erwähnt wurde: Es nütztuns nichts, wenn wir heute einen Antrag verabschiedenund die Verbraucher nur demonstrieren. Der Verbrauchermuss sein Kaufverhalten ändern. Das ist genau das, waswir brauchen.
Dann können wir auch anderes Fleisch produzieren.Ich danke Ihnen.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3732 an den Ausschuss für Ernährung
und Landwirtschaft vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Marco
Wanderwitz, Ute Bertram, Michael Kretschmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Siegmund
Ehrmann, Burkhard Blienert, Marco Bülow, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Die Welt neu denken – Der 100. Jahrestag der
Gründung des Bauhauses im Jahre 2019
Drucksache 18/3727
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Sind Sie damit
einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erste
Rednerin in dieser Aussprache die Abgeordnete Ute
Bertram, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir starten heute kulturpolitisch mit einemwirklich schönen Thema in das neue Jahr, mit unseremAntrag „Die Welt neu denken – Der 100. Jahrestag derGründung des Bauhauses im Jahre 2019“.Natürlich sind es bis 2019 noch vier Jahre, aber diesesJubiläum soll ein kulturelles Großereignis werden, unddas braucht entsprechend Vorlauf. Wir haben im Koali-tionsvertrag festgehalten, dass wir das Ereignis von Bun-desseite unterstützen wollen. Diese Absicht wollen wirals Große Koalition mit unserem Antrag präzisieren.Stellen wir uns zunächst einmal die Frage: Was ist dasBauhaus? Das Bauhaus war eine Schule für Gestaltung,die zwischen 1919 und 1933 nacheinander an drei Ortenin Deutschland existierte. Der Name sollte die Verbin-dung aus Kunst und Handwerk ausdrücken, in Anleh-nung an die Bauhütten der mittelalterlichen Kathedralen.Ich höre oft, das Bauhaus sei nicht nur eine Architek-tur- oder Designschule, sondern vor allem eine Idee.Diese Idee kann man gut in meinem Heimatort studie-ren. Bei uns in Alfeld, südlich von Hildesheim, in Nie-dersachsen, steht das Fagus-Werk. Es wird oft als dasGründungswerk des Bauhauses bezeichnet und ist des-halb auch UNESCO-Welterbestätte geworden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7565
Ute Bertram
(C)
(B)
Der junge und damals noch völlig unbekannte WalterGropius entwarf 1911 eine neue Fabrikhalle für dieSchuhleistenfabrik Fagus. Der mutige Eigentümer unter-stützte die außergewöhnlichen Ideen des jungen Archi-tekten Gropius. Dieser entwarf eine geradezu revolutio-när helle und luftige Arbeitshalle aus Glas und Stahl.Das stand in völligem Gegensatz zur bisherigen Vorge-hensweise, an den Räumen für die einfachen Arbeiter zusparen. Gropius dagegen wollte ein gesundes Arbeits-klima schaffen.All diese Elemente haben das Bauhaus zum Wegwei-ser in die Moderne gemacht. Durch die Industrialisie-rung und die technischen Neuerungen entstanden ganzneue Möglichkeiten für Architektur und Design. DasBauhaus nutzte sie zu sozialen Zwecken.So entstand der neue Lebensentwurf für den moder-nen Menschen im Industriezeitalter, unabhängig von sei-ner sozialen Zugehörigkeit. Diese Idee ist es, die Ge-schichte geschrieben hat, in Deutschland und in derWelt.Wer genau hinsieht, erkennt überall die prägendenSpuren dieser Schule. Bis heute kennen wir Fassadenaus Glas und Stahl. Bis heute drücken wir vom Bauhausinspirierte Türklinken und sitzen auf vom Bauhaus inspi-rierten Stühlen. Wir wissen es nur oft nicht. Auch diesesgute Stück wäre ohne das Bauhaus wohl nicht denkbargewesen.
Der langjährige Chefdesigner von Apple spricht gerndavon, wie er sich vom deutschen Industriedesign undden Bauhaus-Prinzipien hat inspirieren lassen. Nichtumsonst gilt das Bauhaus international als unser erfolg-reichster kultureller Exportartikel.Von Alfeld ging Walter Gropius dann nach Weimar,wo er 1919 das Bauhaus gründete. Die Hochschule ar-beitete aber von Anfang an unter widrigen Umständen.Sechs Jahre später zog sie nach Dessau. 1933 wurde siein Berlin unter den Nazis schließlich verboten. Keine1 300 Studenten hatte sie bis dahin gehabt.Paradoxerweise lässt sich die weltweite Wirkung desBauhauses von der Katastrophe des Dritten Reichesnicht trennen. Denn durch das Verbot in Deutschlandverstreuten sich ihre Anhänger über die Welt und legtenim notgedrungenen Exil den Grundstein für den welt-weiten Erfolg. Die Ideen des Bauhauses verbreitetensich überall auf der Welt, in Amerika, in der Sowjet-union, in Polen, in Israel, in der Schweiz, in Japan und inMexiko.Genau deshalb wird das Jubiläum international auchstark wahrgenommen werden. Im Bauhaus-Archiv inBerlin zählt man weitaus mehr ausländische als deutscheBesucher. Das wird sich 2019 natürlich noch einmal stei-gern, zumal wir ordentlich die Werbetrommel rührenwollen.Nun zu ein paar Punkten aus unserem Antrag. Ganzwichtig ist uns Kulturpolitikern von CDU/CSU undSPD, dass wir die notwendigen baulichen Voraussetzun-gen für das Jubiläumsjahr schaffen. Da ist auch schonviel passiert.In Berlin wird endlich der längst fällige Erweite-rungsbau zum Bauhaus-Archiv entstehen. Der Bund hatdafür 28,1 Millionen Euro bereitgestellt. Das Bauhaus-Museum in Dessau wird der Bund mit 12,5 MillionenEuro kofinanzieren. Für den Neubau des Bauhaus-Mu-seums in Weimar sind gut 11 Millionen Euro Bundes-mittel geflossen. Aber auch die vielen kleinen Orte wiedie May-Siedlung in Frankfurt, die Weißenhofsiedlungin Stuttgart, die Hochschule für Gestaltung in Ulm oderdas Fagus-Werk in Alfeld, sie alle sollen den erwartetenBesucheranstürmen gerecht werden.Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, in För-derprogrammen zum Beispiel für den Städtebau oderden Denkmalschutz die UNESCO-Welterbestätten desBauhauses in den nächsten Jahren angemessen zu behan-deln.Aber wir wollen natürlich nicht nur bauen. Wir müs-sen das Jubiläum auch nutzen, um die überragende Wir-kung des Bauhauses auf die Weltgeschichte innerhalbDeutschlands bekannter zu machen. Außerdem wollenwir ganz gezielt auch international für uns als Kultur-nation, als Geburtsstätte des modernen Designs werben.Deshalb wollen wir eine breite Palette von Veranstaltun-gen und Bildungsangeboten im Vorhinein, aber auch undvor allem im Jahr 2019.Die Kulturstiftung des Bundes bekommt vom Bundimmerhin 5 Millionen Euro zusätzlich, um das Bauhaus-Jubiläum mit Projekten zu begleiten. Koordiniert werdendie Jubiläumsplanungen momentan aus den drei großenBauhaus-Stätten Dessau, Weimar und Berlin. Alle Bun-desländer, in denen eine Bauhaus-Stätte liegt, haben sichzu einem Bauhaus-Verbund zusammengeschlossen. Wirals Bundestag wünschen uns, dass es eine gesamtgesell-schaftliche Initiative gibt, die dieses Jubiläum trägt.Inhaltlich werden auch Vermittler deutscher Kultur-politik wie das Goethe-Institut oder auch die DeutscheWelle aufgefordert werden, an diesem Bauhaus-Jubi-läum mitzuwirken. Natürlich soll ein Schwerpunkt auchin Bildung und Forschung gesetzt werden. Denn nichtjeder Schüler oder Student in Deutschland weiß, dasssein iPhone durch das Bauhaus beeinflusst wurde. Wennes nach uns geht, weiß er es spätestens 2019.Lassen Sie uns also gemeinsam daran arbeiten, dassdieses Jubiläumsjahr zu einem Ereignis mit Strahlkraftwird, das sowohl national als auch international Aus-strahlung hat.Vielen Dank.
Als nächstem Redner in dieser Debatte erteile ich dasWort dem Abgeordneten Harald Petzold, Fraktion DieLinke.
Metadaten/Kopzeile:
7566 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
(C)
(B)
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Ich gebe der
Kollegin Bertram völlig recht: Die Welt neu denken –
der 100. Jahrestag der Gründung des Bauhauses im Jahr
2019 ist ein guter Einstieg in unsere kulturpolitischen
Diskussionen in diesem Jahr. Aber, verehrte Kolleginnen
und Kollegen von den Koalitionsfraktionen – die Welt
neu denken –, können Sie mir einen vernünftigen Grund
dafür nennen, warum Sie in dieses Denken nicht vorab
auch die Oppositionsfraktionen einbezogen haben?
So wie Sie hier vorgehen, reklamieren Sie das Bau-
haus quasi für sich selbst als eine kulturelle Angelegen-
heit mit Ursprung in den wenigen Jahren der Weimarer
Demokratie. Für uns war das Bauhaus in seiner politi-
schen Wirkung vor allem ein Ausdruck und eine Re-
aktion auf die schroffen sozialen Gegensätze. Deswegen
ist sein kulturelles Erbe eines, das niemand für sich al-
lein beanspruchen darf.
Deswegen sagen wir: Dieses 100-jährige Jubiläum, das
Sie im Koalitionsvertrag zu Recht als ein Jubiläum von
weltweiter Strahlkraft bezeichnen, ist eine Angelegen-
heit des ganzen Landes, des ganzen Volkes und demzu-
folge selbstverständlich auch aller im Bundestag vertre-
tenen politischen Kräfte.
Über welche Punkte sollten wir vielleicht noch ein-
mal gemeinsam diskutieren? Grundsätzlich haben Sie
beim Bauhaus-Jubiläum auf jeden Fall unsere Unterstüt-
zung. Ich habe den Antrag einem meiner Nachbarn zum
Lesen gegeben. Er hat ihn sich angesehen und mich
danach gefragt: Warum redet ihr im Bundestag über
Baumärkte? Ich fragte Ihn: „Wie kommen Sie denn
darauf?“, und er antwortete: Na, hier steht doch „Export-
artikel“.
Genau, wir sollten das Bauhaus nicht auf einen kulturel-
len Exportartikel reduzieren.
Die Kollegin Bertram hat hier völlig richtig Walter
Gropius als Beispiel genannt. Für Gropius war Bauen
und vor allen Dingen der Wohnungsbau eine zutiefst so-
ziale Aufgabe. Es ging ihm um bessere Lebensverhält-
nisse für alle. Deswegen, denke ich, müssen diese Ideen
– wir haben mit der Siemensstadt ein Beispiel vor der
Haustür – eigentlich einen viel größeren Stellenwert in
unserer Würdigung des Bauhaus-Jubiläums einnehmen.
Wenn wir die Bedeutung der Ideen und Inhalte des
Bauhauses für unsere heutige Gesellschaft stärker in den
Vordergrund rücken wollen, dann müssen wir auch die
unterschiedlichen Ideen und Strömungen, für die seine
Leiter und die Akteure stehen, stärker herausarbeiten
und öffentlich würdigen. Dann werden Sie auch nicht
umhin kommen, neben Walter Gropius und neben
Ludwig Mies van der Rohe auch den zweiten Bauhaus-
direktor stärker zu berücksichtigen und zu würdigen:
Hannes Meyer. Seine Ideen und Bauwerke wurden viel
zu lange totgeschwiegen und sind nahezu vergessen.
Möglicherweise hat dies damit zu tun, dass der über-
zeugte Sozialist Meyer für das Bauhaus die Losung
„Volksbedarf statt Luxusbedarf“ ausgegeben hatte, oder
damit, dass er – im Gegensatz zu den teuren iPhones von
heute – erschwingliche Bauhaus-Produkte für alle
wollte, oder damit, dass er darüber hinaus einen wissen-
schaftlich fundierten Unterricht und das Kooperations-
prinzip propagierte, die Idee einer kollektiven und
kooperativen Gestaltung. Das ist in einer Zeit, in der
Individualismus zum Heiligen Gral gesellschaftlichen
Zusammenlebens erklärt wird, natürlich nicht beliebt.
Folglich muss unserer Meinung nach sowohl in dem
vorliegenden Antrag als auch in dem Drehbuch für das
100-jährige Bauhaus-Jubiläum der Person Hannes
Meyers und insbesondere dem von ihm entworfenen Bau
der ehemaligen Bundesschule des Allgemeinen Deut-
schen Gewerkschaftsbundes in Bernau, meinem Betreu-
ungswahlkreis, eine viel größere Bedeutung beigemes-
sen werden. Bisher kommt das nur am Rande vor.
Ich denke, wir brauchen für die Bauvorhaben in Ber-
lin und Dessau konkrete und abrechenbare Zeit- und
Maßnahmeschienen. Die späte Bewilligung der Bundes-
gelder birgt nach unserer Auffassung die Gefahr in sich,
dass die Häuser nicht rechtzeitig bis 2019 fertiggestellt
werden.
Meine Damen und Herren, „die Welt neu denken“ ist
ein wunderbarer Anspruch, sowohl zum 100-jährigen
Bauhaus-Jubiläum als auch in unserer heutigen Zeit.
Deswegen kann ich nur an Sie appellieren: Lassen Sie
uns das gemeinsam umsetzen und tatsächlich einen An-
trag aller Fraktionen auf den Weg bringen! Der Kollege
Kühn hat diesen Vorschlag in der Ausschussberatung mit
den Vertretern des Bauhaus-Verbundes deutlich formu-
liert. Ich finde, diese Idee ist unbedingt zu unterstützen.
Vielen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten
Siegmund Ehrmann, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Die Bauhaus-Idee gehört zuden großen und nachhaltigen kulturellen Impulsen, die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7567
Siegmund Ehrmann
(C)
(B)
von unserem Land ausgingen. Wie bereits erwähnt, inkurzen Zügen: 1919 von Walter Gropius als Kunstschulein Weimar gegründet, 1925 nach Dessau gezogen und1933 unter dem Druck der Nationalsozialisten geschlos-sen, prägen seine innovativen Gestaltungsansätze nochheute. Im Nationalsozialismus galten viele Entwürfe derBauhaus-Gestalter als „entartet“. Bauhäusler musstenemigrieren. Besonders der linksgerichtete, avantgardisti-sche Lebensstil der Bauhaus-Anhänger war es, der denNazis übel aufstieß: Am Bauhaus Frauen in Hosen? EinUnding im reaktionären Bild der NSDAP.Das brutale Aus der deutschen Bauhaus-Bewegungmultiplizierte die Bauhaus-Idee und trug sie in vieleLänder. Bauhaus-Protagonisten emigrierten in die USA,zum Beispiel Josef Albers, aber auch in die Sowjetunionwie Hannes Meyer oder ins heutige Israel wie AriehSharon. Aus der Bauhaus-Philosophie abgeleitet entwi-ckelten sich dort neue Architektur-, aber auch Produkt-und Kommunikationsdesignstile.Doch – auch das muss ein wichtiger Blickpunkt sein –das Bauhaus-Konzept hat auch in unserem Land Maß-stäbe für Stadtentwicklung und Architektur gesetzt undvor allem die soziale Dimension des Bauens akzentuiert.Ein Element hier in Berlin wurde schon genannt: Es gibtinsgesamt sechs Siedlungen der Moderne, die seit 2008als Weltkulturerbe in dieser Stadt zu besichtigen sind.Im Design war es der Wille, Möbel und Gebrauchs-gegenstände als Werkzeuge für alle zu bauen. Dahinterlag eine zutiefst soziale Idee: den Menschen und seineBedürfnisse in den Mittelpunkt zu rücken. Viele Bau-haus-Erfindungen wie zum Beispiel die Einbauküche er-weisen sich bis heute als funktional. Die Wagenfeld-Leuchte steht international als Symbol für gutes Design.Auch im parlamentarischen Komplex finden wir gele-gentlich Möbel im Stil der Bauhaus-Ästhetik.Die Bauhaus-Schule verfolgt einen ganzheitlichenAnsatz. Es ging nicht nur um Design, Kunst und Archi-tektur. Ebenso wichtig war der pädagogische Zugang zudiesen Künsten und Objekten. Als Walter Gropius 1919in Weimar das Staatliche Bauhaus eröffnete, verkündeteer:Als Lehrling aufgenommen wird jede unbeschol-tene Person ohne Rücksicht auf Alter und Ge-schlecht, deren Begabung und Vorbildung vomMeisterrat als ausreichend erachtet wird.Damals revolutionär – ist das heute selbstverständlich?Es bleibt eine Herausforderung, auf Begabung zu achten.Die Reformpädagogik des Bauhauses entwickelte somitneue Methoden, begabte Menschen zu künstlerisch-kulturell-ästhetischem Handeln zu befähigen. DieseKonzepte sind bis heute ungebrochen aktuell und sollendeshalb beim Jubiläum einen besonderen Raum entfal-ten. Es gibt Elemente, die jetzt schon reifen, zum Bei-spiel mobile Module des Fliegenden Klassenzimmers,um in die Pädagogik der unterschiedlichen Schulstufeneinzufließen, Forschungsvorhaben, die sich dem großenThema „Kreativität und Pädagogik“ widmen.Die drei Länder mit Bauhaus-Einrichtungen – Thürin-gen, Sachsen-Anhalt und Berlin – haben sich bereits2012 mit einigen anderen Bundesländern zum „Bau-hausverbund 2019“ zusammengeschlossen. Dieser Ver-bund wird die Aufgabe haben, das Jubiläum vorzuberei-ten, weiter reifen zu lassen.Klar ist, dass mit den bereitgestellten Mitteln – Gottsei Dank im Haushalt 2015 deutlich markiert – die Kern-standorte der Bauhaus-Tradition gestärkt werden; aberauch außerhalb der Zentren von Weimar, Dessau undBerlin finden wir Bauhaus-Zeugnisse. Kollegin Bertramhat vorhin auf das Fagus-Werk in Alfeld aufmerksamgemacht. Ich erinnere zum Beispiel an die Dammer-stock-Siedlung in Karlsruhe, an die Häuser „Lange“ und„Esters“ und, ähnlich wie in Alfeld, den VerSeidAG-Komplex in meiner Heimat in Krefeld oder an die Bau-ten „Experimentierfeld modernen Bauens“ in Hagen –überall markante Zeugnisse der Bauhaus-Tradition.Unser Antrag nimmt deshalb die bedeutenden Bautendes Bauhauses außerhalb der Museumsstandorte mit inden Blick. Bereits im Vorfeld des Jubiläums sollen auchdort Ausstellungen, Bildungs- und Forschungsprojektedas kulturelle Erbe des Bauhauses herausstellen und inErinnerung rufen. Denkmalschutzprogramme könnenMöglichkeiten bieten, marode, leidende Substanz aufVordermann zu bringen, sodass im Jahre 2019 alles imbesten Licht erscheint. Eben deshalb ist es wichtig, dassdie Bund-Länder-Kooperation, aber auch die Koopera-tion mit den Bauherren und Eigentümern reift, intensi-viert wird: damit wir zu einer gemeinsamen Anstren-gung kommen. „Die Welt neu denken“, unter diesemMotto wird es ab diesem Jahr ein umfangreichesgemeinsames Programm geben, das auf das Jubiläumhinläuft.Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit diesem Antragwill die Regierungskoalition all dies rechtzeitig akzentu-ieren und den Blick auf das außergewöhnliche Jahr 2019lenken. Es ist, Herr Petzold, in der Tat auch eine Einla-dung an die Opposition, gemeinsam darüber nachzuden-ken, wie dieser Antrag, den ich schon für hervorragendhalte, möglicherweise noch reifen kann. Sie sind herz-lich eingeladen, sich an diesem Wettbewerb zu beteili-gen, sodass wir dann hinterher gemeinsam als Parlamentdiesen Weg gehen.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-ordneten Christian Kühn, Bündnis 90/Die Grünen.Christian Kühn (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! LiebeFreundinnen und Freunde des Bauhauses! 1919 hielt inDeutschland die Moderne Einzug: Bei der Wahl zur Na-tionalversammlung durften erstmals Frauen wählen undgewählt werden. Die Weimarer Nationalversammlung
Metadaten/Kopzeile:
7568 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Christian Kühn
(C)
(B)
gab Deutschland eine parlamentarische, demokratischeVerfassung. In Weimar gründete Walter Gropius dasStaatliche Bauhaus; das war sozusagen der künstlerischeAufbruch Deutschlands in die Moderne.Der Bauhaus-Stil ist bis heute, ins 21. Jahrhundert hi-nein, ungemein modern, schön, zeitlos und attraktiv. DasBauhaus ist bis heute mehr als eine hippe Stilrichtung –es ist ein Wegweiser in die Zukunft, ein humanistischerAnsatz für den Alltag. Die Verbindung von Ästhetik undPraxis, die das Bauhaus verkörpert, ist Kunst, die wiralle im Alltag erleben können. Das Bauhaus steht fürEinfachheit, Schönheit, Funktionalität, die allen Men-schen zugänglich sein soll. Der Zugang zur Bauhaus-Schule war eben nicht abhängig von der sozialen Schichtoder dem Geldbeutel der Eltern, sondern allein von derBegabung; auch das ist ein Fingerzeig dafür, wie wir Bil-dungspolitik und Kulturpolitik betreiben sollten.
Das Bauhaus war Vorreiter für Feminismus und so-ziale Gerechtigkeit, und mit dem Neuen Bauen solltenRäume für souveräne Bürgerinnen und Bürger der neuendemokratischen Gesellschaft geschaffen werden. DasBauhaus sorgte auch für sozialen Wohnungsbau. Auchdas ist ein Fingerzeig in unsere heutigen Tage hinein.
Beispiele für entsprechende Siedlungen in meinemBundesland sind der Weißenhof und der Dammerstockin Karlsruhe.Das Bauhaus hat bis heute unzweifelhaft Einfluss da-rauf, wie wir wohnen und wie unsere Wohnungen gestal-tet sind. Im 21. Jahrhundert ist das Bauhaus-Design all-gegenwärtig – und das eben nicht nur in Deutschland,sondern weltweit.Das Bauhaus wurde durch die NS-Diktatur gezwun-gen, seine Aktivitäten ins Ausland zu verlagern. Die Na-zis konnten die Bauhaus-Schule zwar schließen, aber siekonnten den Geist des Bauhauses nicht auslöschen undnicht brechen. Die Ideen des Bauhauses wurden von denLehrenden in die ganze Welt getragen: zum Beispielnach Tel Aviv – ich denke hier an die Weiße Stadt – oderauch in die Vereinigten Staaten von Amerika, wo die Ar-chitektur des modernen Amerika maßgeblich vom Bau-haus geprägt wurde.2019 feiern also nicht nur die Menschen in Dessau,Weimar und Berlin das Bauhaus, sondern die Menschenauf der ganzen Welt – in Israel, in den USA, in China, inAustralien und auch in Brasilien. Deshalb ist es wichtig,dass wir dieses Bauhaus-Jubiläum nicht nur als ein deut-sches Jubiläum begreifen, sondern den internationalenCharakter mit all unseren Aktivitäten betonen.
Gleichwohl müssen wir dieses Bauhaus-Jubiläum alsein Jubiläum nationalen Ranges begreifen. Deshalbwünsche ich mir, dass der Bauhausverbund 2019 weiterwächst und dass alle 16 Bundesländer daran teilhaben;denn in allen Bundesländern gibt es Architekturschulen,Designschulen und Orte, an denen das Bauhaus gewirkthat. Ich finde, deswegen sollten sich alle 16 Bundeslän-der zusammenschließen, damit es wirklich ein Jubiläumder ganzen deutschen Nation wird und das Bauhaus inganz Deutschland seinen Platz hat.
Es wurde hier schon betont, dass es die Bedeutungdes Bauhaus-Jubiläums unterstrichen hätte, wenn wirheute einen gemeinsamen Antrag eingebracht hätten.
Die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen haben dieBedeutung dieses Jubiläums herausgestellt. Ich hätte esaber schön gefunden, wenn wir hier gemeinsam – allevier Fraktionen dieses Hauses – einen überfraktionellenAntrag eingebracht hätten. Ich finde, die Kulturpolitikund das Bauhaus-Jubiläum eignen sich nicht für partei-politische Spiele. Deswegen ist es schade, dass wir es imKulturausschuss nicht geschafft haben, diesen Weg ge-meinsam zu gehen.Dennoch geht Ihr Antrag in die richtige Richtung. Ichbin mir aber sicher: Wenn wir daran mitgewirkt hätten,dann wäre er an der einen oder anderen Stelle noch einbisschen besser geworden.
Nichtsdestotrotz freuen wir uns darüber, dass derHaushaltsausschuss die finanzielle Grundlage für diebaulichen Voraussetzungen bei den drei Bauhaus-Ein-richtungen geschaffen hat. Damit enden aber eben nichtdie Aufgaben, die wir hier haben. Gebäude allein gestal-ten noch kein Jubiläum. Wir brauchen eine Koordina-tion. Deswegen muss hier im Hause jetzt schnell – auchgemeinsam – darauf hingewirkt werden, dass es einezentrale Geschäftsstelle für den Bauhausverbund 2019gibt. Es ist dafür zu sorgen, dass die drei Geschäftsstel-len in Dessau, Weimar und Berlin mit dieser internatio-nalen Mammutaufgabe nicht alleingelassen werden.
Wir müssen unsere Bauhaus-Aktivitäten internationalausrichten. Gerade dieser Punkt ist mir in dem Antrag zukurz gekommen. Wir brauchen auch mehr Werbemaß-nahmen jenseits der Deutschen Welle. Wir müssen un-sere internationale Kulturpolitik für 2019 auch auf diesesBauhaus-Jubiläum in Gänze ausrichten.Zum Schluss möchte ich sagen: Es ist ganz elementar,dass wir dieses Bauhaus-Jubiläum nicht nur dafür nut-zen, ein schönes Jubiläum zu feiern und des Bauhauseszu gedenken, sondern auch, um die Institutionen, die das
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7569
Christian Kühn
(C)
(B)
Bauhaus bis heute tragen, über das Jahr 2019 hinausnachhaltig zu stärken; denn nach 100 Jahren Bauhausmüssen weitere 100 Jahre Bauhaus folgen. Dafür willich werben, damit die Idee des Bauhauses auch in dennächsten 100 Jahren weiter um diesen Globus kreist.Danke schön.
Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten
Ulrich Petzold, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Als ich in meinen Kindertagen das erste Mal vor dem
Bauhaus in Dessau stand, war ich doch etwas irritiert.
Das sollte etwas Besonderes sein? So sahen doch alle
wirklich modernen und neuen Gebäude aus. Ja, selbst-
verständlich hatte sich innerhalb von nicht einmal
50 Jahren der Stil der Bauhaus-Künstler gegen den Gi-
gantomanismus des Nationalsozialismus und gegen den
Zuckerbäckerstil des Stalinismus durchgesetzt.
Doch eigentlich war das Bauhaus in seiner Struktur
kaum noch zu erkennen, insbesondere die Meisterhäuser
in Dessau nicht. Wir hatten nach 1990 richtig viel zu tun,
um die Schönheit dieser Struktur wiederherzustellen.
Wir haben es trotz der Überbauung geschafft. Ich glaube,
dass uns das Bauhaus zeigt, was mit geringem Aufwand
alles errichtet und wie mit wenig Material ausgekommen
werden kann. Das ist etwas Beispielgebendes, etwas sehr
Schönes.
Das Bauhaus ist und war aber mehr als einfaches und
sparsames Bauen. Es war mehr als effizientes und zeitlo-
ses Bauen. Das Bauhaus – das wurde vorhin schon er-
wähnt – war und ist mehr als Architektur und Design.
Das Bauhaus ist eine Idee. Für diese Idee fand sich 1925
in der aufstrebenden Industrie- und Kulturstadt Dessau
der ideale Nährboden, sodass sich das Bauhaus, das sich
ganz bewusst Werkstatt und nicht Schule oder Universi-
tät nannte, in diesem liberalen Klima ansiedeln konnte.
Internationalität und Gleichberechtigung der Geschlech-
ter waren in Dessau nie eine Frage und könnten viel-
leicht auch gerade in dem aufgeregten Klima unserer
heutigen Diskussion über den Islam beispielgebend sein.
In Diktaturen und Unrechtssystemen ist für die Ideen
des Bauhauses kein Raum. Vorhin wurde an Hannes
Meyer erinnert. Nach einigen Jahren in Moskau ist er
1936 wieder geflüchtet. Man muss also immer das
Ganze betrachten. Das Bauhaus und seine Idee sind Teil
unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Sein
Jahrestag ist und kann für uns ein Grund sein, uns selbst
zu hinterfragen.
Bereits das Jubiläum „90 Jahre Bauhaus“ wurde 2009
in einem würdigen Rahmen begangen, das uns jedoch
auch deutlich machte, dass die Zusammenarbeit der
wichtigsten Bauhaus-Stätten Berlin, Dessau und Weimar
zu wünschen übrig ließ. Dass jetzt das Jubiläum 2019 in
Zusammenarbeit der Länder und Bauhaus-Einrichtungen
in einem Bauhausverbund vorbereitet wird, verbessert
die Möglichkeit des Bundes, sich effektiv einzubringen.
So ist es, nachdem sich Berlin und Sachsen-Anhalt mit
der Stadt Dessau auch finanziell zu ihrer Verantwortung
bekannt haben, dem Bund möglich, das Bauhaus-Archiv
in Berlin und ein Bauhaus-Museum in Dessau mit Mil-
lionenbeträgen zu fördern.
Wenn ich mich ganz besonders für die Unterstützung
für Dessau bedanke, möge man mir das als Landeskind
und Wahlkreisabgeordnetem bitte nachsehen. Unserer
Staatsministerin Frau Professor Grütters bin ich sehr
dankbar, dass sie, solange bei den Städten und Ländern
Unklarheiten bestanden, durch einen Leertitel im Haus-
halt alle Möglichkeiten offengehalten hat.
Besondere Verdienste, gerade für das Museum in
Dessau, haben sich aber unsere Haushälter Rüdiger
Kruse und Johannes Kahrs erworben, die im Haushalts-
ausschuss den Leertitel mit der erforderlichen Summe
von 12,5 Millionen Euro gefüllt haben. Auch die Lan-
desregierung Sachsen-Anhalt und der Stadtrat Dessau
haben mit wegweisenden Haushaltsbeschlüssen und
auch Standortbeschlüssen letztendlich den Knoten
durchgeschlagen.
Doch ich hoffe auch auf einen Beitrag des Ministe-
riums für Umwelt und Bau, das Jubiläum „100 Jahre
Bauhaus“ zu nutzen, um für das Bauhaus neue wegwei-
sende Maßstäbe zu setzen. Der Erweiterungsbau des
Umweltbundesamtes in Dessau ist als Plus-Energie-
Bürogebäude vorgesehen, das erste Plus-Energie-Büro-
gebäude der Welt. Die Idee des Bauhauses, Komfort und
Ressourceneffizienz zusammenzubringen, kann hier ver-
vollkommnet werden. Ich würde mir sehr wünschen,
dass wir mit einem solchen Bau nicht nur auf die Ver-
gangenheit blicken, wenn wir den 100. Jahrestag der
Bauhaus-Gründung begehen, sondern etwas Neues und
Zukunftsgerichtetes schaffen. Ich glaube, dann würden
wir diesen Jahrestag auf eine wirklich gute Weise feiern.
Danke schön.
Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten
Michelle Müntefering, SPD-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorlie-genden Antrag würdigen wir die Leistung und dieStrahlkraft eines einzigartigen künstlerischen Werkes.Wir tun dies im Plenum des Deutschen Bundestages,weil die Bauhaus-Schule Kultur und Gesellschaft bisheute weltweit beeinflusst. Das haben die Kolleginnen
Metadaten/Kopzeile:
7570 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Michelle Müntefering
(C)
(B)
und Kollegen gerade schon jeder für sich und für uns all-gemein formuliert.Wir tun das, weil das Bauhaus mehr ist als zeitloses,nüchternes Design und auch mehr als ein feststehendesRegelwerk von Form und Farbe. Wenn ich jetzt wiemeine Vorrednerin und Vorredner versuche, die Idee desBauhauses zusammenzufassen, dann will ich es so for-mulieren: Das Bauhaus ist die Idee, menschliche Grund-bedürfnisse über die der Wirtschaft und der Industrie zustellen.
Das Bauhaus ist eine Kunst, die humanistischen Prin-zipien folgt, und es ist sicherlich auch eine Haltung. Des-wegen wurden seine Künstler, Architekten, Maler undBildhauer von den Nazis verfolgt; denn jede Diktatur, je-des totalitäre System, fürchtet die mächtige Kraft vonKunst und Kultur. Wir, liebe Kolleginnen und Kollegen,fördern sie. Wir investieren: in Frieden und Kooperation,in die Freiheit der Kunst, in die Gleichwertigkeit derMenschen und in eine offene, moderne Gesellschaft.Auch die Nazis haben es nicht vermocht, das dauerhaftauszulöschen.
Eines der wohl stärksten Symbole hierfür ist die WeißeStadt, die White City – Kollege Kühn hat es gerade ange-sprochen –, in Tel Aviv in Israel. Es ist die weltweit größteAnsammlung von Häusern im Bauhaus-Stil. Mitten im mo-dernen Tel Aviv stehen rund 4 000 solcher Gebäude. Seit2003 sind sie als einzigartiges Phänomen moderner Archi-tekturgeschichte Teil des UNESCO-Weltkulturerbes. AlsVertreterin im Unterausschuss „Auswärtige Kultur- undBildungspolitik“ will ich das besonders hervorheben.Denn die Bundesregierung hat erst vor einigen Wochenbeschlossen, dabei zu helfen, dieses Kulturgut zu erhal-ten.
– Das ist in der Tat einen Applaus wert.Wer von Ihnen schon einmal dort war, weiß, welcheGeschichte sich hinter den zerfallenen Fassaden undgrau verfärbten Wänden verbirgt und welche Bedeutungdiese Gebäude für die deutsch-israelischen Beziehungenhaben. Viele der Baumaterialien, mit denen die Häusergebaut wurden, sind nämlich von den verfolgten Judenselbst mitgebracht worden. Die Ausfuhr von Bargeldhatten die Nazis mit hohen Zöllen belegt, damit aus derVerfolgung und der Flucht von jüdischen Menschen aufperfide Weise noch ein zusätzlicher Profit geschlagenwerden konnte.In Tel Aviv wollte man hingegen eine Stadt aus neuerSachlichkeit und einer offenen Gesellschaft bauen, wiees das Bauhaus lehrte: flache Dächer, Balkone, Gärten,die eine Begegnung zwischen Menschen möglich mach-ten. Daran soll sich auch die Sanierung orientieren. Zumdeutsch-israelischen Projekt wird die White City aberauch, weil wir dabei mit deutschen Produkten, Fachwis-sen und Handwerkskunst gefragt sind. Partner wie dieIndustrie- und Handelskammer, Bauhaus-Institutionenund Universitäten sollen ihre Kompetenzen dazu bei-steuern. Mit dem Max-Liebling-Haus stellt die Stadt TelAviv zudem ein Gebäude zur Verfügung, in dem ein le-bendiger Austausch zwischen Handwerkern, Restaurato-ren und Künstlern entstehen soll.Übrigens hat das Bauhaus nie einen Unterschied zwi-schen Handwerkern und Künstlern gemacht. Das Bau-haus hat sich am griechischen Begriff „Kali Technis“,dem „guten Handwerker“, orientiert. Ich wünsche mir,dass in diesem Sinne Räume für junge Menschen ausHandwerk und Kunst entstehen, die sich dort begegnenkönnen.
Im Sinne dieser Entstehungsgeschichte, aber geradeauch deshalb, weil wir in diesem Jahr 50 Jahre diploma-tische Beziehungen mit Israel feiern, freut es mich, dassdas BMU kurz vor Weihnachten beschlossen hat, dasGanze zu fördern. Ich danke der Deutsch-IsraelischenGesellschaft dafür, dass sie uns vorangetrieben hat, Par-lamentarierinnen und Parlamentarier auf dieses guteStück Kulturpolitik aufmerksam zu machen, und nichtzuletzt den Haushältern, die sich dafür eingesetzt haben.Ich komme zum Schluss. Wenngleich die lebendigeTradition der vielleicht wichtigsten Designschule mit derVertreibung seiner kühnsten Protagonisten in Deutsch-land unwiderruflich abgeschnitten wurde, rufen wir unsdoch in Erinnerung, was das Bauhaus-Archiv selbst for-muliert: „Das Bauhaus gehört der Welt, aber es kommtaus Deutschland.“ So beginnen wir das Jubiläum im Jahr2019.Herzlichen Dank.
Als letzter Rednerin in dieser Aussprache erteile ich
das Wort der Abgeordneten Dr. Astrid Freudenstein,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! In vier Jahren feiert das Bau-haus einen runden Geburtstag, seinen 100. Der vorlie-gende Antrag stellt sozusagen die Planung für die Ge-burtstagsfeier dar. Die Planung ist ausgesprochen gut.Wir alle gemeinsam können uns auf das Bauhaus-Jahr2019 freuen.Die Idee des Bauhauses markierte damals zu Beginndes 20. Jahrhunderts einen Umbruch in Architektur,Kunst und Design. Das Bauhaus markierte damals auch
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7571
Dr. Astrid Freudenstein
(C)
(B)
einen Aufbruch, gesellschaftlich, kulturell und politisch.Woran erkannte man diesen künstlerischen und architek-tonischen Aufbruch? Im Manifest für das staatliche Bau-haus schreibt Walter Gropius 1919 wörtlich von den al-ten Kunstschulen, die es nicht vermochten, Handwerkund Kunst zu vereinen. Er erteilte der alten Salonkunsteine klare Absage und appellierte an Bauherren, Künst-ler, Bildhauer und Maler, zum Handwerk zurückzukeh-ren und das Trennende zwischen Kunst und Handwerk ein-zureißen. Die Produkte dieser Ideen kennen wir. Auf denschwarzen Freischwingerstühlen verbringen wir heutenoch viele Konferenzstunden. Der Tisch aus Eschenholzaus der Feder von Mies van der Rohe ist noch heute inDesign und Funktion nahezu unschlagbar. Wenn ichheute durch die Gebäude des Bundestages unterirdischgehe, dann erinnert mich die Sichtbarkeit des Konstruk-tiven an die Ideen der großen Meister der 20er-Jahre.Dieser Umbruch des Gestalterischen ging natürlicheinher mit einem gesellschaftlichen Aufbruch, weg vonden Schlössern, den Palästen und den Burgen. Die Ar-chitektur des Bauhauses öffnete die Räume, ließ Lichtherein und schuf Transparenz. Es war kein Zufall, dassdas in der Weimarer Republik geschah. Das Bauhaus eb-nete auch den Weg hin zu einer Demokratisierung desBauens. Wer in einem Gebäude arbeitete, wurde nichtmehr in dunkle Kammern abgeschoben. Er bekam denRaum, den er für seine Tätigkeit brauchte. Diese Zweck-mäßigkeit der Form ist noch heute für uns Standard beimBauen.Dass die architektonische und die gestalterischeAvantgarde jener Zeit nach Deutschland kam, kann unsmeiner Meinung nach noch heute ein bisschen stolz ma-chen. Deutschland, das Land der Dichter, der Denkerund auch der Designer, daran sollten wir anknüpfen.
Auch wenn die Versuchung groß ist, sollten wir unsdavor hüten, das Bauhaus auf eine deutsche Errungen-schaft zu reduzieren. Studenten aus aller Welt kamenzum Bauhaus. Die Schule stand für Weltoffenheit. Manverständigte sich zunächst nur über die gemeinsameSprache des guten Designs. Das Bauhaus verstand sichals modern, offen und tolerant, Werte, von denen wir ge-rade in diesen Tagen erfahren müssen, dass sie nichtselbstverständlich sind und immer wieder verteidigt wer-den müssen.
Es ist daher kein Wunder, dass es die Nationalsozialistenwaren, die dieser Bewegung ein jähes Ende setzten.Dass Weimar, Dessau und Berlin die Zentren desBauhaus-Jahres sein werden, haben meine Vorrednerschon erwähnt. Dennoch gibt es auf der ganzen WeltZeugnisse von dem, was Kreative in den 20er-Jahrenhier in Deutschland begründeten, Zeugnisse, die nichtunbedingt in Stahl und Beton gegossen sein müssen,sondern vor allem im kulturellen und gestalterischen Ge-dächtnis bis heute wirken.So wie meine Vorrednerinnen und Vorredner Bei-spiele genannt haben, möchte ich natürlich darauf hin-weisen, dass es auch in Bayern echte Bauhäuser gibt.Walter Gropius schuf beispielsweise im Auftrag der Por-zellanfirma Thomas in Amberg in der Oberpfalz mit dersogenannten Glasmacherkathedrale sein letztes Meister-werk des modernen Funktionalismus. Er selbst konntedie Fertigstellung 1970 nicht mehr erleben, aber das Ge-bäude ist bis heute als Kristallglasmanufaktur in Betrieb.Selbstverständlich leistet auch die CSU ihren Beitragzur allgemeinen Bauhaus-Freude. Meine Partei verkauft– Sie haben es in diesen Tagen in den Zeitungen lesenkönnen – ihre Parteizentrale in der NymphenburgerStraße und kauft ein neues Gebäude. Wir nennen das un-ser Vereinsheim. Wenn Sie uns da einmal besuchen wol-len, können Sie sich schon einmal die Adresse notieren.Die CSU residiert künftig in der Mies-van-der-Rohe-Straße Nummer 1.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3727 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Kirsten
Tackmann, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Steuerfreie Risikoausgleichsrücklage für Agrar-
betriebe ab 2016
Drucksache 18/3415
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Haushaltsausschuss
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre
hierzu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abge-
ordnete Dr. Kirsten Tackmann, Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Gäste auf den Rängen! Über die steuerfreie Risi-koausgleichsrücklage für Agrarbetriebe diskutieren wirschon länger. In den Bundestagswahlkämpfen der ver-gangenen Jahre hat die Forderung immer wieder eineRolle gespielt. Es gibt keine Veranstaltung, in der diesesThema nicht genannt wird, entweder von der Landwirt-
Metadaten/Kopzeile:
7572 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Dr. Kirsten Tackmann
(C)
(B)
schaft oder von Gartenbaubetrieben oder auch vonBaumschulen.Das allein wäre aber natürlich noch kein Grund fürdie Linke, diesen Antrag heute hier einzubringen. Wirsind relativ unverdächtig, die Positionen des DBV ein-fach so zu übernehmen, schon gar nicht unkritisch. Aberso, wie ich sonst unterschiedliche Positionen zu denendes Deutschen Bauernverbandes sehr deutlich benenne,so muss ich ihn unterstützen, wenn er einmal recht hat.
Dazu gehört eben die steuerfreie Risikoausgleichsrück-lage für Agrarbetriebe. Dabei geht es nicht um einRundum-sorglos-Paket, wie immer unterstellt wird, son-dern einfach nur um Hilfe zur Selbsthilfe.Ja, es geht auch um den Verzicht auf Steuereinnah-men. Deshalb ist es für die Linke besonders wichtig, zubegründen, warum das trotzdem im Sinne des Gemein-wohls notwendig ist, und, ja, wir schaffen damit für dieLandwirtschaft eine Sonderrolle; aber auch das möchteich gerne begründen.Uns sind die Ernährungssicherung und die Ernäh-rungssouveränität eben nicht nur im globalen Süden sehrwichtig, sondern auch im eigenen Land. Deshalb hat dieExistenzsicherung der einheimischen Landwirtschaft füruns einen hohen gesellschaftlichen Wert. Es geht uns da-bei um die Sicherung der Versorgung in den Regionendurch die Landwirtschaft und damit um Gemeinwohlin-teressen.
Das ist übrigens der linke Plan B als Gegenentwurfzur aktuellen Agrarpolitik, der die Landwirtschaft vor al-lem als Zulieferer für den Agrarmarkt wettbewerbsfähigmachen will. Genau das ist nicht unser Leitbild.Zur Sonderrolle der Landwirtschaft: Die landwirt-schaftliche Erzeugung ist neuen Risiken ausgesetzt, diedie Betriebe selbst kaum beeinflussen oder selbst mithellseherischen Fähigkeiten kaum vorsorglich berück-sichtigen können. So gibt es zum Beispiel völlig neue,neu eingeschleppte oder zurückkehrende Tierseuchen.Erinnern wir uns an das Schmallenberg-Virus, dasohne Vorwarnung zu hohen Verlusten in der Schaf- undZiegenhaltung führte und bis dahin völlig unbekanntwar. Man wusste überhaupt nicht, wie man damit umge-hen sollte. Oder ich erinnere an die mysteriöse Be-standserkrankung, die chronischer Botulismus genanntwird. Wie sollen sich Betriebe davor schützen, wie sol-len sie damit umgehen, wenn nicht einmal die Wissen-schaft weiß, welche Ursachen die Krankheit hat! Hierwird Unterstützung gebraucht, auch deshalb, weil Tier-seuchenkassen dieses Risiko nicht abdecken.Auch bei den Pflanzen lauern bisher völlig unbe-kannte Gefahren. Ich erinnere an die aus Asien einge-schleppte Kirschessigfliege – sie bereitet aktuell Obst-und Weinbauern schlaflose Nächte – oder daran, dass derEichenprozessionsspinner unterdessen die Eichen nichtnur kahlfrisst, sondern sie auch zum Absterben bringt.Da die Raupenhärchen ein gesundheitliches Risiko dar-stellen, kann man dieses Holz nicht einmal mehr verwer-ten. Ich denke, auch diese Last können wir den Betriebennicht allein überlassen.
Auch der Klimawandel ist zu einem hohen betriebs-wirtschaftlichen Risiko geworden. Aktuell ist der Winterso milde, dass er Winterkulturen sogar schadet. Frostohne Schnee ist ein Problem. Trockenheiten wechselnsich mit zu viel Wasser ab, entweder von oben oder vonunten. Neue Sorten müssen getestet werden, weil bislangbewährte mit den neuen Bedingungen nicht klarkom-men. Ich finde, auch das können wir den Betrieben nichtallein überlassen.
Einen dritten Risikobereich möchte ich benennen. DieNatur gibt der Landwirtschaft lange Produktionszyklenvor. Ein kurzfristiges Reagieren auf Preisachterbahnenauf dem Weltagrarmarkt ist kaum möglich. Wenn zumBeispiel eine Kuh trächtig ist, wird sie nach circa neunMonaten und neun Tagen ein Kalb zur Welt bringen unddanach auch Milch geben, egal ob der Milchpreis geradewieder einmal abstürzt oder nicht.
Oder wenn erst einmal eingesät ist, kann man das Saat-gut nicht wieder ausbuddeln, wenn der Preis für dasErntegut gerade verfällt. Verschärft werden diese Preis-schwankungen durch die spekulativen Wetten an derBörse auf Ernten, die noch nicht einmal eingesät sind.
Also, es gibt erhebliche Risiken für die landwirtschaftli-chen Betriebe, die selbst vorsorglich handelnde Betriebeexistenziell gefährden können. Ich finde, deswegenbrauchen sie Unterstützung.
Es gibt aber immer wieder auch Phasen, in denen esbesser läuft. Beispielsweise war 2014 für viele Milchbe-triebe ein sehr gutes Jahr mit 25 Prozent Plus im Durch-schnitt auf das Betriebsergebnis. Ackerbaubetriebe wie-derum hatten ein Minus von 23 Prozent in ihren Büchernstehen. Unterdessen ist aber der Milchpreis wieder imabsoluten Sinkflug. Genau das stellt uns doch vor dieFrage: Helfen wir mit Steuergeldern aus, wenn wiedereinmal eine Krisensituation ist? Oder verzichten wir aufeinen kleinen Teil der Steuern in guten Jahren, damit dieBetriebe für schlechte Jahre Vorsorge leisten können?
Wir finden, die zweite Variante ist wesentlich sinn-voller. Das finden nicht nur wir, sondern das findet sogarder grüne Landwirtschaftsminister in Baden-Württem-berg, Herr Bonde. Die Union hat 2012 einen entspre-chenden Parteitagsbeschluss gefasst. Ich meine, dannkann man das hier auch so beschließen.Vielen Dank.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7573
(C)
(B)
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Norbert Schindler, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Guten Abend, liebe Kolleginnen,liebe Kollegen! Alles Gute noch für 2015, auch dem Prä-sidium. – Ein schönes Thema. Alle Jahre wieder kommtdas Christuskind; alle Jahre wieder kommt rechtzeitigzur Grünen Woche ein von den Linken gestellter Antragauf Ermöglichung einer steuerfreien Risikoausgleichs-rücklage für Agrarbetriebe. Letztes Mal haben wir dieRedebeiträge dazu zu Protokoll gegeben; heute debattie-ren wir darüber. Das mache ich auch gern. Vielen Dank,Frau Tackmann, für das Verständnis, das Sie für die Si-tuation der deutschen Landwirtschaft insgesamt gezeigthaben.Aber zur Sache. Welche Ausnahmen für die Land-wirtschaft – das frage ich als aktiver Bauer – gibt es inder gesamten Gesetzgebung? Ich sage einmal mit allemErnst: Ich bin schon über 20 Jahre Abgeordneter. Es istselbstverständlich, dass wir in § 13 a Einkommensteuer-gesetz die Ermittlung des Gewinns aus Land- und Forst-wirtschaft pauschaliert haben. Erst vor einigen Monatenhaben wir erneut beschlossen, dass die Kleinstbetriebeeinen besonderen Schutz behalten. Wir haben diesenSchutz sogar noch verbessert.Wir haben auf der anderen Seite vor mehr als zweiJahren in einer Nachtaktion, so könnte man sagen, ge-rade wegen Problemen wie Überflutung oder zu großeTrockenheit Mehrgefahrenversicherungen zu Sonder-konditionen begünstigt. Ich könnte jetzt behaupten, dassich dafür schubkarrenweise Dankesschreiben bekommenhabe. Bei vielen wird das als etwas Selbstverständlichesabgehakt. Ich verweise leidenschaftslos auf das, was un-sere Politik draußen im Lande bewirkt hat.Zum eigentlichen Thema. Steuerberaterinnen oderSteuerberater wären die großen Gewinner bei einer Än-derung in Ihrem Sinne, Frau Kollegin. Man müsste eineBilanz fünf, sechs oder sieben Jahre offenhalten, bis maneinen endgültigen Bescheid bekommt, weil man danndie 50 000, 70 000 oder 100 000 Euro, die man in dieRücklage eingezahlt hat, mit 6 Prozent Zinszuschlag proJahr versteuern muss. Das ist heute geltendes Recht.Dann möchte ich einmal die Gesichter derjenigen sehen,die dafür die Verantwortung tragen.Dabei muss man all die Ausnahmen sehen. Vor allem:Es geht um zwei Kalenderjahre. Die Erträge, die zu ver-steuern sind, werden auf zwei Wirtschaftsjahre gesplit-tet. Da könnte man überlegen: Bezieht man noch einweiteres Jahr mit ein? Wenn man dann im Betrieb in dieSchlussbesprechung mit dem Steuerberater geht, mussman überlegen: Wie war das denn vor 36 Monaten?Zum Thema Ansparabschreibung. Wir haben schonjetzt die Möglichkeit, bis zu 40 Prozent der Kosten einesInvestitionsgutes, das erst in der Zukunft angeschafftwird, steuerwirksam zurückzustellen; die Beträgewerden dann aufgebraucht. Zu diesem Thema, liebeFreunde, noch Folgendes: Der Antrag, dass man diestrenge Zuordnung etwas lockert, wird in diesen Mona-ten mit Sicherheit noch einmal gestellt werden. Heute istes so, dass ich sagen muss: Ich kaufe einen Schlepper.Der kostet 100 000 Euro. Ich soll für die Ansparrücklagewomöglich auch noch die Marke nennen. Ich meine, esgeht darum, zu erreichen, dass man den Betrieben daFreiheit lässt, sodass sie den Vorteil erhalten, egal wassie investieren, dass sie also nicht unbedingt den Mäh-drescher kaufen müssen, der genannt worden ist, son-dern auch einen Traktor kaufen können. Das ist derzeitzu eng gestrickt. Solche Öffnungsmöglichkeiten, die denStaat aktuell kein Geld kosten, sollte man schon wohl-wollend prüfen.Dann haben wir in § 7 g Einkommensteuergesetz,wenn ich mich recht erinnere, eine Regelung zur Rein-vestition, wenn man Land teuer verkauft. Derzeit ist dassehr eng gefasst; das kann man schon kritisch anmerken.Zu überlegen wäre, dass man die Mittel nicht zwingendin Grund und Boden anlegen muss, sondern vielleichtauch in Bauten oder Maschinen reinvestieren kann – al-lein schon aus dem folgenden Grund: Mainz ist meineLandeshauptstadt. Wenn dort in steigendem Maß Erlöseaus Landverkäufen reinvestiert werden müssen, ergehenKaufgebote für Flächen in 10, 20 oder 40 Kilometer Ent-fernung und verteuern dort unnötig das Land, nur weilman gezwungen ist, um Steuern zu sparen, die Mittelwieder in Grund und Boden anzulegen. Das sind dieBaustellen, die man in Angriff nehmen müsste.Zum Schluss der ganzen Debatte noch Folgendes:Das, was mir auch vom Präsidenten des Deutschen Bau-ernverbandes schon jahrelang gesagt wurde, war Aus-fluss der Debatten der Agrarpolitiker, um das ins Wahl-programm der Union zu bekommen. Ich sage frank undfrei: Ich habe schon immer gegen den Afghanistan-Ein-satz gestimmt; das hat seine Gründe. Wenn ich von einerSache nicht überzeugt bin, dann vertrete ich sie auch alsVizepräsident des Bauernverbandes nicht, selbst wennman glaubt, man müsse mich dazu zwingen. Ich bin freigewählter Abgeordneter. Das sagte ich auch meinemPräsidentenkollegen. Ich bin von dieser Sache nichtüberzeugt, weil das Offenhalten einer Bilanz so vieleSchwierigkeiten mit sich bringt und weil dieser ganzeWust damit verbunden ist. Es ist nicht praxisgerecht.Denken wir über die anderen Baustellen nach, die wir imSinne der deutschen Landwirtschaft notwendigerweiseangehen sollten!Was haben wir in den letzten Jahren alles steuerlichgeschafft, und welches Ringen hatten wir auch beimErbschaftsteuerrecht, um zu erreichen, dass beimErtragswertverfahren die Landwirtschaft privilegiert, ge-schützt außen vor bleibt! Das war doch keine selbstver-ständliche Sache bei der Neiddebatte damals. Vielleichthat auch mein Argumentieren im letzten Sommer beimVerfassungsgericht mit dazu beigetragen, dass das Urteilin Karlsruhe zum Ertragswertverfahren für alle Betriebeund die Industrie den Schutz der aktiven landwirtschaft-lichen Betriebe berücksichtigt hat; das hatte einen beson-deren Stellenwert in dem Urteil des Verfassungsgerichts.Das zeigt meine Grundeinstellung, unsere Grundeinstel-lung.Liebe Kameraden von den Linken,
Metadaten/Kopzeile:
7574 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Norbert Schindler
(C)
(B)
dass Sie immer zur Grünen Woche diesen Antrag stellen,beeindruckt mich weiß Gott nicht.
Zufälligerweise zitieren Sie den Deutschen Bauern-verband rauf und runter.
Davon war ich als Vizepräsident sehr angetan. Aber las-sen wir es dabei!Hier stellt sich sofort auf der Basis des Gleichheits-grundsatzes die Frage nach der Ungerechtigkeit: Wasmachen wir mit Skiliften in Tourismusgebieten? Wasmachen wir mit der Bauwirtschaft? Da ist man manch-mal 8, 10 oder 14 Wochen genauso blockiert. Dann kom-men immer mehr Ausnahmen. Dann kostet uns das nicht1,5 oder 2 Milliarden Euro, wie berechnet, –
Herr Kollege.
– sondern dann kostet uns das in der Einführungszeit
6 bis 7 Milliarden Euro, und das bei dem großen haus-
haltspolitischen Ziel, das wir uns gegeben haben, näm-
lich Nullverschuldung. Von dieser Linie rücken wir nicht
ab, auch nicht bei diesem Punkt.
Danke schön.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-ordneten Dr. Thomas Gambke, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Besucher, die Sie gerade gehen! Es ist ja vielleichtauch eine nicht ganz so spannende Debatte. – HerrSchindler, bei der Einleitung zu Ihrer Rede musste ichein bisschen schmunzeln. Da haben Sie Ihre Ablehnungmit den heute schon vorhandenen Ausnahmen und Be-sonderheiten zum Beispiel hinsichtlich Einkommen-steuer oder Umsatzsteuer begründet. Ich erinnere michgerade bezüglich der Umsatzsteuer, dass Brüssel unsdarauf aufmerksam machen musste, dass Pferde imWesentlichen nicht zum Verzehr genutzt werden, son-dern als Reitpferde und zu anderen Zwecken, und des-halb für diese nicht mehr der verminderte Mehrwertsteu-ersatz von 7 Prozent infrage komme. Ich erinnere mich,dass Sie in einem sich daran anschließenden Bericht-erstattergespräch auf Holzrückepferde aufmerksam ge-macht haben und dann auch noch durchgesetzt haben,dass der Verkauf dieser Pferde nach wie vor mit 7 Pro-zent besteuert wird.
Das ist ein Ausnahmetatbestand, zu dem ich sage: Ichhoffe, dass dann, wenn wir uns noch einmal mit demThema Umsatzsteuer befassen,
obwohl Ihre Fraktion da ja wirklich eine Verweigerungs-haltung an den Tag legt, wenigstens Sie uns unterstützen,damit wir da endlich zu einer vernünftigen Regelungkommen.
Nur so viel dazu.Richtig ist, es bestehen Risiken. Diese haben Sie vonder Linken benannt. Allerdings haben Sie Risiken be-nannt, die gar nichts mit dem Wetter zu tun haben. Siehaben TTIP angeführt, Sie haben die schwankendenHandelspreise aufgeführt. Richtig ist, man sollte Risiko-vorsorge betreiben. Eine steuerfreie Risikoausgleichs-rücklage, wie die Fraktion Die Linke sie vorschlägt, istallerdings, wie ich denke, weder sachgerecht noch ord-nungspolitisch vertretbar. Warum?Wir haben einmal – Herr Schindler hat es erwähnt –das Problem der Abgrenzung. Wie soll ich denn gegen-über dem Gastwirt im Bayerischen Wald, der imMoment sehr über einen verregneten Sommer und einenbisherigen Winter ohne Schnee stöhnt, begründen, dasser seine Einkommensverluste steuerlich nicht geltendmachen kann, aber der Landwirt nebenan schon?
Wie soll ich die Abgrenzung zu den vielen Nebener-werbslandwirten vornehmen oder denjenigen, die nebender Landwirtschaft auch noch andere Geschäfte betrei-ben? Ich sehe da vor meinem geistigen Auge denFinanzbeamten, der darüber entscheiden soll, welcherBetrag auf die Landwirtschaft entfällt und welcher Be-trag aus anderen Geschäften kommt.Wie verhält es sich mit der Tatsache, dass immerdann, wenn steuerliche Entlastungen beschlossen wer-den, gerade die großen Betriebe die Nutznießer sind?Schon allein deshalb hat es mich gewundert, dass dieserVorschlag aus den Reihen der Linken kommt. Wenn Sienämlich eine solche steuerliche Maßnahme machen,können Sie sie nicht nur auf kleine und mittlere bäuerli-che Betriebe begrenzen.
Es verhält sich so: Es gibt schon eine Reihe von Son-derkonditionen für die Landwirtschaft. Ich denke, wieschon erwähnt, an die Abrechnung der Umsatzsteuer aufBasis von Durchschnittssteuersätzen oder der pauschali-sierten Gewinnermittlung bei der Einkommensteuer. Dasoll jetzt noch etwas draufgesetzt werden. Wenn dahin-terstünde, dass Sie die Landwirtschaft zusätzlich fördernwollen – ich will nicht von Subvention sprechen –, dann
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7575
Dr. Thomas Gambke
(C)
(B)
wäre gerade das ein Grund, genau das nicht zu machen.Wir wollen nämlich, dass Förderungen transparent sind,dass wir ihre Wirkungen erkennen können und sie somitauch steuern können. Auch hier also ein falscher Ansatz.Lassen Sie mich an dieser Stelle klar sagen: Wenn wirdie Landwirtschaft fördern, dann an der richtigen Stelleund nicht mit solchen Einzelfallregelungen, wie Sie siehier vorschlagen.Es ist also ordnungspolitisch falsch, es ist sachlichfalsch. Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass wirbei der Debatte, die wir noch vor uns haben, jetzt herge-hen und sagen: Wir wollen eine steuerrechtliche Sonder-regelung schaffen.Lassen Sie mich noch etwas sagen, gerade vor demHintergrund, dass Sie die Risiken angeführt haben. Siehaben die Klimaveränderung angeführt, Sie haben, wiegesagt, TTIP angeführt. Sie haben die schwankendenPreise im Handel und auch im Bezug von Düngemittelnund anderen Materialien angeführt. Lassen Sie uns dochwirklich an den Ursachen ansetzen, und nicht an derWirkung. Ich wünsche mir von der linken Seite und auchvon der anderen Seite mehr Unterstützung für eine klareZielsetzung in Richtung einer ökologischen Landwirt-schaft. Dann haben Sie manche Probleme, von denen Siehier sprechen, nicht mehr.
Wenn Sie das hinkriegen, dann sind Sie wirklich dabei,an der Basis Sicherheit herzustellen und Risiken zu ver-ringern.
– Sie müssen an mehreren Schrauben drehen; das istrichtig. Aber die wichtigste Schraube ist – hier erwarteich Ihre Unterstützung, die der CDU/CSU und auch dieder Sozialdemokraten – eine vernünftige ökologischeLandwirtschaft.Vielen Dank.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Ingrid Arndt-Brauer, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Zuhörer! Wir haben hier so etwas wie einezweijährige Wiederholung eines Themas. So wie regel-mäßig die Grüne Woche kommt, so kommt regelmäßigder Antrag der steuerfreien Risikoausgleichsrücklage fürdie Landwirtschaft – überraschenderweise nicht immervon den gleichen Leuten.Ich erinnere an einen Vorstoß der Landwirtschaftsmi-nisterin Ilse Aigner im Jahr 2009. Sie hat das Thema be-setzt, sich an Peer Steinbrück gewandt und ihn gebeten,doch darüber nachzudenken. Er hat darüber nachgedachtund hat es rundweg abgelehnt. Er hat es mit dem Argu-ment abgelehnt: Unter dem Gesichtspunkt des Gleich-heitsgrundsatzes – Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes –bestehen keine hinreichend sachlichen Rechtfertigungs-gründe für eine Risikoausgleichsrücklage. Da andereBranchen vergleichbar hohe Risiken eingehen oder garstärkeren Marktschwankungen unterliegen – damals wares die Automobilwirtschaft; das war 2009 –, würde ein-zig die Land- und Forstwirtschaft steuerlich gefördert.Er wies darauf hin, dass wir – das wurde auch vom Kol-legen Schindler angesprochen – eine ganze Menge be-sonderer Regelungen für die Land- und Forstwirtschafthaben. Sie bilanzieren nicht nach dem Kalenderjahr,sondern nach dem Wirtschaftsjahr; das heißt, sie könnenihre Gewinne in zwei Rechnungsjahre aufspalten undhaben dadurch gute Möglichkeiten, den Gewinn aufzwei Veranlagungszeiträume aufzuteilen. Das war 2009.Dann gab es 2012 einen neuen Vorstoß – diesmal vonden Linken. Sie bezogen sich auf ein Gutachten. DasGutachten ist vom Bundesministerium für Ernährung,Landwirtschaft und Verbraucherschutz in Auftrag gege-ben worden, fiel allerdings nicht so aus, wie sie es sichvorgestellt hatten. Auch in diesem Gutachten wird dieRücklage komplett abgelehnt, weil sie keine wirklicheEntlastung erreicht, da die Steuerzahlung lediglich in dieZukunft verschoben wird. Das ist genau der Punkt. Siehaben die ganze Zeit gesagt, Sie wollen die Landwirt-schaft unterstützen, Sie wollen sie fördern, Sie wollenErnährungssicherheit herstellen. In Wirklichkeit wirdallerdings nur eine Steuerzahlung in die Zukunft ver-schoben und keine Subvention geleistet. Das muss manimmer im Kopf haben.Damals haben Sie davon gesprochen, dass es darumgeht, 35 Millionen Euro an die Landwirte zu verteilen.Diesmal steht in Ihrem Antrag kein Finanzvolumen. Ichweiß nicht, ob das Ganze inzwischen nichts mehr kostet.Oder wie haben Sie sich das vorgestellt?Sie haben jetzt einen neuen Antrag eingebracht. Er istinhaltlich fast gleich, allerdings sind beachtliche neueRisiken der Landwirte dazugekommen. Neben dem Kli-mawandel – vor zwei Jahren gab es ihn so noch nicht, erhat sich verstärkt – und der afrikanischen Schweinepest– sie gab es vor zwei Jahren auch noch nicht – sind dieRisiken von TTIP und die Folgen des russischen Import-stopps
in der Begründung für die Ausgleichsrücklage hinzuge-kommen. Normalerweise ist es für die Landwirte immeretwas risikoreich, ihrem Betrieb nachzugehen. Klimagab es schon immer.
Auch Tierseuchen gab es schon immer, und es gab schonimmer irgendwelche Handelsabkommen. Es mag sein,dass wir jetzt vielleicht neue Erreger haben, aber wir ha-ben auch neue Impfstoffe. Ich glaube, das gleicht sich
Metadaten/Kopzeile:
7576 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Ingrid Arndt-Brauer
(B)
aus. Fälle von Infektionen mit dem Blauzungen- unddem Schmallenberg-Virus ziehen sich durch die letztenJahre – das stimmt –; aber da hilft keine Steuererleichte-rung. Die Viren werden weiterhin auftauchen, unabhän-gig davon, ob die Landwirte Geld haben oder nicht.Wie stark die Landwirte davon betroffen sind, hängtnatürlich von der Art des Betriebes ab. Auch dafür habenSie keine Lösung. Sie wollen nämlich nicht gezielt Be-triebe mit besonderen Risiken fördern, sondern die För-derung streuweise über alle Betriebe verteilen, wodurchdie großen Betriebe – die Kollegen sagten es schon – er-heblich mehr erhalten als die kleinen; das ist ein sehrwichtiger Kritikpunkt.Wie gesagt: Sie benennen kein Volumen der Entlas-tung; Sie haben es nicht berechnet oder berechnen wol-len. Sie differenzieren bei der Förderung überhauptnicht; Sie schieben die Förderung einfach dem ganzenSektor zu. Dass Ihre Fraktion dabei auf die Historie ver-weist – nach dem Motto: das hat der Landwirtschaftsver-band schon immer gefordert, deswegen muss es richtigsein –, finde ich ein bisschen überraschend.
– Die Begründung fand ich nicht so überzeugend.
Schwierig ist auch die Umsetzung des Antrags. Siemüssen sich das einmal überlegen. In Ihrem Antrag ha-ben Sie geschrieben:Die Höhe der Rücklage sollte sich aus den betriebli-chen Umsätzen der vorangegangenen drei Wirt-schaftsjahre errechnen und bis zu 20 Prozent desdurchschnittlichen Jahresumsatzes betragen.Das bedeutet aber, dass man eine gewisse Visionbraucht, wie die nächsten Jahre sein werden. Ein Land-wirt muss schon abschätzen können: Bin ich in einemRisikojahr oder nicht? Ich halte das für sehr schwierig.Nach zwei durchschnittlichen Jahren, vielleicht mit ei-nem Jahr, in dem es einen harten Sommer gab, kann einLandwirt schlecht abschätzen, ob der nächste Sommerwieder hart wird, ob ein Risikojahr folgen wird und eineRücklage gebildet werden muss. Er kann schlecht ab-schätzen, ob nach einem guten Jahr, in dem der Milch-preis ein bisschen höher war, eine Rücklage gebildetwerden muss, weil der Milchpreis im nächsten Jahr be-stimmt wieder niedriger ist. Das abzuschätzen, ist nichtnur für den Steuerberater schwierig, sondern auch fürden landwirtschaftlichen Betrieb eigentlich unmöglich.Jede Versicherungsmöglichkeit ist besser als IhreRücklage.
Wir haben in der Versicherungsbranche eine Menge ge-macht; wir haben zusätzliche Risiken aufgenommen, dieversichert werden können. Wir können auch gerne da-rüber reden, ob man noch mehr versichern kann, ob mansich gegen die Folgen von TTIP absichern kann. Von miraus! Wenn Sie eine Versicherung dafür finden, ist mirdas recht. Ob man sich gegen die ganzen Viren absichernkann? Von mir aus! Jedenfalls ist alles besser als die vonIhnen vorgeschlagene Rücklage. Wir von der SPD warenübrigens schon immer dagegen. Die CDU/CSU hat einbisschen geschwankt, aber Kollege Schindler war auchimmer dagegen; das will ich hier wohlwollend sagen.Ich halte den Antrag nicht nur für überflüssig, son-dern auch von der Ausrichtung her für schädlich. Erbringt den Landwirten nichts außer ein bisschen mehrPublicity zur Grünen Woche; er bringt keine Erleichte-rung im Betriebsablauf. Wenn Sie den Landwirten wirk-lich helfen wollen, dann sorgen Sie für einen fairenWettbewerb,
für eine gute Landwirtschaft, die unter fairen Bedingun-gen produziert, und für faire Preise. Helfen Sie mit, dieMassentierhaltung einzudämmen, den Flächenver-brauch einzudämmen, die Intensivtierhaltung einzu-schränken
und vielleicht den Antibiotikaverbrauch zu beschränken.Helfen Sie dabei, eine gute Ernährung für die Verbrau-cher zu sichern. Das nutzt allen: den Verbrauchern, derLandwirtschaft in ihrem Bestand und dem Image so-wieso.Nun möchte ich die restlichen Minuten meiner Rede-zeit denen zur Verfügung stellen, die noch auf die GrüneWoche gehen wollen. Deswegen beende ich meine Redeetwas eher. Ich denke, da ist mir keiner böse. Ich wün-sche allen eine schöne Zeit auf der Grünen Woche. Set-zen Sie sich intensiv mit den Landwirten und ihren Pro-blemen auseinander,
und sparen Sie sich den nächsten Antrag in zwei Jahren.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Fritz Güntzler, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe verbliebenen Gäste hier im Plenarsaal!Die Vorredner haben darauf hingewiesen: Dieses Themahat das Hohe Haus schon des Öfteren beschäftigt; michbeschäftigt es zum ersten Mal.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7577
Fritz Güntzler
(C)
(B)
Ich widme mich diesem Thema sehr gerne. Schon da-mals, im Jahre 2012, ist ein ähnlicher Antrag der Linkenvon allen übrigen Fraktionen abgelehnt worden. Esscheint heute, dass es wieder so kommt.Wir haben uns den Antrag angesehen und haben fest-gestellt – die Vorrednerin hat darauf hingewiesen –: Esgibt wenig Neues. Neue Krisen sind hinzugekommen.Der Antrag ist nach wie vor wenig konkret. Es ist nurdas Stichwort „Rücklagenbildung“ enthalten. Wie mandas löst, wie das umgesetzt, administriert werden soll,steht nicht darin.
Die Gegenargumente, die damals vorgetragen wurden,gelten noch immer. Sie werden heute aber gerne nocheinmal von allen vorgetragen; denn wie heißt es soschön: Die Wiederholung ist die Mutter der Pädagogik.Wir in der CDU/CSU-Fraktion haben einen längerenProzess durchlaufen, was dieses Thema angeht. Es istdarauf hingewiesen worden: Wir haben das Für und Wi-der immer wieder abgewogen, sind aber zu dem Ergeb-nis gekommen, dass das beabsichtigte Ziel durch eineRisikoausgleichsrücklage nicht erreicht werden würde.Das deckt sich übrigens mit dem Ergebnis einer Untersu-chung von Professor Bahrs, die ebenfalls angesprochenwurde. Dort heißt es, eine steuerfreie Risikoausgleichs-rücklage würde keinen wesentlichen Beitrag zur Abfede-rung von markt- und wetterbedingten Risiken in derLandwirtschaft leisten.Wir sollten uns überlegen, was mit einer solchenRücklage – wenn man dieses Thema angehen und denGleichheitsgrundsatz, der auch schon angesprochenwurde, beiseiteschieben würde – eigentlich erreicht wer-den soll. Es geht um eine Verbesserung der Liquiditätder Agrarbetriebe durch einen Glättungseffekt bei denEinkünften und durch einen Zinseffekt aufgrund derStundung der Steuerzahlungen, die auf einen späterenZeitpunkt verlegt werden. Wir müssen uns aber fragen,ob dieser Effekt tatsächlich erreicht wird, und wenn ererreicht wird, welchen Umfang er in den einzelnen Be-trieben einnehmen würde, sodass er tatsächlich eine Ent-lastung für den einzelnen Betrieb darstellt.Beim Glättungseffekt kommt es zu einer Verstetigungder Höhe des zu versteuernden Einkommens, indem inguten Jahren eine Rücklage gebildet wird, die inschlechten Jahren aufgelöst wird. Hier kommt es auf-grund der Jahresabschnittsbesteuerung, wie wir sie inDeutschland haben, und des linear-progressiven Steuer-tarifs unter Umständen zu Steuerentlastungen. Das setztallerdings voraus, dass der jeweilige Betrieb der Steuer-progression unterliegt; das ist bei vielen aber gar nichtder Fall.Ganz ohne Auswirkung bleibt der Glättungseffekt beiAgrarbetrieben, die ihre Einkünfte nach § 13 a Einkom-mensteuergesetz, also nach den Durchschnittssätzen,versteuern, bei denjenigen, die in der Proportionalzonedes Einkommensteuertarifs liegen – also bis 15 Prozentund über 42 Prozent sowie bei der Reichensteuer über45 Prozent –, sowie bei Kapitalgesellschaften, die mit15 Prozent einheitlich besteuert werden.Wenn überhaupt ein Glättungseffekt erreicht wird,dann wäre er bei den meisten Unternehmen recht über-schaubar. Im Zuge des schon angesprochenen Gutach-tens hat Professor Bahrs ermittelt, dass die Betriebe le-diglich um durchschnittlich 174 Euro pro Jahr entlastetwerden würden. Ich bezweifle, dass die Risiken, die Sieangesprochen haben, damit abgegolten werden könnten.Das Gutachten stellt zusammenfassend fest, dass etwa30 Prozent der Betriebe gar keinen Nutzen aus der Rück-lage ziehen würden. Bei weiteren 30 Prozent läge derVorteil lediglich bei 100 bis 500 Euro, und die Hälfte derprognostizierten Entlastungen entfiele auf nur 10 Pro-zent der Agrarbetriebe. Die Einführung einer Risikoaus-gleichsrücklage verfehlt somit das Ziel, eine Liquiditäts-entlastung in der Breite, also für viele Betriebe, zuerzielen. Sie nützt nur einigen wenigen. Dies sind imWesentlichen die großen und ertragreichen Betriebe undnicht diejenigen Betriebe, die die Liquiditätshilfe brau-chen, wenn sie denn kommen würde.Das liegt auch daran, dass durch die Betriebe ein so-genannter Risikoausgleichsfonds aus liquiden Mitteln inHöhe der Rücklage auf der Aktivseite gebildet würde,damit die Liquidität im Unternehmen bleibt und nichtabfließt. Dies setzt aber bei den Unternehmen einen po-sitiven Cashflow voraus, der es ihnen ermöglicht, Fi-nanzmittel zu separieren und temporär auf Liquidität zuverzichten. Das können eher die Unternehmen, die dieKrisen wahrscheinlich auch ohne Rücklagenbildungüberstehen würden, für die also eine gewisse Kapitalbil-dung möglich ist, die eine gewisse Größe und Ertrags-kraft haben.Eine weitere Schwierigkeit ist, dass die Auflösung derRücklage und des Ausgleichsfonds an bestimmte Bedin-gungen geknüpft sein müsste. Es wird erheblicheSchwierigkeiten bei der Definition, der Messung und derBewertung der Ertragsminderung geben, die Grund fürdie Auflösung der jeweiligen Rücklagen sein wird. DasGanze schafft mehr Verwaltungsaufwand sowohl bei denAgrarbetrieben als auch bei den Finanzbehörden.Eine steuerfreie Risikoausgleichsrücklage macht dasSteuerrecht nicht einfacher und auch nicht gerechter. ImSteuerrecht gibt es schon jetzt Möglichkeiten für dieAgrarbetriebe zur Glättung der Einkünfte – das ist ange-sprochen worden –: die Verlustverrechnung gemäߧ 10 d Einkommensteuergesetz, den Investitionsabzugs-betrag gemäß § 7 g Einkommensteuergesetz und dieDurchschnittsbesteuerung nach § 4 a Einkommensteuer-gesetz.Den neben dem Glättungseffekt vorhin angesproche-nen Zinseffekt können wir aufgrund der momentanenNiedrigzinsphase meines Erachtens beiseiteschieben.Ihm sollten wir keine weitere Bedeutung beimessen,weil die liquiden Mittel, die in dem Fonds angelegt wer-den, keine größeren Erträge ausweisen werden, sodassder Erfolg für die Unternehmen gering sein wird.Es bleibt also festzuhalten, dass die mit der Einfüh-rung einer steuerfreien Risikoausgleichsrücklage zu er-
Metadaten/Kopzeile:
7578 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Fritz Güntzler
(C)
(B)
wartenden Liquiditätseffekte entweder gering sind odernur eine kleine Zahl von Betrieben erreichen, und zwargerade solche, die aufgrund ihrer Kapitalstärke krisen-fester sind. Wir halten die Einführung einer steuerfreienRisikoausgleichsrücklage weder für angemessen nochfür notwendig, weil die mit ihr beabsichtigten, wennauch gut gemeinten Ziele nicht erreicht werden können.Herzlichen Dank.
Als letzter Rednerin in der Aussprache erteile ich das
Wort der Abgeordneten Rita Stockhofe, CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Der vorliegende Antrag – das haben wir heuteschon gehört – ist nicht wirklich neu. Aber er enthält ei-nen guten Grundgedanken; das wurde schon festgestellt.Der Finanzausschuss ist zwar federführend, aber ichmöchte jetzt einmal ein bisschen aus der Sicht der Land-wirtschaft berichten, weil die Landwirtschaft betroffenist und ich Mitglied im Landwirtschaftsausschuss bin.Schauen wir uns an, wofür die Landwirtschaft zuständigist: Sie versorgt die Menschen mit hochwertigen Produk-ten, mit Essen und Trinken. Sie erhält unsere Kulturland-schaft, hegt und pflegt sie. Sie ist aber auch dazu da,Heimat zu gestalten. Das sind große Aufgaben, die siewahrnimmt. Ich denke, wir alle wissen das zu würdigen.Es gibt Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, umeine gute Landwirtschaft gewährleisten zu können. Dazugehören beispielsweise eine gute Ausbildung des Be-triebsleiters, hochwertiges Saatgut, effiziente Landma-schinen und Ähnliches. Diese Voraussetzungen sinddurch den Bewirtschafter beeinflussbar. Es gibt aberauch Voraussetzungen, die nicht beeinflussbar sind – wirhaben es heute mehrmals gehört –, wie Klima, Embar-gos, Krankheiten und Ähnliches. Natürlich wäre esschön, wenn die Landwirte dieses Risiko nicht tragenmüssten. Aber die Landwirte wissen, dass sie Unterneh-mer sind, und Unternehmer tragen ein unternehmeri-sches Risiko.
Sie wissen auch mit diesem Risiko umzugehen. Es gibteine Bauernweisheit, die besagt: Der Bauer sollte eineErnte auf dem Feld haben, eine in der Scheune und eineauf der Bank. Natürlich wissen wir, dass das nicht immerzu realisieren ist, auch wenn es angestrebt wird. Aber ichglaube, vernünftig mit Geld umgehen können gerade dieBauern besonders gut, und sie geben auch nicht schnellauf.Ich unterstelle einmal, dass der Antrag der FraktionDie Linke gut gemeint ist. Aber wenn wir jetzt sehen,dass wir es gerade geschafft haben, eine schwarze Nullzu erreichen, dann muss man sagen: Das ist wirklich einganz zartes Pflänzchen, das wir da haben, um mal bei derLandwirtschaft zu bleiben. Dieses Pflänzchen muss ge-hegt und gepflegt werden. Da können wir doch nichtaufgrund von Ad-hoc-Anträgen, deren Umsetzung un-heimlich viel Geld kosten würde und bei denen wir garnicht wissen, ob dieses Geld nachher bei der Landwirt-schaft ankommt, ob sie wirklich einen Nutzen davon hat,das Risiko eingehen, dieses zarte Pflänzchen wieder ein-gehen zu lassen. Lassen Sie uns also bitte alle daran mit-wirken, diese Pflanze wachsen zu lassen, damit es uns inZukunft besser geht. Das tut auch unseren Kindern,Enkelkindern und unserer zukünftigen Landwirtschaftsehr gut. Darauf sollten wir achten.
Es wurde schon ein paarmal das Gutachten von Pro-fessor Bahrs zitiert, der gesagt hat, dass gerade die fi-nanzstarken Betriebe von der Umsetzung dieses Vor-schlags, der vorgetragen worden ist, profitieren würden.Ich glaube, es sind nicht die finanzstarken Betriebe, diewir in Krisenzeiten unterstützen müssen, sondern die,die nichts für schlechte Zeiten zurücklegen können.Es wurde ein Vergleich mit Skiliften, mit Außen-gastronomie und Ähnlichem gemacht. Dieser Vergleichstimmt natürlich. Auch da gibt es ein unternehmerischesRisiko; das müssen die Betreiber selber tragen. Wie ge-sagt, die Landwirte können es auch. Wir müssen viel-leicht noch folgenden Unterschied machen: Wenn einSkilift nicht fährt, dann tut das nur dem Betreiber weh.Wenn die Landwirtschaft keine Erträge einfährt, dann tutes jedem weh, weil die Landwirtschaft alle versorgt. Vondaher finde ich die Ausnahmesituation, die wir in ande-ren Bereichen wie bei Ansparabschreibungen und Ähnli-chem haben, sehr gut und sehr wichtig. Ich halte es füreinen guten Vorschlag – Norbert Schindler hat es vorhinschon einmal kurz erwähnt –, wenn man da ausbaut. Dashätte keinen Einfluss auf die schwarze Null, würde aberden Bauern helfen und wäre vielleicht ein guter Ansatz.
Herr Gambke von den Grünen hat vorhin gesagt, dassdie Umsatzsteuer bei Pferden deswegen erhöht wordenist, weil man Pferde ja nicht essen kann. Ich kenne Be-triebe, denen es richtig wehgetan hat, dass geradePferde, die man nicht essen kann, mit dem allgemeinenUmsatzsteuersatz von 16 Prozent belegt werden. Das be-trifft landwirtschaftliche Betriebe, deren Flächen in Na-tur-, Landschafts- oder Wasserschutzgebieten liegen. Siesind extrem eingeschränkt. – Herr Gambke, das ist einkonkretes Beispiel. Sie brauchen nicht den Kopf zuschütteln.
– Das können Sie gar nicht wissen. Das ist nämlich beimir in der Nähe.
– Kann ich jetzt fortfahren?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7579
Rita Stockhofe
(C)
(B)
Auf alle Fälle hat dieser Betrieb extreme Bewirtschaf-tungseinschränkungen hinzunehmen. Aber wie die Bau-ern so sind, schmeißen sie nicht das Handtuch, sondernsuchen nach Alternativen. Der Betrieb befindet sich inder Nähe des Ruhrgebiets. Es gibt also viele Verbrauchervor Ort. Daher stellt er auf Pensionspferde um. Das Fut-ter erzeugt er selber, und Weideflächen sind vorhanden.Das ist ein gutes Projekt für diesen Betrieb. Dann kamdie Gesetzesänderung, und er zahlt seitdem 16 ProzentSteuern, die er vorher nicht gezahlt hatte.
Wissen Sie, wie weh dem Betrieb das tut?
Das ist bei Betrieben mit Pensionspferden nicht richtig.Das tut diesen Betrieben richtig weh. Man sollte überle-gen, ob man diesen Betrieben wehtun möchte oder nichtund in der Praxis nachfragen, wie das ankommt.
Dieser Vorschlag ist nicht geeignet. Dieser Vorschlag istgeeignet, ein Bürokratiemonster aufzubauen, das vonden Steuerberatern eingefangen werden muss. Da dieSteuerberater ihre Leistung in Rechnung stellen, ist dasGanze aus Sicht des einzelnen Bauern nicht effektiv.Abschließend möchte ich Folgendes sagen: Der Berufdes Landwirts oder der Landwirtin ist ein ganz toller Be-ruf, den viele junge Menschen ausüben. Sie gehen mitviel Ehrgeiz und viel Ideologie in den Beruf hinein undwissen, dass sie eine große Verantwortung tragen fürTiere, für die Landschaft und Ähnliches. Lassen Sie unsgemeinsam Voraussetzungen schaffen, dass auch in Zu-kunft Menschen diesen Beruf gerne erlernen möchtenund von den Erlösen auch leben können.Danke schön.
Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3415 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Strittig ist jedoch die
Federführung. Die Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD wünschen Federführung beim Finanzausschuss.
Die Fraktion Die Linke wünscht Federführung beim
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft.
Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvor-
schlag der Fraktion Die Linke, Federführung beim Aus-
schuss für Ernährung und Landwirtschaft. Wer stimmt für
diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Damit ist der Überweisungsvor-
schlag mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen
die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/
Die Grünen abgelehnt.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor-
schlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD, Fe-
derführung beim Finanzausschuss. Wer stimmt für die-
sen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Damit ist der Überweisungsvor-
schlag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/
Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur
Änderung des Vierten Buches Sozialgesetz-
buch und anderer Gesetze
Drucksache 18/3699
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Gabriele
Hiller-Ohm, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Von der Wiege bis zurBahre, Formulare, Formulare. – Dieses Sprichwort be-schreibt sehr treffend den Druck der Bürokratie auf unsMenschen. Wir alle wünschen uns weniger Bürokratie,weniger Formulare. Ich zum Beispiel muss jedes Jahr fürdie Krankenkasse eine Bescheinigung ausfüllen undAuskünfte über meine mitversicherte Tochter geben, obsie noch studiert, seit wann sie studiert und wie langenoch, wie viel Geld sie mit ihren Jobs verdient hat, mussStudien- und Verdienstbescheinigungen beifügen usw.Ich habe großes Glück, dass ich sehr gewissenhafte Kin-der habe, die mir selbstverständlich sämtliche Bescheini-gungen unverzüglich zukommen lassen.
Ich weiß aber auch von Fällen, bei denen das nicht sokonfliktfrei abläuft. So eine sicherlich wichtige Daten-meldung kann sich dann sehr schnell zu einer zeit- undnervenaufreibenden Angelegenheit werden.Ich freue mich deshalb sehr, dass sich das Ministe-rium für Arbeit und Soziales vorgenommen hat, über-bordende Bürokratie abzubauen und Verwaltungsvor-gänge zu vereinfachen.
Das ist eine wirklich gute und wichtige Sache. Viele re-den nur davon. Wir setzen es um.
Metadaten/Kopzeile:
7580 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Gabriele Hiller-Ohm
(C)
(B)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir beraten heuteüber einen Gesetzentwurf zur Verbesserung der elektro-nischen Meldeverfahren für die Sozialversicherungen.Hierbei geht es zum Beispiel darum, An-, Ab- und mo-natliche Beitragsmeldungen von Beschäftigten bei denKranken- und Unfallkassen sowie bei der Renten-, derArbeitslosen- und der Pflegeversicherung zu erleichtern.Ein weiteres Ziel ist es, die elektronischen Verfahren ins-gesamt gesetzesfest zu machen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich konnte es fastnicht glauben: Jährlich finden sage und schreibe400 Millionen Meldevorgänge statt. Das ist eine enorme,eine beeindruckende Anzahl. Wir beschäftigen uns heutemit dem größten Massenverfahren zur Übermittlung vonInformationen in der Bundesrepublik. So viel zur Di-mension.Wir haben über 42 Millionen Beschäftigte inDeutschland. Deren Sozialversicherungsdaten müssenvon den rund 4 Millionen Unternehmen regelmäßig andie öffentlichen Stellen gemeldet werden. All diese Mel-dungen sorgen dafür, dass Renten-, Kranken-, Pflege-,Arbeitslosen- und Unfallversicherungen umgehend überLeistungsansprüche entscheiden und diese auszahlenkönnen. Damit das klappt, brauchen wir leistungsfähigeSysteme.Diese werden jetzt mit dem vorliegenden Gesetzent-wurf zum Nutzen aller weiter optimiert.
Das Ministerium hat sich dabei sehr viel Mühe gegeben.Der vorliegende Gesetzentwurf wurde nicht mal so ebenaus dem Ärmel geschüttelt. Nein, über zwei Jahre harterArbeit sind dem Gesetzestext mit dem Projekt „Opti-miertes Meldeverfahren in der sozialen Sicherung“– kurz OMS – vorausgegangen.Dabei wurde nicht hinter verschlossenen Türen gear-beitet. Im Gegenteil, man hat alles sehr genau mit denbetroffenen Akteuren diskutiert. Arbeitgeber und Fach-leute aus den Verwaltungen waren genauso beteiligt wienatürlich auch Softwareentwickler, die anwenderfreund-liche technische Lösungen finden müssen, die dann hof-fentlich auch funktionieren. Auch die Datenschutz- undDatensicherheitsexperten wurden nicht vergessen. Dasist insbesondere deshalb sehr wichtig, weil es um denAustausch von personengebundenen Daten geht.Liebe Kolleginnen und Kollegen, uns liegt ein umfas-sender Abschlussbericht vor, den wir alle – davon geheich aus – mit großem Interesse gelesen und studiert ha-ben. Dieser umfasst sagenhafte 1 989 Seiten. Ich hätteihn mitgebracht, konnte ihn aber leider nicht tragen.
Er ist übrigens zusammen mit weiteren Informationen zudem OMS-Projekt für jede und jeden im Internet frei zu-gänglich. Wir erkennen hieran eindrucksvoll, wie vielArbeit mit dem Abbau von Bürokratie verbunden ist.Ich bedanke mich bei allen, die daran beteiligt waren.Das waren nicht wenige. 260 Menschen haben an die-sem Projekt mitgearbeitet. Danke schön dafür.
Ihr Einsatz lohnt sich allemal; denn unnötige Büro-kratie kostet die Bürgerinnen und Bürger vor allem Zeitund Nerven. Zudem werden unsere Unternehmen durchzu viel Bürokratie in ihrem Schaffensdrang regelrechtausgebremst.Schauen wir auf den Mittelstand, der uns allen sehram Herzen liegt. Fast 4 Millionen kleine und mittlereUnternehmen sind betroffen. Sie sind unsere Garantenfür Wachstum und Beschäftigung.Ich habe bei mir in Schleswig-Holstein mit einemHandwerksmeister gesprochen und ihn gefragt: Wiesieht es bei Ihnen ganz konkret mit den Sozialversiche-rungsmeldungen aus? – Seine Antwort war ernüchternd.Für seinen Betrieb mit sechs Beschäftigten, die in fünfunterschiedlichen Krankenkassen versichert sind, benö-tigt er monatlich zwei Tage für die zum Teil recht um-ständlichen Meldeverfahren. Er wäre sehr froh, wenn esan dieser Stelle Vereinfachungen und damit Zeiterspar-nis geben würde. Das ist Zeit, die er dringend für seinenBetrieb benötigt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem vorliegen-den Gesetzentwurf kommen wir diesem Wunsch nach.Wir packen das Bürokratiemonster bei den Hörnern undweisen es ein Stück weit in seine Schranken.
Schauen wir auf die Arbeitgeber. Sie tragen dieHauptlast der Meldungen. Für sie vermindert sich derAufwand am meisten, und zwar um jährlich rund130 Millionen Euro. Die öffentliche Verwaltung spartdurch dieses Gesetzesvorhaben wertvolle Arbeitszeit derMitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Umfang von jähr-lich etwa 17 Millionen Euro. Die Bürgerinnen und Bür-ger sparen vor allem Nerven, aber auch Zeit und Porto-kosten dadurch, dass bestimmte Bescheinigungenzukünftig nicht mehr in Papierform, sondern elektro-nisch übermittelt werden können.Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, der von allenAkteuren weitestgehend Unterstützung findet, machenwir einen Schritt in die richtige Richtung. Wir werdenaber weiter am Ball und im engen Austausch mit denBetroffenen bleiben, damit wir gemeinsam weitere guteLösungen finden nach dem Motto: So wenig Verwaltungwie möglich und nur so viel wie nötig. – Vielleicht wirddann auch einmal für mich und für alle genervten Elternder Meldebogen mit den Daten der Kinder für die Kran-kenkassen wegfallen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7581
Gabriele Hiller-Ohm
(C)
(B)
Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt für die Fraktion Die
Linke Matthias W. Birkwald.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Projekt
mit dem schönen Titel „Optimiertes Meldeverfahren in
der sozialen Sicherung“, kurz OMS, soll den Datenaus-
tausch zwischen Arbeitgebern und Sozialversicherungs-
trägern verbessern. Ja, Frau Staatssekretärin, das klingt
erst einmal gut. Ich bin sicher, die Rednerinnen und Red-
ner der Union werden gleich wie Frau Hiller-Ohm so-
eben den Bürokratieabbau und die sinnvollen Erleichte-
rungen für die Unternehmen loben. Es könnte alles so
einfach sein, ist es aber nicht. Darum muss ich Ihnen et-
was Wasser in den Wein gießen.
Erstens. Mehr Computer und bessere Software einzu-
setzen, ist für größere Unternehmen und ihre Steuerbera-
tungsfirmen oft eine feine Sache. Aber viele kleine und
mittlere Unternehmen können sich das schlicht nicht
leisten. Es ist zu teuer für sie. Ein Beispiel: In Ihrem Ge-
setzentwurf ist vorgesehen, dass kleine und mittlere Un-
ternehmen täglich, also jeden Tag, elektronische Daten
bei den Sozialversicherungen abrufen müssen. Der Nor-
menkontrollrat und der Bundesrat sind sich da einig und
sagen: Das ist nicht sinnvoll. – Sie ignorieren das. Des-
wegen sage ich: Äußern Sie sich doch einmal zu den Be-
denken der kleinen Unternehmen.
Zweitens. Wir wissen, dass der Bürokratieabbau den
Datenschutz für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
oft einschränkt. Denken Sie bitte einmal an die unrühm-
liche Vorgeschichte des OMS-Projektes. Das 2002 ge-
startete Projekt ELENA, also das elektronische Entgelt-
nachweisverfahren, hatte gigantische Ausmaße. ELENA
sollte 60 Millionen Papierbescheinigungen von Arbeit-
gebern und 190 Formulartypen überflüssig machen. Ma-
chen wir es kurz: Am Ende hatten 35 000 datenschutzbe-
wegte Menschen vor dem Bundesverfassungsgericht
dagegen geklagt, und ELENA wurde 2011 aus Daten-
schutz- und aus Kostengründen eingestampft. Gut so!
Aber schon ein Jahr später wurde das OMS-Projekt
ins Leben gerufen, um alternative Modelle eines elektro-
nischen Arbeitgebermeldeverfahrens zu prüfen.
Heute setzen Sie erste Ergebnisse dieses ELENA-Nach-
folgeprojektes um. Warum sind wir Linken da wohl
skeptisch? Sie haben nicht aus Ihren Fehlern gelernt. Sie
haben wieder den gleichen Dienstleister beauftragt,
nämlich die Informationstechnische Servicestelle der ge-
setzlichen Krankenversicherung. Diese Firma, die ITSG,
wie sie abgekürzt heißt, hat aber in der Vergangenheit
eine entscheidende Rolle bei dem Versuch gespielt, das
unsinnige und teure IT-Großprojekt ELENA durchzuset-
zen. Ich sage: Das Scheitern von ELENA ist auch das
Scheitern der Firma ITSG. Das macht uns skeptisch.
In der Machbarkeitsstudie zum OMS-Projekt finden
sich an vielen Stellen starke Bedenken und deutliche
Kritik vonseiten der Datenschützerinnen und Daten-
schützer. Was ist daraus eigentlich geworden? Haben Sie
diese berücksichtigt?
Werden Sie diese berücksichtigen? Ich bin gespannt und
hoffe, dass Sie bald etwas dazu vorlegen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch zu einem erfreuli-
chen Thema kommen. Volljährige Waisen haben bisher
Anspruch auf eine Waisenrente, wenn sie sich noch in
der Ausbildung befinden. Wenn sie aber mehr als um die
500 Euro eigenes Einkommen im Monat haben, kann ih-
nen ihre Waisenrente gekürzt werden. Die Rentenversi-
cherung muss das Einkommen daher jährlich ermitteln
und gegebenenfalls anrechnen – bisher.
Aber was bringt das? Einem Verwaltungsaufwand
von 12,5 Millionen Euro im Jahr stehen laut Bundes-
rechnungshof nur 2,6 Millionen Euro an Einnahmen ge-
genüber. Deshalb hat er vorgeschlagen, das Einkommen
der Waisen bei der Berechnung der Waisenrente künftig
gar nicht mehr zu prüfen. Die Hinzuverdienstgrenze soll
also wegfallen, da Waisen unter 25 Jahren meist kein
nennenswertes Einkommen haben. Das heißt auf
Deutsch: Die betroffenen Waisen werden im Monat
durchschnittlich 15 bis 20 Euro mehr in der Tasche ha-
ben. Da sage ich: Das ist wirklich Bürokratieabbau im
Interesse der Betroffenen und nicht im Interesse der Ar-
beitgeber. Frau Staatssekretärin, das hat die Bundes-
regierung gut gemacht.
Herr Birkwald, Sie würden das jetzt gut machen,
wenn Sie zum Ende kämen.
Frau Präsidentin, das mache ich sofort. Ich sage nur
noch: Räumen Sie unsere Datenschutzbedenken und
Zweifel am OMS-Projekt aus! Bis dahin bleiben wir
skeptisch.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist GabrieleSchmidt, CDU/CSU-Fraktion.
Metadaten/Kopzeile:
7582 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
(C)
(B)
Frau Präsidentin! Liebe Gäste im Bundestag! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute den Ent-
wurf eines Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches
Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze. Damit wollen
wir unter anderem die technischen und organisatorischen
Abläufe bei den elektronischen Meldeverfahren zwi-
schen den Sozialversicherungsträgern und den Arbeitge-
bern verbessern und die Bürokratiekosten, die durch die
Informationspflichten entstehen, senken.
Zum Hintergrund. Es gibt in der Tat, Frau Kollegin
Hiller-Ohm, 400 Millionen Meldevorgänge im Bereich
der sozialen Sicherung. Allein die Anzahl der Sozialver-
sicherungsmeldungen beläuft sich auf rund 230 Millio-
nen. Es handelt sich dabei um Daten von 40 Millionen
Beschäftigten bei 3,5 Millionen Arbeitgebern; streiten
wir uns nicht um ein paar Zehntausend. Diese vielen Da-
ten müssen an die Sozialversicherungsträger übermittelt
werden.
Die Bundesregierung hat unter Federführung des
Ministeriums für Arbeit und Soziales das Projekt „Opti-
miertes Meldeverfahren in der sozialen Sicherung“ ini-
tiiert. Ziel des Projektes war, wie der Name schon sagt,
in Zusammenarbeit mit Wirtschaft, Softwareherstellern
und Sozialversicherungsträgern Vorschläge zur Optimie-
rung der Meldeverfahren im Bereich der sozialen Siche-
rung zu erarbeiten. Unter Beteiligung der Praktiker, die
sich täglich mit den Datenermittlungs-, Prüfungs- und
Übertragungsverfahren befassen, sollten weitere Poten-
ziale zur Verbesserung der Beitrags-, Melde- und An-
tragsverfahren erschlossen werden.
Der vorliegende Gesetzentwurf basiert auf den Ergeb-
nissen der gemeinsamen Projektarbeit, an der sich die
betroffenen Akteure beteiligt haben, darunter auch die
Sozialversicherungsträger, ihre Spitzenverbände, die
Bundesagentur für Arbeit, die Sozialpartner und das Sta-
tistische Bundesamt. Das Ergebnis war: Es besteht ge-
setzgeberischer Handlungsbedarf. Es hat sich im Rah-
men dieses Projektes herausgestellt, dass die Praxis die
Theorie sozusagen überholt hat. Die Verfahren haben
sich in der Praxis teilweise erheblich weiter entwickelt
als im Gesetz geregelt. Deswegen geht es jetzt auch da-
rum, wichtige Bestandteile der Meldeverfahren in die-
sem Gesetzentwurf klar zu definieren und damit die Ver-
fahrenssicherheit zu erhöhen.
Worum geht es im Detail? Wir wollen die Verbesse-
rung der Datenqualität, zum Beispiel durch die Festle-
gung technischer Übertragungsverfahren und einheitli-
cher Fristen. Wir wollen, dass Verfahrenskomponenten
wie Kommunikationsserver und weitere technische Be-
schreibungen gesetzlich eindeutig definiert werden. Wei-
tere Anregungen aus der betrieblichen Praxis, zum Bei-
spiel die erweiterte Anwendung der Vorschriften für die
Nutzung der Entgeltbescheinigung, sollen aufgegriffen
werden. Diese Änderung ist im Sinne der Arbeitgeber,
weil damit Vereinfachungen im Bescheinigungswesen
einhergehen. Wir wollen die Bürokratie insgesamt ab-
bauen und die Arbeitgeber von Verwaltungsaufwand
entlasten.
Ich mache mir keine Illusionen: Dieses Gesetz wird
nicht dazu führen, dass die Bürokratie in Deutschland
plötzlich eingeht wie eine Pflanze ohne Wasser. Aber wir
müssen einen Schritt tun, und dies ist für die Bundes-
regierung der nächste logische Schritt bei dem von ihr
verfolgten Konzept, die Bürokratiekosten dauerhaft zu
senken.
Vor meiner Zeit im Bundestag habe ich in Wutöschin-
gen im Kreis Waldshut die Firma ACO mit aufgebaut
und war lange mit dem Meldewesen betraut. Ich habe
mich oft genug geärgert, wenn Meldedaten irgendwo im
Datennirwana verschwunden sind und ich zeitaufwendig
und damit teuer nachmelden musste. Die neue Regelung
kommt zwar für mich zu spät; ich denke aber, dass sich
wenigstens meine Kollegen darüber freuen.
Zusätzlich sind Änderungen im Rentenrecht vorgese-
hen, so die Angleichung des Waisenrentenrechts an das
Steuer- und Kindergeldrecht. Der Wegfall der Einkom-
mensanrechnung auf Waisenrenten bei volljährigen Wai-
sen führt zur Verwaltungsvereinfachung. Ich bin froh,
dass dies sogar dem Kollegen Birkwald gefällt, der ja
sonst nicht viel Gutes an diesem Gesetzentwurf gefun-
den hat.
Zum Schluss möchte ich auch auf die Kosten zu spre-
chen kommen. Der einmalige Umstellungsaufwand für
Arbeitgeber und Sozialversicherungsträger wird sich
zwar auf einen Betrag von rund 93 Millionen Euro be-
laufen; es wird aber erwartet, dass sich die Kosten für
die Arbeitgeber bereits im ersten Jahr bezahlt machen,
für die Sozialversicherungsträger innerhalb weniger
Jahre. Insgesamt soll sich aus der Reduzierung der Büro-
kratiekosten und Informationspflichten für die Arbeitge-
ber eine Entlastung von rund 126 Millionen Euro, für die
Sozialversicherungsträger von rund 7 Millionen Euro
jährlich ergeben.
Mein Fazit: Der vorliegende Gesetzentwurf wird den
durch die Weiterentwicklung der Meldeverfahren in der
Praxis gewachsenen Ansprüchen gerecht. Wir möchten
Rechtsklarheit und Rechtssicherheit in den Meldeverfah-
ren stärken und durch optimierte und vereinfachte Ver-
fahren die Arbeitgeber entlasten.
Ich finde, dieser Gesetzentwurf böte doch mal eine
schöne Gelegenheit, dass alle Fraktionen gemeinsam zu-
stimmen; die CDU/CSU-Fraktion jedenfalls wird ihm
zustimmen.
Vielen Dank.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. WolfgangStrengmann-Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7583
(C)
(B)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir Grünen sind für Bürokratieabbau und für verein-fachte Regelungen. Der Gesetzentwurf bringt in der Tateine ganze Reihe von kleineren Schritten, die Bürokra-tieabbau ermöglichen: Vereinfachungen, Software anvernünftigen Stellen einsetzen; insofern sind das vieleSchritte in die richtige Richtung.Aber es gibt natürlich – da schließe ich mich demKollegen Birkwald an – auch ein paar Fragen: Was istmit den kleinen und mittleren Unternehmen? Was ist mitdem täglichen Datenabgleich? Das könnte die schonüberfordern; das müsste man noch einmal prüfen. Auchdie Frage des Datenschutzes muss natürlich noch einmalintensiver betrachtet werden. Wir finden es grundsätz-lich richtig, in diese Richtung zu gehen; aber das sindnatürlich kleine Schritte.Wenn man eine wirkliche Vereinfachung im sozialenSicherungssystem haben wollte, müsste man noch anganz andere Bereiche gehen: Im Transfersystem, Grund-sicherungssystem wäre da noch viel mehr zu machen.Wir warten da sehnsüchtig auf den Gesetzentwurf zursogenannten Rechtsvereinfachung, auch wenn wir wis-sen, dass auch da nicht der große Wurf kommen wird.Aber das wäre eigentlich die spannendere Debatte: Waskann man im Grundsicherungssystem verändern? Nochspannender und umfangreicher wäre die Debatte überdie Frage: Was ist eigentlich mit den Familienleistun-gen? Aber das wäre dann eine ganz andere Baustelle.Bei den Sozialversicherungen – das muss man viel-leicht noch einmal betonen, auch gegenüber der Öffent-lichkeit – ist, was die Effizienz angeht, gar nicht sowahnsinnig viel zu vereinfachen oder zu verbessern,weil die Sozialversicherungen im Gegensatz zu privatenVersicherungen ohnehin schon sehr geringe Verwal-tungskosten haben – für uns Grüne ein Grund, bei derkapitalgedeckten Alterssicherung auch über ein öffent-lich organisiertes Basisprodukt für die Riester-Rentenachzudenken. Die Verwaltungskosten wären geringer;aber auch sonst fänden wir das eine sinnvolle Idee.
Aber nun zu dem Gesetzentwurf. Auch da, finden wir,hätte man an manchen Stellen durchaus noch ein biss-chen weitergehen können. Die Waisenrente ist schon an-gesprochen worden. Wir finden es richtig, dass die Ein-kommensanrechnung wegfallen soll. Der Aufwand isttatsächlich viel größer als der Ertrag, und für die Betrof-fenen ist das eine deutliche Verbesserung. Man könnteaber noch einen Schritt weitergehen und fragen: Warumist die Höhe der Waisenrente eigentlich vom Einkom-men der Eltern abhängig? Wenn man sagen würde: „DieWaisenrente ist für alle gleich“, wäre das auch noch maleine Vereinfachung, und gerechter wäre es eigentlichauch, wenn die Leistung einkommensunabhängig wäre.
Der Nationale Normenkontrollrat geht in seiner Stel-lungnahme zum vorliegenden Gesetzentwurf auch aufdie Unfallversicherung ein. Dort steht:Der Normenkontrollrat bedauert, dass an den pa-piergebundenen Lohnnachweisen … über das Jahr2015 hinaus festgehalten werden soll.Es ist natürlich schade, dass das an dieser Stelle nichtelektronisch geht. Der Grund dafür steht allerdings auchin der Stellungnahme. Es gibt nämlich Differenzen zwi-schen den Lohnnachweisen und den aggregierten Lohn-summen.An dieser Stelle könnte man vielleicht auch einmalüber den Vorschlag nachdenken, ob es nicht sinnvollwäre, die Arbeitgeberbeiträge grundsätzlich einfach aufder Basis der Lohnsumme zu berechnen, anstatt jedeneinzelnen Fall einzeln abzurechnen. Das würde kleineund mittlere Unternehmen sehr von der Bürokratie ent-lasten.Ein großer Wurf wäre es, wenn man bei der Pflege-,der Kranken- und der Rentenversicherung endlich ein-mal die Bürgerversicherung angehen würde und diesbe-züglich nicht nur zu einer Harmonisierung innerhalb derSozialversicherungen, sondern auch mit dem Steuersys-tem kommen würde; denn wenn das komplette Einkom-men die Basis ist, dann muss man das logischerweise mitdem Steuersystem vereinheitlichen. Die Beitragserhe-bung könnte dann über das Finanzamt geregelt werden.Solche großen Schritte gehen Sie nicht. Wie gesagt:Es sind viele kleine Schritte, die wir durchaus positiv se-hen, aber der große Wurf ist das leider noch nicht.Vielen Dank.
Danke schön. – Letzte Rednerin zu diesem Tagesord-
nungspunkt ist Dr. Astrid Freudenstein, CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Meine Damen und Herren! Die Meldeverfahren inder sozialen Sicherung sind in der Summe das größteund komplexeste Massenverfahren zur Weitergabe vonInformationen der Arbeitgeber an öffentliche Stellen inDeutschland. Allein die Anzahl der Meldevorgänge be-trägt jährlich etwa 400 Millionen. Übermittelt werdendie Daten von mehr als 40 Millionen Beschäftigten beicirca 3,7 Millionen Arbeitgebern.Diese Zahlen beeindrucken uns und können uns auchein bisschen Sorge vor einer überbordenden Bürokratiebereiten. Als CSU-Abgeordnete fällt es mir natürlichschwer, jetzt einen waschechten Preußen zu zitieren,aber der Vater der deutschen Sozialpolitik selbst, Ottovon Bismarck, warnte bereits vor 124 Jahren: „Die Bü-rokratie ist es, an der wir alle kranken.“
Metadaten/Kopzeile:
7584 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Dr. Astrid Freudenstein
(C)
(B)
Genau diese Bürokratie möchten wir abbauen – zu-mal dann, wenn sie nicht wirklich nötig ist. Das habenwir uns als Koalition ganz dick in unser Hausaufgaben-heft geschrieben; das ist im Koalitionsvertrag eindeutigfixiert. Und das gilt natürlich auch hinsichtlich der Mel-deverfahren in der sozialen Sicherung.Vor allem seit 2006 haben sich durch die gemein-same, verschlüsselte Datenübertragungsbasis großePotenziale für Entbürokratisierung ergeben. Alle Verfah-rensbeteiligten – die Arbeitgeber, die Softwareunterneh-men und die Sozialversicherungsträger – sehen das Sys-tem als durchdacht, sicher und sparsam an. Trotzdemgibt es natürlich auch hier noch Verbesserungspoten-ziale. Das hatte die christlich-liberale Koalition auch er-kannt, weshalb sie das Projekt „Optimiertes Meldever-fahren in der sozialen Sicherung“ ins Leben gerufen hat.In den Jahren 2012 und 2013 wurden in dem ProjektVorschläge aller beteiligten Akteure – vor allem der Ar-beitgeber – auf ihre Machbarkeit hin überprüft. Es gingdarum, inwieweit das Verfahren besser, einfacher undgünstiger gemacht werden könnte. Dabei gab es natür-lich keine Denkverbote.Arbeitsgruppen mit Teilnehmern aus allen Bereichender Sozialversicherungen bewerteten schließlich die ein-gereichten Vorschläge. Dabei wurde die fachliche Seitegenauso wie die organisatorische und die technischeSeite berücksichtigt. Aber eben auch Kostengesichts-punkte und der Datenschutz spielten eine ganz wesentli-che Rolle. Herausgekommen sind ganz konkrete,umsetzbare Handlungsvorschläge zur Optimierung derMeldeverfahren in unserer sozialen Sicherung.Im vergangenen Jahr hat das Kabinett beschlossen,diese Verbesserungsvorschläge umzusetzen. Das tun wirnun mit dem vorliegenden Gesetzentwurf. Er beinhaltetim Wesentlichen die Umsetzung der Vorschläge zur Ver-besserung der Datenqualität und zur Stärkung der Ver-fahrenssicherheit, eine eindeutige gesetzliche Definitionvon Verfahrenskomponenten wie Kommunikations-servern und Annahmestellen, die Rechtssicherheit schaf-fen sollen, und eine gesetzliche Grundlage für das vonRentenversicherungsträgern entwickelte Projekt zurelektronischen Annahme von Bescheinigungen.Damit wird ein Projekt erfolgreich abgeschlossen, dasin eindrücklicher Weise zeigt, wie gut die Zusammenar-beit von Politik und Praxis funktionieren kann und wiefruchtbar eine solche Zusammenarbeit ist. Mit diesenMaßnahmen entlasten wir die Arbeitgeber in Deutsch-land spürbar. Ihr jährlicher Erfüllungsaufwand reduziertsich nach einem einmaligen Umstellungsaufwand umrund 126 Millionen Euro. Das bewirken vor allem diegeringeren Kosten aus den Informationspflichten.Es ist aber auch unsere Aufgabe, keine neue Bürokra-tie aufzubauen. Deshalb ist der Beschluss des Bundeska-binetts vom Dezember letzten Jahres sehr zu begrüßen,der eine von der CSU geforderte Bürokratiebremse vor-sieht: Jeder Euro zusätzlicher Aufwand muss demnachdurch 1 Euro der Entlastung ausgeglichen werden. Sokönnen wir weiter Bürokratie abbauen, die Rechtsset-zung verbessern und die Wettbewerbsfähigkeit unsererUnternehmen stärken.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 18/3699 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esdazu anderweitige Vorschläge? – Ich sehe, das ist nichtder Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten ClaudiaRoth , Annalena Baerbock, UweKekeritz, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENGipfeljahr 2015 – Durchbruch schaffen fürKlimaschutz und globale GerechtigkeitDrucksache 18/3156Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung
Auswärtiger AusschussAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Ernährung und LandwirtschaftAusschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen.Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Liebe Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen undKollegen! Heute traf auch ich wie andere von Ihnen 1515-Jährige, die den Bundestag besucht haben; jungeMenschen, die in dem Jahr auf die Welt gekommen sind,als die internationale Gemeinschaft die Millenniums-ziele beschlossen hat.Tatsächlich wurde mit diesen Zielen in den vergange-nen 15 Jahren weltweit viel erreicht: Die Zahl der Armenwurde halbiert, die Kindersterblichkeit wurde um fastdie Hälfte gesenkt, und 90 Prozent aller Kinder haben in-zwischen einen Zugang zu Bildung, sie werden einge-schult. Das sind Zahlen, die für die Zukunft große Hoff-nung machen.Um genau diese Zukunft geht es. Im Gespräch mitden jungen Menschen wird allerdings auch ganz offen-sichtlich, welche Risiken wir mit unserem Lebensstil,mit unserer Art des Wirtschaftens, des Produzierens unddes Konsumierens den nächsten Generationen aufbür-den. Die globale Kooperation, die wir brauchen, der An-spruch an eine Global Governance, steckt in der Krise.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7585
Claudia Roth
(C)
(B)
In der Welt von heute verschärft sich die soziale Un-gleichheit. Sie geht quer durch alle Staaten. Es brechenneue Krisen aus, Gewalt entgrenzt sich. Wir stehen kurzvor dem Klimakollaps, und am Ende wird all dies De-mokratien sehr schwer belasten.Deswegen haben diese jungen Menschen zu Rechthohe Anforderungen und Erwartungen an das Jahr 2015;denn es ist ein Jahr, in dem über die Wege in die Zukunftentschieden wird und in dem wichtige Entscheidungengetroffen werden, also ein globales Jahr. Im Jahr 2015muss der Durchbruch für Klimaschutz und für interna-tionale und globale Gerechtigkeit endlich gelingen.
Den Schlüssel zum Erfolg, nicht den Schlüssel zuweiteren Rückschritten haben wir selber in der Hand.Wir können nicht zuletzt mit der deutschen G-7-Präsi-dentschaft dazu beitragen, überhaupt wieder Vertrauenin die notwendige globale Verantwortung zu schaffen.Vertrauen herstellen setzt aber voraus, dass wir selber inVorleistung treten; denn in vielen Punkten – das zeigendie Anforderungen der Sustainable Development Goals –haben auch wir einen Riesennachholbedarf. In vielenPunkten ist auch Deutschland ein Entwicklungsland. Ge-nau das anzuerkennen und dagegen eine andere Politikvoranzutreiben, das erwarte ich von der Bundesregie-rung und von uns in diesem Jahr.
Das fängt mit dem G-7-Gipfel im schönen bayeri-schen Elmau an. Auch da sind politische Signale die Vo-raussetzung für den Erfolg dieses schicksalhaften Gip-feljahrs. Denn wenn Deutschland sich nicht für einschnelles Auslaufen der Subventionen für fossile Ener-gieträger einsetzt, wenn es keine Initiativen zur Stärkungder VN etwa durch eine Aufwertung des Umweltpro-gramms UNEP gibt, wenn die reichen Staaten sich nichtohne Wenn und Aber zum Prinzip der gemeinsamen,aber unterschiedlichen Verantwortung bekennen, dannwird der Startpunkt für dieses Jahr verfehlt, und die Gip-fel drohen, einer nach dem anderen zur großen Enttäu-schung zu werden.Denn schöne Worte allein reichen nicht aus. Es gibtdie schönen Worte aus dem Entwicklungsressort unddem Umweltressort. Aber das reicht nicht. Wir brauchenendlich konkrete Umsetzungspläne für die neue Nach-haltigkeitsagenda
aus dem Landwirtschaftsministerium, dem Finanzminis-terium, dem Wirtschaftsministerium und dem Infrastruk-turministerium. Von dort ist bislang leider wenig gekom-men.Die großen Versprechen – auch auf sie wird es an-kommen – zur Entwicklungs- und Klimafinanzierungsind längst nicht umgesetzt. Auch deswegen kommt esin Elmau darauf an, glaubhaft zu machen, dass Deutsch-land bereit ist, jährlich 1,2 Milliarden Euro mehr in dieglobale Entwicklung und 500 Millionen Euro mehr inden Klimaschutz zu investieren. Wenn das nämlich nichtpassiert, dann droht der Gipfel über die Entwicklungs-finanzierung in Addis Abeba zu scheitern, und wennAddis Abeba keine Fortschritte bringt, dann wird derNachhaltigkeitsgipfel in New York zur Farce. Und wennNew York zur Farce wird, dann kommt in Paris beimgroßen Klimaabkommen ganz wenig heraus. Das kön-nen wir uns alle nicht leisten.
Mit unserem grünen Antrag versuchen wir, liebe Kol-leginnen und Kollegen, den Weg für ein erfolgreichesGipfeljahr 2015 zu beschreiben. Ich lade Sie herzlichein, diesen Weg gemeinsam zu gehen. Die Zukunft war-tet nicht. Die 15 15-Jährigen – und nicht nur sie – wer-den es uns allen danken.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Das Wort hat Peter Stein, CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kollegen der Grünen, zu Beginn frage ichSie: Was wollen Sie mit diesem Antrag erreichen? Wirreden schon zum wiederholten Male über dieses Thema,das Sie auf die Tagesordnung gesetzt haben. Weite Teilesind nur eine Aufzählung dessen, was uns in diesem Jahr2015 erwartet. Das ist nichts Neues: Das sind die Ver-handlungen zu den SDGs, die G-7-PräsidentschaftDeutschlands und nicht zuletzt – das ist sicherlich sehrwichtig – die Klimakonferenz in Paris.Alles in Ihrem Antrag ist mit der Aufforderung an dieRegierung verbunden, dies zu einem möglichst gutenAbschluss zu bringen. Das ist selbstverständlich. Dazubraucht es keine Aufforderung.
Sie haben es wiederum geschafft, in den Überschrif-ten so ziemlich jedes Thema im Zusammenhang mit derNachhaltigkeit anzuführen und dann völlig unkonkret zubleiben. Sie erwarten die Konkretisierung von der Re-gierung,
und zwar zu Recht. Das erwarten wir auch, und das wirdgeliefert.Zudem ist Ihr Antrag, auch was die Vereinten Natio-nen betrifft, teilweise widersprüchlich. In der Einleitungstellen Sie fest, dass die Vereinten Nationen durch denSicherheitsrat blockiert sind und dass das, was in der
Metadaten/Kopzeile:
7586 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Peter Stein
(C)
(B)
Vergangenheit abgeliefert worden ist, enttäuschend war.Das beschreiben Sie so, um danach aber festzustellen,dass die UNO unsere ganze Hoffnung ist.Richtig ist: Wir müssen die Vereinten Nationen in die-sem Punkt stärken.
Auch darin sind wir völlig d’accord. Auch das müssenwir heute nicht ausdiskutieren. Das ist nichts Neues.
Auf die Klimafrage möchte ich jetzt nicht weiter ein-gehen. Das wird mein Kollege Matern von Marschallmachen, der an der Klimakonferenz in Lima teilgenom-men hat. Er kann deshalb viel besser darüber berichten.Ich möchte nur so viel sagen: Ich hatte bereits in mei-ner Rede vor Weihnachten exakt zu demselben Themen-komplex im Plenum gesagt: Wir werden als Bundesre-publik Deutschland alles dafür tun, dass Paris ein Erfolgwird. – Paris muss auch ein Erfolg werden. Das ist heuteauch nicht zum ersten Mal gesagt worden. Ich wieder-hole es aber gerne. Das ist auch unsere Auffassung alsCDU/CSU-Fraktion. Darin sind wir, glaube ich, im gan-zen Haus völlig d’accord.
Sich bei den globalen Fragen auf einen reinen Top-down-Ansatz zu verlassen, halte ich aber für kurzsichtig.Das bedeutet nämlich nicht, dass wir deswegen unsereAnstrengungen auf dem Weg nach Paris reduzieren wür-den, sondern lediglich, dass wir einen gangbaren Wegsuchen und auch hilfreiche Alternativen betrachten müs-sen, zum Beispiel die Verstetigung der Klima- und Ent-wicklungspolitik, und zwar nicht nur auf der internatio-nalen, sondern auch auf der nationalen und dersubnationalen Ebene, und die Verstärkung der Anstren-gungen auf diesen Ebenen. Als Vorbild dient hier das,was die großen C-40-Städte bereits auf der kommunalenEbene eingeleitet haben. Länder wie Deutschland kön-nen und müssen dabei vorangehen und anderen den Wegzeigen. Sie müssen bereit sein, dabei Risiken einzuge-hen. Wir sind bereit dazu und tun das gerade. Geradedeshalb schaut die Welt auf uns.Erlauben Sie mir noch einen Kommentar zu einemSatz in Ihrem Antrag. Ich halte es für absolut unange-messen, dass Sie die Abwesenheit der Kanzlerin bei ei-ner einzelnen Konferenz kritisieren. Wie Sie wissen, istdie Kanzlerin nicht faul und nimmt an zahlreichen Kon-ferenzen teil.
Sie ist sehr gut organisiert, hat aber einen Terminkalen-der, dem wahrscheinlich drei Abgeordnete Ihrer Fraktionnicht gerecht werden können. Sie hat außerdem in derRegierung beispielsweise mit der Umweltministerin,dem Landwirtschaftsminister, dem Minister für Ent-wicklungszusammenarbeit und dem Vizekanzler starkePartner, die über höchste Sachkompetenz verfügen. Al-lein deswegen, wegen des Seitenhiebs auf die Kanzlerin,können wir Ihrem Antrag nicht zustimmen.Wir als CDU/CSU-Fraktion haben an den SDG-Pro-zess große Erwartungen. Die überwiegend positivenEntwicklungen werden fortgesetzt und durch neue As-pekte ergänzt. Ganz wichtig ist: Wir werden endlich un-serer globalen Verantwortung dadurch gerecht, dass dieSDGs und die Regeln der Klimaverhandlungen für alleStaaten gleichermaßen gelten. Wir werden schlussend-lich die Trennung in Verursacher und Betroffene aufhe-ben. Das gilt für Industrie- und Schwellenländer genausowie für Entwicklungsländer. Das halte ich für einen gu-ten Ansatz; dieser stammt übrigens vom Klimaschutz-gipfel in Lima.
Herr Kollege Stein, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Roth?
Mir bleibt ja nichts anderes übrig, Frau Roth.
– Wie im Ausschuss: Ja, gerne.
Bitte schön.
Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Herr Stein, habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie
unserem Antrag zustimmen würden, wenn wir bereit wä-
ren, die Anmerkung, dass Frau Merkel lieber beim BDI
war als bei Ban Ki-moon, zu streichen?
Sie haben nicht richtig zugehört. Ich habe gesagt, al-lein deswegen schon können wir nicht zustimmen. Abervielleicht gibt Ihnen mein Kollege Matern von Marschalldarauf die richtige Antwort.Es ist natürlich zu begrüßen, dass die SDGs nach der-zeitigem Stand möglichst umfangreich gestaltet werden,um sich den komplexen Herausforderungen unserer Zeitvollständig zu stellen. Was auch sonst? Das ist unserZiel. Ich sehe allerdings an dieser Stelle die Gefahr, dasseine Aufblähung in 17 Goals, 169 Targets und TausendeDetails genau das Gegenteil von dem, was wir beabsich-tigen, zur Folge haben könnte. Zu viel Klein-Klein imInhalt kann dazu führen, dass die Ziele beliebig werden,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7587
Peter Stein
(C)
(B)
dass sich jeder das heraussucht, was er am leichtesten er-füllen kann, und dass das große Ganze nicht mehr zu be-werten ist. Eine schlankere und verbindlichere Versionder 17 Ziele, hinter denen wir ausdrücklich stehen, halteich für zielführender.Ein weiterer Punkt, den ich für wichtig halte, betrifftden Begriff der Nachhaltigkeit. Er ist nicht abschließendmit Klima- und Umweltthemen beschrieben, sondernumfasst gerade in der Entwicklungszusammenarbeitauch Demokratisierungsprozesse, Bildung, insbesonderedie berufliche Ausbildung, das Gesundheitswesen undden nachhaltigen Aufbau einer starken Wirtschaftsstruk-tur in den Zielländern. Wir haben hier seitens der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion einen Paradigmen-wechsel vorgenommen, den wir im Bereich der Ent-wicklungszusammenarbeit in den Vordergrund stellen.Sie sagen hierzu nichts. Ihr Antrag bleibt weit hinterdem Regierungshandeln zurück. So werden wir keineEntwicklungspolitik machen.Die SDG-Agenda als Ganzes ist nur dann nachhaltig,wenn sie von allen Staaten in allen relevanten Bereichenabgebildet, mitgetragen und umgesetzt wird.
Herr Kollege Stein, denken Sie an die Redezeit.
Noch zwei Sätze. – Das heißt für uns, die Entschei-
dungen anderer souveräner Staaten und Regierungen zu
akzeptieren, selbst wenn sie im Ergebnis nicht unseren
Erwartungen entsprechen. Begegnungen auf Augen-
höhe und echte Partnerschaft beginnen schon bei der
Verhandlungsführung und enden noch lange nicht bei
der Umsetzung. Das ist nachhaltig.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin
Heike Hänsel, Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Dieses Jahr ist ein Gipfeljahr, in Bayern der G-7-Gipfel. Wir haben die Entwicklungsfinanzierungskonfe-renz in Äthiopien, die große Nachhaltigkeitskonferenz inder UNO in New York und den Klimagipfel Ende desJahres in Paris. Die großen Themen stehen also auf derAgenda: globale Gerechtigkeit und Klimaschutz.Herr Stein, ich denke, es lohnt sich schon, über dieseThemen so oft wie möglich zu diskutieren; denn nachwie vor sind Armut und Perspektivlosigkeit auch Ursa-chen für Krisen und Kriege, und sie sind unter anderemauch ein Nährboden für Terror. Das haben wir in denletzten Tagen leidvoll erleben müssen. Deswegen, findeich, ist es überfällig, auch über die Ursachen von Terro-rismus viel grundsätzlicher und weniger oberflächlich zudiskutieren. Diese Diskussion hat mir leider heute dochsehr gefehlt.
Weltweite soziale Ungleichheit und die Zerstörung desPlaneten sind die zentralen Herausforderungen, die imRahmen einer neuen, nachhaltigen Politik für mehr glo-bale Gerechtigkeit thematisiert werden sollen. Es zeigtsich aber schon, dass sehr unterschiedliche Schwer-punkte gesetzt werden. Während zum Beispiel die UNOund viele Länder des Südens sehr stark auf die weltweitesoziale Ungleichheit zwischen Staaten und innerhalbvon Staaten fokussieren, ist das beispielsweise für dieBundesregierung überhaupt kein Thema. Das kommt indem Papier als Schwerpunkt überhaupt nicht vor. Dashalte ich schlichtweg für einen entwicklungspolitischenund politischen Skandal.
Wenn 86 Personen weltweit so viel besitzen wie dieärmere Hälfte der Weltbevölkerung, dann zeigt sichdoch, dass diese Reichtumskonzentration massiv zerstö-rerisch wirkt und dass wenige nach wie vor auf Kostender Mehrheit leben – und das trotz jahrzehntelanger Ent-wicklungszusammenarbeit –, weshalb wir eine welt-weite Politik der Umverteilung dringend benötigen, diewir auch schon seit Jahren fordern.
Es fehlt wieder ein weiteres ganz großes Thema indiesen Textentwürfen – das haben wir schon bei denMDGs massiv kritisiert –, nämlich die Überwindung vonKrieg als Mittel der Politik. Das wäre der größte Beitrag,den wir für Entwicklung leisten können.
Die Ausgaben für die weltweite Rüstung könnten wirumwidmen – wir sind bei Rüstungsausgaben von über1 Billion Euro weltweit pro Jahr –, um endlich Entwick-lung und Klimaschutz zu finanzieren. Das ist ein Be-reich, der mir im Antrag der Grünen fehlt. Das wärenämlich eine sehr innovative Entwicklungsfinanzie-rung, die wir seit Jahren fordern: Umwidmung der Rüs-tungsgelder zur Erreichung von Entwicklungszielen.
Wir haben viel über die SDGs diskutiert, auch schonim Zusammenhang mit anderen Anträgen. Deshalbmöchte ich mich jetzt auf einen Punkt in Ihrem Antragkonzentrieren. Es gibt viele Dinge in dem Antrag, dieauch wir unterstützen. Wir finden zum Beispiel den An-satz, dass wir bei uns beginnen müssen, sehr gut. Es istganz klar: Wir müssen bei uns anfangen. Auch was ver-bindliche Zusagen zur Klimaschutzfinanzierung undEntwicklungsfinanzierung angeht, sind wir einverstan-den.Was ich nicht nachvollziehen kann, ist die große Fo-kussierung auf den G-7-Gipfel; denn viele von uns sindschon gegen den G-8-Gipfel in Heiligendamm auf die
Metadaten/Kopzeile:
7588 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Heike Hänsel
(C)
(B)
Straße gegangen. Das sind völlig überholte Gipfel, dieeine Politik des 19. Jahrhunderts darstellen. Die reichs-ten und mächtigsten Staaten der Erde, die gerade einmal10 Prozent der Weltbevölkerung repräsentieren, treffensich, um ihre Interessen zu formulieren. Meistens wer-den Entwicklungsthemen instrumentalisiert, um demGanzen einen wohltätigen Anstrich zu geben. Gleichzei-tig geht es doch um die Frage des Zugangs zu Ressour-cen, um den Kampf um diese Ressourcen, der oft militä-risch ausgetragen wird.Ich kann mir jetzt schon vorstellen, dass es ein großesBild geben wird, wie der G-7-Gipfel sich gemeinsam ge-gen den Terror ausspricht, währenddessen auch dieseStaaten für Terror verantwortlich sind. Schauen wir unsdie Drohnen-Kriege an oder die CIA-Foltergefängnissein Europa. Hier sind viele G-7-Regierungen für den exis-tierenden Terror verantwortlich. Wenn wir diese Doppel-moral nicht überwinden, dann kommen wir auch zu kei-ner neuen Politik. Genau deshalb werden wir gemeinsammit vielen anderen auch wieder im schönen Bayern ge-gen den G-7-Gipfel auf die Straße gehen.Danke.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Dr. Bärbel
Kofler, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Ich finde, es ist eine Chance, dass wir in der erstenSitzungswoche des Jahres 2015 über das EuropäischeJahr für Entwicklung reden können. Auf einer Vielzahlvon Konferenzen haben wir die Möglichkeit, Entwick-lungspolitik und Klimapolitik wirklich zusammenzu-bringen und voranzubringen. Darüber wird noch öfter zureden sein.
Ich finde den von UN-Generalsekretär Ban Ki-moonvorgelegten Vorschlag, 17 Ziele zu benennen, gut. Fürmich ist ganz wichtig, zu betonen: Wir müssen versu-chen, dafür zu sorgen, dass darüber auf dem UN-Gipfelin New York im September eine Einigung herbeigeführtwird. Denn es kommt darauf an, dass möglichst alleStaaten mitmachen und diese Ziele zu erreichen versu-chen.Der SDGs-Prozess, also der Prozess zur Festlegungder Nachhaltigkeitsziele, hat eine andere Qualität, eineQualität, die weit über das hinausgeht, was im Rahmender Millenniumsentwicklungsziele vereinbart wurde. Dasist das Spannende an diesem Prozess. Darauf müssen wiruns, glaube ich, einlassen. Daran müssen wir mehr arbei-ten.Ich möchte das an einem Beispiel deutlich machen.Wir haben das Millenniumsentwicklungsziel 1, ein sehrwichtiges Ziel – die Bekämpfung und Beseitigung derextremen Armut bis zum Jahr 2015 –, leider nicht er-reicht. Wir haben aber auch Erfolge erzielt – auch dasmöchte ich an dieser Stelle einmal sagen –: Es ist gelun-gen, 700 Millionen Menschen aus extremer Armut he-rauszuführen. Das bedeutet, dass man nicht mehr unterHunger in seiner extremsten Ausprägung leidet und dassman Chancen für das eigene Leben hat.Aber das reicht nicht. Es ist uns nicht gelungen, zuverhindern, dass immer noch Millionen Menschen aufdieser Erde von extremer Armut betroffen sind. Wir lau-fen Gefahr, in vielen Bereichen – ob es der Klimawandeloder die soziale Gerechtigkeit sind – Menschen, die ausextremer Armut herausgeholt worden sind, wieder inden vorherigen Zustand zurückfallen zu lassen. Darumgeht es bei den Nachhaltigkeitszielen: dass wir Erfolgenicht nur einmal erreichen und Statistiken damit schmü-cken, sondern dass wir diese Erfolge nachhaltig sichern.
Für uns Sozialdemokraten gehört zum Thema „Ret-tung aus extremer Armut und Hunger“, dass wir es mitden Themen „Beseitigung von Ungleichheiten auf die-sem Planeten“ und „Schaffung von Zugang zu men-schenwürdiger Arbeit“ zusammenbringen. Ich begrüßees ausdrücklich, dass das Ziel „Schaffung von Zugangzu menschenwürdiger Arbeit“ eines der 17 Ziele ist, dieim Vorschlag von Ban Ki-moon genannt werden. Dashalte ich – ich glaube, das tun wir gemeinsam, HerrStein – für einen entscheidenden, einen wichtigen Punkt.
Wenn es nicht gelingt, Menschen Zugang zu sozialerSicherheit, zu menschenwürdiger Arbeit zu geben, wennes nicht gelingt, ihnen damit Wege aus der Perspektiv-losigkeit aufzuzeigen, dann ist die logische Konsequenzdas Steigen von gesellschaftlichen Spannungen bis hinzu Gewalt und Gefährdung des inneren Friedens in vie-len Ländern. Wir wissen ja, dass genau in den Ländern,in denen aus sozialen Gründen Stabilität und Sicherheitgefährdet sind, extreme Armut am meisten zunimmt unddie Rettung aus extremer Armut am schwierigsten mög-lich ist. Das ist einer der entscheidenden und wichtigenPunkte.Ähnliches gilt für die Frage des Klimawandels. Er isteine der großen Ursachen dafür, dass Menschen wiederin extreme Armutssituationen geraten können. Wir ha-ben das auf verschiedenen Reisen in verschiedenen Si-tuationen erlebt. Wir haben den Verlust von Anbauflä-chen, die Verdorrung ganzer Landstriche, den Verlustdes Zugangs zu sauberem Trinkwasser gesehen. Für diebetroffenen Menschen bedeutet das, dass sie ihrer Exis-tenzgrundlage beraubt werden, also den Rückfall in eineSituation, aus der sie vielleicht schon einmal mit vielenAnstrengungen und Maßnahmen herausgeführt werdenkonnten.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7589
Dr. Bärbel Kofler
(C)
(B)
Gleichzeitig stehen wir vor dem Problem des großenEnergiebedarfs der Entwicklungsländer – auf der Klima-konferenz in Paris werden wir uns mit dem Thema Kli-mawandel noch ganz anders auseinandersetzen müssen –und der damit verbundenen Chance, den Entwicklungs-ländern einen Zugang zu unterschiedlichen Energiefor-men zu ermöglichen. Wir alle wissen, dass das Fehlendes Zugangs zu Energie eines der großen Entwicklungs-hemmnisse in vielen Ländern ist. Es muss uns gelingen,dieses Recht auf Entwicklung für die Menschen und dieLänder darzustellen und gleichzeitig zu sehen, wo dieökologischen Grenzen unseres Planeten sind. Deshalbwird hier die spannende Frage sein: Wie kriegen wir ge-meinsam weltweit eine Energieversorgung hin, die Effi-zienz und regenerative Energien in den Mittelpunktstellt?
Aber jetzt ist die Redezeit wirklich abgelaufen.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Allein
diese beiden Punkte zeigen, wie groß die Herausforde-
rungen sind und wie viele Gedanken wir uns auch in die-
sem Jahr noch machen müssen, um diesen Punkten zum
Durchbruch zu verhelfen. Die Chancen liegen bei der
Konferenz in Addis Abeba, bei der Konferenz in New
York und auch beim Klimagipfel in Paris. Wir sollten
dieses Jahr gut nutzen.
Danke.
Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Matern von
Marschall, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Liebe Antragsteller von den Grünen, esist schon darauf hingewiesen worden: Diese Thematikist ein bisschen repetitiv. Sie ist deswegen nicht wenigerwichtig. Ich bin dankbar dafür, dass sie aufgerufen wird.Im Nachhaltigkeitsbeirat, im Umweltausschuss und auchim Europaausschuss spielt sie eine große Rolle. Ob dasbei manchen den Eindruck erweckt, dass ihre Themen-vielfalt etwas schrumpft, das müssen Sie selber prüfen.Ich sehe jedenfalls gewisse Ermüdungserscheinungenauch bei Ihnen. In unserer Reisegruppe, die in Lima ge-wesen ist, waren auch Frau Höhn und Frau Baerbock.Die kann ich in Ihren gelichteten Reihen jetzt so schnellnicht finden. Herr Schwabe ist da. Frau Bulling-Schröterist auch nicht da. – So weit zur Bedeutung, die Sie demThema einräumen.
– Gut; sie ist krank, entschuldigt. Ich habe sie heute nochgesehen.Was mich, wenn man über Wiederholung spricht, einbisschen überrascht, ist Folgendes: In Ihrem Papier – ichweiß nicht, ob sozusagen die Autoren sich jetzt unter unsbefinden – kommt nicht weniger als zehnmal der Begriffder sozial-ökologischen Transformation vor.
Das ist doch eine gewisse Häufung des Begriffs der so-zial-ökologischen Transformation.
Ich habe recherchiert – vielleicht ein bisschen rasch –und festgestellt, dass das ein Begriff ist, der im Wesentli-chen in sehr linken Foren zu finden ist.
– Ich zitiere nachher noch ein bisschen. Dann müssenSie sich einmal überlegen, ob Sie diesen Antrag nichtlieber mit den Kolleginnen und Kollegen der Linken zu-sammen formuliert hätten. Ich merke daran, dass da beiIhnen schon ein bisschen Diskussionsbedarf ist. Sei es,wie es sei; das scheint eine Entwicklung zu sein, die prä-gnant ist.Ich will jetzt zu den Sachverhalten kommen. Deutsch-land – natürlich auch die Europäische Union – bekenntsich zu dem Klimaschutzvertrag, den wir dann in Parisverabschieden wollen. Wir gehören auch zur Gruppederjenigen Länder, die bis März die sogenannten INDCsvorlegen werden. Das ist wichtig. Ich hoffe, dass vieleandere Länder noch folgen werden und dass viele Län-der das zumindest bis zur Jahresmitte tun werden.Es geht einfach darum, darzulegen, welche Sektorenin den Klimaschutz einbezogen werden. Es geht dannim Folgeprozess um Präzisierung. Da ist noch viel Ar-beit zu leisten. Gute Vorarbeit ist in Lima von MinisterinHendricks geleistet worden, begleitet auch von MinisterMüller. Aber es ist noch viel zu tun, um das auszuarbei-ten, was in den nächsten Monaten präzisiert werdenmuss. Schlussendlich muss nicht nur gesagt werden:„Was machen wir? Welche Sektoren beziehen wir ein?“,sondern auch: Wie machen wir es, und – das ist beson-ders wichtig – wie kann das überprüfbar gemacht wer-den?
Dieser Prozess, der in den nächsten Monaten vor unssteht, ist besonders schwierig. Daran müssen wir arbei-ten.Ich glaube, wir haben eine ganz gute Chance – FrauRoth, Sie haben es angesprochen – mit Blick auf denG-7-Gipfel. Es sind drei große Nachhaltigkeitsthemen
Metadaten/Kopzeile:
7590 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Matern von Marschall
(C)
(B)
im Arbeitsprogramm unserer Präsidentschaft. Wir kön-nen darauf hinweisen, dass wir selbst mit unserem natio-nalen Aktionsprogramm Klimaschutz, Defizite durchausanerkennend, in den Jahren bis 2020 und damit vor Gül-tigkeit des Pariser Vertrages noch eine Menge Arbeit voruns haben. Durch die Präzisierung im nationalen Ak-tionsprogramm und auch im NAPE, im Effizienzplan,können wir die Freunde in der G-7-Gruppe vielleichtauch ermutigen und ermuntern, so etwas in der Präzi-sion, die wir hier in Deutschland, ich glaube, in vorbild-licher und nachahmenswerter Weise leisten – das habenwir in Lima gemerkt –, zu implementieren. Das halte ichfür einen ganz wichtigen Punkt. Ich glaube, das ist eineRiesenchance. Es ist gerade keine schlechte Konstella-tion – Frau Hänsel, Sie haben es, glaube ich, kritisiert –,dass wir unterhalb der UN-Ebene nicht nur die EU, son-dern auch die G 7 und viele weitere Formate haben, indenen Ländergruppen ihre Ziele vorantreiben.Ich will auf einen Punkt hinweisen, der in IhremAntrag vollkommen fehlt: Wesentlich ist, dass wir inForschung investieren und dass wir vor allen Dingenauch die Chance eröffnen, dass sich über den freienMarkt die erfolgreichsten, preiswertesten und sauberstenTechnologien in der Welt verbreiten. Auch das ist einnennenswerter Punkt, der zu mehr Gerechtigkeit bei-trägt, weil so auch Länder, die sich das ansonsten nichtleisten könnten, preiswert gute Technologien einkaufenkönnen.
Ich glaube – damit möchte ich zum Schluss kom-men –, dass wir eine große Chance haben, mit unserenfranzösischen Freunden, denen wir in diesen Tagen austraurigem Anlass in besonderer Weise sehr verbundensind, in Paris zu einem Erfolg zu kommen. Sie habensich ja auch hohe Ziele gesetzt. Ich denke, dass Deutsch-land, das ja die G-7-Präsidentschaft innehat, vor diesemPariser Gipfel alle anderen Länder in besonderer Weiseermutigen kann, hier voranzuschreiten.
Vielen Dank. – Letzter Redner zu diesem Tagesord-
nungspunkt ist der Kollege Frank Schwabe, SPD-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich finde, das kann man schon einmal sagen: Es ist dasVerdienst der Grünen, dass wir jetzt, auch wenn es schonetwas später ist, darüber diskutieren, dass 2015 ein ent-scheidendes Jahr für Klimaschutz, nachhaltige Entwick-lung und die Frage der Menschenrechte ist.
Auch wenn wir darüber schon ein paarmal diskutiert ha-ben, kann es ja nicht schaden, das immer wieder zu beto-nen. Es liegt in der Tat ein Jahr vor uns, in dem auch dieAbfolge der verschiedenen Veranstaltungen und Gipfeluns die Chance gibt, die Dinge gemeinsam zu betrach-ten, also Ökonomie, Ökologie und Soziales gemeinsamzu betrachten, aber auch die Welt vernetzt zu betrachten,Stereotype zu überwinden, über die eine Welt zu reden,nicht mehr so sehr in Erste, Zweite und Dritte Welt zuunterteilen. Dazu müssen sich natürlich alle Teile derWelt verändern. Auch wir selbst werden uns verändernmüssen.
Deutschland nimmt in diesem wichtigen Jahr eine be-deutende Rolle ein: Das ist die G-7-Präsidentschaft, wieschon erwähnt wurde. Diese müssen wir für nachhaltigeEntwicklung und Klimaschutz nutzen. Chancen ergebensich aber auch daraus – auch daran will ich hier erin-nern –, dass wir erstmalig den Vorsitz im Menschen-rechtsrat der Vereinten Nationen innehaben. Auch dieThemen, die dort behandelt werden, gehören in den Be-reich von nachhaltiger, zukunftsfähiger Entwicklung.
Weil die Dinge zusammengehören, weil Menschen-rechte integraler Bestandteil sowohl des SDG-Prozessesals auch des Klimaschutzprozesses sind, will ich – ichkann auch gar nicht anders, weil ich mir gerade nocheinmal ein Video angeschaut habe – einige Stunden,bevor wieder eine Auspeitschung des Bloggers RaifBadawi stattfindet, sagen, dass ich es gut finde, dass derBundestagspräsident heute Morgen so klare Worte dazugefunden hat.
Ich habe mir gerade noch einmal ein Video bei YouTubeangeschaut, in dem seine Kinder, die ja zum Glück mitt-lerweile in Kanada leben, zu sehen waren. Es ist wirklichherzzerreißend, was man da sieht. Die Auspeitschung istein barbarischer Akt, und es muss klar sein: Wenn dieFührung Saudi-Arabiens – man muss immer sagen: es istdie Führung in Saudi-Arabien; es sind nicht die Men-schen – einen anständigen Platz in der Weltgemeinschafthaben will, dann muss sie ganz schnell von dieser barba-rischen Tat absehen. Dann muss das aufhören.
Die Welt ist eben nicht auf einem nachhaltigen Pfad.Es ist schwer, die Dinge zu ändern, aber es ist dringendnotwendig. Meine Mutter hat immer zu mir gesagt – dasist ja ein Zitat aus der Bibel –: Man hat das Gefühl, derGeist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Das gilt fürviele Länder der Welt, eben auch deswegen, weil es
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7591
Frank Schwabe
(C)
(B)
kompliziert ist, sich zu verändern. Umso wichtiger ist es,dass Deutschland insbesondere die Chance des G-7-Gip-fels nutzt.Ich will daran erinnern, dass im Programm nicht nuretwas zum Klimaschutz und zu nachhaltiger Entwick-lung steht, sondern zum Beispiel auch zur Situation derWeltmeere. Das ist ein ganz zentrales Thema, das wir inden Mittelpunkt rücken müssen. Da geht es in der Tatum die Vermüllung der Weltmeere. Es wird aber auchein anderes spannendes Thema angesprochen: Das istder Unterwasserbergbau, für den es bisher kaum ver-nünftige internationale Regelungen gibt. Ich glaube, wirahnen noch gar nicht, welcher Schaden da zurzeit ange-richtet wird. Ich finde gut, dass das Thema Bestandteildes G-7-Gipfels sein soll.Dann geht es natürlich in der Tat auch um den Klima-schutz, um ein Momentum für den Klimaschutz. Das istdie Chance, die von deutscher Seite entsprechend ge-nutzt werden kann. Es geht um die Finanzierung bis zumJahr 2020, darum, glaubwürdig zu zeigen: Wie könnenwir einen Aufwuchspfad schaffen, um die 100 Milliar-den US-Dollar zu erreichen? Es geht darum, zu überle-gen: Wie können wir das Erfolgsmodell aus Deutsch-land, die erneuerbaren Energien, noch stärker in der Weltfördern? Es geht auch ein bisschen darum, wie wir dieinternationalen Organisationen stärken können, wie end-lich aus dem UN-Umweltprogramm eine UN-Organisa-tion gemacht werden kann.Zusammen mit anderen Aktivitäten wie dem Peters-berger Klimadialog und einer überzeugenden eigenenKlimaschutzpolitik in Deutschland können wir dafürsorgen, dass das Jahr 2015 ein erfolgreiches internatio-nales Jahr wird.
Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3156 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Stärkung des Rechts des Angeklagten auf
Vertretung in der Berufungsverhandlung und
über die Anerkennung von Abwesenheitsent-
scheidungen in der Rechtshilfe
Drucksache 18/3562
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist auch dieses so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla-
mentarische Staatssekretär Christian Lange, SPD.
C
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf zurStärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung inder Berufungsverhandlung und über die Anerkennungvon Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfedient der Umsetzung europarechtlicher Verpflichtungender Bundesrepublik Deutschland in das nationale Recht.Die Vorgaben aus einem Urteil des Europäischen Ge-richtshofs für Menschenrechte vom 8. November 2012sollen umgesetzt werden. Der Europäische Gerichtshoffür Menschenrechte hat entschieden, dass das in Arti-kel 6 Absatz 3 der EU-Menschenrechtskonvention ga-rantierte Recht des Angeklagten, sich in einer Strafsachedurch einen Verteidiger seiner Wahl verteidigen zulassen, verletzt sei, wenn das Gericht die Berufung desabwesenden Angeklagten trotz Erscheinens eines vonihm bevollmächtigten Verteidigers als Vertreter verwirft.Genau dies ist aber die zwingende Folge des geltenden§ 329 Absatz 1 Satz 1 unserer Strafprozessordnung. DieVertragsstaaten der Konvention haben sicherzustellen,dass ihre innerstaatlichen Rechtsordnungen mit der Kon-vention übereinstimmen. § 329 StPO ist daher entspre-chend zu ändern.Es stellt sich dann natürlich die weitere Frage, liebeKolleginnen und Kollegen, was bei Nichterscheinen desAngeklagten mit dessen Berufung geschehen soll, wennsein Rechtsmittel nicht mehr verworfen werden kann. Imdeutschen Strafprozessrecht gilt im Grundsatz, dass ge-gen einen ausgebliebenen Angeklagten keine Hauptver-handlung stattfindet. Das geltende Strafprozessrechträumt dem Verteidiger daher bisher auch nur in wenigenFällen eine über die Verteidigung hinausgehende Befug-nis zu einer tatsächlichen Vertretung des Angeklagten inder Hauptverhandlung ein. Der rechtskräftige Abschlusseines Strafverfahrens kann aber im Interesse der Funk-tionsfähigkeit der Strafrechtspflege natürlich nicht alleinvon der Bereitschaft des Angeklagten zum Erscheinen inder Berufungshauptverhandlung abhängig sein. Der Ge-setzentwurf bestimmt daher als weitere Konsequenz ausdem Urteil, dass dann ohne den Angeklagten mit demschriftlich bevollmächtigten Verteidiger als dessen Ver-treter verhandelt werden kann, soweit nicht besondereGründe eine Anwesenheit des Angeklagten erfordern,etwa weil sich das Gericht einen persönlichen Eindruckvom Angeklagten machen muss. Entfällt die Vertre-tungsbefugnis oder die Vertretungsbereitschaft des Ver-teidigers während der in der Abwesenheit des Angeklag-ten durchgeführten Berufungshauptverhandlung oderentfernt sich der Vertreter einfach unentschuldigt, siehtder Gesetzentwurf als Rechtsfolge dann wieder eine Ver-werfung der Berufung des Angeklagten vor. Denn dieeingeräumte Vertretungsmöglichkeit soll nicht zugleich
Metadaten/Kopzeile:
7592 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Parl. Staatssekretär Christian Lange
(C)
(B)
eine Möglichkeit zur Verschleppung des Verfahrensdurch den Angeklagten oder seinen Verteidiger eröffnen.Damit, meine Damen und Herren, wird einerseits dasRecht des Angeklagten auf eine Vertretung in der Beru-fungsverhandlung entsprechend gestärkt, andererseitsaber auch kein Recht des Angeklagten auf Abwesenheitin der Berufungshauptverhandlung begründet. Die in derEntscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Men-schenrechte vorgenommene Abwägung zwischen demInteresse an der Anwesenheit des Angeklagten in derHauptverhandlung und seinem Recht auf Vertretungdurch einen Verteidiger wird im Entwurf insbesonderenicht zum Anlass genommen, die begrenzten Möglich-keiten, eine Vertretung des abwesenden Angeklagtenauch in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung vorzu-nehmen, auszuweiten und damit maßgebliche Struktur-prinzipien der deutschen Strafprozessordnung zu ändern,die dem Anspruch auf rechtliches Gehör des Angeklag-ten, aber auch der Schaffung einer möglichst sicherenEntscheidungsgrundlage der Gerichte dienen.Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf dientzum anderen der Umsetzung des EU-Rahmenbeschlus-ses zu Abwesenheitsentscheidungen aus dem Jahr 2009.Mit dem vorliegenden Entwurf wird der EU-Rahmenbe-schluss durch eine entsprechende Änderung der §§ 83,87 b und 88 a des Gesetzes über die internationaleRechtshilfe in Strafsachen umgesetzt. Dort werden ab-schließend die Fälle geregelt, in denen ausnahmsweiseeine Verpflichtung zur Anerkennung und Vollstreckungeiner Abwesenheitsentscheidung besteht.Meine Damen und Herren, ich bitte Sie um konstruk-tive Beratungen in den Ausschüssen und schließlich umZustimmung.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Halina
Wawzyniak, Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnenund Kollegen! Mit dem Gesetzentwurf soll das Rechtdes oder der Angeklagten auf Vertretung in Berufungs-verhandlungen gestärkt werden und – es ist schon gesagtworden – der Rahmenbeschluss über die Anerkennungvon Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe um-gesetzt werden. Für die Nichtjuristinnen und Nichtjuris-ten unter uns: Die Berufung ist eine zweite Tatsachenin-stanz. Das heißt, es werden nicht nur Rechtsfragengeklärt, sondern auch Tatsachenfragen. Berufung kön-nen Angeklagte und Staatsanwaltschaft einlegen; das zuwissen, ist bei diesem Thema vielleicht nicht ganz un-wichtig.
Zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses will ich andieser Stelle gar nicht viel sagen; das ist okay, das kön-nen Sie so machen.Ich will vielmehr auf die Änderung der Strafprozess-ordnung eingehen. Nun ist es ja so, dass Sie im Koali-tionsvertrag aufgeschrieben haben, dass Sie sich derStrafprozessordnung und dem Jugendgerichtsgesetz ins-gesamt zuwenden wollen. Es gibt auch eine Experten-kommission beim Bundesministerium der Justiz und fürVerbraucherschutz, die umfassende Vorschläge zur Re-form der Strafprozessordnung erarbeitet. Das ist insge-samt begrüßenswert.Da wir hier keine Umsetzungsfrist haben, hätte ichpersönlich es besser gefunden, wenn wir die Änderungdes § 329 StPO, über den wir jetzt reden, in die umfas-sende Reform mit eingebunden hätten. Um es gleich zusagen: Ich finde das, was Sie vorschlagen, nicht kom-plett falsch, aber ich glaube, dass das Teufelchen – es istnur ein Teufelchen, kein Teufel – im Detail steckt.Sie haben gesagt – das ist völlig richtig –, dass mit derÄnderung des § 329 StPO ein Urteil des EuropäischenGerichtshofs für Menschenrechte umgesetzt wird. Nachdiesem Urteil kann sich der Angeklagte in der Beru-fungsverhandlung durch einen Rechtsanwalt vertretenlassen. § 329 Absatz 1 Satz 1 – auch darauf haben Siehingewiesen – hat das bisher nicht in allen Fällen vorge-sehen. Der Europäische Gerichtshof hat gesagt: Das istein Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren. In-sofern ist die von Ihnen in dem Satz 1 vorgenommeneKlarstellung, nach der die Verwerfung der Berufungohne Verhandlung bei Nichterscheinen des Angeklagtenoder eines Vertreters grundsätzlich nicht möglich ist,ausdrücklich zu begrüßen.Ich sehe ein kleineres Problem – deswegen sprach ichvom Teufelchen und nicht vom Teufel – in der Neurege-lung des § 329 Absatz 1 Satz 2 StPO. Sie sieht vor, dassunter bestimmten Bedingungen die Berufung ohne Ver-handlung zur Sache dennoch verworfen werden kann.Ihre Begründung, es solle verhindert werden, dass einVerfahren verzögert und eine weitere Verhandlung verei-telt wird, kann ich nachvollziehen. Deswegen schlagenSie jetzt vor, dass die Berufung ohne Verhandlung zurSache verworfen werden kann, wenn aufgrund bestimm-ter Handlungen die Fortführung der Hauptverhandlungdadurch verhindert wird, dass weder der Rechtsanwaltnoch der Angeklagte anwesend ist.Ich finde es auch richtig, dass Sie in der Begründungdarauf hinweisen, dass eine zwangsweise Vorführungdes Angeklagten nicht möglich ist. Deswegen ändern Siekonsequenterweise auch § 330 StPO; das ist so weit allesin Ordnung. Ich würde trotzdem einen kleinen, konstruk-tiven Änderungsvorschlag machen. Ich würde Sie darumbitten, darüber nachzudenken, ob wir bei den in § 329Absatz 1 Satz 2 StPO genannten Gründen eine Zweitan-setzung vorsehen können, bevor die Berufung ohne Ver-handlung verworfen wird. Ich weiß: Auch das würdemöglicherweise zu Verzögerungen oder zu einer Verlän-gerung führen. Aber wenn wir gesetzlich festschreiben,dass in diesem Fall eine Zweitansetzung stattfinden soll,und wenn zu dieser Zweitansetzung niemand erscheint,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7593
Halina Wawzyniak
(C)
(B)
dann ist es aus meiner Sicht nachvollziehbar, dass mandavon ausgehen kann, dass der Angeklagte oder derRechtsanwalt, der ihn vertritt, kein Interesse mehr hat.So würden wir den Prinzipien eines fairen Verfahrens,des rechtlichen Gehörs und der richterlichen Aufklärungnäherkommen. Ich bitte Sie, über diesen Vorschlag kons-truktiv nachzudenken.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Patrick
Sensburg, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Prozessuale Verfahrensrechte sind wesentlicher Bestand-
teil eines Rechtsstaates. Deswegen beschäftigen wir uns
heute in erster Lesung – das ist der erste Teil des Gesetz-
entwurfs – mit der Stärkung der Rechte des Angeklag-
ten.
Staatssekretär Lange und die anderen Vorredner ha-
ben es bereits gesagt: Das geht zurück auf eine Entschei-
dung des Europäischen Gerichtshofs für Menschen-
rechte. Es geht um einen Fall, in dem der Kläger vor
dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bei
einer Verhandlung des Berufungsgerichts persönlich
nicht anwesend war. Er zog es aus bestimmten Gründen
vor, nicht zu dieser Verhandlung zu gehen. Ohne seine
Anwesenheit ist die Berufung direkt verworfen worden.
Dagegen hat er sich gewendet; denn er wurde vor dem
Berufungsgericht anwaltlich vertreten. Er ist der Mei-
nung: Das verstößt gegen sein Recht auf Zugang zu ei-
nem Gericht, gegen sein Recht auf rechtliches Gehör
und gegen sein Recht auf einen Verteidiger seiner Wahl.
All das sind wesentliche Rechte, die ein Rechtsstaat
vorsieht, genauso wie das Recht der Unschuldsvermu-
tung, das Recht, dass keine Strafe ohne gesetzliche
Grundlage verhängt werden darf, und das Recht auf ein
faires Verfahren. Es war richtig, dass das Ministerium ei-
nen Entwurf zur Überarbeitung des § 329 Absatz 1
Satz 1 der StPO vorgelegt hat; denn der Europäische Ge-
richtshof für Menschenrechte hat entschieden, dass eine
Berufung nicht schon deshalb verworfen werden darf,
weil der Angeklagte in der Verhandlung fehlt, aber sein
Verteidiger anwesend ist.
Der vorliegende Gesetzentwurf wirft – das ist gerade
von Kollegin Wawzyniak formuliert worden – an der ei-
nen oder anderen Stelle noch Fragen zu Feinheiten auf.
Über die können wir diskutieren. Schauen wir uns die
Formulierung an. Sie lautet:
Soweit nicht besondere Gründe die Anwesenheit
des Angeklagten erfordern, findet die Hauptver-
handlung auch ohne ihn statt, wenn er durch einen
Verteidiger mit schriftlicher Vertretungsvollmacht
vertreten wird oder seine Abwesenheit im Fall der
Verhandlung auf eine Berufung der Staatsanwalt-
schaft nicht genügend entschuldigt ist.
Fragen wirft dieser Entwurf nach meiner Meinung da-
hin gehend auf, weil der Verteidiger in dieser Situation
als Vertreter des Angeklagten auftritt. Möglicherweise
würde das seiner Stellung als unabhängiges Organ der
Rechtspflege nicht gerecht werden, wenn er lediglich
Tatsachen vorträgt. Wenn es um Rechtsfragen oder um
technische Fragen geht, sehe ich kein Problem. Wenn
der Verteidiger aber einen neuen Sachvortrag in der Be-
rufungsverhandlung bringt, dann sehe ich das Problem,
dass seine Stellung als unabhängiges Organ der Rechts-
pflege in ein etwas schiefes Licht gerät.
Der Grundsatz der Anwesenheit des Angeklagten in
der Hauptverhandlung ist richtig. Es ist auch richtig,
dass der abwesende Angeklagte in der Hauptverhand-
lung durch den Verteidiger vortragen lassen kann. Aber
man muss bedenken, dass immer die höchstpersönliche
Einlassung bevorzugt wird und dass sich durch Lücken
in der Einlassung Nachfragen ergeben können. Eine Klä-
rung wäre in einer solchen Situation nicht möglich. – All
diese Punkte müssen wir noch klären. Der Entwurf in
Gänze ist sicherlich sehr zu begrüßen.
Nehmen wir uns ein Beispiel an § 73 OWiG: Es kann
dann auf die Anwesenheit des Betroffenen verzichtet
und auf den Rechtsanwalt abgestellt werden, wenn keine
neue Einlassung zum Sachverhalt erfolgt. Ich könnte mir
vorstellen, dass in einem solchen Fall diese Regelung er-
folgversprechend ist, sodass der Verteidiger nur noch zu
rechtlichen oder technischen Fragen Stellung nimmt. Bei
einem neuen Sachvortrag stelle ich mir das etwas
schwierig vor.
Ich hoffe, dass wir im anstehenden Berichterstatterge-
spräch in der kommenden Woche diese Fragestellung
noch einmal gemeinsam diskutieren und dann diesen
grundsätzlich sehr zu begrüßenden Entwurf auch ge-
meinsam zu einem erfolgreichen Gesetzgebungsverfah-
ren führen können. Mein Eindruck ist: Ich glaube, es
wird uns gelingen, das auch über alle Fraktionen hinweg
hinzubekommen, weil die Intention, die Absicht, Rechte
zu stärken, richtig ist. Das wollen wir gemeinsam. Es
muss dann eben nur ein rundes Paket werden. Ich
glaube, das können wir im anstehenden Berichterstatter-
gespräch erreichen. Ich würde mich freuen, wenn uns
das gemeinsam gelingt, und danke für Ihre Aufmerk-
samkeit.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Hans-ChristianStröbele, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Stellen wir uns Folgendes vor: Ein erdachter Grünerwird fotografiert. Dieses Foto von ihm taucht im Internetauf. Auf diesem Foto sieht man ihn in seinem Garten sit-zen, und im Hintergrund steht eine Pflanze, die wie eineHanfpflanze aussieht.
Metadaten/Kopzeile:
7594 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Hans-Christian Ströbele
(C)
(B)
Er wird angezeigt. Die Staatsanwaltschaft leitet ein Er-mittlungsverfahren ein. Er kommt vor Gericht – diemeisten Strafprozesse beginnen übrigens beim Amtsge-richt; ungefähr 70 Prozent, nehme ich einmal an, habeaber keine genauen Zahlen – und wird dort von einemunverständigen alten Richter verurteilt, der sich mitHanf und Pflanzen usw. nicht so gut auskennt.
Er sagt: Das ist aber total ungerecht. Ich bin nicht zurVerhandlung hingegangen,
weil ich davon ausgegangen bin, dass vor deutschen Ge-richten immer Gerechtigkeit geübt und die Wahrheit ge-funden wird.
Deshalb geht er in Berufung. Das kann man nur beimAmtsgericht tun. Wenn man beim Landgericht, wie UliHoeneß, anfängt, kann man keine Berufung einlegen. Dagibt es nur die Möglichkeit der Revision. – Er geht alsoin Berufung – das ist die zweite Tatsacheninstanz – undnimmt sich einen ganz tollen Verteidiger – einen Ideal-verteidiger; ich will keinen Namen nennen –
und sagt sich: Da habe ich jetzt einen, der mich raushaut.Der hat ganz eindeutige Argumente. Daran kann das Be-rufungsgericht gar nicht vorbei. – Er geht nicht zur Ver-handlung, hat Wichtigeres zu tun, weil er sagt: Ich werdeja in der zweiten Instanz sowieso freigesprochen.Nach der geltenden Rechtslage ist es in der Tat so,dass die Berufung, wenn der Angeklagte nicht krank ist,verworfen wird. Dann wird nicht nur nicht ausreichendargumentiert, sondern dann wird auch gar nicht verhan-delt und die Berufung verworfen. Ich finde es natürlichaußerordentlich gut, dass der Europäische Gerichtshofnun gesagt hat: Das ist nicht in Ordnung. Ein Angeklag-ter muss auch das Recht haben, sich vertreten zu lassen,wenn er meint, dass eine andere Person ihn besser vertei-digen kann. Wenn der Angeklagte einen Anwalt beauf-tragt und deshalb die Berufung verworfen wird – dasgeht nicht. Ein Angeklagter muss auch, ohne dass er an-wesend ist, Gerechtigkeit finden.Jetzt denkt man, dass dies umgesetzt wird, weil dasJustizministerium gesagt hat: Da der Europäische Ge-richtshof das für richtig hält, setzen wir das um und sa-gen in Zukunft: Wenn der Anwalt nicht nur über eineVerteidigervollmacht verfügt, sondern auch über eineVollmacht, die ihn zur Vertretung des Angeklagten be-rechtigt – das ist nämlich eine eigene Vollmacht; das istin der Regel nicht der Fall, das wird häufig verwech-selt –, dann kann auch verhandelt werden. Ich fasse ein-mal Absatz 1 und Absatz 2 des § 329 StPO aus demGesetzentwurf zusammen. Aber das Bundesjustizminis-terium hat es nicht dabei bewenden lassen, sondern hatgesagt: Wir müssen doch wieder Einschränkungen vor-nehmen. Es geht nicht, wenn erstens der Verteidiger ausirgendeinem Grund den Saal verlässt, zum Beispiel weiler es eilig hat oder zu einem anderen Prozess geht, beidem er besser verdient – dann ist er vielleicht kein so gu-ter Verteidiger –, weil dann nicht mehr verhandelt wer-den kann, wenn zweitens der Angeklagte selber im Pro-zess anwesend war und während der Verhandlung gehtund wenn er sich drittens extra verhandlungsunfähigmacht und deshalb nicht erscheinen kann. In diesen Fäl-len kann er sich nicht vertreten lassen. Das sind die Ein-schränkungen.Nehmen Sie doch einfach den Europäischen Gerichts-hof ernst, und lassen Sie die Regelung, wie ich sie amAnfang dargestellt habe, wie Sie sie auch gesehen haben– Frau Wawzyniak auch –, bestehen, und zwar ohne diegenannten Einschränkungen, weil das zu solch blödenÜberlegungen führt wie: Wenn der Angeklagte nichtkommt, weil er sich selber verhandlungsunfähig ge-macht hat, muss ein Arzt befragt werden. Der muss dannerst einmal geholt werden. Er muss den Angeklagten un-tersuchen, weil er ein Gutachten abgeben soll, ob derAngeklagte tatsächlich verhandlungsunfähig ist.Wir sind mit der Regelung bzw. mit der Richtunggrundsätzlich einverstanden – das ist klar; der Europäi-sche Gerichtshof will die Rechte der Angeklagten stär-ken –; ohne diese Einschränkungen würden wir die Re-gelung für richtig halten, sie befürworten und dafürstimmen. Nun gibt es aber einen anderen Vorschlag. Wirmüssen uns im Ausschuss und in den Berichterstatterge-sprächen zusammensetzen und den einen oder anderenSachverständigen hinzuziehen. Wir werden uns das allesgenau anhören und schauen, ob dabei am Ende ein Kom-promiss herauskommen kann, damit der Verteidiger indem Fall, den ich gebildet habe, sagen kann: Die Pflanzesieht nur so aus wie eine Hanfpflanze.
Oder: Das ist gar keine richtige Hanfpflanze, in der Can-nabis ist, das man auch rauchen kann, sondern das isteine Nutzhanfpflanze, deren Besitz gar nicht strafbar ist.
Damit könnte der gute Verteidiger den Angeklagten frei-bekommen. Dazu brauchte er den Mandanten gar nicht.
Danke schön. – Nächster Redner ist Dirk Wiese,SPD-Fraktion.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7595
(C)
(B)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Kollege Ströbele, ich glaube, in Ihrem
Vortrag fehlte nur diese Frage: Hat H. S. sich strafbar ge-
macht? Beurteilen Sie den Fall prozessual! – Dann könn-
ten wir den Fall heute in dieser Runde gemeinsam lösen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Kernstück des vor-
liegenden Gesetzentwurfs sind in Umsetzung des soge-
nannten Neziraj-Urteils des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte die Neuregelung des § 329 StPO so-
wie die Umsetzung des Rahmenbeschlusses „Abwesen-
heitsentscheidungen“ des Rates aus dem Jahre 2009.
Entsprechend der Urteilsvorgabe des Europäischen Ge-
richtshofs für Menschenrechte soll künftig ein Nichter-
scheinen des Angeklagten nicht mehr zwingend zur Ver-
werfung der Berufung führen, sofern ein nachweislich
zur Vertretung bevollmächtigter Verteidiger an seiner
statt erscheint und eine Anwesenheit des Angeklagten
nicht aus besonderen Gründen erforderlich ist.
Der Parlamentarische Staatssekretär Christian Lange
hat die Hintergründe des Urteils sowie die Umsetzung
des Rahmenbeschlusses bereits fundiert dargestellt. Um
Wiederholungen hier und jetzt zu vermeiden, möchte ich
mich daher auf die drei zentralen Punkte des Gesetzent-
wurfs beschränken.
Erstens: Vertretung durch Verteidiger. Der Ange-
klagte kann sich künftig durch einen nachweislich zur
Vertretung bevollmächtigten Verteidiger vertreten las-
sen. „Nachweislich bevollmächtigt“ heißt hier, dass der
Angeklagte sich von einem mit schriftlicher Vertretungs-
vollmacht bevollmächtigten Verteidiger vertreten lassen
muss.
Zweitens: kein Recht auf Abwesenheit in der Hauptver-
handlung. Lassen Sie mich hier ausdrücklich klarstellen,
dass mit den Neuregelungen in dem heute zu debattieren-
den Gesetzentwurf kein Recht auf Abwesenheit des Ange-
klagten in der Berufungshauptverhandlung begründet wer-
den soll. Der Angeklagte ist selbstverständlich nach wie
vor verpflichtet, in der Hauptverhandlung zu erscheinen.
Zusätzlich wird in allen Fällen, in denen die Aufklärungs-
pflicht des Gerichts die persönliche Anwesenheit des An-
geklagten gebietet, seine Anwesenheit auch weiterhin
durch die auch zukünftig vorgesehenen Zwangsmittel der
Vorführung sichergestellt werden können.
Drittens: besondere Gründe für Anwesenheit des An-
geklagten. Das Gericht kann überdies auch weiterhin die
Anwesenheit des Angeklagten im Berufungsverfahren
anordnen, sofern besondere Gründe dies erforderlich
machen. Solche sind etwa bei konkreten Anhaltspunkten
dafür gegeben, dass die Aufklärung bestimmter Um-
stände oder die Erhebung bestimmter Beweise ohne den
Angeklagten nicht möglich sein werden. Als Beispiel sei
hier eine Gegenüberstellung mit Zeugen oder Mitange-
klagten genannt.
Das Erfordernis der besonderen Gründe ist den deut-
schen Gesetzen übrigens nicht fremd. So findet sich in
§ 50 Absatz 1 Jugendgerichtsgesetz, der auch für die Be-
rufungsverhandlung gilt, diese Voraussetzung wieder.
Sie sehen, auch wenn in diesem Beispiel „besondere
Gründe“ dafür vorliegen müssen, dass in der Abwesen-
heit des Angeklagten verhandelt werden kann: Der
Rechtsbegriff der „besonderen Gründe“ ist – siehe § 50
Absatz 1 Jugendgerichtsgesetz – alles andere als neu.
Ich komme zum Schluss. Mit dem vorliegenden Ge-
setzentwurf schützen wir die Rechte des Angeklagten
entsprechend dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte, geben aber gleichzeitig den Gerich-
ten genug Instrumente mit, um die Anwesenheit des An-
geklagten in notwendigen Fällen sicherzustellen.
Ich freue mich auf die parteiübergreifenden Beratun-
gen, die demnächst anstehen, und danke für die Auf-
merksamkeit.
Das war hinsichtlich der Redezeit vorbildlich. – Der
nächste Redner ist Herr Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die heutige Debatte dreht sich um die gesetz-geberische Umsetzung eines Urteils des EuropäischenGerichtshofs für Menschenrechte. Im Kern geht es umdie Frage: Kann sich der Angeklagte in der Berufungs-verhandlung durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen?Das deutsche Recht kennt dem Grundsatz nach keineVerhandlung ohne den Angeklagten. Ich möchte in we-nigen Sätzen ausführen, weshalb dieses Prinzip richtigist: Es geht nicht nur um die Sicherstellung des rechtli-chen Gehörs des Angeklagten, sondern auch um eine ob-jektive Chance des Gerichts, die Wahrheit zu finden.
Diese Wahrheitsfindung soll durch den persönlichenEindruck des Angeklagten sichergestellt werden. Den-noch hat der Europäische Gerichtshof für Menschen-rechte gesagt, es verletze den Grundsatz des Rechts aufein faires Verfahren, wenn ein verteidigungsbereiter Ver-teidiger, der bevollmächtigt worden ist, in der Beru-fungsverhandlung nicht verhandeln kann, sondern dasVerfahren durch Urteil abgewiesen wird. Es ist auchrichtig, dass sich die Bundesregierung nach diesemUrteil nicht darauf verlässt, dass es die Rechtsprechungalleine regeln wird, sondern eine gesetzliche Regelunggetroffen wird.
Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist aber jene:Inwiefern wollen wir das Recht auf eine Verhandlungohne den Angeklagten in unserer Rechtsordnung berück-sichtigen? Anders ausgedrückt: Nehmen wir einen Para-digmenwechsel hin zu einem Strafverfahren ohne Ange-klagten vor oder nicht? Diese Frage ist durchaus vonRelevanz, weil sich die europäischen Rechtsordnungen
Metadaten/Kopzeile:
7596 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Dr. Volker Ullrich
(C)
(B)
in diesem Bereich deutlich unterscheiden. Das deutscheRecht kennt im Prinzip keine Verhandlung ohne den An-geklagten, während in Frankreich, in Italien oder auch inden Beneluxstaaten eine solche Verhandlung durchausan der Tagesordnung ist. Ohne dem Europäischen Ge-richtshof für Menschenrechte zu nahe treten zu wollen:Diese unterschiedlichen Konzepte der Verhandlung ohneAngeklagten waren sicherlich auch ausschlaggebend fürdieses Urteil.Festzuhalten ist aber: Es gibt kein Recht, wonach derAnwalt den Angeklagten ersetzt, sondern es gibt nur dasRecht, dass der Verteidiger in der Berufungsverhandlungfür den Angeklagten spricht. Da wir unsere Prinzipiender Strafprozessordnung bewahren wollen, sollten wirdieses Urteil meiner Meinung nach nur sehr restriktivumsetzen.Vor dem Hintergrund einer zurückhaltenden Umset-zung dieses Urteils begrüße ich die Einwände des Bun-desrates. Der Bundesrat hat nämlich gesagt, der Verteidi-ger solle in der Berufungsverhandlung nur dann zumZuge kommen, wenn er explizit für diesen Terminbevollmächtigt wird. Nach dem Wortlaut des Regie-rungsentwurfs könnte es schon ausreichen, dass der Ver-teidiger irgendwann im Verlauf des Strafverfahrens be-vollmächtigt worden ist, möglicherweise schon in derersten Instanz, damit er in der Berufungsverhandlung einStück weit an die Stelle des Angeklagten tritt. Das sollvor dem Hintergrund der Stellung des Rechtsanwalts ei-gentlich verhindert werden. Der Rechtsanwalt ist nichtallein Partei, sondern auch Organ der Rechtspflege.Angesichts dieser besonderen Ausgestaltung sollte derAnwalt auch nicht durch eine strafprozessuale Reformstärker in die Rolle der Partei gedrängt werden. Deswe-gen bitte ich, dass wir die Frage, inwiefern der Anwaltbevollmächtigt werden muss, im Laufe der Beratungennoch einmal diskutieren.Meine Damen und Herren, im Übrigen empfehle ichuns, dass wir uns auf die guten Traditionen unserer Straf-prozessordnung besinnen. Die Verhandlung bei Anwe-senheit des Angeklagten gehört zu unseren rechtsstaatli-chen Traditionen. Diese sollten wir bewahren.
Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/3562 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Wie ich sehe, ist das
nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin
Vogler, Sabine Zimmermann , Jan
Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Elektronische Gesundheitskarte stoppen –
Patientenorientierte Alternative entwickeln
Drucksache 18/3574
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss Digitale Agenda
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Kathrin
Vogler, Fraktion Die Linke.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren!1 213 960 000 Euro – so viel hat die elektronische Ge-sundheitskarte die Versicherten der gesetzlichen Kran-kenkassen bis gerade eben gekostet, über 1,2 MilliardenEuro für eine Karte, die bisher nicht mehr kann als diealte Krankenversicherungskarte. Das soll wohl noch län-ger so bleiben, zumindest schreibt dies das Bundes-ministerium für Gesundheit in seiner Antwort auf eineKleine Anfrage meiner Fraktion vom November desletzten Jahres. Nun steht im SGB V: Leistungen der ge-setzlichen Krankenversicherungen sollen ausreichend,zweckmäßig und wirtschaftlich sein. – Die Linke sagt:Die E-Card, diese elektronische Gesundheitskarte, istweder zweckmäßig noch wirtschaftlich. Auch deshalblehnen wir sie ab.
Wir teilen auch die Sorge vieler Versicherter, Ärztin-nen und Ärzte, Datenschützerinnen und Datenschützer,dass eine zentrale Struktur den Schutz der sensiblen So-zialdaten im Gesundheitswesen vor Missbrauch aufDauer nicht gewährleisten kann. Deshalb fordern wir mitunserem Antrag, der Ihnen heute vorliegt: Stoppen Siedie E-Card jetzt, bevor weitere Milliarden an Kranken-kassenbeiträgen in diesem schwarzen Loch der Gesund-heitspolitik versickern!
Wir fordern Sie auch auf, endlich ernst zu machenund ernsthaft über moderne IT-Lösungen für das Ge-sundheitswesen nachzudenken. Wir müssen jetzt Alter-nativen zur E-Card prüfen. Es ist doch so, dass schon dieeinfachsten Anwendungen die Gematik, also die Betrei-bergesellschaft, vor schier unüberwindliche Schwierig-keiten zu stellen scheinen. Bis heute gibt es keineKonzepte und keinen verbindlichen Zeitplan für patien-tenrelevante Anwendungen. Das kann man zum Beispieldaran erkennen – der vdek, der Verband der Ersatzkas-sen, weist in einer Pressemitteilung darauf hin –, dass diederzeitige Karte nicht einmal über genügend Speicher-platz verfügt, um einen Medikationsplan darauf zu spei-chern. Ein Medikationsplan ist keine große Datei, son-dern maximal ein DIN-A4-Blatt mit ein bisschen Text,vielleicht 1 Kilobyte. Zu einem Zeitpunkt also, an demMillionen Menschen über Smartphones mit etlichen Gi-gabyte Speicherplatz verfügen und USB-Sticks oderSpeicherkarten nicht mehr die Welt kosten, ist das einechter Anachronismus.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7597
Kathrin Vogler
(C)
(B)
Wir brauchen für das Gesundheitswesen IT-Lösun-gen, die sowohl in Sachen Datenschutz als auch in Sa-chen Funktionalität zweckmäßig und ausreichend, abereben auch datensparsam und zukunftssicher sind.
Das Bundesgesundheitsministerium allerdings möchtebei der E-Card weiter aufs Gaspedal treten. Aus demMinisterium verlautbart jetzt, die E-Card sei ein Sport-wagen, der leider nur in der Garage stehe. Jetzt aber solleeine sechsspurige Autobahn gebaut werden, auf der derFlitzer dann mit Tempo 250 losrasen könnte. Das Bildfinde ich ein bisschen schräg. Es zeigt auch, dass Sieumwelt- und verkehrspolitisch vielleicht nicht ganz aufdem neuesten Stand sind. Ich muss Ihnen vorwerfen –ich bleibe dabei im Bild –, dass Sie offensichtlich einenSportwagen gebaut haben, der nicht einmal genug Platzim Kofferraum hat, um eine kleine Kiste Bier oderMineralwasser darin zu transportieren. Wenn Sie jetztnicht auf die Bremse treten, Kolleginnen und Kollegenvon den Regierungsfraktionen, dann droht die E-Cardzum BER der Gesundheitspolitik zu werden,
der immer mehr Geld verschlingt, ohne dass wir jemalserfahren, wann er denn endlich funktionieren wird.
Wir fordern: Stoppen Sie die E-Card jetzt! Gehen wirzurück auf Los! Entwickeln wir neue Alternativen, pati-entenfreundlich und datensparsam! Beenden Sie denDruck auf die Skeptikerinnen und Skeptiker unter denVersicherten! Die alten Krankenkassenkarten könnengültig bleiben. Für diejenigen, die sich keine E-Cardzulegen wollen, muss das Ersatzverfahren auf Papierweiter möglich sein. Ich freue mich auf jeden Fall aufdie weiteren Beratungen, auch zum E-Health-Gesetz.
Vielen Dank, Frau Kollegin Vogler. – Nächste Redne-
rin ist Dr. Katja Leikert, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen von derLinken! Sie bringen hier einen Antrag mit dem Titel„Elektronische Gesundheitskarte stoppen – Patienten-orientierte Alternative entwickeln“ ein. Eigentlichbraucht man bei dieser Überschrift schon gar nicht mehrweiterzulesen. Erstens ist klar, dass es sich hierbei umreine Obstruktionspolitik im Hinblick auf ein nationalbedeutendes Großprojekt handelt.
Wenn Sie die eGK stoppen wollen, kommen Sie damitaußerdem schlichtweg zu spät; denn die eGK ist seitJanuar dieses Jahres für alle gesetzlich Versichertenbindend.
Zweitens wird schon beim Lesen des Titels klar, dass Siemit keiner Alternative aufwarten. Das hat auch Ihr Vor-trag, Frau Vogler, deutlich gemacht.Es wird Zeit, dass Sie aufhören, völlig überzogeneSchreckensszenarien zu zeichnen, und mit Sachlichkeitzum Gelingen dieses Vorhabens beitragen. Es geht umviel mehr als um eine Plastikkarte. Interessanterweisegestehen Sie bereits im ersten Satz Ihres Antrags zu– ich zitiere daraus –:Die digitale Datenspeicherung und -übertragungkann helfen, die Gesundheitsversorgung qualitativzu verbessern sowie effizienter und sicherer zu ge-stalten.Wir von der CDU/CSU-Fraktion haben uns jedenfallseine optimale und vor allem moderne Gesundheitsver-sorgung der Bevölkerung auf die Fahnen geschrieben.Genau deshalb arbeiten wir gemeinsam mit unseremKoalitionspartner an der Digitalisierung des Gesund-heitswesens.
Weil Sie hier vieles verzerrt dargestellt haben, liebeFrau Vogler, möchte ich in dieser Debatte gern zunächsteinmal grundsätzlich einordnen, wo wir stehen. Es gehtum eine Entwicklung, die uns in nahezu sämtlichen Le-bensbereichen seit Jahrzehnten beschäftigt, nämlich umdie fortschreitende Digitalisierung. Sie ist auch im Ge-sundheitswesen vielerorts angekommen. Doch geradewenn es um den Transfer und die Speicherung von ge-sundheitsrelevanten Daten geht, bewegen wir uns oftnoch im analogen Zeitalter. Da war zugegebenermaßennicht alles schlecht. Aber es geht viel besser, als Anam-nesen auf Karteikärtchen festzuhalten, Befunde zufaxen, Arztbriefe mit der Post zu verschicken oder für je-des Rezept persönlich beim Arzt erscheinen zu müssen.Das können wir natürlich noch die nächsten 20 Jahre somachen, wie Sie es vorschlagen. Aber aus meiner Sichtkostet das viel Geld und Zeit, die die Ärzte und Praxis-teams viel besser nutzen könnten, nämlich für die Ver-sorgung des Patienten.
Es ist klar, dass wir die Digitalisierung im Gesundheits-wesen nicht deswegen fordern, weil wir gerne elektroni-sche Spielereien vorantreiben wollen, sondern uns gehtes in erster Linie um die Versorgung der Patienten unddie Verbesserung der Informationsverarbeitung, vor al-lem im Gesundheitswesen.Wir Gesundheitspolitiker stehen im Hinblick auf dieVersorgung vielen Herausforderungen gegenüber; übernichts anderes haben wir im ersten Jahr dieser Legis-laturperiode hier gesprochen. Die Menschen leben län-ger. Sie werden aber auch länger krank sein. Es wird vielmehr chronisch Kranke geben. Diese wechseln oft
Metadaten/Kopzeile:
7598 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Dr. Katja Leikert
(C)
(B)
zwischen den verschiedenen Sektoren in unserem Ge-sundheitssystem: zwischen einem niedergelassenenArzt, einer Klinik, einem Rehabetrieb. Hier müssenDaten leicht ausgetauscht werden können. ElektronischeArzt- und Entlassbriefe können die Arbeit erheblich er-leichtern.Außerdem wollen wir für alle Menschen eine Versor-gung auf Spitzenniveau vorhalten, egal ob sie in einerStadt oder auf dem Land leben. Gerade bezüglich derVersorgung im ländlichen Raum – es ist absehbar, dasssich dort zukünftig weniger Ärzte niederlassen wollen;das ist ein Fakt, den wir berücksichtigen müssen –brauchen wir neue Ansätze und ein besseres Versor-gungsmanagement. Dies kann zum Beispiel durch dieTelemedizin, die wir auch vorantreiben wollen, geleistetwerden.
Dies, verehrte Damen und Herren, sind nur einigeBeispiele, weshalb ich in der Digitalisierung des Ge-sundheitswesens grundsätzlich eine große Chance sehe,die Qualität der medizinischen Versorgung in Deutsch-land zu verbessern.
Warum Sie all diese Neuerungen den Versicherten vor-enthalten wollen, das müssen Sie uns hier einmal erklä-ren, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der Lin-ken!
Wir sind einfach nur froh darüber, dass Sie hier keineRegierungsverantwortung tragen.Jetzt erkläre ich Ihnen noch einmal, wie das mit derTelematikinfrastruktur und mit der eGK geplant ist: Eshilft nichts, wenn wir in Deutschland viele Inseln haben,wo der elektronische Fortschritt Einzug hält, dieser aberbeispielsweise beim Transfer von Daten endet. Wasnützt ein papierloses Krankenhaus, wenn zum SchlussArzt- und Entlassbriefe doch per Post verschickt werdenmüssen? Es besteht aus meiner Sicht kein Zweifel daran,dass sich daran etwas ändern muss. Wir brauchen ein si-cheres Netz für Gesundheitsdaten. Diese Idee ist nichtneu; sie gibt es seit zehn Jahren. Ich gebe zu: Das hatsehr viel Geld gekostet, vielleicht auch ein bisschen zuviel. Deswegen müssen wir jetzt Gas geben, um hierweiter voranzukommen.
Bereits 2004 hat der Gesetzgeber den Auftrag für die-ses Projekt an die Selbstverwaltung gegeben. Wir müssenuns das einmal vorstellen: Es handelt sich dabei um einProjekt, bei dem 70 Millionen Versicherte, 2 100 Kran-kenhäuser, 21 000 Apotheken und 208 000 Haus-, Fach-und Zahnärzte miteinander vernetzt werden. Frau Kolle-gin, Sie bemühten eben das Bild mit dem Sportwagen;dieses Bild wird oft bemüht. Es handelt sich bei diesemNetz in der Tat um eine Datenautobahn zwischen denverschiedenen Leistungserbringern, dem Patienten undinsgesamt den Akteuren im Gesundheitswesen. Auf die-ser Datenautobahn sollen bald viele Sportwagen flitzen;dahinter stehen wir.Die elektronische Gesundheitskarte ist sozusagen derelektronische Schlüssel, mit dem die Patienten auf ihreDaten zugreifen können. Der Patient bestimmt – das istauch etwas, was Sie in der Debatte immer wieder falschdarstellen –, welche Daten gespeichert werden und werZugriff auf die Daten hat.Viele von Ihnen, die das Vorhaben des Aufbaus einerTelematikinfrastruktur schon länger begleiten als ich,wissen um die Blockaden in den Selbstverwaltungs-strukturen. Das sind an sich schöne Strukturen, die auchoft effektiv arbeiten; aber in diesem Fall gab es hiergroße Blockaden, und die gilt es aufzulösen. Es ist wich-tig, dass die Versicherten endlich eine handfeste Leis-tung erhalten. Die Versicherten interessiert nämlichnicht, wer wann wem in welcher Sitzung mit welchenForderungen die Laune verdorben hat. Entscheidend istdie Frage: Wie können wir den Nutzen der Digitalisie-rung für die Menschen spürbar machen? Ziel muss essein, dass die elektronische Gesundheitskarte samt Tele-matikinfrastruktur einen erkennbaren Mehrwert für dieVersorgung der Menschen hat. Wir von der CDU/CSU-Fraktion setzen uns dafür ein und stecken nicht den Kopfin den Sand, wie es die Kolleginnen und Kollegen vonder Linken tun.
Wir möchten, dass die Telematikinfrastruktur soschnell wie möglich kommt und möchten dann auch soschnell wie möglich Anwendungen sehen. Deshalb ma-chen wir jetzt ein Gesetz. Wir nennen es kurz neumo-disch E-Health-Gesetz; länger heißt es: Gesetz für si-chere digitale Kommunikation und Anwendungen imGesundheitswesen. Ich bin sehr froh, dass sich MinisterGröhe persönlich an die Spitze dieser Bewegung gestellthat. Für den Aufbau der Telematikinfrastruktur gibt es– auch das erkläre ich Ihnen gerne – einen klaren Plan:Die Testphasen sollen bis Anfang 2016 abgeschlossensein. Danach soll das bundesweite Roll-out erfolgen.Bei der Frage, welche Anwendungen künftig digitallaufen sollen, ist langfristig natürlich vieles vorstellbar.Zunächst wollen wir die Notfalldaten auf die elektroni-sche Gesundheitskarte packen und auch den elektroni-schen Medikationsplan. Sie können sich natürlich da-rüber lustig machen; aber es ist für viele Menschen,gerade chronisch Kranke, die viele Medikamente neh-men, sehr wichtig, dass diese Daten schnell verfügbarsind.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7599
Dr. Katja Leikert
(C)
(B)
Vor dem Hintergrund der vielen sinnvollen Neuerun-gen, die mit der eGK und der Telematikinfrastruktur ver-bunden sind, lehnen wir den Antrag der Linken ab. Ihnenfällt zu diesem Thema nicht mehr ein, als das hochbe-tagte Datenschutzgespenst aus der Mottenkiste zu holen
und Behauptungen aufzustellen, die klar von der Handzu weisen sind.
Erstens. Anders als Sie es darstellen – das ist ganzwichtig –, ist kein Zentralserver geplant, auf dem alleDaten lagern. Die Gesundheitsdaten werden dezentralgespeichert, und zwar größtenteils dort, wo sie entste-hen, nämlich beim Arzt, im Krankenhaus und bei denKrankenkassen oder auf externen Speichern. Hier gibt esklare Regeln, wer wie wann auf die Daten zugreifendarf.Zweitens. Alle Versicherten dürfen selber auswählen,welche Gesundheitsdaten über ihre Karte abrufbar undwem sie zugänglich sein sollen. Auch hier streuen Sieden Menschen immer wieder Sand in die Augen.Drittens. Wenn die Telematikinfrastruktur erst einmalsteht, dann werden die Sicherheitsstandards bezüglichder Gesundheitsdaten weitaus höher sein als heute. Siekönnen ja schlecht behaupten, dass beispielsweise einFax sicherer ist als das, was wir hier planen.
Erlauben Sie mir abschließend noch eine Anmerkung.Ihr Antrag ist für mich – ich verfolge das alles seit einemJahr etwas genauer – einmal mehr nur ein Symbol fürdie Tragik der Diskussionen rund um die eGK. DieSchwarzmaler und Verschwörungstheoretiker haben lei-der im Diskurs der letzten zehn Jahre die Oberhand ge-habt. Damit muss jetzt Schluss sein. Wir von der CDU/CSU-Fraktion freuen uns jedenfalls auf die Verbesserun-gen im Gesundheitswesen durch mehr Digitalisierungund bleiben am Ball.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Maria Klein-Schmeink, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Anders als die Rednerin von der CDU/CSUwürde ich nicht sagen, dass es sich nicht lohnt, den An-trag der Linken zu lesen. Es werden die richtigen Fragengestellt; es wird aber die falsche Antwort gegeben.
Es ist nämlich nicht die richtige Antwort, die elektroni-sche Gesundheitskarte zu stoppen. Wenn wir den Daten-schutz ernst nehmen und das Recht auf informationelleSelbstbestimmung sowie die Möglichkeiten IT-gestütz-ter Gesundheitsversorgung miteinander in Verbindungbringen und zu einem guten Ausgleich führen wollen,dann müssen wir den Fragen nachhaltbar nachgehen undgleichzeitig nach adäquaten Lösungen suchen.
Das ist Ihnen, meine lieben Freundinnen und Freundevon der Linken, mit Ihrem Antrag nicht gut gelungen.Es geht hier um folgende Fragen: Erstens. Wie kön-nen wir elektronisch gestützte Patienteninformationenfür eine Verbesserung der Patientenversorgung einset-zen? Wir wissen, dass es schon heute sehr viele IT-ge-stützte Verfahren gibt. Es gibt viele Informationen – daswurde schon gesagt – in allen Versorgungssystemen, diewir sinnvollerweise miteinander verknüpfen müssen, umeine gute Versorgung zu erreichen.Zweitens. Wie können wir einen an die neuen Erfor-dernisse angepassten Datenschutz gewährleisten? Wirmüssen dafür sorgen, dass die Standards, die wir einzu-halten haben, wirklich die höchstmöglichen Standardssind; denn die Gesundheitsdaten sind äußerst sensibel.Diese Daten haben einen staatlichen Schutz verdient.Wir müssen sicherstellen, dass jeder Patient und jederVersicherte darauf vertrauen kann, dass diese Daten tat-sächlich sicher sind.
Drittens. Es geht nicht nur um den Datenschutz, son-dern auch darum, wie das Recht auf informationelleSelbstbestimmung gewahrt werden kann. Es muss ge-währleistet sein, dass jeder Patient und jeder Versicherteselber entscheiden kann, welche Daten zugänglich ge-macht werden und welche nicht.
Viertens. Wir müssen überlegen, ob wir nach den Ent-hüllungen von Snowden nicht noch einmal auf das Si-cherheitskonzept schauen müssen, das zehn Jahre alt ist.Die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte isteben ein sehr langwieriges Verfahren.
Wir müssen uns fragen, ob alle Komponenten und Ver-fahren datenschutzrechtlich auf dem richtigen Standsind. Auch diese Frage ist zu stellen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Ko-alition, es stellt sich natürlich die Frage, ob Sie diesenDingen auch wirklich nachgehen. Wir als Grüne haben
Metadaten/Kopzeile:
7600 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Maria Klein-Schmeink
(C)
(B)
eine Kleine Anfrage gestellt; ich habe auch schriftlicheFragen eingereicht. Ich muss sagen: Das Ministerium istgerade auf den Teil, in dem es um Datenschutzstandardsund die Selbstbestimmung der Patienten und der Versi-cherten geht, nicht adäquat eingegangen. Das werden wirim weiteren Verfahren, auch beim geplanten E-Health-Gesetz, noch einmal deutlich anmahnen.
Kommen wir zu der Frage: Was ist überhaupt mit demgeplanten E-Health-Gesetz? Wie müssen wir das bewer-ten? Zunächst einmal müssen wir feststellen – FrauLeikert, Sie wollten mit dem Auto ganz schneidig los-fahren –, dass nach Ausgaben von 1 Milliarde Euro in-nerhalb von zehn Jahren das Ergebnis einer Gesund-heitskarte mit einem nichtvaliden Lichtbild, die nichtmehr kann als die Versichertenkarte, eine erbärmlicheAusbeute ist. Da müssen wir in der Tat besser werden.
Wir werden aber nicht dadurch besser, dass Sie jetzt sa-gen: Wir müssen Gas geben. – Wir müssen etwas ande-res machen: Wir müssen die Verfahren beschleunigenund klare Zeitpläne einfordern. Wir müssen die Selbst-verwaltung ermahnen und dürfen nicht zulassen, dass siedie Verfahren ausbremst. Das aber ist zehn Jahre lang er-folgreich geschehen. Deshalb stehen wir heute mit ei-nem so erbärmlichen Ergebnis da.
Bitte denken Sie an die Redezeit. Sie ist abgelaufen.
Eine Frage, die im weiteren Gesetzgebungsverfahren
um das E-Health-Gesetz eine große Rolle spielen wird,
will ich noch kurz ansprechen: Erlauben wir bezogen auf
die Telematikinfrastruktur und die eGK sogenannte
Mehrwertdienste? Das wird eine große Frage sein. Sie
können sicher sein: Wir werden dieses Thema kritisch
begleiten. Ich bin sehr gespannt, was ich dann von Ihnen
höre.
Danke schön.
Nächster Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist
Dirk Heidenblut, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ja, die Einführung der elektronischen Gesundheitskarteund der Aufbau der Telematikinfrastruktur sind ein Pro-zess, mit dem wir uns viele Jahre lang beschäftigt habenund der uns über viele Jahre begleitet. Vor diesem Hin-tergrund ist bei uns allen eine gewisse Unruhe zu spüren– die Kollegin Leikert hat das angesprochen –; denn wirwollen endlich dafür sorgen, dass das Ganze jetzt lang-sam, aber sicher in die Pötte kommt und nicht weiterverzögert wird.
Wir von der Großen Koalition wollen endlich Schubin die Sache bringen. Wir wollen dafür sorgen, dass dienötige Konsequenz an den Tag gelegt wird und wir zügigvorankommen. Wir müssen Fahrt aufnehmen, damit wirmit der nötigen Geschwindigkeit vorankommen. Die Pa-tientinnen und Patienten – das will ich zum Thema Pa-tientenfreundlichkeit deutlich sagen – sollen endlich dieVorteile genießen können, die in der elektronischen Ge-sundheitskarte und in der Telematikinfrastruktur ste-cken.
Ich muss deutlich sagen: Ihr Antrag ist an dieser Stellevöllig kontraproduktiv. Mit dem von Ihnen gefordertenStopp ist, anders als es in der Überschrift steht, nicht nurder Stopp der elektronischen Gesundheitskarte gemeint.Sie wollen auch die Telematikinfrastruktur, also all das,was für die anderen Dinge erforderlich ist – die eGK istja nur ein kleiner Teil des Ganzen – in den Stopp einbe-ziehen. Das ist der absolut falsche und für die Versicher-ten auch nicht tragbare Weg, im Übrigen auch der Weg,der am Ende die größten Kosten verursachen wird.
Sie hätten Ihren Antrag anders überschreiben müssen;die Kollegin Leikert hat das schon gesagt. Sie verlangenja keinen Stopp. Sie hätten schreiben müssen: Einsam-meln und Einstampfen der elektronischen Gesundheits-karte und vertragswidriges Brechen der Verträge, die wirhaben, um die Testphase durchzuführen. Außerdem hät-ten Sie noch eine finanzielle Bewertung vornehmenmüssen. – Das kann nun wirklich nicht der richtige Wegsein. Diesen Weg werden wir sicherlich nicht mitgehen.Die Koalition hat sich den Ausbau der Telemedizinzum Ziel gesetzt. Es bedarf aller Anstrengungen – ichbin dem Ministerium sehr dankbar, dass es mit dem an-gekündigten, zielgerichteten E-Health-Gesetz den nöti-gen Weg beschreiten wird –, damit wir dieses für die Pa-tientinnen und Patienten gut nutzbare und vernünftigeSystem endlich auf die Spur setzen. Eine gut nutzbareelektronische Gesundheitskarte gibt dem Patienten undder Patientin die Hoheit über ihre Daten, eine Hoheit, dieim Moment übrigens gar nicht besteht. Ich weiß nicht,wer von Ihnen schon einmal versucht hat, an seine Datenzu kommen. Erstens rennen Sie von Pontius zu Pilatus.Zweitens wird Ihnen von dem einen oder anderen immernoch gesagt: Ich muss noch einmal gucken, ob ich IhnenIhre Röntgenaufnahmen geben kann.Wir wollen den Patientinnen und Patienten die Hoheitüber ihre Daten geben; das ist unser Ziel. Wir wollenauch – das war aus meiner Sicht nicht strittig, insofernweiß ich nicht, was bei der Selbstverwaltung strittig sein
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7601
Dirk Heidenblut
(B)
soll –, dass sie die Hoheit über ihre Daten selbstbe-stimmt wahrnehmen können. Gerade dafür sollen sie dieelektronische Gesundheitskarte nutzen können, damit sie– im Zweifel gemeinsam mit dem Arzt – entscheiden,welche Daten von wem genutzt werden können.
Das, liebe Antragsteller, ist doch Patientenorientie-rung in Reinform. Insofern können Sie nicht einfach sa-gen: Wir brauchen eine patientenorientierte Alternative,die Sie im Übrigen gar nicht benennen. Das ist ja schön;dann forschen wir erst einmal wieder zehn Jahre.Wir brauchen die Gesundheitskarte. Wir brauchen sienatürlich in vernünftiger Form, und wir brauchen aucheinen vernünftigen Mehrwert, einen vernünftigen Nut-zen der Gesundheitskarte. Damit meine ich keinenMehrwert bei den Dienstleistungen, sondern nutzbareLeistungen auf der Gesundheitskarte, um das kurz klar-zustellen, damit wir nicht schon an dieser Stelle in dieDiskussion einsteigen.Wir müssen mehr Schwung beim Aufbau hinlegen.Ich bin dankbar für das Autobeispiel. Ich habe nämlichauch eines. Wir müssen einen Gang zulegen und dürfenkeinesfalls bei voller Fahrt den Rückwärtsgang einlegen.Das wäre nicht zielführend; das bringt nicht das, was wirwollen.
Eines muss man kritisch in Richtung Selbstverwal-tung sagen, die schon mehrfach angesprochen wordenist. In erster Linie ist dabei die Selbstverwaltung gefragt;denn sie hat seit Jahren den Auftrag, als Gesellschafterder Gematik das Ganze auf die Spur zu setzen und ver-nünftig voranzubringen. Sie ist auch dafür verantwort-lich, das Ganze zu lösen. Allerdings scheint das nichtrichtig zu funktionieren.Wenn die Kassenärztliche Vereinigung jetzt schonwieder den Stopp der Gesundheitskarte fordert – siewürde deshalb Ihren Antrag höchstwahrscheinlich sehrwohlwollend betrachten –, dann macht sie dies als einTeil der Selbstverwaltung, die die gesetzliche Aufgabehat, die elektronische Gesundheitskarte und die Telema-tikinfrastruktur voranzubringen. Das verstehe ich nichtunter einem patientenfreundlichen Umgang mit dem,was wir erwarten.
Vor all dem gibt es ein gewisses Verständnis für denÄrger der Kassen und dafür, dass sie die Versicherten-gelder nicht mehr gerne herausrücken. Aber, liebe Kas-sen, das kann nicht Sinn und Ziel sein. Mit einemschlichten Mittelstopp erreichen wir nicht das, was wirwollen. Das erreichen wir vielmehr mit dem E-Health-Gesetz. Wir erreichen das damit, dass wir klare Vorga-ben machen, klare Werte aufsetzen, klar regeln, wann eswie weitergeht, und das Ganze entsprechend mit Sank-tionen begleiten. Damit erreichen wir, dass wir an dieserStelle weiterkommen.Wir wollen und wir brauchen für die Patientinnen undPatienten eine Versorgungsstruktur, eine gute und si-chere Telematikinfrastruktur, und wir brauchen auch dieSicherheit für Wirtschaft und Industrie, damit sie für denPatienten nützliche Leistungen aufsetzen kann, damitauf dieser Datenautobahn etwas „fahren“ kann.Vor all dem müssen wir endlich die Tests beginnen.Vor all dem muss die Telematikinfrastruktur endlich ver-nünftig ans Laufen kommen. Das wollen wir als GroßeKoalition. Wir wollen, dass die Patienten über die elek-tronische Gesundheitskarte als Schlüssel die Hoheit überihre Daten haben. Ich denke, das System ist durchaus alssicher zu bezeichnen. Viele Datenschützer teilen dieseAnsicht durchaus.Eine funktionierende Telematikinfrastruktur ist in Zu-kunft der Schlüssel für die Kommunikation im Gesund-heitswesen. Sie wird unsere Versorgung stärken – auchdas ist schon angesprochen worden – und damit von gro-ßem Nutzen sein.Wenn auch Sie, liebe Antragsteller, all dies für die Pa-tienten wollen, dann ist es das Einfachste, Sie ziehen Ih-ren Antrag zurück und unterstützen uns und vor allenDingen das Ministerium dabei, das E-Health-Gesetz ver-nünftig und schnell auf den Weg zu bringen. Wir möch-ten ernsthaft eine vernünftige, gute IT-Struktur im Ge-sundheitswesen. Machen Sie mit! Das wird uns freuen.Ihrem Antrag zustimmen werden wir nicht.
Vielen Dank, Herr Kollege Heidenblut. – Einen schö-nen guten Abend von mir. Jetzt kommen wir langsamauf die Zielgerade.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/3574 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Änderung des Bundesbeamtengesetzesund weiterer dienstrechtlicher VorschriftenDrucksache 18/3248Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
Drucksache 18/3748Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) –Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.Dann kommen wir jetzt zur Abstimmung. Der Innen-ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 18/3748, den Gesetzentwurf der Bundesre-gierung auf Drucksache 18/3248 in der Ausschussfas-1) Anlage 2
Metadaten/Kopzeile:
7602 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Vizepräsidentin Claudia Roth
(C)
(B)
sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, umdas Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratungangenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD.Enthalten hat sich Bündnis 90/Die Grünen. Dagegen ge-stimmt hat die Linke.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist angenommen bei Zustimmung von CDU/CSUund SPD, Ablehnung durch Die Linke und Enthaltungvon Bündnis 90/Die Grünen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. GerhardSchick, Kerstin Andreae, Dr. Thomas Gambke,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN sowie der AbgeordnetenRichard Pitterle, Susanna Karawanskij, Dr. AxelTroost, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKESonderermittler zur Aufarbeitung der Cum-Ex-Geschäfte einsetzenDrucksache 18/3735Überweisungsvorschlag:FinanzausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich sehe kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abge-ordnete Dr. Gerhard Schick für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der Sachverhalt klingt technisch kompliziert, ist aber ei-gentlich ganz einfach. Das Finanzamt ist zehn Jahre langumfunktioniert worden. Anstatt Gelder dafür zu sam-meln, dass wir alle öffentliche Leistungen bekommen,ist das Finanzamt zu einer Geldsammelmaschine fürMultimillionäre und Banken geworden, und zwar da-durch, dass die Betreffenden Steuererstattungen bekom-men haben, die sie nicht verdient haben. Damit verhältes sich in etwa so, als ob man für ein Kind zweimal Kin-dergeld bekäme.
Da sich deutlich nachweisen lässt, dass die Fonds, dieeingerichtet wurden, nur an Multimillionäre vertriebenwurden, handelt es sich in der Wirkung um eine Umver-teilung von unten nach oben in einem eklatanten Aus-maß. Dieser Fehler hätte nie passieren dürfen. Er ist aberleider zehn Jahre lang vorgekommen. Wir wissen nichtgenau, wie groß das Volumen des Schadens ist. Laut un-serem Antrag gehen Schätzungen aus Branchenkreisenvon 12 Milliarden Euro aus. Da sich nach unseremKenntnisstand das Volumen bestimmter Teilgeschäfteeinzelner Banken im dreistelligen Millionenbereich be-wegt, halten wir diese Schätzung für durchaus realis-tisch.Nun stellt sich die Frage: Wie konnte das passieren?Diese Frage geht uns alle an; denn das hat in der Zeit be-gonnen, als das Finanzministerium von Minister Eichelgeleitet wurde, hat sich in der Regierungszeit der GroßenKoalition fortgesetzt – damals wurde ein falscher, fastschädlicher Korrekturversuch unternommen – und wurdeerst unter Finanzminister Schäuble beendet, allerdingsrelativ spät. Zudem haben wir das damals im Finanzaus-schuss nicht wirklich erfasst. Daher tragen alle Verant-wortung. Dieser müssen wir gerecht werden.
Es stellen sich viele Fragen: Warum hat die Finanz-aufsicht nicht mitbekommen, was die Banken dort ma-chen? Warum hat der Fiskus nicht früher etwas unternom-men, obwohl es bereits 2002 entsprechende Hinweisevom Bankenverband gab? Warum wurde nicht rechtzei-tig gegengesteuert? Ist der Staat dazu nicht in der Lagegewesen, weil er es nicht verstanden hat, und müssen wirdeswegen seine Kompetenzen stärken, oder ist hier be-wusst falsch gehandelt worden? Dann ist die Verantwor-tung zu klären. Wir meinen, dass man hier nicht zur Ta-gesordnung übergehen kann, wenn der Staat in solcheklatantem Maße das Gegenteil von dem tut, was dieBürger von ihm erwarten, nämlich das Steuergeld für dieBefriedigung ihrer Interessen einzusetzen und nicht fürdie Erreichung der Renditeziele weniger Investoren.
Nun machen wir einen Vorschlag, wie man darange-hen könnte. Mit diesem Vorschlag spielen wir als Op-position Ihnen den Ball zu. Wir schlagen vor, einen Son-derermittler einzusetzen, der dieser Sache auf den Grundgeht, sodass wir im Parlament die notwendigen Konse-quenzen ziehen können. Er oder sie soll die Frage beant-worten, wie es dazu kommen konnte, wo die Verantwort-lichkeiten sind, ob die jetzt getroffenen Maßnahmen, umden Schaden zu reduzieren – es laufen jetzt Gerichtsver-fahren, der Fiskus versucht, das zu korrigieren; inwieweitdas erfolgreich sein wird, wird man sehen –, adäquat sindund ob für die Zukunft Vorkehrungen getroffen sind,dass sich so ein Skandal, wahrscheinlich der größteSteuerskandal unseres Landes, nicht noch einmal wie-derholen kann.
Jetzt gibt es Argumente, die ich gehört habe, warumdieser Vorschlag vonseiten der Koalition nicht mitgetra-gen werden könne. Ich höre, ein Sonderermittler seinicht vorgesehen. Es gibt aber viele Beispiele von Fäl-len, in denen Sonderermittler eingesetzt worden sind.Das kann ein Untersuchungsausschuss machen, das Par-lamentarische Kontrollgremium hat es gemacht, JoschkaFischer hat eine Historikerkommission eingesetzt, derInnenminister Friedrich hat damals einen Sonderermitt-ler im Zusammenhang mit den NSU-Akten eingesetzt.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7603
Dr. Gerhard Schick
(C)
(B)
Es gibt also eine Reihe von Vorbildern, wo das gemachtworden ist. In diesem Fall würde es sich auf jeden Falllohnen.
Deswegen fordere ich Sie auf: Lassen Sie uns unserergemeinsamen Verantwortung hier gerecht werden! Wennich Bürgerinnen und Bürgern erzähle, was hier passiertist, ist das Entsetzen sehr groß. Ich glaube, die einzigeAntwort, die man auf Fehler in dieser Größenordnung ineiner Demokratie geben kann, ist, nun wirklich alles da-ranzusetzen, dass sich so etwas nicht noch einmal wie-derholt, es wirklich aufzuarbeiten und nicht parteipoliti-sche Interessen an einer Vertuschung in den Vordergrundzu stellen. Es geht vielmehr darum, unsere Verantwor-tung gegenüber Bürgerinnen und Bürgern wahrzuneh-men, die erwarten, dass der Staat mit ihrem Geld das tut,was wir ihnen sagen, nämlich Leistungen für Bürgerin-nen und Bürger in diesem Land zur Verfügung zu stel-len.Danke schön.
Vielen Dank, Gerhard Schick. – Nächster Redner in
der Debatte ist Olav Gutting für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lassen Sie mich eines vorwegschicken: Es geht beiCum-Ex-Geschäften nicht um ein Steuergestaltungsmo-dell, sondern es geht dabei aus meiner Sicht schlicht umBetrug. Das hat nichts mehr mit einem Wettlauf zwi-schen Fiskus und findigen Beratern zu tun, um einenWettstreit darum, wer vielleicht besser die Feinheitendes Steuerrechts ausnutzen kann. Das könnte man viel-leicht noch sportlich sehen. Bei den Cum-Ex-Geschäftengeht es vielmehr letztendlich um eines: Das ist eineSchweinerei.
Eine einmal abgeführte Kapitalertragsteuer kann nureinmal bescheinigt werden. Das war auch schon immerdie Meinung des Bundesfinanzministeriums. Das istauch logisch, und diese Logik, dass man eine einmal ab-geführte Kapitalertragsteuer nur einmal bescheinigenkann, müsste auch denjenigen eingeleuchtet haben, diehier doppelt kassiert haben. Ich halte dieses Vorgehenwie gesagt für betrügerisch. Die rechtliche Einordnungsollten wir aber den zuständigen staatlichen Strafverfol-gungsbehörden überlassen, den Gerichten und denStaatsanwaltschaften. Es ist nicht die Aufgabe des Bun-destages und nicht Aufgabe der Bundesregierung, hierdie Strafbarkeit festzustellen. Dafür gibt es gesonderteInstitutionen.
Deshalb halte ich auch den Antrag, einen Sonderer-mittler einzusetzen, lieber Kollege Schick, mit Verlaubfür Unfug. Was soll das für ein Sonderermittler sein?008? Mit welcher Lizenz? Was soll das?Wir haben nach der Strafprozessordnung die Staatsan-waltschaften. Die ermitteln in eigener Zuständigkeit alszur Objektivität verpflichtetes Organ der Rechtspflege.Sie können auf die Polizei zurückgreifen, und sie könnenauf die Beamten der Steuerfahndung zurückgreifen. Alldas ist möglich, das ist Sache der Staatsanwaltschaft.Deswegen geht es hier nicht um die Einsetzung einesSonderermittlers.Wenn Sie von der Linken das wollen, dann könnenSie dieses Instrument vielleicht nutzen, um den Verbleibder SED-Millionen oder -Milliarden zu untersuchen.Das wäre etwas für einen Sonderermittler. Aber lassenwir das.
Wenn Sie, Herr Kollege, wirklich eine Aufklärungwollen – das wollen auch wir –, wenn Sie die politischVerantwortlichen für dieses mögliche Versagen feststel-len wollen, dann beantragen Sie einen Untersuchungs-ausschuss. Das steht Ihnen frei, und das steht Ihnen alsOpposition zu. Das ist auch Ihre Aufgabe, und das istvöllig in Ordnung. Deswegen brauchen wir keinen Son-derermittler, für den es letztendlich keine verfassungs-rechtliche Grundlage gibt. Soweit es darum geht, diestrafrechtliche Verantwortung zu klären, ist dies Auf-gabe der Gerichte und der Staatsanwaltschaft. Daranführt kein Weg vorbei.Es ist auch nicht so, wie es hier gerade dargestelltwurde: dass der Gesetzgeber nicht reagiert hätte. Es gabErlasse, und es gab Versuche, diese unsäglichen Modellezu stoppen. Was man aber auch sagen muss, ist, dassdiese Modelle immer wieder variiert wurden. FindigeMenschen – Berater, Fondsverkäufer, Banker – habenGestaltungsräume genutzt und diese Modelle immerwieder geändert.Wir haben 2007 eine Regelung eingeführt, dass dieNutzung bei inländischen Abwicklungsbanken keine un-berechtigten Steuerbescheinigungen mit sich bringt. Waswar die Folge? Man ist auf ausländische Banken ausge-wichen. Das BMF hat darauf im Jahr 2009 mit einemBMF-Schreiben reagiert, und man hat die Erfordernissean Steuerbescheinigungen im Zusammenhang mit Leer-verkäufen über ausländische Kreditinstitute geändert.Der Missbrauch, der daraufhin wieder erfolgte, wurde– Sie haben es richtig gesagt – unter Wolfgang Schäuble2011 mit dem OGAW-IV-Umsetzungsgesetz durch einegrundsätzliche Umstellung der Systematik zur Erhebungvon Kapitalertragsteuern tatsächlich beendet. Damitwurde diesen Modellen endgültig die Grundlage entzo-gen.
Metadaten/Kopzeile:
7604 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Olav Gutting
(C)
(B)
Ich jedenfalls hoffe inständig und ich bin auch zuver-sichtlich, dass unsere Ermittlungsbehörden, dass unsereGerichte hier mit aller notwendigen Härte gegen diese– ich muss es noch einmal sagen – Schweinerei vorge-hen, dass klar festgestellt wird, dass die Cum-Ex-Ge-schäfte unzulässig waren, dass sie rechtswidrig waren,dass diese Praxis endlich entlarvt wird. Ich glaube aber,einen Sonderermittler, dessen Einsetzung Sie hier vor-schlagen, brauchen wir dazu nicht. Deswegen werdenwir diesen Antrag ablehnen.Vielen Dank.
Vielen Dank, lieber Kollege Gutting. – Nächster Red-
ner in der Debatte ist Richard Pitterle für die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-
ginnen und Kollegen! Für die, die noch nie von Cum-
Ex-Geschäften gehört haben: Das war ein wahrer Gold-
esel für Banken und Superreiche. Zwischen 2002 und
2012 wurde der Staat damit um schätzungsweise 12 Mil-
liarden Euro gebracht. 12 Milliarden Euro, das ist fast
das Doppelte des Entwicklungshilfeetats für dieses Jahr.
Und wer durfte letzten Endes die Zeche zahlen? Richtig,
wieder die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.
Folgendes ist passiert: Durch komplizierte Konstruk-
tionen bei Aktienverkäufen konnten sich Banken und
Großinvestoren zweimal vom Staat Steuern erstatten las-
sen, obwohl diese Steuer nur einmal gezahlt worden ist.
Erst 2012 wurde dieser Praxis per Gesetz ein Riegel vor-
geschoben. Waren diese Geschäfte illegal? Oder wurde
nur eine Regelungslücke ausgenutzt? Das zu klären, ist
tatsächlich Sache der Gerichte.
Womit wir uns jedoch endlich intensiv beschäftigen
müssen, ist die Rolle, die das zu jener Zeit von SPD und
Union geführte Bundesfinanzministerium in dieser Sa-
che gespielt hat. Offensichtlich hatte die politische Lei-
tung des Ministeriums die Kontrolle über die Gescheh-
nisse verloren. Viel schlimmer noch: Sie ist trotz
Hinweisen, wie zum Beispiel durch den Bundesverband
deutscher Banken im Jahr 2002, untätig geblieben. Fünf
Jahre später wurde zwar der Versuch unternommen, den
Raubzug der Vermögenden zu stoppen, über ausländi-
sche Banken konnte er jedoch noch bis zur Gesetzesän-
derung 2012 fortgesetzt werden.
Meine Damen und Herren, zehn Jahre lang wurde die-
ser Umverteilung von unten nach oben zugesehen. Das
ist schlichtweg ein Skandal!
Deswegen fordern wir, Bündnis 90/Die Grünen und die
Linke, die Einsetzung eines Sonderermittlers, damit end-
lich lückenlos aufgeklärt wird, warum so lange nichts
unternommen wurde. „Im Dunkeln ist gut munkeln“,
sagt ein Sprichwort. Von diesem scheint sich die Bun-
desregierung leiten zu lassen, weil sie nämlich offen-
sichtlich kein Interesse an der Aufklärung hat. Das las-
sen wir Ihnen so nicht weiter durchgehen.
Bereits vor zwei Jahren hatte die Linke eine klitze-
kleine Anfrage zu diesem Thema gestellt. In seiner Ant-
wort behauptete Schäubles Ministerium, erst seit 2009
von Cum-Ex-Geschäften über ausländische Banken ge-
wusst zu haben. Ich frage Sie: Wer hat dem Minister den
Hinweis des Bankenverbands von 2002 vorenthalten?
Das ist doch nicht mehr zu fassen!
Aber es kommt noch schlimmer: In der Antwort auf
eine Anfrage der Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen
behauptet die Bundesregierung, in dem Schreiben des
Bundesverbands von 2002 sei ja nur auf die abstrakte
Möglichkeit dieser Geschäfte hingewiesen worden, nicht
aber darauf, dass auch die Gefahr bestehen könnte, dass
jemand diese Möglichkeit nutzt.
Meine Damen und Herren, bei allem Respekt, das ist
doch lächerlich und an Naivität nicht zu überbieten.
Es ist allseits bekannt, dass auf den Finanzmärkten
selbstverständlich jede Möglichkeit ausgelotet wird, um
Profite zu machen. Das sollte sich auch bis zum jeweili-
gen Finanzminister herumgesprochen haben.
Bei Menschen, die Hartz IV beziehen, wird streng
kontrolliert, ob ja kein Cent zu viel hinzuverdient wird.
Aber wenn bei den Cum-Ex-Geschäften der Superrei-
chen ein paar Milliarden Euro unter die Räder kommen,
lehnen Sie es ab, genau hinzuschauen.
Es besteht dringender Anlass, die Versäumnisse im
Finanzministerium hier endlich aufzuarbeiten.
Bündnis 90/Die Grünen und die Linke sind jedenfalls
gewillt, das zu tun. Die Steuerzahlerinnen und Steuer-
zahler haben ein Recht darauf, zu erfahren, wer zu ver-
antworten hat, dass Geld an Banken und Superreiche
verschenkt worden ist.
Danke für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Kollege Pitterle. – Nächster Red-ner in der Debatte: Lothar Binding für die SPD.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7605
(C)
(B)
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mich irritiert ein we-
nig die Aufregung über eine Regelungslücke, die man
schließen musste, im Verhältnis zu der Aufregung über
die Tatsache, dass es Steuerbetrug gibt. Ich meine, dass
der Steuerbetrug eine größere Aufregung verdient als
das Bestehen einer Regelungslücke.
Wenn ich mich richtig erinnere, wurde eben vorgetra-
gen, dass diese Cum-Ex-Geschäfte eigentlich schon weit
zurückreichen, möglicherweise – ich glaube, Gerhard
Schick hat es gesagt – bis ins Jahr 2002.
Denken wir einmal zurück: Damals war Christine Scheel
Vorsitzende des Finanzausschusses und verantwortlich.
Wenn ich mich richtig erinnere, hat damals auch die
Linke diese komplexen Gestaltungen entlang der Bör-
senstichtage bzw. Hauptversammlungen nicht so durch-
drungen, dass sie einen Antrag gestellt hätte, diese
Lücke zu schließen. Es gab mehrere Anläufe, das zu tun;
es war hochkomplex.
Ich rege mich über das auf, was da tatsächlich passiert
ist. Das war nur mit den Banken möglich. Da glaubte
man, es sei ein legales Geschäft, einmal eine Steuer zu
bezahlen und dann, weil wir eigentlich faire Regelungen
der Rückerstattung haben, eine Gestaltung zu wählen,
bei der man den Betrag zweimal zurückbekommt. Man
vergriff sich gewissermaßen am Staatsschatz, betrog die
Gemeinschaft. Das ist, finde ich, ein Verhalten, bei dem
sich von selbst verstehen muss, dass es nicht in Ordnung
ist. Dahin gehört die Aufregung eigentlich. Da müssen
wir sehr viel schärfer zugreifen. Ich würde sagen: Das ist
strafwürdiges Unrecht.
In Juristenkreisen wird das gelegentlich ein bisschen
bestritten. Man sagt: Das war ja rechtsförmlich zulässig.
– Ich muss sagen: Es gibt Dinge, die sich von selbst ver-
bieten. – Professor Seher hat den Begriff des Erfolgsun-
rechts benutzt. Das verstehe ich so: Wenn man im Un-
recht angekommen ist, hatte man Erfolg. – Das ist eine
wunderbare Definition dafür, wie man sich im Unrecht
bereichern kann und das dann rechtsförmlich rechtfer-
tigt. Da mache ich nicht mit. Das ist für mich nicht ein-
zusehen.
Selbst wenn der Gesetzgeber zu spät etwas verboten
hat – das stimmt –, was sich eigentlich von selbst verbie-
tet, selbst wenn die Finanzverwaltung zu spät erkannt
hat, wie diese komplexen Vorgänge funktionieren, selbst
wenn das alles wahr ist: Ein privater Investor muss sich
von einem leistungslosen Parasiten unterscheiden, und
das ist hier nicht mehr der Fall. Deshalb wollen wir da-
gegen vorgehen.
Ich bin Minister Schäuble dankbar, dass er es ge-
schafft hat, jetzt in einem dritten Schritt diese Lücke
wirklich zu schließen. Wie hat er das gemacht? Durch
ein vollständiges Umstellen des Erstattungssystems in
der Körperschaftsteuer! Das war ein sehr großes Rad.
Bisher war es so, dass die die Kapitalertragsteuer an den
Fiskus abführende Stelle eine andere war als die Stelle,
die die Kapitalertragsteuerzahlung bescheinigte. Wenn
zwei Funktionen so auseinanderfallen, kann es sein, dass
die Beteiligten nicht genug voneinander wissen und dass
Menschen das ausnutzen. Für mich ist die eigentliche
Kritik auf die zu richten, die es ausgenutzt haben in dem
Wissen, dass es rechtswidrig ist.
– Das brauchen wir nicht aufzuarbeiten, weil alles aufge-
arbeitet ist. Es gibt hinreichend Transparenz. Es gibt so-
gar eine Personalaufstockung beim Bundesamt für Steu-
ern. Es gibt hinsichtlich Cum-Ex-Geschäften eine
Unterstützung der Länder seitens des Bundes. Es ist ei-
gentlich alles transparent. Wir waren in den drei gesetz-
geberischen Verfahren hinreichend beteiligt wie auch bei
der Erarbeitung der jüngsten Lösungsvorschläge.
Der Blick zurück hilft hier überhaupt nicht weiter.
Lasst uns doch nach vorne schauen. Was passiert denn
gegenwärtig? Ich frage einmal die Grünen, insbesondere
Gerhard Schick: Passiert denn gegenwärtig in ähnlicher
Weise irgendetwas wie vor zwölf Jahren, das wir jetzt
nicht erkennen? Lasst uns doch danach suchen, was jetzt
passiert und was es an zukünftigen Aufgaben gibt.
Herr Kollege Binding, lassen Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Schick zu oder nicht?
Ich möchte keine Zwischenfrage zulassen,
weil ich denke, dass es schon sehr spät ist. Wir werdendas hier ja noch mehrfach behandeln, weil es ein sehrgroßes und wichtiges Thema ist.Ich glaube auch, dass es hilft, wenn wir schauen, wersich rechtfertigen müsste. Keiner kann sich davon frei-sprechen, es nicht rechtzeitig reguliert zu haben.
Weder ihr von den Linken noch wir noch ihr von denGrünen oder ihr von der CDU/CSU. Niemand. Insoferntragen wir alle die gleiche Verantwortung.Aufzuklären gibt es nichts. Was ist denn offen? Dietechnischen Fragen zu klären, ist eine relativ einfacheAngelegenheit. Wenn wir aber heute die technischenFragestellungen klären – manche Leute fragen sich ja,warum das Cum-Ex-Geschäfte heißt; das kann ich gernenoch erklären –, dann entdecken solch skrupelloseLeute, die es bisher schon ausgenutzt haben, morgeneine neue Technik, weil es uns in einer unmoralischenGesellschaft nie gelingen wird, alles so zu regulieren,
Metadaten/Kopzeile:
7606 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Lothar Binding
(C)
(B)
dass kein Gauner mehr eine Chance hat, das auszunut-zen.
Auch wenn es rechtsförmlich oder legal ist, ist das nichtin Ordnung.
Es heißt eben deshalb Cum-Ex-Trade bzw. Cum-Ex-Geschäft, weil es darum geht, dass Leute unmittelbar voreiner Hauptversammlung Aktien verkaufen, mitunterkombiniert mit Auslandsgeschäften und Leerverkäufen,und zwar mit Dividende, also cum Dividende, die danneinen Tag nach der Hauptversammlung – das ist der so-genannte Ex-Tag – beim Käufer Dividendenansprüchegenerieren, um auf diese Weise durch unterschiedlicheBesitzer der gleichen Aktie doppelte Ansprüche zu er-zeugen. Damit wird ein ungerechtfertigter Vorteil er-schlichen.Wenn wir die jetzt vorhandenen Instrumente und diejetzt gültige Regelung betrachten, dann stellen wir fest –ich bin mir gar nicht sicher, dass die Grünen dem nichtfolgen können –, dass es jetzt sehr gut geregelt ist. Es istja auch nicht so, dass im vorliegenden Antrag gesagtwürde, es sei jetzt nicht gut geregelt. Jetzt ist es sehr gutgeregelt, und ich glaube, dass wir damit sehr gut lebenkönnen.Die Frage ist nun: Was soll eigentlich so ein Sonder-ermittler machen? Er könnte uns erklären, was in derVergangenheit war. Er schreibt einen Aufsatz bzw. einGutachten über die Vergangenheit. Das hilft uns aber fürdie Zukunft gar nichts. Das kann uns für zukünftige Fra-gestellungen nicht helfen, weil das, was da untersuchtwürde, ja untersucht ist.
Ich habe mich nun gefragt, warum das Instrument desSonderermittlers beantragt wurde und nicht ein Untersu-chungsausschuss. Wir haben doch ein Instrument, dassehr scharf ist. Man könnte doch einen Untersuchungs-ausschuss beantragen. Wenn einem diese Sachverhalteso wichtig sind und so wesentlich erscheinen, könnteman doch einen Untersuchungsausschuss anstrengen.Ich fände es spannend, zu sehen, welche Aufgaben die-ser sich geben würde. Ich glaube aber, dass auch diesesInstrument nicht zielführend ist.Deshalb sollten wir jetzt keinen vordergründigenAktionismus an den Tag legen, sondern sensibelschauen, was gegenwärtig passiert. Wir haben ja den fes-ten Vorsatz, dass uns das nicht wieder passiert.Schönen Dank.
Danke, Herr Kollege Binding. – Das Wort zu einer
Kurzintervention hat der Kollege Dr. Schick.
Da ich persönlich angesprochen worden bin, möchte
ich es doch noch einmal kurz klarstellen. Ich teile völlig
die Empörung gegenüber den Investoren.
Diese Form, Geschäfte zu machen, bei denen die Ren-
dite ausschließlich darin besteht, die Öffentlichkeit zu
schädigen, darf nicht vorkommen. Genau deswegen be-
steht Aufklärungsbedarf; denn diese Geschäftsmodelle
sind auch von öffentlich-rechtlichen Landesbanken be-
trieben worden. Genau deswegen müssen wir auch auf
der staatlichen Seite dringend schauen, wie so etwas pas-
sieren konnte.
Der zweite Punkt. Es ist argumentiert worden, dass
doch jetzt alles gut sei und wir uns den künftigen Sachen
widmen können. Wenn wir aber nicht wissen, warum es
sein konnte, dass der Finanzaufsicht, dem Fiskus, dem
Finanzministerium und allen Fraktionen so lange Zeit
das Problem, das so große Ausmaße hat, nicht bekannt
geworden ist, dann müssen wir davon ausgehen, dass die
Schweinereien, die heute passieren, auch unter unserem
Radar bleiben.
Deswegen ist es unsere Verantwortung, die Defizite auf-
zuarbeiten, um dies künftig zu verhindern; denn die Res-
sourcen dazu brauchen wir.
Ein kurzer letzter Punkt. Der Hinweis, dass alle Par-
teien dies nicht verhindern konnten, zwingt uns, gemein-
sam aufzuarbeiten. Und da sollte der Fingerzeig gegen
die anderen unterbleiben. Die Bürger erwarten anderes
von uns.
Herr Binding, Sie haben die Möglichkeit, zu antwor-
ten. Wenn Sie nicht wollen, dann brauchen Sie auch
nicht.
Doch, ganz kurz. – Ich will nur ganz kurz erwidern,weil ich in keinem einzigen Punkt mit Ausnahme desVerfahrens widerspreche. Lassen Sie uns die Gegenwartuntersuchen und nicht mit Blick auf eine aufgeklärteVergangenheit Bekanntes reflektieren.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7607
(C)
(B)
Vielen Dank, Herr Binding. – Der letzte Redner in
dieser Debatte ist Philipp Graf Lerchenfeld für die CDU/
CSU-Fraktion.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Präsidentin!
Hohes Haus! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!
Gäste sind nicht mehr zu begrüßen, verständlicherweise.
Ich denke, heute haben wir eine hohe moralische Ent-
rüstung gesehen. Ich verstehe das, lieber Kollege Schick,
was Sie hier gesagt haben. Ich glaube, wir müssen uns
ganz klar darüber sein, dass Betrug immer möglich ist,
dass kriminelle Handlungen natürlich auch möglich sind
und dass solche Dinge erst nach einem gewissen Zeitab-
lauf entdeckt werden. Wir sind uns vollkommen klar da-
rüber. Nehmen wir zum Beispiel eine Betriebsprüfung.
Hier haben wir meistens Betriebsprüfungszeiträume von
fünf Jahren. Wir haben darüber hinaus noch entspre-
chende Finanzklagen. Wir haben entsprechende Dinge,
die das Ganze zeitlich verzögern. Deswegen sind durch-
aus Reaktionen auf entsprechende betrügerische Fälle
erst mit Verzögerung zu erwarten.
Ich glaube, es sind mittlerweile sämtliche Maßnah-
men ergriffen worden, um diese Probleme zu erhellen,
um diese Probleme tatsächlich auszugrenzen. Im Jahr
2007 ist im Jahressteuergesetz der erste Bruch gemacht
worden, indem man gesagt hat, dass inländische Ge-
schäfte so nicht mehr abgewickelt werden können. Im
Jahr 2012 hat man durch ein weiteres Gesetz verhindert,
dass solche Geschäfte mit ausländischen Banken und
Geschäfte, die ohne Intermediär stattfinden, unterbunden
wurden. Somit ist die Frage, die Sie in Ihrem Antrag ge-
stellt haben, ob die getroffenen Maßnahmen zur Scha-
densbegrenzung adäquat sind, eigentlich gelöst.
Die zweite Frage, die sich stellt, ist: Sie wollen einen
Sonderermittler einführen. Unsere Verfassung kennt das
Instrument des Sonderermittlers eigentlich nicht. Wir ha-
ben, wie der Kollege vorhin richtig ausgeführt hat, das
Instrument des Untersuchungsausschusses. Hier können
wir als Parlament entsprechende Maßnahmen ergreifen.
Das wäre durchaus überlegenswert.
Nur glaube ich, dass mittlerweile mit großer Sorgsam-
keit vonseiten des Finanzministeriums reagiert wurde.
Man muss sich auch darüber klar sein, dass Cum-Ex-
Transaktionen hochgradig komplizierte Dinge sind, die
nur mit hohem Sachverstand und mit exzellentem Wis-
sen tatsächlich geprüft werden können. Das geht nicht
einfach so durch – ich sage einmal – irgendeinen Finanz-
beamten. Das Bundeszentralamt für Steuern hat zusätz-
lich personelle Ressourcen bereitgestellt, damit zum
Beispiel auffällige Erstattungserträge auch aus der Ver-
gangenheit geprüft werden können. Den Bundesländern
wurde in diesem Zusammenhang vom Bundeszentralamt
noch eine Unterstützung bei Außenprüfungen angebo-
ten. Letztlich findet jetzt ein vernünftiger Wissenstrans-
fer zwischen Bund und Ländern statt, der genau diesen
Sachverhalten entsprechend Rechnung trägt.
Ich denke, man sieht aber auch, dass immer wieder
Vergangenheitsfälle neu aufgedeckt werden, weil sie zu
den vorherigen Fällen unterschiedlich waren. Das führt
zu entsprechenden Strafmaßnahmen und Steuerzahlun-
gen. Der deutsche Fiskus wird sich hier sicherlich schad-
los halten.
Ein besonders augenfälliger Streitfall in diesem Zu-
sammenhang ist im Moment die Klage von verschiede-
nen Steuerpflichtigen gegen die Bank Sarasin in der
Schweiz: Mehrere Kläger verlangen von der Bank Scha-
densersatz in Millionenhöhe, weil sie bei diesen Ge-
schäften angeblich falsch beraten worden sind. Die Bank
Sarasin in Basel hatte das Cum-Ex-Vehikel im Frühling
2010 aufgebaut, genau mit dem Ziel, dafür in Deutsch-
land groß zu werben und es hier zu vermarkten. Jetzt se-
hen sich die Bank und ihr privater Eigentümer entspre-
chend umfänglichen Ermittlungen schweizerischer und
deutscher Strafverfolgungsbehörden ausgesetzt.
Liebe Kollegen, die Finanzverwaltung war grundsätz-
lich immer der Auffassung, dass es sich bei diesen Ge-
schäften nicht um ein Modell zur steuerlichen Gestal-
tung, sondern um unzulässige Gestaltungen oder – wie
der Kollege Gutting vorhin ganz richtig gesagt hat – um
Betrug handelt. Diese Haltung ist Gott sei Dank mittler-
weile vom BFH bestätigt worden.
Die frühen Hinweise, die ursprünglich gegeben wor-
den sind, waren so unkonkret, dass man wirklich nicht
erkennen konnte, was da tatsächlich vorgegangen ist.
Die Ausgestaltung der Modelle wurde insgesamt mög-
lichst groß verschleiert, damit eine Aufdeckung schwie-
rig wurde.
Es ist meiner Ansicht nach nicht notwendig, die ver-
gangenen Sachverhalte zu prüfen. Vielmehr müssen wir
uns im Klaren darüber sein, dass hier alle Maßnahmen
richtig ergriffen worden sind. Ihr Antrag ist deswegen
nicht notwendig und damit abzulehnen.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Graf Lerchenfeld.Damit schließe ich die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/3735 an den Finanzausschuss vorge-schlagen. – Sie sind damit einverstanden. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b auf:a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Metadaten/Kopzeile:
7608 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015
Vizepräsidentin Claudia Roth
(C)
Dr. Alexander S. Neu, Wolfgang Gehrcke, Janvan Aken, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion DIE LINKEEinrichtung einer Nelson-Mandela-Stiftungs-professur für Friedenspolitik und Völker-rechtDrucksachen 18/1329, 18/1643b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Dr. Alexander S. Neu, Wolfgang Gehrcke, Janvan Aken, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion DIE LINKEHenry-Kissinger-Stiftungsprofessur an derUniversität Bonn verhindernDrucksachen 18/1330, 18/1642Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) –Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.Tagesordnungspunkt 17 a. Wir kommen zur Be-schlussempfehlung des Verteidigungsausschusses zumAntrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Einrich-tung einer Nelson-Mandela-Stiftungsprofessur für Frie-denspolitik und Völkerrecht“. Der Ausschuss empfiehltin seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1643,1) Anlage 3den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/1329 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustim-mung von CDU/CSU und SPD und Ablehnung von derLinken und Bündnis 90/Die Grünen.Tagesordnungspunkt 17 b. Beschlussempfehlung desVerteidigungsausschusses zum Antrag der Fraktion DieLinke mit dem Titel „Henry-Kissinger-Stiftungsprofes-sur an der Universität Bonn verhindern“. Der Ausschussempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 18/1642, den Antrag der Fraktion Die Linke aufDrucksache 18/1330 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Damit ist die Beschlussempfehlung ange-nommen bei Zustimmung von CDU/CSU und SPD, Ge-genstimmen von den Linken und Enthaltung von Bünd-nis 90/Die Grünen.Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-ordnung.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-destages auf morgen, Freitag, 16. Januar 2015, 9 Uhr,ein.Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen, wasimmer Sie machen, noch einen schönen, friedlichen, he-donistischen Donnerstagabend.