Protokoll:
18079

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 18

  • date_rangeSitzungsnummer: 79

  • date_rangeDatum: 15. Januar 2015

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 21:39 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 18/79 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 79. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 I n h a l t : Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- neten Azize Tank, Barbara Lanzinger und Ralf Kapschack . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7473 A Begrüßung der neuen Abgeordneten Detlef Müller (Chemnitz), Ronja Schmitt und Thorsten Hoffmann (Dortmund). . . . . . . . . . 7473 B Wahl des Abgeordneten Johann Saathoff als ordentliches Mitglied des Beirats bei der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbah- nen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7473 B Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7473 B Absetzung des Tagesordnungspunktes 3 . . . . 7474 A Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 7474 A Gedenken an die Opfer der terroristischen Anschläge in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . 7474 D Zusatztagesordnungspunkt 2: Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin: anlässlich der Terror- anschläge in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . 7476 B Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7476 C Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 7479 D Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7481 C Thomas Oppermann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 7481 C Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7483 D Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 7485 C Dr. Eva Högl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7488 B Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 7489 B Tagesordnungspunkt 4: a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Gesunde Ernährung stärken – Le- bensmittel wertschätzen Drucksache 18/3726 . . . . . . . . . . . . . . . . . 7490 D b) Antrag der Abgeordneten Karin Binder, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Gute Lebensmittel für eine ge- sunde Ernährung Drucksache 18/3730 . . . . . . . . . . . . . . . . . 7490 D in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 3: Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch, Friedrich Ostendorff, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Gute Ernährung für alle Drucksache 18/3733 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7491 A Christian Schmidt, Bundesminister BMEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7491 A Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 7493 B Ute Vogt (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7494 D Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7496 A Katharina Landgraf (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 7497 D Caren Lay (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 7499 C Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 Jeannine Pflugradt (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 7500 C Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7501 B Harald Ebner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7502 C Mechthild Heil (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 7503 D Helga Kühn-Mengel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 7505 A Alois Gerig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 7505 D Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7507 B Alois Gerig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 7507 D Elvira Drobinski-Weiß (SPD) . . . . . . . . . . . . . 7508 B Rudolf Henke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 7509 B Tagesordnungspunkt 5: Antrag der Abgeordneten Susanna Karawanskij, Kerstin Kassner, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Bundesverantwortung wahrneh- men – Kommunen bei Unterbringung von Flüchtlingen und Asylbewerbern sofort helfen und Kosten der Unterkunft für Hartz-IV-Leistungsberechtigte schritt- weise übernehmen Drucksache 18/3573 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7510 C Susanna Karawanskij (DIE LINKE) . . . . . . . 7510 D Marian Wendt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 7512 A Susanna Karawanskij (DIE LINKE) . . . . . . . 7512 B Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7512 D Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7514 C Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . . 7516 B Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 7518 A Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . . 7518 B Alois Karl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 7518 C Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . 7519 A Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 7520 C Bernhard Daldrup (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 7521 C Ingbert Liebing (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 7523 B Tagesordnungspunkt 23: a) Antrag der Abgeordneten Peter Meiwald, Christian Kühn (Tübingen), Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Feinstaubemissionen aus Baumaschi- nen reduzieren Drucksache 18/3554 . . . . . . . . . . . . . . . . . 7525 A b) Antrag der Abgeordneten Peter Meiwald, Nicole Maisch, Annalena Baerbock, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Mehrweg- anteil an Getränkeverpackungen erhö- hen Drucksache 18/3731 . . . . . . . . . . . . . . . . . 7525 B Zusatztagesordnungspunkt 4: a) Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dağdelen, Jan Korte, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Deutsche Beteiligung an der EU-Polizei- mission in der Ukraine beenden Drucksache 18/3314 . . . . . . . . . . . . . . . . . 7525 B b) Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig, Herbert Behrens, Caren Lay, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion DIE LINKE sowie der Abgeordneten Matthias Gastel, Cem Özdemir, Harald Ebner, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Offene Fragen zum Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 auf- klären Drucksache 18/3647 . . . . . . . . . . . . . . . . . 7525 C Tagesordnungspunkt 24: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Wirtschaft und Energie zu der Verordnung der Bundesregierung: Dritte Ver- ordnung zur Änderung der Außenwirt- schaftsverordnung Drucksachen 18/3257, 18/3363 Nr. 2, 18/3588 7526 A Zusatztagesordnungspunkt 5: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE: Griechenlands Zukunft im Euro-Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7526 A Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 7526 B Dr. Michael Meister, Parl. Staatssekretär BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7527 C Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7529 C Johannes Kahrs (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7531 A Bartholomäus Kalb (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 7532 B Andrej Hunko (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 7533 B Michael Roth (Heringen) (SPD) . . . . . . . . . . 7534 B Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7535 B Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 III Antje Tillmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 7536 C Ewald Schurer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7537 C Jürgen Hardt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 7538 C Norbert Barthle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 7539 C Tagesordnungspunkt 6: Antrag der Bundesregierung: Ausbildungs- unterstützung der Sicherheitskräfte der Regierung der Region Kurdistan-Irak und der irakischen Streitkräfte Drucksache 18/3561 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7540 D Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7541 A Christine Buchholz (DIE LINKE) . . . . . . . . . 7542 B Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7543 C Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7544 D Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE) . . . . . . . 7545 C Rainer Arnold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7545 D Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 7547 A Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 7548 A Tagesordnungspunkt 7: Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Entsendung bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Verstärkung der Integrier- ten Luftverteidigung der NATO auf Ersu- chen der Türkei und auf Grundlage des Rechts auf kollektive Selbstverteidigung (Artikel 51 der Charta der Vereinten Na- tionen) sowie des Beschlusses des Nord- atlantikrates vom 4. Dezember 2012 Drucksache 18/3698 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7548 D Achim Post (Minden) (SPD) . . . . . . . . . . . . . 7549 A Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 7549 D Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7550 D Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7552 A Thomas Hitschler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 7553 A Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 7554 A Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . 7554 C Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 7555 C Tagesordnungspunkt 8: Antrag der Abgeordneten Friedrich Ostendorff, Nicole Maisch, Christian Kühn (Tübingen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die Zukunft der Tierhaltung – Artgerecht und der Fläche angepasst Drucksache 18/3732 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7556 B Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7556 C Dieter Stier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 7557 D Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . 7559 C Christina Jantz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7560 D Thomas Mahlberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 7561 D Rita Hagl-Kehl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7563 C Tagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Marco Wanderwitz, Ute Bertram, Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Siegmund Ehrmann, Burkhard Blienert, Marco Bülow, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Die Welt neu denken – Der 100. Jahrestag der Gründung des Bauhauses im Jahre 2019 Drucksache 18/3727 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7564 C Ute Bertram (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 7564 D Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7566 A Siegmund Ehrmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 7566 D Christian Kühn (Tübingen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7567 D Ulrich Petzold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 7569 A Michelle Müntefering (SPD) . . . . . . . . . . . . . 7569 D Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU) . . . . . . . 7570 D Tagesordnungspunkt 10: Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Steuerfreie Risikoausgleichsrück- lage für Agrarbetriebe ab 2016 Drucksache 18/3415 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7571 D Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . 7571 D Norbert Schindler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 7573 A Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7574 B Ingrid Arndt-Brauer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 7575 B Fritz Güntzler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 7576 D Rita Stockhofe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 7578 A IV Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 Tagesordnungspunkt 11: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Geset- zes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze (5. SGB IV-ÄndG) Drucksache 18/3699 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7579 C Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 7579 C Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . 7581 A Gabriele Schmidt (Ühlingen) (CDU/CSU) . . 7582 A Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . 7583 A Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU) . . . . . . . 7583 D Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Abgeordneten Claudia Roth (Augsburg), Annalena Baerbock, Uwe Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gip- feljahr 2015 – Durchbruch schaffen für Klimaschutz und globale Gerechtigkeit Drucksache 18/3156 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7584 C Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7584 D Peter Stein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 7585 C Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7586 D Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 7587 B Dr. Bärbel Kofler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 7588 B Matern von Marschall (CDU/CSU) . . . . . . . . 7589 B Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7590 B Tagesordnungspunkt 13: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungsverhandlung und über die Anerkennung von Abwesen- heitsentscheidungen in der Rechtshilfe Drucksache 18/3562 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7591 B Christian Lange, Parl. Staatssekretär BMJV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7591 C Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . 7592 B Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . . 7593 A Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7593 D Dirk Wiese (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7595 A Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 7595 C Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Abgeordneten Kathrin Vogler, Sabine Zimmermann (Zwickau), Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Elektronische Gesundheitskarte stoppen – Patientenorientierte Alternative entwickeln Drucksache 18/3574 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7596 B Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 7596 C Dr. Katja Leikert (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 7597 B Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7599 B Dirk Heidenblut (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7600 B Tagesordnungspunkt 15: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesbeam- tengesetzes und weiterer dienstrechtlicher Vorschriften Drucksachen 18/3248, 18/3748 . . . . . . . . . . . 7601 C Tagesordnungspunkt 16: Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae, Dr. Thomas Gambke, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordne- ten Richard Pitterle, Susanna Karawanskij, Dr. Axel Troost, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Sonderermittler zur Aufarbeitung der Cum-Ex-Geschäfte einsetzen Drucksache 18/3735 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7602 A Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7602 B Olav Gutting (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 7603 B Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 7604 A Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . . 7605 A Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7606 C Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . . 7606 D Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU) . . . . . 7607 A Tagesordnungspunkt 17: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Alexander S. Neu, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Einrichtung einer Nelson- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 V Mandela-Stiftungsprofessur für Frie- denspolitik und Völkerrecht Drucksachen 18/1329, 18/1643 . . . . . . . . . 7607 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Alexander S. Neu, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Henry-Kissinger-Stiftungspro- fessur an der Universität Bonn verhin- dern Drucksachen 18/1330, 18/1642 . . . . . . . . 7608 A Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7608 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 7609 A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesbeamtengesetzes und weiterer dienstrechtlicher Vorschriften (Tagesord- nungspunkt 15) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7609 B Oswin Veith (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 7609 C Matthias Schmidt (Berlin) (SPD) . . . . . . . . 7610 D Frank Tempel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 7611 D Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7612 B Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Einrichtung einer Nelson-Mandela-Stiftungs- professur für Friedenspolitik und Völkerrecht (Tagesordnungspunkt 17) . . . . . . . . . . . . . . . . 7613 B Dr. Karl A. Lamers (CDU/CSU) . . . . . . . . . 7613 B Dr. Fritz Felgentreu (SPD) . . . . . . . . . . . . . 7615 A Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE) . . . . . . . 7615 D Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7616 C Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7473 (A) (C) (D)(B) 79. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 Beginn: 9.00 Uhr
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    (D) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7609 (A) (C) (B) Anlagen zum Stenografischen Bericht (D) Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Aken, Jan van DIE LINKE 15.01.2015 Alpers, Agnes DIE LINKE 15.01.2015 Gabriel, Sigmar SPD 15.01.2015 Gleicke, Iris SPD 15.01.2015 Gohlke, Nicole DIE LINKE 15.01.2015 Dr. Harbarth, Stephan CDU/CSU 15.01.2015 Hupach, Sigrid DIE LINKE 15.01.2015 Kaczmarek, Oliver SPD 15.01.2015 Kassner, Kerstin DIE LINKE 15.01.2015 Kolbe, Daniela SPD 15.01.2015 Kühn (Dresden), Stephan BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 15.01.2015 Kunert, Katrin DIE LINKE 15.01.2015 Metzler, Jan CDU/CSU 15.01.2015 Nouripour, Omid BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 15.01.2015 Oßner, Florian CDU/CSU 15.01.2015 Pfeiffer, Sibylle CDU/CSU 15.01.2015 Poß, Joachim SPD 15.01.2015 Schiewerling, Karl CDU/CSU 15.01.2015 Schimke, Jana CDU/CSU 15.01.2015 Dr. Steffel, Frank CDU/CSU 15.01.2015 Strässer, Christoph SPD 15.01.2015 Wichtel, Peter CDU/CSU 15.01.2015 Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesbeamtengesetzes und wei- terer dienstrechtlicher Vorschriften (Tagesord- nungspunkt 15) Oswin Veith (CDU/CSU): „Der öffentliche Dienst ist die Grundlage einer funktionierenden staatlichen In- frastruktur und einer verlässlichen Daseinsvorsorge für die Menschen. Das Berufsbeamtentum ist dabei Garant einer leistungsfähigen und unabhängigen Verwaltung.“ So haben wir es im Koalitionsvertrag vereinbart und be- kennen uns zu einer demografievorsorgenden Stellen- und Personalpolitik. Wir dürfen die Zeichen der Zeit nicht ignorieren. Die Struktur unserer Gesellschaft verändert sich, und ich spreche nicht nur von einer immer älter werdenden Ge- sellschaft, sondern auch von einer immer offeneren Ge- sellschaft. Wir müssen uns bewusst sein, dass wir auch den öffentlichen Dienst an diese Entwicklungen anpas- sen müssen. Der öffentliche Dienst ist ein Abbild der Mitte der Gesellschaft, und diesem veränderten Bild gilt es Rechnung zu tragen. Daher müssen wir – wie auch im Koalitionsvertrag verankert – den Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund im öffentlichen Dienst erhö- hen. Wir wollen die Rahmenbedingungen für das Berufs- beamtentum weiterentwickeln und haben bereits vieles getan, um unsere gesteckten Ziele zu erreichen. Im Dienstrecht haben wir die Übertragung ehebezogener Regelungen im öffentlichen Dienstrecht auf Lebenspart- nerschaften beschlossen und den Eintritt in den Ruhe- stand flexibler gestaltet. Für unsere Soldaten haben wir das Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz beschlos- sen und, um weitere positiven Anreize zu schaffen, das Fachkräftegewinnungsgesetz verabschiedet. Insbesondere mit Letzterem haben wir eine Reihe positiver Maßnahmen auf den Weg gebracht wie zum Beispiel den Personalgewinnungszuschlag, die Anerken- nung von Erfahrungszeiten, Wehrdienst- und Freiwilli- gendienstzeiten, Kinderbetreuungs- und Pflegezeiten oder die Einführung einer Verpflichtungsprämie für polizeili- che Auslandsverwendungen. Unser öffentlicher Dienst bietet ein breites Spektrum an Dienstleistungen an. Davon profitieren tagtäglich un- sere Bürger und die Wirtschaft. Unsere Beamtinnen und Beamten leisten einen elementaren Beitrag zum Ge- meinwohl und sichern damit einen unschätzbaren Stand- ortvorteil unseres Landes. Es kann nicht oft genug betont werden, wie sehr wir diese Leistung schätzen. Zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf haben wir die Familienpflegezeit auch für Beamtinnen und Beamte eingeführt. Im Zusammen- hang damit steht das Familienpflegezeitgesetz, das vom Kabinett im Oktober 2014 beschlossen wurde. Die dort getroffenen Regelungen zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf werden nach Inkrafttreten des Gesetzes auch für die Tarifbeschäftigten des Bundes gel- Anlagen 7610 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 (A) (C) (D)(B) ten. Ob eine Übertragung auf die Bundesbeamten in- frage kommt, werden wir sehr sorgfältig prüfen. Ich verweise an dieser Stelle auf die inhaltsgleiche Anpassung von Dienstbezügen mit dem Bundesbesol- dungs- und Versorgungsanpassungsgesetz, welches wir erst im Oktober letzten Jahres erneut beschließen konn- ten. Mit dieser konsequenten Weitergabe der Tarifergeb- nisse setzen wir wichtige Zeichen für unsere Beamten als auch für zukünftige Arbeitskräfte und zeigen, dass wir unserer Verantwortung als Dienstherr nachkommen. Mit dem heute zur Abstimmung stehenden Gesetzent- wurf beraten wir abschließend über Neuerungen im Be- amtenrecht. Der Gesetzentwurf folgt dabei unserem Ziel, den öffentlichen Dienst als attraktiven und modernen Arbeitgeber zu gestalten. Über welche Änderungen sprechen wir konkret? Teilweise sind Regelungen im Bundesbeamtengesetz betroffen sowie einzelne dienstrechtliche Vorschriften im Bundesbesoldungsgesetz, Altersgeldgesetz, Bundes- disziplinargesetz und der Erholungsurlaubsverordnung, um die Regelungen an dieser Stelle abschließend zu be- nennen. Eingehen möchte ich jedoch zeitbedingt nur auf die wichtigsten Änderungen. Heute haben wir die Situation, dass (polizei-)dienst- unfähige Polizeivollzugsbeamte, mangels geeigneter Planstellen in den Ruhestand versetzt werden müssen. Wir werden mit der Novellierung des § 44 Absatz 4 Bundes- beamtengesetz diesen Beamten eine neue Perspektive er- öffnen. Mit der Neuregelung ermöglichen wir den be- troffenen Beamten einen Laufbahnwechsel und damit eine weitere Verwendung außerhalb des Polizeidienstes. Sollte es im Zuge des Stellenwechsels zu Nachteilen bei der Besoldung kommen, haben wir einen besoldungs- rechtlichen Ausgleich nach § 19 Bundesbesoldungsge- setz vorgesehen. Ich glaube, es liegt auf der Hand, dass wir es uns in Zeiten des demografischen Wandels nicht leisten können, prinzipiell dienstfähige Beamte vorzeitig in den Ruhe- stand zu versetzen. Nicht nur, dass wir unseren Beamten eine lebensphasengerechte Beschäftigung versprechen, wir verfolgen auch das Ziel „Rehabilitation vor Versor- gung“. Mit der Novellierung werden wir beidem gerecht und geben insbesondere unseren Beamten und Beamtin- nen im Polizeivollzugsdienst mit den Gesetzesänderungen neue berufliche Perspektiven. Die Arbeit der Polizeivoll- zugsbeamten in den Vollzugsanstalten ist verbunden mit besonderen Herausforderungen. Die Beschäftigten ar- beiten nicht selten unter Gefahren für das eigene Leben. Wir sind es den Beamten in den Vollzugsanstalten schul- dig, dieser besonderen beruflichen Belastung Rechnung zu tragen. Weiterhin setzen wir die Rechtsprechung des Euro- päischen Gerichtshofes und des Bundesverwaltungsge- richts um, indem wir Änderungen der urlaubsrechtlichen Regelungen vornehmen. Zukünftig wird die Abgeltung von Erholungsurlaub, der krankheitsbedingt bis zur Be- endigung des Beamtenverhältnisses nicht realisiert wer- den konnte, gesetzlich nachvollzogen. Mit dem heute zur Abstimmung stehenden Gesetzent- wurf entscheiden wir ebenfalls über einen Änderungsan- trag der Koalition. Wir nehmen darin die Forderung des Bundesrates auf, bei einem doppelten Beamtenverhältnis weiterhin die Zustimmung beider Dienstherren einzuho- len. Es bleibt somit dabei, dass für die Anordnung der Fortdauer des Bundesbeamtengesetzes das Einverneh- men beider Dienstherren erforderlich ist. Eine Vereinfachung des Wechsels zwischen der Lan- des-, Bundes- und europäischen Ebene wäre wünschens- wert gewesen, fand jedoch im Bundesrat keine Zustim- mung. Der Bund als Arbeitgeber ist gefragt und es gilt, ins- besondere Jugendliche für die Ausbildungsangebote im öffentlichen Dienst zu begeistern. Moderne, attraktive und familienfreundliche Arbeitsbedingungen tragen dazu bei, unseren öffentlichen Dienst noch attraktiver und da- mit demografiefester zu machen. Daneben haben wir uns strategische Leitziele gesetzt und verfolgen eine ambi- tionierte Demografiestrategie, um den veränderten Al- tersstrukturen begegnen zu können. Die Beamtinnen und Beamten können sich darauf verlassen, dass wir diesen Weg konsequent weiter be- schreiten werden. Der zur Abstimmung vorliegende Ge- setzentwurf ist ein weiterer Schritt in die richtige Rich- tung. Ich werbe daher für eine breite Zustimmung zum Gesetzentwurf. Matthias Schmidt (Berlin) (SPD): Wir führen das Wort „Fachkräftemangel“ in vielen politischen Reden im Munde. Dies ist so aktuell wie zutreffend. Doch die we- nigsten bedenken beim Fachkräftemangel, dass dieser auch im öffentlichen Dienst zunimmt. Unser tradiertes Beamtenrecht ist ein Wert an sich, den es in seinem Kern zu bewahren gilt. Gleichzeitig muss es aber ständig wei- terentwickelt werden. Dies werden wir mit dem vorlie- genden Gesetzentwurf tun. Wir machen das gute alte Beamtenrecht ein kleines Stück flexibler und auch at- traktiver. Auslöser des Gesetzentwurfs war eine am Jah- resende 2014 auslaufende Regelung in § 44 des Bundes- beamtengesetzes, aber dazu später. Der öffentliche Dienst ist beweglich. Das war er in der Vergangenheit und ist er heute umso mehr. Unsere Beamtinnen und Beamten sind in Landesbehörden und Bundesbehörden, im Inland und im Ausland tätig. Sie bekleiden wichtige Funktionen auf nationaler, europäi- scher und internationaler Ebene. Die Möglichkeit, sich versetzen zu lassen, gehört zu den Vorzügen und den Notwendigkeiten des Beamtenstatus und schafft dem Dienstherrn die Möglichkeit, kompetente Mitarbeiterin- nen und Mitarbeiter am Ort des Bedarfs einzusetzen. Das war zwar bereits in der Vergangenheit von Bedeu- tung, hat aber an Relevanz deutlich gewonnen. Die Per- sonalpolitik für Beamtinnen und Beamte ist längst inter- national geworden, und so ist es nur folgerichtig, die gesetzlichen Rahmenbedingungen dem anzupassen. Das wollen wir heute mit dem vorliegenden Gesetzentwurf tun. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7611 (A) (C) (D)(B) Entbürokratisierung lautet ein Schlagwort. Lassen Sie mich Ihnen kurz darstellen, was damit gemeint ist. Neh- men wir an, eine Beamtin wechselt von einer Bundesbe- hörde zu einer EU-Institution. Damit das Bundesbeam- tenverhältnis nach deutschem Recht weiter fortbestehen kann, musste bislang das Einvernehmen der EU-Einrich- tung hergestellt werden. In der Vergangenheit hat das häufiger zu Schwierigkeiten geführt. Sei es, dass diese Bedingung Unverständnis hervorrief oder wegen be- fürchteter Loyalitätskonflikte gänzlich abgelehnt wurde. Darauf wollen wir heute reagieren. Künftig wird das Einvernehmen in diesen Fällen nicht mehr nötig sein und die Entscheidung allein von der obersten Dienstbehörde getroffen werden können. Damit wird das Entsendungsverfahren deutlich beschleunigt. Die Gesetzesänderung der Bundesregierung reagiert da- mit auf die gestiegene Bedeutung von Personalwechseln zu europäischen oder internationalen Organisationen, und das ist gut so. Es stärkt unsere Einflussmöglichkei- ten und wird auch den berechtigten Wünschen der Be- amtinnen und Beamten nach einer Rückkehrmöglichkeit gerecht. In den Fällen, in denen bei sogenannten Doppelbeam- tenverhältnissen Bund und Land oder Kommune beteiligt sind, bleibt es jedoch bei der Regelung des Einverneh- mens. Damit wollen wir sicherstellen, dass die dienst- rechtlichen und versorgungsrechtlichen Folgen zwischen den beteiligten Dienstherren bereits im Vorfeld geklärt werden. Dies wäre zwar aus unserer Sicht nicht zwin- gend notwendig gewesen, wir folgen damit aber gerne dem ausdrücklichen Wunsch der Länder. Eine weitere Änderung im Bundesbeamtengesetz wollen wir zu folgendem Punkt treffen – zur Dienstunfä- higkeit. Auch hier will ich Ihnen das an einem Beispiel erläutern. Polizistinnen und Polizisten leisten tagtäglich eine unschätzbar wichtige Arbeit für unser Land. Dafür ist ihnen an dieser Stelle auch ausdrücklich zu danken. Einige Beamte werden im Laufe ihrer Dienstzeit aus den verschiedensten Gründen polizeidienstunfähig und kön- nen den Polizeivollzugsdienst nicht mehr verrichten. Da- mit sie jedoch nicht in den Ruhestand versetzt werden müssen, war es bis zum 31. Dezember 2014 möglich, bei entsprechender Befähigung einen Laufbahnwechsel in ein Amt mit niedrigerem Endgrundgehalt vorzunehmen. Im Grundsatz wollen wir diese Möglichkeit beibehalten. In einigen Punkten ist sie jedoch zu ändern, da sie zu er- heblichen personalrechtlichen Problemen führte. Bisher konnte der polizeidienstunfähige Beamte lediglich eine Stufe unterhalb seines bisherigen Amtes eingesetzt wer- den, beispielsweise in der Verwaltung. Dies führte zu ver- ständlichen Frustrationen bei den Verwaltungsbeamten, denen künftige Beförderungsmöglichkeiten entgingen. Darum sollen die betroffenen Kolleginnen und Kollegen nun in der gesamten Bandbreite ihrer Laufbahngruppe eingesetzt werden können. Wir erweitern damit die Ver- setzungschancen und können das Potenzial dieser Men- schen weiterhin nutzen. Das bestärkt den Grundsatz der Weiterverwendung vor Versorgung. Der finanzielle Aus- gleich ist für den Betroffenen ohnehin gesichert. Zudem sollen sie künftig ihre alte Amtsbezeichnung mit dem Zusatz „a. D.“ weiter führen können. Auch das ist ein Fortschritt. Lassen Sie mich zu einem weiteren Punkt kommen, der für den Wandel im öffentlichen Dienst charakteris- tisch ist. Nicht selten werden Funktionen der Personalver- waltung auf Dienstleistungszentren übertragen. So wurde zum Beispiel die Beihilfebearbeitung zentralisiert. Für die Bearbeitung ist es unumgänglich, dass Personalaktenda- ten übermittelt werden dürfen. Natürlich sind dabei die Grundsätze des Datenschutzes zu beachten. Der Daten- schutz ist ein hohes Gut und ebenso hoch zu achten. Mit den Änderungen schaffen wir die Grundlage für eine rei- bungslose Arbeit der Dienstleistungszentren, und das kommt auch den Beschäftigten zugute. Kommen wir zu einem weiteren Aspekt, der im Ge- setzentwurf prägnant ist. Liebe Kolleginnen und Kolle- gen, Sie geben mir bestimmt Recht: Der Erholungsur- laub gehört zum Erwerbsleben dazu und ist für eine erfolgreiche Arbeit unentbehrlich. Nun kann es durch Krankheit oder andere Umstände immer dazu kommen, dass der Urlaub nicht in Anspruch genommen werden kann. Besonders kritisch ist das, wenn das Beschäfti- gungsverhältnis endet. Was passiert dann mit dem nicht genommenen Urlaub? Bei Beamtinnen und Beamten gab es bislang keine Regelung zur Abgeltung dieser entgan- genen Tage. Das haben der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil 2012 und das Bundesverwaltungsgericht 2013 kritisiert und eine gesetzliche Regelung gefordert. Diesem Anspruch kommt der Regierungsentwurf mit den Änderungen zur Erholungsurlaubsverordnung jetzt nach. Das wird sowohl dem Richtspruch als auch den Beschäftigten gerecht. Kleine Änderungen mit großer Wirkung. So sagt es ein Sprichwort. Dabei spiegeln die Änderungen im Ge- setzentwurf die Änderungen in den Arbeitswelten unse- rer Beamtinnen und Beamten wider. Der öffentliche Dienst hat Vorbildcharakter und ist eine tragende Säule unserer Demokratie. Als Gesetzgeber haben wir dafür Sorge zu tragen, dass Veränderungen in den Rahmenbe- dingungen einen Widerhall in den Rechtsgrundlagen für unsere Beamtinnen und Beamten finden. Das ist für die Beschäftigten gut und für die Gesellschaft als Ganzes. Ich bitte Sie um Zustimmung zum vorgelegten Gesetz- entwurf der Bundesregierung. Meine Fraktion wird ge- nau dies tun. Frank Tempel (DIE LINKE): Das vorliegende Ge- setz versucht, fünf Problemfelder dienstrechtlicher Natur durch Änderung des Bundesbeamtengesetzes bzw. des Bundesdisziplinargesetzes einer Lösung zuzuführen. Die vorgeschlagenen Regelungen zum Personalwechsel zwi- schen dem deutschen öffentlichen Dienst und europäi- schen und internationalen Institutionen sowie zur Ver- meidung der Versetzung in den Ruhestand bei einem Laufbahnwechsel aus gesundheitlichen Gründen sind zu begrüßen. Die künftige Anwendung des Bundesdiszipli- nargesetzes auch für strittige disziplinarische Altfälle aus der Zeit vor Einführung des Gesetzes und die damit einhergehende Auflösung des zuständigen Disziplinar- 7612 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 (A) (C) (D)(B) senates beim Bundesverwaltungsgericht sind angemes- sen, da die Zahl der Fälle stetig abgenommen hat. Die Streichung des Einvernehmensvorbehaltes durch den neuen Dienstherren vereinfacht einen Wechsel zu den genannten Institutionen erheblich. Die Möglichkeit des Einstieges in ein Eingangsamt einer niederen Laufbahn, wenn aus gesundheitlichen Gründen eine Verwendung in einer höheren Laufbahn unmöglich wird, ist im Interesse des Dienstherrn als auch der Beamtinnen und Beamten. Die vorgeschlagene Lösung des Problems der Abgel- tung des Erholungsurlaubes bei krankheitsbedingter Be- endigung des Beamtenverhältnisses hinterlässt bei uns ebenso wie beim Bund Deutscher Verwaltungsrichter und Verwaltungsrichterinnen Zweifel, ob damit das an- gestrebte Ziel erreichbar ist. Das eingrenzende Tatbe- standsmerkmal „wegen vorübergehender Dienstunfähig- keit“ ist mit der Richtlinie 2003/88/EG nur schwer in Übereinstimmung zu bringen. Es ist ebenso fraglich, ob dies der umfangreichen Rechtsprechung des europäi- schen Gerichtshofes entspricht. Beim Thema der Regelung der Übertragung von Per- sonalaktendaten an Dienstleistungszentren sehen wir hingegen erhebliche Probleme. Wenn man im Sinne von erhöhter Verwaltungseffizienz Personalverwaltung zen- tralisiert oder diese kostengünstiger organisiert, werden entsprechende Regelungen nicht an uns scheitern. Dies muss aber in öffentlichen Einrichtungen erfolgen. Im vorliegenden Fall wird allerdings die Tür geöffnet, um Möglichkeiten für weitere Privatisierungen zu schaffen. Wir lehnen es entschieden ab, dass so hochsensible Da- ten, wie Krankheiten, Pflegezeiten bei Angehörigen und Verwandtschaftsverhältnisse von Beamtinnen und Be- amten in die Hände privater Dienstleister gelangen. Auch die vorgesehenen Sicherungsmaßnahmen, so zum Beispiel Genehmigungswege, Datenschutzerklärungen der Dienstleister oder Kontrollmöglichkeiten durch den Datenschutzbeauftragten, können unsere Bedenken nicht zerstreuen. Diese Art von Daten gehören einfach nicht in die Hände kommerzieller Dienstleister, zumal die Insti- tution des Bundesdatenschutzbeauftragten mit seinen rund 90 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit einer kontinuierlichen und gründlichen Überprüfung verschie- denster Dienstleister und Unterdienstleister deutlich überfordert sein dürfte. Jahrzehntelang ist das Personal im öffentlichen Dienst einerseits abgebaut und andererseits mit immer neuen Aufgaben überfrachtet worden. Outsourcing und Privati- sierung haben nur in den seltensten Fällen zu Kosten- effizienz, aber in vielen Fällen zur Umwandlung von Arbeitsplätzen des öffentlichen Dienstes zu prekären Ar- beitsplätzen im privaten Dienstleistungsgewerbe ge- führt. Die vorgeschlagene Regelung ermöglicht solche Entwicklungen. Deshalb wird die Fraktion Die Linke dem nicht zu- stimmen können. Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Bewertung dieses Gesetzentwurfs auf einen Punkt zu bringen, fiel mir nicht leicht, denn hier wurde schließlich ein wahres Sammelsurium an Rechtsänderungen in ei- nem Gesetz vermischt. Quasi eine beamten- und dienst- rechtliche „Resterampe“ wurde uns hier vorgelegt. Aber „too little, too late“ trifft es wohl ganz gut. Dringend notwendig ist, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, Ihre große Mehrheit nutzen, um das Beamtenrecht und den öffentli- chen Dienst umfassend zu reformieren. Baustellen gibt es ja genug: Eine umfassende Bestandsaufnahme und Aufgabenkritik sind vorzunehmen, die Verwaltung ist zu modernisieren, der Anteil von Frauen in Führungsposi- tionen ist zu steigern, der Anteil von Migrantinnen und Migranten ebenfalls, und den demografischen Heraus- forderungen müssen wir uns auch stellen. Doch dieses Gesetz zeigt ganz deutlich, dass Ihnen dafür Mut und Kreativität fehlen. Sie reagieren statt zu agieren und be- treiben Flickschusterei und auch erst dann, wenn die Umstände oder europarechtliche Vorgaben Sie dazu nö- tigen. Ein bekanntes strukturelles Problem in der Praxis ist die Weiterbeschäftigung dienstunfähiger Polizeivoll- zugsbeamter. Diese Kolleginnen und Kollegen haben sich in langen Jahren im Schichtdienst gesundheitlich aufgerieben oder sie sind zum Schutz unser aller Sicher- heit und für die Wahrung unserer Rechte verletzt worden und deshalb dienstunfähig. Ihre Reaktion auf diesen Missstand? Sie versetzen die Kolleginnen und Kollegen in die Verwaltung. Diese Bemühung ist natürlich dahin- gehend löblich, als dass hiermit dem Grundsatz von „Re- habilitierung und Weiterverwendung vor Versorgung“ Rechnung getragen wird. Aber damit handeln Sie erst dann, wenn es bereits viel zu spät ist. Wir wissen alle, dass der Schichtdienst eine gesundheitliche Belastung darstellt. Nicht neu ist ebenfalls die Erkenntnis, dass Prä- vention viele Erkrankungen verhindern kann. Schließlich hat die Bundesregierung gerade erst ein Präventionsgesetz beschlossen. Dass nur eine ausreichende Personaldecke das Ausbrennen der Beamten verhindert, ist auch keine weltbewegende Offenbarung. Dennoch – in der Praxis mangelt es hinten und vorne an der Umsetzung. Wenn wir so mit unserer wertvollen Ressource Personal umge- hen, brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn der öf- fentliche Dienst bald kein attraktiver Arbeitgeber mehr ist. Wenn es denn dann tatsächlich darum geht, zu überle- gen, die Arbeit der Behörden effektiver zu gestalten, bleibt der Gesetzentwurf merkwürdig vage. Sie schlagen vor, eine Rechtsgrundlage dafür zu schaffen, Personalak- ten für die Übertragung von Funktionen der Personalver- waltung auf Dienstleistungszentren künftig übermitteln zu dürfen. Was mir dabei Sorge bereitet, ist, dass auch nichtöffentliche Stellen beauftragt werden dürfen und sogar Unterauftragnehmer. Dass die Rechte Ihres Perso- nals dabei nicht verletzt werden, sichern Sie recht dünn mit folgendem Satz ab: „wenn der Auftraggeber die Ein- haltung der beamten- und datenschutzrechtlichen Vor- schriften durch den Auftragnehmer regelmäßig kontrol- liert.“ Wie Sie damit Ihrer Fürsorgepflicht als oberster Dienstherr gerecht werden wollen, erschließt sich mir nicht. Hier hätte ich mir nicht nur mehr gewünscht, hier Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7613 (A) (C) (D)(B) wäre auch mehr erforderlich gewesen. Das gilt auch für den Schutz der Daten des betroffenen Personals. Ein letzter Hinweis noch, von dem man meinen sollte, er sei überflüssig, doch dieser Gesetzentwurf lehrt ein Besseres. Das Beamtenrecht existiert heutzutage nicht mehr allein in einer rein innerdeutschen Realität. Das zu erkennen und dementsprechend zu handeln, scheint je- doch ein schwieriger und langwieriger Prozess zu sein. Seit Jahrzehnten ist bekannt, dass deutsche Staatsange- hörige in internationalen Institutionen unterrepräsentiert sind. Insbesondere in einigen Sonderorganisationen der Vereinten Nationen, in Friedensmissionen und in inter- nationalen Finanzorganisationen sowie bei der Beset- zung von Führungspositionen gibt es Defizite. Das be- richtet die Regierung selbst immer wieder, zuletzt in ihrem „Dritten Bericht der Bundesregierung zur deut- schen Personalpräsenz in internationalen Organisatio- nen“. Da muss man sich doch dann fragen, warum Sie erst jetzt auf die Idee kommen, die Anordnung der Fort- dauer des Bundesbeamtenverhältnisses nicht mehr vom Einvernehmen des neuen Dienstherren abhängig zu ma- chen, wie es bislang bei einer Beurlaubung für eine Tä- tigkeit in internationalen oder europäischen Einrichtun- gen notwendig war. Es sorgte dort für Irritationen, und Ihnen war bekannt, dass das Einvernehmen teilweise so- gar verweigert wurde, zumindest galt es aber als ausge- sprochen bürokratisch. Da müssen wir uns vermutlich auch nicht mehr wundern, dass die Abgeltung des Min- destjahresurlaubsanspruchs bei Krankheit aus der Richt- linie 2003/88/EG und nach Urteilen des Europäischen Gerichtshofs aus dem Mai 2012 und des Bundesverwal- tungsgerichts aus dem Januar 2013 erst im Jahr 2015 umgesetzt wird. Schade, dass Sie mit diesem Gesetzentwurf so weit hinter Ihren Möglichkeiten und dem Notwendigen zu- rückgeblieben sind. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Einrichtung einer Nelson-Mandela- Stiftungsprofessur für Friedenspolitik und Völ- kerrecht (Tagesordnungspunkt 17) Dr. Karl A. Lamers (CDU/CSU): Wir beraten heute zwei Anträge der Fraktion Die Linke, die zwei verdiente Politiker des 20. Jahrhunderts in den Mittelpunkt rücken. Die Linke fordert einerseits die Einrichtung einer Nelson-Mandela-Stiftungsprofessur für Friedenspolitik und Völkerrecht und anderseits die Verhinderung einer Henry-Kissinger-Stiftungsprofessur an der Universität Bonn. Damit bringt die Linke – sicher nicht ungewollt – beide Männer in eine Konfrontationsstellung. Nelson Mandela war zweifelsfrei eine der überragen- den politischen Persönlichkeiten unserer Zeit. Viele Jahre hat er für seine Überzeugungen im Gefängnis gesessen und entscheidenden Anteil daran gehabt, das menschen- verachtende Apartheidregime in seiner Heimat zu Fall zu bringen. Über Nelson Mandela streite ich mit Ihnen nicht. Er war eine herausragende Persönlichkeit, und es war mir eine besondere Ehre, ihm am 22. Mai 1996 bei seinem Besuch in Bonn persönlich zu begegnen. Aber eigentlich geht es Ihnen doch gar nicht um Nelson Mandela. Ihnen geht es nur darum, Henry Kissinger nach Strich und Faden schlechtzureden. Das wiederum geht mit mir nicht und mit uns nicht. Henry Kissinger hat in seiner Amtszeit als Sicher- heitsberater und Außenminister der Vereinigten Staaten von Amerika maßgeblich Weltpolitik gestaltet – und das in schwierigen Zeiten. Der Vietnam-Krieg und der Weg vieler Staaten in die Unabhängigkeit in weiten Teilen der Welt mit all ihren Problemen sind hier beispielhaft zu nennen. Sicher, manches trennt Kissinger und Mandela auch: die Herkunft, die unterschiedliche Sozialisation, die ver- schiedenen Lebenswege und anderes mehr. Aber es gibt eben auch einiges, was diese beiden Männer verbindet. Beide sind Träger des Friedensnobelpreises: Kissinger erhielt ihn 1973 für den Friedensvertrag, der zwei Jahre später den Krieg in Vietnam beenden sollte. Nelson Mandela wurde 1993 für sein Versöhnungswerk ausge- zeichnet. Der Antrag der Linken versucht jetzt, Henry Kissinger als die Ausgeburt des „bösen Amerika“ darzustellen. Das hat mich nicht wirklich überrascht. Aber es ist schon starker Tobak, wie Sie sich gerade ideologisch an ihm austoben. Ich will das gar nicht im Einzelnen aus- führen, um nicht zu Ihrem Sprachrohr zu werden. Sie folgen damit einmal mehr dem für sie so typischen Re- flex des pauschalen Antiamerikanismus. Solchen Denk- weisen widersprechen wir entschieden. Mit keinem Wort erwähnt der Antrag hingegen natür- lich die großen Verdienste Kissingers, wie seine Rolle bei der Friedenslösung für Vietnam, bei der Vermittlung zwischen Israelis und Palästinensern sowie zwischen Is- rael und den arabischen Staaten oder gar bei der histori- schen Annäherung zwischen den Vereinigten Staaten und China. Hätten Sie sich mal richtig mit der Person Henry Kissinger auseinandergesetzt, dann wüssten Sie, dass er einen wesentlichen Teil seiner Energie auf die Bewah- rung des Friedens in einer Zeit der nuklearen Konfronta- tion der Großmächte im Kalten Krieg gerichtet hat. Gerade für uns Deutsche, die wir am Eisernen Vor- hang die ersten Betroffenen einer militärischen Aus- einandersetzung geworden wären, war dieses Streben der USA und Kissingers nach Stabilität und Gleichge- wicht der Kräfte wesentlich für unser Leben in Frieden. Auch war Kissinger der entscheidende Motor des ers- ten Abkommens mit der Sowjetunion zur Begrenzung der atomaren Rüstungsarsenale. Das ist doch genau das, was Sie immer gefordert haben. SALT-I- und der ABM- 7614 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 (A) (C) (D)(B) Vertrag – beides ist auf ewig mit seinem Namen verbun- den und hat wesentlich zur Erhaltung der strategischen Stabilität und zum Konfrontationsabbau beigetragen. Dies alles gehört nun einmal dazu, wollte man die Le- bensleistung dieses Mannes wirklich fair und ausgewo- gen bewerten. Aber das wollen Sie ja sowieso alles gar nicht wissen. Eines möchte ich Ihnen heute in Ihr Stammbuch schrei- ben: „Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklich- keit“, wie Erwin Teufel oft zitiert hat – eine Erkenntnis, der Sie sich gerne verweigern. Der Antrag der Linken lässt leider jede Objektivität vermissen. Kissinger war auch der Wegbereiter der gerade für uns Deutsche so wichtigen transatlantischen Brücke mit Nordamerika, die uns 1989/90 nach einer langen Phase des Kalten Krieges in Europa die Wiedervereinigung ge- bracht hat. Die transatlantischen Beziehungen sind bis heute ein wesentlicher Bestandteil unserer Außen- und Sicherheitspolitik. Gerade in diesen Zeiten – nach den schrecklichen An- schlägen in Paris – zeigt sich doch erneut, wie wichtig unsere transatlantische Partnerschaft ist. Im Kampf ge- gen den Terrorismus stehen die Vereinigten Staaten fest an unserer Seite. Als jüdischer Emigrant hat sich Henry Kissinger stets um die transatlantischen Beziehungen bemüht. Wir soll- ten nicht vergessen, dass Kissinger 1938 mit seiner Fa- milie vor den Nazis in Deutschland in die USA floh. Schon als junger Mann hatte er den Wert von Freiheit und Selbstbestimmtheit am eigenen Leib erfahren. Es ist auch unredlich, wenn die Linke in ihrem Antrag zu Kissinger – einmal mehr undifferenziert – den Ein- druck zu erwecken sucht, dass fast ganz Bonn gegen die Einrichtung der Stiftungsprofessur an seiner Universität sei. Zwischenzeitlich hat die Berufungskommission der Universität Bonn mit dem früheren US-Botschafter in Deutschland, James D. Bindenagel, einen ersten Lehr- stuhlinhaber ausgewählt, und der Lehrbetrieb wurde mit dem laufenden Semester aufgenommen. Ich habe mich mal vor Ort informiert und vor wenigen Tagen persön- lich mit dem Direktor des Instituts für Öffentliches Recht und des Instituts für Völkerrecht an der Universi- tät Bonn, Herrn Professor Matthias Herdegen, gespro- chen. Auch nach diesem Gespräch bin ich der festen Überzeugung, dass Professor Bindenagel auf positive Resonanz bei den Bonner Studierenden und der Univer- sität stößt. Es wäre schön, wenn auch Sie das zur Kennt- nis nähmen. Ihr Antrag ist – in meinen Augen – „kurzatmig“. Ich rate Ihnen: Erst informieren, dann nachdenken und, wenn möglich, Anträge umformulieren oder gar zurück- ziehen – aber das ist wahrscheinlich zu viel verlangt. Bei der Abstimmung im Verteidigungsausschuss hat sich nur die Linke selbst zum vorliegenden Antrag be- kannt – das spricht ja schon mal Bände. Die Grünen ha- ben sich, was mich freut, damals enthalten. Eine differenzierte Betrachtung kommt sicher zu ei- nem ausgewogeneren Ergebnis. Henry Kissinger ist in meinen Augen als Staatsmann und Wissenschaftler ohne Zweifel würdig, als Namens- geber für einen sicherheitspolitischen Lehrstuhl zu die- nen. Er ist eine gute Lösung für eine Professur für „Governance und internationale Sicherheit“ in Bonn. Der Name bringt die ursprünglich gewollte Ausrichtung der Professur klar zum Ausdruck. Dabei geht es um ei- nen weiter gefassten Begriff der Sicherheit. Das bedeu- tet: Es geht nicht nur um eine militärische Dimension der Sicherheit, sondern um Welt- und Sicherheitspolitik, um Entwicklungszusammenarbeit und Friedenspolitik im weiteren Sinne, um den Schutz der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit, um Governance, Good Governance. Ich begrüße ausdrücklich die Namensände- rung und bin Professor Herdegen dafür sehr dankbar. Die Universität Bonn ist zudem eine gute Lösung, weil Kissinger seine politischen Ämter zu Zeiten der „Bonner Republik“ ausübte. Die Bundesstadt am Rhein steht für ein wichtiges Stück deutscher Geschichte. Ich bin überzeugt, dass ein solcher Lehrstuhl wie die Henry-Kissinger-Professur an der Bonner Universität wesentlich zur wissenschaftlichen Erarbeitung von Per- spektiven und Konzepten der transatlantischen Zusam- menarbeit in der Zukunft beiträgt. Die Bundesregierung hat es so ausgedrückt: Er soll „auf den Gebieten der Diplomatie, Strategie und der transatlantischen internationalen Beziehungen die si- cherheits- und verteidigungspolitische Debatte dauerhaft beflügeln“. Das begrüße ich. Nämlich die Chance zur Verbreiterung sicherheitspolitischer Debatten. Diesem integrierenden Ziel dient die Konfrontation von zwei so bedeutenden Persönlichkeiten wie Mandela und Kissinger sicherlich nicht. Diese Professur bietet eine exzellente Möglichkeit, über die Rolle von Diplomatie, Konfliktprävention und Friedensforschung in einer sich rapide verändernden Welt nachzudenken und zu diskutieren. Dies wäre sicher auch im Sinne von Nelson Mandela gewesen. Könnte er diese Debatte verfolgen, hätte er sich wohl weise zurückgelehnt und sich über Ihren Antrag gewundert und sich zugleich gefreut, wenn wir uns auf die sicherheitspolitischen Herausforderungen der Zukunft konzentriert hätten. Denn Mandela hat Kissinger ge- schätzt. Er studierte dessen Shuttle-Diplomatie während seiner Zeit im Gefängnis und traf Kissinger bei seinem ersten Besuch in den USA nach seiner Entlassung aus der Haft. Das Votum für die Unterstützung der Henry-Kissinger- Professur ist kein Votum gegen einen Nelson-Mandela- Lehrstuhl. Mandelas politische Lebensleistung bleibt da- von unbenommen. Sein geistiges Erbe wird auch bei den Diskussionen in Bonn eine zentrale Stellung einnehmen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7615 (A) (C) (D)(B) In diesem Sinne wird die CDU/CSU-Fraktion die bei- den Anträge der Fraktion Die Linke ablehnen. Dr. Fritz Felgentreu (SPD): Wir könnten es uns mit der Zurückweisung der Anträge der Linken über vertei- digungs- oder friedenspolitisch motivierte Stiftungspro- fessuren einfach machen. Denn die Sache selbst lässt gar nichts anderes mehr zu. Die nach Henry Kissinger be- nannte Stiftungsprofessur ist an der Bonner Universität bereits eingerichtet worden. Ihr erster Inhaber, der ame- rikanische Diplomat James D. Bindenagel, hat mit dem laufenden Wintersemester seine Vorlesungstätigkeit auf- genommen. Das alles geschieht auf der Grundlage von Verträgen, die das Verteidigungs- und das Außen- ministerium mit der Universität abgeschlossen haben. Pacta sunt servanda. Deshalb kann dieses Haus die An- träge der Linksfraktion nur ablehnen. Mit einer so knappen Argumentation würden wir aber dem Anliegen der Anträge nicht hinreichend gerecht werden. Die Begründung der Linken müssen wir zur Kenntnis nehmen und uns dazu verhalten. Die einander ergänzenden Anträge laufen darauf hinaus, das Lebens- werk des mit der Stiftungsprofessur geehrten Henry Kissinger insgesamt infrage zu stellen und es durch das Gegenbild Nelson Mandelas zu entwerten. Hier werden also zwei Friedensnobelpreisträger gegeneinander aus- gespielt, mit dem offensichtlichen Ziel, dass sich vor dem hellen Licht des in jeder Hinsicht unumstrittenen Mandela die schwarze Kontur des von der Linken als Bösewicht identifizierten Kissinger umso schärfer ab- zeichnen möge. Lassen Sie mich vorausschicken: Mandela hat eine solche Instrumentalisierung nicht verdient. Er hätte sich auch dagegen verwahrt. Die SPD-Fraktion wird eine Eh- rung für den großen Südafrikaner nicht dazu missbrau- chen, auf andere Persönlichkeiten der Zeitgeschichte einzudreschen. Mandelas Andenken steht für sich. Wer es pflegen will, darf es nicht wie heute die Linke in den Zusammenhang einer politischen Polemik stellen. Wozu wir heute abstimmen und uns als deutsches Par- lament erklären müssen, ist die Frage: Verdient der ge- bürtige Deutsche Henry Kissinger, der als Kind von Deutschland verstoßen und außer Landes gejagt worden ist und der als Amerikaner eine historische Rolle in den großen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts ge- spielt hat, verdient dieser Mann eine solche Anerken- nung seiner Lebensleistung? Das Osloer Friedensnobel- preis-Kommitee und die Stadt Aachen haben diese Frage für sich mit Ja beantwortet. Wir sollten nicht dahinter zu- rückfallen. Wir alle erinnern uns, woraus sich das Ansehen speist, das Kissinger in Deutschland genießt. Den Frie- densnobelpreis hat er in Anerkennung seiner Verdienste bei dem Versuch erhalten, eine Friedenslösung im Viet- nam-Krieg zu finden. Kissinger hat vor vierzig Jahren Entscheidendes zur Entspannung des Verhältnisses zwi- schen den Supermächten USA und China beigetragen. Er hat im Nahen Osten den Friedensprozess im Dreieck Israel, Ägypten und PLO immer wieder vorangetrieben. Und er hat sich um Deutschland verdient gemacht, in- dem er geholfen hat, in der KSZE-Schlussakte die For- mel von der Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa zu verankern, die der Bundesrepublik so wichtig war, weil sie die Möglichkeit einer friedlichen Neuordnung offen hielt. Dass er dennoch eine umstrittene Persönlichkeit ge- blieben ist, ist zum einen durch die Bedingungen, zum anderen durch die Prinzipien seiner Politik begründet. Kissinger war Außenminister einer Weltmacht in der heißesten Phase des sogenannten Kalten Krieges, und er hat sich selbst in dieser Rolle immer als Realpolitiker definiert. Ich zweifle nicht, dass Kissinger bei den harten Entscheidungen, denen er nicht ausgewichen ist, auch folgenschwere Fehler gemacht hat. Den Gesinnungsethi- kern, die nur zwischen Gut und Böse unterscheiden, ist schon die bloße Realität von Machtpolitik ein Greuel, von der Bereitschaft, moralische Grauzonen auszuhalten oder den Weg des kleineren Übels zu gehen, ganz zu schweigen. Ein Mann wie Henry Kissinger hat in ihren Augen von vornherein kaum eine Chance. Wenn dann noch eine Neigung zum antiamerikanischen Ressenti- ment hinzukommt, wird es leicht, die Verdienste auszu- blenden und aus der Fülle der im Kalten Krieg getroffe- nen Entscheidungen Argumente abzuleiten, um einen Kissinger abzuqualifizieren. Wir sollten für jeden Tag dankbar sein, der uns ver- gleichbare moralische Konflikte bei schweren Entschei- dungen erspart, wie demokratische Regierungen sie in den blutigen Siebzigerjahren immer wieder treffen mussten. In unserem politischen Urteil über die Lebens- leistung Henry Kissingers können wir uns vertrauens- voll Zeitzeugen wie Helmut Schmidt anschließen, der sehr genau weiß, warum er Kissinger bis heute seine Hochachtung und seine Freundschaft schenkt. Es ist le- gitim und angemessen, dass auch die Bundesrepublik Deutschland diese Lebensleistung würdigt. Besonders angemessen ist aber die Würdigung in Gestalt einer nach Kissinger benannten Stiftungsprofessur. Denn diese aka- demische Ehrung zielt nicht allein auf den Politiker, son- dern auch auf den Hochschullehrer Henry Kissinger, der an der Harvard-Universität als Gelehrter einen Namen hatte, lange bevor er als Staatsmann von sich reden machte. Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE): Welche Ge- meinsamkeit haben Henry Kissinger und Nelson Mandela? Nur eine, den Friedensnobelpreis. Mandela er- hielt ihn 1993 und Kissinger 1973. Die Unterschiede zwischen beiden könnten hingegen kaum größer sein: Nelson Mandela hat den Friedensnobelpreis wahrlich verdient, da er ein unermüdlicher Kämpfer für Frieden, Freiheit und Versöhnung war. Henry Kissinger hingegen hat ihn nicht verdient. Kissinger ist verantwortlich für eine aggressive Außen- und Sicherheitspolitik, konkret für die Destabilisierung missliebiger Staaten, Unterstützung gewaltsamer Re- gime Changes und Unterstützung der Etablierung dikta- torischer und menschenrechtsverletzender Regime. Für 7616 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 (A) (C) (D)(B) Kissinger rechtfertigt der Zweck alle Mittel – seien sie auch noch so mörderisch. Der Regime Change in Chile und der damit verbun- dene gewaltsame Tod des demokratisch gewählten Präsi- denten Allende und vieler Chilenen und Chileninnen ge- hen auf Kissingers Konto. Die Bombardierung Laos’ und Kambodschas wäh- rend des Vietnam-Kriegs mit geschätzten 600 000 Toten geht ebenfalls auf Kissingers Konto. Aufgrund dessen sind in mehreren Staaten Gerichts- verfahren gegen Kissinger anhängig, denen er sich nie gestellt hat. Nicht selten wird sein Name mit dem Be- griff Kriegsverbrechen in Verbindung gebracht. Tja, die Vertreter schwacher Staaten hängt man, die großer Staa- ten brauchen sich nicht mal zu erklären. So funktioniert Macht- und Gewaltpolitik auf internationaler Ebene. Die Tatsache der Verleihung des Friedensnobelpreises an Kissinger sagt eine Menge über den instrumentellen Charakter dieser Auszeichnung aus. Dass dies kein ein- maliger Unfall war, zeigen fragwürdige Verleihungen wie an US-Präsident Obama, der sich als Drohnen- Schreibtischtäter übt. Nicht minder die Auszeichnung für die EU, die ohne Weiteres Tausende tote Flüchtlinge im Mittelmeer akzeptiert und deren Mitgliedstaaten Steuergelder lieber für unsinnige Rüstungsprojekte ver- schleudern. Nur ein geringer Teil dieser Rüstungsgelder könnte jährlich Tausende Menschen retten. Nun hat die Bundesregierung entschieden, für 300 000 Euro Steuergelder pro Jahr eine Stiftungsprofes- sur zu Ehren von Henry Kissinger an der Uni Bonn ein- zurichten. Sehr geehrte Bundesregierung, sind Ihnen die Taten Kissingers nicht bekannt? Wenn nein, warum nicht? Wenn ja, warum dann eine Stiftungsprofessur? Will die Bundesregierung mit dieser Stiftungsprofessur den kri- minellen und menschenverachten Taten Kissingers hul- digen? Oder will die Bundesregierung gar Kissingers Politikverständnis als Vorbild für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik preisen? Offensichtlich ja! Genau das ist gewollt. Demgegenüber lehnt die Bundesregierung es ab, eine Nelson-Mandela-Stiftungsprofessur einzurichten und zu finanzieren. Sie will sie nicht nur nicht statt einer Kissinger-Professur, sondern auch nicht einmal als er- gänzendes Gegengewicht zu Kissinger. Ich fasse zusammen: Dem Friedens- und Freiheits- kämpfer Nelson Mandela wird eine Stiftungsprofessur seitens der Bundesregierung verweigert. Dem mutmaßli- chen Kriegsverbrecher Kissinger richtet die Bundesre- gierung eine Stiftungsprofessur ein und finanziert sie mit jährlich 300 000 Euro Steuergeldern. Das ist ein verheerendes Signal in Richtung globaler Süden im Hinblick auf eine stets deklarierte deutsche Friedenspolitik. Dieses Symbol sagt mehr aus als tau- send feierliche Erklärungen gegenüber den Entwick- lungsländern. Nämlich Deutschland setzt auf Macht- und Gewaltpolitik und nicht auf eine zivilisierte interna- tionale Rechtsstaatlichkeit. Aber zumindest wurde der Bundesregierung mit der Zeit dann doch der Titel der Stiftungsprofessur peinlich. So viel Zynismus wollte man wohl dann doch nicht aus- drücken: Sollte die Stiftungsprofessur zunächst „Henry- Kissinger-Professur für internationale Beziehungen und Völkerrechtsordnung unter Berücksichtigung sicher- heitspolitischer Aspekte“ heißen, so heißt sie nun: „Henry-Kissinger-Stiftungsprofessur für Governance und internationale Sicherheit“. Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vorab: Wir führen heute Abend leider eine etwas verspätete Diskussion, zumindest was das konkrete Anliegen an- geht. Die Linke fordert, die Einrichtung eines Henry- Kissinger-Lehrstuhls an der Uni Bonn zu verhindern. Über dieses Anliegen ist die Zeit längst hinweg gegan- gen, der Lehrstuhl wurde zum laufenden Semester ein- gerichtet, eine erste Besetzung ist erfolgt und hat die Ar- beit aufgenommen. Leider ist das so, muss man sagen, weil auch wir diesen Lehrstuhl durchaus kritisch sehen. Deshalb macht es sicherlich trotz der späten Debatte Sinn, sich noch mal mit dem Thema auseinanderzuset- zen. Denn mit der Einrichtung und Finanzierung einer Stiftungsprofessur maßgeblich durch das Verteidigungs- ministerium wurde ein Schritt getan, der keinesfalls Schule machen sollte. Die Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre ist ein hohes Gut. Und wenn das Verteidigungsministerium, das nun wirklich andere Auf- gaben – und zumindest nach eigenem Bekunden auch er- hebliche Finanzbedarfe – hat, jährlich eine viertel Mil- lion Euro für eine Stiftungsprofessur ausgibt und das an einer zivilen Universität, dann habe ich große Fragezei- chen, dann stellt sich meines Erachtens die Frage, ob die Freiheit von Wissenschaft und Forschung gewährleistet ist. Für uns ist klar: Die Universitäten müssen unabhän- gig bleiben; jede Beeinflussung durch das Verteidi- gungsministerium lehnen wir ab. Es ist ja eine interessante Anekdote am Rande, dass sich die Universitäten der Bundeswehr mit als erste über die Einrichtung der Stiftungsprofessur an einer zivilen Universität beschwert haben, weil sie sich übergangen fühlten. Der Stern zitierte im Juli 2014 aus einem Schriftverkehr des damaligen Verteidigungsministers de Maizière mit den Präsidenten der Bundeswehruniversitä- ten, wonach die Bundeswehruniversitäten die Professur gerne selbst gehabt hätten, unter anderem aus „Attrakti- vitätsgründen“. Und klar, selbstverständlich stellt sich die Frage: Wa- rum musste es eine zivile Universität sein. Auch dieser Vorgang macht deutlich: Alle Fragezeichen, die man hinsichtlich Unabhängigkeit dieser Stiftungsprofessur hat, sind berechtigt. Im Rheinland und insbesondere im Umfeld der Uni- versität hat sich breiter Widerstand gegen die Einrich- tung der Stiftungsprofessur formiert – zu Recht, wie ich finde. Dieser Protest bezog sich nicht nur auf die Finan- zierung durch das Verteidigungsministerium, sondern auch auf die Namensgebung. Nicht nur das Bündnis „Initiative Zivile Uni Bonn“ hat deutliche Kritik an der Namensgebung formuliert. In einem Offenen Brief von Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2015 7617 (A) (C) (B) mehr als 100 Professorinnen und Professoren europäi- scher Universitäten, darunter Alfred Grosser und Oskar Negt, wird die Benennung einer Stiftungsprofessur für Völkerrechtsordnung nach Henry Kissinger als „schlicht- weg inakzeptabel“ bezeichnet. Auch ich bin der Mei- nung, dass mit Blick auf die äußerst umstrittene Rolle Kissingers die Benennung der Stiftungsprofessur unan- gemessen ist. Und ich ärgere mich vor allem sehr, dass die berechtigte Kritik seitens der Bundesregierung ein- fach abgebügelt wurde und die Benennung so durchge- zogen worden ist. Abschließend kurz zum zweiten Antrag, der heute zur Abstimmung steht. Wir finden die Einrichtung einer „Nelson-Mandela-Stiftungsprofessur für Friedenspolitik und Völkerrecht“ eine gute Initiative. Nelson Mandela steht anders als Kissinger unumstritten für eine friedli- che und auf Versöhnung ausgerichtete Politik, sodass eine derartige, natürlich transparent finanzierte Professur ein richtiges Signal an die Friedensbewegung wäre. (D) Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de 79. Sitzung Inhaltsverzeichnis ZP 2 Regierungserklärung zu den Terroranschlägen in Frankreich TOP 4, ZP 3 Gesunde Ernährung TOP 5 Unterbringung von Flüchtlingen und Asylbewerbern TOP 23, ZP 4 Überweisungen im vereinfachten Verfahren TOP 24 Abschließende Beratungen ohne Aussprache ZP 5 Aktuelle Stunde zu Griechenlands Zukunft im Euro-Raum TOP 6 Ausbildungsunterstützungseinsatz Kurdistan-Irak TOP 7 Bundeswehreinsatz Operation Active Fence (Türkei) TOP 8 Artgerechte Tierhaltung TOP 9 100. Jahrestag der Gründung des Bauhauses 2019 TOP 10 Risikoausgleichsrücklage für Agrarbetriebe TOP 11 Änderung des SGB IV TOP 12 Klimaschutz und globale Gerechtigkeit TOP 13 Abwesenheit Angeklagter in der Berufungsverhandlung TOP 14 Elektronische Gesundheitskarte TOP 15 Änderung des Bundesbeamtengesetzes TOP 16 Sonderermittler zur Aufarbeitung der Cum-Ex-Geschäfte TOP 17 Stiftungsprofessuren (Mandela; Kissinger) Anlagen
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1807900000

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle
zur ersten Plenarsitzung im neuen Jahr und nutze die Ge-
legenheit gerne, Ihnen auch auf diesem Wege noch ein-
mal persönlich alles Gute für das begonnene neue Jahr
zu wünschen.

Seit der letzten Sitzungswoche haben die Kollegin
Azize Tank ihren 65. Geburtstag sowie die Kollegin
Barbara Lanzinger und der Kollege Ralf Kapschack
ihren 60. Geburtstag gefeiert. Im Namen des gesamten
Hauses möchte ich hierzu herzlich gratulieren und für
das neue Lebensjahr alles Gute wünschen.


(Beifall)


Der Kollege Wolfgang Tiefensee hat sein Bundes-
tagsmandat niedergelegt. Für ihn ist der Kollege Detlef
Müller nachgerückt, der bereits in der 16. Legislatur-
periode Mitglied des Deutschen Bundestages war. Für
den verstorbenen Kollegen Andreas Schockenhoff hat
die Kollegin Ronja Schmitt die Mitgliedschaft im Deut-
schen Bundestag erworben. Schließlich ist der Kollege
Thorsten Hoffmann für den ausgeschiedenen Kollegen
Ronald Pofalla als Mitglied des Deutschen Bundestages
nachgerückt. Ich darf Sie im Namen des Hauses herzlich
begrüßen und wünsche uns und Ihnen eine gute Zusam-
menarbeit.


(Beifall)


Wir müssen noch eine Wahl durchführen. Die SPD-
Fraktion schlägt vor, als ordentliches Mitglied des Bei-
rats bei der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas,
Telekommunikation, Post und Eisenbahnen den Kol-
legen Johann Saathoff als Nachfolger für den Kollegen
Dirk Becker zu berufen. – Dagegen gibt es offenkundig
keinen Widerspruch. Dann ist der Kollege Saathoff als
ordentliches Mitglied des Beirats gewählt.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesord-
nung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte
zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und SPD

Bundeshaushalt 2014 ohne neue Schulden


(siehe 78. Sitzung)


ZP 2 Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin

anlässlich der Terroranschläge in Frankreich

ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Friedrich Ostendorff, Harald Ebner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Gute Ernährung für alle

Drucksache 18/3733
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit

ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten
Verfahren


(Ergänzung zu TOP 23)


a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Sevim Dağdelen, Jan Korte, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE

Deutsche Beteiligung an der EU-Polizeimis-
sion in der Ukraine beenden

Drucksache 18/3314
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Innenausschuss (f)

Federführung strittig

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Leidig, Herbert Behrens, Caren Lay, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE so-
wie der Abgeordneten Matthias Gastel, Cem





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

Özdemir, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Offene Fragen zum Bahnhofsprojekt Stutt-
gart 21 aufklären

Drucksache 18/3647
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f)

Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
DIE LINKE

Griechenlands Zukunft im Euro-Raum

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.

Der Tagesordnungspunkt 3 – Aktionsplan „Zivile
Krisenprävention“ – wird von der heutigen Tagesord-
nung abgesetzt. Stattdessen wird die Bundeskanzlerin
eine Regierungserklärung anlässlich der Terroranschläge
in Frankreich abgeben.

Schließlich mache ich noch auf mehrere nachträgli-
che Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatz-
punktliste aufmerksam:

Der am 18. Dezember 2014 (76. Sitzung) überwie-
sene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem
Ausschuss für Wirtschaft und Energie (9. Ausschuss)

zur Mitberatung überwiesen werden:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiter-
entwicklung des Personalrechts der Beam-
tinnen und Beamten der früheren Deutschen
Bundespost

Drucksache 18/3512
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie

Der am 14.November 2014 (66. Sitzung) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Aus-
schuss für Wirtschaft und Energie (9. Ausschuss) zur
Mitberatung überwiesen werden:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Dämp-
fung des Mietanstiegs auf angespannten
Wohnungsmärkten und zur Stärkung des Be-
stellerprinzips bei der Wohnungsvermittlung

(Mietrechtsnovellierungsgesetz – MietNovG)


Drucksache 18/3121
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit

Der am 18. Dezember 2014 (76. Sitzung) überwie-
sene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Auswärti-
gen Ausschuss (3. Ausschuss), dem Innenausschuss

(4. Ausschuss) und dem Ausschuss für wirtschaftliche

Zusammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss) zur
Mitberatung überwiesen werden:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom

(Augsburg)

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Iguala ist kein Einzelfall – Zur Menschen-
rechtslage in Mexiko
Drucksache 18/3552
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

Der am 18. Dezember 2014 (76. Sitzung) überwie-
sene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Auswärti-
gen Ausschuss (3. Ausschuss), dem Ausschuss für Men-
schenrechte und Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) und
dem Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (19. Ausschuss) zur Mitberatung über-
wiesen werden:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-
Christian Ströbele, Irene Mihalic, Uwe Kekeritz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Sicherheitsabkommen brauchen Standards
Drucksache 18/3553
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

Sind Sie mit diesen Veränderungen der Tagesordnung
einverstanden? – Ich höre dazu keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Exzellenzen! Liebe
Gäste auf der Besuchertribüne! Meine Damen und Her-
ren! In der vergangenen Woche wurde Frankreich von
brutalen terroristischen Anschlägen erschüttert. 17 Men-
schen wurden skrupellos ermordet, andere zum Teil le-
bensgefährlich verletzt: Journalisten, Künstler und Poli-
zisten, die für die Republik ihren Dienst taten, unter
ihnen ein Muslim, sowie vier Franzosen jüdischen Glau-
bens. Die Ereignisse haben uns alle schockiert und
empört; denn wir haben sofort verstanden: Der Mord-
anschlag von Paris galt nicht allein einer bestimmten
Zeitung und den Menschen, die sie machen, er galt der
Freiheit der Meinung und der Presse. Er war ein de-
monstrativer Angriff auf die freie und offene Gesell-
schaft, auf unsere geschriebene und ungeschriebene Ver-
fassung, unsere Überzeugungen und unsere Werte.

Wir fühlen uns mit unseren französischen Freunden
verbunden im Schmerz und in der Trauer um die Opfer,
aber auch in der Entschlossenheit, dieser Herausforde-
rung gemeinsam zu begegnen. Franzosen und mit ihnen
Menschen überall in der Welt, auch viele Deutsche, ge-
ben seit Tagen eine ebenso entschiedene Antwort auf





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

diesen Angriff auf die Grundlagen unseres gesellschaft-
lichen Zusammenlebens. Die demonstrativ erhobenen
Stifte und Plakate als Zeichen für das freie Wort, die mil-
lionenfach geteilte Parole „Je suis Charlie“, „Ich bin
Journalist, bin Jude, bin Polizist, bin Ahmed“, vermitteln
die unmissverständliche Botschaft: „Nous sommes tous
Charlie“. Wir alle sind gemeint. Wir lassen uns nicht ein-
schüchtern, und schon gar nicht werden wir die Prin-
zipien aufgeben, die seit der Französischen Revolution
gemeinsame Grundlage der europäischen Zivilisation
geworden sind: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.


(Beifall im ganzen Hause)

Wir sind überzeugt: Wenn es Freiheit geben soll,

muss sie für alle gelten. Wenn es Gleichheit geben soll,
muss sie für alle Menschen gleiche Rechte und Pflichten
bedeuten, unabhängig von Herkunft, Glaube und Ge-
schlecht. Wenn Brüderlichkeit mehr ist als ein Wort,
muss sie sich in Solidarität für die Schwächeren, die Är-
meren, die Benachteiligten in unseren Gesellschaften
ausdrücken.

Demokratie ist die in Europa gewachsene Verfassung
der Freiheit. Aber wir wissen auch, zumal aus der langen
schwierigen eigenen Geschichte, dass Freiheit nur mög-
lich ist, wenn Zweifel erlaubt sind: Zweifel an dem, was
wir kennen, was wir gelernt haben, was wir wissen und
zu wissen glauben, was wir zu glauben gelernt haben.
Der Zweifel ist der Zwillingsbruder der Freiheit. Ohne
Zweifel an tradierten Positionen und Kritik an bestehen-
den Verhältnissen gibt es weder Fortschritt noch Frei-
heit. Deshalb hat die Freiheit der jeweils eigenen Mei-
nung, der Rede, der Kunst und nicht zuletzt der Presse
eine herausragende, unaufgebbare Bedeutung für die Le-
bensbedingungen in unseren demokratisch verfassten
Gesellschaften. Deshalb werden wir sie von niemandem
zur Disposition stellen lassen.


(Beifall im ganzen Hause)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Entschlossen-

heit braucht es über den Tag hinaus; denn die Bedrohung
ist nicht eingebildet, sie ist real, jederzeit und überall,
auch bei uns. Wir werden in Staat und Gesellschaft stär-
ker als bisher vorbeugend handeln müssen, wollen wir
verhindern, dass junge Männer und auch Frauen für den
Islamismus und Dschihadismus anfällig werden und
frustriert, verblendet und verführt von Deutschland aus
für eine menschenverachtende Ideologie in einen gottlo-
sen Krieg ziehen.

Mit Kulturkampf hat Terrorismus sicher nichts zu tun,
mit Religion schon gar nicht. Unser Gegner ist nicht der
Islam, sondern der Fanatismus,


(Beifall im ganzen Hause)

nicht Religion, sondern Fundamentalismus.

Wir dürfen auch nicht übersehen, dass es längst einen
erbitterten Machtkampf in der islamisch geprägten Welt
gibt, der wenig mit Religion, aber viel mit platten Herr-
schaftsansprüchen zu tun hat.

Wer in Deutschland die angebliche „Islamisierung des
Abendlandes“ auf öffentlichen Straßen und Plätzen pro-
klamiert, betreibt Demagogie statt Aufklärung.


(Beifall im ganzen Hause)

Wer wirklich an Aufklärung interessiert ist, muss sich
als Christ fragen, ob er Muslimen vorurteilslos und auf-
geschlossen gegenübertritt und ihnen einen gleichbe-
rechtigten Platz in unserer Gesellschaft ermöglicht. Wem
unter den Muslimen über rhetorische Floskeln hinaus
tatsächlich an Aufklärung gelegen ist, muss sich mit der
Frage auseinandersetzen, warum noch immer im Namen
Allahs Menschen verfolgt, drangsaliert und getötet wer-
den.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Diese Herausforderung, meine Damen und Herren,
begegnet uns allerdings nicht nur als unerklärliche und
unentschuldbare Tat verirrter einzelner Fanatiker. Auch
mit staatlicher Autorität wird im Namen Gottes gegen
Mindeststandards der Menschlichkeit verstoßen.

Saudi-Arabien hat wie beinahe alle Länder dieser
Welt das Attentat in Paris „als feigen Terrorakt“ verur-
teilt, „der gegen den wahren Islam verstößt“, und zwei
Tage später den Blogger Raif Badawi in Jeddah öffent-
lich auspeitschen lassen. Wegen Beleidigung des Islams
und Auflehnung gegen die Autoritäten ist er zu tausend
Peitschenhieben verurteilt worden, die nach dem Urteil
in den nächsten 20 Wochen alle acht Tage vollzogen
werden sollen.

Die gutgemeinte Erklärung, man dürfe den Islam
nicht mit dem Islamismus verwechseln, der religiös be-
gründete Terrorismus habe mit dem Islam nichts zu tun,
reicht nicht aus – und sie ist auch nicht wahr, ebenso we-
nig wie die beschwichtigende Behauptung, die Kreuz-
züge hätten nichts mit dem Christentum zu tun und die
Inquisition auch nicht und die Hexenverbrennung natür-
lich auch nicht.

Die Zusammenhänge sind jeweils offenkundig. Die
Frage, wie die gezielte Demütigung und Vernichtung
von Menschen im Namen Gottes überhaupt möglich ist,
und die noch wichtigere Frage, wie sichergestellt werden
kann, dass so etwas nie wieder geschieht, sind durch Ta-
buisierung nicht zu beantworten.


(Beifall im ganzen Hause)

Umso notwendiger und wichtiger ist die eindeutige

Stellungnahme von führenden Repräsentanten islami-
scher Vereine und Verbände, wie wir sie am Dienstag-
abend am Brandenburger Tor eindrucksvoll erlebt haben.
Deshalb möchte ich den Veranstaltern und allen Teilneh-
mern an dieser Kundgebung meinen Dank und unseren
Respekt ausdrücken.


(Beifall im ganzen Hause)

Ich freue mich, dass heute Morgen an dieser Veran-

staltung im Deutschen Bundestag neben den Botschaf-
tern Frankreichs und Israels Repräsentanten aller Reli-
gionsgemeinschaften teilnehmen, die ich herzlich bei
uns begrüße.


(Beifall)

Meine Damen und Herren, religiöse Orientierungen

haben für gesellschaftliches wie für politisches Handeln
weltweit keineswegs an Bedeutung verloren, sondern of-
fensichtlich zugenommen. Religion und persönliche





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

Glaubensüberzeugungen gehören auch zur Lebenswirk-
lichkeit in Deutschland als einem säkularen Staat. Das
friedliche Zusammenleben von Menschen, Völkern, Na-
tionen und Kulturen ist aber nur möglich auf der Basis
von Verständigung, Verständnis und Toleranz. Deshalb
ist die Ermutigung zum Dialog richtig.

Ein solcher Dialog von Menschen unterschiedlicher
Überzeugungen und mit unterschiedlicher kultureller
Herkunft hat aber nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn
die Bereitschaft besteht, zuzuhören, dazuzulernen und
unterschiedliche Überzeugungen wechselseitig zu re-
spektieren. Auch und gerade in liberalen Gesellschaften
gilt, dass die wechselseitige Rücksichtnahme im priva-
ten wie im öffentlichen Leben das Zusammenleben er-
leichtert. Es ist auch Politikern zumutbar, Journalisten
und Künstlern nicht weniger, mit den Freiheitsrechten
unserer Verfassung verantwortlich umzugehen und Rück-
sicht zu nehmen auf das, was anderen buchstäblich hei-
lig ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die ganz große Mehrheit in unserem Land bekennt
sich zur religiösen Vielfalt, zur weltoffenen Gesellschaft.
Deutschland steht zu seiner humanitären Verpflichtung,
Menschen, die traumatisiert dem Krieg und immer häu-
figer dem islamistischen Terror entkommen sind, Schutz
zu bieten, und es nimmt im internationalen Bündnis
seine Aufgabe wahr, Staaten und Völkern, die unter dem
Terror leiden, beizustehen. Über unsere Betroffenheit
angesichts des Anschlags in Frankreich vergessen wir
nicht, dass zeitgleich unschuldige Menschen, darunter
vor allem Muslime, zu Tausenden Opfer des Terrorismus
werden, unvorstellbare Verbrechen mit unglaublichen
Begründungen, in Nigeria, in Pakistan, in Syrien oder
dem Irak – jeden Tag!

Wir alle müssen die Werte der westlichen Demokra-
tie, die längst universelle Werte der Menschheit gewor-
den sind, gemeinsam verteidigen, und wir werden ihre
Gegner entschlossen bekämpfen. Die Idee der unantast-
baren Würde des Menschen wird am Ende stärker sein
als ideologisch verblendeter Hass.


(Beifall im ganzen Hause)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere besondere
Solidarität gilt in diesen Tagen unseren französischen
Freunden. Unser tiefes Mitgefühl ist bei allen Angehöri-
gen der Getöteten und bei den vielen Verletzten.

Ich bitte Sie, sich im Gedenken an die Opfer, als Zei-
chen unseres Respektes, unserer Anteilnahme und unse-
rer Solidarität von den Plätzen zu erheben.


(Die Anwesenden erheben sich)


Ich danke Ihnen.

Ich rufe nun den Zusatzpunkt 2 unserer Tagesordnung
auf:

Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin

anlässlich der Terroranschläge in Frankreich
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
rung 60 Minuten vorgesehen. – Hierzu stelle ich Einver-
nehmen fest. Dann verfahren wir so.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1807900100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Wir sind erschüttert und fas-
sungslos über den Tod von 17 unschuldigen Menschen,
die am Mittwoch der vergangenen Woche in Paris dem
blanken Hass des internationalen Terrorismus zum Opfer
gefallen sind. Unser Mitgefühl gilt den Angehörigen der
Opfer, den Verletzten und dem französischen Volk. Ich
habe Präsident Hollande das tiefempfundene Beileid der
Menschen in Deutschland übermittelt.

Deutschland und Frankreich verbindet eine besondere
Freundschaft. Deutschland und Frankreich stehen in die-
sen schweren Tagen zusammen. Deutschland und Frank-
reich stehen in dem Bewusstsein zusammen, dass es
hier, bei uns in Deutschland, keine Sicherheit gibt, wenn
es dort, in Frankreich, keine Sicherheit gibt. Wir stehen
in dem Bewusstsein zusammen, dass das deutsche und
das französische Schicksal in unserer globalisierten Welt
untrennbar miteinander verbunden sind. Wir stehen auch
in dem Bewusstsein zusammen, dass der Terror nicht
erst mit dem 11. September 2001 in die Welt gekommen
ist und dass er auch nicht von heute auf morgen ver-
schwinden wird.

Terror war nie weg. Terror hat immer existiert: in den
Konzentrationslagern, in den Gulags, in den Morden an
Walther Rathenau oder Matthias Erzberger, in den Mor-
den an Martin Luther King, an Zoran Djindjic, an Hanns
Martin Schleyer oder in den schrecklichen Morden des
NSU. Diese Aufzählung ist beileibe nicht vollständig,
schon gar nicht systematisch; darauf kommt es mir auch
gar nicht an.

Terror steckt auch in den Bomben auf Deutsche, die
in Tunesien Urlaub machen wollten, oder in den Bom-
ben, die in Bussen zündeten, die durch israelische Städte
fuhren. Terror steckt auch in der beklemmenden Abfolge
der Mordtaten, die wir allein im letzten Jahr erleben
mussten: in der Enthauptung von Geiseln im Irak, in der
grausamen Verfolgung und Ermordung aller, die sich der
Herrschaft und der totalitären Glaubensauslegung des IS
im Irak und in Syrien entgegenstellen, im Anschlag auf
das Jüdische Museum in Brüssel, in den tödlichen
Schüssen auf einen kanadischen Soldaten vor dem Parla-
ment in Ottawa, in der Geiselnahme und Ermordung von
Mitarbeitern und Gästen eines Cafés in Sydney, in dem
auch in seiner Dimension kaum fassbaren Massenmord
an mehr als 100 Kindern in einer Schule in Pakistan, in
den Gräueltaten der Gruppe Boko Haram in Nigeria, de-
ren ganzes Ausmaß wir nur erahnen können.

Nun, zu Beginn des neuen Jahres, hat der Terror Paris
erschüttert. Er richtete sich gegen drei Gruppen von
Menschen: gegen die Journalisten von Charlie Hebdo,





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)

ermordet für ihre Zeichnungen, gegen die Polizisten, er-
mordet in Ausübung ihres Dienstes, gegen die Kunden
eines koscheren Supermarkts, ermordet, weil sie Juden
waren oder die Mörder davon ausgingen, dort Juden an-
zutreffen.

In den schlimmen Stunden, die Paris und die Franzo-
sen zwischen Mittwochmittag und Freitagnachmittag der
letzten Woche durchlitten, ging es um zwei der großen
Übel unserer Zeit, die nicht immer, aber häufig Hand in
Hand gehen: um mörderischen islamischen Terrorismus
und Antisemitismus, den Hass auf Juden. Wir gedenken
heute hier im Bundestag der 17 bei diesen Anschlägen
ermordeten Menschen.

Das weltweite Entsetzen über die Anschläge und der
Trotz, mit dem viele reagiert haben, hatten schnell zwei
Symbole: „Je suis Charlie“, die Plakate, die die Men-
schen als Zeichen ihrer Identifikation mit der Satirezei-
tung hochhielten, und die Zeichenstifte, das Werkzeug
der Karikaturisten. Millionen Menschen aus aller Welt
spüren, dass es in der Auseinandersetzung mit den Ter-
roristen um eine unserer Grundfreiheiten geht: um die
Freiheit der Presse, die Freiheit, zu schreiben, zu filmen,
zu veröffentlichen – ohne Zensur. Es ist der Artikel 5 un-
seres Grundgesetzes, der diese Freiheit garantiert. Er ge-
hört für mich neben dem Artikel 1 zur Unantastbarkeit
der Würde des Menschen, dem Artikel 2 zur freien Ent-
faltung der Persönlichkeit, dem Artikel 3 zur Gleichheit
aller Menschen vor dem Gesetz und dem Artikel 4 zur
Freiheit des Glaubens zu den größten Schätzen unserer
Gesellschaft.


(Beifall im ganzen Hause)


Die Pressefreiheit ist nicht zu trennen von der Mei-
nungsfreiheit des einzelnen Bürgers. Ja, Bürger sein und
nicht Untertan, das ist doch nur möglich, wenn es eine
freie Presse gibt, wenn wir ungehindert an die Informa-
tionen kommen können, die uns eine eigene Meinung,
ein eigenes Urteil erlauben.

Viele Staaten auf der Welt haben sich auf dem Papier
ihrer Gesetze und Verfassungen der Pressefreiheit ver-
schrieben. Die Wirklichkeit spricht oft eine andere Spra-
che: „Reporter ohne Grenzen“ listet für 2014 66 Journa-
listen auf, die wegen ihrer Arbeit getötet wurden,
119 Entführungen, 178 Journalisten in Haft. „Reporter
ohne Grenzen“ schreibt, die Morde an Journalisten wür-
den immer grausamer, und die Zahl der Entführungen
wachse rasant. Aus zu vielen Ländern gibt es von ver-
folgten, gequälten und ermordeten Journalisten zu be-
richten. Pressefreiheit auf dem Papier ist also noch nicht
viel wert, sie ist immer konkret, sonst gibt es sie nicht. In
viel zu vielen Ländern dieser Welt gibt es sie nicht.

Wir in Deutschland, wir in Europa haben wahrlich
keinen Grund, mit erhobenem Zeigefinger zu sprechen,
zu leidvoll war das jahrhundertelange Blutvergießen auf
unserem Kontinent, bis hin zum von Deutschland began-
genen Zivilisationsbruch der Schoah. Aber wir können
nach all den Schrecken der Vergangenheit davon erzäh-
len, dass wir in Europa endlich einen Umgang mit unse-
rer Vielfalt gelernt haben, der aus dieser Vielfalt das
meiste macht. Wir können davon erzählen, dass die Ei-
genschaft, die uns dazu befähigt hat, die Toleranz ist. Sie
ist eine anspruchsvolle Tugend. Sie ist nicht mit Stand-
punktlosigkeit zu verwechseln, wie auch die Freiheit
niemals mit Bindungslosigkeit zu verwechseln ist, son-
dern stets und für jeden mit Verantwortung verbunden
ist. Das gilt für unser persönliches Leben wie für die
Politik wie auch für die Medien; das gilt für alle.

Freiheit und Toleranz haben niemals das geringste
Verständnis für Gewalt durch Links- oder Rechtsextre-
mismus, für Antisemitismus oder für Gewalt im Namen
einer Religion. Freiheit und Toleranz sind ihre eigenen
Totengräber, wenn sie sich nicht vor Intoleranz schützen.
Religionsfreiheit und Toleranz meinen nicht, dass im
Zweifelsfall die Scharia über dem Grundgesetz steht.
Freiheit und Toleranz bedeuten nicht wegsehen oder das
Messen mit zweierlei Maß.

Ich bin am Sonntag zusammen mit meinen Kollegen
aus der Bundesregierung, den Ministern Sigmar Gabriel,
Thomas de Maizière und Frank-Walter Steinmeier, in
Paris gewesen. Auch die Vizepräsidentin des Deutschen
Bundestages, Claudia Roth, der stellvertretende Frak-
tionsvorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Hans-Peter
Friedrich, und die Vorsitzenden von Bündnis 90/Die
Grünen, Simone Peter und Cem Özdemir, waren da, um
den Millionen von Franzosen auf den Straßen und Plät-
zen Frankreichs zu zeigen: Deutschland fühlt sich ihnen
in Freundschaft und Solidarität nah.

Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass die
Mörder von Paris mit ihren Taten jeden mitfühlenden
Menschen angewidert und abgestoßen haben, dann ha-
ben die mehr als 3 Millionen Menschen in Paris und an-
deren französischen Städten am Wochenende wie auch
die Menschen vorgestern bei der Mahnwache am Bran-
denburger Tor diesen Beweis geliefert.


(Beifall im ganzen Hause)


Es ist ein Meer von Freiheitsfreunden, die im Angesicht
der Verbrechen das Gemeinsame ineinander entdecken
– vielleicht klarer als je zuvor –, ein Meer von Bürgern,
die sich aufrichten, wenn der Terror sie in die Knie zwin-
gen will, ein Meer von Menschen, das sich nicht der
kranken Logik der Terroristen folgend in christlich, mus-
limisch, jüdisch, nichtgläubig spalten lässt.

Auch wir in Deutschland wollen und werden uns
nicht spalten lassen. Wir lassen uns nicht spalten von de-
nen, die heute Menschen in Deutschland anpöbeln, be-
drohen und angreifen, wenn sie sich irgendwie als Juden
zu erkennen geben oder für den Staat Israel Partei ergrei-
fen. Wir machen unmissverständlich klar: Jüdisches Le-
ben gehört zu uns, es ist Teil unserer Kultur und Identi-
tät. Diskriminierung und Ausgrenzung dürfen bei uns
keinen Platz haben.


(Beifall im ganzen Hause)


Deshalb werden wir antisemitische Straftaten konse-
quent mit allen rechtsstaatlichen Mitteln verfolgen. Die
Bekämpfung des Antisemitismus ist unsere staatliche
und bürgerliche Pflicht. Das gilt genauso auch für An-
griffe auf Moscheen. Auch sie nehmen wir nicht hin,
auch sie werden konsequent verfolgt; denn wir lassen





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)

uns nicht von denen spalten, die angesichts des islamisti-
schen Terrors Muslime in Deutschland unter einen Ge-
neralverdacht stellen. Jede Ausgrenzung von Muslimen
in Deutschland, jeder Generalverdacht, verbietet sich.


(Beifall im ganzen Hause)


Als Bundeskanzlerin nehme ich die Muslime in unserem
Land dagegen in Schutz, und das tun wir in diesem
Hause alle.


(Beifall im ganzen Hause)


Die allermeisten Muslime in Deutschland sind recht-
schaffene, verfassungstreue Bürger. Wir müssen hier
zweierlei auseinanderhalten: Wir garantieren, dass der
Glaube des Islam in Deutschland im Rahmen unserer
Verfassung und der übrigen Gesetze frei ausgeübt wer-
den kann, und wir bekämpfen jede Form islamistischer
Gewalt mit der ganzen Entschlossenheit unseres Rechts-
staates.

Das bedeutet unter anderem:

Erstens. Hassprediger und Gewalttäter, die im Namen
des Islam vorgehen, ihre Hintermänner und geistigen
Brandstifter des internationalen Terrorismus werden mit
aller Konsequenz und mit allen Mitteln bekämpft, die
uns als Rechtsstaat zur Verfügung stehen.

Zweitens. Die Bundesregierung hat gestern die Ein-
führung eines Ersatz-Personalausweises beschlossen,
der nicht zum Verlassen Deutschlands berechtigt. Damit
wollen wir die Ausreise deutscher Staatsbürger in Kon-
fliktgebiete und Terrorlager unterbinden; denn wir be-
trachten das Phänomen der Ausreise zumeist junger
Menschen, die sich in Syrien und im Irak terroristischen
Gruppierungen anschließen, mit großer Sorge. Diejeni-
gen, die später nach Deutschland zurückkehren, haben
mit ihrer zunehmenden Verrohung auch für uns in
Deutschland das größte Gefahrenpotenzial.

Drittens. Die Bundesregierung wird in Kürze das Ge-
setzesvorhaben des Justizministers zur verbesserten Be-
kämpfung der Terrorismusfinanzierung und zur Strafbar-
keit der Ausreise in Konfliktgebiete beschließen. Es
handelt sich hierbei um die Umsetzung der entsprechen-
den UN-Resolution.

Viertens. Der Europäische Rat im Februar 2015 wird
sich auch mit den Maßnahmen befassen, die die Innen-
minister von elf EU-Mitgliedstaaten am letzten Wochen-
ende in Paris beraten haben: Maßnahmen zum Kampf
gegen den illegalen Waffenhandel, zur Zusammenarbeit
der Transitstaaten, zur Überwachung der Reisebewegun-
gen an den EU-Außengrenzen und zum Abgleich der
Fluggastdaten von Gefährdern.

Fünftens. Wir müssen den Sicherheitsbehörden insge-
samt die erforderliche personelle und finanzielle Aus-
stattung verschaffen, die sie benötigen, um unsere Si-
cherheit bestmöglich zu gewährleisten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir müssen sie in die Lage versetzen, ihre Arbeit auch
unter veränderten Lageanforderungen und veränderten
technischen Rahmenbedingungen zu erbringen. Dem
dient auch die Novelle des Bundesverfassungsschutzge-
setzes, und ich möchte diese Möglichkeit nutzen, um al-
len, die sich um die Sicherheit unseres Landes verdient
machen, ein herzliches Dankeschön zu sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sechstens. Der Europäische Gerichtshof und das Bun-
desverfassungsgericht haben den Rahmen beschrieben,
in dem eine Regelung der Mindestspeicherfristen für
Kommunikationsdaten erfolgen kann. Angesichts der
parteiübergreifenden Überzeugung aller Innenminister
von Bund und Ländern, dass wir solche Mindestspei-
cherfristen brauchen, sollten wir darauf drängen, dass
die von der EU-Kommission hierzu angekündigte über-
arbeitete EU-Richtlinie zügig vorgelegt wird, um sie an-
schließend auch in deutsches Recht umzusetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Siebtens. Bei der Arbeit unserer deutschen Nachrich-
tendienste und auch bei der Zusammenarbeit mit unseren
Partnerdiensten muss ohne jeden Zweifel stets die Ba-
lance von Freiheit und Sicherheit gewahrt werden. Aber
ebenso ohne jeden Zweifel ist und bleibt der Informa-
tionsaustausch auch über Ländergrenzen hinweg für un-
sere Sicherheit absolut unverzichtbar.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Achtens. Deutschland wird sich als Teil der interna-
tionalen Gemeinschaft unvermindert politisch, humani-
tär sowie mit militärischer Ausrüstung und Ausbildung
am Kampf gegen die Terrormiliz IS im Irak oder in Sy-
rien beteiligen. Unsere Beteiligung wird nicht in Syrien
stattfinden, aber die IS ist dort tätig.

Neuntens. Wahrlich nicht zuletzt müssen wir darauf
hinwirken, dass sich junge Menschen bei uns gar nicht
erst von extremistischen Rattenfängern angesprochen
fühlen. Die Bundesregierung unterstützt deshalb vielfäl-
tige Aktivitäten und Projekte, die Toleranz fördern, So-
zialkompetenz und Demokratieverständnis stärken, ge-
rade auch für die Jugend- und Elternarbeit. Wir müssen
bereits in den Familien allen Formen extremistischer
Diskriminierung und Gewalt den Boden entziehen.

Meine Damen und Herren, Terroristen sagen, sie
wollten den Staat und seine Repräsentanten, den Westen,
ein System oder wie immer es heißt, treffen. Auslöser
soll eine misslungene Kindheit, eine misslungene Schul-
karriere, persönliche Zurücksetzung sein. Andere sagen,
außerdem sei Religion im Spiel. – Nein, all das über-
zeugt mich nicht.

Jeder Terrorist, der eine Explosion auslöst oder der
Schüsse abgibt, weiß, dass er Menschen trifft, die er in
der Regel nicht einmal kennt, die ihm nichts getan ha-
ben, die ihm nichts schuldig sind. Jeder Terrorist trifft
daher eine eigene persönliche Entscheidung, für die er





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)

die Verantwortung übernehmen muss. Sie kann mit einer
misslungenen Kindheit nicht gerechtfertigt werden. Sie
hat auch mit Religion insgesamt nichts zu tun.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wahrscheinlich hat sie mit einer speziellen Auslegung
von Religion zu tun, die in der Anmaßung besteht, an
der Stelle Gottes handeln, strafen, töten zu dürfen. Das
aber ist für mich Gotteslästerung; nichts anderes.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die tatsächlichen Beweggründe von Terrorismus lie-
gen anderswo. Sie liegen in der Überzeugung, über an-
deren zu stehen, weil man meint, Gottes Stellvertretung
zu sein, weil man eine historische Mission haben will,
weil man überzeugt ist, durch Glaube, Herkunft, Ab-
stammung, Geschlecht über anderen zu stehen.

Die allermeisten Menschen in Deutschland sind keine
Feinde des Islam. Sie sind in ihrem Urteil unsicher, auch
ratlos. Sie sind nicht mit dem Koran aufgewachsen, ich
persönlich auch nicht. Sie tun sich schwer damit, wenn
ich den Gedanken des früheren Bundespräsidenten
Wulff unterstütze, als er zum Tag der Deutschen Einheit
im Jahre 2010 sagte – ich zitiere ihn noch einmal –:

Zuallererst brauchen wir aber eine klare Haltung,
ein Verständnis von Deutschland, das Zugehörig-
keit nicht auf einen Pass, eine Familiengeschichte
oder einen Glauben verengt, sondern breiter ange-
legt ist. Das Christentum gehört zweifelsfrei zu
Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu
Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Ge-
schichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu
Deutschland.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Menschen fragen mich, welcher Islam gemeint
ist, wenn ich diesen Gedanken zitiere. Sie wollen wis-
sen, warum Terroristen den Wert eines Menschenlebens
so gering schätzen und ihre Untaten stets mit ihrem
Glauben verbinden. Sie fragen, wie man dem wieder und
wieder gehörten Satz noch folgen kann, dass Mörder, die
sich für ihre Taten auf den Islam berufen, nichts mit dem
Islam zu tun haben sollen. Ich sage ausdrücklich: Das
sind berechtigte Fragen. Ich halte eine Klärung dieser
Fragen durch die Geistlichkeit des Islam für wichtig, und
ich halte sie für dringlich. Ihr kann nicht länger ausgewi-
chen werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Katja Kipping [DIE LINKE])


Meine Damen und Herren! Wir alle haben Fremdbil-
der im Kopf. Niemand von uns ist ohne Fremdbilder. Sie
bestehen aus Erfahrungen, Gehörtem, aus ungeprüften
eigenen Vorstellungen, auch aus Ängsten. Sie sind teils
richtig und teils falsch. Bei manchen werden Fremdbil-
der zu Feindbildern. Das lässt sich durch Aufklärung
und Kennenlernen verhindern.

Langfristig hilft nur Demokratie als Lebensprinzip. In
der Schule können Heranwachsende lernen, wie Stand-
punkte zu entwickeln sind und dass das bessere Argu-
ment am Ende zählt. In den Schüler- und Jugendvertre-
tungen kann gelernt werden, wie legitime Ansprüche
durchgesetzt und Kompromisse geschlossen werden.
Auch Betriebs- und Personalräte können Schulen der
Demokratie sein, ebenso Sportvereine, in denen erfahren
werden kann, wie das Einhalten von Regeln allen dient.

In den Städten und Gemeinden engagieren sich un-
zählige Bürger unseres Landes. Sie beraten, weil sie Be-
scheid wissen. Viele finden den Weg in die Kommunal-
parlamente. Sie stellen sich der Wahl der Bürgerinnen
und Bürger. Tausende verbringen ihre Freizeit damit,
sich in der Kirchenarbeit zu engagieren. Bis ins hohe Al-
ter arbeiten Frauen und Männer für andere, sorgen sich
darum, dass Altersgenossen mit Lebensmitteln versorgt
werden, begleiten sie, bringen Patienten in Krankenhäu-
sern Lesestoff und setzen sich an ein Bett, um ein Ge-
spräch zu beginnen. Diese Bürgerinnen und Bürger, sie
sind die stillen Helden unseres Lebens.


(Beifall im ganzen Hause)

Wir sollten unsere Gesellschaft wachrütteln für dieses

Lebensprinzip der Demokratie: für das Mitreden, Mit-
entscheiden, Hilfeleisten und dafür, Verantwortung zu
übernehmen. Kaum etwas ist wichtiger für unser Le-
bensgefühl als die Erfahrung, geschätzt, gebraucht und
in dieser großen zivilen Gemeinschaft der Freiheit und
Verantwortung respektiert zu werden. Das ist unser Ge-
genentwurf zur Welt des Terrorismus, und er ist stärker
als der Terrorismus.

Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1807900200

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem

Kollegen Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807900300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bun-

deskanzlerin, ich stimme Ihnen bei der schärfsten Verur-
teilung der erlebten Terroranschläge in vollem Umfange
zu. Ich begrüße auch die gemeinsame Verurteilung durch
den Bundestag, halte diese allerdings für selbstverständ-
lich.

Diese Attentate sind ein Angriff auf die Demokratie,
die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit und das Recht
auf Leben. Es ist völlig legitim, Satire mal als ge-
schmackvoll, mal als geschmacklos einzuschätzen. Aber
Satire darf alles, sonst kann sie ihren Charakter nicht
austragen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)






Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)

Ein großes Erlebnis war für mich die Mahnwache am
Brandenburger Tor auf Einladung der muslimischen Ver-
bände. Die gemeinsame Verurteilung der terroristischen
Akte durch Christinnen und Christen, Muslima und
Muslime, Jüdinnen und Juden, Atheistinnen und Atheis-
ten, kurz: durch die gesamte Gesellschaft, war ein wich-
tiger Akt.

Wir müssen nun allerdings den Missbrauch der Ter-
roranschläge durch die Anführer der Pegida-Bewegung
verhindern.


(Beifall bei der LINKEN)


Ein demokratisches, tolerantes und weltoffenes Zusam-
menleben mit friedlichen Bürgerinnen und Bürgern,
auch mit anderer Kultur und anderen Religionen, muss
gefördert werden. Die große Mehrheit der Menschen
ging für diese Ziele auf die Straße. Pegida spricht für
eine Minderheit, nicht für das Volk. Die große Mehrheit
denkt und handelt völlig anders.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb ist es wichtig, dass wir Pegida geschlossen ver-
urteilen. Niemand sollte versuchen, zum halben parla-
mentarischen Arm dieser Bewegung zu werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Es existieren abstrakte Ängste vor dem Fremden. Mit-
läufer, die keine Nazis sind, müssen wir für die Gesell-
schaft zurückgewinnen; das wird schwer genug. Wir
brauchen eine gemeinsame Aufklärungskampagne durch
ein Aufklärungsbündnis aller Fraktionen im Bundestag,
aller kirchlichen Konfessionen und aller Gewerkschaften
zusammen mit der Kunst, der Kultur, dem Sport und den
Wissenschaften.


(Beifall bei der LINKEN)


Aber die Hauptverantwortung liegt bei der Politik. Ich
sage das hier so offen: Beim Abbau von Ängsten haben
wir alle versagt. Wir sollten diesbezüglich selbstkritisch
über uns nachdenken.


(Beifall bei der LINKEN)


Menschen in Not brauchen Hilfe. Staat und Gesell-
schaft sind verpflichtet, ihnen zu helfen. Das gilt nicht
nur für durch Krieg und Bürgerkrieg traumatisierte
Flüchtlinge, sondern auch für alle Bürgerinnen und Bür-
ger, die in große Not geraten sind. Deshalb müssen wir
allen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern, wie Sie
es getan haben, Frau Bundeskanzlerin, danken, die so
viel Zeit damit zubringen, Flüchtlingen und anderen zu
helfen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber ich füge hinzu: Die Demonstrantinnen und Demon-
stranten von Pegida würden, wenn sie in der gleichen Si-
tuation wären wie die Flüchtlinge, ebenso Hilfe verlan-
gen und erwarten und wahrscheinlich auch bekommen.
Der Ruf der Union nach stärkeren Geheimdiensten
sowie schärferen Gesetzen und insbesondere nach einer
Vorratsdatenspeicherung löst – das gilt auch für das, was
Sie dazu gesagt haben, Frau Bundeskanzlerin – die Pro-
bleme nicht, im Gegenteil.


(Beifall bei der LINKEN)

Dieser Versuch wurde jedes Mal unternommen und blieb
wirkungslos. In Frankreich gibt es eine umfassende Er-
fassung von Vorratsdaten sowie eine sehr enge Zusam-
menarbeit von Geheimdiensten und Polizei. Das schreck-
liche Attentat konnte so aber nicht verhindert werden.
Das Gegenteil ist richtig: Umfassende Bürgerrechte und
eine stärkere Demokratie sind wichtige Voraussetzungen
im Kampf gegen den Terrorismus.


(Beifall bei der LINKEN)

Der Terrorismus, für den der Islam missbraucht wird,

hat Ursachen. Al-Qaida und „Islamischer Staat“ sind
auch Folge und Produkte von Militärinterventionen. Al-
Qaida entstand im Krieg in Afghanistan während der Be-
satzung durch die Sowjetunion. Damals rüsteten die
USA die Taliban und diese Terrorgruppe im Kampf ge-
gen die Sowjetunion auf nach dem Motto „Der Feind
meines Feindes ist mein Freund“. Nach dieser Logik
wurde auch im Bürgerkrieg in Syrien verfahren. Die
USA, Saudi-Arabien, Katar und andere Golfstaaten un-
terstützten Terrororganisationen im Kampf gegen Assad.
Der „Islamische Staat“ entstand. Erst spät, viel zu spät
wurde diese offene Unterstützung eingestellt. Der Irak-
krieg von 2003 war völkerrechtswidrig und ein großer
Fehler mit verheerenden Folgen.


(Beifall bei der LINKEN)

Wenn wir die Ursachen und Bedingungen von Terro-

rismus wirksam bekämpfen wollen, dann heißt das für
uns: Wir müssen weltweit für die Achtung des Rechts
auf Leben eintreten.


(Beifall bei der LINKEN)

Das wiederum verlangt, zu begreifen: Erstens. Die Stra-
tegien von NATO und den USA, Regimewechsel und die
Durchsetzung ökonomischer Interessen von außen durch
Krieg herbeizuführen, sind nicht nur gescheitert. Im
Krieg wird Leben vernichtet. Dadurch entsteht eine Ver-
achtung des Rechts auf Leben. Diese Verachtung ist eine
Bedingung des Terrorismus. Im Krieg entsteht mehr und
neuer Hass, der zur Verachtung von Leben, aber auch zur
Bereitschaft zu Terrorismus führen kann. Wenn als Kol-
lateralschaden eine Hochzeitsgesellschaft in Afghanistan
getötet wird, was, glauben Sie von Union, SPD und Grü-
nen denn, entsteht im Umfeld: Freundschaft, Dankbar-
keit oder Hass?

Man kann anderen Gesellschaften auch nicht eine an-
dere Kultur aufzwingen. Der Afghanistan-Krieg sollte
al-Qaida zerstören. Diese Terrororganisation ist aber nur
umgezogen nach Pakistan und hat dort gerade über
100 Kinder getötet. Not und Elend in Afghanistan haben
sich vergrößert. Sie alle wissen, dass Ihre Entscheidung
für den Afghanistan-Krieg falsch war, haben aber nicht
den Mut, das einzuräumen und die entsprechenden
Schlussfolgerungen zu ziehen.


(Beifall bei der LINKEN)






Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)

Ohne die genannte falsche Aufrüstung in Syrien und
ohne den falschen Irakkrieg gäbe es den „Islamischen
Staat“ nicht, zumindest nicht so, wie er heute existiert.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Staaten in Libyen, im Irak, im Sudan und in Somalia
sind zerstört. Wer Terrorismus überwinden will, muss
Kriege stoppen.


(Beifall bei der LINKEN)


Deutschland darf sich nie wieder an Kriegen beteiligen
und – wie beim Jugoslawien-Krieg – das Völkerrecht
über Bord werfen.

Zweitens. Die deutschen Waffenexporte, zumindest
die an Diktaturen und in Kriegs- und Krisengebiete,
müssen doch unverzüglich gestoppt werden, auch und
gerade an das auspeitschende Saudi-Arabien.


(Beifall bei der LINKEN)


Drittens. Terrorismus nutzt auch Hunger, Armut,
Elend und Bildungsnotstand oder die Angst der Men-
schen, in Hunger, Armut, Elend oder Bildungsnotstand
abzustürzen, aus. Der Kampf gegen Hunger, Armut,
Elend und Bildungsnotstand ist also nicht nur aus huma-
nistischen Gründen, nicht nur wegen der sozialen Ge-
rechtigkeit erforderlich, sondern auch, um begünsti-
gende Bedingungen für den Terrorismus zu überwinden,
um die Achtung für Menschenleben zu erhöhen.


(Beifall bei der LINKEN)


Jedes Jahr sterben auf der Erde 70 Millionen Men-
schen und davon 18 Millionen an Hunger oder den Fol-
gen von Hunger, obwohl wir weltweit Nahrungsmittel
besitzen, die die Menschheit zweimal ernähren könnten.
Wir können die Fragen der Hungernden nicht beantwor-
ten, wir müssen den Hunger endlich überwinden.


(Beifall bei der LINKEN)


Es entsteht immer mehr Reichtum in immer weniger
Händen, während sich andererseits die Armut weltweit
verbreitet, auch in Europa, auch in Deutschland. Wir
brauchen eine andere Entwicklungspolitik für die Kri-
senregionen, die Not und Elend überwindet, die Ent-
wicklung ermöglicht; nicht die Interessen der eigenen
Konzerne dürfen der Maßstab sein. Das ist übrigens
auch die beste Friedenspolitik und die beste Politik zur
Bekämpfung von Ursachen von Flucht.

Viertens. Auch die Menschheitsfragen wie die Nach-
haltigkeit in der Ökologie, die Verhinderung einer Kli-
makatastrophe müssen endlich gelöst werden. Wenn ge-
rade bei großen Staaten ökonomische Interessen den
Vorrang haben, dann bringt das eine Verachtung zum
Recht auf Leben zum Ausdruck.

Wir brauchen also, wenn wir Terrorismus wirksam
bekämpfen wollen und auch aus vielen anderen Grün-
den, gerade in den USA und im gesamten Westen und
auch hier in Deutschland eine Wende in der Politik. Las-
sen Sie uns die Situation ernst nehmen und gemeinsam
über Konsequenzen beraten.


(Beifall bei der LINKEN)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1807900400

Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin

Kotting-Uhl das Wort.


Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807900500

Herr Gysi, ich hatte mich zu einer Zwischenbemer-

kung gemeldet, als Sie davon geredet haben, dass der
Kriegseinsatz in Afghanistan mit ursächlich für den Ter-
rorakt verantwortlich ist, der vor kurzem passiert ist, und
für den Terror insgesamt, den wir erleben. Ich möchte
mich als eine Parlamentarierin, die nie für diese Einsätze
in Afghanistan war, die keinem dieser Einsätze je zuge-
stimmt hat, sondern sie immer konsequent abgelehnt hat,
und zwar mit einer Argumentation, in der Sie, die Frak-
tion Die Linke, und ich uns durchaus nahe stehen, gegen
die Unterstellung verwahren, dass das gesamte Parla-
ment mit Ausnahme der Fraktion Die Linke diesen heu-
tigen Terror mitverursacht hat. Der Terror war vor dem
Einsatz in Afghanistan da.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1807900600

Das Wort erhält nun der Kollege Thomas Oppermann

für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Thomas Oppermann (SPD):
Rede ID: ID1807900700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit den

Anschlägen von Paris wollten die Terroristen nicht nur
in Frankreich, sondern in ganz Europa Angst und Schre-
cken verbreiten. Das war ein Angriff auf die freie Presse,
das war der Versuch, freie Menschen in einer offenen
Gesellschaft einzuschüchtern, aber das ist den Terroris-
ten nicht gelungen; sie haben ihr Ziel nicht erreicht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Denn die Franzosen haben am Sonntag die stärkste
Antwort gegeben, die man sich vorstellen kann. Sie ha-
ben nicht nach Vergeltung und Rache gerufen, sie haben
nicht den Polizeistaat gefordert, sondern Millionen sind
auf die Straße gegangen, um zu trauern, aber auch um
klar zu zeigen: Wir lassen uns von den Terroristen nicht
spalten, wir stehen zusammen, wir bieten dem Terror die
Stirn, und wir verteidigen die Freiheit, die Demokratie
und die Menschlichkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Frankreich hat damit der Welt eindrucksvoll gezeigt,
dass Freiheit und Demokratie stärker sind als die zerstö-
rerischen Kräfte von Terror und Hass. Ich finde, dafür
müssen wir den Franzosen dankbar sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Terroranschläge in Paris lenken den Blick auch
auf die Situation der Muslime in Deutschland; denn sie





Thomas Oppermann


(A) (C)



(D)(B)

haben es in diesen Zeiten schwer. Ihr Glaube, ihre Reli-
gion, der Islam, wird durch die tägliche Berichterstat-
tung über die Kriege im Nahen Osten und in Afrika nur
noch in der hässlichen Fratze des Dschihadismus darge-
stellt und wahrgenommen. Abend für Abend setzen sich
diese Bilder in den Köpfen fest. Dass sich die Terroristen
auf den Islam berufen und damit das religiöse Empfin-
den vieler friedlicher Muslime mit Füßen treten, das ist
eigentlich schon schlimm genug. Wenn jetzt aber Millio-
nen friedfertiger Muslime in Deutschland in einen Topf
mit Terroristen geworfen werden, dann ist das eine un-
verantwortliche politische Brandstiftung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir alle wissen: Das kann leicht zu einer Eskalation der
Gewalt führen. Deshalb müssen wir uns jetzt vor die
Muslime stellen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])


Die Organisation Pegida und ihre Demonstranten for-
dere ich auf, endlich aufzuhören mit der Stimmungsma-
che gegen Andersgläubige und gegen Einwanderer in
Deutschland.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Diese Leute hätten dem Bundespräsidenten zuhören sol-
len, als er am Dienstag auf dem Pariser Platz gesagt hat:
Egal ob Juden, Christen, Muslime oder Nichtgläubige:
„Wir alle sind Deutschland!“ – Das sollte sich Pegida zu
Herzen nehmen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich freue mich, dass an die 100 000 Menschen in
Leipzig, in München, in Hannover, in Berlin und in an-
deren Städten auf die Straße gegangen sind und dagegen
demonstriert haben. Das zeigt, dass die demokratische
Mitte in Deutschland die unsäglichen Aktionen von Pe-
gida nicht länger widerspruchslos hinnehmen will.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber wir müssen uns auch fragen, warum sich über
500 junge Menschen aus Deutschland islamistischen
Terrormilizen angeschlossen haben. Der islamistische
Terror übt mit seiner Ideologie von Gewalt, Macht und
Märtyrertum offenbar eine große Anziehungskraft auf
immer mehr junge Menschen aus. Unter dem Deckman-
tel der Religion nutzt er die Schwäche junger Menschen.
Wer keinen Schulabschluss hat, wer keine Arbeit findet,
wer ein schwaches Selbstwertgefühl besitzt, wer sich
ausgegrenzt fühlt und keine Aufstiegschancen hat, der
ist anfälliger für eine solche Ideologie. Die Bundeskanz-
lerin hat zu Recht darauf hingewiesen, dass das in keiner
Weise Terror und Gewalt rechtfertigen kann.

Aber richtig ist trotzdem: Ausgrenzung ist immer der
Nährboden für Radikalisierung. Deshalb müssen wir
diese Radikalisierung im Ansatz verhindern.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Deshalb ist es gut, dass die Jugendministerin die Mittel
für Prävention aufgestockt hat. Wir haben alle notwendi-
gen arbeitsmarktpolitischen Instrumente. Wir müssen
die Jugendlichen fördern und fordern, und wir müssen
sie aus dieser Ecke herausholen, bevor die salafistischen
Hassprediger sie dort abholen können.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dabei müssen uns selbstverständlich auch die muslimi-
schen Verbände in Deutschland unterstützen.

Meine Damen und Herren, Prävention hilft vor allem
auf lange Sicht. Aber im Augenblick müssen wir sagen:
Was in Paris passiert ist, das kann überall in Europa pas-
sieren. Wir hier in Deutschland hatten sicher auch
Glück. Aber in den vergangenen Jahren ist es gelungen,
mehrere Anschläge zu verhindern. Ich habe deshalb Ver-
trauen in unsere Sicherheitsbehörden und möchte ihnen
ausdrücklich für ihre schwierige Arbeit danken.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Menschen erwarten zu Recht, dass wir alles tun,
um uns vor diesem Terror zu schützen. Eine potenzielle
Gefahr sind vor allem die vielen Rückkehrer aus Syrien
oder aus dem Irak. Gestern hat das Kabinett den Gesetz-
entwurf des Innenministers beschlossen, um gewaltbe-
reiten Dschihadisten den Personalausweis entziehen zu
können, wenn sie ausreisen wollen. Der Justizminister
wird einen Gesetzentwurf zur Bekämpfung der Terrorfi-
nanzierung und zur schärferen Bestrafung von Reisen in
Terrorcamps vorlegen. Das sind richtige und notwendige
Schritte.

Gesetze allein aber genügen nicht. Ich will – das, was
ich heute in der Zeitung über IS-Aktivisten in Wolfsburg
gelesen habe, bestärkt mich darin –, dass unsere Sicher-
heitsbehörden in der Lage sind, gewaltbereiten Rück-
kehrern 24 Stunden am Tag auf den Füßen zu stehen.
Kein gewaltbereiter Syrien-Rückkehrer darf sich in
Deutschland mehr unbeobachtet fühlen, meine Damen
und Herren.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wenn die personellen Ressourcen dafür nicht ausrei-
chen, dann müssen wir sie rasch erhöhen.

Auch über das Thema Mindestspeicherfristen sollten
wir in der Koalition in Ruhe reden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)






Thomas Oppermann


(A) (C)



(D)(B)

Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart:

Wir werden die EU-Richtlinie über den Abruf und
die Nutzung von Telekommunikationsverbindungs-
daten umsetzen.

Daran fühlen wir uns gebunden. Allerdings ist die Um-
setzung zurzeit nicht möglich; denn der Europäische Ge-
richtshof hat die EU-Richtlinie für nichtig erklärt und für
eine Neufassung sehr strenge Auflagen erteilt.

Deshalb ist es jetzt an der Kommission, eine neue
Richtlinie zu erarbeiten. Das sollten wir zunächst abwar-
ten.


(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Das stimmt so nicht!)


Das gebietet auch der Respekt vor den beiden höchsten
Gerichten in Deutschland und in der Europäischen
Union. Wir sollten ohnehin – da stimme ich der Kanzle-
rin zu, und das machte auch der französische Premiermi-
nister in seiner Rede vor der Nationalversammlung deut-
lich – die ganze Diskussion mit Augenmaß und
Nachdenklichkeit führen; denn wenn wir unsere Freiheit
im Interesse einer vermeintlich perfekten Sicherheit zu
sehr einschränken, dann fehlt am Ende beides; dann ha-
ben wir weder Freiheit noch Sicherheit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir Pegida und den damit verbundenen Stim-
mungsmachern in unserem Land das Wasser abgraben
wollen, dann müssen wir auch offen über Einwanderung
reden. Deutschland verliert im kommenden Jahrzehnt in
jedem Jahr 400 000 Menschen im erwerbsfähigen Alter,
und diese Lücke lässt sich nicht allein durch eine Erhö-
hung der Erwerbsbeteiligung von Frauen oder durch die
Qualifizierung von Arbeitslosen schließen. Dazu brau-
chen wir qualifizierte Einwanderer in großer Zahl, und
darauf müssen wir alle vorbereiten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Deutschland ist schon jetzt ein Einwanderungsland.
Wir sind das drittattraktivste Einwanderungsland der
Welt. Allein in den letzten beiden Jahren sind über
900 000 ganz überwiegend gut und sehr gut ausgebildete
Einwanderer aus der EU zu uns gekommen.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Unser Aufenthaltsrecht ist toll!)


Ohne diese Einwanderer gäbe es keine Überschüsse in
den Sozialversicherungen. Ohne diese Einwanderer und
die Steuern, die sie zahlen, hätten wir im letzten Jahr
auch keinen ausgeglichenen Haushalt erreicht, meine
Damen und Herren.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Es funktioniert gut in Deutschland!)


Wir brauchen die Zuwanderung auch, um die Renten
in einer alternden Gesellschaft finanzieren zu können.
Ohne Einwanderung wird natürlich auch die Investitions-
tätigkeit von Unternehmen gedämpft; denn Unternehmen
investieren nicht, wenn die Bevölkerung schrumpft. Nur
als Einwanderungsgesellschaft können wir Wachstumsge-
sellschaft bleiben. Deshalb ist die Einwanderung positiv
für Deutschland. Besonders die Freizügigkeit in der EU
ist ein großer Jobmotor.

Ich will deshalb, dass wir in der Koalition gemeinsam
über Einwanderung diskutieren. Wir müssen die beste-
henden Regeln überprüfen, und wir müssen offen disku-
tieren, nach welchen Regeln Einwanderer nach Deutsch-
land kommen sollen. Auf diese Klarheit haben die
Menschen in diesem Land einen Anspruch.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Daneben muss natürlich völlig klar sein, dass wir
Flüchtlinge, die aus humanitären Gründen nach Deutsch-
land kommen, bei uns aufnehmen. Wir müssen sie
schneller integrieren; das heißt vor allem, sie durch
Sprachkurse schnell mit der deutschen Sprache vertraut
machen.

Deutschland wird sich durch Zuwanderung verän-
dern. Unser Land wird internationaler und vielfältiger.
Aber das ist in einer globalisierten Welt kein Schaden
und kein Nachteil; im Gegenteil, das ist ein Vorteil; das
ist ein ökonomischer und kultureller Vorteil für Deutsch-
land. Deshalb brauchen wir ein positives Verhältnis zur
Einwanderung. Und daran, meine Damen und Herren,
sollten wir gemeinsam arbeiten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1807900800

Anton Hofreiter ist der nächste Redner für die Frak-

tion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Acht Tage sind seit den schrecklichen An-
schlägen in Paris vergangen: acht Tage der Trauer, acht
Tage des Schocks über die Angriffe auf unsere Freiheit,
unsere Werte; aber auch acht Tage, die bei allem Schre-
cken, bei aller Trauer Mut machen. Die Menschen sind
in Frankreich, in Deutschland und überall auf der Welt
zusammengerückt. Wir erleben nicht Wut und Rache-
durst, sondern Besonnenheit und trotzigen Mut.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Botschaft ist eindeutig: Wir lassen uns nicht ein-
schüchtern. Wir lassen uns unsere offene und freie Ge-
sellschaft nicht nehmen. Wir stehen zusammen – für To-
leranz und ein friedliches Zusammenleben verschiedener
Kulturen und Religionen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und der Abg. Volker Kauder [CDU/ CSU] und Dr. Franz Josef Jung [CDU/CSU])


Diese acht Tage bergen ein Versprechen. Ein Verspre-
chen darauf, dass es den Terroristen nicht gelingt, uns zu





Dr. Anton Hofreiter


(A) (C)



(D)(B)

spalten; wir stehen zu unseren Werten. Ein Versprechen
darauf, dass wir uns angesichts des Schreckens auf un-
sere Stärken, Menschenrechte, Demokratie, Bürger-
rechte, Meinungs- und Pressefreiheit, unseren Zusam-
menhalt besinnen. Das wird nicht leicht. Es ist eine
Herausforderung für uns alle, um dieses Versprechen
Wirklichkeit werden zu lassen. Aber nur das kann die
Antwort auf die Anschläge auf die Redaktion von
Charlie Hebdo und auf den koscheren Supermarkt sein,
auf die Anschläge gegen die Pressefreiheit, gegen die
Religionsfreiheit.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Attentäter von
Paris waren Franzosen. Aus Deutschland und Europa
reisen Hunderte junge Menschen in den Nahen Osten,
um Gewalt und Terror zu säen. Sie sind Europäer, sie
sind Deutsche. Es sind keine Fremden, es sind keine an-
deren, es sind Söhne und manchmal auch Töchter unse-
rer Gesellschaft. Was treibt junge Menschen zu solch un-
menschlichen Taten? Was hätten wir tun können, um sie
von diesem Pfad des Hasses und der Gewalt abzubrin-
gen? Und was können wir zukünftig dagegen tun?

Zur Antwort gehören sicherlich Integration und Bil-
dung. Wir brauchen Prävention. Wir müssen verhindern,
dass junge Menschen zu brutalen, unberechenbaren Fun-
damentalisten werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)


Gleichzeitig müssen wir darüber nachdenken, wie wir,
auch wenn es sehr schwer sein mag, möglichst viele der-
jenigen in unsere Gesellschaft zurückholen können, die
sich bereits radikalisiert haben. Nur wenn wir die Wur-
zeln des Hasses in unserer eigenen Gesellschaft ange-
hen, können wir das Versprechen der letzten acht Tage
wahr werden lassen. Da haben wir alle – Christen, Mus-
lime, Juden, Agnostiker, Atheisten – eine sehr große
Aufgabe vor uns.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])


Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Terror inmitten
Europas fordert uns heraus. Wie können wir für die Si-
cherheit unserer Bürgerinnen und Bürger sorgen? Hier
sind Stärke und Augenmaß gefordert. Zorn ist ein
schlechter Ratgeber. Westliche Regierungen haben die-
ses Augenmaß bereits einmal missachtet. Nach dem
11. September 2001 haben sie unsere Werte teilweise aus
den Augen verloren. Die Politik hat Freiheiten im Na-
men des Kampfes gegen den Terror unverhältnismäßig
eingeschränkt. Auch in Deutschland wurden Grund-
rechte missachtet und der Datenschutz verletzt. Wir hal-
fen in Europa den USA, wie aus dem Bericht des Senats
erkennbar ist, bei der Folter. Damit haben wir unsere
Glaubwürdigkeit, unsere eigenen Werte beschädigt. Die-
sen Fehler dürfen wir nicht erneut begehen. Wir dürfen
diese Lehren nicht vergessen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Mehr Datenspeicherung und vermeintliche Gesetzes-
verschärfung sind falsche Reflexe. Wenn unsere Freiheit
angegriffen wird, dann dürfen wir unsere Freiheit doch
nicht selbst aufgeben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Die Sicherheit steht im Dienste der Freiheit, im Dienste
der Menschen, nicht umgekehrt. Gegen Kalaschnikows
macht die Vorratsdatenspeicherung der Daten aller Bür-
ger, auch aller unbescholtenen Bürger, doch keinen Sinn.
Das haben die Anschläge in Paris gezeigt. In Frankreich
gibt es die Vorratsdatenspeicherung seit 2006. Sie ist un-
verhältnismäßig. Sie stellt alle Bürger unter Generalver-
dacht. Die Attentäter waren doch bereits polizeibekannt.
Wir brauchen eine gut ausgestattete Polizei, die ausrei-
chend Geld und Personal hat, damit sie rechtsstaatliche,
solide Polizeiarbeit leisten kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Offene Gesellschaften sind verwundbar und werden
immer verwundbar sein. Wir müssen den Mut haben,
uns dieses einzugestehen. Nur dann können wir beson-
nen handeln. Nur dann können wir das Versprechen der
letzten acht Tage wahr werden lassen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Kritik in einer offe-
nen Gesellschaft kann so hart sein, dass sie verletzt. Sa-
tire kann schmerzen. Aber die Antwort darauf darf nie-
mals Gewalt sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)


Aber so haben die Attentäter von Paris geantwortet. Sie
sind losgezogen und haben Menschen ermordet. Eine
grausame und verblendete Tat. Dabei haben sie sich auf
den Islam berufen. Aber es ist kein Kampf des Islam ge-
gen den Westen, sondern ein Kampf von Feinden der
Freiheit gegen Freunde der Freiheit. Die meisten Opfer
des weltweiten islamistischen Terrors sind selbst Mus-
lime. Nahezu zeitgleich zu den Anschlägen in Paris töte-
ten fundamentalistische Terroristen der Boko Haram in
Nigeria Hunderte von Menschen. In Syrien, im Irak mor-
den und foltern die Terroristen des IS.

Gewalt im Namen der Religion ist ein Problem, das
viele Religionen kennen. Es ist kein singuläres Problem
des Islam. Aber ein Teil der Antwort darauf muss im
Streit innerhalb des Islam gefunden werden. Imame
weltweit haben Gewalt und Hass verurteilt, zum wieder-
holten Male. Der Zentralrat der Muslime hat gemeinsam
mit anderen zu einer Kundgebung für Toleranz und
Weltoffenheit aufgerufen. Viele von uns Abgeordneten
waren am Brandenburger Tor. Wir danken dem Zentral-
rat sehr für seine Initiative.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Millionen von Muslimen weltweit stehen fassungslos
vor dem, was im Namen ihrer Religion verübt wird. Sie





Dr. Anton Hofreiter


(A) (C)



(D)(B)

machen unmissverständlich klar, dass sie diesen Miss-
brauch nicht dulden werden. Aber nur wenn der kritische
Diskurs innerhalb des Islam weiter stattfindet und wenn
wir dabei an der Seite der Muslime stehen, können wir
das Versprechen der letzten acht Tage wahr werden las-
sen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den letzten acht
Tagen haben wir viele Zeichen der Toleranz, des Mitein-
anders, des Zusammenstehens erlebt. Umso empörter
macht es mich, wenn ich nach Dresden blicke, wenn ich
sehe, dass dort am letzten Montag wieder Tausende Pe-
gida-Anhänger auf den Straßen waren. Wer bei Pegida
mitmarschiert, will eine geschlossene, eine enge Gesell-
schaft, eine die ausgrenzt, und zwar nach innen und au-
ßen, und eine die letzten Endes mehr Hass erzeugt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Vor diesen Rissen in unserer Gesellschaft dürfen wir
nicht die Augen verschließen. Der Antisemitismus ge-
hört leider immer noch zur traurigen Realität in Deutsch-
land und in Europa. Viele Menschen in Deutschland ha-
ben Vorurteile gegenüber dem Islam. Rechtsextremisten
und -populisten wie Le Pen haben hohe Zuläufe.

2015 steht Europa vor einer Reihe von wichtigen
Wahlen: in Griechenland, in Spanien, in Großbritannien,
in Frankreich. Bei diesen Wahlen wird nicht allein über
die nationale Politik, sondern auch über die Zukunft
Europas entschieden. Jetzt ist es an uns Europäern, zu
zeigen, was für ein Europa wir wollen: ein Europa, das
für Menschenrechte, Freiheit und Demokratie steht. Die
letzten Tage lassen mich hoffen, dass die Menschen wie-
der erleben, was wir mit Europa gewonnen haben, was
uns an Europa liegt – einem Europa, in dem die Men-
schen wieder miteinander diskutieren, einem Europa, in
dem sich die Menschen füreinander interessieren, einem
Europa, in dem die Menschen für die Werte Europas und
füreinander einstehen, einem Europa, das lebendig ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die ganz große Mehrheit der Menschen hat erkannt,
dass es Zeit ist, Farbe zu bekennen: gegen Rassismus,
gegen Vorurteile, gegen Menschenfeindlichkeit. Nur
wenn wir gemeinsam für die Demokratie, für die Frei-
heit eintreten, nur dann können wir das Versprechen der
letzten acht Tage wahr werden lassen. Die letzten acht
Tage machen mir da große Hoffnung.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1807900900

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege

Volker Kauder das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Volker Kauder (CDU):
Rede ID: ID1807901000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Als uns die Nachricht von dem schrecklichen Verbre-
chen in Paris erreicht hat, waren wir zunächst fassungs-
los und konnten gar nicht glauben, dass Terroristen in
eine Redaktion eindringen, die Namen der einzelnen
Journalisten aufrufen und sie beim Namensaufruf er-
schießen. Das ist eine Qualität, die wir so bisher noch
nicht erlebt haben. Wir alle verneigen uns vor den Ange-
hörigen der Opfer, vor unseren französischen Freunden.

Ja, es ist völlig richtig, dass wir als eine erste Konse-
quenz aus diesem furchtbaren Verbrechen sagen: Wir
stehen in Europa zusammen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dass wir zusammenstehen, hat der Zug durch Paris am
vergangenen Sonntag so eindrucksvoll gezeigt. Dass wir
in Europa bei einer der vielleicht größten Herausforde-
rungen zusammenstehen, um Menschlichkeit und De-
mokratie durchzusetzen, haben wir am Dienstag am
Brandenburger Tor erlebt. Mich hat in besonderer Weise
beeindruckt, dass hier in Berlin und in anderen Städten
Deutschlands Menschen zu Tausenden zusammenge-
kommen sind – spontan, ohne dass es irgendjemand or-
ganisiert hat. Was sich da am Brandenburger Tor gezeigt
hat, das ist ein Deutschland, auf das wir stolz sein kön-
nen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es waren alle aus der Gesellschaft dabei, alle Religions-
gruppen. Dies hat mich beeindruckt.

Es ist der Satz des Bundespräsidenten zum Abschluss
seiner Rede, der uns leiten muss: „Wir alle sind Deutsch-
land“ – wir alle, die wir hier in Deutschland leben, Mus-
lime, Juden, Christen, Angehörige aller anderen Reli-
gionsgruppen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE])


Es gibt Ereignisse in der Politik, im persönlichen Le-
ben, bei denen nachher nichts mehr so ist, wie es vorher
war. Viele von uns spüren, dass das, was da in Paris ge-
schehen ist, und die Solidaritätskundgebungen, die es
auch bei uns gegeben hat, vielleicht einiges verändern
könnten, in einer Geschwindigkeit, wie wir es zunächst
gar nicht zu hoffen gewagt haben.

Ich habe bei den vielen Begegnungen mit Christen,
Muslimen, Hindus und Vertretern anderer Religionen
dieser Welt erfahren, was es bedeutet, wenn man wegen
seines Glaubens, seiner Einstellung bedrängt und ver-
folgt wird. Ich habe immer wieder erlebt, dass die Re-
aktionen nach Anschlägen auf Kirchen und andere Ein-
richtungen unterschiedlich bzw. zögerlich waren. Umso
mehr müssen wir anerkennen – und wir erkennen es
auch an –, dass sich die Muslime angesichts der Ereig-





Volker Kauder


(A) (C)



(D)(B)

nisse eindeutig von Gewalt distanziert haben. Auf der
Veranstaltung des Zentralrats der Muslime, die mich
sehr bewegt hat, wurde gesagt: Mord und Terrorismus
haben mit dem Islam nichts zu tun.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die notwendige und auch schwierige Diskussion ist
damit aber noch lange nicht beendet. Sie wird weiterge-
hen, und sie muss auch weitergehen. Ich stimme all je-
nen zu, die heute Morgen gesagt haben, dass dies eine
Aufgabe der Muslime selbst ist, dass wir sie dabei unter-
stützen müssen, indem wir anerkennen, dass sich da et-
was bewegt. Aber es muss auch klar sein – darauf ist
vom Bundestagspräsidenten und von der Bundeskanzle-
rin hingewiesen worden –, dass die Werte und die Men-
schenrechte, die wir durch die Französische Revolution
und die Aufklärung für uns gewonnen haben, die die Ge-
nerationen vor uns für uns erstritten haben, nicht zur
Disposition stehen dürfen und auch nicht zur Disposition
stehen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir dürfen auch nicht zulassen, dass universale Men-
schenrechte – das wird immer wieder versucht – von ei-
nigen auf einmal als eine Errungenschaft des Westens
gesehen werden, die mit anderen gar nichts zu tun haben.
Ich erlebe in Gesprächen immer wieder, dass es heißt:
Eure Menschenrechtsposition hat mit unserem kulturel-
len Verständnis nichts zu tun. – Liebe Kolleginnen und
Kollegen, die universellen Menschenrechte sind in der
Menschenrechtscharta der UNO niedergelegt, und sie
haben nichts mit kulturellem Verständnis in dem einen
oder anderen Land zu tun. Wir müssen sie verteidigen.


(Beifall im ganzen Hause)


In der Menschenrechtskonvention, die 1948, also im
letzten Jahrhundert, beschlossen wurde, sind Erkennt-
nisse enthalten, die in die heutige Zeit übertragen wer-
den können. Jeder hat das Recht, seinen Glauben frei
und unbedrängt öffentlich zu leben. Dazu gehört natür-
lich auch, nichts zu glauben; auch dies ist geschützt. In
der Menschenrechtskonvention steht ausdrücklich auch
– dies gehört dazu –, dass jeder das Recht hat, seinen
Glauben frei zu wechseln, dass es ein Menschenrecht ist,
seinen Glauben zu ändern. Fast alle Länder dieser Welt
– bis auf ganz wenige – haben das unterschrieben. Man
ist immer wieder erstaunt, dass selbst in Ländern, die die
Menschenrechtskonvention unterschrieben haben, die
Menschenrechte nicht oder nicht ganz eingehalten wer-
den. Deswegen haben wir die Verpflichtung, immer wie-
der auf die Menschenrechtskonvention hinzuweisen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe
schon vor vielen Jahren darauf hingewiesen, dass es
ohne Religionsfreiheit nirgendwo auf der Welt Freiheit
geben kann. Ich habe immer wieder darauf hingewiesen
– das ist eine Erkenntnis zahlreicher Reisen, die ich un-
ternommen habe –, dass das Verweigern von Religions-
freiheit und das Unterdrücken von Menschen, sodass sie
ihren Glauben nicht frei leben dürfen, Anlass für größte
Auseinandersetzungen sind. Das muss gerade in dieser
Zeit gesagt werden. Dazu gehört ganz klar: Wer für Reli-
gionsfreiheit weltweit eintritt, tritt natürlich auch für Re-
ligionsfreiheit in unserem Land ein. Ich will mich gar
nicht über Inhalte der einzelnen Religionen unterhalten.
Ich sage nur: Religionsfreiheit in unserem Land bedeu-
tet, dass jeder das Recht hat, seine Gebets- oder Gottes-
häuser zu bauen. Das heißt: Natürlich haben die Mus-
lime, unterstützt von uns, das Recht, hier ihre Moscheen
zu bauen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber es gehört auch noch etwas anderes dazu – das
muss ich sagen, nachdem der türkische Ministerpräsi-
dent in dieser Woche Deutschland besucht hat –: So wie
wir wollen und dafür eintreten, dass die Muslime hier
ihre Moscheen bauen dürfen, so wollen wir, dass auch
die Christen in der Türkei ihre Kirchen bauen dürfen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Dieser Zustand ist noch längst nicht erreicht.

Wir haben heute zu Recht immer wieder gehört, dass
unsere Werte, zu denen natürlich die Freiheitsrechte und
das zentrale Recht der Pressefreiheit gehören, nicht
preisgegeben werden dürfen und wie wichtig die Presse-
freiheit für eine freie Gesellschaft ist. Das betrifft aber
nicht nur die Pressefreiheit, sondern auch die Freiheit
der Kunst, die Freiheit, darin seine Meinung auszudrü-
cken. Es wäre furchtbar, wenn Schriftsteller in Zukunft
ihre Bücher prüfen lassen müssen, bevor sie sie veröf-
fentlichen. Das geht überhaupt nicht. Die Freiheit von
Presse, Kunst und Kultur muss geschützt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE])


Wenn wir uns in der Welt umschauen, dann stellen
wir fest, dass die Pressefreiheit von denen besonders ge-
fürchtet wird – dazu gehört leider Gottes auch manches
Land in unserer unmittelbaren Nachbarschaft –, die
Menschenrechte und Freiheit in ihrem Land nicht hun-
dertprozentig verwirklichen. Deswegen muss dafür in
besonderer Weise eingetreten werden. Da kann es natür-
lich sein, dass Dinge geschehen, die nicht jeder richtig
und gut findet. Die Bundeskanzlerin hat darauf hinge-
wiesen, dass zur Freiheit Verantwortung gehört. Freiheit
und Verantwortung sind zwei Seiten derselben Medaille.

Natürlich muss jeder selbst prüfen, wo Grenzen sind.
Aber diese können nicht gesetzlich festgelegt werden.
Ich will nicht gesetzlich festlegen, ob diese oder jene
Karikatur zulässig ist, überhaupt nicht. Trotzdem sage
ich: Wir alle haben allen Grund, uns immer wieder zu
prüfen, wie nahe wir einem anderen treten dürfen in der
Ausnutzung unserer Freiheit. Ich kann nur darauf hin-
weisen: Besondere Sorgfalt muss darauf gelegt werden,





Volker Kauder


(A) (C)



(D)(B)

mit den religiösen Gefühlen und den heiligsten Symbo-
len einer Religion nicht verantwortungslos zu spielen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das kann nicht durch eine Verschärfung von Gesetzen
erreicht werden, sondern da ist die Gesellschaft aufgeru-
fen, zu widersprechen und zu sagen: Wir wollen zwar,
dass dies möglich ist, aber wir akzeptieren nicht, dass
dies gemacht wird. – Insofern haben wir manchmal allen
Grund, zu widersprechen, wenn christliche Symbole in
dieser Weise betroffen sind. Es wäre aber auch schön,
wenn der eine oder andere die Muslime versteht und in
Schutz nimmt, wenn deren heiligste Symbole attackiert
werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Ich finde, wir in der Bundesrepublik Deutschland, die
Regierung, aber auch die Große Koalition, haben ange-
messen reagiert. Natürlich müssen sich Regierung und
Parlament aber die Frage vorlegen: Können wir noch et-
was tun, können wir noch etwas verbessern, um das Ri-
siko eines solchen Anschlags zu verringern? Ganz aus-
schließen lässt es sich nicht. Ich finde die Maßnahme,
die jetzt beschlossen worden ist, um ausreisebereite
junge Menschen an der Ausreise zu hindern, indem man
ihnen den Personalausweis entzieht, richtig. Es ist auch
sinnvoll, diejenigen zu beobachten, die wieder einreisen.

Aber wir müssen uns auch mit einer anderen Frage
beschäftigen. Alle für die Sicherheit relevanten Persön-
lichkeiten unterschiedlicher parteipolitischer Zugehörig-
keiten sagen, dass wir die Möglichkeiten, Kontaktdaten
zu prüfen, um daraus Erkenntnisse zu erzielen, verbes-
sern müssen. Es geht um den Begriff der Vorratsdaten-
speicherung; dieser Begriff gefällt mir gar nicht, aber
bisher ist nichts Besseres auf dem Markt. Ich möchte mit
einem Missverständnis aufräumen – das haben auch Sie,
Herr Hofreiter, wieder angesprochen –: Die Vorratsda-
tenspeicherung ist nicht ausschließlich ein Präventions-
instrument, sondern eines von vielen möglichen Ermitt-
lungsinstrumenten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ohne sie wüssten wir so manches nicht, auch in Frank-
reich nicht. Ich möchte darauf hinweisen, dass man die
eine oder andere Erkenntnis – wie groß war die Zelle,
und mit wem haben die telefoniert? – nur durch den Zu-
griff auf diese Daten gewonnen hat.


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deswegen muss man doch nicht die Daten von allen erfassen, Herr Kauder!)


– Wir bereden das in aller Ruhe. – Aber da unsere Provi-
der, unsere Kommunikationsgesellschaften jetzt Flatra-
tes anbieten, bei denen nach wenigen Stunden alle Daten
gelöscht werden, werden Sie niemanden mehr finden.
Wie wollen Sie denn Verbrechen im Internet aufdecken,
wenn niemand mehr eine Spur im Internet hinterlässt?
Deswegen müssen wir uns mit der Frage beschäftigen,
ob wir eine solche Möglichkeit nutzen wollen oder nicht.

(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch abenteuerlich!)


Ich bin dankbar dafür, dass offenbar Bewegung in dieses
Thema gekommen ist, dass die Bereitschaft gestiegen
ist, etwas zu tun, in den verfassungsrechtlichen Grenzen
natürlich.

Die Menschen müssen den Eindruck haben, dass wir
das tun, was möglich ist. Daher ist es auch wichtig, da-
rauf hinzuweisen, dass Menschen nicht mit unangemes-
senen Formulierungen in der Öffentlichkeit auftreten
sollten. Da Pegida und andere hier mehrfach angespro-
chen worden sind, will ich Folgendes dazu sagen: Wir
haben uns von den Äußerungen, die dort fallen, klar dis-
tanziert. Ich bekomme jeden Tag Hunderte von E-Mails,
weil ich gesagt habe: Was dort streckenweise formuliert
wird, ist unakzeptabel. Das sage ich noch einmal: Dort
fallen Äußerungen, die wir nicht akzeptieren dürfen und
denen wir widersprechen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Mich hat es etwas befremdet, dass heute Morgen in
dieser Debatte wieder einmal über diese Gruppe gespro-
chen wurde. Am letzten Samstag waren aber in Dresden
35 000 Menschen auf dem Platz – das waren mehr als
Pegida zusammenbringt –, um sich zu diesem Rechts-
staat zu bekennen. Darüber sollten wir häufiger reden.
Wir sollten häufiger darüber reden, dass es mutige Men-
schen gibt, die sich zu diesem Rechtsstaat bekennen, zu
Offenheit, zu Liberalität und zu Toleranz.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Darüber müssten auch die Medien häufiger berichten.
Sie sollten nicht über die Gruppe berichten, die unser
Land nicht repräsentiert, sondern häufiger über diejeni-
gen, die das repräsentieren, was die allermeisten Men-
schen in diesem Land für richtig halten.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, noch ein
Hinweis. Herr Kollege Oppermann, wenn ein Koali-
tionspartner will, dass man über ein Thema redet, dann
redet man darüber. Das gilt für Sie, und das gilt auch
dann, wenn wir etwas wollen und dann darüber reden.

Eines möchte ich aber schon sagen: In der Diskussion
über ein sogenanntes Zuwanderungs- bzw. Einwande-
rungsgesetz ist der Eindruck erweckt worden, als ob wir
uns in einem völlig rechtsfreien Raum bewegen würden.


(Christine Lambrecht [SPD]: Das war doch von Herrn Tauber!)


– Nein, heute Morgen hat der Kollege Oppermann ge-
sprochen, Frau Kollegin. – Dazu will ich nur sagen: Man
kann ja aus Ihrer Sicht sagen, dass man sich das eine
oder andere anschauen will. Wir haben aber ein ganzes
Paket von Regelungen für Zuwanderung und Einwande-
rung. Da gibt es keinen rechtsfreien Raum.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)






Volker Kauder


(A) (C)



(D)(B)

Sie haben zu Recht drauf hingewiesen, dass ohne Ein-
wanderung bzw. Zuwanderung unsere Sozialversiche-
rungssysteme, die Arbeitsplatzsituation usw. anders aus-
sähen. Man kann doch nicht auf der einen Seite sagen,
dass sich eine gute Entwicklung vollzogen habe, was
stimmt, und auf der anderen Seite sagen, es gebe über-
haupt keine Regelungen und deswegen müsse man etwas
unternehmen. Deshalb rate ich auch hier zu einem grö-
ßeren Maß an Gelassenheit. Wir haben sehr viel ge-
macht.

Jetzt will ich noch einen Punkt ansprechen. Wir haben
dafür gesorgt, dass die Asylverfahren schneller ablaufen
und die Menschen, wenn sie hier sind, schneller in Ar-
beit kommen können. Das ist sehr schön formuliert wor-
den; jetzt kommt es aber darauf an, das umzusetzen.

Da kann ich nur sagen: Es wäre eine große Tat und
auch notwendig, damit Menschen nicht in der Isolation
leben und auf dumme Gedanken kommen, dass wir all
denjenigen, die Arbeit und Ausbildung suchen, auch Ar-
beit und Ausbildung verschaffen. Diesen Punkt sehe ich
an erster Stelle. Nicht über neue Zuwanderung sollte ge-
redet werden, sondern diejenigen, die da sind, sollten
jetzt endlich in Arbeit gebracht und in die Gesellschaft
integriert werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Hier viel zu erreichen, das ist eine große Aufgabe, die
vor uns liegt. Dieser Aufgabe werden wir uns stellen. Da
sind wir an Ihrer Seite.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1807901100

Eva Högl ist die nächste Rednerin für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Eva Högl (SPD):
Rede ID: ID1807901200

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die
Anschläge in Paris waren ein Angriff auf wehrlose Men-
schen. Sie waren ein Angriff auf die Meinungs- und
Pressefreiheit. Die Morde waren aber vor allen Dingen
ein Angriff auf unsere offene Gesellschaft, unsere Werte
und unsere Demokratie. Wir alle waren gemeint mit die-
sen Anschlägen.

Die Attentäter wollen damit eines erreichen: Sie wol-
len die Menschen in Frankreich, in Deutschland, uns alle
in Europa und in der Welt, tief verunsichern und unsere
Gesellschaft spalten. Meine Damen und Herren, das
wird ihnen nicht gelingen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Franz Josef Jung [CDU/CSU])


Für uns ist klar: Unsere demokratische Gesellschaft
darf sich nicht einschüchtern lassen. Freiheit und
Rechtsstaatlichkeit lassen wir uns nicht nehmen. Wir
werden die Freiheit nur dann verteidigen können, wenn
wir eine offene und freie Gesellschaft erhalten, in der
Presse- und Meinungsfreiheit sowie Religionsfreiheit,
Einwanderung und Vielfalt selbstverständlich sind. Des-
halb reagieren wir auf Terror, auf Morde und auf Extre-
mismus mit Augenmaß und mit den Mitteln unseres
Rechtsstaates; denn wir sind nicht wehrlos.

Es gibt überhaupt keinen Grund für hektischen ge-
setzgeberischen Aktionismus.


(Beifall bei der SPD)


Die Gefahr, die von gewaltbereiten Extremisten ausgeht,
die aus Kriegsgebieten in Syrien und Irak nach Deutsch-
land zurückkehren, ist uns bekannt. Unsere Sicherheits-
behörden sind hier sehr wachsam und handlungsfähig.
Wir bekämpfen Terrorismus ganz entschieden und haben
schon Wochen vor den Anschlägen in Paris wichtige Re-
gelungen zur Terrorismusbekämpfung auf den Weg ge-
bracht.

Ich erwähne, dass der Bundesinnenminister bereits im
Herbst ein sehr weitgehendes Betätigungsverbot des IS
erlassen hat. Neben der Verwendung von Kennzeichen
des IS sind nunmehr auch die Unterstützung und die
Sympathiewerbung strafbar.

Gestern hat das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf
verabschiedet, der vorsieht, ausreisewilligen Dschihadis-
ten neben dem Reisepass auch den Personalausweis zu
entziehen, wenn sie unter dem Verdacht stehen, terroris-
tische Aktivitäten zu verfolgen. Eine Ausreise über die
Türkei beispielsweise in den Nahen Osten ist dann nicht
mehr möglich.

Künftig werden sich radikale Islamisten auch dann
strafbar machen, wenn sie Deutschland verlassen wol-
len, um sich an Gewalttaten im Ausland zu beteiligen
oder sich für die Teilnahme daran in einem Camp ausbil-
den zu lassen. Damit setzen wir eine UN-Resolution um.
Außerdem werden wir mit einem eigenständigen
Straftatbestand der Terrorismusfinanzierung die Finanz-
quellen von Terroristen trockenlegen.

Das sind drei wichtige Maßnahmen zur Terrorbe-
kämpfung, die wir auf den Weg gebracht haben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden auch
den Verfassungsschutz schlagkräftiger machen. Das ist
auch dringend erforderlich. Wir haben im NSU-Untersu-
chungsausschuss gesehen, dass es viele Unzulänglich-
keiten bei den Nachrichtendiensten gibt und insbeson-
dere die Zusammenarbeit der Verfassungsschutzämter
von Bund und Ländern verbessert werden muss. Wir
werden auch die personelle und technische Ausstattung
der Sicherheitsbehörden weiter verbessern.

Eines ist auch sehr wichtig: die europäische Koopera-
tion. Wir als SPD begrüßen ganz ausdrücklich den Be-
schluss der EU-Innenminister in Paris vom Sonntag, ge-
meinsam und in enger Abstimmung in Europa gegen
Terror vorzugehen. Für uns gilt: Wir brauchen in Europa
mehr Zusammenarbeit und nicht weniger.


(Beifall bei der SPD)


Wir bauen auch die Prävention aus und stärken den
gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wir werden alles da-
für tun, dass sich kein junger Mensch menschenfeindli-





Dr. Eva Högl


(A) (C)



(D)(B)

chen und gewalttätigen Organisationen anschließt. Wir
unterstützen alle Aktivitäten, die den interreligiösen Dia-
log fördern und sich gegen Hass und gegen Gewalt rich-
ten. Wir reden nicht nur, sondern wir handeln auch.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben deshalb das so wichtige Bundesprogramm
„Demokratie leben! Aktiv gegen Rechtsextremismus,
Gewalt und Menschenfeindlichkeit“ und somit Aktivitä-
ten zur Demokratieförderung ganz deutlich unterstützt,
indem wir in diesem Jahr insgesamt rund 50 Millionen
Euro dafür bereitstellen. Dieser wichtige Beschluss des
Bundestages ist eine ganz starke Aussage, weil wir da-
mit viele Initiativen, Verbände und Vereine bei der För-
derung von Demokratie sehr wirksam unterstützen kön-
nen.


(Beifall bei der SPD)


Unsere gemeinsame Antwort auf Terror ist: Sicherheit
und Zusammenhalt, Freiheit ohne Angst. Diesen Weg
werden wir gemeinsam weitergehen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1807901300

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin

Gerda Hasselfeldt für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1807901400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Anschläge in Paris haben uns alle erschüttert und fas-
sungslos gemacht. Unsere Gedanken sind in diesen Ta-
gen bei den Opfern und deren Familien. In dieser De-
batte ist schon zum Ausdruck gekommen – ich will es
auch meinerseits unterstreichen –: Unbestritten ist: Diese
Anschläge waren Anschläge auf unsere Freiheit, auf un-
sere Werte, auf die Art und Weise, wie wir zusammenle-
ben, wie wir miteinander umgehen. Es waren Anschläge
auf die offene Gesellschaft in der westlichen Welt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


So groß die Trauer und die Betroffenheit auch sind,
die Reaktion der Menschen in Paris, in Berlin, in vielen
anderen Städten Europas, ja in der ganzen Welt macht
auch Mut. Sie haben Solidarität mit Frankreich gezeigt
und zeigen sie nach wie vor über die Grenzen hinweg.
Sie stehen auf, sie gehen auf die Straße für unsere Werte,
für Freiheit, für Demokratie, für Toleranz und gegen Fa-
natismus, gegen Fundamentalismus und gegen Terror.
Am Dienstagabend nahmen Tausende von Menschen an
der Mahnwache der Muslime für Toleranz und Welt-
offenheit in Berlin teil. Ich danke den Organisatoren für
die rasche Reaktion auf die schrecklichen Ereignisse in
Paris. Im gemeinsamen Manifest der großen Religions-
gemeinschaften in Deutschland wird auch deutlich: Im
Namen Gottes darf nicht getötet werden. Daran, dass
50 Staats- und Regierungschefs in Paris auf die Straße
gehen, dass sich Millionen von Menschen zum Marsch
der Freiheit aufmachen und dass ein muslimischer Ar-
beiter in dem von Terroristen heimgesuchten jüdischen
Geschäft vier Menschen rettet, wird deutlich: Unsere
Werte sind stärker als der Terror.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Reaktionen der Menschen, der Politiker zeigen
auch: Wir in der freien, offenen Gesellschaft lassen uns
nicht auseinanderdividieren, wir lassen uns nicht spalten,
und wir lassen uns auch nicht einschüchtern. Im Gegen-
teil: Wir rücken ein Stück näher zusammen, nicht nur in
Deutschland, sondern auch in Europa und in der Welt.
Ich hoffe sehr, dass vom Anfang dieses Jahres, so bitter
der 7. Januar 2015 für uns alle war, das Signal ausgeht,
dass es an der Zeit ist, uns unserer Grundwerte, der
Werte, die uns zusammenhalten, wieder bewusster zu
werden, als es vielleicht sonst im Alltag der Fall ist, und
diese auch aktiv zu verteidigen. Denn die Würde jedes
einzelnen Menschen, egal woher er kommt und wie er
aussieht, die gegenseitige Toleranz, das Recht auf Le-
ben, die Pressefreiheit, die Meinungsfreiheit, die Glau-
bensfreiheit – all das, liebe Kolleginnen und Kollegen,
sind Werte, die uns zusammenhalten, Werte, die uns
auch die Kraft geben, gegen Fundamentalismus, gegen
Fanatismus und gegen Terror anzugehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber natürlich stellen sich in so einer Situation auch
Fragen, beispielsweise: Kann so etwas auch bei uns pas-
sieren? Sind wir gerüstet? Tun wir alles für die Sicher-
heit? Auch wenn wir wissen, dass nicht alles zu verhin-
dern ist, haben wir die Aufgabe – das ist die originäre
Aufgabe des Staates –, für die Sicherheit unserer Bürger
zu sorgen.

Wir alle wissen: ISIS und Al-Qaida bedrohen nicht
nur einige fremde Staaten weit weg von uns, sondern sie
bedrohen auch uns. Wir alle wissen: Wer unsere Werte
vernichten will, der greift uns an. Wer unsere französi-
schen Freunde mit Terror und mit Schrecken überzieht,
der meint auch uns.

Deshalb war und ist es richtig, dass wir die Kurden in
ihrem Kampf gegen die Barbarei der Dschihadisten un-
terstützen, mit humanitärer Hilfe, mit Ausrüstung und
auch mit Waffen. Deshalb war und ist es richtig, dass wir
die Menschen in den betroffenen Regionen vor Ort un-
terstützen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, deshalb ist
es auch richtig, dass wir die Ausreise der Dschihadisten
unterbinden und Rückkehrer genauer beobachten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Unser Kampf gegen den Terrorismus beginnt nicht
erst nach den Anschlägen in Paris. Aber diese Anschläge
in Paris sind vielleicht Grund und Anlass, noch einmal in
aller Ruhe und ohne Aktionismus zu überdenken, ob wir





Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

alles getan haben und ob wir unseren Kampf vielleicht
noch etwas verstärken müssen. Unser Kompass muss da-
bei, denke ich, ein zentraler Grundsatz unserer Rechts-
tradition sein, nämlich die Verhältnismäßigkeit. Es muss
gelten: So viel Freiheit wie möglich, so viel Sicherheit
wie nötig.

Ich will mich im Wesentlichen auf drei Punkte be-
schränken:

Erstens. Wir brauchen einen besseren Überblick da-
rüber, woher die Gefährder kommen und wohin sie wol-
len. Dazu gehört, dass wir an den Außengrenzen der Eu-
ropäischen Union die Kontrollen intensivieren. Dazu
gehört auch ein internationaler Informationsaustausch;
dieser muss verbessert werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das gilt zum Beispiel auch für die Fluggastdaten.

Zweitens. Wir unterstützen die Bundesregierung bei
allen Maßnahmen im Kampf gegen den Extremismus.
Das gilt für den Bundesinnenminister – auch für die
Maßnahmen, die er gestern wieder eingeleitet hat – ge-
nauso wie für den Bundesjustizminister. Ich bin sehr
froh, dass nun die Umsetzung der UN-Resolution auf
den Weg gebracht wird; denn, meine Damen und Herren,
wer terroristische Vereinigungen finanziell unterstützt,
der muss strafrechtlich leichter verfolgt werden können
als bisher.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Gleiches gilt auch für den Besuch von Terrorcamps.

Ich füge aber bewusst hinzu: Unserer Meinung nach
reicht das nicht. Wir sollten auch Sympathiewerbung für
terroristische Vereinigungen, wie das früher der Fall war,
wieder unter Strafe stellen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Unsere Botschaft muss sein: Islamistischer Terror hat
auf deutschem Boden keinen Platz.

Drittens. Wir müssen die Mindestdauer der Speiche-
rung von Verbindungsdaten neu regeln; das wurde vor-
hin schon angesprochen. Ich plädiere sehr dafür und
bitte darum, das ohne parteipolitische Scheuklappen zu
machen und auf den Rat der Sicherheitsleute und der Si-
cherheitsbehörden, der Polizeigewerkschaften, all derje-
nigen, die mit der Bekämpfung von Kriminalität und
Terrorismus zu tun haben,


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Und der SPD-Innenminister!)


zu hören und diese Ratschläge auch ernst zu nehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es kann doch nicht sein, dass wir Verbindungsdaten im
Bereich der Telekommunikation dann speichern, wenn
es um Rechnungen geht, aber dann, wenn es um die Be-
kämpfung von Kriminalität und Terrorismus geht, nicht.
Das ist nicht mein Verständnis von Sicherheit für die
Bürger unseres Landes, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Es ist vielmehr unsere Aufgabe – so verstehe zumin-
dest ich meine politische Arbeit, ebenso die Kolleginnen
und Kollegen meiner Fraktion –, für das Wohlergehen
der Bürger und für ein glückliches Leben der Menschen
zu sorgen. Zu einem glücklichen Leben gehören Freiheit
und Sicherheit; das eine, meine lieben Kolleginnen und
Kollegen, geht nicht ohne das andere. Freiheit und Si-
cherheit gehören in einem demokratischen Rechtsstaat
zusammen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Thomas Oppermann [SPD])


Nur aus der Balance dieser beiden Werte schöpft unsere
Gesellschaft ihre Kraft.

Lassen Sie uns mit der gebotenen Sorgfalt und Gelas-
senheit, mit der gebotenen Ernsthaftigkeit, aber auch mit
der notwendigen Entschiedenheit an die Lösung dieser
Aufgabe gehen!

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1807901500

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen damit zum nächsten Tagesordnungs-
punkt, Tagesordnungspunkt 4 a und 4 b, sowie zum Zu-
satzpunkt 3 unserer Tagesordnung:

4 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der
CDU/CSU und SPD

Gesunde Ernährung stärken – Lebensmit-
tel wertschätzen

Drucksache 18/3726
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Binder, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Gute Lebensmittel für eine gesunde Er-
nährung

Drucksache 18/3730
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Friedrich Ostendorff, Harald Ebner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Gute Ernährung für alle
Drucksache 18/3733
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Also können wir so verfahren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst dem Bundeslandwirtschaftsminister Christian
Schmidt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Christian Schmidt, Bundesminister für Ernährung
und Landwirtschaft:

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das Thema Ernährung mit all seinen Facetten
mobilisiert uns heute in Berlin. Gestatten Sie mir aber,
dass ich mich, bevor wir uns dem Thema Ernährung mit
all seinen Facetten widmen, bei dem stellvertretenden
Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Franz
Josef Jung, für seinen Einsatz und für sein Engagement
in unserem gemeinsamen Themenbereich herzlich be-
danke.

Das so wichtige Amt hat er nun, wie die Fraktion ent-
schieden hat, auf gleicher Ebene im Bereich der Außen-
und Sicherheitspolitik übernommen, nachdem Andreas
Schockenhoff bedauerlicherweise von uns gegangen ist.
Lieber Franz Josef, herzlichen Dank! Du kehrst damit
ein Stück zu den Wurzeln zurück, aber im Kern musst du
als Rheingauer Winzer und Politiker mit Herz bitte auch
unserer Sache verbunden bleiben. Die Grüne Woche
steht dir genauso offen wie uns allen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Mein Gruß geht natürlich auch an Gitta Connemann.
Es steht mir aber nicht zu, heute zu besprechen und zu
erörtern, wie es im Ausschuss weitergehen wird. Das
wird bei anderer Gelegenheit erfolgen.

Ich möchte mich dafür bedanken, dass sich die einge-
brachten Anträge sehr intensiv mit der Thematik der Er-
nährung befassen. In diesem Jahr findet zum 25. Mal
eine gemeinsame Grüne Woche statt. Das Wort „grün“ in
der Grünen Woche ist kein politisches Grün, sondern ein
Grün, das das Selbstbewusstsein des Landes ausdrückt.
Die Lodenjankerträger haben Berlin in den 20er-Jahren
mit einer neuen Farbe überrascht. Schon damals wurde
klar, dass die Stadt ohne das Land nicht leben kann.

In diesem Jahr findet zum 80. Mal – zum 25. Mal
wieder gemeinsam – die Grüne Woche statt. Lassen Sie
mich bei dieser Gelegenheit auch an die agra in Mark-
kleeberg erinnern, auf der die wichtige Entwicklung des
landwirtschaftlichen Bereichs in der damaligen DDR do-
kumentiert wurde. Dies wird auch jetzt in Leipzig im
Rahmen von Landwirtschaftsausstellungen in vielfälti-
ger Weise fortgesetzt. Die Deutsche Landwirtschafts-
Gesellschaft hat sich hier sehr aktiv engagiert und einge-
bracht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn wir alle wollen, dass sich alle Menschen auf
unserer Erde ausreichend und angemessen ernähren kön-
nen, dann müssen wir effizient produzieren. Wenn wir
dabei unsere natürlichen Ressourcen als Lebensgrund-
lage für unsere Kinder und Enkel sowie alle nachfolgen-
den Generationen erhalten wollen, dann müssen wir
natürlich effizient nachhaltig sein. Das ist ein hoher Auf-
trag.

Auf der zweiten Welternährungskonferenz – der ers-
ten seit vielen Jahren, die die Vereinten Nationen ausge-
richtet haben – hat Papst Franziskus den denkwürdigen
Satz gesagt: „Gott vergibt immer … Die Erde aber ver-
gibt nie.“ Das ist ein wichtiger Hinweis, den wir alle auf-
nehmen müssen. Wir müssen zu einer nachhaltigen
Bewirtschaftung kommen, um die Ernährung der Men-
schen zu sichern.

Dem Millenniumsziel „Armut und Hunger bekämp-
fen“ sind wir einen Schritt nähergekommen, aber noch
immer gibt es 800 Millionen Menschen auf der Welt, die
unter Unterernährung bzw. Mangelernährung leiden.
Dem stehen 500 Millionen Menschen gegenüber, deren
Ernährung nicht ganz den Regeln und Vorschlägen der
Deutschen Gesellschaft für Ernährung entspricht. Sie
leiden unter Adipositas durch Überernährung bzw. Fehl-
ernährung. Darüber sollte man sich überhaupt nicht er-
heben; denn in vielen Fällen ist Fehlernährung eine
Folge der sozialen Umstände.

Deswegen müssen wir das im Verbund sehen. Ein
Auftrag, den ich aus Rom mitgenommen habe, ist übri-
gens, dass wir diese Frage zwischen den verschiedenen
Ressorts und Politikbereichen abstimmen und entspre-
chende Maßnahmen ergreifen. Ich bedanke mich beim
Bundesentwicklungsminister und beim Bundesminister
für Gesundheit dafür, dass wir diese Maßnahmen bereits
auf den Weg gebracht haben. Das Präventionsgesetz ist
ein Teil dieses integrativen Verständnisses von Ernäh-
rungspolitik.

Wie wollen wir uns ernähren, und wie wollen wir das
realisieren? Mein Anspruch ist, dass wir den gesell-
schaftlichen Diskurs über die Zukunft der Ernährung ge-
stalten und Deutschland zum Vorreiter in der Beantwor-
tung dieser Fragen machen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)






Bundesminister Christian Schmidt


(A) (C)



(D)(B)

Aber wie machen wir das, und wohin soll die Reise ge-
hen? Wie sind die Rahmenbedingungen? Ich glaube, hier
müssen wir eine politische und kulturelle Debatte füh-
ren.

Es geht um die Frage, wie wir mit dem Wissen umge-
hen, dass laut vielen Erkenntnissen – manchmal stellen
sich Erkenntnisse als überholt heraus und werden durch
neuere ersetzt – Essen schädlich sein kann, aber Essen
für die menschliche Existenz unverzichtbar ist. Denken
wir an die Vorstellungen, die Jean-Jacques Rousseau vor
Jahrhunderten entwickelt hat, also „Zurück zur Natur“
und der Mensch sei der Schädiger der Natur, und das sei
zu beenden. Man spürt, dass diese Denkweise mögli-
cherweise zwar sehr idealistisch ist, aber einige Denk-
fehler beinhaltet. Das kann es nicht sein.

Wir dürfen uns jedoch auch nicht erheben und so tun,
als wüssten wir ganz genau, was jeder zu essen oder
nicht zu essen habe. Wir müssen extreme gesundheitli-
che Gefahren reduzieren. Wir müssen aber vor allem in-
formieren. Wir dürfen den Teller nicht mit Regelungen
vollpacken.

Es ist notwendig, dass wir verbindliche Informationen
geben. Die Lebensmittelinformationsverordnung, die auf
europäischer Ebene beschlossen wurde und die ich um-
gesetzt habe, mit ihren Regelungen zur Allergenkenn-
zeichnung loser Ware zeigt, wie spannend die Abwä-
gung zwischen einer Art Beipackzettel auf der einen
Seite und einer viel zu kursorischen und nicht ausrei-
chend in die Tiefe gehenden Information für Lebensmit-
tel auf der anderen Seite ist. Ich denke, wir haben gute
Maßstäbe gefunden. Damit will ich nicht sagen, dass
sich daran nichts ändern kann, wenn wir aufgrund von
neuen Erkenntnissen neue Informationen bereitstellen
müssen. Aber diese Informationen müssen gut abgreif-
bar und verständlich sein. Wir können und werden es
nicht schaffen, dass wir jeden Menschen vor einem
Essen zu einem Kundenseminar einladen und ihm dann
vielleicht auch noch die Entscheidung abnehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Jeannine Pflugradt [SPD])


Wir müssen allerdings bei Kindern und Jugendlichen
sehr genau auf die Ernährung schauen. Schulverpfle-
gung ist in der Tat ein ganz wichtiger Punkt. Ich nenne
hier das Deutsche Netzwerk Schulverpflegung. Wir
müssen und werden daran arbeiten, dies finanziell ent-
sprechend zu unterstützen. Ich halte das für eine ganz
wichtige Maßnahme.

In der Schulverpflegung wird die Grundlage dafür ge-
legt, wie man sich ernährt und was man isst. Dabei lernt
man, dass nicht nur die vier Ps allein die Ernährung aus-
machen: Pasta, Pommes frites, Pizza und Pfannkuchen,
wie unsere Untersuchung gezeigt hat. Diese sind gut,
aber nur in Maßen. Ich denke, hier besteht Handlungsbe-
darf, dieses Thema in einer fürsorglichen, aber nicht diri-
gistischen Art und Weise anzupacken.

Lassen Sie mich nicht nur die Frage stellen: „Wie
wollen wir produzieren?“, sondern auch auf die Fragen
zu sprechen kommen, die besonders strittig diskutiert
werden. Ich möchte noch einmal darauf zurückkommen,
was die Kritiker in diesem Zusammenhang sagen. Erst
gestern habe ich gelesen, dass eine Gruppe von Men-
schen gegen Tierhaltung überhaupt ist. Das ist zwar eine
klare Position, aber die Frage, wie sich dann der Mensch
ernähren soll, wird nicht beantwortet.

Ich denke, dass wir bei der Tierhaltung Bedarf für
Verbesserung und Veränderung haben. Da tun wir auch
was. Ich will das an zwei Beispielen zeigen: Das eine
Beispiel bezieht sich auf den Bereich der Geflügelkäfige
im Rahmen der Tierhaltungsverordnung, die wir jetzt an-
gegangen sind und die in Kürze auf den Tisch gelegt und
auf den Verordnungsweg gebracht wird, und das andere
Beispiel bezieht sich auf Modell- und Demonstrations-
vorhaben für mehr Respekt bei der Haltung von Schwei-
nen. Hier hat unser Haus viel Geld in die Hand genom-
men. Wir suchen nun bis zu 120 Betriebe, die in der
Praxis testen, wie wir beispielsweise mit der Frage der
Reduzierung von nichtkurativen Eingriffen umgehen
können.

Wichtig ist mir, dass der Trend, der da und dort in
Wortmeldungen zu erkennen ist, sich nicht in der Wahr-
nehmung verfestigt. Es ist nicht so, dass unser Essen
heute schlechter wäre als früher. Nein, es ist besser, es ist
gesünder, und es ist besser überwacht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Es ist auch nicht so, dass Tiere im Stall unter unsägli-
chen Bedingungen gehalten werden. Es gibt Ausreißer,
über die wir reden müssen.

Aber man sollte den Erlebnisbauernhof auf der Grü-
nen Woche – das werde ich auch heute Nachmittag in
meiner Eröffnungsrede ansprechen, aber aus Respekt ge-
genüber dem Parlament, finde ich, sollte ich das jetzt
schon sagen – durch einen Erlebnisbauernhof ergänzen,
der zeigt, wie die Landwirtschaft vor 50 oder 100 Jahren
ausgesehen hat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie werden feststellen, dass Tierhaltung nach modernen
Systemen, an denen wir auch heute arbeiten, weitaus
tierfreundlicher ist als die Tierhaltung früher.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir sollten auch vor denen Respekt haben, die ich als
die stolzen Lodenjankerträger aus den 20er-Jahren be-
zeichnet habe. Es ist nicht schön, und es ist nicht in Ord-
nung, dass ein Berufsstand – damit meine ich nicht die
Funktionäre, sondern den Landwirt und die Landwirtin –
sich in der gesellschaftlichen Diskussion nicht mehr wie-
derfindet und sich potenziell immer gleich auf die An-
klagebank gestellt sieht. Wir müssen den Dialog über
Fragen suchen. Wir müssen aber auch die, die produzie-
ren, respektieren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich bin sicher, dass uns das gelingt. Dann müssen wir
auch über die kritischen Fragen der Grünen Gentechnik
bzw. der Novel Foods – Novel Foods sind Sachen, die





Bundesminister Christian Schmidt


(A) (C)



(D)(B)

mit Wachstum und Pflanzen gar nichts mehr zu tun ha-
ben – reden. Das können wir nicht einfach laufen lassen,
genauso wenig, wie wir die Grüne Gentechnik oder bei-
spielsweise Wachstumsbeschleuniger in Hormonabga-
ben bei Fleisch laufen lassen können. Das geht nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deswegen müssen die Standards auf europäischer Ebene
so bleiben, wie sie sind. Ich glaube, das ist in der letzten
Woche sehr deutlich geworden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass wir in diesen
Fragen viel Gutes an guten Beispielen zeigen können,
dass es aber auch darum geht – damit komme ich zur
zweiten Welternährungskonferenz zurück –, unsere
Erkenntnisse, unser Wirtschaften und auch unsere Erfah-
rungen auf andere Länder zu übertragen. Ich treffe mor-
gen und übermorgen an die 70 Landwirtschaftsminister-
kollegen aus der ganzen Welt und Vertreter der Vereinten
Nationen, der Welternährungsorganisation und von
Nichtregierungsorganisationen, mit denen wir über die
Frage reden wollen, wie wir das, was die Schöpfung uns
als Möglichkeit gibt, für die Ernährung nutzen können
und wo wir etwas ändern und wo wir besser werden
müssen. Ich denke, dass von Berlin ein Zeichen in die
richtige Richtung ausgehen kann.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1807901600

Vielen Dank, Herr Minister. – Nächste Rednerin ist

für die Fraktion Die Linke die Kollegin Karin Binder.


(Beifall bei der LINKEN)



Karin Binder (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807901700

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die promi-
nente Redezeit haben wir heute einerseits sicherlich dem
Herrn Minister, aber andererseits auch der Internationa-
len Grünen Woche zu verdanken. Ich denke, es ist eine
gute Gelegenheit, bei einem solchen Anlass in Berlin un-
seren Themen auch im Bundestag mehr Aufmerksamkeit
zu verschaffen. Das darf sich aber nicht darin erschöp-
fen, dass Sonntagsreden gehalten oder Schaufensteran-
träge vorgelegt werden. Nein, wir müssen hier und heute
auch Verbindlichkeit schaffen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich teile meinen Redebeitrag in zwei Bereiche auf,
nämlich in den großen Bereich Klarheit und Wahrheit
und den ebenso großen Bereich Theorie und Praxis. Zur
Klarheit und Wahrheit gehören für mich Information,
Kennzeichnung, das Thema Werbung und die Lebens-
mittelbuch-Kommission.

Damit fange ich am besten gleich an. Die Deutsche
Lebensmittelbuch-Kommission ist eine Einrichtung, die
beispielsweise definieren darf, wie viel Leber eine Le-
berwurst enthalten muss, damit sie als solche bezeichnet
werden darf – der Anteil an Leber darf tatsächlich gering
sein –, oder bis zu welchem Anteil Schweinefleisch
– dieser Anteil darf tatsächlich größer als erwartet sein –
sich eine Wurst Geflügelwurst nennen darf. Ich halte
dies für nicht zulässig. Diese Kommission hat die Auf-
gabe, Verbraucherinteressen zu wahren und nicht die In-
teressen der Lebensmittelwirtschaft. Diese hat sich aber
leider bisher in dieser Kommission in den meisten Fällen
durchgesetzt.


(Beifall bei der LINKEN)


Deshalb fehlt echte Information und gibt es keine Trans-
parenz. Wir müssen in unserem Ausschuss für Ernäh-
rung und Landwirtschaft dringend darüber reden, wie
eine solche Kommission künftig zusammengesetzt wird,
wie sie zu arbeiten hat, wie viel Transparenz hergestellt
werden soll, was zu veröffentlichen ist und wer hier tat-
sächlich das Sagen hat, und zwar im Interesse der Ver-
braucherinnen und Verbraucher.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Klarheit und Wahrheit bedeuten auch Informations-
anspruch der Verbraucherinnen und Verbraucher nach
dem Verbraucherinformationsgesetz. Bisher gibt es ei-
nen solchen Anspruch nicht. Wenn ein Verbraucher bei
einer Firma anruft, um mehr über die sozialen Herstel-
lungsbedingungen zu erfahren, dann wird er keine Aus-
kunft bekommen. Wir möchten aber, dass im Verbrau-
cherinformationsgesetz ein solcher Anspruch verankert
wird. Menschen haben ein Recht darauf, zu erfahren, un-
ter welchen ökologischen und sozialen Bedingungen Le-
bensmittel produziert werden. Das muss verbindlich ge-
regelt werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Ein weiteres Thema ist die Kennzeichnungspflicht. Sie
werden feststellen, dass sich derzeit auf Verpackungen die
sogenannte GDA-Kennzeichnung befindet. Auch hier hat
sich leider die Lebensmittelwirtschaft durchgesetzt. Wir
würden gerne die Ampelkennzeichnung einführen, und
zwar verbindlich; denn nur so lässt sich beim Einkaufen
schnell erkennen, wie hoch der Anteil an Zucker, Fett
oder Salz tatsächlich ist und ob es Alternativen gibt.
Beim Einkaufen kann man Produktbeschreibungen in
1,2 Millimeter Schriftgröße nicht geschwind überflie-
gen, um eine vernünftige Entscheidung zu treffen. Des-
halb wollen wir die Ampelkennzeichnung verbindlich
einführen.

Lebensmittelwerbung darf außerdem nicht irrefüh-
rend sein. Wir wollen keine Vermengung von echter In-
formation und Werbung. Wir wollen erst recht nicht,
dass Kinder durch Lebensmittelwerbung bespaßt und
verführt werden. Wir wollen, dass die Bereiche, für die
sich Kinder interessieren, frei von Werbung sind. Egal
ob es um Gummibären oder Müsli- und Schokoriegel
geht, Kinder sollen nicht als Kunden gewonnen und kon-
ditioniert werden.


(Beifall bei der LINKEN)






Karin Binder


(A) (C)



(D)(B)

Denn falsches Ernährungsverhalten wird oft schon im
Kindesalter angeeignet, und diese Fehlernährung setzt
sich im Erwachsenenalter fort.

Kommen wir nun zum Thema „Theorie und Praxis“.
Ein wichtiger Punkt ist die Verführung von Kindern im
Kassenbereich; das hat in den letzten Tagen hohe Wellen
geschlagen. Zwei Stunden nachdem ich eine Erklärung
dazu abgegeben habe, habe ich eine Rückmeldung von
der Süßwarenindustrie erhalten; es ging also ziemlich
schnell.


(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Wir alle!)


Eltern, die mit ihren Kindern im Supermarkt einkaufen,
wissen, wovon ich rede. Kurz vor der Kasse beginnt die
Süßwarenzone. Kinder, die nach dem Einkauf ohnehin
müde, quengelig und aufgedreht sind, bleiben in diesem
Bereich in der Regel stehen, weil sie unbedingt dieses
oder jenes noch haben möchten. Die Eltern, die sicher-
lich wissen, dass diese Produkte nicht guttun und dass es
zu Hause ausreichend Süßigkeiten gibt, kaufen diese
Produkte dann doch, um Ruhe zu haben. Wir wollen den
Kassenbereich süßwarenfrei haben,


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Und zigarettenfrei!)


damit Kinder nicht zu einem höheren Konsum von Sü-
ßigkeiten verführt werden.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


So viel zur Quengelzone.

Jetzt komme ich zum Thema „Gesunde Ernährung für
alle“. Mir ist es wichtig – ich finde auch die Ansätze in
dem Antrag der Koalitionsfraktionen nicht schlecht –,
die DGE-Standards, also die Standards der Deutschen
Gesellschaft für Ernährung, verbindlich zu verankern,
auch für die Gemeinschaftsverpflegung, auch für Senio-
renheime, auch für Krankenhäuser, aber insbesondere
für Schulen und Kindertagesstätten. Ich halte es für ex-
trem wichtig, hier verbindlich geregelte Qualitätsstan-
dards zu haben, weil nur so tatsächlich qualitativ hoch-
wertige Verpflegung gewährleistet ist und nicht der Preis
die Schulverpflegung diktiert.

Leider ist das heute der Fall. Deshalb ist für mich
auch ganz klar: Wir brauchen eine Verbindlichkeit, und
wir brauchen eine verbindliche Finanzierung durch den
Bund. Anders werden das die Bundesländer und die
Kommunen nicht hinbekommen. Wir brauchen eine
Schulverpflegung, deren Qualität definiert ist und für die
es einen Zuschuss vom Bund von 4 bis 5 Euro pro Kind
gibt. Der Bund muss für die Für- und Vorsorge der Kin-
der zuständig sein, er muss Prävention im Sinne einer
gesunden Ernährung betreiben.


(Marlene Mortler [CDU/CSU]: Die Länder haben auch Verantwortung!)


Das müssen wir verbindlich regeln, damit beim
Thema der gesunden Ernährung Theorie und Praxis
nicht auseinanderklaffen und damit die Kinder schon in
jungen Jahren Zugang zu einer gesunden Ernährungs-
weise bekommen. Dann können sie auch als Erwachsene
das, was sie als Kinder erfahren haben, praktizieren und
ein gesundes Leben führen.


(Beifall bei der LINKEN)


Jetzt habe ich noch einen letzten Punkt. Der betrifft
die Lebensmittelvernichtung.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1807901800

Frau Kollegin, denken Sie an die vereinbarte Rede-

zeit.


Karin Binder (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807901900

Ich habe noch einen Schlusssatz.

Wenn wir wollen, dass die Vernichtung von Lebens-
mitteln um 50 Prozent reduziert wird und die Ver-
schwendung von Lebensmitteln aufhört, dann müssen
wir die gesamte Kette ins Auge fassen. Es müssen ver-
bindliche Regeln für die Lebensmittelerzeugung und den
Handel her. Dazu brauchen wir die Ergebnisse einer Stu-
die, die leider noch nicht vorliegen. Ich kann Sie nur auf-
fordern: Lassen Sie zu, dass auch der Handel und die
Hersteller in die Pflicht genommen werden.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1807902000

Nächste Rednerin ist für die SPD die Kollegin Ute

Vogt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ute Vogt (SPD):
Rede ID: ID1807902100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In

unserem Antrag „Gesunde Ernährung stärken – Lebens-
mittel wertschätzen“ heißt es: „Politik und Staat können
und wollen den Menschen keinen bestimmten Lebensstil
vorgeben.“


(Dr. Franz Josef Jung [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Ich denke, es ist richtig, dass wir deutlich machen: Es
geht nicht darum, dass wir Menschen vorschreiben, was
sie in ihren Einkaufskorb legen oder was sie am Ende es-
sen und trinken sollen, aber es geht schon darum, dass
wir hier Mitverantwortung dafür tragen, dass sich die
Menschen darauf verlassen können, dass die Lebensmit-
tel, die sie kaufen, auch sicher sind.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist für uns ein soziales Grundrecht, dass Lebens-
mittel gesund und bezahlbar sind und dass Menschen die
Möglichkeit haben, gesunde Lebensmittel zu erwerben,
egal ob sie sie an der Lebensmitteltheke kaufen, ob sie
auf den Markt gehen, ob sie unmittelbar beim bäuerli-
chen Erzeuger einkaufen oder ob sie im Discounter ihre
Lebensmittel erstehen. Ich denke, dafür stehen wir in der
Verantwortung.





Ute Vogt


(A) (C)



(D)(B)

Es gibt erfreulicherweise und Gott sei Dank sehr viele
verantwortungsvolle Lebensmittelproduzenten, vor al-
lem auch in der bäuerlichen Landwirtschaft. Wir werden
auf der Grünen Woche Gelegenheit haben, viele von ih-
nen zu treffen und uns davon zu überzeugen, dass in
Deutschland Lebensmittel von hoher Qualität produziert
werden.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Aber es gibt genauso Bereiche, in denen oft schwer-
wiegende Missstände herrschen. Wir können heute Mor-
gen diese Debatte nicht führen, ohne nicht auch darauf
hinzuweisen, dass gerade erst vor drei Tagen wieder eine
neue Meldung über den Einsatz von Antibiotika bei der
Fleischerzeugung in unseren Gazetten zu lesen war. Ich
zitiere aus der Süddeutschen Zeitung: „Ekel für wenig
Geld“. So lautete dort eine Überschrift. In einer Untersu-
chung des BUND wurde festgestellt, dass billiges
Fleisch besonders häufig mit antibiotikaresistenten Kei-
men belastet ist. Das war im Übrigen eine Untersuchung,
wie sie von der Stiftung Warentest vor etwa einem Jahr
schon einmal durchgeführt worden war – mit leider ähn-
lich erschreckenden Ergebnissen. Laut Zeitung waren
drei von vier Putenfleischproben schwer belastet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch hier sind wir
in der Verantwortung, Fehler, die im System liegen,
ebenfalls zu beheben. Es leiden hier Verbraucherinnen
und Verbraucher. Es leiden hier im Übrigen auch Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer, die in diesen Betrieben
arbeiten und zum Teil ausgebeutet werden, und es leiden
nicht zuletzt auch die Tiere, die man unter Bedingungen
hält, die nichts mehr mit artgerechter Haltung zu tun ha-
ben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn es um Ernährung und gesunde Lebensmittel
geht, spielen viele Faktoren eine Rolle. Durch die Ein-
führung des Mindestlohns haben wir es zum Beispiel ge-
schafft, gerade in der Lebensmittelbranche zumindest
bessere Arbeitsbedingungen als solche an der untersten
Grenze festzulegen. Was trotzdem noch angepackt wer-
den muss – ich bin froh, dass Ministerin Nahles dieses
Thema angeht –, ist das Thema Werkverträge, das ge-
rade im Bereich der Fleischproduktion eine große Rolle
spielt. In diesem Bereich werden oft osteuropäische Ar-
beiterinnen und Arbeiter missbraucht, um billig zu pro-
duzieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es geht darum, dass wir das, was der Minister mit der
Einrichtung des „Kompetenzkreises Tierwohl“ angesto-
ßen hat, gerade auch in der Lebensmittelproduktion ernst
nehmen, dass wir wahrnehmen, dass Tiere, die zusam-
mengepfercht leben, krank werden, dass diejenigen
Tiere, die krank werden, mehr Antibiotika brauchen und
dass das dann wiederum zu einer Schädigung der Ver-
braucherinnen und Verbraucher führt. Deshalb sollte
man die Haltungsbedingungen den Tieren anpassen und
nicht umgekehrt. Auch das ist eine Regelung, die für uns
im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf gute und si-
chere Lebensmittel notwendig ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Für uns gehört dazu, dass wir uns der Aufgabe stellen,
das Tiergesundheitsrecht neu zu ordnen und auch die
Verordnungspraxis zu überprüfen. Aber ich will aus-
drücklich sagen: Die Praxis der Verordnung von Anti-
biotika – ungeprüft, ohne vorherige Spezifizierung – ist
nicht nur ein Thema für die Tierärzte, sondern auch der
Humanmedizin. Dieses Thema betrifft nicht zuletzt die
Hygienemaßnahmen in den Krankenhäusern. Ich glaube,
das ist das nächste große Themenfeld, das wir zusam-
men mit unseren Gesundheitspolitikerinnen und -politi-
kern angehen sollten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Schließlich geht es uns darum, dass wir die Macht der
Verbraucherinnen und Verbraucher stärken, dass wir da-
für sorgen, dass die Lebensbedingungen von Tieren ver-
bessert werden und dass die Herkunft der Produkte auf
den Produktverpackungen nachlesbar ist, dass es Labels
mit nachvollziehbaren Beschriftungen gibt und dass es
nicht bei dem Wirrwarr bleibt, wie wir es im Moment in
vielen Kennzeichnungsbereichen leider haben.

In diesem Zusammenhang bin ich durchaus Ihrer
Meinung, Kollegin Binder, dass wir auch das Thema Le-
bensmittelbuch-Kommission behandeln sollten; denn es
kann nicht sein, dass das Ministerium mit großem Enga-
gement das Internetportal www.lebensmittelklarheit.de
beworben hat und dass wir auf der anderen Seite eine
Kommission haben, die eigentlich permanent zur Verun-
klarung beiträgt. Wir sind gerne bereit, da noch einmal
die Initiative zu ergreifen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Schließlich möchte ich noch darauf hinweisen: Die
Struktur der Lebensmittelbranche in Deutschland um-
fasst vier große Anbieter, die ein Oligopol bilden. Diese
vier Großen haben eine besondere Verantwortung, wenn
es darum geht, den Wert der Lebensmittel entsprechend
zu schätzen. Es geht nicht, dass diejenigen, die sich
Mühe geben, Lebensmittel von hoher Qualität zu erzeu-
gen, im Preis ständig gedrückt werden, dass man die
Hersteller geißelt und knebelt, weil man gemeinsam
praktisch Monopolmacht hat. Auch hier appelliere ich an
die Verantwortung dieser Unternehmen.

Ich denke, dass wir in der Koalition auch schauen
müssen, ob wir nicht eine Möglichkeit finden, in Form
eines Ombudsmanns oder einer Ombudsfrau eine Stelle
zu schaffen, bei der sich auch die melden können, die als
Herstellerinnen und Hersteller, als Produzenten unter
enormen Druck kommen, weil die Lebensmittelbranche
so aufgestellt ist, wie sie ist, und weil die Konkurrenz im
Moment leider hauptsächlich über den Preis läuft.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1807902200

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin

Nicole Maisch für Bündnis 90/Die Grünen.


Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807902300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

möchte mit einem Lob anfangen – das soll man ja ma-
chen, wenn es angemessen ist –: Der Antrag der Koali-
tion ist nicht schlecht.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


– Ja, darin sind gute Forderungen. Das ist auch einmal
ganz schön. Wir haben sonst viel zu streiten, gerade im
Bereich Landwirtschaft und Ernährung. Es ist gut, dass
es den gemeinsamen Willen aller drei Gruppen gibt, die
hier Anträge vorgelegt haben, dass es den Kindern in
den Schulen und Kindergärten, was das Essen betrifft,
besser gehen soll. Ich finde es erst einmal gut, dass die-
ser gemeinsame Wille da ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Das ist ein gutes Zeichen, und vor allem ist es ein starkes
Signal an die Bundesregierung, die da aktiv werden
muss.

Aber, ich finde, die Große Koalition müsste sich
schon noch mehr Gedanken machen. Das letzte Mal, als
Sie kooperiert haben, haben Sie das Kooperationsverbot
in die Verfassung hineingeschrieben. Sie wollen jetzt das
Thema Ernährung in den Lehrplänen verankern, Sie
wollen einen TÜV für Caterer an Schulen, Sie wollen
Einfluss auf die Ausschreibung beim Schulessen – und
das alles ohne jede Bundeszuständigkeit. Da wünsche
ich Ihnen viel Erfolg, ganz ehrlich; aber ich glaube, Sie
müssten zuerst einmal einen großen Fehler beheben,
nämlich das, was Sie bei der letzten Föderalismusreform
verbockt haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das heißt: Weg mit dem Kooperationsverbot! Dann kön-
nen Sie auch beim Schulessen aktiver werden.


(Zuruf des Abg. Artur Auernhammer [CDU/ CSU])


Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei all Ihren schönen
Forderungen. Sehr viel davon fußt darauf, dass der Minis-
ter sehr stark aktiv werden muss. Bei allem Respekt,
glaube ich, kann man sagen: Der größte Aktivposten in
dieser Großen Koalition, in dieser Regierung ist er bis-
her nicht gewesen. Das wissen Sie auch. Deshalb haben
Sie zum Beispiel zum Thema Lebensmittelverschwen-
dung treuherzig in Ihren Antrag geschrieben:

Wir bekräftigen die Forderungen aus dem Antrag
„Lebensmittelverluste reduzieren“ …

Dieser Antrag ist von Oktober 2012.

Passiert ist seitdem nicht viel. Dieses „Wir bekräfti-
gen“, Herr Schmidt, übersetze ich gern für Sie: Damit
meinen Ihre Leute von CDU/CSU und SPD: Herr
Schmidt, kommen Sie in die Puschen! Setzen Sie um,
was wir hier gemeinsam schon vor fast drei Jahren be-
schlossen haben!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Rita Stockhofe [CDU/CSU]: Wir können unsere Meinung selber äußern!)


Aber interessanter als das, was Sie aufgeschrieben ha-
ben, ist das, worüber Sie in Ihrem Antrag schweigen,
nämlich darüber, was unser gutes Essen bedroht, was
Qualität, Gesundheit, Vielfalt und Würde von Mensch
und Tier infrage stellt. Sie sagen in diesem Antrag – an-
ders als die Rede von Frau Vogt vielleicht vermuten lässt –
kein Wort zu den Arbeitsbedingungen in der Fleisch-
branche,


(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Das ist nicht wahr!)


zu den Zuständen in den Schlachthöfen. Es gibt keine
Forderung, die lautet: Weg mit dem mafiösen Miss-
brauch von Werkverträgen! Weg mit dem Lohnraub! –
Es findet sich nichts gegen die Ausbeutung vor allem
von osteuropäischen Beschäftigten. Sie haben keine For-
derung zu gutem Arbeitsschutz und keine Forderung
zum Ende des Missbrauchs von Werkverträgen.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE])


Es ist schön, so etwas hier in Reden zu sagen; aber ich
hätte mir gewünscht, dass Sie das gemeinsam mit der
Union aufschreiben. Das haben Sie bisher noch nicht
hinbekommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Ute Vogt [SPD]: Es ist noch nicht unser letzter Antrag!)


Ich finde, man muss an dieser Stelle auch den Fleisch-
baronen und ihren Subunternehmern – aus welchen
Milieus auch immer sie kommen – sagen: Wir schreiben
das Jahr 2015 und nicht das Jahr 1915, und so müssen
die Arbeitsbedingungen in den Schlachthöfen auch sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie haben in Ihrem Antrag auch keine Forderung zum
Thema „multiresistente Keime“. Meine Vorrednerin hat
gesagt: 88 Prozent der bei Discountern gekauften Puten-
fleischproben waren mit antibiotikaresistenten Keimen
verseucht. – Ja! Daraus muss man aber Konsequenzen
ziehen.


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)


Da reicht es nicht, wenn man sich hier vorn hinstellt und
jammert, sondern da muss man sagen: Weg mit den Re-
serveantibiotika aus unseren Ställen! Aber das kriegen
Sie, glaube ich, auf der anderen Seite des Hauses nicht
vermittelt, und deshalb steht es nicht in Ihrem Antrag.





Nicole Maisch


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Karin Binder [DIE LINKE])


Dann muss man auch sagen: „Weg mit den Mengen-
rabatten für Antibiotika!“, damit sich diese Dauermedi-
kation finanziell überhaupt nicht mehr lohnt. Auch das
steht nicht im Antrag. Das ist die Schwäche Ihres An-
trags: dass Sie da, wo es knirscht und kneift mit der
Union, einfach den Mantel des Schweigens ausbreiten.


(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Rom ist auch nicht an einem Tag erbaut worden!)


Was falsch läuft bei unserem Essen, das steht nicht in
Ihrem Antrag. Das passt nicht auf den schwarz-roten Er-
lebnisbauernhof.


(Artur Auernhammer [CDU/CSU]: Der Erlebnisbauernhof ist grün!)


Zu viel Transparenz stört die Harmonie bei der Grünen
Woche. Deshalb wollen Sie auch gar nicht mehr Infor-
mation für Verbraucherinnen und Verbraucher. Dabei
läuft doch genau da so viel schief.

Gestern haben die Verbraucherzentralen eine Studie
veröffentlicht, gemäß der für 63 Prozent der untersuch-
ten Lebensmittel mit irreführenden Aussagen geworben
wird. Meistens sind es Gesundheitsversprechen – besse-
res Wachstum, gesunde Knochen, scharfe Augen –, und
sehr oft werden Eltern mit solchen falsch etikettierten
Kinderlebensmitteln übers Ohr gehauen. Wir sagen: Ver-
brauchertäuschende Werbung, irreführende Produktauf-
machung gehört verboten! Da müssen Sie sich dranset-
zen. Da helfen freiwillige Vereinbarungen nicht weiter.

Ich möchte Ihnen noch einen Vorschlag aus unserem
Antrag unterbreiten, von dem ich denke, es macht sehr
viel Sinn, ihn zu diskutieren, weil spätestens über den
Bundesrat dieser Vorschlag auch hier wieder auftaucht.
Wir haben es mit dem Slogan „Kein Ei mit der Drei“ ge-
meinsam geschafft, dass Eier aus Käfighaltung weitge-
hend aus unseren Regalen verschwunden sind, übrigens
auch beim Discounter. Bei den Frischeiern finden Sie
kaum noch solche, die mit einer „3“ gekennzeichnet
sind, auch nicht bei Aldi und Lidl.


(Zurufe von der CDU/CSU)


Die, die jetzt den Kopf schütteln, nehme ich gerne ein-
mal mit zum Einkaufen. „Kein Ei mit der Drei“ – das
war ein Erfolg.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir wollen, dass es für Fleisch eine analoge Kenn-
zeichnung gibt. Wir wollen, dass es in Zukunft nicht nur
heißt: „Kein Ei mit der Drei“, sondern auch: „Kein Steak
mit der Drei“ und „Kein Schnitzel mit der Drei“.


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)


Dann bekommen wir wirklich Transparenz in den
Fleischmarkt. Dann können die Verbraucherinnen und
Verbraucher endlich frei entscheiden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Weil wir gerade beim Fleisch sind: Herr Schmidt, Sie
haben ja die Leute erwähnt, die Tierhaltung ganz ableh-
nen. Das sind die Veganer. Das sind nicht so furchtbar
viele; von denen braucht man sich nicht bedroht zu füh-
len. Aber die haben eine Eigenschaft: Die können ganz
hervorragend kochen. Ich habe vorhin mit meiner AG
besprochen: Wir laden Sie gerne einmal ein, mit uns zu-
sammen in eines der vielen veganen Restaurants in Ber-
lin essen zu gehen. Das heißt nicht, dass man am Ende
sämtliche Einstellungen der Veganer übernehmen muss,
aber man kann zumindest sehen, dass man nicht gleich
verhungert, wenn man vegan isst.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Kolleginnen und Kollegen, am Samstag werden wie-
der Tausende Menschen hier in Berlin für besseres Essen
und eine andere Landwirtschaftspolitik demonstrieren.
Ich glaube, es ist ein Fehler, vor allem des Bauernver-
bandes, aber auch von großen Teilen der Union, zu glau-
ben, dass sich diese Demonstration gegen die Bauern
richtet. Mitnichten! Das ist eine Demonstration gegen
Ihre Agrarpolitik.


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist das!)


Wenn Sie sagen, wir griffen die Bauern an, dann verste-
cken Sie sich hinter der Branche. Das ist eine Demon-
stration, die sich gegen eine falsche Agrarpolitik richtet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb werden wir am Samstag hier wieder demon-
strieren. Ich glaube, dass es auch diesmal wieder sehr
viele Leute sein werden, die sagen: Wir wollen eine an-
dere Agrarpolitik. Wir wollen besseres Essen. Und dafür
gehen wir gemeinsam auf die Straße.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1807902400

Vielen Dank, Frau Kollegin Maisch. Ich darf Sie ins-

besondere für die präzise Einhaltung der Redezeit loben.

Nächste Rednerin ist die Kollegin Katharina
Landgraf, CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katharina Landgraf (CDU):
Rede ID: ID1807902500

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Unsere heutige Debatte findet ja kurz vor dem
Mittagessen statt. Vielleicht gönnen Sie sich trotz des
Eröffnungsrundganges über die Grüne Woche heute
Abend bereits nachher schon ein warmes Mittagessen in
einem der Restaurants des Bundestages. Angenommen,
Sie schaffen das zeitlich und lassen sich erwartungsvoll
nieder: Was würden Sie dann sagen, wenn der Oberkell-
ner freudestrahlend statt des üblichen Bestecks zwei
Brechstangen aus hartem Stahl neben Ihren Teller legt,
für die heiße Vorspeise einen unförmigen Löffel bringt,





Katharina Landgraf


(A) (C)



(D)(B)

der wie ein Gesetzesparagraf aussieht, und außerdem
statt der gewohnten Speisekarte ein Blatt aus dem Bun-
desanzeiger mit den aktuellen Speiseverordnungen für
das Restaurant und seine hungrigen Gäste überreicht?


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Freundlich kommentiert der Kellner: Das ist unser krea-
tiver Beitrag, um das Thema gesunde Ernährung endgül-
tig zu knacken. – „Wie bitte?“, werden Sie verdutzt fra-
gen. Mit einer Brechstange kann man sicherlich eine
Walnuss aufschlagen, um an die Frucht zu kommen.
Aber gesundes Essen nach der Vorgabe des Bundesan-
zeigers? Nein danke!


(Zuruf der Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Nahrungsaufnahme als eine der ältesten Kultur-
techniken der Zivilisation funktioniert wohl kaum mit
einer Brechstange. Wir brauchen dafür andere Instru-
mente, die wir mit Geschick und Grips einsetzen. Am
Ende wollen wir alle die Mahlzeit auch genießen und sie
nicht als profane Energieaufnahme empfinden.

Ich lasse Ihnen allen jetzt gern jegliche Freiheit, diese
eben geschilderte imaginäre Szene zu interpretieren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Fakt ist doch eines: Die Brechstange ist sicherlich hilf-
reich für grobe Dinge auf dem Bau oder beim Abriss,
aber völlig ungeeignet für solche feinsinnigen Dinge des
Lebens wie eben die Ernährung. Sie ist eher eine Ange-
legenheit des Kopfes, der Sinne und des Wissens. Nichts
ist persönlicher und direkter auf den Menschen bezogen
als die Ernährung. Sie ist lebensnotwendig, lebensbeja-
hend und im negativen Falle sogar lebens- und gesund-
heitsbedrohend. Man kann es nicht oft genug wiederho-
len: Jeder Mensch trägt hier eine direkte persönliche
Verantwortung. Wenn er diese noch nicht oder nicht
mehr wahrnehmen kann, so sind es engagierte Men-
schen, die diesen Schutzbefohlenen zur Seite stehen
müssen. Politik und Staat müssen hier flankierend und
hilfreich wirken, ohne jedoch die eigentliche persönliche
Verantwortung des Einzelnen zu übernehmen oder diese
übernehmen zu wollen.

Das ist auch die Zielrichtung unseres heutigen An-
trags. Entscheidend für das Ernährungsverhalten und
insgesamt für eine gesunde oder ungesunde Ernährung
ist die Lebenskompetenz des Menschen mit seinem Wis-
sen, seiner Bildung, seinen Erfahrungen und nicht zu-
letzt mit seinen ganz persönlichen Veranlagungen. Letz-
tere stellen Eltern nicht selten vor ein Rätsel. Bei meinen
acht heranwachsenden Enkeln erlebe ich selbst mit gro-
ßem Erstaunen, wie unterschiedlich sich das jeweilige
Ernährungsverhalten entwickelt.

Erziehungswissenschaftler und Weiterbildungsexper-
ten sagen mir, dass rund 80 Prozent der Lebenskompe-
tenz des Menschen nicht in den allgemeinbildenden
Schulen entwickelt wird. Man eignet sie sich durch er-
fahrungsbezogenes Lernen im Leben vor und nach dem
Schulbesuch an.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Also ist die gesunde Ernährung eine generationenüber-
greifende und in jedem Lebensalter wichtige Lernauf-
gabe. Ihre Erfüllung ist gelebte Eigenverantwortung ei-
nes jeden Menschen: für sich selbst und für alle seine
Schutzbefohlenen.

Als Familienpolitikerin möchte ich auch hier mit al-
lem Nachdruck feststellen: Der zentrale Ort für die Ent-
wicklung der erforderlichen Ernährungskompetenz ist
im Normalfall die Familie in ihrer Vielfalt mit ihren Tra-
ditionen und Gepflogenheiten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Eltern und Großeltern vermitteln noch vor der Schulbil-
dung ihren Kindern und Enkelkindern das Thema „Ge-
sunde Ernährung“ mit ihrem persönlichen Wissen und
ihrem persönlichen Vorbild.

Dieses traditionelle und nicht zu ersetzende Lebens-
zentrum wird durch Politik und Staat mit vielfältigen In-
strumenten aktiv unterstützt; so in der Hauptsache durch
die schulische und berufliche Bildung sowie durch öf-
fentliche Aufklärung. Außerdem sind Bildungsangebote
für Eltern, insbesondere für werdende Mütter, ebenfalls
grundlegende Hilfen.


(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Auch für werdende Väter!)


Eine hochwertige und altersgerechte Schulverpfle-
gung sowie eine fundierte schulische Ernährungsbildung
sind eine bedeutende öffentliche Unterstützung der ge-
sunden Ernährung von Kindern und Jugendlichen. Bei-
des ist insofern wichtig, weil immer mehr Kinder und
Jugendliche über etliche Jahre hinweg tagsüber eine
lange Zeit in der Schule verbringen. Die anlässlich des
ersten „Bundeskongresses Schulverpflegung 2014“ im
November vorigen Jahres durch das Bundesministerium
für Ernährung und Landwirtschaft initiierte Qualitäts-
offensive zur Verbesserung des Schulessens ist Basis für
eine gemeinsame Strategie von Bund, Ländern, Kommu-
nen und Schulen.

Der Bundestag unterstützt seit 2008 den Nationalen
Aktionsplan IN FORM als Deutschlands Initiative für
gesunde Ernährung und Bewegung. Damit soll erreicht
werden, dass Kinder gesünder aufwachsen, Erwachsene
gesünder leben und von einer höheren Lebensqualität
und einer gesteigerten Leistungsfähigkeit profitieren.
Die Fortführung von IN FORM bis zum Jahr 2020 muss
allerdings mit einer stärkeren Breitenwirkung der viel-
fältigen Aktivitäten und Projekte verbunden werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste auf der
Besuchertribüne, die Internationale Grüne Woche, die
heute Abend eröffnet wird, ist die traditionelle und welt-
weit bekannte Leistungsschau der Land- und Ernäh-
rungswirtschaft. Jährlich nutzen rund 400 000 Besuche-
rinnen und Besucher dieses Treffen, um Speisen und
Getränke aus den Regionen Deutschlands wie auch aus
aller Welt zu probieren und Tiere in Augenschein zu
nehmen. Sie informieren sich über die Entwicklungen in
der Produktion von Lebensmitteln. Die Internationale
Grüne Woche bietet vielfältige Gelegenheiten zur Kom-
munikation über die Zukunft der Branche sowie über be-
stehende und zu lösende Probleme.





Katharina Landgraf


(A) (C)



(D)(B)

Essen und Trinken haben in den Lebenswelten der
Bürgerinnen und Bürger immer mehr einen festen und
dauerhaften Platz. Das ist nicht zuletzt der umfangrei-
chen Präsentation in den Medien geschuldet. Die Ver-
braucherinnen und Verbraucher in unserem Land erleben
in ihrem Alltag eine nur schwer zu überblickende Viel-
falt und Menge an Angeboten von landwirtschaftlichen
Produkten und Nahrungsmitteln. Wie nie zuvor können
sie dabei auf sichere, qualitativ hochwertige und auch er-
schwingliche Lebensmittel, insbesondere auf regionale
Produkte, zurückgreifen. Dafür gebührt den Landwirten
und auch den Nahrungsmittelproduzenten Dank und
Wertschätzung.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Entscheidung darüber, in welcher Weise die An-
gebote und Möglichkeiten genutzt werden, sind stets in-
dividuell geprägt, jedoch auch durch viele äußere Fakto-
ren wie Werbung und Verbraucherinformationen positiv
oder negativ beeinflusst. Die zunehmende Diskrepanz
zwischen dem vielfältigen Angebot von hochwertigen
Lebensmitteln, die eine gesunde Ernährung ermöglichen
und befördern, und dem stetigen Anwachsen ernäh-
rungsbedingter Krankheiten auf der anderen Seite erhöht
für uns Politiker den Handlungsdruck. Es ist unbestrit-
ten: Viele gesundheitliche Probleme haben ihre Ursache
in ungesundem Ernährungsverhalten, zum Beispiel im
übermäßigen Verzehr von energiereicher Kost. Das ist
ein gesellschaftliches Dilemma, aus dem wir nicht mit
Brechstange und Paragrafen herauskommen. Wir brau-
chen noch mehr zündende Ideen, die jeden dazu inspirie-
ren, bei der gesunden Ernährung mit ganzem Herzen da-
bei zu sein. Klar ist: Es ist das gemeinsame Ziel der
Koalition von CDU/CSU und SPD, in Deutschland ein
nachhaltig wirkendes gesellschaftliches Umfeld zu
schaffen, das es allen Menschen ermöglicht, sich gesund
und bewusst zu ernähren, und die Bürgerinnen und Bür-
ger in allen Lebenswelten dazu motiviert.

Meine Damen und Herren, meine Rede hatte ich mit
einer fiktiven Szene aus dem Bundestagsrestaurant be-
gonnen. Schließen möchte ich mit einem realen Bild, das
uns das Problem veranschaulicht: Auf dem modern ge-
stalteten Bahnsteig des Bitterfelder Bahnhofs, der un-
scheinbar grau ist, kann man etwas entdecken: einen
Farbtupfer mit den Slogans „Frisch und Lecker“ und
„Einfach genial!!!“ – mit drei Ausrufezeichen und einem
erhobenen Daumen darunter. Im Hintergrund sind viele
bunte Bonbons einer bekannten Marke zu sehen. Das
Plakat verziert die Seiten- und Rückwand eines üblichen
Selbstbedienungsautomaten mit allerlei Süßem – fest
oder auch flüssig. Wenn irgendwann mal ein mit solcher
Werbung versehener Automat nicht nur in Bitterfeld fri-
sches Obst und gesunde Getränke feilbieten sollte, dann
haben wir – symbolisch gesehen – etwas gekonnt in Sa-
chen gesunde Ernährung. Aber auch hier sollten wir
nicht mit der Brechstange agieren.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1807902600

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin

Caren Lay von der Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Caren Lay (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807902700

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Auch ich freue mich sehr, dass wir zum wichti-
gen Thema gesunde Ernährung heute in der Kernzeit
sprechen können. Ich finde auch, dass wir es bei so ei-
nem wichtigen Thema nicht bei formlosen Appellen be-
lassen sollten, sondern tatsächlich Butter bei die Fische
geben und über genau diejenigen Bereiche sprechen soll-
ten, die eine gesunde Ernährung und die Information
über gesunde Ernährung gefährden. Deswegen meine
ich, dass wir beim Thema gesunde Ernährung beispiels-
weise auch über das geplante Freihandelsabkommen
zwischen der Europäischen Union und den USA, TTIP,
sprechen müssen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich finde es gut, dass der Minister heute auch einige
kritische Worte zu einzelnen Punkten gefunden hat; denn
in der Südwest Presse hat er noch vor einiger Zeit er-
klärt, TTIP sei für die Verbraucher keine Bedrohung,
sondern eine Chance. Da höre ich wohl nicht richtig!
Wenn das Freihandelsabkommen eine Chance ist, dann
ist es eine Riesenchance für die Konzerne, aber doch
nicht für die Verbraucherinnen und Verbraucher.


(Beifall bei der LINKEN)


Herr Minister, Sie befürchten beispielsweise – das ha-
ben Sie auch gesagt –, dass die regionalen Herkunftsbe-
zeichnungen möglicherweise aufgeweicht werden, dass
dann beispielsweise eine Spreewald-Gurke auf den
Markt kommt, die den Spreewald noch nie gesehen hat.
Diese Befürchtung teile ich.

Nehmen wir das Thema Hormonfleisch. Es ist be-
kannt, dass in der gigantischen und durchindustrialisier-
ten Fleischproduktion in den USA Wachstumshormone
zum Einsatz kommen. Diesen lehnen die Verbraucherin-
nen und Verbraucher bei uns ab. Der Import von Hor-
monfleisch in die EU ist zu Recht verboten. Wir finden,
dass das so bleiben soll. Deswegen freut mich, dass der
Minister dieses Thema heute angesprochen hat. Aller-
dings sehen die NGOs die Gefahr, was den Import dieses
Hormonfleisches in die Europäische Union anbelangt,
noch nicht gebannt.

Das Gleiche gilt für die Gentechnik. Bei vielen Ver-
braucherinnen und Verbrauchern in Europa gehen die
Alarmglocken an, wenn sie hören, dass in den USA der
Großteil der Soja-, Mais- oder Zuckerrübenpflanzen
gentechnisch verändert ist. In Deutschland beispiels-
weise lehnen 80 Prozent der Verbraucherinnen und Ver-
braucher Gentechnik ab. Deswegen sagen wir: Europa
darf auch zukünftig kein Markt für Gentechnik sein.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir uns einig sind im Bereich Gentechnik-
importe, wenn wir uns einig sind im Bereich Hormon-





Caren Lay


(A) (C)



(D)(B)

fleischimporte und auch beim Schutz regionaler Her-
kunftsbezeichnungen, dann freut mich das, Herr Minister.
Aber ich muss schon sagen, dass das geplante
Freihandelsabkommen aus meiner Sicht an anderen Stel-
len viel größere Gefahren birgt. Auch die müssen heute
angesprochen werden, beispielsweise die geplanten pri-
vaten Schiedsgerichte und die Investorenklagen. Zum ei-
nen führen sie zu einem erheblichen Demokratieprob-
lem. Zum anderen hat es Auswirkungen auf den Bereich
Lebensmittel und Ernährung, wenn beispielsweise ein
US-amerikanischer Hersteller über den Weg dieser
Schiedsverfahren einklagen kann, den selbst produzier-
ten holländischen Gouda oder die Spreewaldgurke auf
den europäischen Markt zu bringen. Wenn Sie es ernst
meinen mit Ihrer Kritik, dann müssen Sie auch den Mut
haben, sich über die privaten Schiedsgerichte mit den
Konzernen anzulegen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ein weiteres Grundproblem: Wir müssen überlegen, ob
wir als Gesetzgeber überhaupt noch die Möglichkeit ha-
ben werden, Standards und Regelungen zu definieren,
die die Gewinne der Konzerne schmälern, oder ob wir
entgangene Gewinne am Ende durch Steuermittel kom-
pensieren müssen.

Die Kernfrage beim Freihandelsabkommen ist nicht:
Kann man hier und da ein wenig herumdoktern und das
eine oder andere Schlimme verhindern? Das ist offenbar
Ihre Position. Vielmehr geht es aus meiner Sicht um die
Frage: Ist mehr Freihandel, ist mehr Globalisierung nicht
grundsätzlich der falsche Weg? Das ist die Position der
Linken. Wir wollen mehr regionale Produktion, und wir
wollen regionale Wertschöpfungsketten. Deswegen sa-
gen wir: Dieses Freihandelsabkommen, das TTIP, muss
verhindert werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich freue mich deswegen, dass schon Millionen Unter-
schriften gegen das TTIP gesammelt wurden. Ich freue
mich, dass wir bei der „Wir haben es satt!“-Demo am
Samstag die Gelegenheit haben werden, unter anderem
dagegen zu demonstrieren.

Lassen Sie mich zum Schluss etwas zum Verbrau-
cherinformationsgesetz sagen; denn das gehört zu die-
sem Thema dazu. Das Verbraucherinformationsgesetz in
der derzeitigen Form ist gut gemeint, aber leider ziem-
lich wirkungslos. 90 Prozent der Anfragen werden man-
gelhaft beantwortet: zu spät, zu teuer oder unvollständig.
Das ergaben eine Studie der Verbraucherorganisation
Foodwatch und nicht zuletzt eine Kleine Anfrage der
Linksfraktion.

Für uns Linke ist ganz klar: Das VIG muss erstens
leichter anwendbar sein. Es muss zweitens eine Aus-
kunftspflicht der Unternehmen gegenüber den Verbrau-
chern beinhalten. Die Informationen müssen drittens
kostenfrei sein; denn Transparenz darf nicht vom Geld-
beutel der Verbraucher und der Organisationen abhän-
gen.


(Beifall bei der LINKEN)

Schließlich – und das ist mein letzter Punkt – werden
in der jetzigen Form des VIG die Behörden ausgebremst,
Informationen weiterzugeben. Die Bundesgesetze sind
unklar, und deswegen gibt es immer wieder Situationen,
in denen die Behörden nicht die Namen der Unterneh-
men nennen können, wenn beispielsweise die Pestizid-
grenzwerte im Paprika überschritten oder die Hygiene-
standards in einer Bäckerei oder in einem Restaurant
nicht eingehalten werden. Es dient deshalb der gesunden
Ernährung, wenn wir als Linke heute erneut fordern: Das
derzeitige Verbraucherinformationsgesetz muss drin-
gend novelliert werden; denn nur durch andere Instru-
mente können wirkungsvolle Informationen an die
Verbraucherinnen und Verbraucher, die sich gesund er-
nähren wollen, weitergegeben werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1807902800

Für die SPD spricht jetzt die Kollegin Jeannine

Pflugradt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Jeannine Pflugradt (SPD):
Rede ID: ID1807902900

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Werte Gäste auf den Tribünen! „Gesunde Er-
nährung stärken – Lebensmittel wertschätzen“: Warum
sprechen wir heute darüber? Heutzutage nehmen sich die
Menschen weniger Zeit für ihre Mahlzeiten. Das Essen
ist kein Erlebnis mehr, sondern nur noch reine Nah-
rungsaufnahme, und es wird nur noch selten regelmäßig
im Familienverbund genossen. Selbst die grundlegenden
Dinge scheinen nicht mehr selbstverständlich. Die stän-
dige Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln in Deutschland
führt dazu, dass wir uns über die Werte des Essens und
Trinkens zu wenig Gedanken machen und Nahrungsmit-
tel nicht mehr richtig wertschätzen. Ein Bewusstseins-
wandel kann nur durch Aufklärung und Eigenmotivation
der Menschen zu selbstbewussten sowie mündigen Ver-
brauchern erfolgen.

Kitaeinrichtungen und Schulen als Lernort sind dafür
wichtige Anlaufstellen. Heute geht zum Beispiel jedes
dritte Kind ohne Frühstück in den Unterricht. Das ist
schwer vorstellbar, aber leider wahr. Hier können Kitas
und Schulen ansetzen und den Wert von gesunder sowie
ausgewogener Ernährung vermitteln. Sich mit Essen und
Lebensmitteln auszukennen, hat heute viel mit dem so-
zialen Status zu tun. Essen ist zu einem Identifikations-
mittel geworden. Das Interesse an gutem Essen hat zuge-
nommen, und parallel dazu entwickelt sich die Küche
wieder zum zentralen Bestandteil des familiären Lebens.
Aber tatsächlich richtig gekocht wird weit weniger als
früher. Wir brauchen deshalb langfristige Programme,
die alle Menschen in jeder Lebenslage direkt erreichen.

Ein anderer Aspekt der Wertschätzung von Nahrungs-
mitteln ist die Preisgestaltung. Über diese können wir
vermitteln, was uns das Essen wert ist, welches wir kon-
sumieren. Preise erhalten dadurch als Teil der Wert-





Jeannine Pflugradt


(A) (C)



(D)(B)

schöpfungskette eine herausragende Bedeutung. Sie sa-
gen dem Verbraucher nicht nur, dass das Produkt von
hoher Qualität ist, sondern auch, dass es hochwertig pro-
duziert wurde. Leider geht der Trend derzeit noch zum
Billigmarktsegment. „Hauptsache billig“ müssen unsere
Lebensmittel sein. Das ist für mich persönlich verwir-
rend; denn wenn wir uns zum Beispiel einen Neuwagen
kaufen, entscheiden wir über den Preis, ob der Wagen,
den wir kaufen, eine gute Qualität hat. Warum zahlen
wir also nicht auch etwas mehr für ein gutes Stück
Fleisch oder für frisches Obst und Gemüse?

Wertschätzung umfasst somit die Produktion, den
Kauf und den Verzehr des Nahrungsmittels sowie die
Vermeidung von Abfall. Hier ist meiner Meinung nach
aber jeder einzelne Verbraucher gefragt. Das erfordert
ein Umdenken beim Konsum.

Mit dem weiteren Ausbau der Ganztagsschulen in
Deutschland muss auch das Verpflegungssystem für
Kinder und Jugendliche überdacht werden. Schulver-
pflegung verstehen wir Sozialdemokraten als gesamtge-
sellschaftliche Aufgabe, die als gleichwertiger Bestand-
teil in das Schulleben integriert werden sollte.


(Beifall bei der SPD)


Die Sensibilisierung für dieses Thema muss dort be-
ginnen, wo die Lernbereitschaft von Menschen am größ-
ten ist, nämlich in den Kitas und in den Schulen.
Zunächst betrifft das die Bereitstellung einer ausgewo-
genen, gesunden Verpflegung, die sich mindestens an
den Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft für
Ernährung orientieren sollte. Zumindest aber sollte ge-
prüft werden, wie ein gesichertes Kontrollsystem die
Einhaltung dieser Standards gewährleisten kann. Des-
halb fordern wir, die SPD-Bundestagsfraktion, die Bun-
desregierung auf, in Zusammenarbeit mit den Bundes-
ländern den Worten unseres Bundesministers Christian
Schmidt Taten folgen zu lassen, nämlich die DGE-Qua-
litätsstandards für die Kita- und Schulverpflegung
flächendeckend in Deutschland zu etablieren und ein
Nationales Qualitätszentrum Schulessen, wie es Bundes-
minister Schmidt auf dem Bundeskongress Schulver-
pflegung angekündigt hat, einzuführen. Dieses Zentrum
sollte bei der Deutschen Gesellschaft für Ernährung und
den Schulvernetzungsstellen angesiedelt sein.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1807903000

Frau Kollegin Pflugradt, gestatten Sie eine Zwischen-

frage der Kollegin Maisch?


Jeannine Pflugradt (SPD):
Rede ID: ID1807903100

Gern.


Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807903200

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Sie haben gerade da-

von gesprochen, dass Bund und Länder gemeinsam die
DGE-Standards zur Pflicht machen sollen. Das finden
wir sehr gut. Ich möchte Sie fragen, wie Sie in diesem
Zusammenhang zum Kooperationsverbot stehen: Finden
Sie es förderlich für eine solche Zusammenarbeit im Bil-
dungsbereich?

Jeannine Pflugradt (SPD):
Rede ID: ID1807903300

Das Kooperationsverbot ist nicht förderlich. Ich per-

sönlich habe da auch einen ganz eigenen Standpunkt: Ich
plädiere für die Aufhebung des Kooperationsverbotes,
damit die Länder einen Partner an der Seite haben, näm-
lich den Bund.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zurück zu meiner Rede: Ein wichtiger Schritt ist, die
DGE-Standards an Kitas und Schulen im Ausschrei-
bungsverfahren und in den Verträgen mit den Trägern zu
verankern. Nur wer sich daran hält, sollte den Auftrag
zur Verpflegung von Kindern und Jugendlichen bekom-
men. Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt die Forde-
rung nach einem Qualitätsnachweis, dem sogenannten
Ernährungs-TÜV für Anbieter.

Vergessen werden darf bei der heutigen Debatte nicht,
dass die Gemeinschaftsverpflegung auch in anderen Be-
reichen des Lebens, also über Kita und Schule hinaus für
den eigenen Lebensstil bedeutend ist. Ich spreche mich
an dieser Stelle mit Nachdruck dafür aus, angepasste
Qualitätsstandards als Mindeststandards vorzusehen und
sie insbesondere bei der Verpflegung in Krankenhäu-
sern, Pflegeeinrichtungen und anderen öffentlichen Kan-
tinen genauso strikt durch die Länder umsetzen zu lassen
wie bei der Verpflegung von Kindern und Jugendlichen.


(Beifall bei der SPD)


Kranke und pflegebedürftige Menschen sowie Arbeit-
nehmer im Arbeitsalltag benötigen eine vollwertige Er-
nährung, die an ihre Bedürfnisse und Lebensumstände
angepasst sein sollte. Das muss zumindest in der Ge-
meinschaftskantine gewährleistet sein.

Gerade die Vernetzungsstellen Schulverpflegung leis-
ten im Lebensabschnitt Kita und Schule gute Arbeit,
wenn es um die Verbreitung von Qualitätsstandards und
Qualifizierung geht. Sie sind für die Einrichtungen die
zentrale Anlaufstelle bei allen Fragen rund um die
Schulverpflegung und erhöhen dadurch auch die Akzep-
tanz der Verpflegungsangebote. Die SPD-Bundestags-
fraktion fordert die Bundesländer deshalb auf, weiterhin
ihren finanziellen Beitrag zur Unterstützung der Vernet-
zungsstellen Schulverpflegung zu leisten, damit der
Bund nach 2016/2017 nicht aus der Finanzierung aus-
steigt. Die Vernetzungsstellen müssen als zentrale Bera-
tungsstellen für die Kita- wie die Schulverpflegung ver-
ankert werden. In einigen Bundesländern arbeiten die
Vernetzungsstellen mit den Landfrauen zusammen. Sie
unterstützen die Schulen deutschlandweit dabei, den
Ernährungsführerschein als Bildungsmaßnahme für
Grundschulkinder anzubieten, durchzuführen und bei
Erfolg zu überreichen. Diese Bildungsmaßnahme sollte
weiterhin durchgeführt werden können, wenn nicht so-
gar ausgebaut werden.

Ich freue mich, dass der Nationale Aktionsplan
IN FORM weiterhin durch den Bund gefördert wird und
Niederschlag im kommenden Präventionsgesetz finden
wird, in dem die Folgen von Fehlernährung sowie Bewe-
gungsmangel angemessen berücksichtigt werden müs-





Jeannine Pflugradt


(A) (C)



(D)(B)

sen. Ich wünschte mir, dass an einigen Stellen der Initia-
tive IN FORM Anpassungen vorgenommen würden,
zum Beispiel, wenn geförderte Projekte keinen Mehr-
wert bieten und keinen Beitrag zur Prävention gegen
Übergewicht leisten. Das gilt insbesondere, wenn gleich-
zeitig an anderen Stellen gespart wird. Nur gute Projekte
müssen fortgeführt und durch weitere Maßnahmen er-
gänzt werden. Die Projekte müssen genau betrachtet
werden, um festzustellen, ob sie zielführend sind.

Insbesondere Kinder aus bildungsfernen und einkom-
mensschwachen Familien sind von Fehlernährung be-
troffen. Gerade für uns Sozialdemokraten ist es eine
Frage der sozialen Gerechtigkeit, für ihre Teilhabe an
gesunder Ernährung zu sorgen. Wir wollen sie vor Fehl-
ernährung schützen und allen Kindern unabhängig von
Herkunft, Bildung und Einkommensstatus der Eltern
eine Chance auf ein gesundes Leben geben.


(Beifall bei der SPD)


Zum Abschluss möchte ich einen Aspekt eines gesun-
den Lebensstils aufgreifen, der mir persönlich sehr wich-
tig ist. Nach einem Ranking der Deutschen Diabetes Ge-
sellschaft steht eine Stunde Bewegung am Tag an erster
Stelle, wenn es um die Wirksamkeit einzelner Methoden
zur Prävention von übergewichtsbedingten Krankheiten
geht. Bewegung und ausgewogene Ernährung gehören
also zusammen und müssen gemeinsam betrachtet wer-
den. Körperlich aktiv zu sein, bedeutet nicht, ständig
Sport zu treiben. Vielmehr sollten die Möglichkeiten ge-
nutzt werden, im Alltag das Maß an eigener Bewegung
zu steigern: Anstatt des Autos kann man mal das Fahrrad
nehmen oder anstatt des Fahrstuhls die Treppe; da fasse
ich mir an die eigene Nase. Es gilt, ein Bewusstsein für
positive Effekte von Bewegung zu schaffen, also die
Motivation zur Alltagsbewegung zu stärken.

Im Alltag müssen vor allem zielgruppenspezifische
Möglichkeiten zur Bewegung geschaffen werden. Die
Anreize zur Bewegung müssen so attraktiv wie möglich
gestaltet sein. Sportvereine können den Wunsch nach
sportlicher Betätigung erfüllen und sind darüber hinaus
ein wichtiger gesellschaftlicher Anlaufpunkt hinsichtlich
der sozialen Integration. Der soziale Status darf – das
gilt auch hier – kein Hindernis für die Mitgliedschaft in
einem Verein sein.

Am Ende meiner Rede möchte ich die herausragende
Stellung der Familie für die Weitergabe eines gesunden
Lebensstils hervorheben. Wir alle vermitteln als Eltern
mit jedem Wort und jeder Handlung direkt und unmittel-
bar Werte fürs Leben.

Wir sind lange Zeit die Vorbilder für die eigenen Kin-
der, für den eigenen Nachwuchs. Ich hoffe jedenfalls für
mich, dass mein Sohn das genauso sieht.

Unsere Kinder zu unterstützen und Hilfestellung zu
geben, wenn sie diese brauchen, ob beratend oder finan-
ziell, das muss für alle Eltern oberste Priorität haben. Ein
gesunder Lebensstil enthält deshalb notwendigerweise
beide von mir angesprochenen Komponenten, eine aus-
gewogene Ernährung und ein Mindestmaß an körperli-
cher Aktivität. Beides sollte durch gesetzliche Rahmen-
bedingungen oder empfohlene Richtlinien unterstützt
werden. Den Weg dorthin muss aber jeder Mensch al-
leine gehen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1807903400

Nächster Redner ist der Kollege Harald Ebner, Bünd-

nis 90/Die Grünen.


Harald Ebner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807903500

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und

Kollegen! Die Koalition hat einen ordentlichen Antrag
zur Ernährung vorgelegt.


(Beifall bei der SPD – Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Das Lob wird immer besser!)


Da steht auch nichts wirklich Falsches drin. Aber


(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Jetzt kommt das Aber!)


angesichts der aktuellen Herausforderungen in dem ge-
samten Bereich Ernährung und Landwirtschaft wirkt das
eher wie ein hilfloser Versuch, irgendwo mit dem Stop-
fen anzufangen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn
die ganze Scheune marode ist, dann hilft es wenig, vorne
dran eine kleine, aber feine neue Hundehütte mit einem
schicken Dach zu stellen. Das sieht zwar gut aus, aber es
regnet trotzdem noch ins Heu rein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Gesunde Ernährung gibt es nämlich nur auf der Basis
einer gesunden Lebensmittelerzeugung. Im UNO-Jahr
der Böden sei an das Ökolandbauprinzip erinnert: gesun-
der Boden, gesunde Pflanzen und Tiere, gesunde Le-
bensmittel, gesunder Mensch.

Herr Minister Schmidt, dabei geht es nicht darum,
dass die IGW die Landwirtschaft der letzten 50 Jahre
zeigt, sondern dass sie auch zeigt, wie es in den nächsten
zehn Jahren weitergeht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es geht um eine bäuerliche Landwirtschaft als Grund-
lage einer gesunden Agrarstruktur. Es geht um eine Er-
zeugung ohne ungesunde Zutaten wie Gentechnik oder
Pestizide. Es geht um eine Erzeugung, die Menschen,
Tiere und Agrarökosysteme gesund hält.

An dieser Stelle ein Wort zu den Antibiotika. Der pro-
phylaktische Einsatz von Antibiotika ist ja verboten und
nicht nur nicht wünschenswert. Das sollte auch der Herr
Minister wissen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es geht aber auch um die Erhaltung unserer Standards
bei TTIP und CETA, um Wahlfreiheit und Transparenz.

Wir erleben seit Jahrzehnten ein dramatisches Höfe-
sterben. Aber statt bei der GAP-Reform die Interessen
der kleinen und mittleren Betriebe zu vertreten, hat die





Harald Ebner


(A) (C)



(D)(B)

Bundesregierung die Interessen der Agrarindustrie ver-
treten. Denn wer profitiert von den nach oben ungede-
ckelten Direktzahlungen? Das sind doch nicht die klei-
nen und mittleren Betriebe.

Eine gesunde Agrarstruktur braucht natürlich auch
eine vielfältige Wertschöpfungskette. Vielfalt und Quali-
tät erfordern Kompetenz, wie sie im Lebensmittelhand-
werk angelegt ist. Insofern sind wir zu Recht stolz auf
die Vielfalt unserer Wurst- und Backwaren. Natürlich
müssen wir zur Stärkung von Landwirtschaft und Hand-
werk unsere geografischen Spezialitäten verstärkt unter-
stützen. Aber Minister Schmidt möchte angesichts von
TTIP nicht mehr jede Wurst schützen.

Zu gesunden Zutaten gehören ganz bestimmt nicht
Gentechnik oder Pestizide. Die Ablehnung der Gentech-
nik ist gut begründet. Ihre Folgen sind bekannt: weniger
Sortenvielfalt, Monopolisierung, Patentierung, steigende
Pestizidmengen und eine fortschreitende Industrialisie-
rung der Landwirtschaft.

Und was macht die Große Koalition? Sie machen in
der EU den Weg frei für neue Anbau- und Importzulas-
sungen. Jetzt wollen Sie auch noch bei TTIP die in Eu-
ropa bereits bestehende Kennzeichnungspflicht für
Gentech-Zutaten in Lebens- und Futtermitteln opfern.
Minister Schmidt hat in der Tagesschau einen Vorschlag
präsentiert, nach dem die Bürgerinnen und Bürger künf-
tig jeden einzelnen Artikel mittels Barcode und Smart-
phone auf mögliche Gentech-Zutaten abscannen müs-
sen, wenn sie wissen wollen, ob Gentech drin ist. Das ist
doch der absolute Gipfel der Verbrauchertäuschung.
Man schreibt es nicht im Klartext drauf, und dann wird
es schon keiner merken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Karin Binder [DIE LINKE])


Ich bin wirklich fassungslos. Die Verhandlungen sind
noch nicht einmal richtig in die heiße Phase gekommen,
da räumt die Bundesregierung schon freiwillig die
Grundpfeiler des europäischen Verbraucher- und Um-
weltschutzes ab.

Sie streben in Ihrem Koalitionsvertrag die Kennzeich-
nungspflicht für Nachkommen von geklonten Tieren und
deren Fleisch an. Das finden wir richtig. Aber Sie wissen
doch ganz genau, dass eine solche Kennzeichnung mit
dieser Art von TTIP, mit diesem Verhandlungsmandat
und unter den aktuellen Verhandlungsbedingungen nicht
zu bekommen ist. Auch die Ausweitung der bestehenden
Gentechnikkennzeichnung auf tierische Lebensmittel,
die unter Verwendung von gentechnisch veränderten
Futtermitteln produziert werden, wird mit CETA und
TTIP so nicht zu realisieren sein. Das wurde in unseren
Gesprächen mit Ausschuss und Minister in den USA
mehr als deutlich. Das hat uns auch unsere Studie noch
einmal bestätigt. Wenn Sie die Wahlfreiheit der Verbrau-
cher bei TTIP opfern, rettet uns auch kein Opt-out mehr
vor der Gentechnik.

Liebe Kolleginnen und Kollegen insbesondere von
SPD und Union, in Ihrem Antrag stehen viele gute
Dinge.

(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Schön, dass du auch ein Lob hast!)


– Schön. – Aber eine bessere Wertschätzung – Kollegin
Pflugradt hat die Wertschätzung angesprochen – von Le-
bensmitteln werden wir nur erreichen, wenn wir Lebens-
mittel wertorientiert erzeugen mit einer Land- und
Lebensmittelwirtschaft, die unsere natürlichen Lebens-
grundlagen erhält,


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das tun die Landwirte bereits!)


anständig mit Mensch und Tier umgeht und auf moderne
ökologische Konzepte statt auf Risikotechnologien setzt.
Mit Ihrem heutigen Antrag haben Sie pünktlich zur IGW
den Tisch hübsch eingedeckt. Jetzt sollten Sie über den
Tellerrand schauen und mit uns die Agrarwende und die
Gentechnikfreiheit unterstützen.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Karin Binder [DIE LINKE] – Max Straubinger [CDU/CSU]: Er muss mal zur Messe gehen!)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1807903600

Für die CDU/CSU spricht jetzt die Kollegin

Mechthild Heil.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Mechthild Heil (CDU):
Rede ID: ID1807903700

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir haben es bereits gehört: Heute beginnt die
Grüne Woche. Dies ist ein Grund, einmal mehr über ge-
sunde Ernährung und über die Wertschätzung von Le-
bensmitteln gemeinsam zu sprechen. Wir haben in
Deutschland eine luxuriöse Situation: Noch nie waren
Lebensmittel so günstig wie heute. Vor 100 Jahren haben
wir etwa 50 Prozent unserer Konsumausgaben für Nah-
rungsmittel aufgebracht, heute sind es nur noch 15 Pro-
zent. Auch das ist sozial, Frau Vogt. Lebensmittel waren
noch nie so sicher wie heute: 99,7 Prozent aller angebo-
tenen Lebensmittel sind sicher. Damit sind sie viel siche-
rer als noch vor einem Jahrzehnt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Noch viel wichtiger ist: Die allermeisten Deutschen
haben genug zu essen. Das ist auch für unser Land nicht
immer selbstverständlich gewesen. Ein Blick auf die
Welt zeigt, wie außergewöhnlich gut es uns heute in
Deutschland geht. Wir müssen sehen, dass weltweit je-
des Jahr mehr Menschen an Hunger sterben als an Aids,
Malaria und Tuberkulose zusammen. Über 800 Millio-
nen Menschen auf der Welt hungern. Jeder Deutsche, je-
der von uns, wirft im Schnitt im Jahr ungefähr 82 Kilo
Lebensmittel weg. Das dürfen wir nicht hinnehmen. Das
darf uns nicht egal sein, und das müssen wir ändern.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deswegen sage ich an dieser Stelle noch einmal herz-
lichen Dank an unsere damalige Verbraucherschutz-





Mechthild Heil


(A) (C)



(D)(B)

ministerin Ilse Aigner, die die Initiative „Zu gut für die
Tonne“ ins Leben gerufen hat. Mit dieser Initiative hat
sie viele erstmals auf dieses Problem aufmerksam ge-
macht. 2012 – wir haben es eben schon gehört – haben
wir einen fraktionsübergreifenden Antrag für die Ein-
dämmung der vermeidbaren Lebensmittelverluste vorge-
legt. Manches hat sich seitdem getan, aber das ist noch
längst nicht genug. Deshalb wollen wir heute unsere
Forderung noch einmal ganz stark bekräftigen.

Uns geht es darum, die gesunde Ernährung zu stär-
ken. Die Kollegin Landgraf hat schon einige wichtige
Punkte aufgezählt, zum Beispiel hohe Standards bei der
Verpflegung in Schulen und Kitas zu verankern und bei
Kindern und Jugendlichen verstärkt für Ernährungsauf-
klärung zu sorgen. Das alles geschieht unter dem Motto:
Gesundheit bekommt man nicht im Handel, sondern
durch den Lebenswandel. Dieser Kneipp’schen Weisheit
möchte ich hinzufügen: Gesundheit kann man auch nicht
von der Politik verordnet bekommen.

Zwei Aspekte in dem Antrag sind mir besonders
wichtig.

Erstens. Ernährung ist nur ein Bestandteil eines ge-
sunden Lebensstils. Zu einem gesunden Lebensstil ge-
hört weitaus mehr, zum Beispiel Bewegung – wir haben
es schon gehört –, Erholung, vielleicht auch Ausgegli-
chenheit und – das sage ich als Rheinländerin – be-
stimmt auch eine Portion Lachen.


(Caren Lay [DIE LINKE]: Dann hätten Sie es fröhlicher vortragen müssen! – Heiterkeit bei der LINKEN)


Zweitens. Unsere Politik will Menschen zu einem ge-
sunden Lebensstil ermuntern und sie dabei unterstützen.
Wir wollen die Menschen aber nicht zwingen und nicht
bevormunden, auch dann nicht, wenn es zu ihrem angeb-
lich Besten geschieht. Ich betone das in meinen Reden
immer wieder, weil es für mich von zentraler Bedeutung
ist und weil es zugleich auch der Kern unserer christlich-
demokratischen Verbraucherpolitik ist: In einer freien
Gesellschaft sind staatliche Beschränkungen ein hoher
Preis, den wir nur dort zahlen dürfen, wo es für das Wohl
der Bürgerinnen und Bürger absolut unvermeidlich ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Nehmen wir ein Beispiel aus dem Antrag, das auch
hier schon Erwähnung gefunden hat und durch die
Presse gegangen ist: Wir wollen gemeinsam mit der
Wirtschaft darauf hinwirken, dass „quengelfreie“ – ge-
meint sind natürlich: süßigkeitenfreie – Kassen in Super-
märkten angeboten werden. Der Schokoriegel und die
Gummibärchen an der Kasse sind für Kinder verführe-
risch, und das Quengeln in der Kassenschlange ist für
Kinder eben auch immer einen Versuch wert; die meis-
ten von uns kennen das. Einige Supermärkte haben mit
sogenannten Familienkassen schon darauf reagiert. Ja,
wir begrüßen solche Initiativen aus der Wirtschaft. Aber
was wir nicht brauchen, sind staatliche Regulierungen
zur Warenpräsentation in Supermärkten. Unser Antrag
sieht sie auch nicht vor. Es wird kein staatliches Verbot
von Quengelzonen geben. Hier ist nicht irgendein Ge-
setz die Lösung, sondern an dieser Stelle sind Erziehung
und Ernährungsbildung gefragt.

(Beifall bei der CDU/CSU – Elvira DrobinskiWeiß [SPD]: Und Einsicht der Wirtschaft!)


Denn eine Frage bleibt unbeantwortet: Was dürfte
dann überhaupt noch im Kassenbereich liegen? Batte-
rien? Kosmetik?


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Kondome! – Nicole Maisch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, aber Sie haben das doch beantragt! Da müssen Sie sich doch vorher Gedanken machen!)


Zeitungen und Zeitschriften, von deren Cover die Kinder
von retuschierten Schönheiten oder Schokoladenglasur-
Muffins angelacht werden?


(Nicole Maisch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie fordern das doch! Man macht sich doch Gedanken, bevor man so etwas fordert!)


Wollen wir wirklich staatlich vorgeben, welches Waren-
sortiment supermarktkassentauglich ist? Von mir dazu
ein klares Nein.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Nicole Maisch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, aber dann schreiben Sie es doch nicht rein!)


Natürlich will ich, genauso wie wohl jeder hier im
Saal und die Besucher auf der Tribüne, dass sich die
Menschen gesund ernähren und sich ausreichend bewe-
gen. Ja, sie sollen ein glückliches und langes Leben füh-
ren; klar, das will jeder von uns. Unsere Aufgabe – auch
unsere Aufgabe als Politiker – ist dabei, für Bedingun-
gen zu sorgen, unter denen es möglich ist, die Menschen
zu einem gesunden Lebensstil zu motivieren, für Aufklä-
rung und Information zu sorgen und die Menschen zu
fördern und zu unterstützen. Das alles sehe ich als Auf-
gabe des Staates an. Aber zu denken, der Staat, die Poli-
tik wisse immer und in jedem Bereich besser, was für
den Einzelnen gut ist, ist für mich anmaßend.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Denn die staatliche Überregulierung geht auf Kosten der
Entscheidungsfreiheit jedes Einzelnen.


(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Ach, es gibt doch gar keine Überregulierung!)


Das ist die Währung, in der wir für ein Mehr und Mehr
an staatlicher Fürsorge bezahlen. Deshalb muss immer
genau abgewogen werden, in welchen Fällen der Staat
eingreifen muss und wo der staatliche Eingriff die Frei-
heit des Einzelnen unverhältnismäßig beschränkt.

Die Union und wir von der CDU stehen für eine Poli-
tik der sicheren Lebensmittel, der Förderung eines ge-
sunden Lebensstils, der Vermeidung von Lebensmittel-
abfällen und der Wertschätzung unserer Lebensmittel.
Das geschieht durch Aufklärung und Bildung. Und: Die
Union steht für eine Politik der Wahlfreiheit der Ver-
braucher.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Jeannine Pflugradt [SPD] und Ute Vogt [SPD])







(A) (C)



(D)(B)


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1807903800

Vielen Dank, Frau Kollegin Heil. – Nächste Rednerin

ist für die SPD die Kollegin Helga Kühn-Mengel.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Helga Kühn-Mengel (SPD):
Rede ID: ID1807903900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

„Essen hält Leib und Seele zusammen“, sagt ein Sprich-
wort und betont damit auch seine Bedeutung für Kom-
munikation und Miteinander. Aber gesunde Ernährung
beeinflusst, wie wir wissen, nicht nur das Wohlbefinden,
sondern ist auch Grundlage für körperliche Gesundheit.
Für immer mehr Menschen entwickelt sich die Ernäh-
rungssituation zum Risikobereich. Über die Hälfte der
Erwachsenen und etwa 15 Prozent der 3- bis 17-Jährigen
sind übergewichtig, ein Viertel der Erwachsenen und
6 Prozent der Kinder und Jugendlichen deutlich adipös.
Die Folgeerkrankungen sind bekannt. Die Bedeutung
der nicht übertragbaren Erkrankungen, der non-commu-
nicable diseases, wird von der WHO deutlich herausge-
stellt.

In Europa verursachen diese chronischen Erkrankun-
gen bereits 86 Prozent der vorzeitigen Todesfälle und
77 Prozent der Krankheitslast; das wurde jetzt noch ein-
mal von der Deutschen Allianz gegen Nichtübertragbare
Krankheiten herausgestellt. Es geht hier nicht nur um
Leben und Lebensqualität, sondern eben auch um Folge-
kosten. Wir haben in Deutschland viele Projekte, die da-
rauf abzielen, das Verhalten der Einzelnen zu beeinflus-
sen und zu verändern; aber Appelle an Einsicht und
Vernunft sind nicht sehr erfolgreich, sind nicht langfris-
tig, sind nicht flächendeckend erfolgreich. Vor allem er-
reichen sie in zu geringem Maße diejenigen Bevölke-
rungsgruppen, die keinen hohen Bildungsstand haben
und nur über ein geringes Haushaltseinkommen verfü-
gen. Gerade diese Gruppen sind jedoch besonders belas-
tet. Schon die erste bundesweite und europaweit größte
Untersuchung zur Gesundheit von Kindern und Jugend-
lichen, 2002 in Auftrag gegeben und in den Folgejahren
durchgeführt, gab eindeutige Hinweise darauf, dass
Adipositas, Merkmale von Essstörungen, Bewegungs-
mangel, Tabakkonsum, Alkoholkonsum verstärkt bei
Kindern und Jugendlichen aus sozial belasteten Verhält-
nissen festzustellen sind, und eine Folgeuntersuchung,
KiGGS Welle 1 von Dezember 2013, bestätigte die Ten-
denzen: Menschen aus dem untersten Fünftel der Ein-
kommens- und Vermögensverteilung haben, wie Profes-
sor Rosenbrock feststellt, in jedem Lebensalter ein
ungefähr doppelt so hohes Risiko, zu erkranken.

Wie erreichen wir die Menschen besser? Wir haben
im Präventionsparagrafen im SGB V schon vor Jahren
einen wichtigen Halbsatz eingeführt: dass Prävention
das Ziel haben muss, die Ungleichheit von Gesundheits-
chancen zu vermindern. Deswegen: Es geht nicht nur um
Verhaltensprävention, sondern auch um Verhältnisprä-
vention, darum, Rahmenbedingungen so zu verändern,
dass gesundes Leben von Anfang an gefördert wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Nur ein solches Vorgehen erreicht alle Schichten, vor al-
lem diejenigen, die in besonderem Maße belastet sind.
Deswegen ist es richtig, dass im jetzt vorliegenden Ent-
wurf des Präventionsgesetzes ein ganz besonderer
Schwerpunkt – einer von acht – gesetzt wird bei der Ar-
beit mit Kindern und Jugendlichen. Ein weiterer
Schwerpunkt wird bei der Stärkung des Settingansatzes
gesetzt, also bei der Arbeit in den Lebenswelten der Kin-
der. Über die Lebenswelten erreicht man alle: im Be-
trieb, im Wohnheim, im Heim, in der Pflege, im Quar-
tier. Nur ein Beispiel: Wenn wir den Kindergartenalltag
umstrukturieren, wenn gemeinsam ein gesundes, nahr-
haftes Frühstück zusammengestellt und eingenommen
wird, wenn naturnahe Erlebnisse, gemeinsames Einkau-
fen und Zubereiten eines gesunden Essens, partizipatives
Gestalten gelernt und die Erkenntnisse dann auch noch
nach Hause getragen werden, haben wir ein wichtiges
Ziel erreicht. Kinder nehmen solche Angebote mit gro-
ßer Offenheit und auch gern an. Kochen erfüllt eine
Vielzahl von Bedürfnissen; das wurde jetzt auch auf ei-
nem Workshop der Bayerischen Landesarbeitsgemein-
schaft Zahngesundheit in Wildbad Kreuth festgestellt –
manchmal kommt auch Gutes von dort.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


Kinder, so die Studie, fanden es toll, zu kochen, weil sie
dann gemeinsam etwas mit den Eltern machen, weil sie
zeigen können, was sie gelernt haben, weil sie es span-
nend finden – wörtlich –, wie aus einfachen Dingen ein
richtiges Essen wird.

Also kann man doch sagen, dass wir auch im Zeitalter
der fortschreitenden Digitalisierung offenbar eine gute
Chance haben, auch auf eine eher klassische Art und
Weise zur Förderung der Gesundheit beizutragen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1807904000

Als Nächster spricht der Kollege Alois Gerig für die

CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Alois Gerig (CDU):
Rede ID: ID1807904100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Eingangs möchte ich den Verantwortlichen für diese De-
batte ein großes Kompliment aussprechen. 12.20 Uhr
mittags am Eröffnungstag einer der weltweit größten Er-
nährungsmessen hier in Berlin: Es gibt keinen besseren
Zeitpunkt für eine Debatte über gesunde Ernährung und
die Wertschätzung von Lebensmitteln.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Jeannine Pflugradt [SPD])


Ich frage Sie durchaus sehr ernsthaft – und nicht nur
wegen des Regenwetters draußen –: Haben Sie in den
vergangenen Tagen Ihre Teller immer leergegessen?


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU – Artur Auernhammer [CDU/CSU]: Wir schon!)






Alois Gerig


(A) (C)



(D)(B)

Johann Philipp Förtsch hat bereits im Jahr 1690 in einem
Singspiel folgenden Vers verwendet:

Weil Speis und Trank in dieser Welt
doch Leib und Seel’ zusammenhält.

Dieser Vers hat eine ungebrochene Bedeutung bis zum
heutigen Tag.

Ja, es ist nicht selbstverständlich, dass sich die Men-
schen gut ernähren können. International gab es viele
Kriege wegen Nahrungsmitteln. Aktuell – so haben wir
heute mehrfach gehört – können sich geschätzte
800 Millionen Menschen nicht satt essen. Dagegen leben
wir hier in Deutschland im wahren Schlaraffenland. Un-
sere Regale sind voll mit bezahlbaren sehr guten Produk-
ten. Deshalb ist es vielleicht sogar ein bisschen verständ-
lich, dass sich gewisse Wohlstandsbegleiterscheinungen
einstellen.

Die Wertschätzung für Lebensmittel, für die Produ-
zenten – hier denke ich insbesondere an die Urproduzen-
ten, unsere Landwirte; darauf komme ich noch zurück –,
für die Natur und für die Ressourcen ist in der Tat ein
Stück weit verloren gegangen. Es geht uns allen, wie wir
glücklicherweise unisono bekunden, um die Bewahrung
der Schöpfung. „Moral“, „Ethik“, „Nachhaltigkeit“,
„Respekt“ und „Verantwortung“ sind geflügelte Worte,
die wir bei unserer politischen Arbeit jeden Tag sehr
ernst nehmen müssen.

Das Kernthema Lebensmittelverschwendung wurde
angesprochen, und ich möchte jetzt kurz auf die Land-
und Ernährungswirtschaft eingehen. Sie hat eine gewal-
tige wirtschaftliche Bedeutung – insbesondere für die
ländlichen Räume. 4,5 Millionen Menschen in Deutsch-
land sind dort tätig; das sind rund 11 Prozent aller Er-
werbstätigen.

Gleichwohl gibt es weiterhin einen gewaltigen unge-
bremsten Strukturwandel in der Landwirtschaft. Nur
circa 2 Prozent der Erwerbstätigen sind Landwirte. Wo-
ran liegt das? Dafür gibt es durchaus viele Gründe. Nie
war – ich kenne keinen Betrieb – Reichtum der Grund
dafür, Höfe zu schließen.

Die Landwirte arbeiten hart. Die Tierhalter tun dies
oft an 365 Tagen im Jahr. Die Abhängigkeit vom Wetter
und andere Unbilden des Lebens sorgen ebenfalls für
Probleme, und die schlechte wirtschaftliche Lage – die
Einkommen in der Landwirtschaft liegen weit unter dem
gewerblichen Vergleichslohn – tut das Übrige.


(Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Rahmenbedingungen sind entscheidend!)


Das Schlimmste aber – das erlebe ich live und höre
ich jeden Tag; lassen Sie mich das sagen – sind die An-
feindungen gegenüber unseren Landwirten von außen.
Es gibt Diffamierungen und Beschuldigungen. Das
nimmt unseren Bauern die Freude an ihrer Arbeit – mit
fatalen Folgen.

Auch ich sage: Natürlich gibt es schwarze Schafe. Die
sollen wir auch benennen. Aber weit mehr als 90 Prozent
unserer Landwirte leisten eine hervorragende Arbeit. Sie
produzieren die weltweit mit am besten kontrollierten
Nahrungsmittel – sowohl in der pflanzlichen als auch in
der tierischen Produktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Was ist zu tun? Wir müssen den Dialog in der Gesell-
schaft führen. Wir brauchen solche Debatten wie die
heutige. Wir brauchen auch eine Politik der Wertschät-
zung und müssen diese Politik aktiv begleiten. Wir müs-
sen uns und der Bevölkerung klarmachen, dass Verbrau-
cher, die Konsumenten, und die Erzeuger voneinander
profitieren. Auch über Moral, Ethik und den Lebensmit-
telhandel müssen wir reden.

Ich sage ganz klar: Unsere Landwirte sind immer be-
reit – das wird auch offen bekundet –, höhere Standards
umzusetzen. Ich bin dem Minister für den Hinweis sehr
dankbar, dass sich in den letzten 50 Jahren im Bereich
des Tierwohls sehr viel positiv verändert hat. Aber es
geht auch darum, dass man gute Produkte nicht zu
Ramschpreisen herstellen kann. Es ist verheerend, wenn
in den Flyern samstags ausgerechnet Nahrungsmittel als
Lockmittel angepriesen werden.


(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Ja!)


Es muss jedem hier in Deutschland bewusst sein: Tier-
wohl kann es nicht zum Schnäppchenpreis geben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Also müssen wir weiterhin gemeinsam aufklären und
deklarieren. Ich befürworte ausdrücklich die Tierwohl-
Offensive, die privatwirtschaftlich durch die ganze Bran-
che initiiert wurde. Das sind Chancen, sich aufeinander
zuzubewegen.

Ich bin gegen eine einseitige Ordnungspolitik, insbe-
sondere gegen eine national einseitige Ordnungspolitik,
weil wir Gefahr laufen, dadurch Produktion aus dem
Land zu verlagern. Frau Maisch, Sie haben das Thema
Eier angesprochen. Wir alle erinnern uns mit Schrecken
daran, dass der Selbstversorgungsgrad in Deutschland
unter 50 Prozent gefallen war,


(Nicole Maisch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil sie das Geld nicht genommen haben!)


weil wir die Hühnerhaltung einseitig und sehr schnell
verändert haben.


(Nicole Maisch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil ihr den Bauern gesagt habt: Nehmt nicht das Geld, das für die Umrüstung zur Verfügung steht! Wenn wir jetzt drankommen, machen wir es wieder anders!)


– Wenn Sie mit mir reden wollen, müssen Sie eine Zwi-
schenfrage stellen.


(Nicole Maisch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Geld für die Umrüstung war da, und ihr habt den Leuten gesagt: Nehmt es nicht!)






Alois Gerig


(A) (C)



(D)(B)

Ich bin dafür, dass wir europaweit gleiche Standards
und gleiche Wettbewerbsbedingungen haben. Ich bin
auch dafür, dass wir sehr gute Bedingungen für die Hal-
tung unserer Tiere haben. Aber der Verbraucher ist der
Gekniffene, wenn wir die Produktion aus dem Land ja-
gen;


(Beifall bei der CDU/CSU)


denn unsere Regale werden nachher mit Produkten ge-
füllt, die vielleicht weniger hohen Standards genügen.

Ich könnte noch viel sagen, aber meine Zeit läuft
schon langsam ab.

Ich mache einen Vorschlag. Ich finde, in großen Tei-
len ist diese Debatte heute hier sehr fair verlaufen. Las-
sen Sie uns doch alle gemeinsam mit gutem Beispiel
vorangehen. Lassen Sie uns Themen und Probleme an-
packen, gemeinsam, gerne auch fraktionsübergreifend:
zum Wohle unserer Landwirtsfamilien, die das verdient
haben, und im Sinne unserer regionalen, gesunden Nah-
rungsmittel. Bürger und Verbraucher müssen erkennen,
was sie kaufen. Sie müssen durchaus noch ein bisschen
kritischer werden. Auf TTIP kann ich jetzt nicht mehr
eingehen, würde ich sonst noch gerne machen.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1807904200

Lieber Kollege Gerig, Ihre Zeit ist nicht abgelaufen,

sie kommt erst noch. Aber die Redezeit ist leider zu
Ende.


Alois Gerig (CDU):
Rede ID: ID1807904300

Lieber Herr Präsident, danke für den Hinweis. – Es

geht um den Erhalt unserer schönen und von allen Bür-
gern geliebten Kulturlandschaft.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und uns allen eine
schöne und erfolgreiche Internationale Grüne Woche.
Nutzen wir sie für gute, konstruktive Gespräche! Ihnen
allen, insbesondere unserer Ernährungsbranche, wün-
sche ich ein gutes neues Jahr.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1807904400

Für eine Kurzintervention erteile ich jetzt das Wort

dem Kollegen Ostendorff.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Kollege Gerig, ich bin ein bisschen älter. Gestat-
ten Sie mir, dass ich noch einmal erzähle, wie das da-
mals mit den Hühnern war.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Die habt ihr vertrieben!)


Ich glaube, dass Sie das nicht genau wissen können, weil
Sie damals noch nicht im Parlament waren.

Es gab in der Tat Klagen der Bundesländer Nieder-
sachsen und Nordrhein-Westfalen. Die damalige nord-
rhein-westfälische Landwirtschaftsministerin Bärbel Höhn
und der damalige niedersächsische Landwirtschaftsmi-
nister Funke, der die Klage zuerst geführt hat – er wurde
später Bundeslandwirtschaftsminister – waren der Mei-
nung, dass man Hühner nicht länger in Käfigen in
Löschblattgröße ihr Leben fristen lassen sollte. Dies hat
das höchste deutsche Gericht für richtig befunden.

Ich bin niemand, der Recht und Gesetz anzweifelt.
Von daher stimme ich dem Gericht ausdrücklich zu. Diese
Rechtsprechung galt es dann umzusetzen. Deutschland
hat in einem langen Prozess zwischen Bundeslandwirt-
schaftsministerium – die zu der Zeit amtierende Ministe-
rin hieß Renate Künast – und den Bundesländern ent-
schieden, wie man das Gerichtsurteil umsetzt. Dies ist
– insbesondere darauf wollte ich hinaus; Kollege
Priesmeier weiß das auch noch – von hohen Zuschüssen
für die Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und Küs-
tenschutz“ flankiert worden. Für den Umstieg hätten die
Hühnerhalter enorme staatliche Hilfen erhalten.

Allerdings beobachteten wir im Folgenden, dass es
immer wieder Hinweise an die Verbände der Geflügel-
wirtschaft gab: Verhaltet euch ruhig! Wartet ab, was pas-
siert! Macht nichts! – Das hat allerdings dazu geführt,
dass Nachbarländer – insbesondere das für uns Nord-
rhein-Westfalen und besonders für Westfalen immer
schwierige Nachbarland Holland – gesagt haben:
„Macht so weiter! Wir sehen das anders, und wir werden
anders reagieren“, und das haben sie getan.

Der Handel, lieber Alois Gerig, hat so reagiert, dass er
entschieden hat, dass Eier mit der Kennziffer 3 nicht
mehr in den Verkauf kommen. Ich habe selber Gesprä-
che mit Aldi und mit anderen Kolleginnen und Kollegen
geführt. Aldi hat gefragt: Wo gibt es in Deutschland Eier,
die nicht die Kennziffer 3 haben? – Diese Eier gab es
nicht, weil die Wirtschaftsverbände dazu aufgerufen hat-
ten, die Umstellung nicht vorzunehmen und das im Bun-
deshaushalt bereitgestellte Geld nicht abzurufen. Diese
Mittel sind fast gar nicht in Anspruch genommen wor-
den. Es waren enorme Summen.

Das hat in der Tat dazu geführt, dass Holland eine
starke Marktstellung erhalten hat. Ich finde nur, die
Schuldzuweisung, die du damit verbunden hast, war bei
der Faktenlage eindeutig falsch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Eindeutig richtig! Ihr habt die Hühner vertrieben!)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1807904500

Herr Kollege Gerig, Sie haben die Möglichkeit, da-

rauf zu erwidern, und ich sehe, dass Sie sie wahrnehmen
wollen.


Alois Gerig (CDU):
Rede ID: ID1807904600

Ich nehme sie sehr gerne wahr. – Lieber Kollege

Ostendorff, es ist richtig: Ich bin noch nicht so lange in
der Politik, aber, wie man an meinen grauen Haaren er-
kennen kann, durchaus schon lange auf der Welt. Ich
wollte mit meiner Aussage niemanden angreifen, weder
eine Partei noch irgendwelche Personen. Ich habe ledig-
lich auf die Aussage der Kollegin Maisch reagiert, die





Alois Gerig


(A) (C)



(D)(B)

gesagt hat, wie gut die Eier in unseren Regalen sind. Mir
ist dazu noch eingefallen, dass wir nicht alle Eier sehen,
die wir in den Regalen haben. Wissen wir, was in all den
Produkten enthalten ist, in denen Eier verwendet wur-
den?


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darüber können wir auch reden!)


Ich will überhaupt nicht verteidigen, was damals in
der Geflügelhaltung gelaufen ist. Ich habe das nur als
Mahnung dafür genannt, was passieren kann, wenn wir
national einseitig Gesetze verabschieden. Wir müssen
uns sehr gut überlegen, welche ordnungspolitischen
Maßnahmen und welche Gesetze wir angehen, auch im
Hinblick auf den Tierschutz. Vielleicht ist es unklug, zu
schnell allzu viele Enddaten zu setzen, die wir aus wis-
senschaftlicher Sicht – und ich bin dankbar, dass wir
sehr viel Geld für die Forschung aufwenden – später in
der Praxis nicht halten können. Der Verbraucher ist der
Gekniffene, wenn die Produktion ins Ausland verlagert
wird. Der Verbraucher muss die Chance haben, gezielt
nach regionalen deutschen Produkten zu greifen. Das ist
der Verbraucher, den ich mir wünsche. Dann haben wir
Win-win-Situationen in Deutschland.

Ich weiß, es ist ein steiniger Weg. Ich sage noch ein-
mal: Lassen Sie ihn uns gemeinsam gehen!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1807904700

Jetzt hat die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß für die

SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Elvira Drobinski-Weiß (SPD):
Rede ID: ID1807904800

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer auf
den Tribünen! Alle Menschen müssen essen. Das klingt
natürlich sehr banal, ist es aber nicht. Mir ist in meiner
Umgebung schon bedeutet worden, dass etlichen Kolle-
ginnen und Kollegen nun zur Mittagszeit der Magen
knurrt. Das heißt, wir befassen uns hier mit einem Poli-
tikfeld, das existenziell ist. Es ist deshalb nicht verwun-
derlich, dass die Meinungsforschung durch eine Um-
frage bei den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland
herausgefunden hat, dass die wichtigste Forderung der
Menschen an die Politik ist, dass wir, das Parlament, für
gesunde und sichere Lebensmittel zu sorgen haben. Das
Thema bewegt die Menschen. Es ist unbestritten, dass
die meisten sich und ihre Kinder gesund ernähren wol-
len. Wie wir von der Kollegin Kühn-Mengel, die uns
dazu eindrucksvolle Zahlen vorgetragen hat, gehört ha-
ben, gelingt das jedoch nicht allen oder oft nur mit äu-
ßersten Mühen und Anstrengungen. Wir wollen das än-
dern.

Ich freue mich, dass wir mit unserem Antrag bei den
Ursachen der Schwierigkeiten ansetzen. Es muss für alle
Menschen leichter werden, sich gesund zu ernähren, und
zwar egal, wie viel Geld jemand verdient oder welchen
Schulabschluss er besitzt. Verbraucherinnen und Ver-
braucher, insbesondere Eltern und Kinder, werden heut-
zutage mit ungesunden Lebensmitteln und dem dazuge-
hörenden Marketing geradezu überflutet. Im Automaten
auf dem Bahnsteig gibt es praktisch nur Schokoriegel.
Der Schulkiosk verkauft vor allem Cola und Brause. Die
Kantine, wenn es denn überhaupt eine gibt, bietet wenig
an, das schmackhaft und gesund ist. Im Supermarkt an
der Kasse steht, wie wir verschiedentlich gehört haben,
auf Augenhöhe von Kindern Süßkram. In Grundschulen
werden Produktproben von Keksen und Würstchen ver-
teilt. Chipshersteller sponsern Schulfußballturniere in-
klusive T-Shirts mit Logo. In Produkten, die als gesund
und geeignet für Kinder oder sogar für Babys erschei-
nen, steckt viel zu viel Zucker, Fett oder Salz. Gegen
diese Flut kommen viele alleine kaum noch an, erst recht
nicht Kinder. Besonders betroffen von Fehlernährung
und den daraus folgenden Erkrankungen sind Familien
mit niedrigem Einkommen; auch hierzu hat Frau Kühn-
Mengel die Zahlen genannt.

Die aktuelle Situation vergrößert also die soziale Un-
gleichheit. Gegensteuern können wir hier nicht, indem
wir Menschen vorschreiben, was sie essen oder wie sie
sich verhalten sollen. Nein, wir müssen gesündere Ver-
hältnisse schaffen. Selbstverständlich wollen wir weiter-
hin Ernährungsaufklärung und Verbraucherbildung an
Schulen fördern, auch wenn sich nicht gleichzeitig etwas
daran ändert, welche Lebensmittel wo angeboten und
wie sie vermarktet werden. Wenn sich aber das Ernäh-
rungsumfeld nicht ändert, dann werden Aufklärungs-
und Bildungskampagnen nicht viel nutzen. Wir müssen
dafür sorgen, dass es leichter wird, das erworbene Wis-
sen auch anzuwenden.

Um das Bild der Flut noch einmal aufzugreifen: Wenn
zu erwarten ist, dass eine Stadt regelmäßig überflutet
wird, würden wir auch nicht lediglich den Schwimmun-
terricht fördern oder Prospekte verteilen, die erklären,
wie man Boote baut, und dann hinterher vielleicht sagen:
Wer nicht genug Geld und Zeit hatte, sich ein Boot zu
bauen, ist selber schuld, dass er sich nicht gerettet hat. –
Nein, wir würden dann Dämme bauen. Wir würden es
als gesamtgesellschaftliche Aufgabe begreifen, die Men-
schen gemeinsam vor der Flut zu schützen. Genau sol-
che Dämme müssen wir auch gegen die Flut ungesunder
Lebensmittel und mangelnder Bewegung bauen.


(Beifall bei der SPD)


Unser Antrag setzt hier erste wichtige Impulse. Wir
wollen verpflichtende Qualitätsstandards für Schulmen-
sen und öffentliche Kantinen, damit alle Kinder lernen,
wie gut gesundes Essen schmecken kann. Wir wollen
künftig keine Werbung mehr für ungesunde Lebensmit-
tel wie Süßigkeiten, Süßgetränke oder Knabberzeug in
Grundschulen und Kitas. Wenn Schulen werbefrei sind,
dann kann Ernährungsbildung auch sehr viel besser wir-
ken.

Wir wollen die Lebensmittelwirtschaft in die Pflicht
nehmen. Supermärkte sollen süßigkeitenfreie Kassen an-
bieten, um Eltern das Einkaufen mit Kleinkindern er-
träglicher zu machen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)






Elvira Drobinski-Weiß


(A) (C)



(D)(B)

In Großbritannien ist das übrigens längst Alltag. Auch
bei uns gibt es mittlerweile einige Geschäfte, die das an-
bieten. Wir wollen aber, dass das Ernährungsministe-
rium – der Herr Staatssekretär ist noch da – gemeinsam
mit der Wirtschaft eine Strategie zur Reduktion von Zu-
cker, Fett und Salz in Fertigprodukten entwickelt. Auch
dafür – man soll es kaum glauben – gibt es in Europa
Vorbilder, nämlich Finnland, Dänemark und Großbritan-
nien sowieso.

Sie alle kennen das afrikanische Sprichwort: Es
braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen. – In
der Tat. Auf die Ernährung bezogen heißt das: Es sind
alle mitverantwortlich für die steigenden Raten ernäh-
rungsbedingter Krankheiten wie Diabetes, Herzerkrankun-
gen oder Krebs. Deshalb sind auch alle gefordert, dabei zu
helfen, diesen Trend umzukehren und insbesondere die
Ernährung von Kindern in diesem Land zu verbessern.
Gefordert sind wir also alle, auch die Wirtschaft, die
noch sehr viel Luft nach oben hat, was ausgewogene
Produktrezepturen und ehrliche Werbung angeht. Wir
müssen dafür sorgen, dass alle, die Verantwortung ha-
ben, diese auch wahrnehmen können. Wir bauen dann
Dämme, wo es nötig ist.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1807904900

Vielen Dank, Frau Kollegin Drobinski-Weiß. – Ab-

schließender Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist
der Kollege Rudolf Henke von der Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Jeannine Pflugradt [SPD])



Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1807905000

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Eine gute Küche ist das Fun-
dament allen Glücks. – Das hat Auguste Escoffier, fran-
zösischer Meisterkoch, vorgetragen. Auguste Escoffier
verdanken wir die Küchenrevolution des vorigen Jahrhun-
derts hin zu einer leichteren, hin zu einer verdaulichen
Küche. Man höre und staune: Der erste Küchenchef der
Ritz-Restaurants hat sogar von der Notwendigkeit mehr-
gängiger Menüs Abschied genommen. Es sind auch
Skeptiker wie George Bernard Shaw, die sich mit der Er-
nährung befassen. Er hat einmal gesagt: Keine Liebe ist
aufrichtiger als die Liebe zum Essen. – Wir sehen daran,
in welche Emotionalität wir eintauchen, wenn wir uns
mit der Frage der Ernährung und der Wertschätzung von
Lebensmitteln befassen. Ich freue mich, dass ich aus der
Sicht der Gesundheitspolitik als Arzt ein paar Gedanken
dazu beitragen darf.

In unserem gemeinsamen Antrag werben wir, die Ko-
alitionsfraktionen, für die Bedeutung einer gesunden und
ausgewogenen Ernährung für einen gesunden Lebensstil
und für die Prävention ernährungsbedingter Krankhei-
ten. Das Thema ist nicht ganz neu. Hippokrates von Kos,
der von 460 bis 377 lebte und von dem der hippokrati-
sche Eid stammt, verdanken wir drei Lehrsätze: Was uns
am Leben erhält, kann uns auch krank machen. Krank-
heiten überfallen den Menschen nicht wie ein Blitz aus
heiterem Himmel, sondern sind die Folgen fortgesetzter
Fehler wider die Natur. Um die Gesundheit zu erhalten:
nicht bis zur Sättigung essen, sich vor Anstrengungen
nicht scheuen.

Ich bin dankbar für die vielen richtigen und wichtigen
Hinweise in dieser Debatte auf die Notwendigkeit, die
Verhältnisse zu beeinflussen. Aber das wäre nur die eine
Seite; denn genauso wichtig ist es natürlich, den Auf-
bruch aus selbstverschuldeter Unmündigkeit im Sinne
der Aufklärung zu ermöglichen, damit man sich nicht als
den Verhältnissen ausgeliefert empfindet. Sagen wir den
Menschen auch, dass es nötig ist, ihr eigenes Verhalten
selbst in die Hand zu nehmen und zu steuern und nicht
fehlzuinterpretieren, dass sie gegenüber der Werbung
ausgeliefert seien.


(Beifall bei der CDU/CSU)

In der Tat ist beispielsweise die Fettleibigkeit ein be-

deutender Risikofaktor für viele ernste gesundheitliche
Beschwerden; darauf ist schon verschiedentlich auf-
merksam gemacht worden. Wir müssen davon ausgehen,
dass die Kosten durch ernährungsbedingte Krankheiten
jährlich bei bis zu 70 Milliarden Euro liegen können. Die
Folgekosten erklären circa 7 Prozent der Kosten im Ge-
sundheitswesen. Alle rechnen damit, dass diese Kosten
weiter ansteigen wegen Erkrankungen wie Adipositas,
Bluthochdruck, koronaren Herzkrankheiten oder Diabe-
tes mellitus. Diese Krankheiten sind nicht nur das Drama
der Betroffenen, sondern auch ein gesellschaftliches Pro-
blem. Ernährungsbedingte Krankheiten bedeuten He-
rausforderungen für die Gesundheit, für die Wirtschaft,
für die Entwicklung in Deutschland und in Europa. Des-
wegen sind präventionspolitische Ansätze eine gesell-
schaftspolitische Aufgabe von hohem Stellenwert.

Das wollen wir mit dem Präventionsgesetz aufgrei-
fen, das wir noch in diesem Frühjahr beraten werden.
Der Gesetzentwurf sieht vor, dass die Krankenkassen
ihre verfügbaren Mittel für die Gesundheitsvorsorge ver-
doppeln, dass gesundheitsförderliche Verhaltensweisen
stärker unterstützt und gesundheitliche Risiken reduziert
werden. Angebote zur Prävention und Gesundheitsför-
derung müssen zielgenauer auf tatsächlich wirksame
Maßnahmen und auf solche Bevölkerungsgruppen kon-
zentriert werden, die bisher schlecht erreicht wurden.

Fakt ist leider auch, dass mit vielen Präventionsleis-
tungen oftmals nur die erreicht werden, die ohnehin be-
reits gesundheitsbewusst leben und auf ihre Ernährung
besonders achten. Von allen in Anspruch genommenen
Präventionskursen in Deutschland sind derzeit nur
5 Prozent dem Thema Ernährung gewidmet. Kranken-
kassen machen also viel mehr erfolgreiche Bewegungs-
kurse, viel mehr erfolgreiche Stressbewältigungskurse.
An die Ernährung gehen die Leute trotz der Bedeutung,
die sie für die Gesundheit hat, nicht so gerne heran. Das
hat vielleicht etwas mit der von Shaw genannten Liebe
zum Essen zu tun. Es stellt sich daher die Frage: Wie
kann man eine bessere Nutzung präventiver Leistungen
gerade im Bereich der Ernährung erreichen? Da ist es
schon von Bedeutung, dass wir mit den Präventionskur-
sen der Krankenkassen mehr Angebote zur Stärkung von
Eltern und Kindern zur Verfügung stellen.





Rudolf Henke


(A) (C)



(D)(B)

Gesundheit beginnt nicht erst im Erwachsenenleben.
Je früher Kinder lernen, auf sich zu achten, desto erfolg-
reicher sind Präventionsmaßnahmen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deshalb ist es wichtig, mit den Kleinsten zu beginnen
und dies in allen Altersgruppen fortzuführen. Der Ge-
meinsame Bundesausschuss soll durch das Präventions-
gesetz die Möglichkeit erhalten, die Kinder- und Jugend-
untersuchungen in diesem Sinne weiterzuentwickeln und
darüber zu entscheiden, welche Untersuchungen auch im
Schul- und Jugendalter sinnvoll und notwendig sind und
zu welchen Aspekten der Arzt oder die Ärztin die Eltern
beraten soll. In den bevorstehenden Beratungen des Prä-
ventionsgesetzes wollen wir darauf achten, dass diesen
Aspekten Rechnung getragen wird.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, gestern ha-
ben wir im Gesundheitsausschuss des Bundestages ein
weiteres mit Ernährung zusammenhängendes Thema in-
tensiv besprochen, nämlich das fetale Alkoholsyndrom,
also die vorgeburtliche, oft schwerwiegende Schädigung
eines Kindes durch Alkoholkonsum während der
Schwangerschaft. Der entscheidende Punkt, was das
Aufnehmen von Produkten der Landwirtschaft angeht,
ist hier, dass wir sagen: Es gibt bestimmte Lebenssitua-
tionen, zum Beispiel im Straßenverkehr, bei der Arbeit
mit Maschinen, wenn man Arzneimittel zu sich nimmt
oder wenn man schwanger ist, für die das Gebot „gar
kein Alkohol“ gelten muss.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Jeannine Pflugradt [SPD])


Eine letzte Bemerkung. Es ist davon gesprochen wor-
den – ich glaube, Mechthild Heil hat es gesagt –, dass
wir die Freiheit der Entscheidung des Verbrauchers er-
halten wollen. Wie schaffen wir es aber, den Trend zu
immer mehr Übergewicht zu brechen? Es gibt weltweit
nicht einen einzigen Staat, der zeigen kann, dass der
Trend zur Zunahme des Durchschnittsgewichts der Be-
völkerung umgekehrt worden ist – nicht ein einziges
Land, egal welche Wirtschaftsordnung oder welche Ge-
sellschaftsordnung ein Land hat. Nicht einem einzigen
Land in der Welt ist das bisher gelungen. Ich finde, wir
müssen nicht in dieser, aber in der nächsten Legislatur-
periode auch über die Frage nachdenken, inwieweit
durch Elemente, wie wir sie zur Reduktion des Tabak-
konsums eingesetzt haben – ich denke an steuerliche
Maßnahmen, etwa an bestimmte Verbrauchsteuern im
Bereich ungesunder Lebensmittel –, Erfolge erzielt wer-
den können. Ich kann da keine Ergebnisse vorwegneh-
men. Das gelingt mit Sicherheit nicht in dieser Legisla-
turperiode. Aber ich finde, wir müssen diese Frage mit
einer Zukunftsperspektive diskutieren, weil es unser ge-
meinsames Ziel sein muss, sowohl dem Bewegungsman-
gel wie auch der Fehlernährung zu begegnen.

Der italienische Schauspieler Giorgio Pasetti hat ei-
nen klugen Satz gesagt:

Die gesündeste Turnübung ist das rechtzeitige Auf-
stehen vom Esstisch.
Ich wünsche Ihnen guten Appetit, wenn Sie jetzt zum
Mittagessen gehen.


(Heiterkeit)


Stehen Sie davon rechtzeitig wieder auf!

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1807905100

Damit schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/3726, 18/3730 und 18/3733 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.

Nach dieser intensiven Debatte über das richtige und
gute Essen wünsche ich denen, die jetzt in die Mittags-
pause gehen, einen guten Appetit.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Susanna
Karawanskij, Kerstin Kassner, Klaus Ernst, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Bundesverantwortung wahrnehmen – Kom-
munen bei Unterbringung von Flüchtlingen
und Asylbewerbern sofort helfen und Kosten
der Unterkunft für Hartz-IV-Leistungsbe-
rechtigte schrittweise übernehmen

Drucksache 18/3573
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Finanzausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Federführung strittig

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Damit eröffne ich die Aussprache und erteile das
Wort der Kollegin Susanna Karawanskij für die Fraktion
Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Susanna Karawanskij (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807905200

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Liebe Gäste! Am Tage seiner Amtseinführung hat
der erste linke Ministerpräsident, Bodo Ramelow in
Thüringen, als erste Amtshandlung den Winterabschie-
bestopp für Flüchtlinge nicht nur gefordert, sondern ver-
fügt.


(Beifall bei der LINKEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist Gesetzesbruch!)


Das ist richtig so, das ist gut so, und das sollte auch bei-
spielhaft sein;


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)






Susanna Karawanskij


(A) (C)



(D)(B)

denn diese Aufgabe ist eine gesamtgesellschaftliche
Aufgabe, die wir zu stemmen haben. Wir können und
dürfen unsere Verantwortung nicht beiseiteschieben. Wir
alle hier sind gefordert, schnell und vor allen Dingen
auch gewissenhaft zu handeln. Die Aufgabe, Flüchtlinge
menschenwürdig unterzubringen, sie gut zu versorgen
und rasch zu integrieren, ist vor allen Dingen internatio-
nal und europäisch begründet.

Wir müssen all denen das Wasser abgraben, die den
schrecklichen terroristischen Überfall in Paris missbrau-
chen, die nun noch mehr gegen friedliche Mitbürgerin-
nen und Mitbürger anderer Herkunft und Religion
hetzen. Wir sollten hier im Hohen Hause beide Sätze
verinnerlichen: „Nous sommes Charlie“ und „No
Pegida“.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Mehr denn je brauchen wir dauerhaft Aufklärung und
Debatten, um der Instrumentalisierung der Morde von
Paris mit der gesamten Kraft der Demokratie entgegen-
zutreten; denn skrupellos wird von einigen Unverbesser-
lichen gegen den Islam im Allgemeinen, aber auch ge-
gen Asylsuchende und Flüchtlinge gewettert. Unsere
Ziele müssen ein echtes Miteinander und auch die ge-
lebte Solidarität sein.


(Beifall bei der LINKEN, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der SPD)


Das bedeutet, dass wir Politikerinnen und Politiker allen
Sorgen und Ängsten der Menschen mit Offenheit begeg-
nen müssen. Es sind oft genug Ängste vor allen Dingen
vor sozialem Abstieg, aber auch Ängste, die mit unbe-
gründeten Vorurteilen verbunden sind. Umso wichtiger
ist es, dass wir uns heute auch mit der Finanzierung der
Unterbringung, Betreuung und Versorgung von Flücht-
lingen und Asylsuchenden beschäftigen.

Die Unterbringung von Menschen, die aus Not zu uns
kommen, verursacht in den Ländern und Kommunen
ohne Zweifel einiges an Kosten. Es ist wichtig, die Kom-
munen von dem finanziellen Druck zu befreien, damit
keine Abwehrhaltung eingenommen wird. Gerade wenn
die Finanzen auf Kante genäht sind, muss der Bund
seine Verantwortung wahrnehmen, und das tut er bislang
leider immer noch zu wenig.


(Beifall bei der LINKEN)


Vizekanzler Sigmar Gabriel forderte im November
2014, die Kommunen bei der Unterbringung von Flücht-
lingen mit 1 Milliarde Euro zu unterstützen. Anfang des
Jahres forderte er, dass der Bund die Kosten für die
Flüchtlingsunterkünfte übernehmen solle. Wir begrüßen
solche Forderungen. Aber lassen Sie uns doch bitte nicht
vollkommen im Dunklen und vor allen Dingen nicht die
auf Lösungen wartenden Kommunen, wie solch eine
finanzielle Entlastung für die Kommunen konkret ausse-
hen soll. Es ist bislang herzlich wenig Konkretes pas-
siert. Es liegt kein aktueller Gesetzentwurf vor. Ich ge-
winne langsam den Eindruck, dass hier wieder einmal
vollmundige Versprechen gemacht worden sind, aber
den Worten keine entsprechenden Taten folgen.
Meine Damen und Herren auf der Regierungsbank, es
ist angesichts der aktuellen Lage und Situation höchste
Zeit, hier eine Lösung zu finden. Es darf nicht mehr auf
Zeit gespielt werden.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es ist bedauerlich genug, dass das jüngste Gesetz zur
weiteren Entlastung von Ländern und Kommunen nur
ein Tropfen auf den heißen Stein war und eben nicht die
Versprechen des Koalitionsvertrags einlöste. Sie sollten
bei Ihren Gesetzentwürfen auch ein wenig weiter den-
ken, dauerhaft für gute Lösungen sorgen und auch in
diesem Fall für Kommunen eine Lösung entwickeln.

Wir als Linke verfolgen daher eine Doppelstrategie.
Aus aktuellem Anlass fordern wir, die Kommunen finan-
ziell so auszustatten, dass eine schnelle und gute Hilfe
für Flüchtlinge möglich ist. In einem zweiten Schritt
– da denken wir langfristig – wollen wir die Kommunen
nachhaltig bei der Erfüllung ihrer Aufgaben unterstüt-
zen, und zwar nicht nur exakt bei den Ausgaben für die
Flüchtlingsunterbringung.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1807905300

Frau Kollegin Karawanskij, gestatten Sie eine Zwi-

schenfrage?


Susanna Karawanskij (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807905400

Nein. Die Koalitionäre haben ja noch genug Zeit, da-

rauf einzugehen. – Das Grundproblem ist ja die chroni-
sche Unterfinanzierung der Kommunen.

Ich möchte hier noch einmal auf unsere konkreten
Forderungen eingehen. Wir Linke fordern die Abschaf-
fung des Asylbewerberleistungsgesetzes. Asylbewerbe-
rinnen und Asylbewerber dürfen nicht Bürgerinnen und
Bürger zweiter und dritter Klasse sein. Solange dieses
Gesetz noch nicht abgeschafft ist, muss der Bund den
Ländern die Ausgaben für die Leistungen an Asylsu-
chende zu 100 Prozent erstatten.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Daneben muss der Bund auch bei den Leistungen für
Kosten der Unterkunft und Heizung, kurz KdU, Verant-
wortung übernehmen; denn diese sind eine nicht uner-
hebliche Belastung für die Kommunen. Wir fordern hier
einen Stufenplan für die Kostenübernahme. So sollen die
Kommunen zunächst um 50 Prozent, ab dem Jahr 2017
um 75 Prozent und ab dem Jahr 2019 um 100 Prozent
entlastet werden.

Meine Damen und Herren, nutzen wir heute die Gele-
genheit! Lassen Sie uns gemeinsam auf Bundesebene
mehr Verantwortung übernehmen! Stimmen Sie unserem
Antrag zu! Lassen Sie uns ein gemeinsames Zeichen der
Demokratie setzen! Lassen Sie uns kurzfristig wie lang-
fristig die kommunalen Finanzen auf ein stabiles Funda-
ment stellen!

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(D)(B)


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1807905500

Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt das Wort

dem Kollegen Marian Wendt.


Marian Wendt (CDU):
Rede ID: ID1807905600

Herr Präsident, vielen Dank. – Ich möchte nur für die

Koalition feststellen, dass wir mit dem Programm zur
Entlastung der Kommunen schon begonnen haben, auch
wenn es die Vertreter der Linksfraktion vielleicht noch
nicht ganz mitbekommen haben: 500 Millionen Euro in
diesem Jahr, 500 Millionen Euro im nächsten Jahr,
35 Millionen Euro für Impfkosten. Das Wichtigste, was
wir festgelegt haben, sind aber baurechtliche Vereinfa-
chungen bei der Unterbringung von Flüchtlingen.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist das Ergebnis der Verhandlungen im Bundesrat!)


Es geht ja nicht nur um die reinen Kosten, sondern auch
darum, wie die Menschen human untergebracht werden
können. Ich komme aus einem Wahlkreis – das ist der
Wahlkreis Nordsachsen, um Leipzig herum –, wo dies
geschieht, wo die Möglichkeiten durch die Änderung
des Baurechts genutzt werden, um humane Unterbrin-
gung umzusetzen.

Ich glaube – da spreche ich für die Fraktion der CDU/
CSU insgesamt –, dass es die größte Entlastung für die
Kommunen wäre, wenn wir die Voraussetzungen schaff-
ten, dass den Menschen geholfen werden kann, die wirk-
lich Hilfe benötigen, dass vor allem die aus dem Irak und
aus Syrien unterstützt werden, zugleich aber dafür sorg-
ten, dass die, die kein Recht zum Aufenthalt in unserem
Land haben, möglichst zügig wieder ausreisen. Deswe-
gen halten wir einen Winterabschiebestopp nicht für
sinnvoll. Durch mehr freie Kapazitäten würde man die
Kommunen am besten unterstützen. Allein in meinem
Wahlkreis machen die, die aus Serbien kommen und ent-
sprechend abgeschoben werden müssten, 25 Prozent
aus.


(Zuruf von der SPD: Sagen Sie das einmal dem Innenminister!)


Wenn das passieren würde, würde unser Landkreis sehr
stark entlastet werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1807905700

Frau Kollegin Karawanskij, Sie haben die Möglich-

keit, darauf zu erwidern.


Susanna Karawanskij (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807905800

Kollege Wendt, wir beide kommen aus demselben

Wahlkreis, Nordsachsen. Insofern ist mir die Situation
sowohl in Sachsen als auch in Nordsachsen nicht ganz
unbekannt. Ich bin ebenfalls sowohl mit dem Landrat als
auch mit den Bürgermeistern im Gespräch. Sie haben
mich möglicherweise falsch verstanden. Ich habe nicht
gesagt, dass der Bund nichts tut. Ich habe nur gesagt,
dass das ein Tropfen auf den heißen Stein ist. Ich habe in
der Debatte über den Gesetzentwurf zur Entlastung der
Länder und Kommunen gesagt, dass das ein Schritt in
die richtige Richtung ist, bei weitem aber noch nicht aus-
reicht. Wenn Sie hier davon sprechen, dass eine men-
schenwürdige Unterbringung das Ziel ist, dann trennt
uns in dieser Frage tatsächlich sehr wenig. Nur wir sind
nicht der Meinung, dass man diese Frage über Gewerbe-
gebiete bzw. Baurechtsverordnungen lösen sollte.

Wir haben dazu den Vorschlag eingebracht, dass bei-
spielsweise eine bessere interkommunale Zusammenar-
beit möglich sein sollte; denn es gibt tatsächlich Kom-
munen, die in ihrem kommunalen Wohnungsbestand
freie Kapazitäten haben. Man kann beispielsweise über
die Lockerung des Königsteiner Schlüssels nachdenken
und – nach unserem aktuell vorliegenden Vorschlag –
darüber, dass man die Kommunen und Landkreise von
den Kosten entlastet und das über die Länder ausgleicht.
Insofern trennt uns von dem Anliegen nichts. Nur, wir
hätten es gern ein bisschen präziser. Wir haben einen
konkreten Antrag vorgelegt. Dazu bitten wir Sie einfach
um Zustimmung.

Im Übrigen bin ich der Meinung, dass gerade im Win-
ter – das habe ich vorhin zu Beginn meiner Rede gesagt –
der Abschiebestopp, den Bodo Ramelow als erste Amts-
handlung eingeführt hat, richtig ist. Dass er damit nicht
so verkehrt liegt, kann man daran ablesen, dass auch
Schleswig-Holstein dem gefolgt ist. Ich hoffe, dass auch
noch weitere Bundesländer folgen werden. Das ist ein-
fach ein humanitärer Akt. Ich habe auch gesagt, dass es
eine gesamtgesellschaftliche und auch eine europäische
Aufgabe ist, der wir uns hier zu stellen haben.


(Beifall bei der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1807905900

Jetzt hat das Wort der Kollege Axel Fischer für die

Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Beim Lesen des Antrags „Bundesverantwortung wahr-
nehmen“ der Linken habe ich mich zweimal vergewis-
sern müssen, welches Datum dieser Antrag trägt, und
zwar mit Blick auf die Finanzsituation der Kommunen.
Ihre Darstellung allgemein verarmter und weiter darben-
der Kommunen wäre vielleicht 2009 in Zeiten der gras-
sierenden Finanzkrise mit hoher Arbeitslosigkeit ange-
messen gewesen. Heute ist sie es sicher nicht mehr; denn
schon die christlich-liberale Bundesregierung war sich
der prekären Lage der Kommunen im Zuge der Wirt-
schafts- und Finanzkrise 2009 bewusst und hat schnell
und umfassend Abhilfe geleistet. Die Große Koalition
knüpft mit ihrer konsequenten kommunalen Finanzent-
lastung heute nahtlos an. So können Länder und Kom-
munen heute auf Basis der größten Kommunalentlastung
in der Geschichte durch den Bund handeln.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, das ist verantwortungs-
volle Politik, die SPD, CDU und CSU hier gemeinsam





Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land)



(A) (C)



(D)(B)

zum Wohle der Kommunen und der Menschen leisten.
Dazu gehören – ich zähle sie jetzt auf, weil Sie gemeint
haben, das sei nur ein Tropfen auf den heißen Stein –
zum Beispiel folgende Maßnahmen:

Kinderbetreuung: Für den Ausbau der Kinderbetreu-
ung für unter Dreijährige und die Beteiligung an der
Finanzierung der Betriebskosten hatte der Bund bereits
insgesamt 4 Milliarden Euro in den Jahren 2009 bis
2013 und ab 2014 jährlich 770 Millionen Euro bereitge-
stellt. Im Zusammenhang mit der Ratifizierung des
Fiskalvertrages hat der Bund zusätzlich für Investitionen
580,5 Millionen Euro und für Betriebskosten 2013
18,75 Millionen Euro, 2014 37,5 Millionen Euro und ab
2015 jährlich 75 Millionen Euro zur Verfügung gestellt.

Kosten der Unterkunft und Heizung, Grundsicherung
für Arbeitsuchende: Hier fordern Sie eine schrittweise
Übernahme der Kosten durch den Bund. Fakt ist: Der
Bund trägt bereits heute etwa ein Drittel dieser Kosten.
In der vergangenen Legislaturperiode wurden die Kom-
munen durch eine höhere Bundesbeteiligung in den Jah-
ren 2011 bis 2017 um etwa 9 Milliarden Euro entlastet.
Ab diesem Jahr werden die Kommunen darüber hinaus
mit 1 Milliarde Euro pro Jahr zusätzlich unterstützt. Das
erfolgt in den Jahren 2015 bis 2017 hälftig durch einen
höheren Bundesanteil an den Kosten der Unterkunft und
Heizung und hälftig durch einen höheren Gemeindean-
teil an der Umsatzsteuer.

Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung:
Die Verständigung im Jahr 2011 und die schrittweise er-
folgende Erhöhung der Erstattung der Nettoausgaben der
Kommunen verursacht Entlastungen im Zeitraum von
2012 bis 2017 von weit über 20 Milliarden Euro.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Zur weiteren Entlastung der Kommunen hat der Bund
2012 zugesagt, jeweils die aktuellen Nettoausgaben des
laufenden Kalenderjahres zu erstatten. Für 2014 erstattet
der Bund nunmehr knapp 5,5 Milliarden Euro und über-
nimmt auch in den Folgejahren die Nettoausgaben voll-
ständig.

Steuern: vollständige Entlastung der Länder und Ge-
meinden von Steuermindereinnahmen im Rahmen des
Steuervereinfachungsgesetzes 2011 in Höhe von rund
2 Milliarden Euro bis 2017.

Entflechtungsmittel: Die Entflechtungsmittel werden
in den Jahren ab 2014 bis zu ihrem Auslaufen im Jahr
2019 in unveränderter Höhe von jährlich 2,6 Milliarden
Euro weitergezahlt.

Bildung: Trotz Zuständigkeit der Länder beteiligt sich
der Bund mit circa 13,5 Milliarden Euro von 2010 bis
2017 am Hochschulpakt. Zudem regelt der Koalitions-
vertrag, dass die Kommunen darüber hinaus im Rahmen
der Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes im
Umfang von 5 Milliarden Euro jährlich von der Einglie-
derungshilfe entlastet werden sollen. Im geltenden
Finanzplan ist diese Entlastung bereits vorgemerkt. Der
gesetzlichen Umsetzung steht somit nichts mehr im
Wege; sie kann rechtzeitig erfolgen.
Meine Damen und Herren, Sie sehen: Es kommt nicht
von ungefähr, dass Städte und Gemeinden bereits in den
letzten Jahren Überschüsse ausgewiesen haben. Das
heißt, sie haben insgesamt mehr Geld eingenommen, als
sie ausgegeben haben, und das trotz steigender Ausga-
ben für soziale Leistungen. Allein im ersten Halbjahr des
vergangenen Jahres haben die Kommunen Rekordüber-
schüsse in Höhe von mehr als 5,3 Milliarden Euro aus-
gewiesen – wohlgemerkt in einem halben Jahr. Mit die-
sen Überschüssen sind auch viele finanzschwächere
Kommunen wieder in der Lage, langfristig zu planen
und notwendige Investitionen zu tätigen.

Die Sachinvestitionsausgaben der Kommunen steigen
bereits seit 2012 wieder an. Das freut uns und zeigt deut-
lich, wie wichtig uns Selbstorganisation und Selbstver-
waltung der Bürger vor Ort sind, wie groß wir Subsidia-
rität schreiben. Ich verbinde diesen großen Erfolg für die
kommunale Selbstverwaltung immer gerne mit dem
Namen unseres langjährigen Kollegen Peter Götz, der
wie kein anderer jahrzehntelang mit Herzblut für die
Entlastung der Kommunen gekämpft hat.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, die Linken zeichnen in ih-
rem Antrag trotzdem ein Zerrbild der Finanzsituation der
Kommunen im Allgemeinen und fordern den Bund auf,
Verantwortung zu übernehmen. Sie unterschlagen dabei
die vielfältigen Anstrengungen und Maßnahmen, mit de-
nen der Bund in den vergangenen Jahren die Kommunen
in herausragender Weise finanziell und administrativ
entlastet und unterstützt hat; ein paar Beispiele habe ich
genannt.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben damals bereits gewusst, wie viele Flüchtlinge kommen? Interessant!)


Mit den vielfältigen Maßnahmen des Bundes in den ver-
gangenen Jahren und den bereits beschlossenen Unter-
stützungen in den kommenden Jahren können die Kom-
munen selbstbewusst und befreit in die Zukunft blicken.

So stelle ich mir bei der Lektüre des Antrags die
Frage: Worauf zielt er eigentlich ab? Sie schreiben darin,
dass Sie Aufgaben der Kommunen in eine Bundesauf-
tragsverwaltung überführen wollen. Über die Länder, die
für die Kommunalfinanzen und die Wahrnehmung der
Aufgaben durch die Kommunen in unserem Staat ver-
antwortlich sind, findet sich in Ihrem Antrag nichts – gar
nichts!


(Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Da haben Sie nicht genau gelesen! Wir schlagen etwas sehr Konkretes vor, Herr Kollege!)


Wir wollen eigenständige Kommunen, in denen die
Menschen überall in Deutschland nach ihren Sitten und
Gebräuchen das Zusammenleben dezentral möglichst
weitgehend selbst gestalten und regeln können.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir wollen eben nicht, dass bundesweit alle nach der
Pfeife einer Zentralinstanz tanzen müssen. Auch deshalb





Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land)



(A) (C)



(B)

bejahen wir die Länder als weitere Elemente des Födera-
lismus. Es ist doch bezeichnend, dass die Länder in
Ihrem Antrag gar nicht vorkommen, und das, obwohl Sie
als Linke mit der Übernahme von Regierungsverantwor-
tung in mehreren Ländern mittlerweile die Geschicke
der Menschen lenken und in Thüringen sogar einen
Ministerpräsidenten stellen. Warum verleugnen Sie diese
Verantwortung in Ihrem Antrag? Warum zeigen Sie nur
auf den Bund und klammern die Länder völlig aus?

Die Linke formuliert in diesem Hause häufig die
Forderung nach mehr Geld für viele oder gar für alle.
Warum wollen Sie sich eigentlich so klammheimlich aus
Ihrer Verantwortung stehlen, wenn es um das Bezahlen
der Rechnung geht? Warum sind Sie nicht einmal ehrlich
und sagen offen, dass die finanziellen Probleme der
Kommunen vor allem regionale Probleme der vom
Strukturwandel betroffenen Industrieregionen im Westen
Deutschlands sind? Ich werde Ihnen sagen, warum:
Denn dann müssten Sie erklären, warum Sie die knappen
Bundesmittel nach dem Gießkannenprinzip über das
Land verteilen wollen, anstatt den von Überschuldung
betroffenen Kommunen zielgenau zu helfen. Lassen Sie
mich auch klarstellen: Die Finanzierung kommunaler
Spaßbäder ist bestimmt nicht Aufgabe des Bundes.


(Beifall bei der CDU/CSU – Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Das ist zynisch! Angesichts der Debatte ist das zynisch!)


Kommunen, die durch ein Anwachsen des Zuzugs aus
anderen EU-Mitgliedstaaten besonders betroffen sind,
sehen sich mit erheblichen Belastungen bei der kommu-
nalen Daseinsvorsorge konfrontiert. Hier leistet der
Bund Unterstützung und wird das auch weiterhin tun.
Dies sind wir bereits im vergangenen Jahr angegangen.
Die besonders betroffenen Kommunen wurden per ein-
maliger Soforthilfe um 25 Millionen Euro entlastet. Dies
erfolgte über eine entsprechende Anhebung der Bundes-
beteiligung an den Kosten für Unterkunft und Heizung.
Im Zusammenhang mit der Änderung des Asylbewer-
berleistungsgesetzes wurden Länder und Kommunen um
31 Millionen Euro, ab 2016 sogar um 43 Millionen Euro
jährlich entlastet.

Abschließend komme ich auf das Datum Ihres An-
trags zurück, den 17. Dezember 2014. Denn während
Ihre Fraktion noch mit der Ausformulierung von finan-
ziellen Forderungen an den Bund beschäftigt war, hatte
sich die Bundeskanzlerin bereits mit den Ländern über
die Hilfen zur Unterbringung von Asylbewerbern ver-
ständigt. Bund und Länder – alle Länder – waren sich
darüber einig, dass für die finanzielle Unterstützung von
Ländern und Kommunen durch den Bund eine ausgewo-
gene und abschließende Regelung für die Jahre 2015 und
2016 getroffen wurde. Das passierte am 11. Dezember
des vergangenen Jahres, immerhin eine Woche vor dem
Datum, an dem Sie diesen Antrag eingebracht haben.
Das zeigt eines: Diese Bundesregierung und die Große
Koalition lösen Probleme gemeinsam mit den Ländern,
bevor Sie überhaupt in der Lage sind, die Probleme zu
erkennen und entsprechende Forderungen zu schreiben.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1807906000

Nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die

Grünen die Kollegin Britta Haßelmann.


Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807906100

Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und

Herren! Liebe Besucherinnen und Besucher! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Herr Fischer, Sie haben eben die
Situation der Kommunen sehr einseitig zu beschreiben
versucht und gleichzeitig den Vorwurf an die Linke ge-
richtet, dass deren Beschreibung der kommunalen Lage
besonders einseitig gewesen wäre. Ich finde das nicht
zielführend.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Ich finde es richtig, darüber zu sprechen, dass in den
letzten Jahren Fehler korrigiert und vom Bund aus ge-
meinsame Maßnahmen mit den Ländern vereinbart wor-
den sind. Dafür war auch nicht – nach Ihrer Farbenlehre –
die CDU oder gar die FDP verantwortlich.

Vielmehr haben Bund und Länder in der letzten Le-
gislaturperiode gemeinsam erkannt, dass die Kosten für
die Grundsicherung im Alter, die durch die Folgen pre-
kärer Beschäftigung und Altersarmut entstehen, nicht
mehr fast ausschließlich von den Kommunen gestemmt
werden können. Von den fast 5 Milliarden Euro, Ten-
denz steigend, hat der Bund bis zur letzten Legislatur nur
16 Prozent übernommen. Vor diesem Hintergrund be-
durfte es einer gemeinsamen Kraftanstrengung der Län-
der insgesamt und des Bundes, hier zu sagen: Das geht
nicht. Wir müssen in Zukunft 100 Prozent der Kosten
der Grundsicherung im Alter übernehmen; denn die
Kommunen haben null Steuerungsfähigkeit, haben null
Einfluss auf diese Bundesaufgabe und brauchen die Ver-
antwortung des Bundes. – Insofern war es richtig und
gut, das zu tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wenn Sie über die Kommunen sprechen, dann lohnt
es sich, auch über die sehr heterogene Situation der
Kommunen zu sprechen. Nur dann werden Sie den
Kommunen insgesamt gerecht. Die Kommunen sind
nicht alle in derselben Situation. Es gibt Kommunen, die
ihre Haushalte aufgrund guter Steuereinnahmen in er-
heblichem Maße sanieren konnten. Im letzten Jahr gab
es zusätzliche Steuereinnahmen von 1,5 Milliarden Euro
für die Kommunen. Es gibt selbstverständlich Kommu-
nen, die davon profitiert haben. Aber es gibt gleichzeitig
ganz viele Kommunen, die davon in keiner Art und
Weise profitiert haben. Verlieren Sie diese doch nicht aus
dem Blick. Wir müssen das doch insgesamt betrachten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. Rüdiger Veit [SPD])


(D)






Britta Haßelmann


(A) (C)



(D)(B)

Wir haben mittlerweile eine Zweiklassengesellschaft
bei den Kommunen. Es gibt Kommunen, denen es gut
geht und die aus eigener Kraft Aufgaben übernehmen,
investieren, vor Ort gestalten können, und es gibt Kom-
munen, die das längst nicht mehr können und nicht wis-
sen, wie sie mit ihren Kassenkrediten und der Notver-
waltung umgehen sollen. Wir müssen dieser Situation
insgesamt gerecht werden, und zwar die Länder und der
Bund; das ist ganz wichtig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dazu haben Sie uns sehr viele Zahlen genannt, sei es
bei der Grundsicherung im Alter oder sei es die gerade
vom Bundesrat beschlossene Flüchtlingsunterstützung in
Höhe von 500 Millionen Euro, auf die sich Bundestag
und Bundesrat verständigt haben. Ja, diese Zahlen sind
richtig. Aber folgende Zahlen haben Sie nicht erwähnt:
In den Kommunen besteht ein Investitionsstau in Höhe
von 118 Milliarden Euro. Warum ist das so? Warum
widmen wir als Bund uns diesem Thema nicht? Wir wis-
sen, dass die Kommunen dieses Problem nicht aus eige-
ner Kraft bewältigen können. Hier kann sich der Bund
nicht wegdrücken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Gleichzeitig gibt es bei den Kommunen Kassenkre-
dite in Höhe von 48 Milliarden Euro. Diese sind nicht
einfach abzuarbeiten. Für Kommunen in einer Haus-
haltsnotlage ist das ein Block, der da steht und nicht ein-
fach zu bewältigen ist. Gleichzeitig haben wir es mit
Kosten für Sozialleistungen in Höhe von 48,7 Milliarden
Euro zu tun. Diese betreffen soziale Pflichtaufgaben des
Bundes. Deshalb knüpfen wir, auch wir Grüne, natürlich
immer wieder beim Bund an. Man kann es sich nicht so
einfach machen und sagen: Das ist Länderaufgabe. So-
ziale Pflichtaufgaben, soziale Leistungen des Bundes,
die für die Kommunen Pflichtaufgaben sind, haben wir
von Bundesseite aus mitzufinanzieren. Das ist unsere
Verpflichtung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Im Jahr 2017 werden die Kommunen insgesamt Kos-
tenaufwendungen für Sozialleistungen in Höhe von
54,5 Milliarden Euro haben. Da ist es gut, 100 Prozent
der Kosten für die Grundsicherung im Alter zu überneh-
men. Das sind 5 bis 6 Milliarden Euro. Das ist aber ein
Tropfen auf den heißen Stein. Deshalb ist es richtig, sich
zu überlegen: Wo sind weitere Punkte, bei denen wir für
Bundesleistungen auch Verantwortung aus dem Bundes-
haushalt übernehmen müssen? Da appelliere ich an Sie:
Tun Sie nicht so, und verschieben Sie die Verantwortung
nicht immer nach dem Motto „Wir tun genug, jetzt sind
mal die Länder dran“. Am Ende geht es doch um die
Menschen, die vor Ort in den Städten und Gemeinden le-
ben und gleichwertige Lebensbedingungen und auch
eine gute Lebenssituation haben wollen.

Sie haben das Thema Kinderbetreuung angesprochen.
Das ist ein sehr gutes Beispiel. Wir haben einen Rechts-
anspruch auf Kindertagesbetreuung beschlossen. Dieser
Rechtsanspruch gilt für alle, das heißt 100 Prozent.
Wenn in einer Stadt wie Bielefeld zum Beispiel 43 oder
44 Prozent der Menschen mit Kindern, die dort leben,
diesen Rechtsanspruch geltend machen wollen, dann
müssen wir auch Kindertagesbetreuungsplätze für so
viele Kinder bereithalten. Gezahlt werden vom Bund
aber nur 37 bzw. 38 Prozent. Da machen wir in Berlin es
uns zu einfach. Wir können doch nicht einen Rechtsan-
spruch auf Kindertagesbetreuung ab dem vollendeten
ersten Lebensjahr beschließen, dann die Kosten aber nur
für eine Quote bezahlen und sagen: Den Rest zahlen die
Kommunen vor Ort. Wir tragen hier eine Verantwortung,
der wir als Bund im Moment nicht nachkommen. Des-
halb appelliere ich an Sie: Tun Sie nicht so selbstgefäl-
lig. Wir haben massenhaft Aufgaben, die wir zu bewälti-
gen haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Ich komme zu dem letzten Punkt, den ich ansprechen
möchte. Neulich haben Sie die Abschaffung des Asylbe-
werberleistungsgesetzes, die meine Fraktion beantragt
hatte, abgelehnt. Wir halten es für falsch, dass die Kom-
munen so viel Verantwortung für Menschen, die fliehen,
übernehmen müssen. Das ist aber nur der eine Aspekt.
Der andere Aspekt ist ein humanitärer: Warum werden
Menschen, die zu uns fliehen, die Asyl suchen, die auf
der Flucht sind, bei den sozialen Leistungen aufgrund
des Asylbewerberleistungsgesetzes anders behandelt, re-
gelrecht deklassifiziert? Unterhalb des Existenzmini-
mums gibt es noch ein Minimum für Menschen auf der
Flucht. Das ist falsch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir haben für unsere Initiative zur Abschaffung hier
keine Mehrheit gefunden. Es ist aber richtig, dieses
Thema anzugehen.

Deshalb ist es wichtig, sich Gedanken darüber zu ma-
chen, wo die Verantwortung des Bundes liegt. Sie haben
von den 500 Millionen Euro gesprochen. Diese Maß-
nahme ist gut und richtig – darauf haben sich Bund und
Länder verständigt –, aber jetzt kann man sich nicht
selbstgefällig zurücklehnen; denn wir wissen, es werden
noch viel mehr Menschen kommen. Viele Menschen
sind vor Krieg und Terror auf der Flucht. Denen müssen
wir – das ist unsere humanitäre Verantwortung – hier
Asyl gewähren, denen müssen wir hier Raum und Platz
bieten. Wir müssen sie willkommen heißen. Das tun
ganz viele Bürgerinnen und Bürger durch unglaubliches
Engagement und Unterstützung vor Ort. Wir müssen un-
seren Beitrag leisten, indem wir die Kommunen in die
Lage versetzen, diese Flüchtlingsarbeit, diese Flücht-
lingsunterstützung zu leisten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es reicht nicht aus, zu sagen: Wir haben doch jetzt ein-
mal etwas gegeben. – Es geht um Integrationskurse, Mi-
grationsberatung, die Betreuung von traumatisierten
Menschen, die Aus- und Weiterbildung für junge Flücht-





Britta Haßelmann


(A) (C)



(D)(B)

linge, die nach Deutschland kommen, und um unbeglei-
tete minderjährige Flüchtlinge.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1807906200

Liebe Kollegin Haßelmann, darf ich Sie an die verein-

barte Redezeit erinnern?


Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807906300

Ich bin sofort fertig. – Zum Thema BImA: Warum

werden die Immobilien nicht kostengünstiger zur Verfü-
gung gestellt?


(Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Mietfrei!)


Es geht auch um die Gesundheitskarte, die eingeführt
werden muss. All das sind Aufgaben, bei denen die
Kommunen die Unterstützung nicht nur der Länder, son-
dern auch des Bundes brauchen. Deshalb: Lehnen Sie
sich hier nicht zurück und sagen: Wir haben schon genug
getan. – Hier gibt es eine große Herausforderung. Wer
vor Krieg und Terror flieht, muss unabhängig von der
Kassenlage auf Hilfe in unserem Land bauen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807906400

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Swen

Schulz, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Swen Schulz (SPD):
Rede ID: ID1807906500

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Linke for-
dert in ihrem Antrag, dass der Bund seine Verantwortung
wahrnehmen soll, dass er bei der Unterbringung von
Flüchtlingen und Asylbewerbern helfen soll und dass er
die Kommunen entlasten soll. Das ist im Grundsatz alles
richtig, und darum machen wir das auch.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wir haben eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen,
ganz ohne auf den Antrag der Linken zu warten. Ich will
gerne noch einmal einen Überblick geben: Zunächst tun
wir ganz grundsätzlich viel für die Kommunen, unab-
hängig von der Frage Flüchtlinge und Asylbewerber.
Wir übernehmen die vollen Kosten für die Grundsiche-
rung im Alter und bei Erwerbsminderung. Das macht bis
2018 eine Gesamtentlastung in Höhe von etwa 25 Mil-
liarden Euro aus. 2015 und 2016 kommen je 1 Milliarde
Euro hinzu, 2017 sogar noch mehr als 1 Milliarde Euro.
Die Koalition hat weiterhin vereinbart, die Kommunen
ab 2018 um 5 Milliarden Euro jährlich zu entlasten. Wir
leisten viel bei der Kinderbetreuung: 750 Millionen
Euro. Wir stocken die Mittel für den Städtebau auf:
700 Millionen Euro. Meine sehr verehrten Damen und
Herren, dieser Koalition muss wahrlich niemand erklä-
ren, dass die Kommunen gestärkt werden müssen, und
uns Sozialdemokraten schon gar nicht, um das noch hin-
zuzufügen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Uns auch nicht!)


Nun konkret zu den Flüchtlingen und Asylbewerbern.
Außenminister Steinmeier hat es vor einiger Zeit so for-
muliert: Die Welt scheint aus den Fugen zu geraten. Das
führt dazu, dass mehr Menschen nach Deutschland kom-
men und Schutz suchen. Bei all den Diskussionen, die
wir hier so führen, müssen wir uns immer im Klaren da-
rüber sein, dass die unmittelbaren Nachbarstaaten der
Krisenländer ungleich mehr zu schultern haben. Aber
– klar – es gibt eine Zunahme der Zahl von Flüchtlingen
und Asylbewerbern in Deutschland. Das stellt manche
Kommune tatsächlich vor Probleme.

Auch in dieser Hinsicht hat die Koalition bereits ge-
handelt. Das ist teilweise schon gesagt worden. 500 Mil-
lionen Euro stehen in diesem Jahr, 2015, für Unterstüt-
zungsmaßnahmen zur Verfügung. Für das Jahr 2016
stehen noch einmal 500 Millionen Euro zur Verfügung.

Wir haben das Asylbewerberleistungsgesetz refor-
miert. Dies bringt in diesem Jahr eine Entlastung für die
Kommunen von 31 Millionen Euro. Ab 2016 werden es
sogar 43 Millionen Euro sein.

Außerdem haben wir, Frau Haßelmann, die mietfreie
Abgabe von Bundesimmobilien zur Flüchtlingsunter-
bringung beschlossen. Wir haben eine Entlastung im Zu-
sammenhang mit den Kosten der Zuwanderung aus der
EU vereinbart: 25 Millionen Euro. Außerdem haben wir
Unterstützung bei Maßnahmen im Gesundheitswesen
beschlossen: 10 Millionen Euro jährlich. In diesem Jahr
haben wir 40 Millionen Euro für zusätzliche Integra-
tionskurse in den Haushalt eingestellt. Zudem haben wir
weitere 10 Millionen Euro im Rahmen der Programme
der sozialen Stadt bereitgestellt.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch hier
sagen wir selbstbewusst: Wir nehmen unsere Verantwor-
tung ernst. Wir unterstützen die Kommunen und helfen
ihnen, die Flüchtlinge und Asylbewerber gut aufzuneh-
men.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich will aber nicht behaupten – damit es hier keine
Missverständnisse gibt; Frau Haßelmann hat auf die Un-
terschiede hingewiesen –, dass damit jetzt alle Probleme
gelöst sind. Die Frage, ob sich der Bund über die bisheri-
gen Leistungen hinaus engagieren muss, ist verständlich;
denn letztlich ist die Flüchtlingspolitik eine nationale
Aufgabe. So müssen wir diese auch verstehen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich sage das nicht nur, weil Sigmar Gabriel einen ent-
sprechenden Vorstoß unternommen hat, sondern weil
ich, wie andere Abgeordnete sicherlich auch, die Situa-
tion vor Ort sehe, die eben teilweise schwierig ist. Es ist
vollkommen klar, dass wir in der Gesellschaft größere
Schwierigkeiten bekommen, wenn es etwa heißen
würde: Wir müssen das Schwimmbad schließen, weil
wir eine Flüchtlingsunterkunft einrichten müssen. – Wir
dürfen auf gar keinen Fall in eine Situation kommen, in





Swen Schulz (Spandau)



(A) (C)



(D)(B)

der die Hilfe für Flüchtlinge und Asylbewerber in Kon-
flikt gerät mit der Daseinsvorsorge, mit wichtigen Leis-
tungen für die Bürgerinnen und Bürger. Es muss beides
zusammen gehen. Es geht auch beides zusammen, gute
kommunale Leistungen und eine gute Aufnahme von
Flüchtlingen und Asylbewerbern, meine sehr verehrten
Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Darum werden wir gemeinsam mit den Ländern und
Kommunen weitere Maßnahmen erörtern und dann auch
zu Lösungen kommen.

Damit könnte ich es – gerade als Mitglied des Haus-
haltsausschusses – eigentlich auch schon bewenden las-
sen. Wir alle sollten und wollen ja auch Flüchtlinge und
Asylbewerber nicht nur als ein Problem für die öffentli-
chen Haushalte, nicht nur als Kostenfaktor sehen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Vor allem ist es ein Gebot der Menschlichkeit, der
Nächstenliebe und unseres Grundgesetzes, Menschen in
Not zu helfen. Wenn das Geld kostet, dann kostet das
eben Geld – das wir aufbringen können. Für die Flücht-
linge muss es doch unverständlich sein, welche Diskus-
sionen wir in Deutschland manchmal führen.

Natürlich können wir nicht alle aufnehmen. Natürlich
muss es eine neue europäische Flüchtlingspolitik geben.
Natürlich müssen wir dazu beitragen, dass die Menschen
gar nicht erst fliehen müssen. Die Verfahren müssen
sorgfältig durchgeführt, aber auch schnell entschieden
werden. Dafür setzen wir mehr Personal ein. Zudem ha-
ben wir im Bundesrat mit teilweiser Unterstützung der
Opposition die sicheren Herkunftsstaaten neu definiert.
Jede Rhetorik aber nach dem Motto „Das Boot ist voll“
ist hanebüchener Unsinn und menschenfeindlich.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wie sicherlich viele von Ihnen, liebe Kolleginnen und
Kollegen, habe ich in meinem Wahlkreis Debatten über
dieses Thema. Besonders heftig wurde es bei mir in Ber-
lin-Spandau, als ich den zuständigen Berliner Senator
aufgefordert habe, eine als provisorisch gedachte Ein-
richtung, Flüchtlingsunterkunft, längerfristig offenzuhal-
ten, weil wir nicht wissen, wohin sonst mit den Men-
schen. Manche Anwohner waren sehr aufgebracht. Da
habe ich wirklich sehr harte Worte gehört. Ich will hier
nicht auf Einzelheiten dieses konkreten Falles eingehen.
Ich kann Kritik dann auch verstehen; denn eine große
Unterkunft für Flüchtlinge und Asylbewerber ist für An-
wohner, für Nachbarn zunächst einmal eine Belastung.
In diesem Fall wurde denen zudem etwas anderes zuge-
sagt als das, was tatsächlich gemacht wurde.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807906600

Herr Kollege Schulz, gestatten Sie eine Zwischen-

frage der Kollegin Vogler?


Swen Schulz (SPD):
Rede ID: ID1807906700

Ich würde gerne meinen Gedanken zu Ende führen.

Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807906800

Bitte schön.


Swen Schulz (SPD):
Rede ID: ID1807906900

Wir sollten daraus lernen, und zwar erstens, dass wir

Konflikte mit der Nachbarschaft nach Möglichkeit redu-
zieren müssen, zuallererst durch Informationen, durch
Begegnung und Dialog. Aber manches kostet eben auch
Geld, etwa wenn es um bauliche Fragen oder um Ange-
bote für Kinder und Familien und die Betreuung der
Menschen geht.

Zweitens müssen wir ehrlich sein. Wir müssen uns
klar darüber werden, was passiert, und wir müssen das
den Bürgern tatsächlich sagen. Auf gar keinen Fall dür-
fen wir den Fehler wiederholen, den wir früher einmal
bei den sogenannten Gastarbeitern gemacht haben, als
wir dachten, dass die alle bald wieder weg sein werden.
Nein, viele werden bleiben. Wir müssen klar sagen: Das
ist gut. Die Menschen sind willkommen. Deutschland
braucht Zuwanderung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich habe mit großem Interesse ein Interview in der
Süddeutschen Zeitung mit dem Oberbürgermeister der
Stadt Goslar, Oliver Junk, gelesen. Er ist Christdemokrat
und will mehr Flüchtlinge in seiner Stadt. Er sagt wört-
lich:

Wir verlieren Einwohner. Schrumpfende Regionen
aber werden weniger attraktiv für die Wirtschaft.
Das ist eine Abwärtsspirale, aus der wir raus wol-
len. … Die Stadt Goslar profitiert von Flüchtlingen,
sie sind eine Bereicherung …

Der Mann hat recht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir sind aus ganz handfesten wirtschaftlichen und de-
mografischen Gründen auf Zuwanderung angewiesen.
Wir müssen mehr Einwanderung wagen, und wir müssen
uns eben auch darauf einstellen und die Menschen unter-
stützen. Das beginnt bei frühen Sprachkursen. In mei-
nem Wahlkreis in Berlin-Spandau haben sich Frauen aus
der Nachbarschaft gemeldet und ihre Hilfe für erste
Sprachkurse angeboten, weil da staatlich nichts passiert.
Ich bin wirklich von diesem ehrenamtlichen Engage-
ment beeindruckt, das es an verschiedenen Stellen gibt
und für das wir uns gar nicht genug bedanken können.
Aber ich bin sicher, dass wir das auch staatlich besser
unterstützen können und müssen.

Das ist nur ein Beispiel. Es gibt weitere Themen, wei-
tere Baustellen. Eric Schweitzer vom DIHK etwa will
Flüchtlingen Ausbildung verschaffen und fordert daher
ein Verbot der Abschiebung während der Ausbildung.

Immerhin haben wir mit dem schnelleren Zugang
zum Arbeitsmarkt, mit der Abschaffung von Residenz-
pflicht und Sachleistungsprinzip, mit der Verbesserung
der Unterstützungsmaßnahmen und mit dem schnelleren





Swen Schulz (Spandau)



(A) (C)



(D)(B)

Zugang zum BAföG schon einiges geschafft. Jetzt müs-
sen weitere Schritte folgen, etwa bei der Bildung, aber
auch bei der Gesundheitsversorgung. Ein Zuwande-
rungsgesetz gehört dazu, ist sozusagen der Rahmen. Die
SPD fordert das schon lange. Unser Koalitionspartner
fängt mit der Diskussion an. Wir werden das forcieren.
Wenn wir ein Zuwanderungsgesetz bekommen, setzen wir
ein klares, ein unmissverständliches Zeichen: Deutsch-
land ist ein offenes Land, das Menschen aus anderen
Ländern nicht als Last wahrnimmt, sondern anerkennt
und willkommen heißt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In diesem Sinne: Wir haben viel gemacht, aber haben
noch einiges vor.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807907000

Vielen Dank. – Das Wort zu einer Kurzintervention

erhält jetzt die Kollegin Vogler, Fraktion Die Linke.


Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807907100

Lieber Kollege Schulz, ich wollte, weil Sie eben die

Geschichte aus Ihrem Wahlkreis erzählt haben, darauf
hinweisen, dass wir an vielen Orten Probleme damit ha-
ben, die Flüchtlinge angemessen, würdevoll und integra-
tiv unterzubringen. Wir waren vor einigen Tagen in mei-
nem Wahlkreis im Münsterland, der eher im ländlichen
Raum liegt, unterwegs. Petra Pau als Vizepräsidentin
war mit dabei. Wir haben mit Kommunalpolitikerinnen
und Kommunalpolitikern sowie mit Menschen aus
Flüchtlingsinitiativen gesprochen. Wir haben immer wie-
der gehört: Die Unterbringung ist ein ganz großes Pro-
blem. Wenn es selbst bei uns im ländlichen Raum ein
Problem ist, dann liegt es ja auf der Hand, dass es in
Städten wie Berlin, Duisburg oder Köln ein noch viel
größeres Problem ist.

Ich würde Sie fragen wollen, ob es nicht sinnvoll
wäre, Immobilien der Bundesanstalt für Immobilienauf-
gaben, der BImA – sie verfügt über viele, viele Immobi-
lien, ist aber gehalten, diese finanziell bestmöglich zu
verwerten –, oder auch andere Liegenschaften des Bun-
des, die im Augenblick nicht genutzt sind, alte Eisenbah-
nerwohnungen usw., den Kommunen kostenfrei zur Ver-
fügung zu stellen, damit sie mehr Möglichkeiten haben,
die Flüchtlinge dezentral, würdevoll und integrativ un-
terzubringen.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807907200

Herr Kollege Schulz.


Swen Schulz (SPD):
Rede ID: ID1807907300

Liebe Kollegin, Sie haben vollkommen recht. Auch

die Bundesimmobilien sind eine Möglichkeit, zur Pro-
blemlösung beizutragen. Deswegen haben wir das ent-
sprechend beschlossen. Die BImA stellt mietzinsfrei Im-
mobilien zur Flüchtlingsunterbringung zur Verfügung.
Es muss dann vor Ort geklärt werden, welche Liegen-
schaften dafür geeignet sind. Aber das ist möglich. Das
ist ein Beschluss der Großen Koalition und, wie ich
glaube, auch ein guter Beitrag.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807907400

Für die CDU/CSU-Fraktion erhält jetzt der Kollege

Alois Karl das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Alois Karl (CSU):
Rede ID: ID1807907500

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich Ihren
Antrag gelesen habe, habe ich mir gedacht: Das kann ich
nur sportlich nehmen. Der französische Baron Pierre de
Coubertin hat die Begründung der Olympischen Spiele
der Neuzeit unter das Motto „Höher, schneller, weiter“
gestellt. Wenn er Ihren Antrag gelesen hätte, hätte er
vielleicht noch „maßloser“ hinzugefügt.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)


Es ist eine Ansammlung von Halb- und Nebenwahrhei-
ten, die wir hier lesen. Sie bringen ein tatsächlich beste-
hendes Problem, nämlich die explodierende Anzahl von
Asylbewerbern und Flüchtlingen, in Verbindung mit dem
Niedergang der kommunalen Finanzen und fordern, der
Bund solle die Defizite durch Zuschüsse egalisieren. So
einfach ist die Sache natürlich nicht.

Wir haben große Aufgaben zu bewältigen; Frau
Haßelmann, da haben Sie schon recht. Wir lehnen uns da
auch nicht zurück. Wir wissen, dass auch in den nächs-
ten Jahren – in den nächsten Monaten wahrscheinlich
schon – neue große Aufgaben auf uns zukommen wer-
den. Aber wir ziehen daraus andere Schlüsse als Sie. Wir
sagen, wenn wir unser Geld auf diejenigen, die es wirk-
lich nötig haben, konzentrieren und es nicht für diejeni-
gen verwenden, die eigentlich kein Bleiberecht bei uns
haben, dann haben wir die notwendigen Ressourcen, und
wenn wir sie nicht haben, werden wir sie im Bundes-
haushalt zur Verfügung stellen. Das ist für uns die richtig
angewendete Humanität, die in unserem Lande prakti-
ziert werden muss und die sich in unserem Lande durch-
setzen sollte. Das, glaube ich, ist der gravierende Unter-
schied, den ich in Ihrer Rede gerade ausfindig gemacht
habe.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist nichts
ganz Neues, dass sich die Zahl der Asylsuchenden in
Deutschland explosionsartig erhöht. Vor 36 Jahren, 1979,
hatten wir 50 000 Asylbewerber, im Jahr darauf über
100 Prozent mehr, nämlich mehr als 100 000. Vor
25 Jahren, im Jahr 1990, hatten wir in Deutschland
200 000 Asylbewerber, kurz darauf, 1992, 450 000.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, eine solche
Entwicklung ist für diejenigen, die damit befasst sind,
immer eine große Herausforderung. Das ist der Bund,
das sind die Länder, und das sind die Kommunen. Axel
Fischer hat darauf hingewiesen, dass hier natürlich die





Alois Karl


(A) (C)



(D)(B)

Länder in der Pflicht sind – selbstverständlich –, dass
aber auch der Bund seine Verantwortung wahrnimmt.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807907600

Herr Kollege Karl, gestatten Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Dehm?


Alois Karl (CSU):
Rede ID: ID1807907700

Kollege Dehm? Ja, wir haben uns schon lange nicht

mehr gesehen.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807907800

Bitte schön.


Dr. Jörg-Diether Dehm-Desoi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807907900

Ich will versuchen, diesen kameradschaftlichen Ton

beizubehalten. – Kollege Karl, wären Sie bereit, über
den Begriff „explosionsartig“ noch einmal nachzuden-
ken?


Alois Karl (CSU):
Rede ID: ID1807908000

Ja. – „Explosionsartig“ bedeutet: sich in ganz unge-

wöhnlichem Maße vermehrend. Wenn eine Zahl von ei-
nem zum nächsten Jahr von 50 000 auf 100 000 steigt,
ist das eine geradezu extreme Steigerung. Das ist im
Deutschen die ungefähre Bedeutung dieses Ausdrucks.
Normalerweise sind Sie des Deutschen ja durchaus
mächtig.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, selbstver-
ständlich hat sich die Situation in den letzten 25 oder
15 Jahren verändert, wie ich vorhin gesagt habe. Wir ha-
ben heute eine ganz andere Willkommenskultur in
Deutschland; Herr Schulz, Sie haben darüber gespro-
chen, und das ist in der Tat richtig. In den letzten Mona-
ten habe auch ich eine außerordentlich positive Verände-
rung festgestellt. Es wurden viele private Initiativen
gegründet, und Organisationen im karitativen Bereich
haben sich engagiert. Ich erwähne allerdings auch die
Kirchen und die Klöster, die ihre Tore geöffnet und viele
Asylanten und Flüchtlinge untergebracht haben. Ihnen
möchte ich an dieser Stelle im Namen meiner Fraktion
für diesen außerordentlichen Akt der Nächstenliebe – so
haben wir das früher bezeichnet –, die in unserem Lande
in den letzten Monaten um sich gegriffen hat, ganz herz-
lich und ausdrücklich danken. Auch das gehört zur
Realität und zur Wahrheit in diesem Land.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Es ist völlig selbstverständlich – da lassen wir kein
Jota daran rühren –, dass wir jenen, die wegen ihrer poli-
tischen Überzeugung, wegen ihrer Glaubensüberzeu-
gung, wegen der anderen Tatbestandsmerkmale, die wir
in Artikel 16 a des Grundgesetzes finden, Asyl beantra-
gen können, unsere helfende Hand reichen müssen; das
ist gar keine Frage. Das kostet auch Geld; Sie haben das
gesagt. Was uns aber ein wenig unterscheidet – Frau
Haßelmann, ich gehe noch mal auf Ihre Rede ein –: All
jenen, die aus anderen Gründen – aus wirtschaftlichen
Gründen – unsere Gastfreundschaft suchen, muss ich sa-
gen, dass wir einen Unterschied machen zwischen recht-
mäßig beantragtem Asyl und unrechtmäßig beantragtem
Asyl. Da unterscheiden wir uns von Ihnen, und da,
meine ich, sollten Sie noch einmal überlegen, ob Sie
nicht auch unsere Position einnehmen können.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist richtig, dass wir Serbien, Bosnien-Herzegowina
und Mazedonien jetzt endlich zu sicheren Herkunftslän-
dern definiert haben. Sie wissen, dass ungefähr 25 Pro-
zent der Asylbewerber aus diesen Ländern kommen und
99 Prozent dieser Anträge abgelehnt werden, es aber
Monate dauert und viel Geld kostet, Asylbewerber aus
diesen Ländern rechtmäßig abzuschieben. Wir hätten
viel mehr Kapazitäten zur Verfügung für jene, die aus
Syrien, aus dem Irak und aus vielen anderen Ländern un-
ter Einsatz ihres Lebens über das Mittelmeer oder sonst
woher kommen, um bei uns Asyl zu suchen; auf diese
Menschen könnten wir uns dann zu Recht konzentrieren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, ich bitte Sie ausdrücklich
darum, dass Sie, wenn wir wieder eine Initiative starten,
sichere Herkunftsländer zu definieren, berücksichtigen:
Falls tatsächlich in Ländern wie Albanien und Montene-
gro, Ländern, die ja alle in die EU wollen, die Men-
schenrechte mit Füßen getreten werden – Sie unterstüt-
zen diese Haltung offensichtlich auch noch –, dann
hätten diese Länder in der EU nichts zu suchen und ihre
Anträge müssten von vornherein mit einem Federstrich
abgewiesen werden.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Bund
macht viel; das haben wir schon gehört, das muss ich
nicht alles noch einmal aufzählen. Wir haben dem Bun-
desamt für Migration und Flüchtlinge, BAMF, 650 Stel-
len zur Verfügung gestellt, damit es die große Zahl von
Asylanträgen schneller bearbeiten kann. Auch die zwei-
mal 500 Millionen Euro, die der Bund den Städten und
Gemeinden 2015 und noch einmal 2016 für die Unter-
bringung von Asylbewerbern zur Verfügung stellt, sind
genannt worden. Ich rufe auch noch einmal in Erinne-
rung, dass der Bund auch Bundesliegenschaften kosten-
frei zur Verfügung stellt.

Für die Gemeinden, meine sehr geehrten Damen und
Herren – auch an Sie als erste Rednerin der Linken noch
mal gesprochen, Frau Karawanskij –, tun wir unendlich
viel – mehr als in den Jahrzehnten zuvor.


(Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Das stimmt nicht!)


Wenn man den Beitrag des Bundes, der zwischen 2010
und 2020 an die Gemeinden fließt, aufaddiert, wird man
auf etwa 170 Milliarden Euro Bundesleistung kommen.
Das ist schon etwas. Ich meine auch, dass wir manches
gemeinschaftlich tun müssen. Wir müssen auf der einen
Seite einen ausgeglichenen Haushalt zustande bringen,





Alois Karl


(A) (C)



(D)(B)

aber auch viel Unterstützung leisten im Lande und weit
darüber hinaus.

Ich bin dem Freistaat Bayern ausdrücklich dankbar,
dass er bereits vorweggenommen hat, was die Linken
jetzt in ihrem Antrag fordern: Der Freistaat Bayern stellt
all seine Kommunen frei von den ungedeckten Kosten
der Unterbringung und der Versorgung von Flüchtlingen
und Asylbewerbern, die jetzt in die Städte und Gemein-
den Bayerns gekommen sind. Das ist der Nachahmung
wert. Hier dürften Sie durchaus, legitimerweise Plagia-
teur sein. Eine Wallfahrt nach Bayern diesbezüglich,
liebe Frau Karawanskij – Frau Jelpke, die jetzt nach mir
reden wird, können Sie gleich mitnehmen –, würde nie-
mandem schaden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich lade ausdrücklich dazu ein.


(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Wenn schon, dann nach Altötting!)


– Ja, das kann man auch sagen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, unseren
Städten und Gemeinden geht es – das ist auch schon ge-
sagt worden – unterschiedlich gut. Ich freue mich aus-
drücklich darüber, dass in Deutschland mittlerweile
mehr als 1 000 Kommunen eine Pro-Kopf-Verschuldung
von null haben; das ist gut so. Alle anderen müssten
auch danach streben, das zu erreichen. Es gibt auch man-
che – Sie haben das gesagt –, die hohe Kassenkredite un-
terhalten; sie umfassen insgesamt 47 Milliarden Euro.
Aber da, meine Damen und Herren, müssen wir auch zu
unterscheiden wissen: Die Hälfte von diesen 47 Milliar-
den Euro, 24 Milliarden Euro, entfallen auf lediglich
27 Kommunen, davon 16 aus Nordrhein-Westfalen. Ein
Viertel dieser Kassenkredite, 12 Milliarden Euro, werden
von lediglich 8 Kommunen beansprucht, davon 7 aus
Nordrhein-Westfalen. Das sollte dem einen oder anderen
vielleicht ein wenig zu denken geben. Mir steht es nicht
an, jetzt Ursachenforschung zu betreiben.

Ich sage, dass wir unseren Aufgaben in der Tat nach-
kommen und dass wir unsere Verpflichtungen auch in
Zukunft erfüllen werden. Sie reden uns hier kein
schlechtes Gewissen ein; denn das haben wir gar nicht
nötig.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807908100

Herr Kollege Karl.


Alois Karl (CSU):
Rede ID: ID1807908200

In der Vergangenheit ist schon unendlich viel getan

worden, und wenn mehr Flüchtlinge kommen, dann wer-
den wir darauf entsprechend reagieren.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Swen Schulz [Spandau] [SPD])



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807908300

Nächste Rednerin ist Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807908400

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr

Kollege Karl, ich finde, man kann nicht davon reden,
dass Flüchtlingsbewegungen explodieren. Das ist allen-
falls die Ursache dafür, dass immer mehr Flüchtlinge
hierher kommen. Explodieren tun Waffen und Bomben,
und ich glaube, gerade Deutschland ist nicht ganz un-
schuldig daran, dass so viele davon in die Welt verbracht
werden.


(Beifall bei der LINKEN – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Oje!)


Ich will hier noch einmal sehr deutlich sagen: Der
Antrag, den die Linke heute hier eingebracht hat, ist An-
lass – das zeigt auch die jetzige Diskussion – für eine
ganz wichtige Debatte. Wir müssen darüber diskutieren,
wie sich die Kommunen, die Länder und vor allen Din-
gen der Bund an der Beseitigung der zum Teil katastro-
phalen Zustände in den Flüchtlingslagern beteiligen kön-
nen.

Herr Karl, ich war auch gerade in München. Viele
Flüchtlinge dort – mindestens 100 Menschen – wurden
bei der Erstaufnahme in Zelten untergebracht. Sie sagen
hier, Sie würden genug tun. Deshalb frage ich Sie ernst-
haft: Was sind Ihre Kriterien für Asylstandards? Was
sind Ihre Kriterien für die Würde der Menschen, die
hierher in unser Land kommen und Schutz suchen? Es
kann nicht wahr sein, dass eine Unterbringung in Zelten
diesen Kriterien entspricht.


(Beifall bei der LINKEN)


Massenunterkünfte für Asylbewerber sind per se un-
würdig.


(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Wo wollen Sie sie gleich unterbringen? – Gegenruf der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht in Zelten!)


Ich denke, gerade auch deswegen sind sie häufig Ziel
rassistischer Hetze und Gewalt. Das muss endlich der
Vergangenheit angehören, und ich gehe ganz fest davon
aus, dass das auch geschieht.

Die Stadt Schwerte will jetzt Flüchtlinge in dem frü-
heren KZ-Außenlager Schwerte-Ost des ehemaligen
KZs Buchenwald unterbringen. Das finde ich wirklich
absolut geschmacklos. Es kann ja wohl nicht sein, dass
Flüchtlinge in solchen Einrichtungen, die geschichtlich,
historisch auch für die Flüchtlinge katastrophal sein
müssen, untergebracht werden.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es gibt aber auch gute Beispiele. In dieser Woche
konnten wir zum Beispiel im ARD-Morgenmagazin se-
hen, dass sich der Bürgermeister der sächsischen Stadt
Gröditz entschieden hat, Flüchtlinge nur noch in Woh-
nungen unterzubringen. Man konnte dort die Bürger hö-
ren – auch Leute, die vorher Ängste hatten –, wie sie
sich mit den Flüchtlingen bekannt gemacht haben; sie
haben sie durch die Begegnung im Alltag kennengelernt.





Ulla Jelpke


(A) (C)



(D)(B)

Es gibt also Möglichkeiten. Einer der zentralen Punkte,
die die Kommunen leisten müssen, ist die dezentrale Un-
terbringung in Wohnungen. Das geht aber eben nur,
wenn sich auch der Bund daran beteiligt und die Kom-
munen nicht alleine lässt.


(Beifall bei der LINKEN – Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Dann müssen sie aber auch freie Wohnungen haben!)


Man kann auch auf die Geschichte verweisen. Die
Stadt Dortmund und auch andere Städte haben seit Jah-
ren die dezentrale Unterbringung in Wohnungen als Ziel.
Meiner Meinung nach brauchen wir genau das, und wir
müssen hier auch über eine andere Flüchtlingspolitik re-
den.

Wir werden im Ausschuss hauptsächlich darüber re-
den müssen – das ist klar –, wie der Bund hier Verant-
wortung übernehmen kann, aber man muss auch über
eine andere, neue Flüchtlingspolitik reden; denn das,
was hier passiert, entspricht noch der Abschreckungspo-
litik in den 80er- und 90er-Jahren, als es den Flüchtlin-
gen möglichst schlecht gehen sollte, damit sie schnell
wieder gehen.


(Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Quatsch!)


Deswegen müssen eben auch solche Dinge wie Resi-
denzpflicht, Arbeitsverbote und gekürzte Sozialleistun-
gen endlich der Vergangenheit angehören, auch wenn die
Regelungen jetzt leicht verbessert worden sind.

Die Linke will einen grundsätzlichen Wandel in der
Aufnahmepolitik. Menschenwürdige Aufnahmepolitik
und schnelle Integration müssen die Ziele dieses Wan-
dels sein. Dazu gehören eben hohe Standards bei der Un-
terbringung und vor allen Dingen auch bei der Betreu-
ung; denn auch die Beratung fehlt heute fast vollständig
für Menschen, die bei uns Schutz suchen.

Wir fordern deshalb, dass das System der Verteilung
von Asylsuchenden auf die Bundesländer deutlich flexi-
bler gehandhabt wird. Es ist einfach nicht nachvollzieh-
bar, dass man Flüchtlinge, die hierherkommen und Ver-
wandte oder Bekannte in Pirna haben, nach Hagen oder
sonst wohin schickt. Durch die flexible Verteilung kann
das Engagement der Bürgerinnen und Bürger für die
Flüchtlinge und gegen Rassismus viel stärker unterstützt
werden als durch die Rückkehr zu Massenunterkünften.
Eine neue humanitäre und integrative Aufnahmepolitik
ist im Übrigen auch die richtige Antwort auf rassistische
Hetze und auf Bewegungen wie Pegida. Sie nutzen ge-
nau diese Massenunterkünfte, um immer wieder zu mo-
bilisieren.

Wir freuen uns auf die Debatte mit Ihnen über eine
andere Flüchtlingspolitik und vor allen Dingen über Ver-
antwortung, die der Bund mit wahrzunehmen hat, wenn
es um die Aufnahme von Flüchtlingen geht.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807908500

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Bernhard Daldrup

für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Bernhard Daldrup (SPD):
Rede ID: ID1807908600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Wir haben uns vorgestern im
Namen von Humanität und Solidarität vor dem Branden-
burger Tor versammelt. Heute Morgen haben der Bun-
destagspräsident und die Bundeskanzlerin zu den Terror-
anschlägen in Paris und den Angriffen auf Demokratie
und Toleranz Stellung bezogen.

Jetzt reden wir im Rahmen dieser Debatte aufgrund
der wachsenden Zahl von Flüchtlingen und Asylbewer-
bern ganz konkret über die Konsequenzen für praktische
Politik. Es ist mir zunächst einmal ähnlich wie Herrn
Karl und wie wahrscheinlich uns allen gemeinsam ein
besonderes Anliegen, mich bei den vielen Menschen, bei
den Tausenden von Menschen in den Städten und Ge-
meinden unseres Landes für ihr Engagement, für ihre
praktische Solidarität, für ihre Mitmenschlichkeit zu be-
danken. Das müsste tausendfach geschehen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS/DIE GRÜNEN)


Ich sage das auch deshalb, weil ich mich – ich selber
war zu dieser Zeit Ratsmitglied – sehr gut daran erin-
nere, wie das Anfang der 90er-Jahre war. Ich sehe, dass
sich viel zum Guten verändert hat. Aber ich sage auch:
Nichts ist von Dauer. Pegida weist den Weg zu Rechtsra-
dikalismus und Fremdenfeindlichkeit. Der Schoß ist im-
mer noch fruchtbar.

Darum ist es mir besonders wichtig, auf einen Aspekt
hinzuweisen, der vielleicht nur einen kleinen Betrag aus-
macht, aber dennoch von eminenter Bedeutung ist, näm-
lich die Förderung politischer Bildung gegen Rechtsradi-
kalismus und für Demokratie, wie zum Beispiel durch
das Programm „Demokratie leben“, dessen Mittel um
10 Millionen Euro erhöht worden sind. Ich halte das für
sehr wichtig.


(Beifall bei der SPD)

Sie wissen, dass ich als kommunalpolitischer Spre-

cher gerne über die Lage der kommunalen Finanzen
rede. Frau Karawanskij, wir machen das ja regelmäßig.
Bei Ihrem Antrag allerdings rate ich zur Vorsicht. Wa-
rum? Frau Haßelmann hat eben darauf hingewiesen: Das
Wachstum der Kassenkredite, die Höhe der Sozialausga-
ben, die Investitionsschwäche der Kommunen haben
eine deutlich längere Vergangenheit und vor allen Din-
gen auch andere Ursachen als die Notwendigkeit zur Un-
terbringung einer wachsenden Zahl von Flüchtlingen.

Wenn wir jetzt anfangen, die Debatte um die allge-
meine Lage der Kommunen und ihre erforderliche Ent-
lastung mit den Kosten der Aufnahme von Flüchtlingen
zu vermischen, wenn wir alles in einen Topf werfen,
dann entsteht daraus leicht eine Melange mit einem
möglicherweise bitteren Nachgeschmack.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Bartholomäus Kalb [CDU/ CSU]: Ganz wichtiger Aspekt!)






Bernhard Daldrup


(A) (C)



(D)(B)

Allzu leicht liefert man vermeintliche Argumente, die
die Ressentiments in der Bevölkerung eher verstärken.
Dabei sollte es unsere Aufgabe sein, Vorurteile aufzulö-
sen, aber nicht, sie zu befördern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dazu liefert Ihr Antrag leider keinen Beitrag. Es wäre
notwendig, sich mit der Situation der Flüchtlinge und
Asylbewerber in den Kommunen konkret auseinander-
zusetzen; ich komme darauf gleich zurück.

Ich will auch nicht, Frau Haßelmann, bestreiten, dass
Ihre Analyse und Ihre Beschreibung zutreffend sind. Ich
will auch nichts schönrechnen. Aber trotzdem will ich,
ohne im Einzelnen und ausführlich darauf einzugehen,
darauf hinweisen – das wissen Sie auch –, dass Bundes-
regierung und Bundestag schon eine Menge zugunsten
der Kommunen gemacht haben: die Übernahme der
Kosten für die Grundsicherung in Höhe von 25 Milliar-
den Euro in dieser Legislaturperiode und in diesem Zu-
sammenhang auch die Entlastung in Höhe von 1 Mil-
liarde jährlich bis 2017 – das ist angesprochen worden –,
die Hilfen beim Städtebau und die Hilfen beim Kitaaus-
bau, der übrigens nicht quotengebunden ist. Diese Hilfen
kommen an. Sie lassen sich nicht wegreden; sie lassen
sich auch nicht marginalisieren. Das ist ein Erfolg dieser
Koalition, und den lassen wir uns nicht kleinreden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Trotzdem will ich an dieser Stelle auch sagen: Die
Forderung nach einer stärkeren Entlastung bei den So-
zialausgaben sozusagen mit einem Antrag zur besseren
Finanzierung von Flüchtlingsunterbringungen aufzuwär-
men – ich kenne schließlich auch Ihre anderen Anträge –
hat etwas von Copy-and-Paste; sie hat wenig Neuigkeits-
wert. Deswegen halte ich fest:

Erstens. Bundesregierung und Bundestag setzen
Schritt für Schritt die im Koalitionsvertrag zugesagten
Wege zur Kommunalentlastung um. Da ist noch nicht al-
les erreicht; es wird noch weitergehen, auch was die Dif-
ferenzierung betrifft. Übrigens werden – darauf legen
wir großen Wert – auch die 10 Milliarden Euro für die
Investitionsförderung sicherlich zur Stärkung der Inves-
titionskraft der Kommunen eingesetzt werden.

Zweitens. Es sind bereits sehr konkrete Hilfen in der
Asylpolitik und zur besseren Flüchtlingsunterbringung
von Bund und Ländern, übrigens auch im Zuge der Än-
derung – nicht der Abschaffung – des Asylbewerberleis-
tungsgesetzes, beschlossen worden. Beispielsweise ent-
lastet die zeitnahe Eingliederung in die regulären
Leistungssysteme und Hilfen nach SGB II und XII bei
Vorliegen eines humanitären Aufenthaltstitels die Kom-
munen um 39 Millionen Euro in 2015; 2016 werden es
52 Millionen Euro sein. Das sind alles keine gewaltigen
Beträge, aber sie sollten nicht kleingeredet werden.

Die Integrationskurse – mein Kollege hat schon da-
rauf hingewiesen – wurden um 40 Millionen Euro auf
244 Millionen Euro erhöht. Die Personalaufstockung
beim BAMF ist schon erwähnt worden. Dass Asylver-
fahren zeitlich schnell und zügig durchgeführt werden
sollen, ist eine Vereinbarung im Koalitionsvertrag.

Die erleichterte Möglichkeit zur Arbeitsaufnahme
nach drei Monaten, die faktische Abschaffung der Resi-
denzpflicht, die Änderungen im Bauplanungsrecht und
die mietzinsfreie Überlassung von Flächen und Gebäu-
den der BImA schaffen mehr Möglichkeiten für eine an-
gemessene Unterbringung. Auch die Erhöhung der Mit-
tel der zuvor unterfinanzierten Migrationsberatung für
Erwachsene sei erwähnt.

Der Bund hilft den Kommunen auf unterschiedliche
Art und Weise, auch wenn es nicht hinreichend ist und
wir weiter daran arbeiten müssen. Aber vieles davon ent-
lastet die Transfersysteme und sorgt für Integration und
Akzeptanz.

Besonders wirkungsvoll ist aber, dass in den Jahren
2015 und 2016 jeweils 500 Millionen Euro bereitgestellt
werden, davon die Hälfte durch den Bund über einen
einmaligen Festbetrag an der Umsatzsteuer. Die weitere
Hälfte wird durch die Länder über einen Zeitraum von
20 Jahren getilgt.

Natürlich muss dieses Geld bei den Kommunen lan-
den. Das ist doch gar keine Frage, Herr Karl. Darauf
komme ich gleich noch zurück. Leider sind aber die Lin-
ken mit ihrer reflexartigen Kritik wegen zu geringer Fi-
nanzmittel genauso berechenbar wie die Opposition in
meinem Bundesland NRW. Sie kommen zwar nicht aus
Nordrhein-Westfalen, Herr Karl, aber Sie sind genauso
berechenbar. Weil permanent der Eindruck erweckt
wird, als wäre die Situation in Nordrhein-Westfalen et-
was anders, will ich Ihnen ein paar Informationen vortra-
gen.

Die Verteilung der Flüchtlinge auf Einrichtungen in
den Bundesländern erfolgt nach dem Königsteiner
Schlüssel. Nordrhein-Westfalen werden 21 Prozent aller
Flüchtlinge zugewiesen. Das sind etwa 40 000 Men-
schen. Das ist mehr als die Einwohnerzahl der Kom-
mune, in der Sie früher Oberbürgermeister gewesen
sind: Neumarkt hat meines Wissens 38 000 Einwohner.

Das sind also riesige Aufgaben, die bewältigt werden
müssen. Nordrhein-Westfalen erhält 108 Millionen Euro
vom Bund. 54 Millionen Euro davon werden in Nord-
rhein-Westfalen unmittelbar und ungeschmälert an die
Kommunen weitergeleitet. Die Landespauschale wird
nach dem Flüchtlingsaufnahmegesetz um 40 Millionen
Euro auf 183 Millionen Euro erhöht.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Aber das sind ja nur 25 Prozent!)


– Hören Sie gut zu! – Weitere 14 Millionen Euro stehen
für gemeinsame Herausforderungen der Kommunen zur
Verfügung: 3 Millionen Euro für Gesundheitsförderung
sowie zusätzliche Mittel für Weiterbildung und Sprach-
förderung, zusätzliche Plätze in Ganztagsschulen und
die soziale Arbeit mit traumatisierten Kindern, und
1 Million Euro zusätzlich wird für die Förderung ehren-
amtlicher Arbeit zur Verfügung gestellt.

Das Land Nordrhein-Westfalen legt noch 37 Millio-
nen Euro obendrauf, die ganz wesentlich für die Errich-





Bernhard Daldrup


(A) (C)



(D)(B)

tung neuer Erstaufnahmeeinrichtungen mit insgesamt
10 000 Plätzen investiert werden. Ich rede über ganz an-
dere Größenordnungen als die, in denen in den anderen
Bundesländern investiert wird. In der Summe werden
also nicht nur die 108 Millionen Euro vom Bund, son-
dern 145 Millionen Euro zur Verfügung gestellt.

Das alles erfolgt in großer Übereinstimmung mit den
kommunalen Spitzenverbänden in Nordrhein-Westfa-
len. Warum sage ich das an dieser Stelle? Ich sage das
deswegen, weil ich glaube, dass die finanzielle Unter-
stützung der Kommunen für die Unterbringung von
Flüchtlingen kein Feld für Schwarzer-Peter-Spiele unter
demokratischen Parteien sein darf.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Gewinner solcher Debatten stehen jenseits der De-
mokratie. Die Vorschläge, die im Rahmen der Bund-
Länder-Finanzbeziehungen sowieso verhandelt werden
und zwischen den Kommunen und den Ländern noch
ziemlich umstritten sind, sind an dieser Stelle nicht be-
sonders ideenreich und innovativ. Deswegen glaube ich,
dass man zum gegenwärtigen Zeitpunkt Ihrem Antrag,
meine Damen und Herren von der Linken, nicht zustim-
men kann.

Wir sollten ganz gezielt über eine Politik nachdenken,
die Flüchtlingen hilft, zum Beispiel durch einen Rechts-
anspruch auf Spracherwerb und Integration in den Ar-
beitsmarkt, durch die Einführung eines kommunalen
Wahlrechts für Nicht-EU-Bürger oder durch ein Einwan-
derungsgesetz. Auf die Fakten und die wirtschaftliche
Begründung dafür hat mein Kollege schon hingewiesen.
Wir sollten damit konzeptionell statt populistisch umge-
hen. Wir Sozialdemokraten sind gerne dazu bereit und
laden Sie dazu ein, daran mitzuwirken.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807908700

Vielen Dank. – Als letzter Redner zu diesem Tages-

ordnungspunkt erhält jetzt der Kollege Ingbert Liebing,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ingbert Liebing (CDU):
Rede ID: ID1807908800

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Antrag der Linken
wird der Bogen weit gespannt – das zeigt die Debatte –:
von der Unterbringung von Flüchtlingen über das Asyl-
recht bis hin zu der allgemeinen Finanzlage der Kommu-
nen. Mir liegt sehr viel daran, dass wir dabei keinen fal-
schen Eindruck erwecken. Wir dürfen die Diskussion
über die Unterbringung von Flüchtlingen nicht allein auf
den finanziellen Aspekt verengen; denn es gibt eine
großartige Bereitschaft in den Kommunen quer durch
ganz Deutschland, Flüchtlinge aufzunehmen.

Ich bin am vergangenen Sonntag in einer kleinen Ge-
meinde mit 3 000 Einwohnern gewesen, in der eine neue
zentrale Landeseinrichtung für die Unterbringung von
500 Asylbewerbern errichtet werden soll. 500 Asyl-
bewerber auf 3 000 Einwohner, das stellt die Gemeinde
vor eine große Herausforderung. Aber die Gemeinde
sagt Ja zu dieser Einrichtung und will sich darum küm-
mern. Im Ort bilden sich Initiativen, die die Flüchtlinge
willkommen heißen und freundlich aufnehmen wollen.
Für mich gehört zu diesem Thema auch, solche Leistun-
gen und eine solche Aufnahmebereitschaft zu würdigen
und anzuerkennen. Das möchte ich gerne an den Anfang
meiner Rede stellen. Das, was ich in Boostedt erlebt
habe, war großartig.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren von der Linken, Sie greifen
mit Ihrem Antrag die Finanzierung der Flüchtlingsunter-
bringung auf. Das ist sicherlich ein aktuelles Thema.
Aber Ihr Antrag mündet in einem Rundumschlag und
endet mit dem alten Lamento, der Bund müsse alles auf
der kommunalen Ebene finanzieren und alle Probleme
der Kommunen lösen. Das ist natürlich Quatsch und un-
seriös.


(Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Das fordern wir auch nicht! Es geht um eine ganz konkrete Aufgabenübertragung!)


Es ist unseriös, weil Sie noch nicht einmal sagen, wie
viel die Umsetzung Ihrer Vorschläge kosten soll. Über
welche Dimension reden wir denn? Beim Asylbewerber-
leistungsgesetz kämen auf den Bund Kosten in Höhe von
etwa 3 Milliarden Euro zu. Bei einer hundertprozentigen
Übernahme der Kosten der Unterkunft von Langzeitar-
beitslosen im Bereich des SGB II geht es um einen Be-
trag von etwa 10 Milliarden Euro. Wir reden hier also
schlankweg über 13 Milliarden Euro. Sie sagen nicht,
wie viel das kostet und wie das finanziert werden soll.
Das alles ist nichts anderes als ein Schnellschuss. Was
Sie machen, ist populistisch und einfach unseriös.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Unseriös sind auch Ihre Aussagen zu den Kosten der
Unterbringung der Flüchtlinge in den Kommunen. Die
Tinte unter der Vereinbarung zwischen Bund und Län-
dern, in der wir uns darauf verständigt haben, welche
Leistungen der Bund übernehmen will, um Länder und
Kommunen zu unterstützen, war noch nicht trocken, als
Sie im letzten Dezember Ihren Antrag gestellt und gefor-
dert haben, dass noch mehr kommen müsse. Die 1 Mil-
liarde Euro – dieser Betrag ergibt sich in der Summe in
diesem und im nächsten Jahr –, auf die wir uns verstän-
digt haben, ist eine wichtige Hilfe für die Länder und in
erster Linie für die Kommunen.

Immerhin gibt es drei Bundesländer, die bereits heute
die Kosten der Flüchtlingsunterbringung in den Kommu-
nen komplett tragen. Das sind Bayern, das Saarland und
Mecklenburg-Vorpommern. Es kann kein Zufall sein,
dass in diesen drei Bundesländern drei Innenminister der
CDU und der CSU mit ihrer Zuständigkeit für die
Flüchtlingsunterbringung und für die Kommunen dieses
Thema vorangebracht und genau so geregelt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)






Ingbert Liebing


(A) (C)



(D)(B)

Frau Karawanskij, Sie sagen in Ihrem Antrag, der
Bund solle die Leistungen nach dem Asylbewerberleis-
tungsgesetz komplett übernehmen. In Bayern zahlt diese
Leistungen komplett das Land. Wenn der Bund diese
Leistungen übernimmt, dann kommt nicht 1 Euro zu-
sätzlich in den bayerischen Kommunen an, sondern Sie
entlasten die bayerische Landeskasse. Ich weiß nicht, ob
das im Interesse Ihres Antrags war, aber solche Folge-
wirkungen sollte man eigentlich mitberücksichtigen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wichtig ist, was denn eigentlich bei den Kommunen
ankommt; denn im Gegensatz zu den drei Ländern, die
ich eben genannt habe, gibt es andere Länder, die ganz
anders mit dem Thema umgehen. Nordrhein-Westfalen
wurde schon genannt. Wenn wir in diesem und im
nächsten Jahr den Kommunen zweimal 500 Millionen
Euro zusätzlich zur Verfügung stellen, damit sie sich
besser um die Unterbringung von Flüchtlingen kümmern
können, dann entfällt im Falle von Nordrhein-Westfalen
nur die Hälfte auf die Kommunen, die andere Hälfte ver-
sickert im Landeshaushalt. Das ist nicht im Sinne der
Vereinbarung, das ist nicht im Sinne des Erfinders gewe-
sen. Das ist ein Missbrauch dieser Mittel und geht zulas-
ten der Kommunen. Das gehört zur Gesamtgeschichte
dazu.

Ich erlebe es in meinem eigenen Bundesland Schles-
wig-Holstein, wo die Landesregierung bei jedem Thema
schreit: Der Bund muss mehr zahlen. – Hier leistet der
Bund mehr, aber die Landesregierung hat seit November
noch nicht einmal sagen können, was sie denn jetzt mit
dem zusätzlichen Geld des Bundes überhaupt machen
will. Sie hat noch nicht einmal ein Konzept, wie sie
diese zusätzlichen Mittel einsetzen möchte. Auch das ist
alles unseriös.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Liebing, die Gesundheitskarte wird eingeführt! Das wissen Sie doch!)


Stattdessen, Frau Haßelmann, fordert Ihre Partei-
freundin Heinold, Finanzministerin in Schleswig-Hol-
stein,


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gute Ministerin!)


in dieser Woche noch einmal mehr Geld, obwohl wir
doch gerade diese Vereinbarung abgeschlossen haben.
Die Vereinbarung besagt ausdrücklich: Für diese zwei
Jahre wird eine angemessene und abschließende
Regelung über die Finanzierung der Flüchtlingskosten
getroffen, und zwar mit dieser zusätzlichen Leistung des
Bundes.

Es ist nicht in Ordnung, dass dann, wenn der Bund
mit den Bundesländern eine Vereinbarung über eine ab-
schließende Regelung trifft, Ländervertreter, in dem Fall
die grüne Finanzministerin, sagen: April, April, daran
halten wir uns nicht. Wir fordern noch einmal etwas
obendrauf. – Eine solche Vorgehensweise ist auch schäd-
lich; denn dadurch wird doch die Bereitschaft auf Bun-
desebene, auch hier im Hause, reduziert, solche Verein-
barungen zu treffen. Wenn man sich auf Verträge nicht
verlassen kann, dann kann man sie künftig nicht mehr
abschließen. Deswegen ist diese Vorgehensweise so
schädlich.


(Beifall bei der CDU/CSU – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wissen es doch eigentlich besser!)


In Ihrem Antrag sprechen Sie den Bund an und stellen
Forderungen an den Bund. Ich vermisse darin eine klare
Forderung auch an die Länder. Wenn wir über die Fi-
nanzsituation der Kommunen sprechen, dann müssen
wir immer wieder daran erinnern, dass in allererster
Linie die Bundesländer für eine aufgabengerechte und
angemessene Finanzausstattung zuständig sind. Deswe-
gen halte ich es für falsch, dass wir mit solchen Vor-
schlägen, wie Sie sie hier vorgelegt haben, die Bundes-
länder noch weiter entlasten und sie aus ihrer
Verantwortung entlassen.

Wir sind freiwillig unserer Verantwortung gerecht ge-
worden und haben viel geleistet. Andere Kollegen haben
darauf schon hingewiesen. Aber bei dem Thema der
Flüchtlingsunterbringung können die Bundesländer viel
und mehr tun als bisher, um den Kommunen zu helfen
und deren Situation gerecht zu werden.

Das wichtigste Thema aus meiner Sicht ist, dass das
Asylrecht auch konsequent umgesetzt wird. Dazu ge-
hört, dass wir diejenigen, die Asylrecht genießen, bei
uns willkommen heißen und uns angemessen und ver-
nünftig um sie kümmern. Das ist eine Selbstverständ-
lichkeit. Aber genauso gehört dazu, dass diejenigen, die
diese Fluchtgründe nicht haben, die sich nicht auf das
Asylrecht berufen können, wieder nach Hause zurückge-
bracht werden. Es muss eine Selbstverständlichkeit sein,
dass Recht und Gesetz umgesetzt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deswegen passen Forderungen wie die nach einem
Wintererlass nicht, wonach bis Ende März nicht abge-
schoben werden soll, weil schlechtes Wetter ist und es zu
kalt ist. Das Asylrecht kann nicht der Wetterlage ange-
passt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Deswegen sind diese Entscheidungen in Thüringen und
Schleswig-Holstein so falsch. Das verschärft den Pro-
blemdruck der Kommunen. Dort werden die jeweiligen
Landesregierungen ihrer Verantwortung nicht gerecht.

Wir leisten das, was wir tun können, und sogar noch
mehr. Wir sind bereit, uns diesem Thema zu stellen, so-
wohl im Hinblick auf die Finanzlage der Kommunen als
auch im Hinblick auf die Flüchtlingsunterbringung. Wir
können miteinander erwarten, dass die Länder ihren An-
teil dazu beitragen. Das gehört zum Gesamtpaket. Das
fehlt im Antrag der Linken. Bei der weiteren Diskussion
werden wir auch darüber intensiv sprechen können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Bernhard Daldrup [SPD])







(A) (C)



(D)(B)


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807908900

Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3573 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Strittig ist jedoch
die Federführung. Die Fraktionen der CDU/CSU und
der SPD wünschen Federführung beim Haushaltsaus-
schuss, die Fraktion Die Linke wünscht Federführung
beim Finanzausschuss.

Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Die Linke – Federführung beim Finanzaus-
schuss – abstimmen. Wer stimmt für diesen Überwei-
sungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Damit ist der Überweisungsvorschlag mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion
Die Linke abgelehnt.

Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen CDU/CSU und SPD – Federführung beim
Haushaltsausschuss – abstimmen. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Da-
mit ist der Überweisungsvorschlag gegen die Stimmen
der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b so-
wie die Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf:

23 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Peter Meiwald, Christian Kühn (Tübingen),
Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN

Feinstaubemissionen aus Baumaschinen
reduzieren

Drucksache 18/3554
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Peter Meiwald, Nicole Maisch, Annalena
Baerbock, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Mehrweganteil an Getränkeverpackungen
erhöhen

Drucksache 18/3731
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft

ZP 4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Sevim Dağdelen, Jan Korte, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE

Deutsche Beteiligung an der EU-Polizeimis-
sion in der Ukraine beenden

Drucksache 18/3314
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Innenausschuss (f)

Federführung strittig

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Leidig, Herbert Behrens, Caren Lay, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE so-
wie der Abgeordneten Matthias Gastel, Cem
Özdemir, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Offene Fragen zum Bahnhofsprojekt Stutt-
gart 21 aufklären

Drucksache 18/3647
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f)

Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.

Wir kommen zunächst zu den unstrittigen Überwei-
sungen.

Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b sowie Zusatz-
punkt 4 b. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vor-
lagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? –
Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen
so beschlossen.

Wir kommen dann zu einer Überweisung, bei der die
Federführung strittig ist.

Zusatzpunkt 4 a. Interfraktionell wird Überweisung
des Antrags der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Deut-
sche Beteiligung an der EU-Polizeimission in der
Ukraine beenden“ auf Drucksache 18/3314 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD wünschen
Federführung beim Auswärtigen Ausschuss. Die Frak-
tion Die Linke wünscht Federführung beim Innenaus-
schuss.

Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Die Linke – Federführung beim Innenaus-
schuss – abstimmen. Wer stimmt für diesen Überwei-
sungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Überweisungsvorschlag der Fraktion Die
Linke ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke abgelehnt.

Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD – Federführung
beim Auswärtigen Ausschuss – abstimmen. Wer stimmt
für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt da-
gegen? – Wer enthält sich? – Der Überweisungsvor-
schlag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf. Es handelt
sich um die Beschlussfassung zu einer Vorlage, zu der
keine Aussprache vorgesehen ist.





Vizepräsidentin Ulla Schmidt


(A) (C)



(D)

Tagesordnungspunkt 24:

Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und
Energie (9. Ausschuss) zu der Verordnung der
Bundesregierung

Dritte Verordnung zur Änderung der Außen-
wirtschaftsverordnung

Drucksachen 18/3257, 18/3363 Nr. 2, 18/3588

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/3588, die Aufhebung der Ver-
ordnung auf Drucksache 18/3257 nicht zu verlangen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Frak-
tion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Frak-
tion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen angenommen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:

Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE

Griechenlands Zukunft im Euro-Raum

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Diether Dehm.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Jörg-Diether Dehm-Desoi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807909000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Jean-Claude Juncker sagte im Dezember
zur Wahl in Griechenland, er sähe in der nächsten grie-
chischen Regierung lieber „vertraute Gesichter“. Dem
PASOK-Vorsitzenden Venizelos huldigte Bundesaußen-
minister Steinmeier – ich zitiere –:

Aus unserer Sicht käme es darauf an, dass die
Kräfte, die den Fortschritt in Griechenland gesi-
chert haben, in der Lage sind, diesen Weg fortzuset-
zen.

Wer sind denn diese vertrauten Gesichter? Der
PASOK-Vorsitzende und Minister Venizelos bekam
2010 von der jetzigen IWF-Chefin Lagarde einen USB-
Stick, auf dem die Namen von über 2 000 griechischen
Steuerhinterziehern mit Schweizer Konto standen. Die-
ses vertraute Gesicht Venizelos ließ den USB-Stick mit
vertrauten Namen zwei Jahre lang in seinem Schreib-
tisch vergammeln – ein wahrhaft vertrautes Gesicht und
vertraut den Steuerhinterziehern von der Deutschen
Bank, die ihn vertraulich beraten hatten.


(Beifall bei der LINKEN)


Oder der Regierungschef Samaras von der Nea Dimo-
kratia, der Schwesterpartei der CDU, von dem griechi-
sche Abgeordnete hartnäckig behaupten, er habe ihre
Stimme zu kaufen versucht, um bei der – gescheiterten –
Präsidentenwahl im Dezember seinen rechten Kandida-
ten durchzubringen – ein vertrautes Gesicht für die Fi-
nanzoligarchen!
Inzucht, Korruption und der Staat als Selbstbedie-
nungsladen. Das sind die vertrauten Gesichter der jahr-
zehntelangen Vetternwirtschaft dieser beiden durch und
durch korrupten Parteien ND und PASOK,


(Beifall bei der LINKEN)


mit denen die Große Koalition hier übrigens in brüderli-
cher Hilfe verbunden ist.

Alexis Tsipras hingegen ist die seriöse Stimme


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)


und das gute neue Gesicht des jungen Griechenland,


(Beifall bei der LINKEN – Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Junge, Junge, Junge! Jetzt redet sich aber einer raus! – Herr Kollege, da müssen Sie selber lachen!)


das sich aus dem Schlamassel erhebt, den Sie angerichtet
haben, ein junger Vertreter der ältesten Demokratie, von
der Sie sich in vielen Fragen eine Scheibe abschneiden
können.


(Beifall bei der LINKEN)


Mittlerweile beruft sich selbst die Welt auf Brüsseler
Stimmen, die einen Schuldenschnitt für Griechenland
wollen. Was sind wir hier, was sind Gregor Gysi, Sahra
Wagenknecht, Dietmar Bartsch verteufelt worden, als
wir schon 2013 einen neuen Schuldenschnitt gefordert
haben?


(Beifall bei der LINKEN – Ingrid ArndtBrauer [SPD]: Zu Recht!)


Damals waren es noch 94 Prozent der griechischen
Schulden, die in privater Hand waren, in der Hand von
Banken und Großspekulanten; die wären damals betrof-
fen gewesen. Heute sind 88 Prozent der griechischen
Staatsschulden in traurigem Besitz der europäischen
Steuerzahler. Allein für die deutschen Steuerzahler geht
es um rund 75 Milliarden Euro.


(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Ihnen ging es nie um den Steuerzahler!)


– Melden Sie sich zu Wort! Ich antworte dann gern.


(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Das geht leider nicht!)


– Das geht immer! Das geht in diesem Parlament immer!


(Zurufe von der CDU/CSU: Nein!)


Sie verwechseln das mit anderen Parlamenten. – Die
Banker und Steuerhinterzieher bekamen von Frau
Merkel aber erst die Zeit, ihre Schäfchen ins Trockene
und die Schrottpapiere in öffentliche Hand zu bringen.


(Beifall bei der LINKEN)


Das alte Prinzip wurde wieder einmal wahr: Gewinne
werden privatisiert, Verluste der Allgemeinheit aufge-
bürdet.

Die vertrauten Gesichter waren von vertrauten Bera-
tern wie Goldman Sachs bei der Euro-Einführung syste-
matisch und mit Lügen beraten worden, bewusst mit Lü-

(B)






Dr. Diether Dehm


(A) (C)



(D)(B)

gen beraten worden; sonst wäre es zu der Euro-
Einführung gar nicht gekommen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Griechen bezahlen dafür jetzt mit unendlichem
Schmerz. Das Elend habe ich in meiner Rede im Dezem-
ber ausführlich dargestellt, zum Beispiel Anstieg der
Zahl der Totgeburten um 21 Prozent und der Kinder-
sterblichkeit um 43 Prozent.

Dagegen will SYRIZA, will Alexis Tsipras, nicht nur
für die Griechen, sondern für das ganze Europa: die Be-
kämpfung der humanitären Krise im Land, die Reorgani-
sation des Staates – beispielsweise Verminderung der
Zahl der Ministerposten von 18 auf 10 –, die Bekämp-
fung von Korruption und Steuerhinterziehung – übri-
gens, bei Steuerhinterziehung war die Troika immer sehr
lax und sehr flexibel, während sie bei den sozialen Kür-
zungen immer eisern und unerbittlich war –, die Wieder-
belebung der Wirtschaft und die Stärkung der Arbeitneh-
merrechte.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie haben die Chance, Ihre Fehler wiedergutzuma-
chen, wenn Alexis Tsipras am 25. Januar zum Minister-
präsidenten gewählt werden wird.


(Lachen des Abg. Andreas Mattfeldt [CDU/ CSU] – Max Straubinger [CDU/CSU]: Davon können Sie bloß träumen!)


Dann sinnen Sie nicht auf Rache, sondern helfen Sie!
Dann tricksen Sie nicht, auch wenn Ihnen das Ergebnis
nicht gefallen sollte! Dann werfen Sie Alexis Tsipras
und seinem Linksbündnis nicht Knüppel zwischen die
Beine, sondern akzeptieren Sie das demokratische Vo-
tum des griechischen Volkes!


(Beifall bei der LINKEN – Max Straubinger [CDU/ CSU]: Und er akzeptiert die Verträge!)


Auch wir haben die Wahl: Troika oder Menschen-
rechte, Troika oder wirtschaftliche Vernunft.


(Johannes Kahrs [SPD]: Dümmlicher Unsinn!)


Es gilt, Demokratie und Sozialstaatlichkeit wieder zu er-
tüchtigen.


(Johannes Kahrs [SPD]: Billige Polemik!)


Es gilt, einer Deflation entgegenzuwirken. Es gilt, eine
langanhaltende Rezession zu verhindern, die ganz Eu-
ropa in den Schlund ziehen kann.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Hat Ihnen Tsipras die Rede aufgeschrieben?)


Ein Neuanfang in Griechenland ist eine Chance für
Europa zum Umdenken.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807909100

Herr Kollege Dehm, jetzt müssen Sie bitte zum

Schluss kommen.

Dr. Jörg-Diether Dehm-Desoi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807909200

Ich komme zum Schluss. – Solidarität mit Griechen-

land und einem sozialen Aufbruch mit Alexis Tsipras ist
darum Solidarität mit den Menschen auch bei uns und in
ganz Europa.


(Beifall bei der LINKEN – Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Billiger Wahlkampf!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807909300

Für die Bundesregierung spricht jetzt der Parlamenta-

rische Staatssekretär Dr. Michael Meister.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


D
Dr. Michael Meister (CDU):
Rede ID: ID1807909400


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Am 25. Januar finden in Griechenland Parlamentswah-
len statt.


(Zuruf von der LINKEN: Wer hätte das gedacht!)


Das Ergebnis ist offen, und wir als Bundesregierung be-
teiligen uns nicht an Spekulationen, wie eine solche
Wahl ausgeht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Widerspruch bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Na ja!)


Während der Kollege Dehm eben versucht hat, hier
am Pult den griechischen Wahlkampf zu führen,


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das haben Sie hier auch schon versucht!)


werden wir als Bundesregierung uns am Wahlkampf in
Griechenland nicht beteiligen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Widerspruch bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das haben Sie aber in der Vergangenheit getan! – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Waren Sie im Skiurlaub, oder was? Sie waren über Silvester echt weg, glaube ich!)


Wir haben 2012, als während des ersten und vor Be-
ginn des zweiten Hilfsprogramms für Griechenland eine
Parlamentswahl in Griechenland stattgefunden hat, den
griechischen Wahlkampf zur Kenntnis genommen, ha-
ben das Ergebnis zur Kenntnis genommen und haben mit
den Verantwortlichen die notwendigen Schritte hinsicht-
lich der Reformprogramme besprochen. Auch damals
haben wir keine Empfehlungen im Wahlkampf und zu
Entscheidungen der griechischen Innenpolitik gegeben.
Den Respekt, den wir vor drei Jahren gelebt haben, den
leben wir auch jetzt.


(Widerspruch bei Abgeordneten der LINKEN)






Parl. Staatssekretär Dr. Michael Meister


(A) (C)



(D)(B)

Insofern ist die Haltung der Bundesregierung, Herr
Dehm, unverändert.


(Zuruf der Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE])


Wir unterstützen Griechenland bei dem Bemühen, zu
nachhaltigem Wachstum zu kommen.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das ist gut!)


Wir unterstützen Griechenland bei dem Bemühen, zu
nachhaltiger, dauerhafter Beschäftigung von Menschen
zu kommen.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das ist gut! – Weiterer Zuruf der Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE])


Wir unterstützen Griechenland dabei, zu nachhaltig trag-
fähigen Staatsfinanzen zu kommen.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das ist gut!)


Diese Haltung, die wir jetzt seit mehr als vier Jahren ein-
nehmen, werden wir unabhängig vom Wahlausgang in
Griechenland auch nach diesen Wahlen und einer ent-
sprechenden Regierungsbildung einnehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Was ist das Problem? Das Problem ist, dass in Grie-
chenland zweifellos an den Stellen, die ich eben genannt
habe, strukturelle Veränderungen notwendig waren und
sind


(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


und dass wir zur Kenntnis nehmen mussten, dass die Ka-
pitalmärkte Griechenland die Zeit, die notwendig war,
um diese Reformen durchzuführen, nicht gegeben ha-
ben. Da haben wir uns in großer europäischer Solidarität
dazu entschlossen, Griechenland im Rahmen des ersten
und des laufenden zweiten Hilfsprogramms die Zeit für
die notwendigen Reformen zu geben.

Wir leben in Europa in einer Verantwortungsgemein-
schaft. Wir leben die Verantwortung, indem wir die bei-
den Hilfsprogramme angeboten und zur Verfügung
gestellt haben. Und die Griechen leben in der Verantwor-
tung, die vereinbarten notwendigen Strukturreformen
entsprechend zur Umsetzung zu bringen. An dieser
Stelle will ich darauf hinweisen, dass die Gültigkeit von
Verträgen, die wir schließen, hier Verträge der griechi-
schen Regierung mit der Troika, nicht davon abhängt,
welche Personen der Regierung angehören, sondern die
Verträge, die geschlossen wurden, gelten unabhängig
von Regierungsbeteiligungen,


(Max Straubinger [CDU/CSU]: So ist es!)


von Personen und Parteien. Deshalb unterstellen wir,
dass, ganz gleich, wie die Wahl ausgeht und wie die Re-
gierungsbildung ausgeht, die Verträge, die wir geschlos-
sen haben, weiter gelten werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, Griechenland hat
die Zeit seit 2010 genutzt. Wir können deutliche Erfolge
sehen. Nach sechs Jahren Rezession haben wir in Grie-
chenland 2014 zum ersten Mal ein realwirtschaftliches
Wachstum von 0,6 Prozent gesehen. Und wenn die Vor-
hersagen eintreten, wird Griechenland im laufenden Jahr
eine der am stärksten wachsenden Volkswirtschaften in-
nerhalb der Euro-Zone sein. Es wird ein Wachstum der
griechischen Volkswirtschaft von nahezu 3 Prozent vor-
ausgesagt. Das ist eine positive Wende.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir hatten in Griechenland ein Staatsdefizit von
15 Prozent bezogen auf das Jahr 2009. Wir finden im
Jahr 2014 ein Staatsdefizit, das unter 3 Prozent liegt. Das
heißt, Griechenland gehört mittlerweile zu den Ländern,
die 2014 das Maastricht-Kriterium von 3 Prozent einge-
halten haben; eine sehr positive Entwicklung. Aber die-
ser Rückgang ist nicht hinreichend, sondern er bedeutet,
dass man weiter vorangehen muss und weiter konsoli-
dieren muss.

Wir hatten in Griechenland in den vergangenen Jah-
ren einen Abbau von Beschäftigung. Aber auch dies hat
sich im Jahr 2014 verändert. Wir haben 2014 in Grie-
chenland zum ersten Mal seit Beginn der Programme
wieder einen Aufbau der Beschäftigung. Es ist prognos-
tiziert, dass auch in diesem Jahr dieser Beschäftigungs-
aufbau mit mehr Schwung weitergeht. Wir gehen davon
aus, dass wir Ende 2015 etwa 2,5 Prozent mehr Men-
schen in Beschäftigung haben werden als zu Beginn des
Jahres.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dementsprechend reduzieren sich die Arbeitslosen-
zahlen. Die Arbeitslosigkeit in Griechenland ist zwar auf
einem sehr hohen Niveau. Aber wir sehen eine Trend-
wende. Die Arbeitslosenzahlen in Griechenland gehen
zurück. Genau das wollen wir erreichen. Wir sind sicher,
dass die Arbeitslosigkeit weiter zurückgehen wird. Auch
bei den Einkommen haben wir eine Trendwende. Nach-
dem mehrere Jahre lang die Einkommen zurückgegan-
gen sind, haben sie sich mittlerweile stabilisiert. Die Ein-
kommen der Menschen beginnen wieder zu steigen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In genau dieser Situation findet jetzt die Wahl statt.
Bei dieser Frage geht es um etwas ganz Einfaches. Herr
Dehm, mich treibt nicht die Frage um, ob in der nächsten
Regierung Kommunisten sitzen, sondern die Frage:
Wird der Erfolgsweg, der in Griechenland in den vergan-
genen fünf Jahren eingeschlagen wurde – wie ich eben
dargestellt habe: mit sehr viel Erfolg –, von einer Re-
formregierung weitergeführt,


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Die Schulden sind doch höher als vorher! Herr Meister, die Schulden sind doch gestiegen!)


oder wird dieser Erfolgsweg abgebrochen, sodass all die
Mühen, die die Menschen in Griechenland auf sich ge-
nommen haben, umsonst waren? Das ist die Frage, die
jetzt beantwortet werden muss.





Parl. Staatssekretär Dr. Michael Meister


(A) (C)



(D)(B)


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Jugendarbeitslosigkeit von 60 Prozent ist doch kein Erfolg!)


Über diese Frage werden wir mit der künftigen griechi-
schen Regierung in Ruhe sprechen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Herr Dehm, Sie haben die Themen Schuldenstand
und Schuldenschnitt angesprochen. Ich will Sie darauf
hinweisen, dass Sie sich offenkundig mit dieser Sache
relativ wenig beschäftigt haben. Die Tilgungszahlungen
für Griechenland sind – je nachdem, ob Sie auf das erste
oder zweite Hilfsprogramm schauen – bis 2020 bzw.
2023 ausgesetzt. Das heißt, die Frage der Schuldenbe-
dienung stellt sich für Griechenland in den nächsten Jah-
ren überhaupt nicht.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: So ist es!)


Deshalb ist der Schuldenstand für die Frage, wie es in
Griechenland weitergeht, momentan vollkommen irrele-
vant.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Genau so ist es!)


Wir sollten aber keine irrelevante Frage diskutieren, son-
dern wir sollten uns auf die entscheidenden relevanten
Fragen konzentrieren und darauf Antworten geben. Aber
weil Sie das nicht wollen, weichen Sie auf Felder aus,
die überhaupt keine Relevanz haben.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Quatsch!)


Meine Damen und Herren, das zweite Griechenland-
Programm wäre am 31. Dezember 2014 ausgelaufen.
Griechenland hat den Antrag gestellt, dieses Programm
um zwei Monate zu verlängern, bis Ende Februar 2015.
Der Deutsche Bundestag hat am 18. Dezember vergan-
genen Jahres zugestimmt. Wir halten uns genau an die-
ses Programm. Wenn das Programm zu Ende ist, dann
wird die neue griechische Regierung entscheiden müs-
sen, ob sie einen neuen Antrag stellt: entweder eine zeit-
liche Ausdehnung des bestehenden Programms oder
möglicherweise ein neues Programm. Das ist aber keine
Entscheidung, die der Deutsche Bundestag, die Europäi-
sche Kommission oder wer auch immer zu treffen hat,
sondern es ist eine Entscheidung, die die griechische Re-
gierung zu treffen hat. Wenn die griechische Regierung
ihre Entscheidung getroffen hat, dann wird die Bundes-
regierung den Deutschen Bundestag über den Antrag,
sofern er gestellt wurde, informieren.

Meine Damen und Herren, ich gehe davon aus, dass
jede griechische Regierung mit dieser Fragestellung se-
riös umgehen wird; denn in dem Moment, in dem man
Verantwortung hat, trägt man nicht nur Verantwortung
für das, was man sagt, sondern auch für das, was aus
dem Handeln bzw. Nichthandeln folgt.

Ich habe vorhin gesagt, dass wir Verantwortung für
Griechenland gelebt haben. Die Griechen müssen Ver-
antwortung für sich leben. Das heißt im Klartext: Als wir
Hilfe und damit mehr Zeit gewährt haben – ganz gleich,
ob im Rahmen des ersten oder des zweiten Programms –,
war für uns immer klar, dass diese Zeit genutzt werden
muss, um Probleme zu lösen. Deshalb wird es keine Pro-
gramme geben, die nicht dazu beitragen, dass die Pro-
bleme eines Landes, das Hilfsprogramme benötigt – in
diesem Fall Griechenland –, auch gelöst werden.

In diesem Geist sollten wir diskutieren. In diesem
Geiste sollten wir das, was wir in Europa positiv erreicht
haben, weiterführen.

Danke schön, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807909500

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Manuel Sarrazin,

Bündnis 90/Die Grünen.


Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807909600

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Unglücklich ist das Land, über dessen Innen-
politik so intensiv in Deutschland diskutiert werden
muss, könnte man vielleicht sagen. Wir haben jetzt zwei
Reden gehört, in denen versucht wurde, die griechische
Lage zu beschreiben und vielleicht an der einen oder an-
deren Stelle politisches Kapital daraus zu schlagen. Kei-
ner der beiden Redner hat das eigentliche Thema der Ak-
tuellen Stunde genannt, nämlich: Griechenland hat eine
Zukunft im Euro-Raum. – Punkt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)


Jetzt könnte man sich schon fragen, warum dies eigent-
lich weder Herr Dehm, der hier der größte Freund der
Griechen ist – Diether, du bist ein guter Freund von Ale-
xis Tsipras;


(Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])


das ist okay, er ist ein netter Kerl –, noch der Vertreter
der Bundesregierung gesagt haben.

Um es ein bisschen zuzuspitzen: Sie haben es ver-
säumt, nach Veröffentlichung der Spiegel-Meldung am
Sonntag mit einem eindeutigen Dementi klarzustellen,
dass Griechenland im Euro-Raum bleibt,


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das ist richtig!)


und haben die Debatte tagelang weiterlaufen lassen und
damit die Gespenster der Vergangenheit beschworen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Da können Sie über Tsipras und Diether Dehm reden, so
viel Sie wollen. Der Unterschied zwischen Ihnen und
Diether Dehm ist: Ihnen glauben die Märkte noch.


(Heiterkeit – Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Der war gut!)


Wie können Sie es überhaupt verantworten, nach fünf
Jahren dieser unsäglichen Austrittsdebatte nichts dazu zu
sagen? Sie haben gesagt: Wenn man nichts tut, ist man





Manuel Sarrazin


(A) (C)



(D)(B)

mitverantwortlich. – Ihr Schweigen war meiner Ansicht
nach unverantwortlich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das ist richtig!)


Jetzt muss man auch mal sagen: Ich weiß gar nicht,
wer dieser Meldung im Spiegel eigentlich geglaubt hat.
Ich glaube, ihr von der Linken seid nicht so doof, dass
ihr der Meldung geglaubt habt.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Nein! – Johannes Kahrs [SPD]: Da wäre ich mir nicht so sicher! – Gegenruf des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Da kannst du dir sicher sein!)


Alle gehen dann raus und kommentieren es irgendwie;
es laufen Hinterbänkler von der Union herum, und dann
kommen wieder alle möglichen Debatten.

Wir haben Griechenland in den letzten Jahren unge-
fähr 250 Milliarden Euro geliehen. Glaubt irgendje-
mand, dass sich Merkel und Schäuble, wenige Wochen be-
vor die letzte Tranche von ungefähr 1,5 Milliarden Euro
ausgezahlt werden soll, plötzlich überlegen: „Jetzt ma-
chen wir es doch ganz anders“? So hirnverbrannt kann
doch nicht mal eine Große Koalition agieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Man muss aber auch sagen: Die große Koalition der
Freunde Griechenlands besteht nicht aus der Linkspartei
und der CDU/CSU. Ich weiß, dass ihr von der Linken
euch in dieser Hinsicht mit manchen CSU-lern sehr einig
seid; aber das ist dann Gauweiler und nicht Fuchtel.


(Johannes Kahrs [SPD]: Was ist denn schlimmer?)


Um es klarzustellen: Ich werde niemals vergessen,
wie Gregor Gysi in der mündlichen Verhandlung über
die Griechenland-Hilfe vor dem Bundesverfassungsge-
richt in Karlsruhe gesagt hat: Kein weiteres deutsches
Geld nach Griechenland! – Das war eine deutsche De-
batte, die ihr dort geführt habt, und keine europäische.
Da hilft es auch nicht, eine solche Aktuelle Stunde zu
verlangen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD – Johannes Kahrs [SPD]: So ist das! Unsolidarisch! – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Die Kohle ging an die Deutsche Bank!)


Diether, weil ich schon geahnt habe, dass an dieser
Stelle die CDU/CSU klatschen wird: Ich werde ebenso
niemals vergessen, wie die unsägliche Geschichte zu-
stande kam, als die Bild-Zeitung irgendwo anrief und ir-
gendjemanden suchte, der das mit dem Kauf der griechi-
schen Inseln forderte. Wer war sich nicht doof genug,
das zu fordern? Das waren damals Abgeordnete von der
FDP und der Mittelstandsbeauftragte der CDU/CSU. Sie
sind bei diesem Thema mit der Linkspartei in einem
Boot,


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Na ja!)

weil Sie keine Stabilität beim Thema Griechenland an
den Tag legen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Das nimmst du aber zurück!)


Es gibt in diesem Haus eine Fraktion, der bewusst ist,
dass das Wichtigste, was Griechenland braucht, Stabili-
tät ist. Diese Fraktion hat seit 2009 immer gesagt: Grie-
chenland bleibt im Euro, weil wir es wollen, und wenn
es ein bisschen kostet, dann kostet es ein bisschen; wenn
es ein bisschen mehr kostet, kostet es ein bisschen mehr.
Dieser Überzeugung waren nicht die Linkspartei und die
CDU/CSU, sondern die Grünen – sie sind die Freunde
Griechenlands. So ist das nämlich!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Johannes Kahrs [SPD]: Hallo! Hier! Herr Sarrazin!)


– Die SPD hat dann auch mitgemacht.


(Lachen bei der SPD)


Jeder weiß, dass in Griechenland viele Fehler passiert
sind; ich möchte das ausdrücklich sagen. Der IWF
würde niemals behaupten, er hätte alles richtig gemacht.
Die Troika würde niemals behaupten, sie hätte alles rich-
tig gemacht.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Doch, so ziemlich!)


Ich rede in Athen auch mit Leuten vom IWF und in
Brüssel mit Leuten, die sagen, dass unterschiedliche Sa-
chen falsch gemacht wurden. Sie würden nicht sagen:
Nur wir haben alles falsch gemacht. Sie würden sagen:
Auch Herr Samaras und Herr Papandreou haben Fehler
gemacht. – Meiner Ansicht nach waren die Grünen nie
relevant genug. Aber wenn die Grünen im politischen
System Griechenlands ebenso wichtig gewesen wären,
dann würde ich sagen, auch sie hätten Fehler gemacht.

Genauso muss man sagen, dass Herr Tsipras ein Kind
seines gesellschaftlichen Systems ist. Er ist kein
Schreckgespenst, Diether. Es könnte sich jedoch früher
oder später herausstellen, dass er im Gegensatz zu euch
ein Realpolitiker ist, und dann werdet ihr, so wie ihr es
gerade gegenüber anderen getan habt, auch Herrn Tsi-
pras beschimpfen.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Wir sind Realpolitiker! – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU – Gegenruf der Parl. Staatssekretärin Brigitte Zypries: Da muss er selber lachen!)


Ich bin fest davon überzeugt, dass es zwischen Ankündi-
gungen und Wahrheit eine entscheidende Variable gibt,
und das ist die Handlungsfähigkeit, die man verändern
kann.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Antikapitalisten sind immer Realpolitiker!)


Deswegen ist es wichtig, dass wir Griechenland, egal
welche Regierung an die Macht kommt, auf seinem Weg
begleiten, um Fehler im Bereich Soziales, aber auch in





Manuel Sarrazin


(A) (C)



(D)(B)

anderen Bereichen wie Korruption und Staatswesen zu
korrigieren. Das dürfen wir nicht durch Debatten über
einen Austritt gefährden. Das wird Griechenland nie-
mals helfen. Wir sollten auf die Nachhaltigkeit in unse-
ren Handlungen im sozialen und im ökologischen Sinne
achten. Dafür müssen wir gemeinsam einstehen.

Danke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807909700

Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Johannes Kahrs,

SPD-Fraktion.


Johannes Kahrs (SPD):
Rede ID: ID1807909800

Sehr geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Wir haben jetzt drei Wortmeldungen ge-
hört, die unterschiedlicher nicht hätten sein können: zum
einen die haltlose, manchmal dümmliche Polemik von
der Linken, wie man sie halt kennt, dann den Sachvor-
trag der Bundesregierung, in dem die Fakten darstellt
wurden,


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Wie man das kennt!)


und schließlich den Beitrag von den Grünen, in dem
deutlich wurde, dass in diesem Hause Konsens darüber
besteht, dass Griechenland eine Zukunft im Euro-Raum
hat. Dafür haben der Bundestag und die Bundesregie-
rung in all den unterschiedlichen Facetten, die ich seit
1998 kenne, immer gestanden.

Natürlich hätte man einige Meldungen im Spiegel de-
mentieren können. Natürlich kann man dem einen oder
anderen vorwerfen, dass er einen Fehler gemacht hat. Da
in unserem Land häufig gefragt wird: „Warum geben wir
den Griechen immer wieder Geld?“, muss man in dieser
Debatte darauf verweisen, dass in diesem Hause, von der
SPD über die Grünen bis zur CDU/CSU, Konsens da-
rüber besteht, dass wir den Griechen helfen wollen


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Aber nicht den Gläubigerbanken!)


und dass wir wollen, dass Griechenland eine Zukunft im
Euro-Raum hat. Das sind wir Europa und den Griechen
schuldig. Das ist die eine Seite der Medaille.

Die andere Seite der Medaille ist, dass die Griechen
natürlich ihren Teil dazu beitragen müssen, dass sie eine
Zukunft im Euro-Raum haben. Es muss deutlich werden,
dass das Vertrauen, das die Europäische Union, die Bun-
desrepublik Deutschland, der IWF und insbesondere die
deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Grie-
chenland setzen, auch gerechtfertigt ist. Es gibt immer
zwei Seiten einer Medaille; das ist nun einmal so.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Wir können jetzt lange darüber philosophieren, wa-
rum die Griechen in diese Situation hineingeschlittert
sind. So etwas passiert ja nicht in drei Jahren, sondern
daran waren sehr viele griechische Regierungen unter-
schiedlichster Art beteiligt.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Nicht so unterschiedlich! Zweimal gleich!)


Das Ganze ist über Jahrzehnte gewachsen. Da ist auch
viel Misswirtschaft entstanden. Ich glaube, man muss
immer wieder dafür werben und dafür kämpfen, dass
sich die Situation ändert. Denn wir alle haben ein Inte-
resse daran, dass die Griechen alleine und vernünftig
klarkommen, damit sie nicht immer auf ausländische
Hilfe angewiesen sind; schön finden die das auch nicht.
Deswegen ist es gut, wenn Griechenland die griechische
Zukunft allein bestimmen kann. Dabei sollten wir ihnen
helfen.

Nicht gut ist allerdings, Herr Dehm, dass Sie sich in
der heutigen Diskussion, in der wir alle gemeinschaftlich
für eine Zukunft Griechenlands im Euro-Raum werben,
hierhinstellen und stumpf griechischen Wahlkampf ma-
chen. Ehrlich gesagt: Ich weiß nicht, wer in Griechen-
land die Wahl gewinnt. Ich werde es auch nicht entschei-
den.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ihre Leute sowieso nicht!)


– Wer meine Leute sind, das können Sie sowieso nicht
beurteilen.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Doch, PASOK!)


Ich bin mir ganz sicher, dass die Leute, die Sie gerade
bejubeln, nicht Ihre Leute sind; denn die finden Sie auch
peinlich. Im wahren Leben wissen die, dass Sie es nicht
können.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der CDU)


Wenn man sich das dann in der Sache anschaut, stellt
man fest, dass sich der griechische Oppositionsführer in
den letzten Wochen und Monaten sehr stark geändert
hat. Er hat Dinge erzählt, die Ihnen hier nicht über die
Lippen kommen würden.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Was?)


Er weiß nämlich auch: Wenn er die Chance hat, diese
Wahl zu gewinnen, dann wird er sehr vernünftig sein
müssen. Noch einmal: Ich entscheide am Ende nicht,
wer in Griechenland die Wahl gewinnt. Ich will es auch
gar nicht entscheiden. Das sollen die Griechen entschei-
den,


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


ohne Hilfe von Herrn Dehm und ohne billige Polemik.
Das ist eine rein griechische Entscheidung.

Dann werden die Griechen eine Regierungsbildung
vornehmen. Auch das ist hervorragend so und wird von
uns nicht beeinflusst. Dann wird die griechische Regie-
rung, wie auch immer sie zusammengesetzt sein wird,





Johannes Kahrs


(A) (C)



(D)(B)

entscheiden, was sie tun will. Das nennt man, Herr
Dehm, Demokratie.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ja! Genau!)


Damit haben Sie aber ein Problem; das weiß ich.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Damit haben wir kein Problem!)


Aber das macht überhaupt nichts. Und wenn die griechi-
sche Regierung eine Entscheidung trifft und sagt, sie
würde gerne mit der Europäischen Union diesen Weg
gemeinsam weitergehen, dann wird man mit ihr darüber
reden müssen.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Gut! Prima!)


Natürlich wird man ihr auch sagen, dass die alte grie-
chische Regierung Verträge geschlossen hat, und zwar
für Griechenland. Daran wird sich auch eine neue Regie-
rung halten. Das ist auch gut so. Dann wird man diese
Diskussion führen. Das Schöne an Deutschland ist:
Diese Diskussion führt nicht nur die Regierung – so gut
das alles war, was Herr Meister gesagt hat –, sondern
diese Diskussion wird auch im Deutschen Bundestag ge-
führt, und zwar genau dann, wenn es an der Zeit ist, und
nicht, wenn die Linkspartei eine Aktuelle Stunde bean-
tragt hat.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807909900

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Bartholomäus

Kalb, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Bartholomäus Kalb (CSU):
Rede ID: ID1807910000

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Die Zukunft Griechenlands liegt im Euro-
Raum; darüber sind wir uns einig. In diesem Zusammen-
hang möchte ich ausdrücklich das unterstreichen, was
der Kollege Sarrazin hier gesagt hat. Ich sage das wohl-
begründet und mit Überzeugung.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe
mich zunächst gefragt, warum die Linke diese Aktuelle
Stunde beantragt hat. Sie war doch so besorgt, dass der
Spiegel-Artikel in diesem Zusammenhang und die Vor-
gänge danach Einfluss auf die Wahlen in Griechenland
haben könnten. Es war Ihnen zunächst ja peinlich, hier
über all diese Themen zu sprechen. Wenn man nicht da-
rüber reden sollte, was ursprünglich Ihre Intention war,
dann hätte man sagen müssen: Antrag auf Beendigung
der Debatte. – Ich würde mich hinsetzen, und dann wäre
die Sache erledigt.

Jetzt habe ich aber bei der Rede des Herrn Dehm ge-
lernt, dass er hier seinerseits in ungeahnter Weise Wahl-
kampf für seine politische Richtung machen wollte. Das
ist ein Vorgang, den ich bisher im Deutschen Bundestag
noch nicht erlebt habe.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Unabhängig davon sage ich, dass wir mit dem Thema,
das in dem Artikel, der diese Diskussion ausgelöst hat,
angesprochen worden ist, sehr vorsichtig umgehen soll-
ten. Wir dürfen nicht leichtfertig Diskussionen führen,
ob ein Land Mitglied oder nicht Mitglied in der Euro-
Zone sein soll. Was ich in diesem Zusammenhang
meine, habe ich zu Beginn gesagt.

Wir haben unabhängig von der Mitgliedschaft Grie-
chenlands in der Euro-Zone für Griechenland eine Ver-
antwortung, weil Griechenland Mitglied der Europäi-
schen Union ist. Auch wenn ein anderer Schritt
gegangen würde, wäre das nicht ohne Konsequenzen
und ohne Folgen für uns.


(Beifall des Abg. Ewald Schurer [SPD])

Ein ganz wichtiger Punkt ist Verlässlichkeit. Ich

glaube, wir dürfen feststellen – viele haben das schon
festgestellt –, dass sich Griechenland bisher immer auf
unsere Solidarität und die der gesamten Euro-Zone ver-
lassen konnte; die beiden Hilfsprogramme für Griechen-
land und die Anstrengungen der Bundesrepublik
Deutschland sind ja dargestellt worden.


(Beifall des Abg. Andreas Mattfeldt [CDU/CSU])


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1807910100


Es gibt momentan keinen Grund, über einen Schulden-
schnitt oder sonstige Schritte zu diskutieren, weil wir
Griechenland, was die Zinsbedienung und die Tilgung
angeht, sehr weit entgegengekommen sind, sodass sich
diese Frage im Moment gar nicht stellt.

Aber Verlässlichkeit hat natürlich nicht nur eine, son-
dern zwei Seiten. Solidarität ist keine Einbahnstraße.
Verlässlichkeit bedeutet auch, dass internationale Ver-
träge, die ein Land durch seine legitimen Vertreter ge-
schlossen hat, von deren Nachfolgern eingehalten wer-
den müssen. Ich gehe davon aus, dass Griechenland auch
in Zukunft Vertragstreue an den Tag legen wird.

Ich glaube, das ist im ureigensten Interesse Griechen-
lands; denn die Griechen – der Herr Staatssekretär hat
das eindrucksvoll dargestellt – haben viel unternommen.
Das griechische Volk hat Opfer bringen müssen, hat Ein-
schnitte hinnehmen müssen. Das war ja alles nicht so
ganz einfach und nicht so ganz leicht. Insofern wäre es
sehr schade, wenn die Erfolge, die erreicht worden sind
– von der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit über die
Verbesserungen auf dem Arbeitsmarkt und die Rück-
gewinnung der Wirtschaftskraft bis hin zur Haushalts-
konsolidierung; dies alles wurde schon dargestellt –, zu-
nichtegemacht würden, wenn dieser hoffnungsvolle
Prozess gestört würde. Ich meine, es liegt im beiderseiti-
gen Interesse, in unserem Interesse bzw. dem der Euro-
Zone und im Interesse der griechischen Bürger, dass der
eingeschlagene Weg, der richtig ist, weitergeführt wird.
Wir werden auch in Zukunft die dafür notwendige Soli-
darität aufbringen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Man sieht ja auch, dass diese schwierigen Reform-

prozesse, die zunächst als bittere Medizin empfunden
werden, durchaus Erfolge zeitigen. Wir haben das bei Ir-
land, Spanien und Portugal gesehen. Warum sollen diese
Reformen nicht auch in Griechenland letztlich zu für uns
alle nutzbringenden Ergebnissen führen?





Bartholomäus Kalb


(A) (C)



(D)(B)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, für mich
steht ein Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone über-
haupt nicht zur Debatte. Ein solcher Austritt würde nach
meiner Überzeugung die Probleme in Griechenland nur
verschärfen. Daran kann es keinen Zweifel geben; ich
glaube, ich habe das hinreichend dargelegt. Der Erhalt
der vollständigen Euro-Zone scheint in unser aller Inte-
resse zu liegen, im Interesse der gesamten Euro-Zone
und im Interesse der gesamten Europäischen Union.
Auch daran kann es keinen Zweifel geben.

Wir haben heute natürlich eine etwas günstigere Si-
tuation als mitten in der Finanzkrise, weil sich die euro-
päischen Institutionen weiterentwickelt haben, weil wir
auch hier Reformen durchgeführt haben, weil wir uns
gegen Krisen stärker gewappnet haben.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807910200

Herr Kollege Kalb, es wäre jetzt in unserem Interesse,

wenn die Redezeit eingehalten würde.


Bartholomäus Kalb (CSU):
Rede ID: ID1807910300

Ja. – Der Euro ist das sichtbarste Symbol der europäi-

schen Einigung und ein wesentlicher Beitrag zur Siche-
rung des Wohlstands der Menschen in allen beteiligten
Staaten.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807910400

Vielen Dank. – Als Nächster hat das Wort Andrej

Hunko, Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Andrej Hunko (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807910500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr

Sarrazin, ja, Griechenland hat eine Zukunft im Euro-
Raum. Das sagt auch die Linke ganz klar. Aber wir sa-
gen auch ganz klar:


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Euro muss weg!)


Griechenland hat keine Zukunft unter dieser Troika-
Politik, die dieses Land in den Abgrund gestürzt hat.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das ist das Entscheidende! – Johannes Kahrs [SPD]: Dann haben Sie es aber nicht verstanden!)


Ich will daran erinnern, dass wir seit fünf Jahren da-
rüber diskutieren und wir von Anfang an gesagt haben:
Diese Programme, die Griechenland aufgezwungen wer-
den, sind unsozial, undemokratisch und ökonomisch
kontraproduktiv.


(Beifall bei der LINKEN – Johannes Kahrs [SPD]: Durch Wiederholung wird Unsinn nicht besser!)

Ich glaube, dass die Entwicklung der letzten fünf Jahre
diese Einschätzung bestätigt hat. Das sind die Gründe,
warum wir diese Programme abgelehnt haben. Wir
haben sie natürlich auch abgelehnt, weil ein Großteil der
sogenannten Hilfsgelder nicht der griechischen Bevölke-
rung zugutekamen, sondern zu über 80 Prozent in die
Finanzmärkte geflossen sind.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das ist der Punkt!)


Diese Reformen waren unsozial. Ich will das, auch
wenn wir schon viele Beispiele dafür vorgetragen haben,
belegen und aus der Welt – Springer-Presse – vom
28. Dezember 2014 zitieren. Dieser Artikel stützt sich
auf einen Bericht von über 160 Menschenrechtsorgani-
sationen, der kurz vor Weihnachten veröffentlicht
wurde. Ich zitiere:

Es steht mehr als schlecht um sein Land,

– Griechenland –

wie ein aktueller Bericht der FIDH, eines interna-
tionalen Dachverbands von 178 Menschenrechtsor-
ganisationen, dokumentiert.


(Johannes Kahrs [SPD]: Getretener Quark wird breit, nicht stark!)


Die Autoren ziehen eine erschreckende Bilanz der
Rettungspolitik der Troika aus Europäischer Zen-
tralbank (EZB), EU-Kommission und IWF. Seit
dem Ausbruch der Krise wurden demnach nicht nur
Pensionen und Einkommen um teilweise 50 Pro-
zent gekürzt, sondern Millionen Menschen ihrer
Existenz beraubt. „Die entsetzlichen Auswirkun-
gen, die die Krise nicht nur auf die Wirtschaft,
sondern auch auf die Demokratie und die Men-
schenrechte hatte, können nicht mehr geleugnet
werden“, schreiben die FIDH-Autoren. „Wir wer-
den Zeugen eines Übergangs in einen Zustand, bei
dem elementare Grundrechte und der Rechtsstaat
herausgefordert und abgebaut werden.“

Noch immer seien 28 Prozent der Griechen arbeits-
los, die Jugendarbeitslosigkeit liege bei 61 Prozent.
Seit dem Ausbruch der Krise hätten 180 000 Klein-
unternehmen schließen müssen … Laut inoffiziel-
len Quellen sind 2,5 Millionen Bürger ohne Kran-
kenversicherung.

– Bei 10 Millionen Einwohnern. –

Auch das hat gravierende Folgen: Binnen eines hal-
ben Jahres stieg die HIV-Infektionsrate um 52 Pro-
zent, 62 Menschen starben an dem wieder aufge-
tauchten West-Nil-Virus. Seit dem Ausbruch der
Krise hat sich die Selbstmordrate verdoppelt.

So weit Die Welt vom 28. Dezember 2014.

Das ist der Scherbenhaufen der bisherigen Griechen-
land-Politik, und das muss neu justiert werden.


(Beifall bei der LINKEN – Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Auslöser ist in Griechenland eine Politik, die mit Ihrer Ähnlichkeit hat!)






Andrej Hunko


(A) (C)



(D)(B)

Viele internationale Organisationen und Parlamente
haben in der Zwischenzeit diese Troika-Politik kritisiert,
die maßgeblich von der deutschen Politik mitgeprägt
wurde. Ich erinnere an die Parlamentarische Versamm-
lung des Europarates im Juni 2012. Auch das Europäi-
sche Parlament hat im vergangenen Jahr eine Resolution
verabschiedet, in der es zum Beispiel heißt, dass das
Mandat der Troika als „unklar, intransparent und einer
demokratischen Kontrolle entbehrend wahrgenommen“
werde.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das sagen nur die Linken in Europa!)


Weiter heißt es, es stehe außerhalb des europäischen
Rechts. Die Kürzungen hätten negative Auswirkungen
auf die Wirtschaftspolitik.

Herr Dr. Meister, Sie sprechen von einer positiven
Entwicklung, von einem Erfolgsweg. Die Wirtschaft in
Griechenland ist jedoch um über 25 Prozent eingebro-
chen. Die sozialen Folgen habe ich eben benannt. Es ist
doch blanker Zynismus, wenn man dann von einer posi-
tiven Entwicklung und von einem Erfolgsweg spricht.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Wahlen in Griechenland bieten die Chance auf ei-
nen Umschwung dieser Politik nicht nur in Griechen-
land, sondern in ganz Europa. Es gibt in Griechenland
den Spruch: Anatropi stin Ellada, minima stin Europi.
Zu Deutsch: Der Umschwung in Griechenland ist ein
Zeichen für Europa.

Wenn man sich einmal die Debatte anschaut, die in
anderen europäischen Ländern und auf internationaler
Ebene geführt wird, zum Beispiel in der New York
Times, dann stellt man fest, dass gesagt wird, dass in Eu-
ropa ein anderer Weg mit Blick auf die Wirtschafts- und
Finanzpolitik notwendig ist.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Europa steht am Rande einer Rezession und ist schon in
eine Deflation hineingeschlittert. Das kann langwierige
Folgen und weitere Rezessionen nach sich ziehen. Des-
halb muss dringend umgesteuert werden. Der mögliche
Wahlsieg von SYRIZA kann ein Auftakt sein und eine
politische Diskussion auch in anderen europäischen Län-
dern befördern. Es ist dringend notwendig, dass wir eu-
ropaweit umsteuern, weil die bisherige Wirtschafts- und
Finanzpolitik die gesamte Euro-Zone in die Krise ge-
führt hat.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807910600

Für die SPD-Fraktion erhält jetzt das Wort Michael

Roth.


Michael Roth (SPD):
Rede ID: ID1807910700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Auf der Zuschauertribüne begrüße ich den neuen grie-
chischen Botschafter, Panos Kalogeropoulos. Herzlich
willkommen! Wir freuen uns, dass Sie dieser Debatte
beiwohnen.


(Beifall)

Wir alle in Europa haben Griechenland viel zu ver-

danken. Deutschland und Griechenland sind seit vielen
Jahrzehnten enge Freunde und Partner. Griechinnen und
Griechen haben in Deutschland eine neue Heimat gefun-
den. Sie kamen als sogenannte Gastarbeiter zu uns oder
flüchteten vor einer furchtbaren Militärdiktatur. Diese
Griechinnen und Griechen machen unser Land reicher.
Hunderttausende von Bürgerinnen und Bürgern mit grie-
chischen Wurzeln verbinden uns mit dem Heimatland
der Demokratie.

Im Bundestag und in der Regierung gibt es viele, de-
nen die deutsch-griechischen Beziehungen ein ganz be-
sonderes Herzensanliegen sind. Ich selbst habe in dem
knappen Jahr meiner Amtszeit als Staatsminister für Eu-
ropa viele Male Griechenland besucht. Ich weiß, dass es
viele Abgeordnete und viele Regierungsvertreter gibt,
die intensiven Kontakt zu den Griechen pflegen. Mir wie
auch vielen anderen war es immer wichtig, damit ein
Zeichen zu setzen: Deutschland steht fest und solidarisch
an der Seite Griechenlands, gerade auch in diesen
schweren Zeiten der wirtschaftlichen und sozialen Krise,
die das Land durchlebt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dass Wahlen in unseren EU-Partnerländern Interesse
und Aufsehen hervorrufen, belegt doch eines: Ja, es gibt
eben doch eine europäische Öffentlichkeit. Der Ausgang
von Wahlen in Frankreich, in Slowenien oder auch in
Griechenland ist für uns in Deutschland mindestens
ebenso bedeutsam wie Wahlen in unseren Bundeslän-
dern. Es ist also gut, dass wir unseren Blick auch nach
Athen, nach Thessaloniki oder nach Syros richten. Aber
es gilt eben auch: Parlamentswahlen und auch vorgezo-
gene Wahlen sind in der EU ein völlig normaler demo-
kratischer Vorgang.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Daher rate ich uns allen zu ein bisschen mehr Gelas-
senheit und auch Vertrauen im Vorfeld der Wahlen. Denn
am 25. Januar haben die Griechinnen und Griechen das
Wort. Wir sollten uns von Deutschland aus nicht in den
griechischen Wahlkampf einmischen, auch nicht mit
aufgeregten Debatten über Schreckensszenarien. Wir
sollten uns auch hier im Deutschen Bundestag davor hü-
ten, bereits im Vorfeld von Wahlen, bevor auch nur ein
einziger Stimmzettel in einer Wahlurne liegt, Analysen
vorzunehmen.

Ganz im Gegenteil: Jetzt sollte für uns im Vorder-
grund stehen: Wie können wir Griechenland ermutigen,
den eingeschlagenen Weg der Reformen entschlossen
weiterzugehen? Wie können wir den Menschen etwaige
Ängste vor Reformen nehmen? Wir alle wissen, egal wo
wir politisch stehen: Es gibt noch sehr viel zu tun. Die
griechische Wirtschaft muss wieder flottgemacht wer-
den. Der Staat muss modernisiert werden. Strukturrefor-
men müssen konsequent durchgeführt werden. Dabei





Michael Roth (Heringen)



(A) (C)



(D)(B)

muss vor allem auch die soziale Balance gewahrt wer-
den.

Die Menschen in Griechenland brauchen jetzt Jobs
und Perspektiven. Das gilt vor allem für die 1,2 Millio-
nen Menschen ohne Arbeit. Jeder zweite Jugendliche in
Griechenland hat keinen Job, hat keine Perspektive. Das
ist eine Tragödie, und zwar nicht nur für Griechenland,
sondern für uns alle, die wir ein Herz haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb werden die Europäische Union und Deutsch-
land weiterhin als Partner bereitstehen, um Griechenland
tatkräftig zu unterstützen.

Der Vorwurf, den ich auch von Ihrer Seite immer wie-
der höre, stimmt nicht: Es gibt keine reine Austeritäts-
politik. Die europäische Agenda legt mittlerweile den
Schwerpunkt auf einen Dreiklang aus Haushaltskonsoli-
dierung, Strukturreformen sowie Wachstum und Inves-
titionen für mehr Beschäftigung, übrigens auch auf
Drängen des Bundestages und der deutschen Bundesre-
gierung.

Schauen wir uns doch die Politik der vergangenen
Monate in Europa an: Wir treiben konkrete Initiativen
für Wachstum und Beschäftigung und für die Stärkung
des sozialen Zusammenhalts in Griechenland und an-
derswo in Europa voran. Nun müssen diese Initiativen
couragiert und entschlossen umgesetzt werden.

Die Bundesregierung ist sich sicher: Die gute Zusam-
menarbeit wird auch mit der kommenden griechischen
Regierung fortgesetzt. Denn wir alle wollen, dass Grie-
chenland Mitglied der Euro-Zone bleibt. Es gibt in die-
ser Frage keinerlei Kurswechsel.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich finde, der griechischen Regierung und den Bürge-
rinnen und Bürgern Griechenlands gebühren Respekt,
Anerkennung und Dank für all das, was sie bislang ge-
leistet haben. Wir alle wissen: Dies ist teilweise mit
schweren Zumutungen verbunden gewesen. Alle, die
jetzt von einem Rückzug aus dem Euro oder gar aus der
EU fabulieren, die ihr Heil im Nationalstaat alter Prä-
gung, den es so nicht mehr gibt, suchen, sollten wissen:
Unsere Antwort heißt immer noch und jetzt erst recht:
Ein gemeinsames Europa ist gut für Griechenland, aber
eben auch gut für Deutschland.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1807910800

Vielen Dank. – Jetzt hat das Wort Dr. Gerhard Schick

von Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Warum kommt es zu dieser Debatte? Es kommt dazu,
weil die Zusammengehörigkeit im Euro-Raum wieder
einmal zur Disposition gestellt worden ist. Angefangen
hat es mit irgendwelchen Quellen des Spiegel in der
Bundesregierung. Dazu hat mein Freund und Kollege
Manuel Sarrazin das Nötige gesagt: So etwas darf man
nicht so lange laufen lassen, es sei denn, man hat ein In-
teresse daran. – Ich muss sagen: Ich finde, es war unver-
antwortlich, das laufen zu lassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Carsten Schneider [Erfurt] [SPD])


Ähnliches gilt aber auch für die Linkspartei und an-
dere, die meinten, man könne die Zusammengehörigkeit
in Europa wieder einmal ein bisschen zur Disposition
stellen. Ich glaube, wer aus den letzten Jahren der Krise
in Europa, vielleicht aber auch aus den letzten Tagen et-
was gelernt hat, dem muss doch klar sein: Europa gehört
zusammen. Wir werden keine Rückschritte bei der euro-
päischen Integration machen, bloß weil es ökonomisch
und sozial derzeit etwas schwierig ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Irgendwann kam die Aussage: Es gibt keinerlei Kurs-
wechsel. – Dabei haben Sie sich zu Recht auf die Frage
bezogen, ob Griechenland im Euro-Raum bleiben soll.
Hierbei haben Sie unsere volle Unterstützung. Aber es
gibt natürlich einen Punkt, an dem ein Kurswechsel
schon nötig wäre.


(Andrej Hunko [DIE LINKE]: Aha! Wo denn?)


– Natürlich. – Stellen Sie sich doch einmal vor, die Wirt-
schaft in Deutschland würde über fünf oder sechs Jahre
so zusammenschrumpfen und die Arbeitslosigkeit so
dramatisch steigen, wie es in Griechenland der Fall war.
Wer in diesem Haus würde es dann wagen, zu sagen:
„Wir machen weiter so“? Niemand würde das wagen.


(Andrej Hunko [DIE LINKE]: Sehr richtig!)


Deswegen ist es, glaube ich, richtig, zu sagen: Es gibt
Veränderungsbedarf. Auch wir sehen ihn, nicht in der
Form, dass wir die Hausaufgaben der griechischen Poli-
tikerinnen und Politiker machen müssen, sondern weil
wir Sorge um unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger in
Europa haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das gilt erstens im Hinblick auf die Gesundheitsver-
sorgung und die sozialen Härten. Wenn so viele junge
Menschen perspektivlos sind, dann ist das keine gute Sa-
che für Europa. Wir wollen, dass die Menschen, die in
den nächsten Jahren in Europa leben, Europa mit Zu-
kunftsperspektive und neuem Aufbruch verbinden und
nicht mit der Perspektivlosigkeit, die viele Menschen in
Griechenland heute empfinden müssen. Ich finde, das
sollte auch unsere heutige Debatte prägen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)






Dr. Gerhard Schick


(A) (C)



(D)(B)

Neben der Gesundheits- und Sozialpolitik gilt das
zweitens in Bezug auf die Frage: War es denn richtig, so
einseitig auf eine schnelle Schuldensenkung zu setzen?
Man muss sagen: Das hat ja wohl nicht geklappt.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Richtig!)


Der Schuldenstand Griechenlands ist heute deutlich hö-
her, als er damals war. Der Versuch, dieses Problem mit
einer Radikalkur zu lösen, hat nicht geklappt. Deswegen
muss man da ein Stück weit anders agieren. Sie, Herr
Staatssekretär, haben gerade gesagt, die griechische
Wirtschaft wachse in der Euro-Zone insgesamt am
stärksten. Aber das können Sie doch wohl nicht sagen,
ohne hinzuzufügen, dass die Euro-Zone insgesamt in ei-
ner desaströsen wirtschaftlichen Lage ist, dass wir drin-
gend mehr Investitionen brauchen und dass die Situation
überhaupt nicht zufriedenstellend ist. Ich bitte Sie, da
endlich nachzulegen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Drittens gilt es, sich genau mit der Frage eines Schul-
denschnitts zu beschäftigen. Klar ist doch: Aktuell ist
der Schuldenstand Griechenlands nicht das zentrale Pro-
blem, weil das Land mit einem Zinsdienst von 1,8 Pro-
zent der Wirtschaftsleistung im Moment nur geringe
Zinsen auf seine Staatsschulden zahlt; nach anfänglichen
Fehlern wurden die Schulden ja inzwischen für längere
Zeit gestundet. Ein Schuldenschnitt bringt also keine un-
mittelbare Entlastung; das ist richtig. Aber wer kann sich
denn vorstellen, dass ein solcher Schuldenstand wirklich
abgetragen werden kann?


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Darum geht es doch!)


Das ist eine große Hypothek für die Zukunft. Deswegen
ist die Forderung, die wir seit längerem erheben und die
viele Ökonomen unterstützen, richtig: Wir brauchen ei-
nen Weg der Entschuldung, der natürlich wieder an be-
stimmte Konditionen und Vereinbarungen geknüpft ist.
Genau das ist unser Vorschlag.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dieser Vorschlag ist in der längeren Perspektive zwar
richtig, schafft aber kurzfristig keine Entlastung. Wir
können aber nicht einfach zusehen; denn die soziale und
wirtschaftliche Lage bleibt weiter schwierig. Da braucht
es Antworten, und zwar nicht nur die, dass die griechi-
sche Regierung da irgendwas einfordert. Wir müssen
– auch aus unserem Interesse an einer funktionierenden
Entwicklung in Griechenland – schauen, dass wir Inves-
titionen stärken und dass die Schwächsten in der griechi-
schen Gesellschaft Unterstützung bekommen; das ist uns
allen wichtig wegen der Zukunft Europas.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1807910900

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Antje

Tillmann, CDU/CSU, das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Antje Tillmann (CDU):
Rede ID: ID1807911000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Im letzten Jahr
haben wir den 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten
Weltkriegs begangen, der Ausbruch des Zweiten Welt-
kriegs jährte sich zum 75. Mal. Gott sei Dank haben wir
seitdem keine solchen Jahrestage mehr!

Europa ist für mich nicht nur eine Union in Finanzan-
gelegenheiten, sondern vor allem eine Friedens- und
Werteunion. Europa ist mir persönlich sehr viel mehr
wert als ein Hilfspaket. Diese Werteunion bedeutet aber,
dass man vertrauensvoll zusammenarbeitet und Regeln,
die man sich gegeben hat, einhält


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Mit weniger spekulativen Werten!)


und dass man versucht, eine Politik zu machen, die nicht
zulasten der europäischen Partner geht. Wer Fehler in
seiner Landespolitik macht, sollte diese Fehler auch
selbst ausbügeln müssen. Trotzdem gibt es Situationen,
wo wir füreinander einstehen müssen und Hilfen erfor-
derlich sind.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Genau so ist es gewesen. Es ist auch keineswegs so, dass
Griechenland das einzige Land gewesen wäre, das Feh-
ler gemacht hat. Ich erinnere nur an 2005, wo wir die
rote Laterne in Europa getragen haben, wo wir dazu bei-
getragen haben, den Stabilitäts- und Wachstumspakt auf-
zuweichen. Das war nicht zuletzt der Beginn einer
Staatsschuldenkrise in Europa; es gab also auch Fehler,
die wir gemacht haben.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Wohl wahr!)


Seitdem haben wir alle gemeinsam versucht, Europa
finanzpolitisch sicherer zu machen. Griechenland hat
uns aufgerüttelt. Wir haben teilweise – nicht nur wegen
der Banken- und Staatsschuldenkrise, auch wegen Grie-
chenland – finanzpolitisch den Atem angehalten. Das
war aber auch positiv: Es hat dazu geführt, dass wir
Maßnahmen auf den Weg gebracht haben, bei denen wir
nicht geglaubt hätten, dass das in dieser Geschwindig-
keit geht. Ich nenne den Fiskalvertrag, bei dem innerhalb
von anderthalb Jahren fast alle Mitgliedstaaten der Euro-
päischen Union eine Schuldenbremse in ihren Verfas-
sungen ratifiziert haben.


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die sie vorher schon mit dem Maastricht-Vertrag ratifiziert hatten!)


Deutschland hat sich verpflichtet, seinen Schuldenstand
bis 2022 auf unter 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
zu reduzieren.

Und schon geht es wieder los: Sollen die Verträge ein-
gehalten werden? Die erste Null im Haushalt führt dazu,
dass viele Seiten sagen: Na, so ernst war das nicht ge-
meint. – Da sind wir gefragt, die Verträge, die wir unter-
schrieben haben, einzuhalten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)






Antje Tillmann


(A) (C)



(D)(B)

Wir haben den Stabilitäts- und Wachstumspakt wieder
fitgemacht, wir haben das 3-Prozent-Defizitkriterium
konkretisiert. Doch auch da geht es schon wieder los: Es
wird jetzt interpretiert und ausgelegt, es sollen zusätzli-
che Maßnahmen in die 3 Prozent eingerechnet werden
dürfen. Auch da besteht die Gefahr, dass Verträge, die
gerade erst vereinbart wurden in der Europäischen
Union, schon wieder nicht eingehalten werden.

Gut, dass wir den ESM eingeführt haben aufgrund der
Situation in Griechenland. Wie hätte es ausgesehen,
wenn ein größeres Land uns dazu gezwungen hätte, ei-
nen solchen Mechanismus einzurichten! Wie gut, dass
wir an dieser Stelle anhand eines kleineren Landes Er-
gebnisse und Gefahren diskutieren konnten!

Innerhalb kürzester Zeit haben wir eine Bankenunion
samt Aufsicht und Bankenabwicklung vereinbart. Hätten
wir diese Bankenunion schon vor der Griechenland-
Krise gehabt, dann hätte ein großer Teil der griechischen
Probleme da abgeladen werden können, wo er hingehört:
bei den Anteilseignern, bei denjenigen, die aus Krisen
mit Gewinn hervorgehen. Wir haben erstmalig ein
Bail-in eingeführt: Anteilseigner müssen sich nun in Kri-
sensituationen an der Rettung von Instituten beteiligen.
Das hätte auch Griechenland schon geholfen. Auch hier
tun wir gut daran, darauf Wert zu legen, dass diese Ver-
einbarungen eingehalten werden.

Griechenland hat sich auf den Weg gemacht, die Ver-
einbarungen, die es eingegangen ist, einzuhalten. Ja, das
ist ein langer und schmerzhafter Weg – ich weiß, dass
wir den Menschen in Griechenland viel abverlangen mit
diesen Maßnahmen –; aber Griechenland hat sich auf
den Weg gemacht, und die ersten zarten Pflänzchen des
Erfolgs kann man sehen: Das Wachstum liegt bei 3 Pro-
zent, und bei der Unterschreitung des Maastricht-Kriteri-
ums von 3 Prozent Defizit steht Griechenland besser da
als manch anderes Land, das heute auch in der Diskus-
sion ist. Diesen Weg sollten wir weitergehen.

Wenn wir bei all diesen Verträgen jedes Mal, wenn ir-
gendwo Wahlkampf ist, eine Diskussion im Deutschen
Bundestag führen würden, dann könnten wir uns Ver-
handlungen ganz sparen. Deshalb gibt es aus meiner
Sicht auch überhaupt keinen Grund, das heute zu thema-
tisieren. Auch vonseiten Griechenlands gibt es aktuell
nicht den Wunsch, die Verträge zu ändern. Sie sind abge-
schlossen und werden hoffentlich bis Ende Februar auch
eingehalten. Nach der Wahl wird man gucken, wie es
dann weitergeht.

Selbstverständlich kann man zu jeder Zeit über neue
Situationen sprechen. Ich tue das am liebsten dann, wenn
ich glaube, dass bei allen Anstrengungen in manchen
Bereichen noch Luft nach oben ist. Das ist beim Kampf
gegen die Steuerhinterziehung,


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Richtig!)


bei der Privatisierung und bei der Verschlankung der
Verwaltungen der Fall. Je besser sich Griechenland hier
aufstellt, umso besser können wir reagieren und an der
einen oder anderen Stelle nachjustieren.
Ich glaube aber, im Moment tun wir alle gut daran,
unsere Zusagen einzuhalten – wir in Deutschland und
auch Italien und Frankreich mit ihren Haushalten, aber
auch Griechenland. Wir sollten das tun, damit diese Wer-
tegemeinschaft bestehen bleibt. Europa ist wertvoll – für
Deutschland und für Griechenland.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich hoffe, dass wir dieses wertvolle Europa nicht
durch Finanzprobleme gefährden. Das sollten wir nicht
tun. Wir werden gemeinsam eine Lösung finden. Auf
diesen Weg haben wir uns alle gemeinsam gemacht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1807911100

Vielen Dank. – Als nächster Redner spricht Ewald

Schurer, SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ewald Schurer (SPD):
Rede ID: ID1807911200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen

und Kollegen! In meinem Bewusstsein und, ich denke,
auch im Bewusstsein des Parlaments hier ist und bleibt
Griechenland selbstverständlich inmitten des politischen
Europas und der Währungsunion. Das ist vom Vertrag
her so angelegt. Nach gewissen Irritationen ist und bleibt
Griechenland integrativer Bestandteil dieser Europäi-
schen Währungsunion.

Griechenland gehört in meinem Bewusstsein genauso
zu Europa wie jedes der 16 Bundesländer zu Deutsch-
land. Das ist Ausdruck des föderativen europäischen Be-
wusstseins und für mich eine zentrale Aussage, die von
den Kolleginnen und Kollegen in der Debatte hier bisher
weitgehend bestätigt wird.

Bei den Wahlen am 25. Januar 2015 werden die grie-
chischen Bürgerinnen und Bürger von Thessaloniki im
Norden über Athen bis zur griechischen Inselwelt und
nicht der Deutsche Bundestag entscheiden. Die Wahl
wird ein politisches Datum markieren, und mit deren Er-
gebnis werden wir vernünftig umgehen müssen. Das
werden wir – so zeigt es diese Debatte – auch tun. Der
Bundestag entscheidet diese Wahlen keinesfalls. Die
offene und qualitativ gute Diskussion ist aber eine Bot-
schaft, die auch in der Öffentlichkeit in Griechenland
ankommt, ohne hier im engeren Sinne irgendwie wahl-
beeinflussend wirken zu wollen.

Es ist eine Tatsache, dass Griechenland in diesem
schwierigen Prozess der letzten fünf bis sechs Jahre fast
ein Drittel an Wertschöpfung, an wirtschaftlicher Tätig-
keit und an Arbeitsplätzen verloren hat. Um die Kritik
der Opposition aufzunehmen: Das ist sicherlich subopti-
mal gelaufen.

Wir müssen uns der jetzigen gesellschaftlichen Reali-
tät in Griechenland zuwenden. Es kann jetzt mit Blick
auf den europäischen Geist nur darum gehen, dass sich
jedwede Regierung – es wird eine Koalition geben –, die
nach dem 25. Januar 2015 antritt, sehr schnell der gesell-





Ewald Schurer


(A) (C)



(D)(B)

schaftspolitischen und ökonomischen Realität zuwenden
wird. Ich bin davon überzeugt, dass das gelingen wird.

Ich habe im Internet gelesen, dass der Spitzenkandi-
dat von SYRIZA gesagt hat, dass er die Haushaltskonso-
lidierung im Falle eines Wahlsieges weiterhin uneinge-
schränkt fortsetzen wird. Er unterstützt das, was wir
Sozialdemokraten und die Union, aber auch die Grünen
gesagt haben. Wir wollen alles tun, damit es in Grie-
chenland wieder Investitionen in Wertschöpfung gibt.
Konsolidierung und Wertschöpfung: Das muss für die
griechische Regierung und für die EU als Partner Grie-
chenlands die große Formel sein.

Ich bin davon überzeugt, dass Griechenland nach den
erschütternden Absenkungsprozessen künftig zum Bei-
spiel auch wieder eine soziale Infrastruktur braucht.
Natürlich brauchen die Menschen in Griechenland
möglichst bald auch wieder einen Zugang zum Gesund-
heitssystem. Die Menschen dort brauchen eine Gesund-
heitskarte – wie in Deutschland und auch in anderen eu-
ropäischen Ländern –; das ist unbestritten. Dahin muss
es beim ökonomischen und sozialen Wiederaufbau des
Landes gehen. Das ist die Ziellinie, zumindest von uns
Sozialdemokraten. Ich habe hier in der bisherigen Dis-
kussion dazu sehr viel Zustimmung wahrgenommen.

Griechenland braucht den Ausbau der gesamten tech-
nischen und logistischen Infrastruktur für eine bessere
Wertschöpfung,


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ja!)


weil es am Ende darum geht, künftig die Schulden des
Landes, unabhängig von der technischen Linie, zu bedie-
nen. Es braucht wieder einen gestärkten Wertschöp-
fungsprozess – der Herr Staatssekretär Meister hat ihn
ganz am Anfang angesprochen –, weil er die Vorausset-
zung für neue Arbeit, höhere Leistungen und damit das
Zurückzahlen der Schulden am Ende des Tages als mit-
telfristige und langfristige Perspektive ist. Nur so geht
es. Dieses Ziel muss Griechenland in der Zukunft verfol-
gen. Darüber gibt es trotz verschiedener Interpretationen
vielleicht einen Minimalkonsens heute in dieser doch
guten Debatte des Deutschen Bundestages.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Ende der De-
batte, aber auch meines Beitrages sei noch einmal gesagt:
Das europäische Bewusstsein hat neben den ökonomi-
schen und sozialen Tatbeständen auch eine psychologi-
sche Komponente. Die Solidarität mit Griechenland in
der jetzigen Phase ist von allen Rednerinnen und Red-
nern in irgendeiner Weise zum Ausdruck gebracht wor-
den.

Die Botschaft, die von dieser heutigen Aktuellen
Stunde Richtung Griechenland ausgeht, ist ganz klar:
Die Bundesregierung, die Koalition, teilweise auch die
Oppositionsparteien, wollen die positive Entwicklung
Griechenlands, egal wie die Wahlen ausgehen. In diesem
Sinne glaube ich, dass wir diese Entwicklung mit Opti-
mismus und mit Tatkraft unterstützen werden.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1807911300

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Jürgen Hardt

von der CDU/CSU das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Jürgen Hardt (CDU):
Rede ID: ID1807911400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

In den vergangenen fünf Jahren, seit wir uns hier mit
dem Thema Euro-Rettung beschäftigen, sind drei von
vier Parteien hier im Hause mit diesem Thema, wie ich
finde, sehr verantwortungsvoll umgegangen.


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie meinen nicht die FDP, oder? – Gegenruf des Abg. Johannes Kahrs [SPD]: In diesem Hause!)


– Ich meine die in diesem Hause vertretenen Parteien. –
Wir haben damals vor einer schwierigen Entscheidung
gestanden. Im Grunde standen wir vor einer Weggabe-
lung mit drei ganz unterschiedlichen Wegen.

Der erste Weg wäre gewesen: Deutschland und die
anderen Staaten zahlen alles. Das wäre nicht nur den
Steuerzahlern in diesen Ländern schwer vermittelbar ge-
wesen, sondern das hätte auch mit Blick auf die Ursa-
chen der Krise keine Probleme gelöst. Das hätte uns
vielleicht einen kleinen zeitlichen Aufschub verschafft,
aber das Problem wäre umso schwerer auf uns zurückge-
fallen.

Der zweite Weg wäre gewesen: Wir kapitulieren vor
der Situation und nehmen in Kauf, dass der Euro-Raum
diffundiert und zusammenbricht. Was das für die euro-
päische Wirtschaft, insbesondere für die deutsche Wirt-
schaft – Exportnation Nummer eins –, für Folgen gehabt
hätte, sehen wir heute bei einem Blick auf die Schweizer
Börse. Dort kann man sehen, wohin es führt, wenn der
Kurs einer Währung kurzfristig nach oben schnellt und
mit welchen Schwierigkeiten die Wirtschaft dann zu
kämpfen hat. Das wäre auch aus deutscher Sicht keine
Lösung gewesen.

Der dritte Weg war der komplizierte, anstrengende
und langwierige, aber, wie wir heute sehen, letztlich er-
folgreiche Weg. Wir haben gesagt: Wir wollen diesen
Ländern, die Hilfe brauchen, solidarisch zur Seite ste-
hen. Wir wollen ihnen helfen. Wir wollen ihnen aber
auch abverlangen, dass sie die notwendigen Reformen
durchführen.

Insofern war die Meldung, die herumgeisterte, es
gäbe in der Politik der Bundesregierung gegenüber Grie-
chenland einen Kurswechsel, eine selbstgebratene Zei-
tungsente. Wir haben stets all unsere Hilfsprogramme,
unabhängig davon, an welches Land sie gerichtet waren,
mit den Ländern gemeinsam ausgestaltet und gesagt:
Hier sind die Hilfen, auf die ihr euch verlassen könnt.
Dort sind die notwendigen Anpassungsmaßnahmen, die
ihr vornehmen müsst.





Jürgen Hardt


(A) (C)



(D)(B)

In dieser ganzen Diskussion, gerade in diesen Tagen,
hat der Musikant der Linken – so möchte ich ihn heute
einmal bezeichnen – mit seiner Büttenrede – das sage ich
im Hinblick auf seine kämpferische Rede –


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)


eine reine Wahlkampfveranstaltung abgehalten. An Ihre
Adresse sage ich ganz konkret: Wir dürfen Ursache und
Wirkung nicht miteinander verwechseln. Die Situation
in Griechenland ist für ganz viele Menschen bitter: für
junge Menschen, Rentner, Menschen, die auf soziale
Unterstützung angewiesen sind, die einen Arbeitsplatz
suchen und ihren vorherigen vielleicht verloren haben,
weil das bisherige Unternehmen nicht mehr wettbe-
werbsfähig ist. All das ist bitter, aber die Ursache dafür
liegt natürlich in einer verfehlten Wirtschafts- und Fi-
nanzpolitik griechischer Vorgängerregierungen.


(Andrej Hunko [DIE LINKE]: Nicht nur! – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Auch der Christdemokraten! Auch der Konservativen!)


Es gibt dann die Behauptung, dass die sogenannte
Austeritätspolitik der falsche Weg sei, um wirtschaftlich
auf die Beine zu kommen.


(Andrej Hunko [DIE LINKE]: So ist es!)


Ich sage Ihnen ganz konkret: Die Staaten in der Euro-
päischen Union, angefangen bei Deutschland, die die
solidesten Staatsfinanzen haben, haben auch beim Ar-
beitsmarkt, bei der Wirtschaftsentwicklung und bei In-
vestitionen und Wachstum die besten Zahlen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Von daher ist diese These allein durch die reale Betrach-
tung der Europäischen Union, wie sie sich heute dar-
stellt, zu widerlegen.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Haben wir eine Austeritätspolitik? Das wusste ich gar nicht!)


Dass in einem europäischen Land gemäß der Verfas-
sung demokratische Wahlen durchgeführt werden, ist
nichts, was uns oder die Finanzmärkte in irgendeiner
Weise erschrecken müsste. Es müsste uns vielmehr er-
schrecken, wenn keine Wahlen stattfinden würden. Denn
es ist in europäischen Staaten üblich, dass sie als Demo-
kratien regelmäßig Wahlen durchführen.

Ich glaube, dass die Regierung der Griechen, die nach
der Wahl zustande kommt, auch nichts an den funda-
mentalen Rahmenbedingungen ihrer Arbeit ändern kann.
Diese bestehen darin, dass wir auf einem Weg der lang-
samen und schweren Konsolidierung der Staatsfinanzen
sind. Ich glaube deshalb, dass es unabhängig von der
Frage, wer dieses Land zukünftig regieren wird, mit
Griechenland in der Euro-Zone weitergehen wird. Ich
glaube, dass das im Interesse der gesamten Euro-Zone,
aber auch im Interesse Griechenlands ist.

Die Belastungen Griechenlands durch die Staats-
schulden, die überwiegend aus den Programmen finan-
ziert werden, sind verglichen mit dem, was man auf dem
Kapitalmarkt an Zinsen zahlen müsste, relativ niedrig.
Insofern ist das Verbleiben in dem System auch im grie-
chischen Interesse. Es ist allein haushalterisch von gro-
ßem Vorteil. Die Hilfsprogramme, die die Europäische
Union anbietet, sind ebenfalls einzigartig. Auf sich allein
gestellt könnte ein Staat so etwas nie erreichen.

Insofern habe ich keine Sorge, dass die Bürgerinnen
und Bürger Griechenlands bei ihrer Wahlentscheidung
im Hinterkopf haben, was sie geleistet und an Opfern ge-
bracht haben, und dass sie sich darüber im Klaren sind,
dass sie die Chance haben, die Früchte dieser Opfer und
dieser Leistungen einzufahren, wenn sie auf dem Kurs
bleiben, den wir gemeinsam mit ihnen eingeschlagen ha-
ben.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Schon ein bisschen Wahlkampf!)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1807911500

Vielen Dank. – Als letzter Redner in dieser Debatte

hat Norbert Barthle für die CDU/CSU das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Norbert Barthle (CDU):
Rede ID: ID1807911600

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine sehr verehr-

ten Damen und Herren! Am Ende einer solchen Aktuel-
len Stunde muss man sich die Frage stellen: Cui bono?
Wem nutzt es eigentlich?

Ich glaube, genutzt hat es Griechenland. Wir konnten
heute die Gelegenheit ergreifen, vor dem Deutschen
Bundestag nochmals klarzustellen, dass wir die Zukunft
Griechenlands im Euro-Raum sehen. Es ist Aufgabe die-
ses Parlaments, das entsprechend zum Ausdruck zu brin-
gen. Lieber Kollege Manuel Sarrazin, du bist doch derje-
nige, der immer sagt: Das ist nicht Angelegenheit der
Regierung, sondern des Parlaments. – Die Regierung
muss also nicht auf jeden durch eine Zeitungsmeldung
entstehenden Medienhype reagieren, sondern wir tun das
und stellen klar, wie die Sachlage ist: Unsere Einstellung
zu Griechenland hat sich in keiner Weise verändert.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Situation hat sich verändert. Das ist richtig. Wir
haben Brandmauern errichtet. Wir haben den ESM und
die Bankenunion. Wir haben Portugal, Irland und Spa-
nien gesichert. Insofern gibt es nicht mehr die Anste-
ckungsgefahren, die es seinerzeit gab. Aber unsere Posi-
tion ist dieselbe geblieben.

Wem hat das nichts genutzt? Ich bin überzeugt, den
Linken.


(Johannes Kahrs [SPD]: Das ist nichts Neues!)


Und warum? Herr Kollege Dehm, die Art und Weise,
wie Sie den griechischen Wahlkampf ins deutsche Parla-
ment gezogen haben, finde ich etwas beschämend. Sie
haben ein Bild von Griechenland gezeichnet, das ich mir
nicht zu eigen mache. Sie haben die Namen Samaras,





Norbert Barthle


(A) (C)



(D)(B)

Venizelos und Papandreou genannt. Sie haben von poli-
tischer Inzucht und Korruption geredet,


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ja!)

und dann haben Sie eine Person und eine Partei ange-
sprochen, nämlich Tsipras und die SYRIZA, und das
seien die Guten.


(Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])


Dieses Bild von Griechenland habe ich nicht, Herr
Dehm. Deshalb mache ich mir das, was Sie darstellen,
nicht zu eigen. Ich finde das beschämend.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Dass die anderen die Schlechten sind, das wissen Sie! Und dass sie korrupt sind, wissen Sie auch! – Gegenruf des Abg. Johannes Kahrs [SPD]: Dass Sie manchmal keine Ahnung haben, auch!)


Eines muss man auch Herrn Tsipras vorwerfen, Herr
Dehm. Er erklärt nicht nur seinem Volk, sondern der ge-
samten Öffentlichkeit, dass Griechenland vor allem von
der Schuldenlast, die ihm die europäischen Geldgeber
auferlegt haben, erdrückt werde. Er spricht sogar von
„Fiscal Waterboarding“. Das ist meines Wissens eine
ziemlich üble Methode, jemanden zu quälen.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Jetzt wird auch Wahlkampf gemacht, oder?)


– Ich mache keinen Wahlkampf, sondern ich stelle Dinge
richtig.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Keinen Wahlkampf?)


Sie sollten sich einmal mit der Sachlage auseinanderset-
zen.

Es gab ein erstes Griechenland-Programm. Das waren
bilaterale Kredite. Kredite aus dem ersten Griechenland-
Programm muss Griechenland in den Jahren 2020 bis
2040 tilgen, und Griechenland bezahlt keine Zinsen für
diese Kredite. Es zahlt über Jahre keine Tilgung und
keine Zinsen.

Es gab ein zweites Griechenland-Programm im Rah-
men der EFSF. Die Kredite aus diesem Programm muss
Griechenland von 2023 bis 2057 tilgen. Es muss keine
Zinsen zahlen. Griechenland muss also derzeit weder til-
gen noch Zinsen zahlen. Wo herrscht dort bitte „Fiscal
Waterboarding“?


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das kann ich Ihnen vorrechnen! – Gegenruf des Abg. Johannes Kahrs [SPD]: Das wahrscheinlich nicht! Sie haben doch keine Ahnung!)


Die einzigen Kredite, die Griechenland derzeit be-
dient, sind die des IWF. Ich habe kein Problem damit,
dass Griechenland mit dem IWF über eine Streckung
dieser Kredite verhandelt. Wer aber die europäischen
Geldgeber ins Benehmen setzt und behauptet, sie seien
schuld an den in Griechenland bestehenden Schulden-
problemen, zeichnet ein falsches Bild.

Damit komme ich zu den Grünen. Sie haben sich die
Forderung nach einem Schuldenschnitt zu eigen ge-
macht. Das werde ich im Leben nicht verstehen.

(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein sanktionierter Schuldenschnitt!)


Denn jede Diskussion über einen Schuldenschnitt unter-
gräbt das letzte Vertrauen privater Geldgeber; öffentliche
Geldgeber lassen wir einmal außen vor.


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die Öffentlichen sind doch die meisten!)


Sie haben offenbar nicht verstanden, worum es geht. Ziel
unserer europäischen Rettungsschirme ist nicht, einem
Land seine Schulden abzunehmen,


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Sondern den Banken!)


sondern Ziel ist es, das betreffende Land in die Lage zu
versetzen, sich zu erträglichen Zinsen auf dem Kapital-
markt wieder selbst zu versorgen, also auf eigenen Fü-
ßen zu stehen. Das ist unser Ziel.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Träumen Sie doch weiter!)


Der ESM ist kein Schuldentilgungsfonds, sondern ein
Rettungsfonds. Das haben Sie offensichtlich noch nicht
begriffen. Ziel muss es sein, dass sich Griechenland
möglichst schnell wieder selbst Kredite zu erträglichen
Zinsen – wie schon einmal geschehen – auf dem Kapital-
markt beschaffen kann;


(Zuruf des Abg. Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


darauf sind unsere Bemühungen gerichtet. Darin unter-
stützen wir das Land mit all unseren Kräften.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Illusionist!)


Zum Ende der Debatte weise ich noch auf Folgendes
hin: Herr Gabriel hat die europäischen Geldgeber davor
gewarnt, sich erpressen zu lassen. Auch das ist richtig.
Solidarität? – Ja, aber wir verstehen unter Solidarität et-
was anderes als die Linken. Wir sind nicht nur mit Lin-
ken solidarisch, sondern mit allen. Aber Solidarität setzt
auch Solidität voraus, also Hilfe gegen Selbsthilfe. Da-
bei bleibt es. Ich bin zuversichtlich, dass Griechenland
eine gute Zukunft hat. Ich wünsche diesem Land alles
Gute.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1807911700

Vielen Dank. – Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:

Beratung des Antrags der Bundesregierung

Ausbildungsunterstützung der Sicherheitskräfte
der Regierung der Region Kurdistan-Irak
und der irakischen Streitkräfte

Drucksache 18/3561





Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn


(A) (C)



(D)(B)

Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und bitte die Kolleginnen
und Kollegen, die an dieser Aussprache teilnehmen wol-
len, sich zu setzen, damit wir die Debatte beginnen kön-
nen.

Als erster Redner in der Debatte hat der Herr Bundes-
minister Dr. Frank-Walter Steinmeier das Wort.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir alle erinnern uns noch sehr gut: Kaum vier Monate
ist es her, als wir hier im Hohen Haus mit großem Ernst
über unsere Verantwortung im Kampf gegen ISIS debat-
tiert haben. Mit Entsetzen in der Stimme sind Sie in
Ihren Redebeiträgen der Blutspur gefolgt, die ISIS bei
seinem scheinbar unaufhaltsamen Vormarsch im Irak
hinterlassen hat.

Vor vier Monaten hatten die terroristischen Horden
schon ein Drittel des Landes unter ihre blutige Herr-
schaft gebracht. Es schien nur noch eine Frage der Zeit
zu sein, bis der gesamte Irak in ihre Hände fallen würde.
Auf dem Weg dorthin wurde alles niedergebrannt und
niedergemetzelt, was sich ihnen in den Weg stellte. Sys-
tematisch wurden Dörfer dem Erdboden gleichgemacht,
die männlichen Bewohner ermordet, Frauen vergewal-
tigt und auf neu errichteten Sklavenmärkten verkauft
oder zur Befriedigung der ISIS-Kämpfer während der
Kampfpausen – ein unvorstellbares Martyrium – nach
Syrien geschickt.

Gerade vier Monate ist es her, als uns der Hilfeschrei
der Menschen aus Sindschar erreichte. Tag für Tag tiefer
drang der barbarische Feldzug des ISIS in die Bergland-
schaft des Nordirak vor. Tal für Tal, Dorf für Dorf fiel in
die Hände von ISIS. Tausende waren tot. Der Rest war
schutzlos. Die irakische Armee war nicht präsent oder
kämpfte nicht. Die kurdischen Peschmerga waren kaum
imstande, sich gegen gut ausgerüstete ISIS-Truppen zur
Wehr zu setzen.

Den Menschen im Sindschar, vornehmlich Jesiden,
denen, die noch lebten, blieb nichts als die Flucht, eine
gefahrvolle Flucht, auf der viele noch Opfer des ISIS
wurden oder auf bergigen Pfaden bei sengender Hitze
und ohne Wasser verdurstet sind. Diejenigen, die sich
mit letzter Kraft retten konnten, haben überlebt, weil es
einen Zufluchtsort im kurdischen Arbil gab, in Flücht-
lingslagern, in Kirchen oder bei Verwandten. Dass dieser
Zufluchtsort erhalten geblieben ist, dass die Region Nord-
irak-Kurdistan nicht in die Hände des ISIS gefallen ist,
dass der Vormarsch des ISIS gerade hier zum Halten ge-
bracht worden ist, das ist zuallererst das Verdienst der
Peschmerga. Es ist deren Mut und Bereitschaft zu ver-
danken, sich den ISIS-Horden auch mit unzureichender
Ausrüstung entgegenzustellen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Aber dass wir aus Deutschland heraus einen Beitrag
dazu leisten konnten, darüber bin ich froh.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich bin froh, dass wir Verantwortung in Kenntnis aller
Risiken und inmitten von Unwägbarkeiten übernommen
haben. Den Dank dafür höre ich nicht nur in Arbil, son-
dern auch in Bagdad. Aber ich sage das nicht, weil wir
einen Anlass zum Schulterklopfen oder zur Selbstzufrie-
denheit hätten; denn nichts ist erledigt.

Humanitär ist nichts erledigt, weil Zehntausende
Flüchtlinge in überforderten Lagern sind und mit dem
Nötigsten versorgt werden müssen. Sie müssen gerade
jetzt im Winter vor dem Erfrieren geschützt werden. Wir
sind Gott sei Dank ganz vorne dabei mit humanitärer
Hilfe. 100 Millionen Euro haben wir bereitgestellt. Aber
wir sind weiter gefordert. Ich darf sagen: Auch dank der
Haushaltsentscheidung dieses Parlaments werden wir
weiterhelfen können. Dafür meinen herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auch politisch ist nichts erledigt. Der politische Neu-
anfang unter Ministerpräsident al-Abadi war gut. Sein
Schritt auf diejenigen zu, die in der irakischen Politik
ausgegrenzt waren, war richtig. Die Einigung mit dem
Nordirak über die Verteilung der Öleinnahmen war not-
wendig. Aber all das reicht nicht. Die Unterstützung vie-
ler sunnitischer Stämme für ISIS wird nur enden, wenn
Sunniten sichtbare Präsenz in Staat und Armee einge-
räumt wird. Nur so wird ISIS der Boden für seine ver-
brecherische Politik entzogen. Genau darum muss es im
Kern im Irak jetzt gehen.

Aber auch militärisch ist nichts erledigt. Die Pesch-
merga – das wissen Sie – sind keine Offensivarmee. Sie
werden kaum in der Lage sein, großflächige Geländege-
winne zu erreichen. Worauf es jetzt ankommt, ist – das
scheint manchem wenig zu sein –, zu sichern, was im
Augenblick gehalten wird. Dazu haben wir beigetragen.
Ich will sagen: Das ist zentral für Arbil, für die Men-
schen in der Region und auch für die Sicherheit der
Flüchtlinge; denn auch humanitäre Hilfe wird nur an-
kommen, wenn wir die nicht von ISIS besetzten Teile
des Nordiraks als Zone von Ruhe und Sicherheit bewah-
ren.

Um dies zu gewährleisten, haben uns sowohl Bagdad
als auch Arbil um weitere Unterstützung gebeten, weil
gerade auch in den Kämpfen der letzten Monate nicht
nur Ausrüstungs-, sondern auch Ausbildungsmängel
deutlich geworden sind. Ich verspreche: Wir werden
nichts an unserer humanitären Verpflichtung oder an der
politischen Verantwortung bei der Suche nach Lösungen





Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) (C)



(D)(B)

vernachlässigen, aber ich plädiere sehr dafür, dass wir
uns der erbetenen Ausbildungsunterstützung der Iraker
nicht verweigern.

Die Bundesregierung hat entschieden, der Bitte zu
folgen und mit maximal 100 Soldatinnen und Soldaten
und im Verbund mit anderen Europäern Ausbildungs-
hilfe in der Region Kurdistan-Irak zu leisten, nicht mehr
und nicht weniger. Es geht nicht um einen Kampfeinsatz,
es geht nicht um Partneringmodelle à la Afghanistan, es
geht strikt um bedarfsorientierte Ausbildung und Bera-
tung von der Schwerstverwundetenversorgung über Mi-
nenräumung bis zum Umgang mit Sprengfallen.

Wir kooperieren mit internationalen, vornehmlich eu-
ropäischen Partnern, aber alles bleibt in der Gesamtver-
antwortung der kurdischen Behörden. Ich finde, das ist
verantwortbar, dazu sollten wir bereit sein, und deshalb
bitte ich um Ihre Unterstützung.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Abschließend, liebe Kolleginnen und Kollegen: In der
öffentlichen Diskussion ist gelegentlich die Frage aufge-
worfen worden, ob es für diesen Einsatz überhaupt eines
Mandates des Deutschen Bundestages bedarf. Es mag
Gründe für die damit verbundene Rechtsauffassung ge-
ben. Wir haben uns dennoch für diesen Weg und für ei-
nen Antrag auf ein Bundestagsmandat entschieden.

Sie wissen, einer Ermächtigung nach Kapitel VII der
UN-Charta bedarf es für das entschiedene Ausbildungs-
und Beratungsengagement im Nordirak nicht. Bagdad
und Arbil haben erstens eindeutig und schriftlich genau
um dieses Engagement gebeten. Zweitens hat der Si-
cherheitsrat festgestellt, dass ISIS eine Bedrohung für
den Weltfrieden und die internationale Sicherheit dar-
stellt.

Beschlossen wurde nicht nur eine Resolution, zum
Schutze der Staaten Maßnahmen zu treffen, durch die
der Zufluss von Foreign Fighters in die Konfliktregion
gestoppt und ebenso die Financiers der radikalislamisti-
schen Gruppierungen verfolgt werden; aufgefordert hat
der Sicherheitsrat vielmehr auch die internationale Ge-
meinschaft, darüber hinaus den Irak in seinem Kampf
gegen ISIS zu unterstützen. Dieser Aufforderung kom-
men wir im Rahmen unserer rechtlichen Möglichkeiten
nach. Damit ist den völkerrechtlichen wie den grundge-
setzlichen Voraussetzungen Genüge getan. Ich bitte um
die Unterstützung dieses Hauses.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1807911800

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin spricht Christine

Buchholz, Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Christine Buchholz (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807911900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Spiegel

Online meldet gerade, dass der Wissenschaftliche Dienst
des Bundestages die Verfassungsmäßigkeit dieses Ein-
satzes in Zweifel zieht. Die Linke teilt diese Einschät-
zung und fordert die Regierung auf, sich dazu zu positio-
nieren.


(Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister: Haben Sie gerade nicht zugehört?)


Wir sind nicht der Meinung, dass die Schwelle für Aus-
landseinsätze der Bundeswehr weiter herabgesetzt wer-
den soll.


(Beifall bei der LINKEN)


Aber lassen Sie mich inhaltlich gegen dieses Mandat
argumentieren. Im Jahr 2001 haben die USA und ihre
Verbündeten ihren sogenannten Krieg gegen den Terror
begonnen. Afghanistan und Irak wurden angegriffen und
besetzt. Das hat den Terror offenkundig nicht gestoppt.
Schaut man sich die Gräueltaten des IS und die Ausbrei-
tung von terroristischen Organisationen in Ländern wie
Jemen, Syrien, Irak an


(Dr. Franz Josef Jung [CDU/CSU]: Afghanistan ist kein Ausbildungsplatz für Terroristen mehr!)


und schaut man sich die terroristischen Aktivitäten in
Europa an, wie die schrecklichen Anschläge in Paris,
dann muss man feststellen: Es gehört zur Ehrlichkeit, zu
sagen: Es ist auch der von den USA und ihren Verbünde-
ten geführte Krieg gegen den Terror, es sind die Droh-
nenangriffe auf Hochzeitsgesellschaften, es sind die
nächtlichen Razzien in Dörfern, es ist Abu Ghureib, was
Hass geschürt und einen fruchtbaren Boden für die Aus-
weitung des Dschihadismus geschaffen hat.


(Beifall bei der LINKEN)


Ohne den Angriff auf den Irak im Jahre 2003, ohne
die folgende Invasion des Landes durch die US-geführte
Koalition der Willigen, die Hunderttausende Menschen
das Leben kostete und die religiöse Spaltung vertiefte,
würde es den sogenannten Islamischen Staat, diese un-
heilige Allianz aus Dschihadisten und Anhängern des
früheren Diktators Saddam Hussein, gar nicht geben.


(Beifall bei der LINKEN)


Die vergangenen Bundesregierungen haben den soge-
nannten Krieg gegen den Terror mal direkt, mal indirekt
unterstützt. Auch im Irak ist Deutschland schon längst
Teil der Koalition der Willigen.


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Jetzt erzählen Sie mal, was Sie gegen ISIS machen wollen!)


Die Linke hält diese Ausrichtung im Grundsatz für
falsch.


(Beifall bei der LINKEN)


Bei dem Bundeswehreinsatz, der heute erstmals im
Plenum diskutiert wird, geht es nicht nur um die Ausbil-
dung von Kämpfern in Irakisch-Kurdistan; vielmehr soll
der geplante Einsatz auch das Regime in Bagdad unter-
stützen. Dieses Regime kann sich nur mithilfe von radi-
kalschiitischen Milizen halten, die, so Amnesty Inter-
national, völlig straflos Verbrechen an sunnitischen
Gefangenen und Zivilisten begehen.





Christine Buchholz


(A) (C)



(D)(B)


(Rainer Arnold [SPD]: Und deshalb lassen wir die Menschen im Norden im Stich?)


Der Innenminister in Bagdad selbst ist Führer einer die-
ser Milizen.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Und deshalb schauen wir dem IS zu? – Henning Otte [CDU/CSU]: Wie können Sie das verantworten?)


Dort, wo die schiitischen Milizen Orte erobern, gibt
es sogenannte ethnische Säuberungen, zum Beispiel in
Dschurf al-Sachar, wo im Oktober 80 000 Sunniten vor
den Milizen flohen. Im Dezember haben Offiziere der
irakischen Armee das sunnitisch besiedelte Ackerbauge-
biet um Bagdad zur „Killing Zone“ erklärt, in der jeder
Mensch getötet werde. Ich sage: Die Bundeswehr darf
nicht zum Bündnispartner eines solchen Regimes wer-
den.


(Beifall bei der LINKEN)


Denn es bringt genau die Bedingungen hervor, die zur
sektiererischen Spaltung des Landes und zum Aufstieg
des sogenannten Islamischen Staates geführt haben.


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Ja, den gibt es ja schon! – Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Ihre Logik ist schwer nachvollziehbar! – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Ihre Rede ist viel zu lang! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


– Nun regen Sie sich nicht auf. Sie haben ja genug Rede-
zeit in diesem Saal.

Der Luftkrieg der Koalition der Willigen geht unter-
dessen weiter. Diese Bomben treffen immer wieder auch
Zivilisten. Obgleich es darüber Belege gibt, wird hier im
Bundestag nicht einmal die Frage nach zivilen Opfern
gestellt. Ich sage Ihnen: Der Tod von Frauen, Kindern
und Männern schafft neuen Hass und stärkt genau jene,
die Sie zu bekämpfen vorgeben.


(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der CDU/CSU)


Schauen wir uns das Mandat genau an: Die Bundes-
wehr soll also nicht nur die kurdischen Peschmerga, son-
dern auch irakische Streitkräfte ausbilden. Die Bundes-
wehr entsendet Offiziere auch in die Stäbe der irakischen
Streitkräfte und in die Stäbe der Kriegskoalition in
Kuwait. Die einzusetzenden Fähigkeiten reichen von Be-
ratung, Ausbildung und Führung bis hin zur Lagebild-
erstellung durch das militärische Nachrichtenwesen.
Schrittweise treibt die Bundesregierung Deutschland im-
mer tiefer in einen Krieg hinein, dessen Ende unabseh-
bar ist, und das macht die Linke nicht mit.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Elend der zum Teil schwer traumatisierten
Flüchtlinge im Nordirak ist kaum zu ertragen. Wir sa-
gen: Ja, es muss mehr humanitäre Hilfe im Norden ge-
leistet werden, um die katastrophale Situation der
Flüchtlinge zu verbessern. Auch muss das absurde PKK-
Verbot endlich aufgehoben werden, um den kurdischen
Widerstand zu stärken.

(Beifall bei der LINKEN – Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Womit kämpft die PKK?)


Doch all das wird zunichtegemacht, wenn die Bun-
desregierung gleichzeitig weiter Öl ins Feuer gießt und
im Bündnis mit US-Luftwaffe und radikal-schiitischen
Milizen sunnitische Bevölkerungsteile in die Hände des
IS treibt. Verlassen Sie den Weg von Krieg und Waffen-
lieferungen! Stellen Sie den Frieden und den Kampf ge-
gen Armut und Ausgrenzung im Irak ins Zentrum Ihrer
Bemühungen! Ändern Sie Ihre Politik! Denn dann kön-
nen Sie tatsächlich von sich behaupten, die Ursachen des
internationalen Terrorismus zu bekämpfen; mit diesem
Mandat allerdings nicht.


(Beifall bei der LINKEN – Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Dann müssten wir aber Leute wie Sie zur psychologischen Kriegsführung einsetzen!)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1807912000

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat die Bundes-

ministerin Dr. Ursula von der Leyen das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der
Verteidigung:

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wir waren mit einer Delegation vor fünf
Tagen in Bagdad und Arbil. An diesem Tag haben 4 Mil-
lionen Menschen in Frankreich und viele Hunderttau-
sende in Deutschland eindrucksvoll und unmissverständ-
lich gezeigt, dass die schrecklichen Ereignisse der
letzten Wochen und Monate uns alle angehen. Es geht
dabei nicht allein um den Kampf gegen den Terror – da-
rum geht es auch –, sondern auch um die Werte, die an-
gegriffen worden sind:


(Zurufe von der LINKEN)


die Achtung vor dem Leben anderer, das Recht, die ei-
gene Religion frei und friedlich zu leben, die Freiheit der
Meinung und des Wortes. Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, es ist diese Überzeugung, die uns eint – von den
Straßen von Paris bis tief in die Flüchtlingslager in Arbil
hinein.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Franzosen haben es auf den Punkt gebracht. Sie ha-
ben gesagt: Je suis Charlie. Je suis flic. Je suis juif. „Ich
bin Charlie“, das lässt sich fortsetzen: Ich bin Jeside. Ich
bin Kurde. Ich bin Christ. Ich bin Moslem.

In Frankreich hat der Terror 17 Menschen das Leben
gekostet, und wir trauern um jeden einzelnen. In Syrien
und im Irak hat ISIS Millionen Menschen brutalster Ver-
folgung ausgesetzt, sie zu Flüchtlingen gemacht, Zigtau-
sende niedergemetzelt; die meisten davon übrigens mus-
limischen Glaubens. Daher ist es gut, dass unter den über
60 Staaten, die sich zusammengetan haben, um ISIS zu
stoppen, neben vielen westlichen Ländern vor allem
auch arabische Staaten die Initiative ergriffen haben.





Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen


(A) (C)



(D)(B)

Ich habe am Montag die Gelegenheit gehabt, mit dem
jordanischen König zu sprechen. Er hat mir versichert,
dass die arabischen Staaten es als ihre eigene Pflicht an-
sehen, den Terror zu stoppen, der den Irak an den Rand
des Abgrunds gebracht hat, aber inzwischen auch die
Menschen überall auf der Welt bedroht. Er sagte es un-
gefähr so: Das ist unser Kampf, den wir führen wollen.
Wir wollen ihn gewinnen, aber wir brauchen eure Hilfe. –
Meine Damen und Herren, diese Hilfe wollen wir ihnen
geben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ebenso haben es die irakische Zentralregierung und
die kurdische Regionalregierung zum Ausdruck ge-
bracht. Sie wollen sich ISIS entgegenstellen, sie wollen
an der Einheit des Iraks und an der Teilhabe aller arbei-
ten, aber sie brauchen dafür Unterstützung.

Daher ist es auch gut, dass Deutschland sich ebenfalls
nach seinen Möglichkeiten einbringt: politisch – darauf
ist Frank-Walter Steinmeier eingegangen –, mit Hilfe für
die Flüchtlinge – ich verweise auf Gerd Müller als Bun-
desminister für Zusammenarbeit –, aber nicht zuletzt
auch mit Hilfe für diejenigen, die sich ISIS militärisch
entgegenstellen. Im Norden des Iraks sind das die Kur-
den, die seit Monaten ISIS abwehren und den Flüchtlin-
gen Schutz geben. Wir konzentrieren uns mit unserer
Hilfe auf die Region Kurdistan-Irak. Mir war aber auch
wichtig, in Bagdad deutlich zu machen, dass diese Un-
terstützung dem Gesamtirak gilt. Das wird verstanden.
Und Staatspräsident Masum hat sich dafür auch aus-
drücklich bedankt.

Meine Damen und Herren, unsere bisherige Unter-
stützung war wirksam. Kommandeure der Peschmerga
haben uns eindrucksvoll geschildert, wie wichtig zum
Beispiel der Einsatz der MILAN-Rakete ist. Zuvor stan-
den sie ISIS machtlos gegenüber. Sie mussten ohnmäch-
tig mitansehen, wie von ISIS mit Sprengmaterial gefüllte
Autos oder Lastwagen in die Peschmerga-Stellungen
hineingelenkt wurden, quasi fahrende Bomben mit ver-
heerender Wirkung. Mithilfe der MILAN waren die
Peschmerga in der Lage, etliche solcher Selbstmordkom-
mandos zu stoppen, das heißt, den Feind auch auf Dis-
tanz zu halten. Das hat nicht nur viele Menschenleben
gerettet, sondern das hat auch den Mut und die Zuver-
sicht der Peschmerga gehoben, ISIS tatsächlich standhal-
ten zu können. Das, meine Damen und Herren, ist in un-
serem Sinne; denn diese Peschmerga stehen nicht nur für
ihr Land ein. Sie stehen auch für uns alle gegen ISIS ein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir wollen daher auf diesen Erfahrungen aufbauen.
Wir wollen unsere Hilfe verstetigen. Präsident Barsani
hat uns gegenüber noch einmal sehr deutlich gemacht,
dass die Kurden beides brauchen: Ausrüstung und Aus-
bildung. Die Peschmerga sind gut organisiert; sie sind
entschlossen, standzuhalten – aber es fehlt an vielem.
Das beginnt bei wintertauglichen Stiefeln, geht über die
eben erwähnte MILAN weiter, endet aber nicht zuletzt
auch bei Sanitätsmaterial. Sie haben uns geschildert, wie
viele Peschmerga, wenn sie an der Front verletzt werden,
sterben, die nicht sterben müssten, weil basales Ver-
bandsmaterial fehlt und banale Techniken wie beispiels-
weise das Abbinden bei einem Durchschuss nicht be-
herrscht werden. Es fehlt Material, es fehlt Wissen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten genau
hinhören, was gebraucht wird, und prüfen, ob und wie
wir helfen können. Wir wollen mit diesem Mandat ein
Ausbildungszentrum in Arbil aufbauen, das unter der
Leitung der Kurden steht, aber dessen Ausbildungsbe-
reich wir koordinieren. Das geschieht gemeinsam mit
anderen europäischen Partnern und in Abstimmung mit
der Allianz. Dabei richten wir uns ausdrücklich nach
dem Ausbildungsbedarf, den die Peschmerga anzeigen.
Das beginnt bei der Grundausbildung, geht über Minen-
abwehr bis hin zur eben erwähnten medizinischen Ver-
sorgung. Bis zu 100 Soldaten wollen wir einbringen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, diejenigen, die dort
an vorderster Front kämpfen, brauchen unsere Hilfe.
Diese Hilfe muss und wird nicht nur aus Deutschland
kommen. Wir können aber einen spürbaren, einen sub-
stanziellen und einen nachhaltigen Beitrag leisten. Dafür
bitte ich um Ihre Zustimmung.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1807912100

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Dr. Frithjof

Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir alle in diesem Haus teilen die Überzeugung, dass die
Terrororganisation ISIS bekämpft werden muss. Um es
klar zu sagen: Meine Fraktion hält auch die militärische
Ausbildung von kurdischen Kämpferinnen und Kämp-
fern für einen sinnvollen Beitrag dazu. Das hat ja auch
bisher schon stattgefunden, allerdings nicht vor Ort im
Irak, sondern hier in Deutschland. Das war gut so.

Jetzt hat die Bundesregierung entschieden, doch einen
Ausbildungseinsatz vor Ort im Irak durchzuführen. Wir
gehen ganz offen in die Prüfung dieses Mandates. Wir
halten seine Absicht durchaus für sinnvoll, und wir ste-
hen zu dem Grundsatz: Im Zweifel muss es ein Mandat
geben. Es muss dann aber auch inhaltlich die rechtlichen
Voraussetzungen für einen Einsatz der Bundeswehr im
Ausland erfüllen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich sehe nicht – und ich sage ganz bewusst: leider nicht –,
dass Ihnen das mit diesem Mandat gelungen ist.

Ich teile Ihre Position, dass die völkerrechtlichen Vo-
raussetzungen für ein solches Mandat gegeben sind. Es
gibt die Aufforderung der irakischen Regierung an die
UN-Mitgliedstaaten, ihr Unterstützung im Kampf gegen
ISIS zu leisten. Es gibt eine Einladung durch die iraki-
sche Zentralregierung und durch die kurdische Regional-





Dr. Frithjof Schmidt


(A) (C)



(D)(B)

regierung an die deutsche Regierung. Das ist völker-
rechtlich ausreichend. Aber ein Mandat, das Sie nach
Artikel 24 des Grundgesetzes beantragen, muss zusätz-
lich die Bedingung erfüllen, dass der Auslandseinsatz im
Rahmen eines Systems kollektiver Sicherheit stattfindet.
Das ist bisher – und ich sage wieder: leider – offenkun-
dig nicht der Fall. Es gibt kein UN-Mandat, und es bleibt
ein politischer Fehler, dass Sie sich nicht energisch dafür
einsetzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Jetzt versuchen Sie, das Fehlen eines Mandates durch
zwei Elemente rechtlich einfach zu ersetzen. Sie bezie-
hen sich auf die vage formulierte Resolution 2170 des
Sicherheitsrates vom August 2014, in der ganz allge-
mein zur Unterstützung des Iraks beim Kampf gegen die
Terroristen aufgerufen wird, und Sie beziehen sich auf
eine Erklärung des Präsidenten des Sicherheitsrates vom
September 2014, die noch allgemeiner formuliert ist und
außerdem von ihrem Status her völkerrechtlich nicht
bindend ist. Damit können Sie das Fehlen eines UN-
Mandates wirklich nicht ersetzen. Das reicht nicht. Das
ist nicht verfassungskonform.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Herr Außenminister, ich verstehe in diesem Zusam-
menhang nicht, warum die Bundesregierung nicht
wenigstens einen Beschluss der Europäischen Union
herbeigeführt hat, der die Mitgliedstaaten zu Ausbil-
dungsmissionen im Irak auffordert. Das könnte das Feh-
len eines UN-Mandates heilen. Deshalb frage ich die
Bundesregierung ausdrücklich: Weshalb haben Sie das
bisher nicht getan? Warum setzen Sie stattdessen auf
diese abenteuerliche Interpretationsakrobatik von UN-
Texten? Ich verstehe das nicht. Auch der gute Zweck
heiligt nicht das Aushöhlen der politischen Vorgaben
durch unsere Verfassung. Das darf nicht sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe noch eine andere politische Kritik an Ihrem
Mandatstext. Sie vermengen bei der Formulierung der
Aufgaben die Ausbildungsmission mit einem Blanko-
scheck für Waffenlieferungen in den Nordirak, und zwar
für den Zeitraum eines ganzen Jahres. Gerade gestern er-
reichten uns die Nachrichten, dass die Bundeswehr nicht
weiß, an welche Einheiten und wohin genau die bisher
gelieferten Waffen in Kurdistan gehen. Die Bundesregie-
rung erklärt dazu dann einfach, dass ihr keine Erkennt-
nisse vorliegen, dass gegen die Endverbleibserklärung
verstoßen wird. Wer auf dieses Problem nur mit Sokrates
– „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ – antwortet, der hat
das Problem der Proliferation nicht einmal ansatzweise
verstanden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Sie müssen diesen Blankoscheck für Waffenlieferungen
aus diesem Mandat wieder streichen.
Ich kann meiner Fraktion – und ich sage: leider – bis-
her nicht empfehlen, einem so formulierten Mandat zu-
zustimmen.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1807912200

Vielen Dank. – Bevor ich das Wort an den nächsten

Redner übergebe, hat Dr. Neu das Wort zu einer Kurzin-
tervention.


Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807912300

Sehr geehrte Damen und Herren! Ich kann in dieser

Frage dem Kollegen Schmidt durchaus zustimmen.
Wenn man sich die rechtliche Begründung anschaut,
dann erkennt man, dass hier ein Kuddelmuddel rechtli-
cher Hilfskonstrukte herangezogen wurde, das darüber
hinwegtäuschen soll, dass es keine explizite Resolution
des Sicherheitsrates gibt, die die militärischen Möglich-
keiten eröffnet. Das heißt, Sie bauen hier etwas Halbsei-
denes auf und sagen dann: Wir können das schon ma-
chen.

Der Punkt ist: Sie bemühen Artikel 24 des Grundge-
setzes. Womit eigentlich? Es gibt kein Sicherheitskollek-
tiv in Form eines Ad-hoc-Systems. Es ist die UNO, ge-
gebenenfalls die NATO, wenn es nach dem Urteil von
1994 geht. Aber darauf können Sie sich nicht beziehen.
Sie können sich auch nicht auf die derzeitige Gemein-
schaft als loser Verbund beziehen, weil auch das nicht
zulässig ist. Ich bin froh, dass – ich habe gehört, dass
auch noch andere den Wissenschaftlichen Dienst be-
müht haben – der Wissenschaftliche Dienst meine Posi-
tion in dieser Frage so bestätigt hat. Es gibt allerdings ei-
nen Wermutstropfen. Der Bezug auf Artikel 87 a als
erweiterter Verteidigungsbegriff zieht auch nicht; denn
das würde Artikel 24 GG überflüssig machen. Artikel 24
hindert Artikel 87 a daran, ausgedehnt zu werden. Wenn
die SPD der Auffassung ist – intern natürlich –, dass das
eine Grauzone ist, und die Linke ein bisschen anstachelt,
sie möge doch klagen, so kann ich nur sagen: Wir wer-
den Ihnen die Kastanien nicht aus dem Feuer holen. –
Sie haben die Mehrheit. Machen Sie doch eine Reform
des Grundgesetzes. Ändern Sie den Artikel. Dann kön-
nen Sie handeln wie Sie wollen. Das, was Sie gerade ab-
liefern, ist desaströs.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1807912400

Als nächster Redner hat Rainer Arnold von der SPD

das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Rainer Arnold (SPD):
Rede ID: ID1807912500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! In vielen Teilen der Erde leiden die Menschen unter
dem Terror der selbsternannten Gotteskrieger. Dass
dieses Problem längst auch in Europa angekommen ist,
haben wir alle in der letzten Woche auf erschreckende
Art und Weise erfahren müssen.





Rainer Arnold


(A) (C)



(D)(B)

Der Irak ist Teil des Problems, und trotzdem ist im
Irak einiges anders. Es geht dort nicht um punktuelle
terroristische Attacken; dort sind Mörderbanden unter-
wegs, die ihre Kämpfer aus der halben Welt zusammen-
holen, um dort ein Kalifat, also ein religiös verbrämtes,
brutales, menschenverachtendes und totalitäres Staats-
system zu errichten. Diese Schwierigkeiten werden von
der engen Wechselbeziehung zwischen den Problemen
in Syrien und im Irak und vom Problem des inneren
Zerfalls des Iraks überlagert.

Es ist wohl wahr: Der Irak wurde in den letzten Jah-
ren nicht gut regiert. Nur: Können wir den Menschen,
die jetzt unter dem Terror leiden, sagen: Wir lassen euch
deshalb im Stich, weil ihr eine fürchterlich schlechte
Regierung hattet? – Was ist das für eine zynische Heran-
gehensweise, die die Linke hier mal wieder vorgeführt
hat?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Christine Buchholz [DIE LINKE]: Sie haben mal wieder nichts verstanden, Herr Arnold!)


Wir waren vor einigen Tagen im Irak. Der Besuch in
Arbil und Bagdad hat deutlich gemacht: Alle, die dort
Verantwortung tragen, haben endlich verstanden, dass
sie unglaublich voneinander abhängen, dass sie dieses
Land nur zusammenhalten und stabilisieren können,
wenn sie gut zusammenarbeiten. Dies ist ein Fortschritt.

Die Probleme in Syrien und im Irak kann man in der
Tat nicht militärisch, sondern nur politisch regeln. Aber
mit dem IS gibt es keine politische Lösung. Dieser Kon-
flikt wird am Ende militärisch entschieden. Da frage ich
schon: Können wir zuschauen, wenn der IS Millionen
Menschen in die Flucht treibt, wenn der IS Hunderttau-
sende ermordet und vertreibt? – Ich glaube, nicht.

Wir haben traditionell eine besondere Verbindung zu
den Kurden im Norden Iraks; auch in der deutschen Zi-
vilgesellschaft gibt es viele gute, gewachsene Verbin-
dungen. Deshalb glaube ich schon, dass wir Deutsche
gerade für die Kurden in dem Gebiet eine besondere Ver-
antwortung tragen; das gilt natürlich auch für Christen,
Jesiden und Angehörige anderer Religionsgemeinschaf-
ten.

Es ist gut, dass die Bundesregierung schnell und in ei-
nem guten Umfang humanitäre Hilfe auf den Weg ge-
bracht hat; das ist und bleibt ein Schwerpunkt des deut-
schen Engagements insbesondere im Norden Iraks. Die
Entwicklung in den letzten Monaten zeigt den Bürgerin-
nen und Bürgern in Deutschland auch, dass Peter Struck
bereits vor Jahren recht hatte, als er sagte: „Unsere Si-
cherheit wird … auch am Hindukusch verteidigt …“ –
Ich sage: Die deutsche Sicherheit wird auch im Irak ver-
teidigt.


(Inge Höger [DIE LINKE]: Das kann man immer weiter ausdehnen!)


Es ist nun einmal so, dass zerfallende Staaten oder Staa-
ten, die Rückzugsraum für Terroristen sind, Ausbil-
dungs- und Trainingszentren für Menschen akzeptieren,
die auch unser Leben und unsere Sicherheit bedrohen.


(Beifall des Abg. Thorsten Frei [CDU/CSU])

Eines ist auch klar: Wenn der IS im Irak obsiegen

würde, dann würde diese fürchterliche, fundamentalisti-
sche, terroristische Idee gerade in den verwirrten Köpfen
derer, die bei uns auf der Verliererstraße sind, gewaltbe-
reit sind und eine Affinität zur Gewalt haben, eine neue
und stärkere Strahlkraft gewinnen. Deshalb ist es per-
spektivisch so wichtig, dass der IS dort nicht auf die Sie-
gerstraße gelangt.

Wenn das alles so ist und wir uns auch einig darüber
sind, dass wir selbst dort nicht eingreifen wollen – ich
meine, wir sollten dort auch nicht eingreifen –, dann
müssen wir diejenigen, die das an unserer Stelle tun und
auch für unsere Interessen sterben, am Ende so starkma-
chen, dass sie diesen Gegner zunächst einmal stoppen
– dies ist gelungen – und ihn perspektivisch und mittel-
fristig tatsächlich zurückdrängen können. Wir tun das
gemeinsam mit 60 anderen Partnern. Es ist richtig und
wichtig, dass die arabische Welt zunehmend erkennt: Es
ist zuallererst ihr Problem, und sie muss zuallererst mehr
leisten. In diesem Bereich ist aber alles auf einem guten
Weg. Deutschland stellt verantwortungsvoll Ausbildung
und Ausstattung bereit.

Es gibt eine innere Logik: Wer ausbildet, der muss
auch dafür sorgen, dass die Soldaten der Peschmerga ne-
ben ihren erlernten Fähigkeiten auch das notwendige
Gerät haben, um sich dem Terror entgegenzustellen.
Wenn es um große Waffensysteme geht, wird es schwie-
rige Debatten geben; die sollten wir sorgsam führen. Wir
sollten keine schnellen Entscheidungen treffen. Es gibt
aber auch Dinge, die schnell gehen können. Die Frau
Ministerin hat die dramatischen Berichte angeführt – wir
haben es gehört –, dass Menschen sterben, nur weil Ver-
bandsmaterial fehlt. Daher mein Appell an die Regie-
rung: Helfen Sie schnell und unbürokratisch! Liefern Sie
Kleidung und Verbandsmaterial! Unsere Unterstützung
dafür haben Sie.

Wenn wir gemeinsam mit dem einen Drittel der
Länder der Vereinten Nationen, die sich an der Anti-IS-
Allianz beteiligen – Deutschland leistet keinen beson-
ders großen, aber einen angemessenen Beitrag –, unsere
Verantwortung im Interesse der Menschen im Irak und
im Interesse unserer Stabilität in den nächsten Monaten
wahrnehmen, dann wird es uns kurzfristig gelingen – da
bin ich zuversichtlich –, den Terror zu stoppen; das ha-
ben wir bei unserem Besuch gesehen und gehört. Mittel-
fristig wird es auch gelingen, den Terror des IS aus dem
Irak zu verdrängen. Damit mich am Ende niemand
falsch versteht: Ich meine damit nicht, dass er von der
Bildfläche verschwindet. Er wird uns möglicherweise
noch viele Jahre an anderer Stelle, in anderen Zusam-
menhängen beschäftigen.

Deutschland sollte seinen Interessen und seiner Ver-
antwortung gerecht werden. Deshalb stimmen wir die-
sem Mandat zu.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1807912600

Als nächster Redner spricht Philipp Mißfelder von

der CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1807912700

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Zunächst möchte ich der Bundesregie-
rung meinen Dank aussprechen für den ganzheitlichen
Ansatz, den sie bezüglich der Ausrichtung dieses Man-
dats gewählt hat. Es fügt sich in eine lange Reihe von
wichtigen Entscheidungen ein, die wir bezüglich Kurdis-
tan/Nordirak getroffen haben.

Die mit Abstand schwierigste Entscheidung – neben
der Entscheidung, die wir heute treffen – war sicherlich
die im September, was ja mit Sondersitzungen sowohl
der Ausschüsse als auch des gesamten Plenums verbun-
den war. Die Verteidigungsministerin hat damals zu
Recht von einem Tabubruch gesprochen; denn wir haben
Waffen in ein Spannungsgebiet geliefert, was wir sonst
– mit Ausnahme unseres Verbündeten Israel – nicht ma-
chen. Ich finde, diese Ausnahme von der Regel ist genau
zum richtigen Zeitpunkt erfolgt. Die Entwicklung gibt
uns im Nachhinein recht. Es ist schon angesprochen
worden: Die Kurden haben viele Garantien und Verspre-
chen gegeben, und sie haben diese Versprechen auch ge-
halten.

Ich möchte daher zunächst einmal die kurdischen
Streitkräfte dazu beglückwünschen, dass sie so erfolg-
reich gegen den IS vorgegangen sind. Aus einer nahezu
hoffnungslosen Situation heraus haben sie das Blatt ge-
wendet. Es gilt, sie dabei zu unterstützen, dass sie nicht
erneut in eine hoffnungslose Situation geraten. Deshalb:
Mein herzlicher Glückwunsch und alles Gute für die
Streitkräfte im Norden des Irak!

Der Kampf gegen den „Islamischen Staat“ wird aller-
dings nicht nur durch militärische Mittel zu gewinnen
sein, sondern vor allem dadurch, dass man nicht nur den
Norden des Irak, sondern den Irak insgesamt stabilisiert.
Insofern ist der ganzheitliche Ansatz – vernetzte Sicher-
heit, entwicklungspolitische Maßnahmen, aber auch dip-
lomatische Gespräche – genau der richtige Weg.

Unser Engagement wird weiterhin von der Hoffnung
getragen, dass der Irak nicht auseinanderfällt. Allerdings
ist die Situation nach wie vor sehr fragil. Man darf nicht
unterschätzen, dass es Kräfte im Irak gibt, die dieses
Land jederzeit auseinanderbrechen lassen könnten. Des-
halb muss man gewappnet sein.

Die Ertüchtigung unserer Partner ist deshalb ein zen-
trales Vorhaben. Es ist richtig, Barzani und Talabani im
Norden bei den anstehenden Reformen zu unterstützen.
Ich bin dafür, dass wir neben der Ausbildungsmission
auch einen politischen Beitrag dazu leisten, eine wirkli-
che Militärreform oder Wehrreform im Norden durchzu-
setzen.

Natürlich ist das Engagement der Peschmerga zu be-
grüßen. Aber die enge Bindung an einzelne Stämme ist
im Norden des Irak langfristig sicherlich eine Herausfor-
derung. Ich nenne als Beispiel die Jesiden. Vielen hier
im Bundestag ist die Situation der Kurden keineswegs
gleichgültig. Frau Buchholz, ich teile das, was Sie gesagt
haben, in 99 Prozent der Fälle nicht, aber ich unterstelle
Ihnen, dass Sie ein ehrliches Interesse an der Region
haben.

Es kommt darauf an, zu entscheiden, welchen politi-
schen Beitrag wir leisten können, um die verschiedenen
kurdischen Kräfte miteinander zu versöhnen. Deshalb
halte ich eine Wehrreform bzw. eine Militärreform für
zentral; denn dadurch verfügen nicht nur einzelne
Stämme über Einheiten, sondern es findet eine Demo-
kratisierung statt, was zu einem besseren politischen
System im Norden führt. Dafür können wir einen zentra-
len Beitrag leisten. Dabei setze ich meine Hoffnungen
auch in die aktuelle Regierung im Norden Kurdistans im
Irak, die wir brauchen, um dort erfolgreich zu sein.

Wir müssen die humanitäre Hilfe verstärken. Dort,
wo es möglich ist, müssen wir die Zusammenarbeit in
der Entwicklungspartnerschaft so weit vorantreiben,
dass die Region nicht in der Flüchtlingsschwemme un-
tergeht. Das ist eine riesengroße Herausforderung, nicht
nur für die Türkei, sondern insbesondere auch für Kurdi-
stan. Was dort passiert, stellt uns vor eine Aufgabe, die
uns sicherlich noch eine lange Zeit beschäftigen wird.
Die Flüchtlinge sind nicht gekommen, um im Nordirak
zu bleiben, aber die Prognose, dass sie dort längere Zeit
bleiben müssen, ist eindeutig. Deshalb glaube ich, dass
man auch darüber reden muss, wie man mit dieser Masse
von Menschen umgeht. Die Stadt Arbil – das haben ja
viele von uns, die diese Region besucht haben, selber ge-
sehen – ist überhaupt nicht darauf vorbereitet. Es darf
nicht passieren, dass, nachdem wir die militärische
Katastrophe abgewendet haben, durch eine humanitäre
Katastrophe das Geschäft von ISIS übernommen wird.
Insofern ist unser Engagement gleichrangig wichtig, und
wir müssen es an dieser Stelle auch forcieren.

Ich danke in diesem Zusammenhang dem BMZ, dass
es so engagiert Projekte vorantreibt. Wir sollten das
BMZ dabei unterstützen, dies noch zu verstärken, wo es
möglich ist. Ich glaube auch, dass es der richtige Weg
ist, sowohl die kurdischen Streitkräfte als auch die Aus-
bildungsmission der internationalen Allianz, die einen
größeren Ansatz und den Gesamtirak im Blick hat und
nicht auf Kurdistan begrenzt ist, zu unterstützen. Das
gibt uns vielleicht die Gelegenheit, die irakischen Streit-
kräfte insgesamt zu stärken. Das wäre notwendig, um
überhaupt wieder politischen Spielraum zu schaffen.
Deshalb blicke ich optimistisch auf dieses Mandat.
Trotzdem bleibt uns die Herausforderung erhalten. Des-
halb ist dieses Engagement auch sinnvoll. Ich bitte um
Ihr Vertrauen für dieses Mandat.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1807912800

Als nächster Redner spricht Florian Hahn, ebenfalls

von der CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Florian Hahn (CSU):
Rede ID: ID1807912900

Sehr geehrte Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen!

Ich kann mich noch gut erinnern, als in der letzten Som-
merpause die Diskussion um mögliche Hilfeleistungen
für die Kurden im Nordirak vor dem heranrückenden
bzw. heranstürmenden ISIS begann. Wir standen damals
vor drei Alternativen: erstens nichts zu tun und zuzuse-
hen, wie ganze Volksgruppen bestialisch ausgerottet zu
werden drohten, zweitens selbst in den Konflikt militä-
risch und mit „boots on the ground“ einzugreifen oder
drittens diejenigen zu unterstützen, die sich in der Re-
gion dem IS entgegenstellen. Wir haben uns nach reifli-
cher Überlegung und Diskussion neben der humanitären
Hilfe für die dritte Variante entschieden.

Es war richtig, den Kurden im Nordirak Waffen, Mu-
nition und Ausrüstung zu liefern. Die Peschmerga konn-
ten in den letzten Monaten den weiteren Vormarsch des
ISIS aufhalten. Der Einsatz der von uns gelieferten Mit-
tel war dabei entscheidend. Das haben die Kurden kürz-
lich bei den Gesprächen in Arbil mit unserer Ministerin,
an denen ich mit Kollegen teilnehmen konnte, sehr ein-
drucksvoll deutlich gemacht. Endlich haben die Kurden
etwas in der Hand, um dem heranstürmenden Daesh et-
was entgegenzusetzen. So konnte beispielsweise am Tag
unseres Besuchs in Arbil ein Selbstmordanschlag ver-
hindert werden. Ein Lkw, beladen mit Sprengstoff, von
einem Selbstmordattentäter gesteuert, konnte durch den
Einsatz der MILAN-Rakete noch vor den Reihen der
Peschmerga bekämpft und ausgeschaltet werden. Auch
konnte ein gelieferter Dingo bereits Leben retten. Bei
dem Beschuss desselben, der zur völligen Zerstörung
des Fahrzeugs führte, konnten die kurdischen Insassen
so gut wie unverletzt aussteigen.

Aber nicht nur die bessere Bewaffnung hat zu einer
gestiegenen Verteidigungsfähigkeit der Peschmerga ge-
führt, sondern auch die damit verbundene Steigerung der
Moral, des Selbstbewusstseins; denn endlich konnte der
Mythos der Unbesiegbarkeit des IS gebrochen werden.
Trotzdem ist die Gefahr durch den IS noch lange nicht
gebannt. Nach den Anschlägen in Paris ist uns noch
klarer, dass die Kurden im Irak den IS für ihre eigene
Sicherheit und Freiheit, aber auch für uns alle bekämp-
fen. Zu Recht hat der UN-Sicherheitsrat festgestellt, dass
vom IS eine Bedrohung des Weltfriedens und der inter-
nationalen Sicherheit ausgeht und dass alle Staaten
aufgefordert sind, den Irak im Kampf gegen den IS zu
unterstützen. Schon 60 Nationen, nicht nur aus dem
Westen, haben sich dieser Allianz gegen den IS ange-
schlossen. Gemeinsam muss verhindert werden, dass es
zu einer Ausweitung des Schreckenskalifats kommt, zur
Unterjochung einer ganzen Region, zum Abschlachten
aller Menschen mit abweichenden religiösen Auffassun-
gen. Die Unterstützung der Menschen vor Ort hilft letzt-
lich auch uns. Deshalb halte ich einen Ausbildungsein-
satz insbesondere zusammen mit niederländischen und
italienischen Partnern grundsätzlich für politisch richtig
und wichtig.

Die Kurden haben uns erzählt, dass die etwa 800 ge-
fallenen Kämpfer der Peschmerga hauptsächlich deshalb
ums Leben kamen, weil sie insgesamt nur ungenügende
Kenntnisse über das richtige Verhalten im modernen Ge-
fecht, über den Umgang mit Minen und die notwendige
Erstversorgung nach Verwundung haben. Die Ausbil-
dung in diesen Bereichen ist daher richtig, dringend ge-
boten und wird Leben retten. Es handelt sich also um
keinen Kampfeinsatz, sondern um eine Ausbildungsmis-
sion mit einer Mandatsobergrenze von 100 deutschen
Soldatinnen und Soldaten.

Unsere Soldaten sollen bei ihrer Ausbildung durch
kurdische Kräfte geschützt werden. Offen gesagt, habe
ich ein wenig Sorge, ob das ausreichend ist. Schließlich
sind wir dort, weil die Peschmerga eben nicht gut ausge-
bildet sind. Ich hätte mir deshalb eine höhere Mandats-
obergrenze gewünscht. Schließlich haben wir bei ande-
ren Ausbildungsmissionen, wie in Mali, deutlich mehr
Soldaten im Einsatz. Wir sollten daher auf die Sicherheit
unserer Soldaten ganz besonders achten, sie zusammen
mit den internationalen Partnern sicherstellen und mögli-
cherweise bedarfsgerecht nachsteuern.

Zur Endverbleibsklausel möchte ich Folgendes sagen:
Wir sollten uns ganz genau überlegen, ob wir den Kur-
den unterstellen, dass sie denen Waffen verkaufen, die
sie gerade um ihrer eigenen und unserer Sicherheit wil-
len bekämpfen.

Angesichts der militärischen Situation im Nordirak
sollten wir nicht vergessen, dass im kurdischen Gebiet,
das eine eigene Bevölkerung von etwa 5 Millionen Men-
schen hat, inzwischen 1,6 Millionen Flüchtlinge ange-
kommen sind, die von den Kurden verantwortungsvoll
versorgt werden. Das ist eine unglaubliche Herausforde-
rung für diese Region, bei der wir bereits Unterstützung
leisten und auch weiterhin Unterstützung leisten müssen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1807913000

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3561 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:

Beratung des Antrags der Bundesregierung

Fortsetzung der Entsendung bewaffneter
deutscher Streitkräfte zur Verstärkung der
Integrierten Luftverteidigung der NATO auf
Ersuchen der Türkei und auf Grundlage des

(Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen)

sowie des Beschlusses des Nordatlantikrates
vom 4. Dezember 2012

Drucksache 18/3698





Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn


(A) (C)



(D)(B)

Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat
Achim Post von der SPD das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Achim Post (SPD):
Rede ID: ID1807913100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir reden über die Verlängerung des Mandats
Active Fence in der Türkei. Beginnen müssen wir mit
der dramatischen Lage in Syrien. Seit fast vier Jahren
leidet die syrische Bevölkerung nun schon unter dem
Bürgerkrieg. Das ist eine humanitäre Katastrophe, die ei-
nem das Herz zerreißt: 200 000 Menschen wurden bis-
lang getötet. 1,5 Millionen Kinder, Frauen und Männer
mussten fliehen. Zehnmal so viele Flüchtlinge wie zu
Beginn des Mandats vor zwei Jahren sind mittlerweile in
der Türkei. Das ist eine große Aufgabe für die Türkei,
die bewundernswert gemeistert wird. Aber, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, wir müssen auch sagen: So klar
die Türkei Assad bekämpft, so zweifelhaft ist ihre Hal-
tung zum ISIS.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)


All dies verlangt geradezu nach einer Debatte und
letztlich nach einer Entscheidung im Deutschen Bundes-
tag. Deshalb diskutieren wir heute über die Fortschrei-
bung des laufenden Bundestagsmandats. Sie wissen,
dass das Bundeskabinett eine Verlängerung des Mandats
bis zum 31. Januar 2016 beschlossen hat. Damit sollen
auch weiterhin zwei deutsche Patriot-Abwehrsysteme an
der Grenze zu Syrien stationiert werden.

Warum ist aus unserer Sicht, aus Sicht der SPD-Bun-
destagsfraktion, eine Verlängerung notwendig? Mit die-
sem Mandat verfolgen wir unser aller Ziel: eine Befrie-
dung und politische Lösung des Konflikts.

Lassen Sie mich drei Punkte nennen.

Erstens. Die Türkei braucht Solidarität. Die Lage für
die Türkei hat sich deutlich erschwert. Jeden Tag kom-
men mehr Flüchtlinge. Gerade durch den Konflikt in Sy-
rien ist unser NATO-Partner eines der am stärksten be-
lasteten Länder der Region.

Zweitens. Die Türkei braucht Sicherheit. Die Türkei
verfügt über kein eigenes Raketenabwehrsystem. Die
ballistischen Raketen des syrischen Regimes könnten
große Teile des türkischen Territoriums erreichen. Auch
das Restrisiko syrischer Chemiewaffen kann nicht völlig
ausgeschlossen werden.
Diese schwierige Lage kann die Türkei nicht alleine
bewältigen. Sie ist deshalb auf Unterstützung angewie-
sen, auch auf unsere Unterstützung, meine Damen und
Herren.


(Beifall bei der SPD)


Als Mittel militärischer Abschreckung soll das Man-
dat auch weiterhin verhindern, dass sich der syrische
Konflikt auf die Türkei ausweitet. Dies leisten mit gro-
ßem Einsatz bis zu 400 Soldatinnen und Soldaten der
Bundeswehr, denen der Dank des Deutschen Bundestags
gebührt.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Dabei bleibt klar: Die Obergrenze von 400 Soldatin-
nen und Soldaten wird nicht überschritten. Der Einsatz
trägt nicht zur Unterstützung einer Flugverbotszone bei.
Unsere Beteiligung ist und bleibt ausschließlich eine
Maßnahme der Verteidigung.

Deshalb gilt nach wie vor Punkt drei: Die Türkei
braucht Verlässlichkeit. Insbesondere Deutschland als
strategischer Partner der Türkei sollte diese Verlässlich-
keit zeigen.

Zusammengefasst. Die SPD-Fraktion unterstützt eine
Verlängerung der Beteiligung deutscher Streitkräfte an
der Mission Active Fence.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin davon über-
zeugt, dass Deutschland damit zum Schutz der Bevölke-
rung in der Türkei, der einheimischen Bevölkerung und
der Flüchtlinge, beiträgt. All diese Menschen haben So-
lidarität, haben Sicherheit und haben Verlässlichkeit ver-
dient.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1807913200

Als nächste Rednerin spricht Sevim Dağdelen von

den Linken.


(Beifall bei der LINKEN)



Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807913300

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Leider ist Bundesaußenminister Steinmeier bei die-
ser wichtigen Debatte nicht zugegen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Der musste weg! – Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Weil er mit dem iranischen Außenminister spricht!)


– Ich habe „leider“ gesagt. Ich habe gar nicht hinterfragt,
ob das berechtigt oder nicht berechtigt ist.

Man muss zunächst einmal konstatieren, dass die
Bundesregierung mit dieser Einsatzverlängerung für die
Bundeswehr die deutsche Öffentlichkeit schlicht hinters
Licht führt.

Zunächst einmal stimmen die Begründungen in keins-
ter Weise. Sie sagen, Sie kämen Erdogan gegen die syri-
sche Bedrohung zur Hilfe. Dazu wurden im Wesentli-
chen drei Vorfälle als Grundlage für diesen Einsatz





Sevim Dağdelen


(A) (C)



(D)(B)

angeführt, bei denen Syrien türkische Souveränität ver-
letzt haben soll.

Da ist zunächst einmal der Abschuss eines türkischen
Militärflugzeugs durch die Syrer. Das Erdogan-Regime
sagte, der Abschuss ist über internationalem Luftraum
erfolgt. Aber der NATO-Bericht äußert große Zweifel an
der Version der Türkei. Darüber hat Monitor noch im
vergangenen Jahr berichtet. All diese Berichte scheinen
Sie schlicht nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen.

Zweitens führten Sie das Attentat in der Stadt Reyh-
anli an. Bis heute gibt es keine Feststellung, dass Täter
die Syrer sind. Es gibt im Gegenteil jedoch zahlreiche
Berichte, die in die Richtung des türkischen Geheim-
dienstes weisen.

Auch die dritte Begründung für diesen Einsatz, der
Granatenbeschuss von türkischem Territorium durch die
syrische Armee, ist sehr zweifelhaft angesichts dessen,
dass dieser Beschuss offensichtlich aus den von den Re-
bellen kontrollierten Gebieten kam.

Trotz dieser fragwürdigen Begründungen durch die
Türkei für diesen Einsatz bezeichnen Sie die Türkei als
einen vertrauensvollen Partner, der Solidarität und Zu-
verlässigkeit verdient und dem es mit der fortgesetzten
Stationierung der Patriots unter die Arme zu greifen gilt.
Sie gehen sogar so weit, Erdogan Besonnenheit gegen-
über Syrien zu attestieren.

Doch ich frage Sie von der Regierung: Verhält sich
der NATO-Partner Türkei gegenüber den Menschen in
Syrien tatsächlich besonnen? Im letzten Jahr griffen isla-
mistische Terroristen das armenische Dorf Kassab im
Norden Syriens von der Türkei aus an und zerstörten
dort die christlichen Kirchen und verwüsteten das ganze
Dorf. Kassab ist vom türkischen Territorium fast kom-
plett umschlossen, kann man sagen. Meinen Sie deshalb
wirklich, es sei der türkischen Regierung verborgen ge-
blieben, dass islamistische Gotteskrieger mit schweren
Waffen von ihrem Territorium aus auf Kassab schießen?
Wie wollen Sie eigentlich Ihr Attest der Besonnenheit
für Erdogan den Nachfahren der Überlebenden des Völ-
kermords an den Armeniern, der sich in diesem Jahr zum
hundertsten Mal jährt, erklären, die jetzt vor diesen isla-
mistischen Gotteskriegern flüchten müssen, die sie von
türkischem Territorium aus angreifen?


(Beifall bei der LINKEN)


Sie sagen jetzt: Die Türkei muss mehr gegen den Ter-
ror tun. – Aber angesichts des Verhaltens der türkischen
Regierung klingt dies zumindest in meinen Ohren wie
blanker Hohn. Denn wie können Sie mit Ihrem Attest
der Besonnenheit für das Erdogan-Regime den Men-
schen in Kobane unter die Augen treten, die sich seit
Monaten gegen die Angriffe des „Islamischen Staates“
verteidigen? Wie erklären Sie den mutigen Frauen und
Männern in Kobane, dass der NATO-Partner Türkei die
Grenze gegenüber den kurdischen Enklaven im Norden
Syriens geschlossen hat, während die türkische Grenze
gegenüber den vom „Islamischen Staat“ kontrollierten
Gebieten offen ist? Das möchte ich von Ihnen wissen.


(Beifall bei der LINKEN)

Sie als Bundesregierung haben sich solidarisch mit
Charlie Hebdo erklärt. Gestern wurde die Veröffentli-
chung der türkischen Version der Satirezeitung in der
Türkei verboten, und sie wurde überall konfisziert. Wie-
der einmal wurden Journalistinnen und Journalisten in
der Türkei angegriffen. Dazu dürfen wir und vor allen
Dingen Sie als Bundesregierung nicht schweigen.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Zeigen Sie endlich, dass Sie nicht einverstanden sind
mit der Repression und der Terrorförderung Erdogans
und seiner Marionette – so wird Ministerpräsident Davu-
toglu in der Türkei trefflich beschrieben – in Syrien.
Dieser Terror schlägt jetzt eben auch nach Europa zu-
rück. Dies erklärte uns der libanesische Außenminister
bereits im Frühjahr letzten Jahres bei einer Reise des Au-
ßenministers Steinmeier. Die Terrorförderung gegen
Assad und gegen Syrien, meinte er damals, ist brandge-
fährlich, weil sich der Terror irgendwann gegen Europa
richten wird.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Deutsche Außenpolitik darf nicht weiter auf einer
Täuschung der Bevölkerung und der Partnerschaft mit
autoritären Regimen beruhen. Deshalb bitte ich Sie:
Kehren Sie um! Beenden Sie endlich Ihre Nibelungen-
treue zum Erdogan-Regime in der Türkei, und ziehen
Sie die Bundeswehr dort ab!


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1807913400

Als nächster Redner hat der Staatssekretär Dr. Ralf

Brauksiepe das Wort.

D
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU):
Rede ID: ID1807913500


Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Dağdelen, erlauben Sie mir nur den ei-
nen Hinweis: „Erdogan-Regime“ ist nicht die bei uns üb-
liche Bezeichnung für demokratisch gewählte Staats-
oberhäupter oder demokratisch gewählte Regierungen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir verstehen unter „Regime“ etwas anderes.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Fragt man sich nur, was! Wenn Sie sich mit jordanischen Diktatoren verbünden!)


Zum Mandat, über das wir hier heute debattieren. Im
November des Jahres 2012 hatte unser NATO-Partner
Türkei die NATO zum Schutz seiner Bevölkerung und
seines Territoriums um Unterstützung gebeten.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sagen Sie doch mal was zu den Terroristen, Herr Brauksiepe!)


Dieser Bitte gingen zahlreiche Grenzverletzungen von
syrischer Seite mit Toten unter der türkischen Zivilbe-
völkerung voraus. Deswegen sollte für uns alle nachvoll-





Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe


(A) (C)



(D)(B)

ziehbar sein, dass sich unser Bündnispartner zunehmend
bedroht fühlte. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Tür-
kei unverändert der vom syrischen Bürgerkrieg am
stärksten betroffene NATO-Verbündete ist. Deutschland
verfügt neben wenigen anderen Partnern über die erfor-
derlichen Waffensysteme, die im Verbund den Schutz
gegen ballistische Raketen gewährleisten können. Des-
halb hatten wir uns im Jahr 2012 entschieden, ab Januar
2013 zusammen mit den USA und den Niederlanden Pa-
triot-Flugabwehrraketensysteme in der Türkei zu statio-
nieren. Das sind die bekannten Fakten.

Der Einsatz hat sich in diesen Jahren militärisch be-
währt. Über die rein militärische Komponente hinaus hat
dieser Einsatz auch weiter gewirkt, hat auch politisch ge-
wirkt. Mit dieser solidarischen Maßnahme sind eine
Ausweitung der bewaffneten Auseinandersetzung über
Syrien hinaus und eine Beeinträchtigung der Sicherheit
der Türkei wirksam verhindert worden.

Unsere Bereitschaft im Bündnis hatte auch einen wei-
teren, einen abschreckenden Effekt. Er hat dem Assad-
Regime nämlich deutlich die Grenzen aufgezeigt und so-
mit letztlich dazu beigetragen, dass Syrien sein Chemie-
waffenprogramm offengelegt hat und die Waffen dann
mit vereinten Kräften der internationalen Gemeinschaft
vernichtet werden konnten. Durch die von der deutschen
Marine abgesicherte Vernichtung syrischer Giftgasbe-
stände auf hoher See konnte das Bedrohungspotenzial in
dieser Region zerstört werden. Auch das ist ein wichti-
ger politischer Erfolg, der erreicht worden ist, liebe Kol-
leginnen und Kollegen.

Die Folgen des syrischen Bürgerkriegs und der Vor-
stoß der Terrormiliz IS haben starke Auswirkungen auf
die gesamte Region. Über 1,5 Millionen Flüchtlinge
wurden allein von der Türkei aufgenommen und verlan-
gen unserem Partner große Anstrengungen ab. In dieser
schwierigen Lage hat uns unser NATO-Partner erneut
gebeten, im Rahmen der Integrierten Luftverteidigung
der NATO türkisches Territorium und türkische Staats-
bürger zu schützen. Das und nichts anderes ist der Kern
dieses Mandates, über das wir hier heute erneut debattie-
ren: Ein NATO-Partner hat um Hilfe gebeten.

Für die Bundesregierung ist völlig klar: Bündnissoli-
darität ist ein hohes Gut, ein Gut, dem gerade wir Deut-
schen uns verpflichtet fühlen sollten, weil wir davon
über Jahrzehnte in besonderer Weise profitiert haben.
Wir stehen zu unseren Partnern in der Allianz, und wir
stehen zu unseren Zusagen. Das ist ein starkes Zeichen
für die NATO und auch für die gesamte internationale
Gemeinschaft.

Deswegen wiederhole ich mich noch einmal: Wenn
man sieht, dass es seit der Stationierung der NATO-Ra-
ketenabwehr in der Türkei keine wesentlichen Grenzver-
letzungen von syrischer Seite mehr gegeben hat, dann
sollte die abschreckende und damit erfolgreiche Wir-
kung unserer Mission für jeden Menschen guten Willens
auch offensichtlich und erkennbar sein, liebe Kollegin-
nen und Kollegen. Dennoch lässt sich aufgrund der fra-
gilen Sicherheitslage in Syrien eine Bedrohung durch
ballistische Raketen – und seien es nur fehlgeleitete –
und durch solche ohne chemische Kampfstoffe derzeit
nicht wegdiskutieren. Deswegen ist es auch nachvoll-
ziehbar, dass sich unser Bündnispartner Türkei von den
damit verbundenen Auswirkungen auch weiterhin be-
droht fühlt.

Für uns alle, denke ich, steht außer Frage, dass wir,
wie schon bisher, mit Nachdruck an politischen Lösun-
gen der Konflikte arbeiten. Das heißt aber ebenso, dass
wir, wenn wir von Partnern um Hilfe gebeten werden
und wir über Möglichkeiten und Fähigkeiten verfügen,
einen konkreten Beitrag zu leisten, auch mit einem sol-
chen konkreten Engagement Bündnissolidarität leben
und uns als verlässlicher Partner erweisen werden.

Nach wie vor sieht auch der NATO-Oberbefehlsha-
ber, sieht die NATO insgesamt eine begründete Bedro-
hung für die Türkei. Es besteht weiterhin ein Risiko,
dem immer noch begegnet werden muss. Deshalb erklärt
sich Deutschland seit zwei Jahren bereit, bis zu 400 Sol-
datinnen und Soldaten in die Türkei zu entsenden. Zu-
sammen mit den USA und den Niederlanden halten wir
Flugabwehrraketensysteme vom Typ Patriot in der Tür-
kei im Einsatz. Auch wenn die Niederlande diesen Auf-
trag im NATO-Rahmen an eine spanische Patriot-Einheit
weitergegeben haben, ändert sich hierbei operativ nichts.

Für den Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten,
liebe Kolleginnen und Kollegen, sind drei Punkte ent-
scheidend:

Erstens. Der Einsatz erfolgt ausschließlich zu defensi-
ven Zwecken, also zum Schutz der türkischen Bevölke-
rung und des türkischen Staatsgebietes.

Zweitens. Der Einsatz dient nicht der Einrichtung
oder Überwachung einer Flugverbotszone in Syrien. Das
Bundestagsmandat zieht hier eine ganz klare Grenze.

Drittens. Unsere Soldatinnen und Soldaten werden
dem NATO-Oberbefehlshaber unterstellt. Er ist durch
den NATO-Rat beauftragt. Der Einsatz erfolgt im Rah-
men der sogenannten Integrierten Luftverteidigung der
NATO im Einklang mit dem dazugehörigen Verteidi-
gungsplan.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann feststellen:
Der Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten hat sich in
diesem Jahr bewährt. Bis heute schützen wir die türki-
sche Bevölkerung und das türkische Territorium erfolg-
reich vor Angriffen mit syrischen Raketen, und das bei
hoher Akzeptanz durch die Menschen, wie ich erst vor
wenigen Tagen bei einem Besuch feststellen konnte,


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Die Mehrheit der Bevölkerung ist gegen den Einsatz! Das stimmt nicht!)


und unter Bedingungen, die sich durch das gute Mitei-
nander mit den türkischen Soldaten, die dort eng mit uns
zusammenarbeiten, deutlich verbessert haben. Ich
möchte allen, den deutschen Soldatinnen und Soldaten
und auch denen unserer Partner, meinen Dank und mei-
nen Respekt für diesen erfolgreichen Einsatz ausspre-
chen, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)






Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe


(A) (C)



(D)(B)

Die bereits angesprochenen Rahmenbedingungen un-
seres rein defensiven Einsatzes bleiben unverändert. Als
Stichwort nenne ich die Obergrenze von 400 Soldatin-
nen und Soldaten, die wir bei weitem nicht erreichen.
Knapp 250 Soldatinnen und Soldaten sind dort vor Ort.

Unser Partner USA wird sein Engagement ebenfalls
fortsetzen, und Spanien hat seine Bereitschaft zur Teil-
nahme vom Ende dieses Monats an bereits beschlossen.
Wir sind weiter eingebunden in ein Bündnis von Part-
nern und leisten weiterhin unsere Solidarität. Deswegen
bitte ich Sie um Ihre Zustimmung zur Verlängerung des
Mandates Active Fence Turkey für die kommenden
zwölf Monate.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1807913600

Vielen Dank. – Jetzt hat der Kollege Dr. Tobias

Lindner von den Grünen das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten
heute zum dritten Mal über das Mandat Active Fence.
Bei jeder Beratung über dieses Mandat hat sich die Lage
in der Türkei und im türkisch-irakisch-syrischen Grenz-
gebiet elementar verändert. Deswegen ist es bei jeder
Beratung notwendig, sorgfältig zu prüfen, ob die Gründe
für dieses Mandat noch gegeben sind.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Fraktion hat es sich nie einfach gemacht. Ich
erinnere mich an die erste Beratung. Genau die Gründe,
Herr Staatssekretär, die Sie eben genannt haben, die Be-
dingungen, unter denen die Patriot-Systeme stationiert
werden können – die Unterstellung unter den NATO-
Oberbefehlshaber und die Unmöglichkeit, in den syri-
schen Luftraum einzugreifen –, waren und sind für uns
elementar. Dieses Mandat muss auf das beschränkt blei-
ben, wofür es da ist, nämlich die Türkei, unseren Bünd-
nispartner, schützen zu können.

Es muss aber auch darum gehen, bei jeder Beratung
neu zu erörtern: Ist die Situation der Bedrohung noch ge-
geben? Wir haben hier eine ambivalente Situation, liebe
Kolleginnen und Kollegen: Zum einen können wir zum
Glück feststellen, dass hoffentlich alle Chemiewaffen in
Syrien vernichtet worden sind; das ist ein großer Fort-
schritt.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir müssen allerdings mit Bedauern feststellen, dass es
in Syrien nach wie vor ballistische Waffen gibt, die na-
türlich eine Bedrohung für die Türkei darstellen können,
und wir müssen mit noch größerem Bedauern feststellen,
dass durch das Erstarken des „Islamischen Staates“ eine
Situation eingetreten ist, die sich für mich persönlich
noch verworrener als vor einem Jahr darstellt. Deswegen
kann ich persönlich nachempfinden, dass sich der NATO-
Bündnispartner Türkei bedroht fühlt und um Hilfe gebe-
ten hat.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1807913700
Das
Hilfeersuchen eines Bündnispartners ist eine ernste An-
gelegenheit, und es darf nur in gewichtigen Fällen dazu
kommen, dass man einem solchen Ersuchen nicht nach-
kommt. Aber genauso möchte ich feststellen: Ein sol-
ches Hilfeersuchen entbindet uns als Parlament nicht da-
von, genau hinzusehen und zu prüfen: Sind Gründe
dafür gegeben? Vor allem entbindet es die Bundesregie-
rung nicht, darauf hinzuwirken, dass man etwas gegen
das Entstehen von Bedrohungen in der Region tut und
mehr humanitäre Hilfe in dieser Region geleistet wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir einen Bündnispartner unterstützen, dann
sollten wir das nicht blind tun. Kritik an der türkischen
Regierung ist an dieser Stelle nicht nur gerechtfertigt,
sondern sogar geboten. Die türkische Regierung hat in
den letzten zwölf Monaten nicht immer eine rühmliche
Rolle in diesem Konflikt gespielt. Im Gegenteil, sie ist
aus meiner Sicht nicht konsequent genug gegen islamis-
tischen Terror in dieser Region vorgegangen. Sie muss
klarstellen, dass es weder direkte noch indirekte Unter-
stützung – auch nicht durch Unterlassen – von Islamisten
gibt, und sie muss noch mehr Anstrengungen an den Tag
legen, um den Friedensprozess mit den Kurden voranzu-
treiben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir über dieses Mandat reden, müssen wir als
Deutscher Bundestag, gleich wie wir abstimmen, auch
unsere Verantwortung gegenüber den Soldatinnen und
Soldaten, die wir in diesen Einsatz entsenden, im Blick
haben. Ich sage das in Gegenwart auch des Vorsitzenden
des Deutschen BundeswehrVerbandes, den ich auf der
Tribüne begrüßen darf. Durch meine schriftliche Frage
an die Bundesregierung ist offenbar geworden, dass wir
die Zusage gegenüber den Soldatinnen und Soldaten, die
sich in einen Auslandseinsatz begeben, dass sie nach
vier Monaten Dienstzeit im Ausland zwanzig Monate in
Deutschland ihren Dienst tun können, bei diesem Ein-
satz inzwischen in über einem Drittel der Fälle nicht ein-
halten können. Ich fordere deshalb an dieser Stelle die
Bundesregierung auf: Wenn dieses Mandat im Bundes-
tag beschlossen wird, dann müssen Sie alles, aber auch
wirklich alles tun, damit wir diese Zusage gegenüber den
Soldatinnen und Soldaten einhalten können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Türkei hat uns
um Unterstützung gebeten. Diese Bitte müssen wir ernst
nehmen und genauso ernsthaft prüfen. Wir sollten ein
solches Ansinnen nur aus gewichtigen Gründen verweh-
ren. Wir dürfen unsere Augen aber nicht vor einer frag-
würdigen Politik und vor der Belastung unserer Solda-
tinnen und Soldaten verschließen. Mit diesen Prämissen
wird meine Fraktion in die anstehenden Ausschussbera-





Dr. Tobias Lindner


(A) (C)



(D)(B)

tungen zu diesem Mandat gehen und dann in der zweiten
und dritten Lesung ihre Entscheidung treffen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1807913800

Als nächster Redner hat der Kollege Thomas

Hitschler das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Thomas Hitschler (SPD):
Rede ID: ID1807913900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir beraten heute über die Fortsetzung des
Bundeswehreinsatzes in der Türkei. Derzeit befinden
sich auf Bitten der türkischen Regierung etwa 260 Sol-
datinnen und Soldaten der Bundeswehr im Osten unseres
NATO-Partnerlandes als Teil einer NATO-Mission. Auf-
trag der Bundeswehr ist in erster Linie, die Grenzregion
um die Stadt Kahramanmaras mit den bodengestützten
Mittelstrecken-Flugabwehrraketen Patriot zu schützen.
Im Gegensatz zu den selbsternannten patriotischen
Abendlandverteidigern hierzulande sind die Patriot-Sys-
teme der Bundeswehr aufgrund einer realen Bedrohung
dort.

Infolge des grauenvollen Bürgerkriegs schossen syri-
sche Regierungstruppen 2012 mehrfach über die ge-
meinsame Landgrenze in türkisches Gebiet. In der Nähe
der Grenze liegt die Region Kahramanmaras. Allein in
der Großstadt gleichen Namens leben mehr als eine
halbe Million Menschen. Hinzu kommt, dass es unmit-
telbar vor der Stadt ein großes Flüchtlingslager mit
17 000 syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen gibt. Diese
Menschen haben in dem Konflikt bereits so gut wie alles
verloren.

Wir müssen uns etwas vor Augen führen: Im Jahr
2012 verfügte das syrische Regime über ein beträchtli-
ches Arsenal an Chemiewaffen und über Mittel, diese
auf die Türkei abzufeuern. Von Kahramanmaras bis zur
syrischen Grenze sind es etwa 100 Kilometer. Eine bal-
listische Rakete fliegt in der Regel mit mehrfacher
Schallgeschwindigkeit und überbrückt diese Distanz in
einem Augenblick. Die Menschen in und um Kahraman-
maras lebten im Sommer 2012 mit der Situation, dass
alles, was sie kannten, ohne Vorwarnung ausgelöscht
werden konnte. Daher bat die Regierung des NATO-Mit-
glieds Türkei im Herbst 2012 um Beistand. Dieser Bitte
leisteten wir Folge.

Mit den Patriot-Systemen füllt die Bundeswehr ge-
meinsam mit anderen Partnern eine Fähigkeitslücke der
türkischen Streitkräfte, indem sie einen aktiven Schutz-
schild an der türkisch-syrischen Grenze errichtet. Diese
Fähigkeit, die wir als besondere Spezialität in unser ge-
meinsames Bündnissystem einbringen, kann die Türkei
selbst nicht vorweisen. Man muss Hilfe leisten, wenn
man darum gebeten wird – das ist etwas, auf das in einer
Freundschaft und in einem Bündnis Verlass sein muss.

Die Patriot-Systeme der Bundeswehr sind wie die
Soldatinnen und Soldaten, die sie bedienen, in diesem
Bereich top. Im Militärjargon wird von einer Kill Proba-
bility von mehr als 90 Prozent gesprochen. Das bedeutet,
dass mit einer Wahrscheinlichkeit von über 90 Prozent
ein auf die Region Kahramanmaras abgefeuerter Flug-
körper abgefangen werden kann. Den Menschen in
Kahramanmaras und im gesamten Grenzgebiet wird so-
mit ein Stück weit Sicherheit zurückgegeben. Sie ver-
trauen auf ihren Bündnispartner Deutschland und damit
auch auf uns, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Vor ein paar Wochen hatte ich die Chance, mir in An-
kara und in Kahramanmaras selbst ein Bild von der Lage
zu machen. Die türkische Regierung ist dankbar für den
deutschen Beitrag und vertraut auf unsere Freundschaft
und auf unsere Bündnissolidarität, so wie wir dankbar
sein sollten, dass die Türkei insgesamt 1,6 Millionen
Bürgerkriegsflüchtlinge aus humanitären Gründen auf-
genommen hat und diese schier unglaubliche Anzahl an
Menschen als Gäste willkommen heißt. Auch wenn ich
nicht jede innenpolitische Entwicklung in der Türkei be-
grüße, ja vieles stark kritisiere: In Bezug auf die Flücht-
lingsproblematik können wir der Türkei nur herzlich
danken.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Regierung in Ankara weiß aber auch, dass der
Konflikt in Syrien noch lange nicht beigelegt ist. Die
Gefahr eines erneuten Raketenschlags auf türkischem
Boden bleibt also bestehen. Zugegeben: Die Bedro-
hungslage hat sich für die Türkei etwas verschoben. Die
Bitte unseres Partners bleibt aber bestehen, und sie ist
auch gerechtfertigt. Daher bitte ich Sie, den Wunsch der
türkischen Regierung nach einer Fortsetzung der Bun-
deswehrmission sehr ernst zu nehmen.

Dass es die Türkei mit der Partnerschaft innerhalb der
NATO ernst meint, zeigt auch die mittlerweile gute Si-
tuation unserer Soldatinnen und Soldaten vor Ort. Ob
Unterbringung, sanitäre Einrichtungen, Verpflegung,
Zusammenarbeit mit den türkischen Streitkräften – alles
scheint nach meinem Eindruck mittlerweile sehr gut zu
laufen. Wir alle wissen, dass das nicht immer so war.

Die Soldatinnen und Soldaten vor Ort, von denen
manche dreimal oder öfter im Rahmen von Active Fence
im Einsatz waren, verdienen ebenfalls den Respekt und
die Anerkennung dieses Hauses.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Vielleicht erinnert sich die eine oder der andere noch an
die Gelben Bänder der Verbundenheit, die wir alle vor
den Feiertagen unterschrieben haben. Diese Geste der
Verbundenheit ist vor Ort unglaublich gut angekommen.
Ich hatte die Ehre, der Truppe in Kahramanmaras eines
dieser Bänder zu übergeben als Zeichen dafür, dass wir
die Soldatinnen und Soldaten nicht vergessen, dass wir
nicht einsame Entscheidungen treffen und dann einmal
sehen, wie sich die Lage entwickelt. Nein, ich habe vor
Ort mitgeteilt, dass die Mehrheit des Deutschen Bundes-
tages dankbar ist, wenn Menschen ihrem Land auch über





Thomas Hitschler


(A) (C)



(D)(B)

die Feiertage dienen, und sie dann nicht vergessen sind;
ganz im Gegenteil.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Nutzen wir diese Debatte, um den Soldatinnen und
Soldaten vor Ort ein klares Zeichen der Unterstützung
für den Einsatz und die gute Arbeit, die sie leisten, zu
senden! Nutzen wir die Chance, unseren Freunden in der
Türkei zu zeigen, dass wir an ihrer Seite stehen, wenn sie
uns brauchen! Bitte stimmen Sie daher der Verlängerung
des Mandats zu.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1807914000

Als nächster Redner hat der Kollege Philipp

Mißfelder, CDU/CSU, das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1807914100

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Ich schließe mich dem Dank an die Sol-
datinnen und Soldaten, die dort wirklich hervorragende
Arbeit leisten, an. Herr Kollege Hitschler hat es schon
angesprochen: Dass die Host Nation Türkei jetzt bessere
gastgeberische Qualitäten zeigt als am Anfang, ist auf je-
den Fall beruhigend. Das Land ist ja generell dafür be-
kannt, ein sehr guter Gastgeber zu sein. Das war zu Be-
ginn der Operation allerdings nicht so. Insofern schließe
ich mich Ihrem Optimismus an, dass das so bleiben
wird.

Ich möchte zur Situation in der Türkei noch ein paar
Anmerkungen machen, weil das für den Rahmen des
Mandats nicht ganz unwichtig ist. Staatssekretär
Brauksiepe hat vorhin dankenswerterweise richtigge-
stellt, dass wir mit der Türkei sehr eng verbunden sind
und das Land als wichtigen NATO-Partner ansehen.

Frau Dağdelen, ich glaube, auch ein großer Teil der
türkischstämmigen Bevölkerung in Deutschland teilt Ihre
Einschätzung nicht. Man kann sicherlich vieles kritisie-
ren; aber Ihre einseitigen Überlegungen zur türkischen
Regierung gehören hier nicht hin. Sie können kritische
Punkte ansprechen; aber wir sollten nicht versuchen, an-
hand dieses Mandats, das durch außenpolitische Rah-
menbedingungen geprägt ist, hier im Deutschen Bundes-
tag innertürkische Debatten zu führen.

Ich bin der festen Überzeugung, dass die Türkei für
uns der Dreh- und Angelpunkt ist, wenn es um die strate-
gische Ausrichtung der Nahostpolitik oder auch der
Nordafrikapolitik Deutschlands geht. Gar keine Frage:
Wir brauchen die Türkei als verlässlichen Partner. Ge-
rade haben wir über Kurdistan im Nordirak gesprochen.
Ohne das Engagement der Erdogan-Administration hätte
Kurdistan im vergangenen Jahr sicherlich nicht eine so
gute Entwicklung genommen. Trotzdem gibt es dort na-
türlich große Probleme, auch wegen des Machtkampfs
im Nahen Osten. Ich denke dabei an die Auseinanderset-
zungen zwischen Saudi-Arabien und dem Iran und als
aufstrebende Macht auch der Türkei.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1807914200

Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kol-

legin Dağdelen zu?


Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1807914300

Selbstverständlich.


Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807914400

Vielen Dank, Herr Kollege. – Es mag sein, dass es so-

wohl in der Türkei als auch in Deutschland unterschied-
liche Ansichten über Erdogan, seine Macht und die
Strukturen gibt. Aber zu zwei Dingen möchte ich Sie
hier kurz befragen.

Erstens. Was sagen Sie zu den konkreten Punkten, die
ich in meiner Rede erwähnt habe, beispielsweise dazu,
dass der Abdruck einiger Seiten aus der Satirezeitung
Charlie Hebdo gestern verboten worden ist, die Ausga-
ben der entsprechenden Zeitungen konfisziert worden
sind und Journalisten angegriffen worden sind? Möchten
Sie dazu weiter schweigen?

Zweitens. Was denken Sie, wie man den Menschen,
die in Kobane seit Monaten gegen den IS kämpfen, er-
klären kann, dass die IS-Kämpfer in den Krankenhäu-
sern auf türkischem Territorium behandelt werden kön-
nen, aber die kurdischen Kämpferinnen und Kämpfer
vor der Grenze verbluten müssen, weil sie wegen des
Embargos nicht ins Land dürfen? – Auf diese Fragen
hätte ich gerne eine Antwort.

Als Drittes möchte ich Sie fragen, weil Ihr Kollege,
Herr Brauksiepe, ohne irgendeinen Beleg behauptet
hat, dass die Mehrheit der Bevölkerung in der Türkei
für den Patriot-Einsatz sei, ob Sie zur Kenntnis genom-
men haben, dass das bislang erst ein repräsentatives
Meinungsforschungsinstitut, der German Marshall Fund,
untersucht hat. Dieses amerikanische Institut hat im No-
vember 2012 eine Umfrage gemacht, nach der über 57
Prozent der Menschen in der Türkei gegen den Patriot-
Einsatz waren.


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Da hat er doch gar nicht angefangen!)


Wie kommen Sie oder Ihr Kollege dann dazu, ohne ir-
gendeinen Beleg zu behaupten, dass die Mehrheit der
Bevölkerung für den Einsatz sei? Bislang gibt es keine
Umfrageergebnisse in dieser Richtung.


Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1807914500

Ich fange mit der letzten Frage an, Frau Dağdelen. Ich

weiß nicht, auf welcher empirischen Grundlage die Aus-
sage von Herrn Brauksiepe erfolgt ist. Ich kann nur sa-
gen, dass ich in Gesprächen mit Vertretern der Türkei
den Eindruck hatte, dass der Einsatz durchaus willkom-
men ist. Ich kenne die Umfrage nicht – das sage ich ganz
offen –, verweise aber darauf, dass wir bei Mandaten für
Einsätze, die wir für sinnvoll erachten, auch häufig mit
Umfragewerten konfrontiert werden, die wir nicht be-
friedigend finden. Militärische Aktivitäten scheinen of-





Philipp Mißfelder


(A) (C)



(D)(B)

fenbar immer eine politische Führungsaufgabe zu sein,
um es einmal so zu formulieren.

Zu Ihren beiden anderen Fragen. Was die Zeitschrift
angeht, habe auch ich mit großem Interesse die türki-
schen Reaktionen verfolgt. Das finden wir natürlich
nicht gut; das ist gar keine Frage. Die Meinung in
Deutschland ist ganz klar, dass Satire definitiv zur freien
Meinungsäußerung gehört. Ich möchte allerdings an die-
ser Stelle bemerken, dass ich auch großen Respekt vor
den Gefühlen aller Menschen habe, die gläubig sind. Das
gilt sowohl, wenn im Kölner Dom jemand Unruhe stif-
tet, als auch dann, wenn in der Erlöser-Kirche in Moskau
Unruhe gestiftet wird oder Mohammed aus der Sicht des
Gläubigen beleidigt wird. Diese religiöse Verletztheit
rechtfertigt allerdings nicht, Menschen in Straflager zu
sperren. Sie rechtfertigt auch nicht, Menschen in die Luft
zu sprengen oder zu erschießen. Das hat die türkische
Regierung aber auch nicht getan.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das größte Gefängnis für alle Journalisten weltweit!)


– Dass eine Partei in einem Land, das mehrheitlich sehr
gläubig ist, versucht, gesellschaftliche Entwicklungen
wie die Ausprägung des Islams, an der Sie sich bekann-
termaßen stören – man kann in der Tat sehr intensiv dis-
kutieren, ob die AKP auf dem richtigen Weg ist –, abzu-
bilden, trägt sicherlich erst einmal zur Befriedung bei.
Das ist gar keine Frage. Aber wir sind mit der Wahl der
Mittel der Türkei nicht einverstanden. Das machen wir
auch bei jeder Begegnung mit dem Botschafter deutlich.

Sie haben Kobane angesprochen. Die Situation dort
zeigt, wie schwierig die Aufgabe ist. Darauf werde ich
noch im Fortgang meiner Rede eingehen.

Der Einsatz ist deshalb notwendig, weil die Türkei
sich innenpolitisch in einer ganz anderen Bedrohungssi-
tuation befindet als wir. In jüngster Zeit hat es wieder
Selbstmordattentate gegeben. Das trägt in der Türkei in-
nenpolitisch zu einer aufgeheizten Stimmung bei, die bei
uns, wie ich glaube, mindestens genauso groß wäre,
wenn wir in Berlin, Köln oder anderswo in Ballungszen-
tren mit solchen konkreten Bedrohungssituationen kon-
frontiert wären. Das darf man nicht unterschätzen.

Der zweite wichtige Punkt ist die grundsätzliche Aus-
einandersetzung zwischen der Türkei und Syrien. Auch
an dieser Stelle widerspreche ich der Türkei in vielen
Punkten massiv. Denn wir dürfen die Debatte darüber,
wer das kleinere Übel ist – die islamistischen Fundamen-
talisten, die gegen Assad kämpfen, oder Assad selbst –,
nicht führen. Auch von russischer Seite ist zu hören, dass
sie Assad im Vergleich zu ISIS als das kleinere Übel be-
trachten. Das darf nicht der Maßstab sein. Ähnlich ist
das Argumentationsmuster der türkischen Seite, die
nicht offiziell, aber durch die Blume sagt: Wir müssen
mit der Opposition in Damaskus, auch wenn sie nicht
gemäßigt sein sollte, zusammenarbeiten, um Assad, den
schlimmeren Schlächter, auszuschalten. – Das darf nicht
Maßstab unserer Politik sein, und das ist es auch nicht.
Aber es zeigt die Komplexität dieses Konflikts. Die
Feststellung, dass es keinen Frieden mit Assad geben
wird – das habe ich selbst mehrmals gesagt, und das ha-
ben auch Vertreter der Regierung zur Genüge getan –
und dass nur eine Friedenslösung ohne Assad vorstellbar
ist, ist so nicht mehr zu halten. Die Situation hat sich
verändert. Des Weiteren hat sich die Opposition, die die
Türkei anfangs tatkräftig unterstützt hat, in eine so nega-
tive Richtung entwickelt, dass man sich eigentlich
wünscht, dass keine der beiden Seiten die Macht erhält
bzw. behält. Vor diesem Hintergrund ist die Komplexität
des Syrien-Konflikts auf jeden Fall gegeben.

Nichtsdestotrotz sage ich, dass ein politischer Prozess
mit unzähligen Gesprächen, den wir nach wie vor anstre-
ben, auch wenn sich der Fokus der Öffentlichkeit ver-
schoben hat, richtig ist. Wir müssen mit der Türkei eng
und vertrauensvoll zusammenarbeiten. Insofern bewerte
ich den Besuch des türkischen Ministerpräsidenten in
Berlin zu Beginn dieser Woche als Erfolg. Wir sollten
unseren Weg fortsetzen. Die Verlängerung des Mandats
ist richtig.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1807914600

Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege

Florian Hahn, CDU/CSU, das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Florian Hahn (CSU):
Rede ID: ID1807914700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir sollten uns die Situation der Türkei und ihrer Bevöl-
kerung noch einmal deutlich vor Augen führen. Der
überwiegende Teil der Außengrenzen der Türkei ist
nicht gerade von Sicherheit und Stabilität gekennzeich-
net. 900 Kilometer Grenze zu Syrien und 350 Kilometer
Grenze zum Irak zeigen das. Hunderttausende Flücht-
linge sind inzwischen über diese Grenzen in die Türkei
geflohen, geflüchtet vor dem Bürgerkrieg und der barba-
rischen Daesh, die auf bestialische Weise mordet und
vergewaltigt; wir alle kennen die Bilder. Vor diesem
Hintergrund kann ich verstehen, dass die Türkei und vor
allem ihre Bevölkerung ein riesiges Sicherheitsbedürfnis
haben, das sich die meisten von uns nicht vorstellen kön-
nen. Vielleicht hilft uns die Erinnerung an die Zeit vor
1990, als gerade wir Deutsche ein solch großes Bedürf-
nis nach Sicherheit und Stabilität hatten.

Wir müssen und wollen als verlässlicher Partner in
der NATO der Türkei in dieser Situation weiterhin zur
Seite stehen und sie unterstützen. Wir haben deswegen
vor zwei Jahren das Mandat Active Fence zum ersten
Mal auf den Weg gebracht. Hintergrund war die mögli-
che Bedrohung der Türkei durch Kurzstrecken- und Mit-
telstreckenwaffen sowie durch chemische Waffen aus
dem Bürgerkriegsgebiet Syrien. Deshalb haben wir ge-
meinsam mit unseren Freunden aus den Niederlanden
und den Vereinigten Staaten mit dem Patriot-System ei-
nen Schutzschild aufgebaut. Wir waren uns schon da-
mals einig, dass das Risiko eines syrischen Angriffs
nicht sehr hoch ist. Inzwischen hat sich dieses Bedro-
hungsszenario verändert. Nach meiner Einschätzung hat





Florian Hahn


(A) (C)



(D)(B)

sich das Risiko verringert. In den letzten zwei Jahren
wurden keinerlei ballistische Angriffe auf die Türkei un-
ternommen. Die chemischen Waffen konnten wir inzwi-
schen gemeinsam weitestgehend vernichten.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Gerade mit Blick auf
das vorhin skizzierte Sicherheitsbedürfnis der türkischen
Bevölkerung halte ich einen plötzlichen und überstürz-
ten Abzug der Patriot-Systeme für nicht richtig; das wäre
ein falsches Zeichen. Allerdings sollten wir das kom-
mende Jahr nutzen, um in enger Abstimmung mit unse-
rem Bündnispartner Türkei zu klären, ob man wirklich
noch von einer Bedrohung durch Raketen ausgehen kann
oder ob wir nicht auf andere Weise eine viel nützlichere
Unterstützung anbieten können. Schließlich bedeutet ein
solcher Einsatz, der uns pro Jahr 20 Millionen Euro kos-
tet, gerade für unsere Soldatinnen und Soldaten eine
nicht zu unterschätzende Belastung. Die meisten der auf
dem Patriot-System ausgebildeten Soldaten müssen je-
des Jahr – der Kollege Lindner hat das schon dargelegt –
für mehrere Monate in die Türkei in den Einsatz, weg
von zu Hause, weg von der Familie. Wenn dieser Einsatz
dann sicherheitspolitisch kaum noch einen Nutzen hat,
ist er langfristig nicht mehr darstellbar. Zudem werden
erhebliche Fähigkeiten im Bereich der Luftverteidigung
durch diesen Einsatz gebunden. Die Möglichkeit der
NATO, auf andere Szenarien zu reagieren, ist damit stark
eingeschränkt. Für die Türkei als wirtschaftlich aufstre-
bende und erfolgreiche Nation in einer unruhigen Re-
gion wäre vielleicht mittelfristig der Aufbau eigener Ka-
pazitäten im Bereich der bodengebundenen Luftabwehr
ratsam.

Inzwischen haben 1,7 Millionen Menschen Zuflucht
in der Türkei gesucht. Ihre Unterbringung und Versor-
gung ist für den türkischen Staat eine unglaubliche He-
rausforderung. Ich kann mir vorstellen, dass wir als Part-
ner bei der Bewältigung dieser Herausforderung vor Ort
in der Türkei noch viel hilfreicher sind als mit unseren
Patriot-Systemen in Kahramanmaras.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne ten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1807914800

Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 18/3698 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Friedrich Ostendorff, Nicole Maisch, Christian
Kühn (Tübingen), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Zukunft der Tierhaltung – Artgerecht
und der Fläche angepasst
Drucksache 18/3732
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, sich zu setzen
bzw. ihre Gespräche außerhalb des Saals fortzusetzen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat
Friedrich Ostendorff, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Die Agrarier wollen
zur Eröffnung der Grünen Woche; deshalb herrscht ein
gewisser Zeitdruck, dass ihr, Kolleginnen und Kollegen,
die Plätze einnehmt.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin be-
sorgt, besorgt und erbost. In den vielen Jahren und Jahr-
zehnten, in denen ich mich agrarpolitisch engagiere,
habe ich schon sehr viel erlebt. Diskurse können hart,
müssen aber immer sachlich geführt werden. Das Maß
der unsachlichen Feindseligkeit hat dieser Tage Aus-
maße angenommen, die auch mich überrascht haben.
Die Grünen redeten, so der Generalsekretär des Deut-
schen Bauernverbands, Herr Krüsken, über Landwirte
„wie Pegida über Ausländer“.


(Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist echt eine Unverschämtheit!)


Solche Äußerungen, liebe Kolleginnen und Kollegen der
CDU/CSU, gehen eindeutig zu weit. Derartig furchtbare
Vergleiche verbitte ich mir aufs Schärfste.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Wer sich sprachlich auf dieses unterirdische Niveau begibt,
der diskreditiert sich als Gesprächspartner für konstruktive
Diskussionen, den lassen wir Grüne in Zukunft allein die
Gräben ausheben und vertiefen.

Wir Grüne sind für die Landwirtschaft, für lebendige
ländliche Räume, für artgerechte Tierhaltung und vor al-
len Dingen für eine Situation für die Bäuerinnen und
Bauern, in der sie sorgsam und nachhaltig mit Boden
und Tieren umgehen können und angemessen dafür ent-
lohnt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Die Agrarpolitik der CDU/CSU hat die Landwirt-
schaft jedoch in eine Sackgasse geführt. Von den zahlrei-
chen Missständen will ich exemplarisch drei aufführen.
Ich könnte noch 20 andere hinzufügen; aber dazu fehlt
die Zeit.

Erstens. 5 Prozent der Betriebe bekommen rund
42 Prozent der EU-Direktzahlungsansprüche – das sind
2,4 Milliarden Euro Steuergeld – pro Jahr. Dabei wäre
genug Spielraum auf nationaler Ebene gewesen, diese
Gelder in den Erhalt und die Förderung der ländlichen
Räume zu investieren. Doch Sie als Bundesregierung ha-
ben sich anders entschieden.





Friedrich Ostendorff


(A) (C)



(D)(B)

Zweitens. Allein die Region Weser-Ems, beispielhaft
für viele andere Veredelungsregionen in Nordwest-
deutschland, produziert einen Gülleüberschuss für
250 000 Hektar Ackerland. Die Flächen sind mit Nähr-
stoffen überlastet, das Grundwasser erst recht.

Drittens. Durch die Exportorientierung der Bundesre-
gierung sind die Erzeugerpreise deutlich volatiler gewor-
den. Die Bauern werden zu Produktionssteigerungen
verleitet, die der Weltmarkt in Kürze nicht mehr aufneh-
men kann und auch heute schon nur noch bedingt auf-
nimmt. Das ist keine nachhaltige Politik.

Das sind Missstände, die alle Bäuerinnen und Bauern
bewegen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zeitgleich mit der nicht mehr verkraftbaren Intensi-
vierung der Landwirtschaft wird der Preisdruck auf die
Tierhalter dermaßen verschärft, dass sie gezwungen
sind, ihre Tierbestände über ein selbst gewolltes Maß hi-
naus zu vergrößern. Tierhalter wollen ihre Tiere anstän-
dig behandeln; aber bei einem Schweinefleischpreis von
1,25 Euro pro Kilo wird das sehr schwierig. Bäuerinnen
und Bauern sind keine verrohten Tierquäler, nur weil
kein Bio-Logo am Hoftor klebt. Doch die ökonomischen
Zwänge sind zum Teil so stark, dass die Gefahr besteht,
Abstriche beim Tierschutz zu machen, um die Rentabili-
tät und das Familieneinkommen zu sichern. Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, das ist das politische Problem.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn eine Stalleinheit aus knapp 40 000 Hähnchen
bestehen muss und die Tiere in 33 Tagen schlachtreif
sein müssen, da die Tierhaltung sonst nicht mehr renta-
bel ist, dann gibt es viele Fragen, Fragen, die auch wir zu
lösen haben. Minister Schmidt hat vor wenigen Tagen
gesagt – er sagt ja manchmal auch bemerkenswerte
Dinge –: „Ab einer bestimmten Größe stoßen die Betreu-
ungsmöglichkeiten an ihre Grenzen.“


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört! Hört!)


Wie wahr! Deshalb ist der Strukturwandel keine zu be-
grüßende Entwicklung, sondern ein Verlust, ein Verlust
für den ländlichen Raum, ein Verlust für den landwirt-
schaftlichen Mittelstand und den Tierschutz. Dem müs-
sen wir entgegenwirken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Entwicklung zu immer größeren Anlagen in
Kombination mit einem schon unanständigen Preisdum-
ping bei tierischen Produkten, Nitrat und Phosphat im
Grundwasser und antibiotikaresistenten Keimen im
Fleisch und im Stall führen zu einem wachsenden Unbe-
hagen der Bevölkerung gegenüber dem, was in den ab-
geschotteten Tierhaltungsanlagen zwischen Nordsee und
Ruhrgebiet passiert.

Dieses Unbehagen werden übermorgen wieder viele
Tausend Demonstrierende unter dem Motto „Wir haben
es satt!“ auf die Straßen von Berlin tragen. Diese Men-
schen sind keine Bauernhasser. Diese Menschen mögen
das Land; sie mögen die Natur. Sie wollen hochwertige
Lebensmittel von artgerecht gehaltenen Tieren, die für
ihre Ställe nicht zurechtgestutzt und nicht mit Antibio-
tika gepusht werden. Ihre und unsere Aufgabe, liebe
Kolleginnen und Kollegen, ist es, diese beiden Gruppen
zusammenzubringen, endlich eine Diskussion aufzuneh-
men, wie wir in Zukunft in Deutschland Landwirtschaft
betreiben wollen, ob wir die Lieferanten für China sein
wollen und die chinesischen Milchbauern in den Ab-
grund schicken wollen oder ob wir hier, angepasst an die
Bedürfnisse unserer europäischen Bevölkerung, produ-
zieren wollen.

Die Feindseligkeit aber, die von Ihnen, von CDU und
CSU, teilweise beschworen wird,


(Dieter Stier [CDU/CSU]: Die Feindseligkeit kommt von Ihnen!)


gibt es in dieser Form gar nicht. Sie verhindert konstruk-
tive Entwicklungsprozesse hin zu einer tier- und um-
weltverträglichen nachhaltigen Landwirtschaft, vor allen
Dingen mit fairen Preisen für alle Beteiligten.

Wenn Sie weiterhin nur die Klientelpolitik des Bau-
ernverbandes umsetzen, die für die größten 5 Prozent der
Betriebe auf dem Rücken des bäuerlichen Mittelstands
ausgetragen wird, dann machen Sie eine Politik gegen
die Landwirtschaft, eine Politik gegen lebendige ländli-
che Räume, eine Politik gegen artgerechte Tierhaltung
und vor allen Dingen eine Politik gegen die Masse der
Bäuerinnen und Bauern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1807914900

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-

ordneten Dieter Stier, CDU/CSU-Fraktion.


Dieter Stier (CDU):
Rede ID: ID1807915000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Termingerecht
zum heutigen Beginn der 80. Internationalen Grünen
Woche in Berlin starten Sie, liebe Kolleginnen und Kol-
legen von Bündnis 90/Die Grünen, mit Ihrem Antrag
abermals den Versuch, einen Generalangriff auf die deut-
sche Land- und Ernährungswirtschaft zu reiten.


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Nun könnte man als Agrarpolitiker ja froh sein, dass
wir diese Landwirtschaftsdebatte am Nachmittag und
nicht fünf Minuten vor Mitternacht in diesem Hohen
Hause führen. Man könnte das, wenn Sie diese Debatte
nicht abermals zeitgleich mit dem Besuchs- und Ge-
sprächswunsch von zwei EU-Kommissaren und dem Er-
öffnungsabend der Internationalen Grünen Woche, dem
größten Ereignis der Branche in unserem Land, termi-
nieren würden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich bin der Meinung, dass wir zu diesem Zeitpunkt als
Agrarpolitiker des Gastgeberlandes für diese Gespräche
zur Verfügung stehen sollten. Ich hielte das für unser





Dieter Stier


(A) (C)



(D)(B)

Land, für Europa und für die Lösung der auch von Ihnen
angesprochenen Themen für sehr wichtig.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Mit dem von den Oppositionsfraktionen heute gewählten
Debattenzeitpunkt machen Sie das jedoch zum wieder-
holten Male teilweise unmöglich. Ich finde das nicht
redlich.

Ich will zunächst aber den heutigen Abend, den un-
mittelbar bevorstehenden Eröffnungsabend der Grünen
Woche in unserer Hauptstadt, zum Anlass nehmen, mich
im Rahmen dieser Debatte bei allen in der Branche Täti-
gen dafür zu bedanken, dass sie 365 Tage im Jahr, egal
ob Wochentag, Sonntag oder Feiertag, für ihre Tiere sor-
gen, sowie dafür, dass sie den ländlichen Raum pflegen
und die Verantwortung dafür übernehmen, dass die Men-
schen in unserem Land und in Europa satt sind.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich hätte mir gewünscht, dass Sie sich fraktionsübergrei-
fend diesem Dank anschließen können und nicht gerade
heute mit neuen Forderungen an die Branche auftreten.

Ich verhehle nicht, meine Damen und Herren, dass
ich mir auch wünschen würde, dass die Medien in unse-
rem Land gerade anlässlich der Grünen Woche diese
Wertschätzung vermehrt erkennen ließen und über die
fleißige Arbeit vieler in der Branche Tätiger berichten
würden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ARD-Morgen-
magazin – die ARD ist immerhin ein gebührenfinanzier-
ter öffentlich-rechtlicher Sender –


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wollen Sie den auch noch abschaffen? Auch noch „Lügenpresse“?)


berichtet heute, dass ausgerechnet Berlin sich zum Zen-
trum der veganen Szene entwickelt.


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, das ist so! Ist das schlimm oder was, nur weil die keine Currywurst essen? Die essen auch, auch die Veganer!)


Statt anlassbezogen über einen bäuerlichen Betrieb oder
über einen Betrieb der Ernährungsbranche zu senden
– dabei ist mir, lieber Kollege Ostendorff, der konventio-
nell produzierende genauso wichtig wie der Biobetrieb –,
wurde heute Morgen im Ersten Deutschen Fernsehen be-
richtet, dass man mittlerweile auch eine vegane Leder-
peitsche im Sexshop erwerben könne, welche aus alten
Fahrradschläuchen hergestellt werde.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die essen sie aber nicht! Was will er uns jetzt sagen? – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Haben Sie was dagegen?)


Mir zumindest fehlt dafür jedes Verständnis.

Beim Lesen Ihres Antrags habe ich festgestellt: Ich
stimme immerhin damit überein, dass der Viehbesatz in
manchen Regionen vielleicht zu hoch ist und dass wir
darüber diskutieren sollten. Sie suggerieren aber, dass
das flächendeckend so sei, und das ist einfach falsch.
Deshalb lehne ich auch die Einführung von Obergrenzen
ab.

Mein Heimatbundesland Sachsen-Anhalt weist als
Flächenland heute einen deutlich geringeren Viehbesatz
auf als vor 25 Jahren. Es gäbe hier genügend weitere
Möglichkeiten, durch Tierhaltung und Veredelung Wert-
schöpfung und damit Arbeitsplätze im ländlichen Raum
zu schaffen. Sicherlich gibt es in einigen Fällen auch
Missstände – das bestreiten wir überhaupt nicht –, aber
unsere Tierschutzgesetzgebung ist heute schon – nicht
erst seit der Novelle des Tierschutzgesetzes, die wir in
der letzten Legislaturperiode auf den Weg gebracht ha-
ben – auf einem hohen Niveau, und sie ermöglicht den
Landesbehörden auch einen entsprechenden Vollzug im
Sinne der Tiere. Dieser Rechtsvollzug muss stattfinden.
Auch hier beweist das Land Sachsen-Anhalt am Beispiel
des Falls Straathof, dass es dazu in der Lage ist.


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habt ihr wirklich gut gemacht!)


Wenn ich nun einige Forderungen aus Ihrem Antrag
herausgreife, dann stelle ich fest, dass diese teilweise
auch nicht schlüssig sind, wenn es um einen verbesser-
ten Tierschutz geht. Mir erschließt sich nach wie vor
nicht, warum Sie einem Tier innerhalb von Deutschland
in einem meist hochmodernen Transportfahrzeug nur ei-
nen vierstündigen Transport zumuten wollen, im euro-
päischen Maßstab aber für acht Stunden plädieren.

Ich komme zu einer weiteren Feststellung aus Ihrem
Antrag. Auch ich bin der Meinung: Es muss nicht täglich
Fleisch in der Ernährung sein.


(Nicole Maisch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört! Hört! – Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber neu!)


Ich schätze jeden, der das anders sieht, kann und will
aber niemandem seine Art und Weise der Ernährung vor-
schreiben.

Nun zu weiteren Inhalten Ihres Antrags. Sie schildern
die Welt der Landwirtschaft in den düstersten Farben,
die man sich nur vorstellen kann: Konsumenten würden
konventionell erzeugtes Fleisch rundweg ablehnen;
Tierhaltung fände nur in drangvoller Enge statt; der
landwirtschaftliche Alltag bestünde ausschließlich aus
Tierleid, verseuchten Böden, vergifteten Gewässern und
verpesteter Luft. Das ist Ihr verhängnisvolles Zerrbild
der Realität.

Meine Damen und Herren, Sie stellen den gesamten
Antrag unter den Leitgedanken der artgerechten Tierhal-
tung.


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Natürlich! Was sonst?)


Der Notwendigkeit einer solchen stimme ich zu. Wir alle
sind uns darüber einig, dass unsere Nutztiere vernünftig
gehalten werden sollen. „Vernünftig“ bedeutet in erster





Dieter Stier


(A) (C)



(D)(B)

Linie „artgerecht“. Selbstverständlich muss es für die
Umsetzung artgerechter Haltungsbedingungen auch ver-
nünftige Kriterien geben. Diese erachte ich durch unsere
bestehenden Gesetze und Verordnungen, aber auch
durch politische Initiativen als schon ausreichend vor-
handen.

Natürlich kann man darüber hinausgehende Forde-
rungen entwickeln. Die müssen sich aber immer am
Maßstab der Praxistauglichkeit messen lassen. Hierzu
bleibt Ihr Antrag gute Ideen schuldig. Was Sie zu bieten
haben, ist, wie immer, nichts Neues,


(Nicole Maisch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind neue Forderungen!)


eine üppige Sammlung alter Forderungen im aggressi-
ven Gewand restriktiver Instrumente.


(Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat Ihnen denn das aufgeschrieben?)


Durch Ihre Diktate, Zwangsverpflichtungen und Be-
schränkungen wäre die Landwirtschaft in Deutschland in
vielen Fällen nicht mehr handlungsfähig.

Dass wir nicht den Regulierungsmethoden von ges-
tern anhängen und trotzdem den Tierschutz in der land-
wirtschaftlichen Nutztierhaltung konsequent stärken, das
haben wir mit unserer Tierwohl-Initiative, für die ich
Minister Christian Schmidt außerordentlich dankbar bin,
unter Beweis gestellt. Wir werden mit dieser das
Tierwohl weiter stärken. Es wird Mitte des Jahres erste
Ergebnisse beim Prüf- und Zulassungsverfahren für seri-
enmäßig hergestellte Stalleinrichtungen geben.

Lassen Sie mich gegen Ende meiner Rede auch noch
einmal Ihr negativ aufgeladenes Bild der Landwirtschaft
aufhellen und richtigstellen. Landwirtschaftliche Unter-
nehmer sind nicht der Gegner ihrer eigenen Nutztiere,
sondern haben stets ein persönliches Interesse an einer
artgerechten Tierhaltung. Deswegen setzen sie auch
Maßnahmen zu dieser um. Zur Nutztierhaltung gehört
aber dennoch eine unabdingbare Tatsache, der man sich
stellen muss: Nutztierhaltung bedingt immer einen aus-
gewogenen Kompromiss zwischen den Bedürfnissen der
Tiere einerseits und den wirtschaftlichen Anforderungen
der Menschen andererseits. Nur vor diesem Hintergrund
kann auch eine artgerechte Tierhaltung von Nutztieren
verstanden werden. Diese Einsicht kann ich bei Ihnen je-
doch leider nicht erkennen. Ihr vorliegender Antrag
bleibt daher auch bei mehrmaliger Betrachtung nichts
weiter als die Aneinanderreihung der gescheiterten An-
tragsversuche der letzten Jahre.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschlie-
ßend feststellen: Wenn jährlich deutlich mehr als
410 000 Besucher der Internationalen Grünen Woche
mit unserer Landwirtschaft und unserem ländlichen
Raum zufrieden sind, dann können wir keine so
schlechte Agrarpolitik gemacht haben. Nachdem Sie
heute ja noch aufs Demonstrieren zu sprechen gekom-
men sind, was zurzeit groß in Mode ist, und darauf ver-
wiesen haben, dass es am Samstag eine Demo unter dem
Motto „Wir haben es satt!“ gibt, Herr Ostendorff, sage
ich Ihnen: Es gibt auch eine Demo unter dem Motto
„Wir machen Euch satt“. Ich werde zu der zweiten
Demo gehen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1807915100

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-

ordneten Dr. Kirsten Tackmann, Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807915200

Ich glaube, bei uns allen dreht sich das Kopfkino jetzt

noch um die vegane Lederpeitsche.


(Heiterkeit bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Da kannst du noch etwas lernen! Ich habe keine Ahnung davon, er wird uns das erklären!)


Aber kommen wir zurück zum eigentlichen Thema:
Früher haben wir Agrarpolitiker uns ja oft beschwert,
dass die Debatten erst so spät in der Nacht stattfanden
und vielfach überhaupt nicht beachtet wurden. Heute
gibt es gleich drei Agrardebatten an einem Tag: eine am
helllichten Vormittag und zwei noch vor dem Sand-
männchen. Also ich finde, das ist ein großer Fortschritt.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Diskussionen zur Zukunft der Landwirtschaft
sind ja richtig und wichtig. Es ist gut, dass es vielen
nicht gleichgültig ist, wer die Lebensmittel wo und wie
produziert. Es ist auch gut, dass am kommenden Sonn-
abend friedlich demonstriert wird, weil moralische und
ethische Werte und auch die natürlichen Lebensgrund-
lagen bedroht sind. Demokratie lebt doch von Mei-
nungsvielfalt und Einmischung. Ich als Linke habe es
auch satt, dass Geld die Welt immer mehr regiert.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nur der Ton der Debatte ist mir manchmal etwas
schrill. In einer Welt der Reizüberflutung muss man
manchmal zuspitzen; das ist richtig. Aber auch dann
kann und muss die Kritik sachlich bleiben. Das gilt für
alle Seiten, auch für den Bauernverband. Wenn sein
Generalsekretär wirklich gesagt hat: „Teile der Grünen
reden über Landwirtschaft wie Pegida über Ausländer“,
dann hat er sich, wie ich finde, im Ton vergriffen und
sollte das zurücknehmen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Kritik ist aber leider oft auch etwas einseitig. Ja,
auch die Landwirtschaft muss sich bewegen und muss
umdenken. Ich erlebe aber in den Betrieben sehr viel





Dr. Kirsten Tackmann


(A) (C)



(D)(B)

mehr davon als in Lobbyistenkreisen oder bei den Funk-
tionären. Gerade als Tierärztin finde ich das Prinzip ganz
wichtig, dass die Haltungsbedingungen an die Bedürf-
nisse der Tiere angepasst werden und nicht umgekehrt.
Das gilt übrigens auch für Heim- und Haustiere. Ich
finde es auch gut, dass mein eigener Berufsstand, der der
Tierärzte, sich unterdessen sehr intensiv in die Debatte
einbringt.

Gerade als Linke will ich aber, dass sich die Kritik
vor allem an die richtet, die von dem jetzigen System
profitieren, also zuallererst an Supermärkte, die Lebens-
mittel billig verschleudern und selbst dabei satte Ge-
winne einstreichen, denen egal ist, ob die Erzeugerpreise
auch die Erzeugerkosten decken. Ich finde, das können
wir als Gesetzgeber nicht dulden.


(Beifall bei der LINKEN)


Deshalb gehört eine gerechtere Gewinnverteilung vom
Stall bis zum Supermarkt in diese Debatte. Dann müssen
Lebensmittel auch nicht zwangsläufig teurer werden,
wenn Tiere unter besseren Bedingungen gehalten wer-
den. Als Linke sage ich auch ganz klar: Ich möchte nicht
nur über das Wohl der Tiere in den Ställen diskutieren,
sondern auch über das Wohl der Menschen, die sie be-
treuen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Sie sollen gut ausgebildet sein. Sie sollen fair bezahlt
werden. Auch ihre Arbeitsbedingungen müssen sich ver-
bessern.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Der öffentliche Druck ist unterdessen sehr erfolg-
reich. Wir haben Bewegung in die Diskussion gebracht,
auch im Bundestag. Vielleicht nicht bei Herrn Stier, aber
sonst durchaus. Selbst Kollege Holzenkamp von der
Union sagte gestern öffentlich, dass sich die Landwirt-
schaft neu denken muss. Auch er äußert kartellrechtliche
Bedenken gegen die Marktdominanz von vier großen
Supermarktketten. Auch die Initiative Tierwohl der Le-
bensmittelbranche ist doch eine Reaktion auf den öffent-
lichen Druck.

Der Bundesagrarminister beharrte zwar gerade in ei-
nem Interview mit der Märkischen Oderzeitung darauf,
Deutschland brauche keine Agrarwende, aber zwei Sätze
später sagt er: „Allerdings betrachte ich Megaställe, in
denen niemand mehr den Überblick hat, mit Sorge.“ Ich
finde: Auch seine Seele kann noch gerettet werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Apropos Megaställe: Die Linke hat bereits im Juni
2014 einen Antrag in den Bundestag zu diesem brennen-
den Problem eingebracht. Wir fordern unter anderem,
die Größe von Tierbeständen am Standort und in Regio-
nen zu deckeln. Um nicht wieder falsch verstanden zu
werden: Es geht nicht darum, dass kleinere oder größere
Bestände mehr oder weniger Tiergesundheitsprobleme
haben. Aber wir wollen keine 40 000 Schweine oder
400 000 Hähnchen an einem Standort,


(Beifall bei der LINKEN)


erst recht nicht, da wir wissen, dass im Fall einer Tier-
seuche, zum Beispiel der Schweinepest oder der Vogel-
grippe, alle Tiere vorsorglich getötet werden müssen.
Das ist nicht zu verantworten.


(Beifall bei der LINKEN)


In der Debatte im Juli 2014 gab es noch viel Kritik an
diesem Vorschlag. Unterdessen wird sehr ernsthaft und
breit darüber diskutiert, ob solche Bestandsobergrenzen
nicht doch gebraucht würden. Auch dort haben wir in
der Debatte etwas bewegt. Heute legen die Grünen einen
umfangreichen Katalog von Vorschlägen vor. Ich finde,
dass dieser Katalog eine intensive Behandlung verdient.
Dort stehen viele Dinge, die wir teilen; vielleicht nicht
alle. Aber ich finde, diese Diskussion muss jetzt weiter-
gehen. Vielleicht kann sie etwas sachlicher und fachli-
cher stattfinden. Ich hoffe da auf die SPD.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ute Vogt [SPD])



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1807915300

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-

ordneten Christina Jantz, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Christina Jantz (SPD):
Rede ID: ID1807915400

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Rechtzeitig zur
Grünen Woche beglücken uns die Bündnisgrünen mit ei-
nem Antrag zur Zukunft der Tierhaltung, die artgerecht
und der Fläche angepasst sein soll.


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch schön!)


Die Überschrift ist gut. Inhaltlich kommt der Antrag an
vielen Stellen über bloße Symbolforderungen leider
nicht hinaus; sei es drum.

Sie kennen mich, meine Damen und Herren, und wis-
sen, dass ich gerne die Gelegenheit nutze, um über den
Tierschutz zu sprechen. Mit schlichten Forderungen
kommen wir nämlich nicht weiter, sondern nur mit einer
vernünftigen Agrar- und Tierschutzpolitik, die nicht stig-
matisiert, sondern alle Beteiligten mitnimmt. Als Tier-
schutzbeauftragte meiner Fraktion freue ich mich, dass
es uns gelungen ist, dem Tierschutz in der Koalition und
in der Regierung Gehör zu verschaffen.


(Beifall bei der SPD)


Gute Tierschutzpolitik geht einher mit guter Agrarpoli-
tik, Verbraucherpolitik, Arbeits- und Sozialpolitik und
natürlich mit dem Umweltschutz.

Lassen Sie mich an dieser Stelle einige Punkte he-
rausgreifen, die wir im Bereich des Tierschutzes im Rah-
men eines breiten Dialoges mit allen Beteiligten bereits
angeschoben haben und umsetzen werden. Bereits seit





Christina Jantz


(A) (C)



(D)(B)

Jahren ist es unser erklärtes Ziel, die Haltungsbedingun-
gen von Tieren zu verbessern. Ich zum Beispiel kann die
Bilder von grausamen Bedingungen in Mastställen, die
immer wieder im Fernsehen flimmern, nur sehr schwer
ertragen. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber wir
müssen endlich etwas tun. Die Haltungsbedingungen
sind den Tieren anzupassen und nicht die Tiere passend
zurechtzustutzen wie beispielsweise durch das Kupieren
oder dem Abkneifen von Schnäbeln.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Hier gibt es sicher nicht nur eine Lösung. So einfach ist
es leider nicht. Die Haltungsbedingungen müssen insge-
samt angepasst und optimiert werden.

Wozu eine völlig artfremde Tierhaltung führt, sehen
wir beispielsweise in der Putenmast. Die Tiere werden
auf engstem Raum zusammengepfercht und gemästet.
Damit die Tiere dies überhaupt überleben und so schnell
wachsen, werden oftmals Antibiotika eingesetzt. Das
heißt, wollen wir den kritisierten Antibiotikaeinsatz tat-
sächlich reduzieren, müssen sich insbesondere die Hal-
tungsbedingungen ändern und müssen wir den Tieren
mehr Platz für ein gesundes und artgerechtes Leben bie-
ten. Damit sage ich nicht, dass ich für ein generelles An-
tibiotikaverbot bin. Wenn Tiere krank sind, müssen sie
selbstverständlich behandelt werden. Antibiotika dürfen
aber kein Mittel sein, um artfremde Haltungsbedingun-
gen zu ermöglichen.

Dennoch teilen mir viele Putenhalter mit, dass sie ge-
zwungen sind, die Tiere wie beschrieben auf engem
Raum zusammenzupferchen. Der Preis, den sie pro Tier
erzielen, ist zu gering, um andere Haltungsbedingungen
umsetzen zu können. Das Fleisch wird vom Einzelhan-
del nämlich größtenteils als Sonderangebot verkauft, sei
es an der Fleischtheke oder als Bestandteil von Wurst,
Fertiggerichten und, und, und. Ich fordere daher das
Ministerium, aber auch uns alle auf, nach Möglichkeiten
zu suchen, diesen viel zu sehr ausgeweiteten „Sonder-
angeboten“ zu begegnen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE])


Wie wir feststellen, reichen freiwillige Bekenntnisse
und öffentliche Diskussionen nicht immer aus; es bedarf
doch des motivierenden Drucks des Gesetzgebers, wie
beispielsweise bei dem von uns auf den Weg gebrachten
Prüf- und Zulassungsverfahren für Tierhaltungssysteme.
In einem ersten Schritt wollen wir die Haltung von Lege-
hennen verbessern. Die Erfahrungen damit sollen direkt
genutzt werden, um die Bedingungen für weitere Tier-
arten zu verbessern. Natürlich dürfen die Vorgaben keine
Investitionen hemmen, und dennoch müssen sie zu ech-
ten Verbesserungen führen und Rechtssicherheit für Her-
steller und Landwirte schaffen.

Wir sind uns mit dem Landwirtschaftsminister einig,
dass wir die erforderlichen gesetzlichen Anpassungen
auf nationaler Ebene vornehmen müssen. Aber auch auf
europäischer Ebene müssen wir um Mitstreiter werben
und die Vorhaben vorantreiben. Auch deshalb haben wir
uns seitens der SPD-Fraktion im letzten Jahr mit Exper-
ten aus dem europäischen Ausland sowie Vertretern der
Verbände und NGOs zu genau diesem Thema ausge-
tauscht: Verbesserung der Tierhaltung.

Aus meiner Sicht lässt sich eine gute Tierhaltung
nicht auf die Anzahl der in einem Stall gehaltenen Tiere
reduzieren. Für mich ist vielmehr das Wie entscheidend.
Die Gespräche und Erfahrungen zeigen ganz deutlich:
Nur im Dialog gelangen wir zu besseren Haltungsbedin-
gungen. Wir wollen keine Schnellschüsse. Wir wollen
tragfähige Entscheidungen. Wir wollen spürbare Verbes-
serungen für die Tiere, keine bloße Deckelung des Be-
standes. Denn was bringt es einer Kuh, wenn sie zwar
nur mit 15 weiteren Kühen im Stall steht, dafür aber an-
gebunden ist?


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ingrid Pahlmann [CDU/CSU])


Ich stimme mit Ihnen überein, dass wir auch aufgrund
der Emissionsproblematik nachsteuern müssen; das wird
meine Kollegin Rita Hagl-Kehl gleich weiter ausführen.
Auch hier brauchen wir gut durchdachte Lösungen, denn
sonst spielen wir mit dem Vertrauen in die Versorgungs-
sicherheit und mit der Existenz vieler Bauern in diesem
Land. Wir brauchen die Landwirte, denn auch sie sind
wichtige Experten, wenn es um Verbesserungen in der
Tierhaltung geht. Ich stehe für einen offenen Dialog mit
allen Beteiligten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen den
Tierschutz messbar verbessern. Das heißt auch, dass wir
Indikatoren entwickeln müssen, die hierüber Auskunft
geben. Auch dafür muss die Forschung für eine moderne
Landwirtschaft und im Sinne des Tierschutzes gestärkt
werden. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich for-
dere nicht ein bloßes Mehr an Geldern für die For-
schung. Vielmehr müssen die Forschungsprojekte und
ihre Zielsetzungen aufeinander abgestimmt werden und
zwischen dem Bund und den Ländern besser koordiniert
werden, die Ergebnisse zusammengeführt und transpa-
rent dargestellt werden.

Meine Damen und Herren, packen wir es weiter an,
im Sinne des Tierschutzes!

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1807915500

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-

ordneten Thomas Mahlberg, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Thomas Mahlberg (CDU):
Rede ID: ID1807915600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! In meiner Heimatstadt Duis-
burg gibt es seit 50 Jahren ein Delfinarium. Die Duisbur-
ger waren große Pioniere in Mitteleuropa, wenn es um
die Delfinhaltung geht. Die Zuchterfolge und der Besu-
cherzuspruch im Delfinarium im Zoo Duisburg sprechen





Thomas Mahlberg


(A) (C)



(D)(B)

für sich. Trotzdem versuchen Tierschützer und auch
viele Grünen-Politiker, den Delfinarien den Garaus zu
machen.


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Die Delfinhaltung war schon in der vergangenen
Wahlperiode ein großes Politikum. In einer Anhörung
des Ausschusses – das habe ich noch einmal nachgelesen –
haben sich die meisten Sachverständigen für die Delfin-
haltung ausgesprochen. Auch im Landtag Nordrhein-
Westfalen, dem ich zehn Jahre lang angehört habe, fand
letztes Jahr im Naturschutzausschuss eine Experten-
anhörung statt, bei der mehrere Experten der Behaup-
tung, die Delfinhaltung sei Tierquälerei, widersprochen
haben.


(Nicole Maisch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sehen die Delfine anders!)


Eine wissenschaftlich fundierte Basis zur Bewertung
der Delfinhaltung ist also gegeben und eindeutig: Die
Delfinhaltung ist keine Tierquälerei. Aber nein, den
Gegnern der Delfinhaltung ist das nicht genug; denn das
Fachliche ist ihnen egal. Sie machen mit ihren Diffamie-
rungskampagnen weiter. Das, liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen, sehe ich auch bei Ihnen, wenn
ich mir Ihren Antrag zur Nutztierhaltung anschaue.


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darum geht es nicht! Delfine mästen wir nicht! – Nicole Maisch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Delfine sind keine Nutztiere! Es geht um Schweine!)


– Ich komme jetzt zu Ihrem Antrag. – Es gibt eine ge-
wisse Parallele bei der Vorgehensweise. Auch Sie sind
besondere Gutmenschen, die nach Verboten rufen, aber
natürlich keine Lösungen anbieten. Auch Ihnen ist es
egal, was die Fachleute und die Praktiker von Ihren
Wunschvorstellungen halten.

Warum sind Sie eigentlich nicht bereit, die vielen
positiven Entwicklungen in der Landwirtschaft zu se-
hen? Sind Sie im Ernst der Überzeugung, dass unsere
moderne Tierhaltung die Gesundheit der Menschen etwa
gefährdet? Was ist daran verwerflich, dass unsere gesun-
den und sicheren Lebensmittel so viel Nachfrage im
Ausland finden? Warum gibt es diese Exportfeindlich-
keit bei Ihnen? Wir haben eben im Gesundheitsaus-
schuss im Gespräch mit Phil Hogan einiges darüber ge-
hört, was uns gerade der Export bringt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen, Ihr Antrag greift unbestritten
wichtige Themen auf – da waren sich, glaube ich, alle
Redner unisono einig –, ist aber gespickt mit Ihrer Ver-
botsmentalität, die uns an dieser Stelle nicht weiter-
bringt. Lassen Sie uns über die Zukunft unserer Nutztier-
haltung reden, aber lassen Sie uns das wissensbasiert
und praxisorientiert tun.

Ein guter Ansatz ist die Tierwohl-Initiative „Eine
Frage der Haltung – neue Wege für mehr Tierwohl“ des
Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft.
Mit der im September 2014 gestarteten Initiative will das
Ministerium die verschiedenen Maßnahmen, zum Bei-
spiel die Brancheninitiative Tierwohl und das Tier-
schutzlabel des Deutschen Tierschutzbundes, koordinie-
ren und damit konkrete Verbesserungen im Tierwohl
erreichen, „die sich am wirtschaftlich und auch wissen-
schaftlich Machbaren orientieren“.

Unser Bundesminister Christian Schmidt hat uns in
einer Ausschusssitzung seinen Maßnahmenkatalog vor-
gestellt. Zusammen mit dem von ihm eingesetzten
„Kompetenzkreis Tierwohl“ greift er wichtige Punkte
auf: Sachkunde der Tierhalter, Stalleinrichtung, Tier-
schutz bei Schlachtung, Forschung, nichtkurative Ein-
griffe bei Nutztieren.

Das Thema der nichtkurativen Eingriffe findet sich
auch in Ihrem Antrag. Und was ist Ihr Vorschlag? Große
Überraschung: ein striktes Verbot. Warum verschweigen
Sie aber, dass mit einem sofortigen strikten Verbot mehr
Tierleid und weniger Tierwohl entstünde? Sie wissen
doch genau, dass das Schwanzkupieren bei Schweinen
und das Schnabelkürzen bei Geflügel keine Spaßbe-
schäftigung der Tierhalter ist. Die Tierhalter nehmen es
vor, weil sie Schlimmeres verhindern wollen. Liebe Kol-
leginnen und Kollegen von den Grünen, Sie wissen
doch, dass es sonst zu Kannibalismus kommen könnte
und damit Verletzungen und Entzündungen die Tiere
plagten.

Es ist Ihnen doch bewusst, dass die Problematik
durchaus komplex ist und dass es mit einem Verbot nicht
getan ist. Warum haben Sie nicht den Mumm, das öffent-
lich zu sagen? Warum setzen Sie auf so billige Quasi-
lösungen, die letztendlich niemandem – und schon gar
nicht den Tieren – helfen würden? Klar ist: Auch wir
wollen, dass die Haltungseinrichtungen den Bedürfnis-
sen der Tiere angepasst werden und nicht umgekehrt;
das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Aber?)


Wir wollen einen Ausstieg aus den nichtkurativen Ein-
griffen; das ist auch klar. Dieses Ziel steht für jeden
nachzulesen gleich an Platz zwei des Maßnahmenkata-
logs des Bundesministeriums. Dort finden Sie, im
Gegensatz zu Ihrer populistischen Forderung, einen for-
schungsbasierten und praxisnahen Ansatz.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Bei dem am Ende vielleicht auch ein Verbot steht!)


Lernen Sie doch von uns und unserem Bundesminister:
Zuerst wird geforscht und in der Praxis erprobt, was
– wissenschaftlich abgesichert und praxisreif – zum Re-
gelfall gemacht werden soll.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dieter Stier [CDU/CSU]: Das ist der richtige Weg! – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Es darf bloß keine Ausrede sein!)


Zu Ihrer Ignoranz gegenüber fachlicher Kompetenz
und zu Ihrem Dauermantra gehört die nun wieder erho-
bene Forderung nach Tierbestandsobergrenzen. Es ha-
ben sich bereits sehr viele Agrarexperten dazu geäußert
und bestätigt – wir haben es, glaube ich, gerade von der
Kollegin Jantz gehört –, dass das Tierwohl nicht allein





Thomas Mahlberg


(A) (C)



(D)(B)

von der Größe des Bestandes abhängig ist. Beispielhaft
möchte ich an dieser Stelle Herrn Dr. Lars Schrader, den
Leiter des Instituts für Tierschutz und Tierhaltung des
Friedrich-Loeffler-Instituts – er ist sicherlich auch Ihnen
als Fachmann bekannt – mit den Worten zitieren, dass
„die viel diskutierte Größe der Bestände für die Tierge-
rechtheit keine Rolle spielt“. Viel wichtiger als die Be-
standsgröße ist die Betreuung durch den Tierhalter, die
richtige Fütterung, ein gut strukturierter und an die Be-
dürfnisse der Tiere angepasster Stall. Es ist ein Irrweg,
davon auszugehen, dass es einem Tier in einem kleine-
ren Bestand automatisch besser geht. Wir müssen weg
von der Bestandsgrößendebatte und hin zu einer Einzel-
tierbetrachtung, wie ich meine.

Uns in der Unionsfraktion geht es nicht um ideologi-
sche Grabenkämpfe, sondern um messbare Fortschritte
in Sachen Tierschutz. Ihnen, liebe Kolleginnen und Kol-
legen von den Grünen, geht es in erster Linie um Stim-
mungs- und Angstmache.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Mit Ihrem Antrag, meine ich, beweisen Sie erneut, dass
Sie nicht wirklich interessiert sind, ernsthaft und kon-
struktiv über die Zukunft der Nutztierhaltung und unse-
rer Landwirtschaft insgesamt zu diskutieren. Es scheint
Ihr politisches Kalkül, eine ganze Branche zu diffamie-
ren, die Bürgerinnen und Bürger in Angst zu versetzen
und mit unausgegorenen Vorschlägen zu überschütten.
Mit Ihrem ideologischen Dünkel verlangen Sie eine
Landwirtschaft, die rückwärtsgewandt ist und die nicht
imstande wäre, die wachsende Weltbevölkerung sicher
und gesund zu ernähren.

Sie beziehen sich in Ihrem Antrag auf die immer zur
Zeit der Internationalen Grünen Woche stattfindende
Demo „Wir haben es satt!“; das ist ja gerade zur Sprache
gekommen. Ich habe gehört, es gibt Teilnehmer hüben
wie drüben, an der einen und der anderen Demo. Umso
mehr freue ich mich, dass am Samstag eine Gegendemo
unter dem Motto „Wir machen Euch satt“ stattfinden
wird. Dort wollen Landwirte von großen und kleinen,
von ökologischen und konventionellen Betrieben zeigen,
dass sie gesprächsoffen sind. Sie wollen sowohl mit den
Verbraucherinnen und Verbrauchern als auch mit der
Politik reden. Sie wollen, dass man mit ihnen redet, statt
über sie.


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir reden ständig!)


Ich frage Sie: Ist das zu viel verlangt?

Wir als Unionsfraktion wollen die Zukunft der Tier-
haltung und der Landwirtschaft zusammen mit unseren
Landwirten und nicht gegen sie gestalten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir wollen diesen Prozess im Dialog mit Verbraucherin-
nen und Verbrauchern und auf einer fundierten wissen-
schaftlichen Grundlage führen. Wir greifen nicht zurück
auf einfache Lösungen, die in Wirklichkeit keine Lösun-
gen sind. Wir wollen weiterhin unserem Auftrag aus
dem Grundgesetz nachgehen und die Tiere als unsere
Mitgeschöpfe schützen. Dafür werden wir die Tierwohl-
Offensive des Bundesministeriums, die auch in unserem
Koalitionsvertrag verankert ist, kritisch begleiten und
konstruktiv mitgestalten. Wir haben es satt – um Ihren
Lieblingskampfspruch zu verwenden, liebe Grünen –,
dass Sie unsere bäuerlichen Familien diskreditieren. Wir
lehnen Ihren Antrag, den Sie hier vorgelegt haben, ent-
schieden ab.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das ist unparlamentarisch, das in der ersten Lesung abzulehnen!)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1807915700

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-

ordneten Rita Hagl-Kehl von der SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Rita Hagl-Kehl (SPD):
Rede ID: ID1807915800

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Tierhaltung ist ein wichtiges Thema, das für
verschiedene, eng miteinander verbundene Bereiche der
Landwirtschaft von großer Bedeutung ist. Im Hinblick
auf den Tierschutz besteht die Notwendigkeit, bessere
Tierhaltungsbedingungen in den landwirtschaftlichen
Betrieben zu ermöglichen, um den Bedürfnissen der
Tiere gerecht zu werden. Durch eine artgerechte Tierhal-
tung wird sowohl die hochqualitative Produktion von
Lebensmitteln als auch die Tiergesundheit langfristig
aufrechterhalten, wie meine Kollegin Christina Jantz be-
reits ausgeführt hat. Genauso bedeutsam ist die artge-
rechte Tierhaltung aber auch für den Umweltschutz. Die
Art und Weise, wie Nutztiere gezüchtet werden, beein-
flusst direkt das Niveau der Verschmutzung von Luft,
Boden und Grundwasser. Die zu hohe Anzahl der Tiere
in Tierhaltungsanlagen oder der Zuwachs an Anlagen
selbst führt zur Erhöhung der Güllemenge, die zur Be-
lastung von Luft und Grundwasser durch hohe Ammo-
niak- und Nitratemissionen deutlich beiträgt.


(Beifall bei der SPD)


Der Nitratgehalt des Grundwassers ist regional ver-
schieden, wobei in Regionen mit Massentierhaltung oder
Sonderkulturen besonders hohe Werte erreicht werden.
Die Belastung der Gewässer wird durch Überdüngung
immer größer. Deswegen muss die Nitratbelastung ge-
senkt werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es sollten nicht mehr Tiere gehalten werden, als mit
eigenem Futter versorgt werden können. Der Import von
Futtermitteln führt zu einem Überschuss an Gülle, der
die Umwelt belastet. Der Nitratgehalt im Grundwasser
hat in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen. Die
zu hohen Nitratmengen können große Schäden sowie
hohe Kosten für die Entfernung der Nitrate aus dem
Trinkwasser verursachen. Dafür gibt es ausreichend Bei-
spiele. Zum Beispiel in der Stadt Plattling in Niederbay-
ern, in meinem Wahlkreis, wird das zu hoch belastete
Grundwasser mit Wasser aus Tiefenbohrungen ver-





Rita Hagl-Kehl


(A) (C)



(D)(B)

mischt, um den Nitratgehalt zu reduzieren. Meine Frage
lautet: Wer trägt die Kosten? Der Verbraucher, wir alle.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein anderes Beispiel dafür ist München, wo das Wasser
aus den Gebirgsregionen hergeleitet wird und den Land-
wirten, die ökologisch wirtschaften, Flächen billig ver-
pachtet werden.

Wie Ihnen sicher bekannt ist, belegen wir in der EU
den zweitschlechtesten Platz, was die Wasserqualität an-
belangt, und das liegt nicht nur an dem Messverfahren.
Im Oktober 2013 hat die EU-Kommission gegen
Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren wegen un-
zureichender Umsetzung der Nitratrichtlinie der EU ein-
geleitet. Dieses Verfahren ist auch der Grund für die
Novellierung der Düngeverordnung, die das Haupt-
instrument zur Umsetzung der Richtlinie darstellt. Natür-
lich muss uns allen daran gelegen sein, die Wasserquali-
tät zu verbessern, damit wir unseren Kindern und
Enkelkindern ein Land hinterlassen können, in dem man
das Leitungswasser weiterhin trinken kann.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE])


Ein Ziel der vorgesehenen Änderung der Dünge-
verordnung ist die Einbeziehung aller organischen und
organisch-mineralischen Düngemittel in die nach EG-
Nitratrichtlinie einzuhaltende Obergrenze von 170 Kilo-
gramm Stickstoff je Hektar im Durchschnitt des Betrie-
bes. Um die ökologische Verträglichkeit der Tierhaltung
zu gewährleisten, müssen diese Werte unbedingt berück-
sichtigt werden. Die ökologisch verträgliche Tierhaltung
sollte als Teil der Landwirtschaftspolitik, die auf Nach-
haltigkeit und ressourcenschonende Produktion ausge-
richtet ist, betrachtet werden. Eine nachhaltige Landwirt-
schaft sollte sowohl im Interesse der Landwirte und der
Verbraucher sein als auch der Umwelt und dem Tierwohl
dienen und dabei eine Qualitätsstrategie verfolgen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Das ist der Kern einer zukunftsfähigen Agrarpolitik, für
die wir uns als SPD-Bundestagsfraktion einsetzen.

Zum Schluss möchte ich noch kurz auf die Demon-
stration eingehen, die vorhin erwähnt wurde: Es nützt
uns nichts, wenn wir heute einen Antrag verabschieden
und die Verbraucher nur demonstrieren. Der Verbraucher
muss sein Kaufverhalten ändern. Das ist genau das, was
wir brauchen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dann können wir auch anderes Fleisch produzieren.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der SPD)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1807915900

Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3732 an den Ausschuss für Ernährung
und Landwirtschaft vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 9 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Marco
Wanderwitz, Ute Bertram, Michael Kretschmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Siegmund
Ehrmann, Burkhard Blienert, Marco Bülow, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Die Welt neu denken – Der 100. Jahrestag der
Gründung des Bauhauses im Jahre 2019

Drucksache 18/3727
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Sind Sie damit
einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist
so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erste
Rednerin in dieser Aussprache die Abgeordnete Ute
Bertram, CDU/CSU-Fraktion.


Ute Bertram (CDU):
Rede ID: ID1807916000

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir starten heute kulturpolitisch mit einem
wirklich schönen Thema in das neue Jahr, mit unserem
Antrag „Die Welt neu denken – Der 100. Jahrestag der
Gründung des Bauhauses im Jahre 2019“.

Natürlich sind es bis 2019 noch vier Jahre, aber dieses
Jubiläum soll ein kulturelles Großereignis werden, und
das braucht entsprechend Vorlauf. Wir haben im Koali-
tionsvertrag festgehalten, dass wir das Ereignis von Bun-
desseite unterstützen wollen. Diese Absicht wollen wir
als Große Koalition mit unserem Antrag präzisieren.

Stellen wir uns zunächst einmal die Frage: Was ist das
Bauhaus? Das Bauhaus war eine Schule für Gestaltung,
die zwischen 1919 und 1933 nacheinander an drei Orten
in Deutschland existierte. Der Name sollte die Verbin-
dung aus Kunst und Handwerk ausdrücken, in Anleh-
nung an die Bauhütten der mittelalterlichen Kathedralen.

Ich höre oft, das Bauhaus sei nicht nur eine Architek-
tur- oder Designschule, sondern vor allem eine Idee.
Diese Idee kann man gut in meinem Heimatort studie-
ren. Bei uns in Alfeld, südlich von Hildesheim, in Nie-
dersachsen, steht das Fagus-Werk. Es wird oft als das
Gründungswerk des Bauhauses bezeichnet und ist des-
halb auch UNESCO-Welterbestätte geworden.





Ute Bertram


(A) (C)



(D)(B)

Der junge und damals noch völlig unbekannte Walter
Gropius entwarf 1911 eine neue Fabrikhalle für die
Schuhleistenfabrik Fagus. Der mutige Eigentümer unter-
stützte die außergewöhnlichen Ideen des jungen Archi-
tekten Gropius. Dieser entwarf eine geradezu revolutio-
när helle und luftige Arbeitshalle aus Glas und Stahl.
Das stand in völligem Gegensatz zur bisherigen Vorge-
hensweise, an den Räumen für die einfachen Arbeiter zu
sparen. Gropius dagegen wollte ein gesundes Arbeits-
klima schaffen.

All diese Elemente haben das Bauhaus zum Wegwei-
ser in die Moderne gemacht. Durch die Industrialisie-
rung und die technischen Neuerungen entstanden ganz
neue Möglichkeiten für Architektur und Design. Das
Bauhaus nutzte sie zu sozialen Zwecken.

So entstand der neue Lebensentwurf für den moder-
nen Menschen im Industriezeitalter, unabhängig von sei-
ner sozialen Zugehörigkeit. Diese Idee ist es, die Ge-
schichte geschrieben hat, in Deutschland und in der
Welt.

Wer genau hinsieht, erkennt überall die prägenden
Spuren dieser Schule. Bis heute kennen wir Fassaden
aus Glas und Stahl. Bis heute drücken wir vom Bauhaus
inspirierte Türklinken und sitzen auf vom Bauhaus inspi-
rierten Stühlen. Wir wissen es nur oft nicht. Auch dieses
gute Stück wäre ohne das Bauhaus wohl nicht denkbar
gewesen.


(Die Rednerin hält ein iPhone hoch)


Der langjährige Chefdesigner von Apple spricht gern
davon, wie er sich vom deutschen Industriedesign und
den Bauhaus-Prinzipien hat inspirieren lassen. Nicht
umsonst gilt das Bauhaus international als unser erfolg-
reichster kultureller Exportartikel.

Von Alfeld ging Walter Gropius dann nach Weimar,
wo er 1919 das Bauhaus gründete. Die Hochschule ar-
beitete aber von Anfang an unter widrigen Umständen.
Sechs Jahre später zog sie nach Dessau. 1933 wurde sie
in Berlin unter den Nazis schließlich verboten. Keine
1 300 Studenten hatte sie bis dahin gehabt.

Paradoxerweise lässt sich die weltweite Wirkung des
Bauhauses von der Katastrophe des Dritten Reiches
nicht trennen. Denn durch das Verbot in Deutschland
verstreuten sich ihre Anhänger über die Welt und legten
im notgedrungenen Exil den Grundstein für den welt-
weiten Erfolg. Die Ideen des Bauhauses verbreiteten
sich überall auf der Welt, in Amerika, in der Sowjet-
union, in Polen, in Israel, in der Schweiz, in Japan und in
Mexiko.

Genau deshalb wird das Jubiläum international auch
stark wahrgenommen werden. Im Bauhaus-Archiv in
Berlin zählt man weitaus mehr ausländische als deutsche
Besucher. Das wird sich 2019 natürlich noch einmal stei-
gern, zumal wir ordentlich die Werbetrommel rühren
wollen.

Nun zu ein paar Punkten aus unserem Antrag. Ganz
wichtig ist uns Kulturpolitikern von CDU/CSU und
SPD, dass wir die notwendigen baulichen Voraussetzun-
gen für das Jubiläumsjahr schaffen. Da ist auch schon
viel passiert.

In Berlin wird endlich der längst fällige Erweite-
rungsbau zum Bauhaus-Archiv entstehen. Der Bund hat
dafür 28,1 Millionen Euro bereitgestellt. Das Bauhaus-
Museum in Dessau wird der Bund mit 12,5 Millionen
Euro kofinanzieren. Für den Neubau des Bauhaus-Mu-
seums in Weimar sind gut 11 Millionen Euro Bundes-
mittel geflossen. Aber auch die vielen kleinen Orte wie
die May-Siedlung in Frankfurt, die Weißenhofsiedlung
in Stuttgart, die Hochschule für Gestaltung in Ulm oder
das Fagus-Werk in Alfeld, sie alle sollen den erwarteten
Besucheranstürmen gerecht werden.

Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, in För-
derprogrammen zum Beispiel für den Städtebau oder
den Denkmalschutz die UNESCO-Welterbestätten des
Bauhauses in den nächsten Jahren angemessen zu behan-
deln.

Aber wir wollen natürlich nicht nur bauen. Wir müs-
sen das Jubiläum auch nutzen, um die überragende Wir-
kung des Bauhauses auf die Weltgeschichte innerhalb
Deutschlands bekannter zu machen. Außerdem wollen
wir ganz gezielt auch international für uns als Kultur-
nation, als Geburtsstätte des modernen Designs werben.
Deshalb wollen wir eine breite Palette von Veranstaltun-
gen und Bildungsangeboten im Vorhinein, aber auch und
vor allem im Jahr 2019.

Die Kulturstiftung des Bundes bekommt vom Bund
immerhin 5 Millionen Euro zusätzlich, um das Bauhaus-
Jubiläum mit Projekten zu begleiten. Koordiniert werden
die Jubiläumsplanungen momentan aus den drei großen
Bauhaus-Stätten Dessau, Weimar und Berlin. Alle Bun-
desländer, in denen eine Bauhaus-Stätte liegt, haben sich
zu einem Bauhaus-Verbund zusammengeschlossen. Wir
als Bundestag wünschen uns, dass es eine gesamtgesell-
schaftliche Initiative gibt, die dieses Jubiläum trägt.

Inhaltlich werden auch Vermittler deutscher Kultur-
politik wie das Goethe-Institut oder auch die Deutsche
Welle aufgefordert werden, an diesem Bauhaus-Jubi-
läum mitzuwirken. Natürlich soll ein Schwerpunkt auch
in Bildung und Forschung gesetzt werden. Denn nicht
jeder Schüler oder Student in Deutschland weiß, dass
sein iPhone durch das Bauhaus beeinflusst wurde. Wenn
es nach uns geht, weiß er es spätestens 2019.

Lassen Sie uns also gemeinsam daran arbeiten, dass
dieses Jubiläumsjahr zu einem Ereignis mit Strahlkraft
wird, das sowohl national als auch international Aus-
strahlung hat.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1807916100

Als nächstem Redner in dieser Debatte erteile ich das

Wort dem Abgeordneten Harald Petzold, Fraktion Die
Linke.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)


Harald Petzold (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807916200

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Ich gebe der
Kollegin Bertram völlig recht: Die Welt neu denken –
der 100. Jahrestag der Gründung des Bauhauses im Jahr
2019 ist ein guter Einstieg in unsere kulturpolitischen
Diskussionen in diesem Jahr. Aber, verehrte Kolleginnen
und Kollegen von den Koalitionsfraktionen – die Welt
neu denken –, können Sie mir einen vernünftigen Grund
dafür nennen, warum Sie in dieses Denken nicht vorab
auch die Oppositionsfraktionen einbezogen haben?


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


So wie Sie hier vorgehen, reklamieren Sie das Bau-
haus quasi für sich selbst als eine kulturelle Angelegen-
heit mit Ursprung in den wenigen Jahren der Weimarer
Demokratie. Für uns war das Bauhaus in seiner politi-
schen Wirkung vor allem ein Ausdruck und eine Re-
aktion auf die schroffen sozialen Gegensätze. Deswegen
ist sein kulturelles Erbe eines, das niemand für sich al-
lein beanspruchen darf.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deswegen sagen wir: Dieses 100-jährige Jubiläum, das
Sie im Koalitionsvertrag zu Recht als ein Jubiläum von
weltweiter Strahlkraft bezeichnen, ist eine Angelegen-
heit des ganzen Landes, des ganzen Volkes und demzu-
folge selbstverständlich auch aller im Bundestag vertre-
tenen politischen Kräfte.

Über welche Punkte sollten wir vielleicht noch ein-
mal gemeinsam diskutieren? Grundsätzlich haben Sie
beim Bauhaus-Jubiläum auf jeden Fall unsere Unterstüt-
zung. Ich habe den Antrag einem meiner Nachbarn zum
Lesen gegeben. Er hat ihn sich angesehen und mich
danach gefragt: Warum redet ihr im Bundestag über
Baumärkte? Ich fragte Ihn: „Wie kommen Sie denn
darauf?“, und er antwortete: Na, hier steht doch „Export-
artikel“.


(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Genau, wir sollten das Bauhaus nicht auf einen kulturel-
len Exportartikel reduzieren.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Kollegin Bertram hat hier völlig richtig Walter
Gropius als Beispiel genannt. Für Gropius war Bauen
und vor allen Dingen der Wohnungsbau eine zutiefst so-
ziale Aufgabe. Es ging ihm um bessere Lebensverhält-
nisse für alle. Deswegen, denke ich, müssen diese Ideen
– wir haben mit der Siemensstadt ein Beispiel vor der
Haustür – eigentlich einen viel größeren Stellenwert in
unserer Würdigung des Bauhaus-Jubiläums einnehmen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir die Bedeutung der Ideen und Inhalte des
Bauhauses für unsere heutige Gesellschaft stärker in den
Vordergrund rücken wollen, dann müssen wir auch die
unterschiedlichen Ideen und Strömungen, für die seine
Leiter und die Akteure stehen, stärker herausarbeiten
und öffentlich würdigen. Dann werden Sie auch nicht
umhin kommen, neben Walter Gropius und neben
Ludwig Mies van der Rohe auch den zweiten Bauhaus-
direktor stärker zu berücksichtigen und zu würdigen:
Hannes Meyer. Seine Ideen und Bauwerke wurden viel
zu lange totgeschwiegen und sind nahezu vergessen.
Möglicherweise hat dies damit zu tun, dass der über-
zeugte Sozialist Meyer für das Bauhaus die Losung
„Volksbedarf statt Luxusbedarf“ ausgegeben hatte, oder
damit, dass er – im Gegensatz zu den teuren iPhones von
heute – erschwingliche Bauhaus-Produkte für alle
wollte, oder damit, dass er darüber hinaus einen wissen-
schaftlich fundierten Unterricht und das Kooperations-
prinzip propagierte, die Idee einer kollektiven und
kooperativen Gestaltung. Das ist in einer Zeit, in der
Individualismus zum Heiligen Gral gesellschaftlichen
Zusammenlebens erklärt wird, natürlich nicht beliebt.

Folglich muss unserer Meinung nach sowohl in dem
vorliegenden Antrag als auch in dem Drehbuch für das
100-jährige Bauhaus-Jubiläum der Person Hannes
Meyers und insbesondere dem von ihm entworfenen Bau
der ehemaligen Bundesschule des Allgemeinen Deut-
schen Gewerkschaftsbundes in Bernau, meinem Betreu-
ungswahlkreis, eine viel größere Bedeutung beigemes-
sen werden. Bisher kommt das nur am Rande vor.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich denke, wir brauchen für die Bauvorhaben in Ber-
lin und Dessau konkrete und abrechenbare Zeit- und
Maßnahmeschienen. Die späte Bewilligung der Bundes-
gelder birgt nach unserer Auffassung die Gefahr in sich,
dass die Häuser nicht rechtzeitig bis 2019 fertiggestellt
werden.

Meine Damen und Herren, „die Welt neu denken“ ist
ein wunderbarer Anspruch, sowohl zum 100-jährigen
Bauhaus-Jubiläum als auch in unserer heutigen Zeit.
Deswegen kann ich nur an Sie appellieren: Lassen Sie
uns das gemeinsam umsetzen und tatsächlich einen An-
trag aller Fraktionen auf den Weg bringen! Der Kollege
Kühn hat diesen Vorschlag in der Ausschussberatung mit
den Vertretern des Bauhaus-Verbundes deutlich formu-
liert. Ich finde, diese Idee ist unbedingt zu unterstützen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1807916300

Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten

Siegmund Ehrmann, SPD-Fraktion, das Wort.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Siegmund Ehrmann (SPD):
Rede ID: ID1807916400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Die Bauhaus-Idee gehört zu
den großen und nachhaltigen kulturellen Impulsen, die





Siegmund Ehrmann


(A) (C)



(D)(B)

von unserem Land ausgingen. Wie bereits erwähnt, in
kurzen Zügen: 1919 von Walter Gropius als Kunstschule
in Weimar gegründet, 1925 nach Dessau gezogen und
1933 unter dem Druck der Nationalsozialisten geschlos-
sen, prägen seine innovativen Gestaltungsansätze noch
heute. Im Nationalsozialismus galten viele Entwürfe der
Bauhaus-Gestalter als „entartet“. Bauhäusler mussten
emigrieren. Besonders der linksgerichtete, avantgardisti-
sche Lebensstil der Bauhaus-Anhänger war es, der den
Nazis übel aufstieß: Am Bauhaus Frauen in Hosen? Ein
Unding im reaktionären Bild der NSDAP.

Das brutale Aus der deutschen Bauhaus-Bewegung
multiplizierte die Bauhaus-Idee und trug sie in viele
Länder. Bauhaus-Protagonisten emigrierten in die USA,
zum Beispiel Josef Albers, aber auch in die Sowjetunion
wie Hannes Meyer oder ins heutige Israel wie Arieh
Sharon. Aus der Bauhaus-Philosophie abgeleitet entwi-
ckelten sich dort neue Architektur-, aber auch Produkt-
und Kommunikationsdesignstile.

Doch – auch das muss ein wichtiger Blickpunkt sein –
das Bauhaus-Konzept hat auch in unserem Land Maß-
stäbe für Stadtentwicklung und Architektur gesetzt und
vor allem die soziale Dimension des Bauens akzentuiert.
Ein Element hier in Berlin wurde schon genannt: Es gibt
insgesamt sechs Siedlungen der Moderne, die seit 2008
als Weltkulturerbe in dieser Stadt zu besichtigen sind.

Im Design war es der Wille, Möbel und Gebrauchs-
gegenstände als Werkzeuge für alle zu bauen. Dahinter
lag eine zutiefst soziale Idee: den Menschen und seine
Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu rücken. Viele Bau-
haus-Erfindungen wie zum Beispiel die Einbauküche er-
weisen sich bis heute als funktional. Die Wagenfeld-
Leuchte steht international als Symbol für gutes Design.
Auch im parlamentarischen Komplex finden wir gele-
gentlich Möbel im Stil der Bauhaus-Ästhetik.

Die Bauhaus-Schule verfolgt einen ganzheitlichen
Ansatz. Es ging nicht nur um Design, Kunst und Archi-
tektur. Ebenso wichtig war der pädagogische Zugang zu
diesen Künsten und Objekten. Als Walter Gropius 1919
in Weimar das Staatliche Bauhaus eröffnete, verkündete
er:

Als Lehrling aufgenommen wird jede unbeschol-
tene Person ohne Rücksicht auf Alter und Ge-
schlecht, deren Begabung und Vorbildung vom
Meisterrat als ausreichend erachtet wird.

Damals revolutionär – ist das heute selbstverständlich?
Es bleibt eine Herausforderung, auf Begabung zu achten.
Die Reformpädagogik des Bauhauses entwickelte somit
neue Methoden, begabte Menschen zu künstlerisch-
kulturell-ästhetischem Handeln zu befähigen. Diese
Konzepte sind bis heute ungebrochen aktuell und sollen
deshalb beim Jubiläum einen besonderen Raum entfal-
ten. Es gibt Elemente, die jetzt schon reifen, zum Bei-
spiel mobile Module des Fliegenden Klassenzimmers,
um in die Pädagogik der unterschiedlichen Schulstufen
einzufließen, Forschungsvorhaben, die sich dem großen
Thema „Kreativität und Pädagogik“ widmen.

Die drei Länder mit Bauhaus-Einrichtungen – Thürin-
gen, Sachsen-Anhalt und Berlin – haben sich bereits
2012 mit einigen anderen Bundesländern zum „Bau-
hausverbund 2019“ zusammengeschlossen. Dieser Ver-
bund wird die Aufgabe haben, das Jubiläum vorzuberei-
ten, weiter reifen zu lassen.

Klar ist, dass mit den bereitgestellten Mitteln – Gott
sei Dank im Haushalt 2015 deutlich markiert – die Kern-
standorte der Bauhaus-Tradition gestärkt werden; aber
auch außerhalb der Zentren von Weimar, Dessau und
Berlin finden wir Bauhaus-Zeugnisse. Kollegin Bertram
hat vorhin auf das Fagus-Werk in Alfeld aufmerksam
gemacht. Ich erinnere zum Beispiel an die Dammer-
stock-Siedlung in Karlsruhe, an die Häuser „Lange“ und
„Esters“ und, ähnlich wie in Alfeld, den VerSeidAG-
Komplex in meiner Heimat in Krefeld oder an die Bau-
ten „Experimentierfeld modernen Bauens“ in Hagen –
überall markante Zeugnisse der Bauhaus-Tradition.

Unser Antrag nimmt deshalb die bedeutenden Bauten
des Bauhauses außerhalb der Museumsstandorte mit in
den Blick. Bereits im Vorfeld des Jubiläums sollen auch
dort Ausstellungen, Bildungs- und Forschungsprojekte
das kulturelle Erbe des Bauhauses herausstellen und in
Erinnerung rufen. Denkmalschutzprogramme können
Möglichkeiten bieten, marode, leidende Substanz auf
Vordermann zu bringen, sodass im Jahre 2019 alles im
besten Licht erscheint. Eben deshalb ist es wichtig, dass
die Bund-Länder-Kooperation, aber auch die Koopera-
tion mit den Bauherren und Eigentümern reift, intensi-
viert wird: damit wir zu einer gemeinsamen Anstren-
gung kommen. „Die Welt neu denken“, unter diesem
Motto wird es ab diesem Jahr ein umfangreiches
gemeinsames Programm geben, das auf das Jubiläum
hinläuft.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit diesem Antrag
will die Regierungskoalition all dies rechtzeitig akzentu-
ieren und den Blick auf das außergewöhnliche Jahr 2019
lenken. Es ist, Herr Petzold, in der Tat auch eine Einla-
dung an die Opposition, gemeinsam darüber nachzuden-
ken, wie dieser Antrag, den ich schon für hervorragend
halte, möglicherweise noch reifen kann. Sie sind herz-
lich eingeladen, sich an diesem Wettbewerb zu beteili-
gen, sodass wir dann hinterher gemeinsam als Parlament
diesen Weg gehen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE])



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1807916500

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-

ordneten Christian Kühn, Bündnis 90/Die Grünen.

Christian Kühn (Tübingen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe
Freundinnen und Freunde des Bauhauses! 1919 hielt in
Deutschland die Moderne Einzug: Bei der Wahl zur Na-
tionalversammlung durften erstmals Frauen wählen und
gewählt werden. Die Weimarer Nationalversammlung





Christian Kühn (Tübingen)



(A) (C)



(D)(B)

gab Deutschland eine parlamentarische, demokratische
Verfassung. In Weimar gründete Walter Gropius das
Staatliche Bauhaus; das war sozusagen der künstlerische
Aufbruch Deutschlands in die Moderne.

Der Bauhaus-Stil ist bis heute, ins 21. Jahrhundert hi-
nein, ungemein modern, schön, zeitlos und attraktiv. Das
Bauhaus ist bis heute mehr als eine hippe Stilrichtung –
es ist ein Wegweiser in die Zukunft, ein humanistischer
Ansatz für den Alltag. Die Verbindung von Ästhetik und
Praxis, die das Bauhaus verkörpert, ist Kunst, die wir
alle im Alltag erleben können. Das Bauhaus steht für
Einfachheit, Schönheit, Funktionalität, die allen Men-
schen zugänglich sein soll. Der Zugang zur Bauhaus-
Schule war eben nicht abhängig von der sozialen Schicht
oder dem Geldbeutel der Eltern, sondern allein von der
Begabung; auch das ist ein Fingerzeig dafür, wie wir Bil-
dungspolitik und Kulturpolitik betreiben sollten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE])


Das Bauhaus war Vorreiter für Feminismus und so-
ziale Gerechtigkeit, und mit dem Neuen Bauen sollten
Räume für souveräne Bürgerinnen und Bürger der neuen
demokratischen Gesellschaft geschaffen werden. Das
Bauhaus sorgte auch für sozialen Wohnungsbau. Auch
das ist ein Fingerzeig in unsere heutigen Tage hinein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Beispiele für entsprechende Siedlungen in meinem
Bundesland sind der Weißenhof und der Dammerstock
in Karlsruhe.

Das Bauhaus hat bis heute unzweifelhaft Einfluss da-
rauf, wie wir wohnen und wie unsere Wohnungen gestal-
tet sind. Im 21. Jahrhundert ist das Bauhaus-Design all-
gegenwärtig – und das eben nicht nur in Deutschland,
sondern weltweit.

Das Bauhaus wurde durch die NS-Diktatur gezwun-
gen, seine Aktivitäten ins Ausland zu verlagern. Die Na-
zis konnten die Bauhaus-Schule zwar schließen, aber sie
konnten den Geist des Bauhauses nicht auslöschen und
nicht brechen. Die Ideen des Bauhauses wurden von den
Lehrenden in die ganze Welt getragen: zum Beispiel
nach Tel Aviv – ich denke hier an die Weiße Stadt – oder
auch in die Vereinigten Staaten von Amerika, wo die Ar-
chitektur des modernen Amerika maßgeblich vom Bau-
haus geprägt wurde.

2019 feiern also nicht nur die Menschen in Dessau,
Weimar und Berlin das Bauhaus, sondern die Menschen
auf der ganzen Welt – in Israel, in den USA, in China, in
Australien und auch in Brasilien. Deshalb ist es wichtig,
dass wir dieses Bauhaus-Jubiläum nicht nur als ein deut-
sches Jubiläum begreifen, sondern den internationalen
Charakter mit all unseren Aktivitäten betonen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Gleichwohl müssen wir dieses Bauhaus-Jubiläum als
ein Jubiläum nationalen Ranges begreifen. Deshalb
wünsche ich mir, dass der Bauhausverbund 2019 weiter
wächst und dass alle 16 Bundesländer daran teilhaben;
denn in allen Bundesländern gibt es Architekturschulen,
Designschulen und Orte, an denen das Bauhaus gewirkt
hat. Ich finde, deswegen sollten sich alle 16 Bundeslän-
der zusammenschließen, damit es wirklich ein Jubiläum
der ganzen deutschen Nation wird und das Bauhaus in
ganz Deutschland seinen Platz hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE])


Es wurde hier schon betont, dass es die Bedeutung
des Bauhaus-Jubiläums unterstrichen hätte, wenn wir
heute einen gemeinsamen Antrag eingebracht hätten.


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)


Die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen haben die
Bedeutung dieses Jubiläums herausgestellt. Ich hätte es
aber schön gefunden, wenn wir hier gemeinsam – alle
vier Fraktionen dieses Hauses – einen überfraktionellen
Antrag eingebracht hätten. Ich finde, die Kulturpolitik
und das Bauhaus-Jubiläum eignen sich nicht für partei-
politische Spiele. Deswegen ist es schade, dass wir es im
Kulturausschuss nicht geschafft haben, diesen Weg ge-
meinsam zu gehen.

Dennoch geht Ihr Antrag in die richtige Richtung. Ich
bin mir aber sicher: Wenn wir daran mitgewirkt hätten,
dann wäre er an der einen oder anderen Stelle noch ein
bisschen besser geworden.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nichtsdestotrotz freuen wir uns darüber, dass der
Haushaltsausschuss die finanzielle Grundlage für die
baulichen Voraussetzungen bei den drei Bauhaus-Ein-
richtungen geschaffen hat. Damit enden aber eben nicht
die Aufgaben, die wir hier haben. Gebäude allein gestal-
ten noch kein Jubiläum. Wir brauchen eine Koordina-
tion. Deswegen muss hier im Hause jetzt schnell – auch
gemeinsam – darauf hingewirkt werden, dass es eine
zentrale Geschäftsstelle für den Bauhausverbund 2019
gibt. Es ist dafür zu sorgen, dass die drei Geschäftsstel-
len in Dessau, Weimar und Berlin mit dieser internatio-
nalen Mammutaufgabe nicht alleingelassen werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir müssen unsere Bauhaus-Aktivitäten international
ausrichten. Gerade dieser Punkt ist mir in dem Antrag zu
kurz gekommen. Wir brauchen auch mehr Werbemaß-
nahmen jenseits der Deutschen Welle. Wir müssen un-
sere internationale Kulturpolitik für 2019 auch auf dieses
Bauhaus-Jubiläum in Gänze ausrichten.

Zum Schluss möchte ich sagen: Es ist ganz elementar,
dass wir dieses Bauhaus-Jubiläum nicht nur dafür nut-
zen, ein schönes Jubiläum zu feiern und des Bauhauses
zu gedenken, sondern auch, um die Institutionen, die das





Christian Kühn (Tübingen)



(A) (C)



(D)(B)

Bauhaus bis heute tragen, über das Jahr 2019 hinaus
nachhaltig zu stärken; denn nach 100 Jahren Bauhaus
müssen weitere 100 Jahre Bauhaus folgen. Dafür will
ich werben, damit die Idee des Bauhauses auch in den
nächsten 100 Jahren weiter um diesen Globus kreist.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1807916600

Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten

Ulrich Petzold, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulrich Petzold (CDU):
Rede ID: ID1807916700

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Als ich in meinen Kindertagen das erste Mal vor dem
Bauhaus in Dessau stand, war ich doch etwas irritiert.
Das sollte etwas Besonderes sein? So sahen doch alle
wirklich modernen und neuen Gebäude aus. Ja, selbst-
verständlich hatte sich innerhalb von nicht einmal
50 Jahren der Stil der Bauhaus-Künstler gegen den Gi-
gantomanismus des Nationalsozialismus und gegen den
Zuckerbäckerstil des Stalinismus durchgesetzt.

Doch eigentlich war das Bauhaus in seiner Struktur
kaum noch zu erkennen, insbesondere die Meisterhäuser
in Dessau nicht. Wir hatten nach 1990 richtig viel zu tun,
um die Schönheit dieser Struktur wiederherzustellen.
Wir haben es trotz der Überbauung geschafft. Ich glaube,
dass uns das Bauhaus zeigt, was mit geringem Aufwand
alles errichtet und wie mit wenig Material ausgekommen
werden kann. Das ist etwas Beispielgebendes, etwas sehr
Schönes.

Das Bauhaus ist und war aber mehr als einfaches und
sparsames Bauen. Es war mehr als effizientes und zeitlo-
ses Bauen. Das Bauhaus – das wurde vorhin schon er-
wähnt – war und ist mehr als Architektur und Design.
Das Bauhaus ist eine Idee. Für diese Idee fand sich 1925
in der aufstrebenden Industrie- und Kulturstadt Dessau
der ideale Nährboden, sodass sich das Bauhaus, das sich
ganz bewusst Werkstatt und nicht Schule oder Universi-
tät nannte, in diesem liberalen Klima ansiedeln konnte.
Internationalität und Gleichberechtigung der Geschlech-
ter waren in Dessau nie eine Frage und könnten viel-
leicht auch gerade in dem aufgeregten Klima unserer
heutigen Diskussion über den Islam beispielgebend sein.

In Diktaturen und Unrechtssystemen ist für die Ideen
des Bauhauses kein Raum. Vorhin wurde an Hannes
Meyer erinnert. Nach einigen Jahren in Moskau ist er
1936 wieder geflüchtet. Man muss also immer das
Ganze betrachten. Das Bauhaus und seine Idee sind Teil
unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Sein
Jahrestag ist und kann für uns ein Grund sein, uns selbst
zu hinterfragen.

Bereits das Jubiläum „90 Jahre Bauhaus“ wurde 2009
in einem würdigen Rahmen begangen, das uns jedoch
auch deutlich machte, dass die Zusammenarbeit der
wichtigsten Bauhaus-Stätten Berlin, Dessau und Weimar
zu wünschen übrig ließ. Dass jetzt das Jubiläum 2019 in
Zusammenarbeit der Länder und Bauhaus-Einrichtungen
in einem Bauhausverbund vorbereitet wird, verbessert
die Möglichkeit des Bundes, sich effektiv einzubringen.
So ist es, nachdem sich Berlin und Sachsen-Anhalt mit
der Stadt Dessau auch finanziell zu ihrer Verantwortung
bekannt haben, dem Bund möglich, das Bauhaus-Archiv
in Berlin und ein Bauhaus-Museum in Dessau mit Mil-
lionenbeträgen zu fördern.

Wenn ich mich ganz besonders für die Unterstützung
für Dessau bedanke, möge man mir das als Landeskind
und Wahlkreisabgeordnetem bitte nachsehen. Unserer
Staatsministerin Frau Professor Grütters bin ich sehr
dankbar, dass sie, solange bei den Städten und Ländern
Unklarheiten bestanden, durch einen Leertitel im Haus-
halt alle Möglichkeiten offengehalten hat.

Besondere Verdienste, gerade für das Museum in
Dessau, haben sich aber unsere Haushälter Rüdiger
Kruse und Johannes Kahrs erworben, die im Haushalts-
ausschuss den Leertitel mit der erforderlichen Summe
von 12,5 Millionen Euro gefüllt haben. Auch die Lan-
desregierung Sachsen-Anhalt und der Stadtrat Dessau
haben mit wegweisenden Haushaltsbeschlüssen und
auch Standortbeschlüssen letztendlich den Knoten
durchgeschlagen.

Doch ich hoffe auch auf einen Beitrag des Ministe-
riums für Umwelt und Bau, das Jubiläum „100 Jahre
Bauhaus“ zu nutzen, um für das Bauhaus neue wegwei-
sende Maßstäbe zu setzen. Der Erweiterungsbau des
Umweltbundesamtes in Dessau ist als Plus-Energie-
Bürogebäude vorgesehen, das erste Plus-Energie-Büro-
gebäude der Welt. Die Idee des Bauhauses, Komfort und
Ressourceneffizienz zusammenzubringen, kann hier ver-
vollkommnet werden. Ich würde mir sehr wünschen,
dass wir mit einem solchen Bau nicht nur auf die Ver-
gangenheit blicken, wenn wir den 100. Jahrestag der
Bauhaus-Gründung begehen, sondern etwas Neues und
Zukunftsgerichtetes schaffen. Ich glaube, dann würden
wir diesen Jahrestag auf eine wirklich gute Weise feiern.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1807916800

Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten

Michelle Müntefering, SPD-Fraktion, das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Michelle Müntefering (SPD):
Rede ID: ID1807916900

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorlie-
genden Antrag würdigen wir die Leistung und die
Strahlkraft eines einzigartigen künstlerischen Werkes.
Wir tun dies im Plenum des Deutschen Bundestages,
weil die Bauhaus-Schule Kultur und Gesellschaft bis
heute weltweit beeinflusst. Das haben die Kolleginnen





Michelle Müntefering


(A) (C)



(D)(B)

und Kollegen gerade schon jeder für sich und für uns all-
gemein formuliert.

Wir tun das, weil das Bauhaus mehr ist als zeitloses,
nüchternes Design und auch mehr als ein feststehendes
Regelwerk von Form und Farbe. Wenn ich jetzt wie
meine Vorrednerin und Vorredner versuche, die Idee des
Bauhauses zusammenzufassen, dann will ich es so for-
mulieren: Das Bauhaus ist die Idee, menschliche Grund-
bedürfnisse über die der Wirtschaft und der Industrie zu
stellen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das Bauhaus ist eine Kunst, die humanistischen Prin-
zipien folgt, und es ist sicherlich auch eine Haltung. Des-
wegen wurden seine Künstler, Architekten, Maler und
Bildhauer von den Nazis verfolgt; denn jede Diktatur, je-
des totalitäre System, fürchtet die mächtige Kraft von
Kunst und Kultur. Wir, liebe Kolleginnen und Kollegen,
fördern sie. Wir investieren: in Frieden und Kooperation,
in die Freiheit der Kunst, in die Gleichwertigkeit der
Menschen und in eine offene, moderne Gesellschaft.
Auch die Nazis haben es nicht vermocht, das dauerhaft
auszulöschen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Eines der wohl stärksten Symbole hierfür ist die Weiße
Stadt, die White City – Kollege Kühn hat es gerade ange-
sprochen –, in Tel Aviv in Israel. Es ist die weltweit größte
Ansammlung von Häusern im Bauhaus-Stil. Mitten im mo-
dernen Tel Aviv stehen rund 4 000 solcher Gebäude. Seit
2003 sind sie als einzigartiges Phänomen moderner Archi-
tekturgeschichte Teil des UNESCO-Weltkulturerbes. Als
Vertreterin im Unterausschuss „Auswärtige Kultur- und
Bildungspolitik“ will ich das besonders hervorheben.
Denn die Bundesregierung hat erst vor einigen Wochen
beschlossen, dabei zu helfen, dieses Kulturgut zu erhal-
ten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


– Das ist in der Tat einen Applaus wert.

Wer von Ihnen schon einmal dort war, weiß, welche
Geschichte sich hinter den zerfallenen Fassaden und
grau verfärbten Wänden verbirgt und welche Bedeutung
diese Gebäude für die deutsch-israelischen Beziehungen
haben. Viele der Baumaterialien, mit denen die Häuser
gebaut wurden, sind nämlich von den verfolgten Juden
selbst mitgebracht worden. Die Ausfuhr von Bargeld
hatten die Nazis mit hohen Zöllen belegt, damit aus der
Verfolgung und der Flucht von jüdischen Menschen auf
perfide Weise noch ein zusätzlicher Profit geschlagen
werden konnte.

In Tel Aviv wollte man hingegen eine Stadt aus neuer
Sachlichkeit und einer offenen Gesellschaft bauen, wie
es das Bauhaus lehrte: flache Dächer, Balkone, Gärten,
die eine Begegnung zwischen Menschen möglich mach-
ten. Daran soll sich auch die Sanierung orientieren. Zum
deutsch-israelischen Projekt wird die White City aber
auch, weil wir dabei mit deutschen Produkten, Fachwis-
sen und Handwerkskunst gefragt sind. Partner wie die
Industrie- und Handelskammer, Bauhaus-Institutionen
und Universitäten sollen ihre Kompetenzen dazu bei-
steuern. Mit dem Max-Liebling-Haus stellt die Stadt Tel
Aviv zudem ein Gebäude zur Verfügung, in dem ein le-
bendiger Austausch zwischen Handwerkern, Restaurato-
ren und Künstlern entstehen soll.

Übrigens hat das Bauhaus nie einen Unterschied zwi-
schen Handwerkern und Künstlern gemacht. Das Bau-
haus hat sich am griechischen Begriff „Kali Technis“,
dem „guten Handwerker“, orientiert. Ich wünsche mir,
dass in diesem Sinne Räume für junge Menschen aus
Handwerk und Kunst entstehen, die sich dort begegnen
können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Im Sinne dieser Entstehungsgeschichte, aber gerade
auch deshalb, weil wir in diesem Jahr 50 Jahre diploma-
tische Beziehungen mit Israel feiern, freut es mich, dass
das BMU kurz vor Weihnachten beschlossen hat, das
Ganze zu fördern. Ich danke der Deutsch-Israelischen
Gesellschaft dafür, dass sie uns vorangetrieben hat, Par-
lamentarierinnen und Parlamentarier auf dieses gute
Stück Kulturpolitik aufmerksam zu machen, und nicht
zuletzt den Haushältern, die sich dafür eingesetzt haben.

Ich komme zum Schluss. Wenngleich die lebendige
Tradition der vielleicht wichtigsten Designschule mit der
Vertreibung seiner kühnsten Protagonisten in Deutsch-
land unwiderruflich abgeschnitten wurde, rufen wir uns
doch in Erinnerung, was das Bauhaus-Archiv selbst for-
muliert: „Das Bauhaus gehört der Welt, aber es kommt
aus Deutschland.“ So beginnen wir das Jubiläum im Jahr
2019.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1807917000

Als letzter Rednerin in dieser Aussprache erteile ich

das Wort der Abgeordneten Dr. Astrid Freudenstein,
CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Astrid Freudenstein (CSU):
Rede ID: ID1807917100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! In vier Jahren feiert das Bau-
haus einen runden Geburtstag, seinen 100. Der vorlie-
gende Antrag stellt sozusagen die Planung für die Ge-
burtstagsfeier dar. Die Planung ist ausgesprochen gut.
Wir alle gemeinsam können uns auf das Bauhaus-Jahr
2019 freuen.

Die Idee des Bauhauses markierte damals zu Beginn
des 20. Jahrhunderts einen Umbruch in Architektur,
Kunst und Design. Das Bauhaus markierte damals auch





Dr. Astrid Freudenstein


(A) (C)



(D)(B)

einen Aufbruch, gesellschaftlich, kulturell und politisch.
Woran erkannte man diesen künstlerischen und architek-
tonischen Aufbruch? Im Manifest für das staatliche Bau-
haus schreibt Walter Gropius 1919 wörtlich von den al-
ten Kunstschulen, die es nicht vermochten, Handwerk
und Kunst zu vereinen. Er erteilte der alten Salonkunst
eine klare Absage und appellierte an Bauherren, Künst-
ler, Bildhauer und Maler, zum Handwerk zurückzukeh-
ren und das Trennende zwischen Kunst und Handwerk ein-
zureißen. Die Produkte dieser Ideen kennen wir. Auf den
schwarzen Freischwingerstühlen verbringen wir heute
noch viele Konferenzstunden. Der Tisch aus Eschenholz
aus der Feder von Mies van der Rohe ist noch heute in
Design und Funktion nahezu unschlagbar. Wenn ich
heute durch die Gebäude des Bundestages unterirdisch
gehe, dann erinnert mich die Sichtbarkeit des Konstruk-
tiven an die Ideen der großen Meister der 20er-Jahre.

Dieser Umbruch des Gestalterischen ging natürlich
einher mit einem gesellschaftlichen Aufbruch, weg von
den Schlössern, den Palästen und den Burgen. Die Ar-
chitektur des Bauhauses öffnete die Räume, ließ Licht
herein und schuf Transparenz. Es war kein Zufall, dass
das in der Weimarer Republik geschah. Das Bauhaus eb-
nete auch den Weg hin zu einer Demokratisierung des
Bauens. Wer in einem Gebäude arbeitete, wurde nicht
mehr in dunkle Kammern abgeschoben. Er bekam den
Raum, den er für seine Tätigkeit brauchte. Diese Zweck-
mäßigkeit der Form ist noch heute für uns Standard beim
Bauen.

Dass die architektonische und die gestalterische
Avantgarde jener Zeit nach Deutschland kam, kann uns
meiner Meinung nach noch heute ein bisschen stolz ma-
chen. Deutschland, das Land der Dichter, der Denker
und auch der Designer, daran sollten wir anknüpfen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Auch wenn die Versuchung groß ist, sollten wir uns
davor hüten, das Bauhaus auf eine deutsche Errungen-
schaft zu reduzieren. Studenten aus aller Welt kamen
zum Bauhaus. Die Schule stand für Weltoffenheit. Man
verständigte sich zunächst nur über die gemeinsame
Sprache des guten Designs. Das Bauhaus verstand sich
als modern, offen und tolerant, Werte, von denen wir ge-
rade in diesen Tagen erfahren müssen, dass sie nicht
selbstverständlich sind und immer wieder verteidigt wer-
den müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist daher kein Wunder, dass es die Nationalsozialisten
waren, die dieser Bewegung ein jähes Ende setzten.

Dass Weimar, Dessau und Berlin die Zentren des
Bauhaus-Jahres sein werden, haben meine Vorredner
schon erwähnt. Dennoch gibt es auf der ganzen Welt
Zeugnisse von dem, was Kreative in den 20er-Jahren
hier in Deutschland begründeten, Zeugnisse, die nicht
unbedingt in Stahl und Beton gegossen sein müssen,
sondern vor allem im kulturellen und gestalterischen Ge-
dächtnis bis heute wirken.
So wie meine Vorrednerinnen und Vorredner Bei-
spiele genannt haben, möchte ich natürlich darauf hin-
weisen, dass es auch in Bayern echte Bauhäuser gibt.
Walter Gropius schuf beispielsweise im Auftrag der Por-
zellanfirma Thomas in Amberg in der Oberpfalz mit der
sogenannten Glasmacherkathedrale sein letztes Meister-
werk des modernen Funktionalismus. Er selbst konnte
die Fertigstellung 1970 nicht mehr erleben, aber das Ge-
bäude ist bis heute als Kristallglasmanufaktur in Betrieb.

Selbstverständlich leistet auch die CSU ihren Beitrag
zur allgemeinen Bauhaus-Freude. Meine Partei verkauft
– Sie haben es in diesen Tagen in den Zeitungen lesen
können – ihre Parteizentrale in der Nymphenburger
Straße und kauft ein neues Gebäude. Wir nennen das un-
ser Vereinsheim. Wenn Sie uns da einmal besuchen wol-
len, können Sie sich schon einmal die Adresse notieren.
Die CSU residiert künftig in der Mies-van-der-Rohe-
Straße Nummer 1.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1807917200

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3727 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 10 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Kirsten
Tackmann, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Steuerfreie Risikoausgleichsrücklage für Agrar-
betriebe ab 2016

Drucksache 18/3415
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f)

Haushaltsausschuss
Federführung strittig

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre
hierzu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abge-
ordnete Dr. Kirsten Tackmann, Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807917300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Gäste auf den Rängen! Über die steuerfreie Risi-
koausgleichsrücklage für Agrarbetriebe diskutieren wir
schon länger. In den Bundestagswahlkämpfen der ver-
gangenen Jahre hat die Forderung immer wieder eine
Rolle gespielt. Es gibt keine Veranstaltung, in der dieses
Thema nicht genannt wird, entweder von der Landwirt-





Dr. Kirsten Tackmann


(A) (C)



(D)(B)

schaft oder von Gartenbaubetrieben oder auch von
Baumschulen.

Das allein wäre aber natürlich noch kein Grund für
die Linke, diesen Antrag heute hier einzubringen. Wir
sind relativ unverdächtig, die Positionen des DBV ein-
fach so zu übernehmen, schon gar nicht unkritisch. Aber
so, wie ich sonst unterschiedliche Positionen zu denen
des Deutschen Bauernverbandes sehr deutlich benenne,
so muss ich ihn unterstützen, wenn er einmal recht hat.


(Beifall bei der LINKEN)


Dazu gehört eben die steuerfreie Risikoausgleichsrück-
lage für Agrarbetriebe. Dabei geht es nicht um ein
Rundum-sorglos-Paket, wie immer unterstellt wird, son-
dern einfach nur um Hilfe zur Selbsthilfe.

Ja, es geht auch um den Verzicht auf Steuereinnah-
men. Deshalb ist es für die Linke besonders wichtig, zu
begründen, warum das trotzdem im Sinne des Gemein-
wohls notwendig ist, und, ja, wir schaffen damit für die
Landwirtschaft eine Sonderrolle; aber auch das möchte
ich gerne begründen.

Uns sind die Ernährungssicherung und die Ernäh-
rungssouveränität eben nicht nur im globalen Süden sehr
wichtig, sondern auch im eigenen Land. Deshalb hat die
Existenzsicherung der einheimischen Landwirtschaft für
uns einen hohen gesellschaftlichen Wert. Es geht uns da-
bei um die Sicherung der Versorgung in den Regionen
durch die Landwirtschaft und damit um Gemeinwohlin-
teressen.


(Beifall bei der LINKEN)


Das ist übrigens der linke Plan B als Gegenentwurf
zur aktuellen Agrarpolitik, der die Landwirtschaft vor al-
lem als Zulieferer für den Agrarmarkt wettbewerbsfähig
machen will. Genau das ist nicht unser Leitbild.

Zur Sonderrolle der Landwirtschaft: Die landwirt-
schaftliche Erzeugung ist neuen Risiken ausgesetzt, die
die Betriebe selbst kaum beeinflussen oder selbst mit
hellseherischen Fähigkeiten kaum vorsorglich berück-
sichtigen können. So gibt es zum Beispiel völlig neue,
neu eingeschleppte oder zurückkehrende Tierseuchen.

Erinnern wir uns an das Schmallenberg-Virus, das
ohne Vorwarnung zu hohen Verlusten in der Schaf- und
Ziegenhaltung führte und bis dahin völlig unbekannt
war. Man wusste überhaupt nicht, wie man damit umge-
hen sollte. Oder ich erinnere an die mysteriöse Be-
standserkrankung, die chronischer Botulismus genannt
wird. Wie sollen sich Betriebe davor schützen, wie sol-
len sie damit umgehen, wenn nicht einmal die Wissen-
schaft weiß, welche Ursachen die Krankheit hat! Hier
wird Unterstützung gebraucht, auch deshalb, weil Tier-
seuchenkassen dieses Risiko nicht abdecken.

Auch bei den Pflanzen lauern bisher völlig unbe-
kannte Gefahren. Ich erinnere an die aus Asien einge-
schleppte Kirschessigfliege – sie bereitet aktuell Obst-
und Weinbauern schlaflose Nächte – oder daran, dass der
Eichenprozessionsspinner unterdessen die Eichen nicht
nur kahlfrisst, sondern sie auch zum Absterben bringt.
Da die Raupenhärchen ein gesundheitliches Risiko dar-
stellen, kann man dieses Holz nicht einmal mehr verwer-
ten. Ich denke, auch diese Last können wir den Betrieben
nicht allein überlassen.


(Beifall bei der LINKEN)


Auch der Klimawandel ist zu einem hohen betriebs-
wirtschaftlichen Risiko geworden. Aktuell ist der Winter
so milde, dass er Winterkulturen sogar schadet. Frost
ohne Schnee ist ein Problem. Trockenheiten wechseln
sich mit zu viel Wasser ab, entweder von oben oder von
unten. Neue Sorten müssen getestet werden, weil bislang
bewährte mit den neuen Bedingungen nicht klarkom-
men. Ich finde, auch das können wir den Betrieben nicht
allein überlassen.


(Beifall bei der LINKEN)


Einen dritten Risikobereich möchte ich benennen. Die
Natur gibt der Landwirtschaft lange Produktionszyklen
vor. Ein kurzfristiges Reagieren auf Preisachterbahnen
auf dem Weltagrarmarkt ist kaum möglich. Wenn zum
Beispiel eine Kuh trächtig ist, wird sie nach circa neun
Monaten und neun Tagen ein Kalb zur Welt bringen und
danach auch Milch geben, egal ob der Milchpreis gerade
wieder einmal abstürzt oder nicht.


(Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: So ist es!)


Oder wenn erst einmal eingesät ist, kann man das Saat-
gut nicht wieder ausbuddeln, wenn der Preis für das
Erntegut gerade verfällt. Verschärft werden diese Preis-
schwankungen durch die spekulativen Wetten an der
Börse auf Ernten, die noch nicht einmal eingesät sind.


(Beifall bei der LINKEN)


Also, es gibt erhebliche Risiken für die landwirtschaftli-
chen Betriebe, die selbst vorsorglich handelnde Betriebe
existenziell gefährden können. Ich finde, deswegen
brauchen sie Unterstützung.


(Beifall bei der LINKEN)


Es gibt aber immer wieder auch Phasen, in denen es
besser läuft. Beispielsweise war 2014 für viele Milchbe-
triebe ein sehr gutes Jahr mit 25 Prozent Plus im Durch-
schnitt auf das Betriebsergebnis. Ackerbaubetriebe wie-
derum hatten ein Minus von 23 Prozent in ihren Büchern
stehen. Unterdessen ist aber der Milchpreis wieder im
absoluten Sinkflug. Genau das stellt uns doch vor die
Frage: Helfen wir mit Steuergeldern aus, wenn wieder
einmal eine Krisensituation ist? Oder verzichten wir auf
einen kleinen Teil der Steuern in guten Jahren, damit die
Betriebe für schlechte Jahre Vorsorge leisten können?


(Beifall bei der LINKEN)


Wir finden, die zweite Variante ist wesentlich sinn-
voller. Das finden nicht nur wir, sondern das findet sogar
der grüne Landwirtschaftsminister in Baden-Württem-
berg, Herr Bonde. Die Union hat 2012 einen entspre-
chenden Parteitagsbeschluss gefasst. Ich meine, dann
kann man das hier auch so beschließen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1807917400

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-

ordneten Norbert Schindler, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Norbert Schindler (CDU):
Rede ID: ID1807917500

Herr Präsident! Guten Abend, liebe Kolleginnen,

liebe Kollegen! Alles Gute noch für 2015, auch dem Prä-
sidium. – Ein schönes Thema. Alle Jahre wieder kommt
das Christuskind; alle Jahre wieder kommt rechtzeitig
zur Grünen Woche ein von den Linken gestellter Antrag
auf Ermöglichung einer steuerfreien Risikoausgleichs-
rücklage für Agrarbetriebe. Letztes Mal haben wir die
Redebeiträge dazu zu Protokoll gegeben; heute debattie-
ren wir darüber. Das mache ich auch gern. Vielen Dank,
Frau Tackmann, für das Verständnis, das Sie für die Si-
tuation der deutschen Landwirtschaft insgesamt gezeigt
haben.

Aber zur Sache. Welche Ausnahmen für die Land-
wirtschaft – das frage ich als aktiver Bauer – gibt es in
der gesamten Gesetzgebung? Ich sage einmal mit allem
Ernst: Ich bin schon über 20 Jahre Abgeordneter. Es ist
selbstverständlich, dass wir in § 13 a Einkommensteuer-
gesetz die Ermittlung des Gewinns aus Land- und Forst-
wirtschaft pauschaliert haben. Erst vor einigen Monaten
haben wir erneut beschlossen, dass die Kleinstbetriebe
einen besonderen Schutz behalten. Wir haben diesen
Schutz sogar noch verbessert.

Wir haben auf der anderen Seite vor mehr als zwei
Jahren in einer Nachtaktion, so könnte man sagen, ge-
rade wegen Problemen wie Überflutung oder zu große
Trockenheit Mehrgefahrenversicherungen zu Sonder-
konditionen begünstigt. Ich könnte jetzt behaupten, dass
ich dafür schubkarrenweise Dankesschreiben bekommen
habe. Bei vielen wird das als etwas Selbstverständliches
abgehakt. Ich verweise leidenschaftslos auf das, was un-
sere Politik draußen im Lande bewirkt hat.

Zum eigentlichen Thema. Steuerberaterinnen oder
Steuerberater wären die großen Gewinner bei einer Än-
derung in Ihrem Sinne, Frau Kollegin. Man müsste eine
Bilanz fünf, sechs oder sieben Jahre offenhalten, bis man
einen endgültigen Bescheid bekommt, weil man dann
die 50 000, 70 000 oder 100 000 Euro, die man in die
Rücklage eingezahlt hat, mit 6 Prozent Zinszuschlag pro
Jahr versteuern muss. Das ist heute geltendes Recht.
Dann möchte ich einmal die Gesichter derjenigen sehen,
die dafür die Verantwortung tragen.

Dabei muss man all die Ausnahmen sehen. Vor allem:
Es geht um zwei Kalenderjahre. Die Erträge, die zu ver-
steuern sind, werden auf zwei Wirtschaftsjahre gesplit-
tet. Da könnte man überlegen: Bezieht man noch ein
weiteres Jahr mit ein? Wenn man dann im Betrieb in die
Schlussbesprechung mit dem Steuerberater geht, muss
man überlegen: Wie war das denn vor 36 Monaten?

Zum Thema Ansparabschreibung. Wir haben schon
jetzt die Möglichkeit, bis zu 40 Prozent der Kosten eines
Investitionsgutes, das erst in der Zukunft angeschafft
wird, steuerwirksam zurückzustellen; die Beträge
werden dann aufgebraucht. Zu diesem Thema, liebe
Freunde, noch Folgendes: Der Antrag, dass man die
strenge Zuordnung etwas lockert, wird in diesen Mona-
ten mit Sicherheit noch einmal gestellt werden. Heute ist
es so, dass ich sagen muss: Ich kaufe einen Schlepper.
Der kostet 100 000 Euro. Ich soll für die Ansparrücklage
womöglich auch noch die Marke nennen. Ich meine, es
geht darum, zu erreichen, dass man den Betrieben da
Freiheit lässt, sodass sie den Vorteil erhalten, egal was
sie investieren, dass sie also nicht unbedingt den Mäh-
drescher kaufen müssen, der genannt worden ist, son-
dern auch einen Traktor kaufen können. Das ist derzeit
zu eng gestrickt. Solche Öffnungsmöglichkeiten, die den
Staat aktuell kein Geld kosten, sollte man schon wohl-
wollend prüfen.

Dann haben wir in § 7 g Einkommensteuergesetz,
wenn ich mich recht erinnere, eine Regelung zur Rein-
vestition, wenn man Land teuer verkauft. Derzeit ist das
sehr eng gefasst; das kann man schon kritisch anmerken.
Zu überlegen wäre, dass man die Mittel nicht zwingend
in Grund und Boden anlegen muss, sondern vielleicht
auch in Bauten oder Maschinen reinvestieren kann – al-
lein schon aus dem folgenden Grund: Mainz ist meine
Landeshauptstadt. Wenn dort in steigendem Maß Erlöse
aus Landverkäufen reinvestiert werden müssen, ergehen
Kaufgebote für Flächen in 10, 20 oder 40 Kilometer Ent-
fernung und verteuern dort unnötig das Land, nur weil
man gezwungen ist, um Steuern zu sparen, die Mittel
wieder in Grund und Boden anzulegen. Das sind die
Baustellen, die man in Angriff nehmen müsste.

Zum Schluss der ganzen Debatte noch Folgendes:
Das, was mir auch vom Präsidenten des Deutschen Bau-
ernverbandes schon jahrelang gesagt wurde, war Aus-
fluss der Debatten der Agrarpolitiker, um das ins Wahl-
programm der Union zu bekommen. Ich sage frank und
frei: Ich habe schon immer gegen den Afghanistan-Ein-
satz gestimmt; das hat seine Gründe. Wenn ich von einer
Sache nicht überzeugt bin, dann vertrete ich sie auch als
Vizepräsident des Bauernverbandes nicht, selbst wenn
man glaubt, man müsse mich dazu zwingen. Ich bin frei
gewählter Abgeordneter. Das sagte ich auch meinem
Präsidentenkollegen. Ich bin von dieser Sache nicht
überzeugt, weil das Offenhalten einer Bilanz so viele
Schwierigkeiten mit sich bringt und weil dieser ganze
Wust damit verbunden ist. Es ist nicht praxisgerecht.
Denken wir über die anderen Baustellen nach, die wir im
Sinne der deutschen Landwirtschaft notwendigerweise
angehen sollten!

Was haben wir in den letzten Jahren alles steuerlich
geschafft, und welches Ringen hatten wir auch beim
Erbschaftsteuerrecht, um zu erreichen, dass beim
Ertragswertverfahren die Landwirtschaft privilegiert, ge-
schützt außen vor bleibt! Das war doch keine selbstver-
ständliche Sache bei der Neiddebatte damals. Vielleicht
hat auch mein Argumentieren im letzten Sommer beim
Verfassungsgericht mit dazu beigetragen, dass das Urteil
in Karlsruhe zum Ertragswertverfahren für alle Betriebe
und die Industrie den Schutz der aktiven landwirtschaft-
lichen Betriebe berücksichtigt hat; das hatte einen beson-
deren Stellenwert in dem Urteil des Verfassungsgerichts.
Das zeigt meine Grundeinstellung, unsere Grundeinstel-
lung.

Liebe Kameraden von den Linken,

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Genos sinnen und Genossen!)






Norbert Schindler


(A) (C)



(D)(B)

dass Sie immer zur Grünen Woche diesen Antrag stellen,
beeindruckt mich weiß Gott nicht.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Sie stellen Anträge zur gesunden Ernährung zur Grünen Woche! Da bin ich ganz gelassen!)


Zufälligerweise zitieren Sie den Deutschen Bauern-
verband rauf und runter.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Wenn er schon mal recht hat, muss man das auch anerkennen!)


Davon war ich als Vizepräsident sehr angetan. Aber las-
sen wir es dabei!

Hier stellt sich sofort auf der Basis des Gleichheits-
grundsatzes die Frage nach der Ungerechtigkeit: Was
machen wir mit Skiliften in Tourismusgebieten? Was
machen wir mit der Bauwirtschaft? Da ist man manch-
mal 8, 10 oder 14 Wochen genauso blockiert. Dann kom-
men immer mehr Ausnahmen. Dann kostet uns das nicht
1,5 oder 2 Milliarden Euro, wie berechnet, –


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1807917600

Herr Kollege.


Norbert Schindler (CDU):
Rede ID: ID1807917700

– sondern dann kostet uns das in der Einführungszeit

6 bis 7 Milliarden Euro, und das bei dem großen haus-
haltspolitischen Ziel, das wir uns gegeben haben, näm-
lich Nullverschuldung. Von dieser Linie rücken wir nicht
ab, auch nicht bei diesem Punkt.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1807917800

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-

ordneten Dr. Thomas Gambke, Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Besucher, die Sie gerade gehen! Es ist ja vielleicht
auch eine nicht ganz so spannende Debatte. – Herr
Schindler, bei der Einleitung zu Ihrer Rede musste ich
ein bisschen schmunzeln. Da haben Sie Ihre Ablehnung
mit den heute schon vorhandenen Ausnahmen und Be-
sonderheiten zum Beispiel hinsichtlich Einkommen-
steuer oder Umsatzsteuer begründet. Ich erinnere mich
gerade bezüglich der Umsatzsteuer, dass Brüssel uns
darauf aufmerksam machen musste, dass Pferde im
Wesentlichen nicht zum Verzehr genutzt werden, son-
dern als Reitpferde und zu anderen Zwecken, und des-
halb für diese nicht mehr der verminderte Mehrwertsteu-
ersatz von 7 Prozent infrage komme. Ich erinnere mich,
dass Sie in einem sich daran anschließenden Bericht-
erstattergespräch auf Holzrückepferde aufmerksam ge-
macht haben und dann auch noch durchgesetzt haben,
dass der Verkauf dieser Pferde nach wie vor mit 7 Pro-
zent besteuert wird.

(Norbert Schindler [CDU/CSU]: War doch richtig!)


Das ist ein Ausnahmetatbestand, zu dem ich sage: Ich
hoffe, dass dann, wenn wir uns noch einmal mit dem
Thema Umsatzsteuer befassen,


(Norbert Schindler [CDU/CSU]: Waren Sie schon einmal bei den Holzrückern?)


obwohl Ihre Fraktion da ja wirklich eine Verweigerungs-
haltung an den Tag legt, wenigstens Sie uns unterstützen,
damit wir da endlich zu einer vernünftigen Regelung
kommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Nur so viel dazu.

Richtig ist, es bestehen Risiken. Diese haben Sie von
der Linken benannt. Allerdings haben Sie Risiken be-
nannt, die gar nichts mit dem Wetter zu tun haben. Sie
haben TTIP angeführt, Sie haben die schwankenden
Handelspreise aufgeführt. Richtig ist, man sollte Risiko-
vorsorge betreiben. Eine steuerfreie Risikoausgleichs-
rücklage, wie die Fraktion Die Linke sie vorschlägt, ist
allerdings, wie ich denke, weder sachgerecht noch ord-
nungspolitisch vertretbar. Warum?

Wir haben einmal – Herr Schindler hat es erwähnt –
das Problem der Abgrenzung. Wie soll ich denn gegen-
über dem Gastwirt im Bayerischen Wald, der im
Moment sehr über einen verregneten Sommer und einen
bisherigen Winter ohne Schnee stöhnt, begründen, dass
er seine Einkommensverluste steuerlich nicht geltend
machen kann, aber der Landwirt nebenan schon?


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Habe ich doch gesagt: Ernährungssicherung!)


Wie soll ich die Abgrenzung zu den vielen Nebener-
werbslandwirten vornehmen oder denjenigen, die neben
der Landwirtschaft auch noch andere Geschäfte betrei-
ben? Ich sehe da vor meinem geistigen Auge den
Finanzbeamten, der darüber entscheiden soll, welcher
Betrag auf die Landwirtschaft entfällt und welcher Be-
trag aus anderen Geschäften kommt.

Wie verhält es sich mit der Tatsache, dass immer
dann, wenn steuerliche Entlastungen beschlossen wer-
den, gerade die großen Betriebe die Nutznießer sind?
Schon allein deshalb hat es mich gewundert, dass dieser
Vorschlag aus den Reihen der Linken kommt. Wenn Sie
nämlich eine solche steuerliche Maßnahme machen,
können Sie sie nicht nur auf kleine und mittlere bäuerli-
che Betriebe begrenzen.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Na klar! Auf die Funktion gerichtet!)


Es verhält sich so: Es gibt schon eine Reihe von Son-
derkonditionen für die Landwirtschaft. Ich denke, wie
schon erwähnt, an die Abrechnung der Umsatzsteuer auf
Basis von Durchschnittssteuersätzen oder der pauschali-
sierten Gewinnermittlung bei der Einkommensteuer. Da
soll jetzt noch etwas draufgesetzt werden. Wenn dahin-
terstünde, dass Sie die Landwirtschaft zusätzlich fördern
wollen – ich will nicht von Subvention sprechen –, dann





Dr. Thomas Gambke


(A) (C)



(D)(B)

wäre gerade das ein Grund, genau das nicht zu machen.
Wir wollen nämlich, dass Förderungen transparent sind,
dass wir ihre Wirkungen erkennen können und sie somit
auch steuern können. Auch hier also ein falscher Ansatz.

Lassen Sie mich an dieser Stelle klar sagen: Wenn wir
die Landwirtschaft fördern, dann an der richtigen Stelle
und nicht mit solchen Einzelfallregelungen, wie Sie sie
hier vorschlagen.

Es ist also ordnungspolitisch falsch, es ist sachlich
falsch. Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass wir
bei der Debatte, die wir noch vor uns haben, jetzt herge-
hen und sagen: Wir wollen eine steuerrechtliche Sonder-
regelung schaffen.

Lassen Sie mich noch etwas sagen, gerade vor dem
Hintergrund, dass Sie die Risiken angeführt haben. Sie
haben die Klimaveränderung angeführt, Sie haben, wie
gesagt, TTIP angeführt. Sie haben die schwankenden
Preise im Handel und auch im Bezug von Düngemitteln
und anderen Materialien angeführt. Lassen Sie uns doch
wirklich an den Ursachen ansetzen, und nicht an der
Wirkung. Ich wünsche mir von der linken Seite und auch
von der anderen Seite mehr Unterstützung für eine klare
Zielsetzung in Richtung einer ökologischen Landwirt-
schaft. Dann haben Sie manche Probleme, von denen Sie
hier sprechen, nicht mehr.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn Sie das hinkriegen, dann sind Sie wirklich dabei,
an der Basis Sicherheit herzustellen und Risiken zu ver-
ringern.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das eine schließt doch das andere nicht aus!)


– Sie müssen an mehreren Schrauben drehen; das ist
richtig. Aber die wichtigste Schraube ist – hier erwarte
ich Ihre Unterstützung, die der CDU/CSU und auch die
der Sozialdemokraten – eine vernünftige ökologische
Landwirtschaft.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Sprechen Sie mal mit Friedrich Ostendorff!)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1807917900

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-

ordneten Ingrid Arndt-Brauer, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Ingrid Arndt-Brauer (SPD):
Rede ID: ID1807918000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Zuhörer! Wir haben hier so etwas wie eine
zweijährige Wiederholung eines Themas. So wie regel-
mäßig die Grüne Woche kommt, so kommt regelmäßig
der Antrag der steuerfreien Risikoausgleichsrücklage für
die Landwirtschaft – überraschenderweise nicht immer
von den gleichen Leuten.

Ich erinnere an einen Vorstoß der Landwirtschaftsmi-
nisterin Ilse Aigner im Jahr 2009. Sie hat das Thema be-
setzt, sich an Peer Steinbrück gewandt und ihn gebeten,
doch darüber nachzudenken. Er hat darüber nachgedacht
und hat es rundweg abgelehnt. Er hat es mit dem Argu-
ment abgelehnt: Unter dem Gesichtspunkt des Gleich-
heitsgrundsatzes – Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes –
bestehen keine hinreichend sachlichen Rechtfertigungs-
gründe für eine Risikoausgleichsrücklage. Da andere
Branchen vergleichbar hohe Risiken eingehen oder gar
stärkeren Marktschwankungen unterliegen – damals war
es die Automobilwirtschaft; das war 2009 –, würde ein-
zig die Land- und Forstwirtschaft steuerlich gefördert.
Er wies darauf hin, dass wir – das wurde auch vom Kol-
legen Schindler angesprochen – eine ganze Menge be-
sonderer Regelungen für die Land- und Forstwirtschaft
haben. Sie bilanzieren nicht nach dem Kalenderjahr,
sondern nach dem Wirtschaftsjahr; das heißt, sie können
ihre Gewinne in zwei Rechnungsjahre aufspalten und
haben dadurch gute Möglichkeiten, den Gewinn auf
zwei Veranlagungszeiträume aufzuteilen. Das war 2009.

Dann gab es 2012 einen neuen Vorstoß – diesmal von
den Linken. Sie bezogen sich auf ein Gutachten. Das
Gutachten ist vom Bundesministerium für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz in Auftrag gege-
ben worden, fiel allerdings nicht so aus, wie sie es sich
vorgestellt hatten. Auch in diesem Gutachten wird die
Rücklage komplett abgelehnt, weil sie keine wirkliche
Entlastung erreicht, da die Steuerzahlung lediglich in die
Zukunft verschoben wird. Das ist genau der Punkt. Sie
haben die ganze Zeit gesagt, Sie wollen die Landwirt-
schaft unterstützen, Sie wollen sie fördern, Sie wollen
Ernährungssicherheit herstellen. In Wirklichkeit wird
allerdings nur eine Steuerzahlung in die Zukunft ver-
schoben und keine Subvention geleistet. Das muss man
immer im Kopf haben.

Damals haben Sie davon gesprochen, dass es darum
geht, 35 Millionen Euro an die Landwirte zu verteilen.
Diesmal steht in Ihrem Antrag kein Finanzvolumen. Ich
weiß nicht, ob das Ganze inzwischen nichts mehr kostet.
Oder wie haben Sie sich das vorgestellt?

Sie haben jetzt einen neuen Antrag eingebracht. Er ist
inhaltlich fast gleich, allerdings sind beachtliche neue
Risiken der Landwirte dazugekommen. Neben dem Kli-
mawandel – vor zwei Jahren gab es ihn so noch nicht, er
hat sich verstärkt – und der afrikanischen Schweinepest
– sie gab es vor zwei Jahren auch noch nicht – sind die
Risiken von TTIP und die Folgen des russischen Import-
stopps


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: In der Begründung, ja!)


in der Begründung für die Ausgleichsrücklage hinzuge-
kommen. Normalerweise ist es für die Landwirte immer
etwas risikoreich, ihrem Betrieb nachzugehen. Klima
gab es schon immer.


(Beifall des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD])


Auch Tierseuchen gab es schon immer, und es gab schon
immer irgendwelche Handelsabkommen. Es mag sein,
dass wir jetzt vielleicht neue Erreger haben, aber wir ha-
ben auch neue Impfstoffe. Ich glaube, das gleicht sich





Ingrid Arndt-Brauer


(C)



(D)(B)

aus. Fälle von Infektionen mit dem Blauzungen- und
dem Schmallenberg-Virus ziehen sich durch die letzten
Jahre – das stimmt –; aber da hilft keine Steuererleichte-
rung. Die Viren werden weiterhin auftauchen, unabhän-
gig davon, ob die Landwirte Geld haben oder nicht.

Wie stark die Landwirte davon betroffen sind, hängt
natürlich von der Art des Betriebes ab. Auch dafür haben
Sie keine Lösung. Sie wollen nämlich nicht gezielt Be-
triebe mit besonderen Risiken fördern, sondern die För-
derung streuweise über alle Betriebe verteilen, wodurch
die großen Betriebe – die Kollegen sagten es schon – er-
heblich mehr erhalten als die kleinen; das ist ein sehr
wichtiger Kritikpunkt.

Wie gesagt: Sie benennen kein Volumen der Entlas-
tung; Sie haben es nicht berechnet oder berechnen wol-
len. Sie differenzieren bei der Förderung überhaupt
nicht; Sie schieben die Förderung einfach dem ganzen
Sektor zu. Dass Ihre Fraktion dabei auf die Historie ver-
weist – nach dem Motto: das hat der Landwirtschaftsver-
band schon immer gefordert, deswegen muss es richtig
sein –, finde ich ein bisschen überraschend.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Wir haben doch begründet, warum!)


– Die Begründung fand ich nicht so überzeugend.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Vielleicht haben Sie sie nicht verstanden!)


Schwierig ist auch die Umsetzung des Antrags. Sie
müssen sich das einmal überlegen. In Ihrem Antrag ha-
ben Sie geschrieben:

Die Höhe der Rücklage sollte sich aus den betriebli-
chen Umsätzen der vorangegangenen drei Wirt-
schaftsjahre errechnen und bis zu 20 Prozent des
durchschnittlichen Jahresumsatzes betragen.

Das bedeutet aber, dass man eine gewisse Vision
braucht, wie die nächsten Jahre sein werden. Ein Land-
wirt muss schon abschätzen können: Bin ich in einem
Risikojahr oder nicht? Ich halte das für sehr schwierig.
Nach zwei durchschnittlichen Jahren, vielleicht mit ei-
nem Jahr, in dem es einen harten Sommer gab, kann ein
Landwirt schlecht abschätzen, ob der nächste Sommer
wieder hart wird, ob ein Risikojahr folgen wird und eine
Rücklage gebildet werden muss. Er kann schlecht ab-
schätzen, ob nach einem guten Jahr, in dem der Milch-
preis ein bisschen höher war, eine Rücklage gebildet
werden muss, weil der Milchpreis im nächsten Jahr be-
stimmt wieder niedriger ist. Das abzuschätzen, ist nicht
nur für den Steuerberater schwierig, sondern auch für
den landwirtschaftlichen Betrieb eigentlich unmöglich.

Jede Versicherungsmöglichkeit ist besser als Ihre
Rücklage.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben in der Versicherungsbranche eine Menge ge-
macht; wir haben zusätzliche Risiken aufgenommen, die
versichert werden können. Wir können auch gerne da-
rüber reden, ob man noch mehr versichern kann, ob man
sich gegen die Folgen von TTIP absichern kann. Von mir
aus! Wenn Sie eine Versicherung dafür finden, ist mir
das recht. Ob man sich gegen die ganzen Viren absichern
kann? Von mir aus! Jedenfalls ist alles besser als die von
Ihnen vorgeschlagene Rücklage. Wir von der SPD waren
übrigens schon immer dagegen. Die CDU/CSU hat ein
bisschen geschwankt, aber Kollege Schindler war auch
immer dagegen; das will ich hier wohlwollend sagen.

Ich halte den Antrag nicht nur für überflüssig, son-
dern auch von der Ausrichtung her für schädlich. Er
bringt den Landwirten nichts außer ein bisschen mehr
Publicity zur Grünen Woche; er bringt keine Erleichte-
rung im Betriebsablauf. Wenn Sie den Landwirten wirk-
lich helfen wollen, dann sorgen Sie für einen fairen
Wettbewerb,


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Wenn Sie mitmachen, machen wir das gerne!)


für eine gute Landwirtschaft, die unter fairen Bedingun-
gen produziert, und für faire Preise. Helfen Sie mit, die
Massentierhaltung einzudämmen, den Flächenver-
brauch einzudämmen, die Intensivtierhaltung einzu-
schränken


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Wenn Sie da überall mitmachen, gerne!)


und vielleicht den Antibiotikaverbrauch zu beschränken.
Helfen Sie dabei, eine gute Ernährung für die Verbrau-
cher zu sichern. Das nutzt allen: den Verbrauchern, der
Landwirtschaft in ihrem Bestand und dem Image so-
wieso.

Nun möchte ich die restlichen Minuten meiner Rede-
zeit denen zur Verfügung stellen, die noch auf die Grüne
Woche gehen wollen. Deswegen beende ich meine Rede
etwas eher. Ich denke, da ist mir keiner böse. Ich wün-
sche allen eine schöne Zeit auf der Grünen Woche. Set-
zen Sie sich intensiv mit den Landwirten und ihren Pro-
blemen auseinander,


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das müssen Sie mir nicht sagen! Das mache ich schon!)


und sparen Sie sich den nächsten Antrag in zwei Jahren.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1807918100

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-

ordneten Fritz Güntzler, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Fritz Güntzler (CDU):
Rede ID: ID1807918200

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Liebe verbliebenen Gäste hier im Plenarsaal!
Die Vorredner haben darauf hingewiesen: Dieses Thema
hat das Hohe Haus schon des Öfteren beschäftigt; mich
beschäftigt es zum ersten Mal.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: In zwei Jahren kommt es ja wieder!)


(A)






Fritz Güntzler


(A) (C)



(D)(B)

Ich widme mich diesem Thema sehr gerne. Schon da-
mals, im Jahre 2012, ist ein ähnlicher Antrag der Linken
von allen übrigen Fraktionen abgelehnt worden. Es
scheint heute, dass es wieder so kommt.

Wir haben uns den Antrag angesehen und haben fest-
gestellt – die Vorrednerin hat darauf hingewiesen –: Es
gibt wenig Neues. Neue Krisen sind hinzugekommen.
Der Antrag ist nach wie vor wenig konkret. Es ist nur
das Stichwort „Rücklagenbildung“ enthalten. Wie man
das löst, wie das umgesetzt, administriert werden soll,
steht nicht darin.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Darüber können wir ja reden! Das ist die erste Lesung!)


Die Gegenargumente, die damals vorgetragen wurden,
gelten noch immer. Sie werden heute aber gerne noch
einmal von allen vorgetragen; denn wie heißt es so
schön: Die Wiederholung ist die Mutter der Pädagogik.

Wir in der CDU/CSU-Fraktion haben einen längeren
Prozess durchlaufen, was dieses Thema angeht. Es ist
darauf hingewiesen worden: Wir haben das Für und Wi-
der immer wieder abgewogen, sind aber zu dem Ergeb-
nis gekommen, dass das beabsichtigte Ziel durch eine
Risikoausgleichsrücklage nicht erreicht werden würde.
Das deckt sich übrigens mit dem Ergebnis einer Untersu-
chung von Professor Bahrs, die ebenfalls angesprochen
wurde. Dort heißt es, eine steuerfreie Risikoausgleichs-
rücklage würde keinen wesentlichen Beitrag zur Abfede-
rung von markt- und wetterbedingten Risiken in der
Landwirtschaft leisten.

Wir sollten uns überlegen, was mit einer solchen
Rücklage – wenn man dieses Thema angehen und den
Gleichheitsgrundsatz, der auch schon angesprochen
wurde, beiseiteschieben würde – eigentlich erreicht wer-
den soll. Es geht um eine Verbesserung der Liquidität
der Agrarbetriebe durch einen Glättungseffekt bei den
Einkünften und durch einen Zinseffekt aufgrund der
Stundung der Steuerzahlungen, die auf einen späteren
Zeitpunkt verlegt werden. Wir müssen uns aber fragen,
ob dieser Effekt tatsächlich erreicht wird, und wenn er
erreicht wird, welchen Umfang er in den einzelnen Be-
trieben einnehmen würde, sodass er tatsächlich eine Ent-
lastung für den einzelnen Betrieb darstellt.

Beim Glättungseffekt kommt es zu einer Verstetigung
der Höhe des zu versteuernden Einkommens, indem in
guten Jahren eine Rücklage gebildet wird, die in
schlechten Jahren aufgelöst wird. Hier kommt es auf-
grund der Jahresabschnittsbesteuerung, wie wir sie in
Deutschland haben, und des linear-progressiven Steuer-
tarifs unter Umständen zu Steuerentlastungen. Das setzt
allerdings voraus, dass der jeweilige Betrieb der Steuer-
progression unterliegt; das ist bei vielen aber gar nicht
der Fall.

Ganz ohne Auswirkung bleibt der Glättungseffekt bei
Agrarbetrieben, die ihre Einkünfte nach § 13 a Einkom-
mensteuergesetz, also nach den Durchschnittssätzen,
versteuern, bei denjenigen, die in der Proportionalzone
des Einkommensteuertarifs liegen – also bis 15 Prozent
und über 42 Prozent sowie bei der Reichensteuer über
45 Prozent –, sowie bei Kapitalgesellschaften, die mit
15 Prozent einheitlich besteuert werden.

Wenn überhaupt ein Glättungseffekt erreicht wird,
dann wäre er bei den meisten Unternehmen recht über-
schaubar. Im Zuge des schon angesprochenen Gutach-
tens hat Professor Bahrs ermittelt, dass die Betriebe le-
diglich um durchschnittlich 174 Euro pro Jahr entlastet
werden würden. Ich bezweifle, dass die Risiken, die Sie
angesprochen haben, damit abgegolten werden könnten.

Das Gutachten stellt zusammenfassend fest, dass etwa
30 Prozent der Betriebe gar keinen Nutzen aus der Rück-
lage ziehen würden. Bei weiteren 30 Prozent läge der
Vorteil lediglich bei 100 bis 500 Euro, und die Hälfte der
prognostizierten Entlastungen entfiele auf nur 10 Pro-
zent der Agrarbetriebe. Die Einführung einer Risikoaus-
gleichsrücklage verfehlt somit das Ziel, eine Liquiditäts-
entlastung in der Breite, also für viele Betriebe, zu
erzielen. Sie nützt nur einigen wenigen. Dies sind im
Wesentlichen die großen und ertragreichen Betriebe und
nicht diejenigen Betriebe, die die Liquiditätshilfe brau-
chen, wenn sie denn kommen würde.

Das liegt auch daran, dass durch die Betriebe ein so-
genannter Risikoausgleichsfonds aus liquiden Mitteln in
Höhe der Rücklage auf der Aktivseite gebildet würde,
damit die Liquidität im Unternehmen bleibt und nicht
abfließt. Dies setzt aber bei den Unternehmen einen po-
sitiven Cashflow voraus, der es ihnen ermöglicht, Fi-
nanzmittel zu separieren und temporär auf Liquidität zu
verzichten. Das können eher die Unternehmen, die die
Krisen wahrscheinlich auch ohne Rücklagenbildung
überstehen würden, für die also eine gewisse Kapitalbil-
dung möglich ist, die eine gewisse Größe und Ertrags-
kraft haben.

Eine weitere Schwierigkeit ist, dass die Auflösung der
Rücklage und des Ausgleichsfonds an bestimmte Bedin-
gungen geknüpft sein müsste. Es wird erhebliche
Schwierigkeiten bei der Definition, der Messung und der
Bewertung der Ertragsminderung geben, die Grund für
die Auflösung der jeweiligen Rücklagen sein wird. Das
Ganze schafft mehr Verwaltungsaufwand sowohl bei den
Agrarbetrieben als auch bei den Finanzbehörden.

Eine steuerfreie Risikoausgleichsrücklage macht das
Steuerrecht nicht einfacher und auch nicht gerechter. Im
Steuerrecht gibt es schon jetzt Möglichkeiten für die
Agrarbetriebe zur Glättung der Einkünfte – das ist ange-
sprochen worden –: die Verlustverrechnung gemäß
§ 10 d Einkommensteuergesetz, den Investitionsabzugs-
betrag gemäß § 7 g Einkommensteuergesetz und die
Durchschnittsbesteuerung nach § 4 a Einkommensteuer-
gesetz.

Den neben dem Glättungseffekt vorhin angesproche-
nen Zinseffekt können wir aufgrund der momentanen
Niedrigzinsphase meines Erachtens beiseiteschieben.
Ihm sollten wir keine weitere Bedeutung beimessen,
weil die liquiden Mittel, die in dem Fonds angelegt wer-
den, keine größeren Erträge ausweisen werden, sodass
der Erfolg für die Unternehmen gering sein wird.

Es bleibt also festzuhalten, dass die mit der Einfüh-
rung einer steuerfreien Risikoausgleichsrücklage zu er-





Fritz Güntzler


(A) (C)



(D)(B)

wartenden Liquiditätseffekte entweder gering sind oder
nur eine kleine Zahl von Betrieben erreichen, und zwar
gerade solche, die aufgrund ihrer Kapitalstärke krisen-
fester sind. Wir halten die Einführung einer steuerfreien
Risikoausgleichsrücklage weder für angemessen noch
für notwendig, weil die mit ihr beabsichtigten, wenn
auch gut gemeinten Ziele nicht erreicht werden können.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1807918300

Als letzter Rednerin in der Aussprache erteile ich das

Wort der Abgeordneten Rita Stockhofe, CDU/CSU-
Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dagmar Ziegler [SPD])



Rita Stockhofe (CDU):
Rede ID: ID1807918400

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Der vorliegende Antrag – das haben wir heute
schon gehört – ist nicht wirklich neu. Aber er enthält ei-
nen guten Grundgedanken; das wurde schon festgestellt.
Der Finanzausschuss ist zwar federführend, aber ich
möchte jetzt einmal ein bisschen aus der Sicht der Land-
wirtschaft berichten, weil die Landwirtschaft betroffen
ist und ich Mitglied im Landwirtschaftsausschuss bin.
Schauen wir uns an, wofür die Landwirtschaft zuständig
ist: Sie versorgt die Menschen mit hochwertigen Produk-
ten, mit Essen und Trinken. Sie erhält unsere Kulturland-
schaft, hegt und pflegt sie. Sie ist aber auch dazu da,
Heimat zu gestalten. Das sind große Aufgaben, die sie
wahrnimmt. Ich denke, wir alle wissen das zu würdigen.

Es gibt Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um
eine gute Landwirtschaft gewährleisten zu können. Dazu
gehören beispielsweise eine gute Ausbildung des Be-
triebsleiters, hochwertiges Saatgut, effiziente Landma-
schinen und Ähnliches. Diese Voraussetzungen sind
durch den Bewirtschafter beeinflussbar. Es gibt aber
auch Voraussetzungen, die nicht beeinflussbar sind – wir
haben es heute mehrmals gehört –, wie Klima, Embar-
gos, Krankheiten und Ähnliches. Natürlich wäre es
schön, wenn die Landwirte dieses Risiko nicht tragen
müssten. Aber die Landwirte wissen, dass sie Unterneh-
mer sind, und Unternehmer tragen ein unternehmeri-
sches Risiko.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Sie wissen auch mit diesem Risiko umzugehen. Es gibt
eine Bauernweisheit, die besagt: Der Bauer sollte eine
Ernte auf dem Feld haben, eine in der Scheune und eine
auf der Bank. Natürlich wissen wir, dass das nicht immer
zu realisieren ist, auch wenn es angestrebt wird. Aber ich
glaube, vernünftig mit Geld umgehen können gerade die
Bauern besonders gut, und sie geben auch nicht schnell
auf.

Ich unterstelle einmal, dass der Antrag der Fraktion
Die Linke gut gemeint ist. Aber wenn wir jetzt sehen,
dass wir es gerade geschafft haben, eine schwarze Null
zu erreichen, dann muss man sagen: Das ist wirklich ein
ganz zartes Pflänzchen, das wir da haben, um mal bei der
Landwirtschaft zu bleiben. Dieses Pflänzchen muss ge-
hegt und gepflegt werden. Da können wir doch nicht
aufgrund von Ad-hoc-Anträgen, deren Umsetzung un-
heimlich viel Geld kosten würde und bei denen wir gar
nicht wissen, ob dieses Geld nachher bei der Landwirt-
schaft ankommt, ob sie wirklich einen Nutzen davon hat,
das Risiko eingehen, dieses zarte Pflänzchen wieder ein-
gehen zu lassen. Lassen Sie uns also bitte alle daran mit-
wirken, diese Pflanze wachsen zu lassen, damit es uns in
Zukunft besser geht. Das tut auch unseren Kindern,
Enkelkindern und unserer zukünftigen Landwirtschaft
sehr gut. Darauf sollten wir achten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es wurde schon ein paarmal das Gutachten von Pro-
fessor Bahrs zitiert, der gesagt hat, dass gerade die fi-
nanzstarken Betriebe von der Umsetzung dieses Vor-
schlags, der vorgetragen worden ist, profitieren würden.
Ich glaube, es sind nicht die finanzstarken Betriebe, die
wir in Krisenzeiten unterstützen müssen, sondern die,
die nichts für schlechte Zeiten zurücklegen können.

Es wurde ein Vergleich mit Skiliften, mit Außen-
gastronomie und Ähnlichem gemacht. Dieser Vergleich
stimmt natürlich. Auch da gibt es ein unternehmerisches
Risiko; das müssen die Betreiber selber tragen. Wie ge-
sagt, die Landwirte können es auch. Wir müssen viel-
leicht noch folgenden Unterschied machen: Wenn ein
Skilift nicht fährt, dann tut das nur dem Betreiber weh.
Wenn die Landwirtschaft keine Erträge einfährt, dann tut
es jedem weh, weil die Landwirtschaft alle versorgt. Von
daher finde ich die Ausnahmesituation, die wir in ande-
ren Bereichen wie bei Ansparabschreibungen und Ähnli-
chem haben, sehr gut und sehr wichtig. Ich halte es für
einen guten Vorschlag – Norbert Schindler hat es vorhin
schon einmal kurz erwähnt –, wenn man da ausbaut. Das
hätte keinen Einfluss auf die schwarze Null, würde aber
den Bauern helfen und wäre vielleicht ein guter Ansatz.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Herr Gambke von den Grünen hat vorhin gesagt, dass
die Umsatzsteuer bei Pferden deswegen erhöht worden
ist, weil man Pferde ja nicht essen kann. Ich kenne Be-
triebe, denen es richtig wehgetan hat, dass gerade
Pferde, die man nicht essen kann, mit dem allgemeinen
Umsatzsteuersatz von 16 Prozent belegt werden. Das be-
trifft landwirtschaftliche Betriebe, deren Flächen in Na-
tur-, Landschafts- oder Wasserschutzgebieten liegen. Sie
sind extrem eingeschränkt. – Herr Gambke, das ist ein
konkretes Beispiel. Sie brauchen nicht den Kopf zu
schütteln.


(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich weiß!)


– Das können Sie gar nicht wissen. Das ist nämlich bei
mir in der Nähe.


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich kenne das auch aus dem Münsterland!)


– Kann ich jetzt fortfahren?





Rita Stockhofe


(A) (C)



(D)(B)


(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Auf alle Fälle hat dieser Betrieb extreme Bewirtschaf-
tungseinschränkungen hinzunehmen. Aber wie die Bau-
ern so sind, schmeißen sie nicht das Handtuch, sondern
suchen nach Alternativen. Der Betrieb befindet sich in
der Nähe des Ruhrgebiets. Es gibt also viele Verbraucher
vor Ort. Daher stellt er auf Pensionspferde um. Das Fut-
ter erzeugt er selber, und Weideflächen sind vorhanden.
Das ist ein gutes Projekt für diesen Betrieb. Dann kam
die Gesetzesänderung, und er zahlt seitdem 16 Prozent
Steuern, die er vorher nicht gezahlt hatte.


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: 19!)

Wissen Sie, wie weh dem Betrieb das tut?


(Zuruf des Abg. Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Das ist bei Betrieben mit Pensionspferden nicht richtig.
Das tut diesen Betrieben richtig weh. Man sollte überle-
gen, ob man diesen Betrieben wehtun möchte oder nicht
und in der Praxis nachfragen, wie das ankommt.


(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe aber selber Pferde! Ich weiß, wovon ich rede!)


Dieser Vorschlag ist nicht geeignet. Dieser Vorschlag ist
geeignet, ein Bürokratiemonster aufzubauen, das von
den Steuerberatern eingefangen werden muss. Da die
Steuerberater ihre Leistung in Rechnung stellen, ist das
Ganze aus Sicht des einzelnen Bauern nicht effektiv.

Abschließend möchte ich Folgendes sagen: Der Beruf
des Landwirts oder der Landwirtin ist ein ganz toller Be-
ruf, den viele junge Menschen ausüben. Sie gehen mit
viel Ehrgeiz und viel Ideologie in den Beruf hinein und
wissen, dass sie eine große Verantwortung tragen für
Tiere, für die Landschaft und Ähnliches. Lassen Sie uns
gemeinsam Voraussetzungen schaffen, dass auch in Zu-
kunft Menschen diesen Beruf gerne erlernen möchten
und von den Erlösen auch leben können.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807918500

Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3415 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Strittig ist jedoch die
Federführung. Die Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD wünschen Federführung beim Finanzausschuss.
Die Fraktion Die Linke wünscht Federführung beim
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft.

Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvor-
schlag der Fraktion Die Linke, Federführung beim Aus-
schuss für Ernährung und Landwirtschaft. Wer stimmt für
diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Damit ist der Überweisungsvor-
schlag mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen
die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/
Die Grünen abgelehnt.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor-
schlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD, Fe-
derführung beim Finanzausschuss. Wer stimmt für die-
sen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Damit ist der Überweisungsvor-
schlag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/
Die Grünen angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur
Änderung des Vierten Buches Sozialgesetz-
buch und anderer Gesetze (5. SGB IV-ÄndG)


Drucksache 18/3699
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Gabriele
Hiller-Ohm, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1807918600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Von der Wiege bis zur
Bahre, Formulare, Formulare. – Dieses Sprichwort be-
schreibt sehr treffend den Druck der Bürokratie auf uns
Menschen. Wir alle wünschen uns weniger Bürokratie,
weniger Formulare. Ich zum Beispiel muss jedes Jahr für
die Krankenkasse eine Bescheinigung ausfüllen und
Auskünfte über meine mitversicherte Tochter geben, ob
sie noch studiert, seit wann sie studiert und wie lange
noch, wie viel Geld sie mit ihren Jobs verdient hat, muss
Studien- und Verdienstbescheinigungen beifügen usw.
Ich habe großes Glück, dass ich sehr gewissenhafte Kin-
der habe, die mir selbstverständlich sämtliche Bescheini-
gungen unverzüglich zukommen lassen.


(Beifall bei der SPD)


Ich weiß aber auch von Fällen, bei denen das nicht so
konfliktfrei abläuft. So eine sicherlich wichtige Daten-
meldung kann sich dann sehr schnell zu einer zeit- und
nervenaufreibenden Angelegenheit werden.

Ich freue mich deshalb sehr, dass sich das Ministe-
rium für Arbeit und Soziales vorgenommen hat, über-
bordende Bürokratie abzubauen und Verwaltungsvor-
gänge zu vereinfachen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist eine wirklich gute und wichtige Sache. Viele re-
den nur davon. Wir setzen es um.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)






Gabriele Hiller-Ohm


(A) (C)



(D)(B)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir beraten heute
über einen Gesetzentwurf zur Verbesserung der elektro-
nischen Meldeverfahren für die Sozialversicherungen.
Hierbei geht es zum Beispiel darum, An-, Ab- und mo-
natliche Beitragsmeldungen von Beschäftigten bei den
Kranken- und Unfallkassen sowie bei der Renten-, der
Arbeitslosen- und der Pflegeversicherung zu erleichtern.
Ein weiteres Ziel ist es, die elektronischen Verfahren ins-
gesamt gesetzesfest zu machen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich konnte es fast
nicht glauben: Jährlich finden sage und schreibe
400 Millionen Meldevorgänge statt. Das ist eine enorme,
eine beeindruckende Anzahl. Wir beschäftigen uns heute
mit dem größten Massenverfahren zur Übermittlung von
Informationen in der Bundesrepublik. So viel zur Di-
mension.

Wir haben über 42 Millionen Beschäftigte in
Deutschland. Deren Sozialversicherungsdaten müssen
von den rund 4 Millionen Unternehmen regelmäßig an
die öffentlichen Stellen gemeldet werden. All diese Mel-
dungen sorgen dafür, dass Renten-, Kranken-, Pflege-,
Arbeitslosen- und Unfallversicherungen umgehend über
Leistungsansprüche entscheiden und diese auszahlen
können. Damit das klappt, brauchen wir leistungsfähige
Systeme.

Diese werden jetzt mit dem vorliegenden Gesetzent-
wurf zum Nutzen aller weiter optimiert.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das Ministerium hat sich dabei sehr viel Mühe gegeben.
Der vorliegende Gesetzentwurf wurde nicht mal so eben
aus dem Ärmel geschüttelt. Nein, über zwei Jahre harter
Arbeit sind dem Gesetzestext mit dem Projekt „Opti-
miertes Meldeverfahren in der sozialen Sicherung“
– kurz OMS – vorausgegangen.

Dabei wurde nicht hinter verschlossenen Türen gear-
beitet. Im Gegenteil, man hat alles sehr genau mit den
betroffenen Akteuren diskutiert. Arbeitgeber und Fach-
leute aus den Verwaltungen waren genauso beteiligt wie
natürlich auch Softwareentwickler, die anwenderfreund-
liche technische Lösungen finden müssen, die dann hof-
fentlich auch funktionieren. Auch die Datenschutz- und
Datensicherheitsexperten wurden nicht vergessen. Das
ist insbesondere deshalb sehr wichtig, weil es um den
Austausch von personengebundenen Daten geht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, uns liegt ein umfas-
sender Abschlussbericht vor, den wir alle – davon gehe
ich aus – mit großem Interesse gelesen und studiert ha-
ben. Dieser umfasst sagenhafte 1 989 Seiten. Ich hätte
ihn mitgebracht, konnte ihn aber leider nicht tragen.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Er ist übrigens zusammen mit weiteren Informationen zu
dem OMS-Projekt für jede und jeden im Internet frei zu-
gänglich. Wir erkennen hieran eindrucksvoll, wie viel
Arbeit mit dem Abbau von Bürokratie verbunden ist.

Ich bedanke mich bei allen, die daran beteiligt waren.
Das waren nicht wenige. 260 Menschen haben an die-
sem Projekt mitgearbeitet. Danke schön dafür.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ihr Einsatz lohnt sich allemal; denn unnötige Büro-
kratie kostet die Bürgerinnen und Bürger vor allem Zeit
und Nerven. Zudem werden unsere Unternehmen durch
zu viel Bürokratie in ihrem Schaffensdrang regelrecht
ausgebremst.

Schauen wir auf den Mittelstand, der uns allen sehr
am Herzen liegt. Fast 4 Millionen kleine und mittlere
Unternehmen sind betroffen. Sie sind unsere Garanten
für Wachstum und Beschäftigung.

Ich habe bei mir in Schleswig-Holstein mit einem
Handwerksmeister gesprochen und ihn gefragt: Wie
sieht es bei Ihnen ganz konkret mit den Sozialversiche-
rungsmeldungen aus? – Seine Antwort war ernüchternd.
Für seinen Betrieb mit sechs Beschäftigten, die in fünf
unterschiedlichen Krankenkassen versichert sind, benö-
tigt er monatlich zwei Tage für die zum Teil recht um-
ständlichen Meldeverfahren. Er wäre sehr froh, wenn es
an dieser Stelle Vereinfachungen und damit Zeiterspar-
nis geben würde. Das ist Zeit, die er dringend für seinen
Betrieb benötigt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem vorliegen-
den Gesetzentwurf kommen wir diesem Wunsch nach.
Wir packen das Bürokratiemonster bei den Hörnern und
weisen es ein Stück weit in seine Schranken.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Schauen wir auf die Arbeitgeber. Sie tragen die
Hauptlast der Meldungen. Für sie vermindert sich der
Aufwand am meisten, und zwar um jährlich rund
130 Millionen Euro. Die öffentliche Verwaltung spart
durch dieses Gesetzesvorhaben wertvolle Arbeitszeit der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Umfang von jähr-
lich etwa 17 Millionen Euro. Die Bürgerinnen und Bür-
ger sparen vor allem Nerven, aber auch Zeit und Porto-
kosten dadurch, dass bestimmte Bescheinigungen
zukünftig nicht mehr in Papierform, sondern elektro-
nisch übermittelt werden können.

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, der von allen
Akteuren weitestgehend Unterstützung findet, machen
wir einen Schritt in die richtige Richtung. Wir werden
aber weiter am Ball und im engen Austausch mit den
Betroffenen bleiben, damit wir gemeinsam weitere gute
Lösungen finden nach dem Motto: So wenig Verwaltung
wie möglich und nur so viel wie nötig. – Vielleicht wird
dann auch einmal für mich und für alle genervten Eltern
der Meldebogen mit den Daten der Kinder für die Kran-
kenkassen wegfallen.





Gabriele Hiller-Ohm


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807918700

Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt für die Fraktion Die

Linke Matthias W. Birkwald.


(Beifall bei der LINKEN)



Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807918800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Projekt
mit dem schönen Titel „Optimiertes Meldeverfahren in
der sozialen Sicherung“, kurz OMS, soll den Datenaus-
tausch zwischen Arbeitgebern und Sozialversicherungs-
trägern verbessern. Ja, Frau Staatssekretärin, das klingt
erst einmal gut. Ich bin sicher, die Rednerinnen und Red-
ner der Union werden gleich wie Frau Hiller-Ohm so-
eben den Bürokratieabbau und die sinnvollen Erleichte-
rungen für die Unternehmen loben. Es könnte alles so
einfach sein, ist es aber nicht. Darum muss ich Ihnen et-
was Wasser in den Wein gießen.

Erstens. Mehr Computer und bessere Software einzu-
setzen, ist für größere Unternehmen und ihre Steuerbera-
tungsfirmen oft eine feine Sache. Aber viele kleine und
mittlere Unternehmen können sich das schlicht nicht
leisten. Es ist zu teuer für sie. Ein Beispiel: In Ihrem Ge-
setzentwurf ist vorgesehen, dass kleine und mittlere Un-
ternehmen täglich, also jeden Tag, elektronische Daten
bei den Sozialversicherungen abrufen müssen. Der Nor-
menkontrollrat und der Bundesrat sind sich da einig und
sagen: Das ist nicht sinnvoll. – Sie ignorieren das. Des-
wegen sage ich: Äußern Sie sich doch einmal zu den Be-
denken der kleinen Unternehmen.


(Beifall bei der LINKEN)


Zweitens. Wir wissen, dass der Bürokratieabbau den
Datenschutz für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
oft einschränkt. Denken Sie bitte einmal an die unrühm-
liche Vorgeschichte des OMS-Projektes. Das 2002 ge-
startete Projekt ELENA, also das elektronische Entgelt-
nachweisverfahren, hatte gigantische Ausmaße. ELENA
sollte 60 Millionen Papierbescheinigungen von Arbeit-
gebern und 190 Formulartypen überflüssig machen. Ma-
chen wir es kurz: Am Ende hatten 35 000 datenschutzbe-
wegte Menschen vor dem Bundesverfassungsgericht
dagegen geklagt, und ELENA wurde 2011 aus Daten-
schutz- und aus Kostengründen eingestampft. Gut so!


(Beifall bei der LINKEN)


Aber schon ein Jahr später wurde das OMS-Projekt
ins Leben gerufen, um alternative Modelle eines elektro-
nischen Arbeitgebermeldeverfahrens zu prüfen.


(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Ja, richtig!)


Heute setzen Sie erste Ergebnisse dieses ELENA-Nach-
folgeprojektes um. Warum sind wir Linken da wohl
skeptisch? Sie haben nicht aus Ihren Fehlern gelernt. Sie
haben wieder den gleichen Dienstleister beauftragt,
nämlich die Informationstechnische Servicestelle der ge-
setzlichen Krankenversicherung. Diese Firma, die ITSG,
wie sie abgekürzt heißt, hat aber in der Vergangenheit
eine entscheidende Rolle bei dem Versuch gespielt, das
unsinnige und teure IT-Großprojekt ELENA durchzuset-
zen. Ich sage: Das Scheitern von ELENA ist auch das
Scheitern der Firma ITSG. Das macht uns skeptisch.


(Beifall bei der LINKEN)


In der Machbarkeitsstudie zum OMS-Projekt finden
sich an vielen Stellen starke Bedenken und deutliche
Kritik vonseiten der Datenschützerinnen und Daten-
schützer. Was ist daraus eigentlich geworden? Haben Sie
diese berücksichtigt?


(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Selbstverständlich!)


Werden Sie diese berücksichtigen? Ich bin gespannt und
hoffe, dass Sie bald etwas dazu vorlegen.

Lassen Sie mich zum Schluss noch zu einem erfreuli-
chen Thema kommen. Volljährige Waisen haben bisher
Anspruch auf eine Waisenrente, wenn sie sich noch in
der Ausbildung befinden. Wenn sie aber mehr als um die
500 Euro eigenes Einkommen im Monat haben, kann ih-
nen ihre Waisenrente gekürzt werden. Die Rentenversi-
cherung muss das Einkommen daher jährlich ermitteln
und gegebenenfalls anrechnen – bisher.

Aber was bringt das? Einem Verwaltungsaufwand
von 12,5 Millionen Euro im Jahr stehen laut Bundes-
rechnungshof nur 2,6 Millionen Euro an Einnahmen ge-
genüber. Deshalb hat er vorgeschlagen, das Einkommen
der Waisen bei der Berechnung der Waisenrente künftig
gar nicht mehr zu prüfen. Die Hinzuverdienstgrenze soll
also wegfallen, da Waisen unter 25 Jahren meist kein
nennenswertes Einkommen haben. Das heißt auf
Deutsch: Die betroffenen Waisen werden im Monat
durchschnittlich 15 bis 20 Euro mehr in der Tasche ha-
ben. Da sage ich: Das ist wirklich Bürokratieabbau im
Interesse der Betroffenen und nicht im Interesse der Ar-
beitgeber. Frau Staatssekretärin, das hat die Bundes-
regierung gut gemacht.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807918900

Herr Birkwald, Sie würden das jetzt gut machen,

wenn Sie zum Ende kämen.


Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807919000

Frau Präsidentin, das mache ich sofort. Ich sage nur

noch: Räumen Sie unsere Datenschutzbedenken und
Zweifel am OMS-Projekt aus! Bis dahin bleiben wir
skeptisch.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Kerstin Griese [SPD])



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807919100

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Gabriele

Schmidt, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Gabriele Schmidt (CDU):
Rede ID: ID1807919200

Frau Präsidentin! Liebe Gäste im Bundestag! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute den Ent-
wurf eines Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches
Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze. Damit wollen
wir unter anderem die technischen und organisatorischen
Abläufe bei den elektronischen Meldeverfahren zwi-
schen den Sozialversicherungsträgern und den Arbeitge-
bern verbessern und die Bürokratiekosten, die durch die
Informationspflichten entstehen, senken.

Zum Hintergrund. Es gibt in der Tat, Frau Kollegin
Hiller-Ohm, 400 Millionen Meldevorgänge im Bereich
der sozialen Sicherung. Allein die Anzahl der Sozialver-
sicherungsmeldungen beläuft sich auf rund 230 Millio-
nen. Es handelt sich dabei um Daten von 40 Millionen
Beschäftigten bei 3,5 Millionen Arbeitgebern; streiten
wir uns nicht um ein paar Zehntausend. Diese vielen Da-
ten müssen an die Sozialversicherungsträger übermittelt
werden.

Die Bundesregierung hat unter Federführung des
Ministeriums für Arbeit und Soziales das Projekt „Opti-
miertes Meldeverfahren in der sozialen Sicherung“ ini-
tiiert. Ziel des Projektes war, wie der Name schon sagt,
in Zusammenarbeit mit Wirtschaft, Softwareherstellern
und Sozialversicherungsträgern Vorschläge zur Optimie-
rung der Meldeverfahren im Bereich der sozialen Siche-
rung zu erarbeiten. Unter Beteiligung der Praktiker, die
sich täglich mit den Datenermittlungs-, Prüfungs- und
Übertragungsverfahren befassen, sollten weitere Poten-
ziale zur Verbesserung der Beitrags-, Melde- und An-
tragsverfahren erschlossen werden.

Der vorliegende Gesetzentwurf basiert auf den Ergeb-
nissen der gemeinsamen Projektarbeit, an der sich die
betroffenen Akteure beteiligt haben, darunter auch die
Sozialversicherungsträger, ihre Spitzenverbände, die
Bundesagentur für Arbeit, die Sozialpartner und das Sta-
tistische Bundesamt. Das Ergebnis war: Es besteht ge-
setzgeberischer Handlungsbedarf. Es hat sich im Rah-
men dieses Projektes herausgestellt, dass die Praxis die
Theorie sozusagen überholt hat. Die Verfahren haben
sich in der Praxis teilweise erheblich weiter entwickelt
als im Gesetz geregelt. Deswegen geht es jetzt auch da-
rum, wichtige Bestandteile der Meldeverfahren in die-
sem Gesetzentwurf klar zu definieren und damit die Ver-
fahrenssicherheit zu erhöhen.

Worum geht es im Detail? Wir wollen die Verbesse-
rung der Datenqualität, zum Beispiel durch die Festle-
gung technischer Übertragungsverfahren und einheitli-
cher Fristen. Wir wollen, dass Verfahrenskomponenten
wie Kommunikationsserver und weitere technische Be-
schreibungen gesetzlich eindeutig definiert werden. Wei-
tere Anregungen aus der betrieblichen Praxis, zum Bei-
spiel die erweiterte Anwendung der Vorschriften für die
Nutzung der Entgeltbescheinigung, sollen aufgegriffen
werden. Diese Änderung ist im Sinne der Arbeitgeber,
weil damit Vereinfachungen im Bescheinigungswesen
einhergehen. Wir wollen die Bürokratie insgesamt ab-
bauen und die Arbeitgeber von Verwaltungsaufwand
entlasten.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sage ich doch!)


Ich mache mir keine Illusionen: Dieses Gesetz wird
nicht dazu führen, dass die Bürokratie in Deutschland
plötzlich eingeht wie eine Pflanze ohne Wasser. Aber wir
müssen einen Schritt tun, und dies ist für die Bundes-
regierung der nächste logische Schritt bei dem von ihr
verfolgten Konzept, die Bürokratiekosten dauerhaft zu
senken.

Vor meiner Zeit im Bundestag habe ich in Wutöschin-
gen im Kreis Waldshut die Firma ACO mit aufgebaut
und war lange mit dem Meldewesen betraut. Ich habe
mich oft genug geärgert, wenn Meldedaten irgendwo im
Datennirwana verschwunden sind und ich zeitaufwendig
und damit teuer nachmelden musste. Die neue Regelung
kommt zwar für mich zu spät; ich denke aber, dass sich
wenigstens meine Kollegen darüber freuen.

Zusätzlich sind Änderungen im Rentenrecht vorgese-
hen, so die Angleichung des Waisenrentenrechts an das
Steuer- und Kindergeldrecht. Der Wegfall der Einkom-
mensanrechnung auf Waisenrenten bei volljährigen Wai-
sen führt zur Verwaltungsvereinfachung. Ich bin froh,
dass dies sogar dem Kollegen Birkwald gefällt, der ja
sonst nicht viel Gutes an diesem Gesetzentwurf gefun-
den hat.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Immerhin!)


Zum Schluss möchte ich auch auf die Kosten zu spre-
chen kommen. Der einmalige Umstellungsaufwand für
Arbeitgeber und Sozialversicherungsträger wird sich
zwar auf einen Betrag von rund 93 Millionen Euro be-
laufen; es wird aber erwartet, dass sich die Kosten für
die Arbeitgeber bereits im ersten Jahr bezahlt machen,
für die Sozialversicherungsträger innerhalb weniger
Jahre. Insgesamt soll sich aus der Reduzierung der Büro-
kratiekosten und Informationspflichten für die Arbeitge-
ber eine Entlastung von rund 126 Millionen Euro, für die
Sozialversicherungsträger von rund 7 Millionen Euro
jährlich ergeben.

Mein Fazit: Der vorliegende Gesetzentwurf wird den
durch die Weiterentwicklung der Meldeverfahren in der
Praxis gewachsenen Ansprüchen gerecht. Wir möchten
Rechtsklarheit und Rechtssicherheit in den Meldeverfah-
ren stärken und durch optimierte und vereinfachte Ver-
fahren die Arbeitgeber entlasten.

Ich finde, dieser Gesetzentwurf böte doch mal eine
schöne Gelegenheit, dass alle Fraktionen gemeinsam zu-
stimmen; die CDU/CSU-Fraktion jedenfalls wird ihm
zustimmen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807919300

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Wolfgang

Strengmann-Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen.






(A) (C)



(D)(B)


(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir Grünen sind für Bürokratieabbau und für verein-
fachte Regelungen. Der Gesetzentwurf bringt in der Tat
eine ganze Reihe von kleineren Schritten, die Bürokra-
tieabbau ermöglichen: Vereinfachungen, Software an
vernünftigen Stellen einsetzen; insofern sind das viele
Schritte in die richtige Richtung.

Aber es gibt natürlich – da schließe ich mich dem
Kollegen Birkwald an – auch ein paar Fragen: Was ist
mit den kleinen und mittleren Unternehmen? Was ist mit
dem täglichen Datenabgleich? Das könnte die schon
überfordern; das müsste man noch einmal prüfen. Auch
die Frage des Datenschutzes muss natürlich noch einmal
intensiver betrachtet werden. Wir finden es grundsätz-
lich richtig, in diese Richtung zu gehen; aber das sind
natürlich kleine Schritte.

Wenn man eine wirkliche Vereinfachung im sozialen
Sicherungssystem haben wollte, müsste man noch an
ganz andere Bereiche gehen: Im Transfersystem, Grund-
sicherungssystem wäre da noch viel mehr zu machen.
Wir warten da sehnsüchtig auf den Gesetzentwurf zur
sogenannten Rechtsvereinfachung, auch wenn wir wis-
sen, dass auch da nicht der große Wurf kommen wird.
Aber das wäre eigentlich die spannendere Debatte: Was
kann man im Grundsicherungssystem verändern? Noch
spannender und umfangreicher wäre die Debatte über
die Frage: Was ist eigentlich mit den Familienleistun-
gen? Aber das wäre dann eine ganz andere Baustelle.

Bei den Sozialversicherungen – das muss man viel-
leicht noch einmal betonen, auch gegenüber der Öffent-
lichkeit – ist, was die Effizienz angeht, gar nicht so
wahnsinnig viel zu vereinfachen oder zu verbessern,
weil die Sozialversicherungen im Gegensatz zu privaten
Versicherungen ohnehin schon sehr geringe Verwal-
tungskosten haben – für uns Grüne ein Grund, bei der
kapitalgedeckten Alterssicherung auch über ein öffent-
lich organisiertes Basisprodukt für die Riester-Rente
nachzudenken. Die Verwaltungskosten wären geringer;
aber auch sonst fänden wir das eine sinnvolle Idee.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aber nun zu dem Gesetzentwurf. Auch da, finden wir,
hätte man an manchen Stellen durchaus noch ein biss-
chen weitergehen können. Die Waisenrente ist schon an-
gesprochen worden. Wir finden es richtig, dass die Ein-
kommensanrechnung wegfallen soll. Der Aufwand ist
tatsächlich viel größer als der Ertrag, und für die Betrof-
fenen ist das eine deutliche Verbesserung. Man könnte
aber noch einen Schritt weitergehen und fragen: Warum
ist die Höhe der Waisenrente eigentlich vom Einkom-
men der Eltern abhängig? Wenn man sagen würde: „Die
Waisenrente ist für alle gleich“, wäre das auch noch mal
eine Vereinfachung, und gerechter wäre es eigentlich
auch, wenn die Leistung einkommensunabhängig wäre.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der Nationale Normenkontrollrat geht in seiner Stel-
lungnahme zum vorliegenden Gesetzentwurf auch auf
die Unfallversicherung ein. Dort steht:
Der Normenkontrollrat bedauert, dass an den pa-
piergebundenen Lohnnachweisen … über das Jahr
2015 hinaus festgehalten werden soll.

Es ist natürlich schade, dass das an dieser Stelle nicht
elektronisch geht. Der Grund dafür steht allerdings auch
in der Stellungnahme. Es gibt nämlich Differenzen zwi-
schen den Lohnnachweisen und den aggregierten Lohn-
summen.

An dieser Stelle könnte man vielleicht auch einmal
über den Vorschlag nachdenken, ob es nicht sinnvoll
wäre, die Arbeitgeberbeiträge grundsätzlich einfach auf
der Basis der Lohnsumme zu berechnen, anstatt jeden
einzelnen Fall einzeln abzurechnen. Das würde kleine
und mittlere Unternehmen sehr von der Bürokratie ent-
lasten.

Ein großer Wurf wäre es, wenn man bei der Pflege-,
der Kranken- und der Rentenversicherung endlich ein-
mal die Bürgerversicherung angehen würde und diesbe-
züglich nicht nur zu einer Harmonisierung innerhalb der
Sozialversicherungen, sondern auch mit dem Steuersys-
tem kommen würde; denn wenn das komplette Einkom-
men die Basis ist, dann muss man das logischerweise mit
dem Steuersystem vereinheitlichen. Die Beitragserhe-
bung könnte dann über das Finanzamt geregelt werden.

Solche großen Schritte gehen Sie nicht. Wie gesagt:
Es sind viele kleine Schritte, die wir durchaus positiv se-
hen, aber der große Wurf ist das leider noch nicht.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807919400

Danke schön. – Letzte Rednerin zu diesem Tagesord-

nungspunkt ist Dr. Astrid Freudenstein, CDU/CSU-
Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Astrid Freudenstein (CSU):
Rede ID: ID1807919500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Meine Damen und Herren! Die Meldeverfahren in
der sozialen Sicherung sind in der Summe das größte
und komplexeste Massenverfahren zur Weitergabe von
Informationen der Arbeitgeber an öffentliche Stellen in
Deutschland. Allein die Anzahl der Meldevorgänge be-
trägt jährlich etwa 400 Millionen. Übermittelt werden
die Daten von mehr als 40 Millionen Beschäftigten bei
circa 3,7 Millionen Arbeitgebern.

Diese Zahlen beeindrucken uns und können uns auch
ein bisschen Sorge vor einer überbordenden Bürokratie
bereiten. Als CSU-Abgeordnete fällt es mir natürlich
schwer, jetzt einen waschechten Preußen zu zitieren,
aber der Vater der deutschen Sozialpolitik selbst, Otto
von Bismarck, warnte bereits vor 124 Jahren: „Die Bü-
rokratie ist es, an der wir alle kranken.“


(Zuruf von der CDU/CSU: Recht hat er!)






Dr. Astrid Freudenstein


(A) (C)



(D)(B)

Genau diese Bürokratie möchten wir abbauen – zu-
mal dann, wenn sie nicht wirklich nötig ist. Das haben
wir uns als Koalition ganz dick in unser Hausaufgaben-
heft geschrieben; das ist im Koalitionsvertrag eindeutig
fixiert. Und das gilt natürlich auch hinsichtlich der Mel-
deverfahren in der sozialen Sicherung.

Vor allem seit 2006 haben sich durch die gemein-
same, verschlüsselte Datenübertragungsbasis große
Potenziale für Entbürokratisierung ergeben. Alle Verfah-
rensbeteiligten – die Arbeitgeber, die Softwareunterneh-
men und die Sozialversicherungsträger – sehen das Sys-
tem als durchdacht, sicher und sparsam an. Trotzdem
gibt es natürlich auch hier noch Verbesserungspoten-
ziale. Das hatte die christlich-liberale Koalition auch er-
kannt, weshalb sie das Projekt „Optimiertes Meldever-
fahren in der sozialen Sicherung“ ins Leben gerufen hat.

In den Jahren 2012 und 2013 wurden in dem Projekt
Vorschläge aller beteiligten Akteure – vor allem der Ar-
beitgeber – auf ihre Machbarkeit hin überprüft. Es ging
darum, inwieweit das Verfahren besser, einfacher und
günstiger gemacht werden könnte. Dabei gab es natür-
lich keine Denkverbote.

Arbeitsgruppen mit Teilnehmern aus allen Bereichen
der Sozialversicherungen bewerteten schließlich die ein-
gereichten Vorschläge. Dabei wurde die fachliche Seite
genauso wie die organisatorische und die technische
Seite berücksichtigt. Aber eben auch Kostengesichts-
punkte und der Datenschutz spielten eine ganz wesentli-
che Rolle. Herausgekommen sind ganz konkrete,
umsetzbare Handlungsvorschläge zur Optimierung der
Meldeverfahren in unserer sozialen Sicherung.

Im vergangenen Jahr hat das Kabinett beschlossen,
diese Verbesserungsvorschläge umzusetzen. Das tun wir
nun mit dem vorliegenden Gesetzentwurf. Er beinhaltet
im Wesentlichen die Umsetzung der Vorschläge zur Ver-
besserung der Datenqualität und zur Stärkung der Ver-
fahrenssicherheit, eine eindeutige gesetzliche Definition
von Verfahrenskomponenten wie Kommunikations-
servern und Annahmestellen, die Rechtssicherheit schaf-
fen sollen, und eine gesetzliche Grundlage für das von
Rentenversicherungsträgern entwickelte Projekt zur
elektronischen Annahme von Bescheinigungen.

Damit wird ein Projekt erfolgreich abgeschlossen, das
in eindrücklicher Weise zeigt, wie gut die Zusammenar-
beit von Politik und Praxis funktionieren kann und wie
fruchtbar eine solche Zusammenarbeit ist. Mit diesen
Maßnahmen entlasten wir die Arbeitgeber in Deutsch-
land spürbar. Ihr jährlicher Erfüllungsaufwand reduziert
sich nach einem einmaligen Umstellungsaufwand um
rund 126 Millionen Euro. Das bewirken vor allem die
geringeren Kosten aus den Informationspflichten.

Es ist aber auch unsere Aufgabe, keine neue Bürokra-
tie aufzubauen. Deshalb ist der Beschluss des Bundeska-
binetts vom Dezember letzten Jahres sehr zu begrüßen,
der eine von der CSU geforderte Bürokratiebremse vor-
sieht: Jeder Euro zusätzlicher Aufwand muss demnach
durch 1 Euro der Entlastung ausgeglichen werden. So
können wir weiter Bürokratie abbauen, die Rechtsset-
zung verbessern und die Wettbewerbsfähigkeit unserer
Unternehmen stärken.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807919600

Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/3699 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Ich sehe, das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia
Roth (Augsburg), Annalena Baerbock, Uwe
Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Gipfeljahr 2015 – Durchbruch schaffen für
Klimaschutz und globale Gerechtigkeit
Drucksache 18/3156
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen.

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Liebe Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Heute traf auch ich wie andere von Ihnen 15
15-Jährige, die den Bundestag besucht haben; junge
Menschen, die in dem Jahr auf die Welt gekommen sind,
als die internationale Gemeinschaft die Millenniums-
ziele beschlossen hat.

Tatsächlich wurde mit diesen Zielen in den vergange-
nen 15 Jahren weltweit viel erreicht: Die Zahl der Armen
wurde halbiert, die Kindersterblichkeit wurde um fast
die Hälfte gesenkt, und 90 Prozent aller Kinder haben in-
zwischen einen Zugang zu Bildung, sie werden einge-
schult. Das sind Zahlen, die für die Zukunft große Hoff-
nung machen.

Um genau diese Zukunft geht es. Im Gespräch mit
den jungen Menschen wird allerdings auch ganz offen-
sichtlich, welche Risiken wir mit unserem Lebensstil,
mit unserer Art des Wirtschaftens, des Produzierens und
des Konsumierens den nächsten Generationen aufbür-
den. Die globale Kooperation, die wir brauchen, der An-
spruch an eine Global Governance, steckt in der Krise.





Claudia Roth (Augsburg)



(A) (C)



(D)(B)

In der Welt von heute verschärft sich die soziale Un-
gleichheit. Sie geht quer durch alle Staaten. Es brechen
neue Krisen aus, Gewalt entgrenzt sich. Wir stehen kurz
vor dem Klimakollaps, und am Ende wird all dies De-
mokratien sehr schwer belasten.

Deswegen haben diese jungen Menschen zu Recht
hohe Anforderungen und Erwartungen an das Jahr 2015;
denn es ist ein Jahr, in dem über die Wege in die Zukunft
entschieden wird und in dem wichtige Entscheidungen
getroffen werden, also ein globales Jahr. Im Jahr 2015
muss der Durchbruch für Klimaschutz und für interna-
tionale und globale Gerechtigkeit endlich gelingen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Den Schlüssel zum Erfolg, nicht den Schlüssel zu
weiteren Rückschritten haben wir selber in der Hand.
Wir können nicht zuletzt mit der deutschen G-7-Präsi-
dentschaft dazu beitragen, überhaupt wieder Vertrauen
in die notwendige globale Verantwortung zu schaffen.
Vertrauen herstellen setzt aber voraus, dass wir selber in
Vorleistung treten; denn in vielen Punkten – das zeigen
die Anforderungen der Sustainable Development Goals –
haben auch wir einen Riesennachholbedarf. In vielen
Punkten ist auch Deutschland ein Entwicklungsland. Ge-
nau das anzuerkennen und dagegen eine andere Politik
voranzutreiben, das erwarte ich von der Bundesregie-
rung und von uns in diesem Jahr.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das fängt mit dem G-7-Gipfel im schönen bayeri-
schen Elmau an. Auch da sind politische Signale die Vo-
raussetzung für den Erfolg dieses schicksalhaften Gip-
feljahrs. Denn wenn Deutschland sich nicht für ein
schnelles Auslaufen der Subventionen für fossile Ener-
gieträger einsetzt, wenn es keine Initiativen zur Stärkung
der VN etwa durch eine Aufwertung des Umweltpro-
gramms UNEP gibt, wenn die reichen Staaten sich nicht
ohne Wenn und Aber zum Prinzip der gemeinsamen,
aber unterschiedlichen Verantwortung bekennen, dann
wird der Startpunkt für dieses Jahr verfehlt, und die Gip-
fel drohen, einer nach dem anderen zur großen Enttäu-
schung zu werden.

Denn schöne Worte allein reichen nicht aus. Es gibt
die schönen Worte aus dem Entwicklungsressort und
dem Umweltressort. Aber das reicht nicht. Wir brauchen
endlich konkrete Umsetzungspläne für die neue Nach-
haltigkeitsagenda


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


aus dem Landwirtschaftsministerium, dem Finanzminis-
terium, dem Wirtschaftsministerium und dem Infrastruk-
turministerium. Von dort ist bislang leider wenig gekom-
men.

Die großen Versprechen – auch auf sie wird es an-
kommen – zur Entwicklungs- und Klimafinanzierung
sind längst nicht umgesetzt. Auch deswegen kommt es
in Elmau darauf an, glaubhaft zu machen, dass Deutsch-
land bereit ist, jährlich 1,2 Milliarden Euro mehr in die
globale Entwicklung und 500 Millionen Euro mehr in
den Klimaschutz zu investieren. Wenn das nämlich nicht
passiert, dann droht der Gipfel über die Entwicklungs-
finanzierung in Addis Abeba zu scheitern, und wenn
Addis Abeba keine Fortschritte bringt, dann wird der
Nachhaltigkeitsgipfel in New York zur Farce. Und wenn
New York zur Farce wird, dann kommt in Paris beim
großen Klimaabkommen ganz wenig heraus. Das kön-
nen wir uns alle nicht leisten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Mit unserem grünen Antrag versuchen wir, liebe Kol-
leginnen und Kollegen, den Weg für ein erfolgreiches
Gipfeljahr 2015 zu beschreiben. Ich lade Sie herzlich
ein, diesen Weg gemeinsam zu gehen. Die Zukunft war-
tet nicht. Die 15 15-Jährigen – und nicht nur sie – wer-
den es uns allen danken.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807919700

Vielen Dank. – Das Wort hat Peter Stein, CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Peter Stein (CDU):
Rede ID: ID1807919800

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kollegen der Grünen, zu Beginn frage ich
Sie: Was wollen Sie mit diesem Antrag erreichen? Wir
reden schon zum wiederholten Male über dieses Thema,
das Sie auf die Tagesordnung gesetzt haben. Weite Teile
sind nur eine Aufzählung dessen, was uns in diesem Jahr
2015 erwartet. Das ist nichts Neues: Das sind die Ver-
handlungen zu den SDGs, die G-7-Präsidentschaft
Deutschlands und nicht zuletzt – das ist sicherlich sehr
wichtig – die Klimakonferenz in Paris.

Alles in Ihrem Antrag ist mit der Aufforderung an die
Regierung verbunden, dies zu einem möglichst guten
Abschluss zu bringen. Das ist selbstverständlich. Dazu
braucht es keine Aufforderung.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Herr Stein! Schön wär’s! – Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist das Prinzip Hoffnung!)


Sie haben es wiederum geschafft, in den Überschrif-
ten so ziemlich jedes Thema im Zusammenhang mit der
Nachhaltigkeit anzuführen und dann völlig unkonkret zu
bleiben. Sie erwarten die Konkretisierung von der Re-
gierung,


(Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Von wem sonst?)


und zwar zu Recht. Das erwarten wir auch, und das wird
geliefert.

Zudem ist Ihr Antrag, auch was die Vereinten Natio-
nen betrifft, teilweise widersprüchlich. In der Einleitung
stellen Sie fest, dass die Vereinten Nationen durch den
Sicherheitsrat blockiert sind und dass das, was in der





Peter Stein


(A) (C)



(D)(B)

Vergangenheit abgeliefert worden ist, enttäuschend war.
Das beschreiben Sie so, um danach aber festzustellen,
dass die UNO unsere ganze Hoffnung ist.

Richtig ist: Wir müssen die Vereinten Nationen in die-
sem Punkt stärken.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, genau!)


Auch darin sind wir völlig d’accord. Auch das müssen
wir heute nicht ausdiskutieren. Das ist nichts Neues.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, da muss aber was kommen von der Regierung!)


Auf die Klimafrage möchte ich jetzt nicht weiter ein-
gehen. Das wird mein Kollege Matern von Marschall
machen, der an der Klimakonferenz in Lima teilgenom-
men hat. Er kann deshalb viel besser darüber berichten.

Ich möchte nur so viel sagen: Ich hatte bereits in mei-
ner Rede vor Weihnachten exakt zu demselben Themen-
komplex im Plenum gesagt: Wir werden als Bundesre-
publik Deutschland alles dafür tun, dass Paris ein Erfolg
wird. – Paris muss auch ein Erfolg werden. Das ist heute
auch nicht zum ersten Mal gesagt worden. Ich wieder-
hole es aber gerne. Das ist auch unsere Auffassung als
CDU/CSU-Fraktion. Darin sind wir, glaube ich, im gan-
zen Haus völlig d’accord.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sich bei den globalen Fragen auf einen reinen Top-
down-Ansatz zu verlassen, halte ich aber für kurzsichtig.
Das bedeutet nämlich nicht, dass wir deswegen unsere
Anstrengungen auf dem Weg nach Paris reduzieren wür-
den, sondern lediglich, dass wir einen gangbaren Weg
suchen und auch hilfreiche Alternativen betrachten müs-
sen, zum Beispiel die Verstetigung der Klima- und Ent-
wicklungspolitik, und zwar nicht nur auf der internatio-
nalen, sondern auch auf der nationalen und der
subnationalen Ebene, und die Verstärkung der Anstren-
gungen auf diesen Ebenen. Als Vorbild dient hier das,
was die großen C-40-Städte bereits auf der kommunalen
Ebene eingeleitet haben. Länder wie Deutschland kön-
nen und müssen dabei vorangehen und anderen den Weg
zeigen. Sie müssen bereit sein, dabei Risiken einzuge-
hen. Wir sind bereit dazu und tun das gerade. Gerade
deshalb schaut die Welt auf uns.

Erlauben Sie mir noch einen Kommentar zu einem
Satz in Ihrem Antrag. Ich halte es für absolut unange-
messen, dass Sie die Abwesenheit der Kanzlerin bei ei-
ner einzelnen Konferenz kritisieren. Wie Sie wissen, ist
die Kanzlerin nicht faul und nimmt an zahlreichen Kon-
ferenzen teil.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da war sie beim BDI, Herr Stein! – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sind die Prioritäten der Regierung?)


Sie ist sehr gut organisiert, hat aber einen Terminkalen-
der, dem wahrscheinlich drei Abgeordnete Ihrer Fraktion
nicht gerecht werden können. Sie hat außerdem in der
Regierung beispielsweise mit der Umweltministerin,
dem Landwirtschaftsminister, dem Minister für Ent-
wicklungszusammenarbeit und dem Vizekanzler starke
Partner, die über höchste Sachkompetenz verfügen. Al-
lein deswegen, wegen des Seitenhiebs auf die Kanzlerin,
können wir Ihrem Antrag nicht zustimmen.

Wir als CDU/CSU-Fraktion haben an den SDG-Pro-
zess große Erwartungen. Die überwiegend positiven
Entwicklungen werden fortgesetzt und durch neue As-
pekte ergänzt. Ganz wichtig ist: Wir werden endlich un-
serer globalen Verantwortung dadurch gerecht, dass die
SDGs und die Regeln der Klimaverhandlungen für alle
Staaten gleichermaßen gelten. Wir werden schlussend-
lich die Trennung in Verursacher und Betroffene aufhe-
ben. Das gilt für Industrie- und Schwellenländer genauso
wie für Entwicklungsländer. Das halte ich für einen gu-
ten Ansatz; dieser stammt übrigens vom Klimaschutz-
gipfel in Lima.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807919900

Herr Kollege Stein, gestatten Sie eine Zwischenfrage

der Kollegin Roth?


Peter Stein (CDU):
Rede ID: ID1807920000

Mir bleibt ja nichts anderes übrig, Frau Roth.


(Heiterkeit – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, Sie müssen es schon wollen!)


– Wie im Ausschuss: Ja, gerne.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807920100

Bitte schön.

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Herr Stein, habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie
unserem Antrag zustimmen würden, wenn wir bereit wä-
ren, die Anmerkung, dass Frau Merkel lieber beim BDI
war als bei Ban Ki-moon, zu streichen?


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Peter Stein (CDU):
Rede ID: ID1807920200

Sie haben nicht richtig zugehört. Ich habe gesagt, al-

lein deswegen schon können wir nicht zustimmen. Aber
vielleicht gibt Ihnen mein Kollege Matern von Marschall
darauf die richtige Antwort.

Es ist natürlich zu begrüßen, dass die SDGs nach der-
zeitigem Stand möglichst umfangreich gestaltet werden,
um sich den komplexen Herausforderungen unserer Zeit
vollständig zu stellen. Was auch sonst? Das ist unser
Ziel. Ich sehe allerdings an dieser Stelle die Gefahr, dass
eine Aufblähung in 17 Goals, 169 Targets und Tausende
Details genau das Gegenteil von dem, was wir beabsich-
tigen, zur Folge haben könnte. Zu viel Klein-Klein im
Inhalt kann dazu führen, dass die Ziele beliebig werden,





Peter Stein


(A) (C)



(D)(B)

dass sich jeder das heraussucht, was er am leichtesten er-
füllen kann, und dass das große Ganze nicht mehr zu be-
werten ist. Eine schlankere und verbindlichere Version
der 17 Ziele, hinter denen wir ausdrücklich stehen, halte
ich für zielführender.

Ein weiterer Punkt, den ich für wichtig halte, betrifft
den Begriff der Nachhaltigkeit. Er ist nicht abschließend
mit Klima- und Umweltthemen beschrieben, sondern
umfasst gerade in der Entwicklungszusammenarbeit
auch Demokratisierungsprozesse, Bildung, insbesondere
die berufliche Ausbildung, das Gesundheitswesen und
den nachhaltigen Aufbau einer starken Wirtschaftsstruk-
tur in den Zielländern. Wir haben hier seitens der CDU/
CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion einen Paradigmen-
wechsel vorgenommen, den wir im Bereich der Ent-
wicklungszusammenarbeit in den Vordergrund stellen.
Sie sagen hierzu nichts. Ihr Antrag bleibt weit hinter
dem Regierungshandeln zurück. So werden wir keine
Entwicklungspolitik machen.

Die SDG-Agenda als Ganzes ist nur dann nachhaltig,
wenn sie von allen Staaten in allen relevanten Bereichen
abgebildet, mitgetragen und umgesetzt wird.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807920300

Herr Kollege Stein, denken Sie an die Redezeit.


Peter Stein (CDU):
Rede ID: ID1807920400

Noch zwei Sätze. – Das heißt für uns, die Entschei-

dungen anderer souveräner Staaten und Regierungen zu
akzeptieren, selbst wenn sie im Ergebnis nicht unseren
Erwartungen entsprechen. Begegnungen auf Augen-
höhe und echte Partnerschaft beginnen schon bei der
Verhandlungsführung und enden noch lange nicht bei
der Umsetzung. Das ist nachhaltig.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807920500

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin

Heike Hänsel, Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Heike Hänsel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807920600

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Dieses Jahr ist ein Gipfeljahr, in Bayern der G-7-
Gipfel. Wir haben die Entwicklungsfinanzierungskonfe-
renz in Äthiopien, die große Nachhaltigkeitskonferenz in
der UNO in New York und den Klimagipfel Ende des
Jahres in Paris. Die großen Themen stehen also auf der
Agenda: globale Gerechtigkeit und Klimaschutz.

Herr Stein, ich denke, es lohnt sich schon, über diese
Themen so oft wie möglich zu diskutieren; denn nach
wie vor sind Armut und Perspektivlosigkeit auch Ursa-
chen für Krisen und Kriege, und sie sind unter anderem
auch ein Nährboden für Terror. Das haben wir in den
letzten Tagen leidvoll erleben müssen. Deswegen, finde
ich, ist es überfällig, auch über die Ursachen von Terro-
rismus viel grundsätzlicher und weniger oberflächlich zu
diskutieren. Diese Diskussion hat mir leider heute doch
sehr gefehlt.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Weltweite soziale Ungleichheit und die Zerstörung des
Planeten sind die zentralen Herausforderungen, die im
Rahmen einer neuen, nachhaltigen Politik für mehr glo-
bale Gerechtigkeit thematisiert werden sollen. Es zeigt
sich aber schon, dass sehr unterschiedliche Schwer-
punkte gesetzt werden. Während zum Beispiel die UNO
und viele Länder des Südens sehr stark auf die weltweite
soziale Ungleichheit zwischen Staaten und innerhalb
von Staaten fokussieren, ist das beispielsweise für die
Bundesregierung überhaupt kein Thema. Das kommt in
dem Papier als Schwerpunkt überhaupt nicht vor. Das
halte ich schlichtweg für einen entwicklungspolitischen
und politischen Skandal.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn 86 Personen weltweit so viel besitzen wie die
ärmere Hälfte der Weltbevölkerung, dann zeigt sich
doch, dass diese Reichtumskonzentration massiv zerstö-
rerisch wirkt und dass wenige nach wie vor auf Kosten
der Mehrheit leben – und das trotz jahrzehntelanger Ent-
wicklungszusammenarbeit –, weshalb wir eine welt-
weite Politik der Umverteilung dringend benötigen, die
wir auch schon seit Jahren fordern.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es fehlt wieder ein weiteres ganz großes Thema in
diesen Textentwürfen – das haben wir schon bei den
MDGs massiv kritisiert –, nämlich die Überwindung von
Krieg als Mittel der Politik. Das wäre der größte Beitrag,
den wir für Entwicklung leisten können.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Ausgaben für die weltweite Rüstung könnten wir
umwidmen – wir sind bei Rüstungsausgaben von über
1 Billion Euro weltweit pro Jahr –, um endlich Entwick-
lung und Klimaschutz zu finanzieren. Das ist ein Be-
reich, der mir im Antrag der Grünen fehlt. Das wäre
nämlich eine sehr innovative Entwicklungsfinanzie-
rung, die wir seit Jahren fordern: Umwidmung der Rüs-
tungsgelder zur Erreichung von Entwicklungszielen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir haben viel über die SDGs diskutiert, auch schon
im Zusammenhang mit anderen Anträgen. Deshalb
möchte ich mich jetzt auf einen Punkt in Ihrem Antrag
konzentrieren. Es gibt viele Dinge in dem Antrag, die
auch wir unterstützen. Wir finden zum Beispiel den An-
satz, dass wir bei uns beginnen müssen, sehr gut. Es ist
ganz klar: Wir müssen bei uns anfangen. Auch was ver-
bindliche Zusagen zur Klimaschutzfinanzierung und
Entwicklungsfinanzierung angeht, sind wir einverstan-
den.

Was ich nicht nachvollziehen kann, ist die große Fo-
kussierung auf den G-7-Gipfel; denn viele von uns sind
schon gegen den G-8-Gipfel in Heiligendamm auf die





Heike Hänsel


(A) (C)



(D)(B)

Straße gegangen. Das sind völlig überholte Gipfel, die
eine Politik des 19. Jahrhunderts darstellen. Die reichs-
ten und mächtigsten Staaten der Erde, die gerade einmal
10 Prozent der Weltbevölkerung repräsentieren, treffen
sich, um ihre Interessen zu formulieren. Meistens wer-
den Entwicklungsthemen instrumentalisiert, um dem
Ganzen einen wohltätigen Anstrich zu geben. Gleichzei-
tig geht es doch um die Frage des Zugangs zu Ressour-
cen, um den Kampf um diese Ressourcen, der oft militä-
risch ausgetragen wird.

Ich kann mir jetzt schon vorstellen, dass es ein großes
Bild geben wird, wie der G-7-Gipfel sich gemeinsam ge-
gen den Terror ausspricht, währenddessen auch diese
Staaten für Terror verantwortlich sind. Schauen wir uns
die Drohnen-Kriege an oder die CIA-Foltergefängnisse
in Europa. Hier sind viele G-7-Regierungen für den exis-
tierenden Terror verantwortlich. Wenn wir diese Doppel-
moral nicht überwinden, dann kommen wir auch zu kei-
ner neuen Politik. Genau deshalb werden wir gemeinsam
mit vielen anderen auch wieder im schönen Bayern ge-
gen den G-7-Gipfel auf die Straße gehen.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807920700

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Dr. Bärbel

Kofler, SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Bärbel Kofler (SPD):
Rede ID: ID1807920800

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Ich finde, es ist eine Chance, dass wir in der ersten
Sitzungswoche des Jahres 2015 über das Europäische
Jahr für Entwicklung reden können. Auf einer Vielzahl
von Konferenzen haben wir die Möglichkeit, Entwick-
lungspolitik und Klimapolitik wirklich zusammenzu-
bringen und voranzubringen. Darüber wird noch öfter zu
reden sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich finde den von UN-Generalsekretär Ban Ki-moon
vorgelegten Vorschlag, 17 Ziele zu benennen, gut. Für
mich ist ganz wichtig, zu betonen: Wir müssen versu-
chen, dafür zu sorgen, dass darüber auf dem UN-Gipfel
in New York im September eine Einigung herbeigeführt
wird. Denn es kommt darauf an, dass möglichst alle
Staaten mitmachen und diese Ziele zu erreichen versu-
chen.

Der SDGs-Prozess, also der Prozess zur Festlegung
der Nachhaltigkeitsziele, hat eine andere Qualität, eine
Qualität, die weit über das hinausgeht, was im Rahmen
der Millenniumsentwicklungsziele vereinbart wurde. Das
ist das Spannende an diesem Prozess. Darauf müssen wir
uns, glaube ich, einlassen. Daran müssen wir mehr arbei-
ten.

Ich möchte das an einem Beispiel deutlich machen.
Wir haben das Millenniumsentwicklungsziel 1, ein sehr
wichtiges Ziel – die Bekämpfung und Beseitigung der
extremen Armut bis zum Jahr 2015 –, leider nicht er-
reicht. Wir haben aber auch Erfolge erzielt – auch das
möchte ich an dieser Stelle einmal sagen –: Es ist gelun-
gen, 700 Millionen Menschen aus extremer Armut he-
rauszuführen. Das bedeutet, dass man nicht mehr unter
Hunger in seiner extremsten Ausprägung leidet und dass
man Chancen für das eigene Leben hat.

Aber das reicht nicht. Es ist uns nicht gelungen, zu
verhindern, dass immer noch Millionen Menschen auf
dieser Erde von extremer Armut betroffen sind. Wir lau-
fen Gefahr, in vielen Bereichen – ob es der Klimawandel
oder die soziale Gerechtigkeit sind – Menschen, die aus
extremer Armut herausgeholt worden sind, wieder in
den vorherigen Zustand zurückfallen zu lassen. Darum
geht es bei den Nachhaltigkeitszielen: dass wir Erfolge
nicht nur einmal erreichen und Statistiken damit schmü-
cken, sondern dass wir diese Erfolge nachhaltig sichern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Für uns Sozialdemokraten gehört zum Thema „Ret-
tung aus extremer Armut und Hunger“, dass wir es mit
den Themen „Beseitigung von Ungleichheiten auf die-
sem Planeten“ und „Schaffung von Zugang zu men-
schenwürdiger Arbeit“ zusammenbringen. Ich begrüße
es ausdrücklich, dass das Ziel „Schaffung von Zugang
zu menschenwürdiger Arbeit“ eines der 17 Ziele ist, die
im Vorschlag von Ban Ki-moon genannt werden. Das
halte ich – ich glaube, das tun wir gemeinsam, Herr
Stein – für einen entscheidenden, einen wichtigen Punkt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn es nicht gelingt, Menschen Zugang zu sozialer
Sicherheit, zu menschenwürdiger Arbeit zu geben, wenn
es nicht gelingt, ihnen damit Wege aus der Perspektiv-
losigkeit aufzuzeigen, dann ist die logische Konsequenz
das Steigen von gesellschaftlichen Spannungen bis hin
zu Gewalt und Gefährdung des inneren Friedens in vie-
len Ländern. Wir wissen ja, dass genau in den Ländern,
in denen aus sozialen Gründen Stabilität und Sicherheit
gefährdet sind, extreme Armut am meisten zunimmt und
die Rettung aus extremer Armut am schwierigsten mög-
lich ist. Das ist einer der entscheidenden und wichtigen
Punkte.

Ähnliches gilt für die Frage des Klimawandels. Er ist
eine der großen Ursachen dafür, dass Menschen wieder
in extreme Armutssituationen geraten können. Wir ha-
ben das auf verschiedenen Reisen in verschiedenen Si-
tuationen erlebt. Wir haben den Verlust von Anbauflä-
chen, die Verdorrung ganzer Landstriche, den Verlust
des Zugangs zu sauberem Trinkwasser gesehen. Für die
betroffenen Menschen bedeutet das, dass sie ihrer Exis-
tenzgrundlage beraubt werden, also den Rückfall in eine
Situation, aus der sie vielleicht schon einmal mit vielen
Anstrengungen und Maßnahmen herausgeführt werden
konnten.





Dr. Bärbel Kofler


(A) (C)



(D)(B)

Gleichzeitig stehen wir vor dem Problem des großen
Energiebedarfs der Entwicklungsländer – auf der Klima-
konferenz in Paris werden wir uns mit dem Thema Kli-
mawandel noch ganz anders auseinandersetzen müssen –
und der damit verbundenen Chance, den Entwicklungs-
ländern einen Zugang zu unterschiedlichen Energiefor-
men zu ermöglichen. Wir alle wissen, dass das Fehlen
des Zugangs zu Energie eines der großen Entwicklungs-
hemmnisse in vielen Ländern ist. Es muss uns gelingen,
dieses Recht auf Entwicklung für die Menschen und die
Länder darzustellen und gleichzeitig zu sehen, wo die
ökologischen Grenzen unseres Planeten sind. Deshalb
wird hier die spannende Frage sein: Wie kriegen wir ge-
meinsam weltweit eine Energieversorgung hin, die Effi-
zienz und regenerative Energien in den Mittelpunkt
stellt?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807920900

Aber jetzt ist die Redezeit wirklich abgelaufen.


Dr. Bärbel Kofler (SPD):
Rede ID: ID1807921000

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Allein

diese beiden Punkte zeigen, wie groß die Herausforde-
rungen sind und wie viele Gedanken wir uns auch in die-
sem Jahr noch machen müssen, um diesen Punkten zum
Durchbruch zu verhelfen. Die Chancen liegen bei der
Konferenz in Addis Abeba, bei der Konferenz in New
York und auch beim Klimagipfel in Paris. Wir sollten
dieses Jahr gut nutzen.

Danke.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807921100

Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Matern von

Marschall, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Matern von Marschall von Bieberstein (CDU):
Rede ID: ID1807921200

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Liebe Antragsteller von den Grünen, es
ist schon darauf hingewiesen worden: Diese Thematik
ist ein bisschen repetitiv. Sie ist deswegen nicht weniger
wichtig. Ich bin dankbar dafür, dass sie aufgerufen wird.
Im Nachhaltigkeitsbeirat, im Umweltausschuss und auch
im Europaausschuss spielt sie eine große Rolle. Ob das
bei manchen den Eindruck erweckt, dass ihre Themen-
vielfalt etwas schrumpft, das müssen Sie selber prüfen.

Ich sehe jedenfalls gewisse Ermüdungserscheinungen
auch bei Ihnen. In unserer Reisegruppe, die in Lima ge-
wesen ist, waren auch Frau Höhn und Frau Baerbock.
Die kann ich in Ihren gelichteten Reihen jetzt so schnell
nicht finden. Herr Schwabe ist da. Frau Bulling-Schröter
ist auch nicht da. – So weit zur Bedeutung, die Sie dem
Thema einräumen.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Sie ist krank!)

– Gut; sie ist krank, entschuldigt. Ich habe sie heute noch
gesehen.

Was mich, wenn man über Wiederholung spricht, ein
bisschen überrascht, ist Folgendes: In Ihrem Papier – ich
weiß nicht, ob sozusagen die Autoren sich jetzt unter uns
befinden – kommt nicht weniger als zehnmal der Begriff
der sozial-ökologischen Transformation vor.


(Beifall des Abg. Dr. Wolfgang StrengmannKuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Das ist doch eine gewisse Häufung des Begriffs der so-
zial-ökologischen Transformation.


(Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sonst können Sie sich das doch nicht merken!)


Ich habe recherchiert – vielleicht ein bisschen rasch –
und festgestellt, dass das ein Begriff ist, der im Wesentli-
chen in sehr linken Foren zu finden ist.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kirche! Katholische Kirche! Bischofskonferenz! – Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Ich zitiere nachher noch ein bisschen. Dann müssen
Sie sich einmal überlegen, ob Sie diesen Antrag nicht
lieber mit den Kolleginnen und Kollegen der Linken zu-
sammen formuliert hätten. Ich merke daran, dass da bei
Ihnen schon ein bisschen Diskussionsbedarf ist. Sei es,
wie es sei; das scheint eine Entwicklung zu sein, die prä-
gnant ist.

Ich will jetzt zu den Sachverhalten kommen. Deutsch-
land – natürlich auch die Europäische Union – bekennt
sich zu dem Klimaschutzvertrag, den wir dann in Paris
verabschieden wollen. Wir gehören auch zur Gruppe
derjenigen Länder, die bis März die sogenannten INDCs
vorlegen werden. Das ist wichtig. Ich hoffe, dass viele
andere Länder noch folgen werden und dass viele Län-
der das zumindest bis zur Jahresmitte tun werden.

Es geht einfach darum, darzulegen, welche Sektoren
in den Klimaschutz einbezogen werden. Es geht dann
im Folgeprozess um Präzisierung. Da ist noch viel Ar-
beit zu leisten. Gute Vorarbeit ist in Lima von Ministerin
Hendricks geleistet worden, begleitet auch von Minister
Müller. Aber es ist noch viel zu tun, um das auszuarbei-
ten, was in den nächsten Monaten präzisiert werden
muss. Schlussendlich muss nicht nur gesagt werden:
„Was machen wir? Welche Sektoren beziehen wir ein?“,
sondern auch: Wie machen wir es, und – das ist beson-
ders wichtig – wie kann das überprüfbar gemacht wer-
den?


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, genau!)


Dieser Prozess, der in den nächsten Monaten vor uns
steht, ist besonders schwierig. Daran müssen wir arbei-
ten.

Ich glaube, wir haben eine ganz gute Chance – Frau
Roth, Sie haben es angesprochen – mit Blick auf den
G-7-Gipfel. Es sind drei große Nachhaltigkeitsthemen





Matern von Marschall


(A) (C)



(D)(B)

im Arbeitsprogramm unserer Präsidentschaft. Wir kön-
nen darauf hinweisen, dass wir selbst mit unserem natio-
nalen Aktionsprogramm Klimaschutz, Defizite durchaus
anerkennend, in den Jahren bis 2020 und damit vor Gül-
tigkeit des Pariser Vertrages noch eine Menge Arbeit vor
uns haben. Durch die Präzisierung im nationalen Ak-
tionsprogramm und auch im NAPE, im Effizienzplan,
können wir die Freunde in der G-7-Gruppe vielleicht
auch ermutigen und ermuntern, so etwas in der Präzi-
sion, die wir hier in Deutschland, ich glaube, in vorbild-
licher und nachahmenswerter Weise leisten – das haben
wir in Lima gemerkt –, zu implementieren. Das halte ich
für einen ganz wichtigen Punkt. Ich glaube, das ist eine
Riesenchance. Es ist gerade keine schlechte Konstella-
tion – Frau Hänsel, Sie haben es, glaube ich, kritisiert –,
dass wir unterhalb der UN-Ebene nicht nur die EU, son-
dern auch die G 7 und viele weitere Formate haben, in
denen Ländergruppen ihre Ziele vorantreiben.

Ich will auf einen Punkt hinweisen, der in Ihrem
Antrag vollkommen fehlt: Wesentlich ist, dass wir in
Forschung investieren und dass wir vor allen Dingen
auch die Chance eröffnen, dass sich über den freien
Markt die erfolgreichsten, preiswertesten und saubersten
Technologien in der Welt verbreiten. Auch das ist ein
nennenswerter Punkt, der zu mehr Gerechtigkeit bei-
trägt, weil so auch Länder, die sich das ansonsten nicht
leisten könnten, preiswert gute Technologien einkaufen
können.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich glaube – damit möchte ich zum Schluss kom-
men –, dass wir eine große Chance haben, mit unseren
französischen Freunden, denen wir in diesen Tagen aus
traurigem Anlass in besonderer Weise sehr verbunden
sind, in Paris zu einem Erfolg zu kommen. Sie haben
sich ja auch hohe Ziele gesetzt. Ich denke, dass Deutsch-
land, das ja die G-7-Präsidentschaft innehat, vor diesem
Pariser Gipfel alle anderen Länder in besonderer Weise
ermutigen kann, hier voranzuschreiten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807921300

Vielen Dank. – Letzter Redner zu diesem Tagesord-

nungspunkt ist der Kollege Frank Schwabe, SPD-Frak-
tion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Frank Schwabe (SPD):
Rede ID: ID1807921400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich finde, das kann man schon einmal sagen: Es ist das
Verdienst der Grünen, dass wir jetzt, auch wenn es schon
etwas später ist, darüber diskutieren, dass 2015 ein ent-
scheidendes Jahr für Klimaschutz, nachhaltige Entwick-
lung und die Frage der Menschenrechte ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Auch wenn wir darüber schon ein paarmal diskutiert ha-
ben, kann es ja nicht schaden, das immer wieder zu beto-
nen. Es liegt in der Tat ein Jahr vor uns, in dem auch die
Abfolge der verschiedenen Veranstaltungen und Gipfel
uns die Chance gibt, die Dinge gemeinsam zu betrach-
ten, also Ökonomie, Ökologie und Soziales gemeinsam
zu betrachten, aber auch die Welt vernetzt zu betrachten,
Stereotype zu überwinden, über die eine Welt zu reden,
nicht mehr so sehr in Erste, Zweite und Dritte Welt zu
unterteilen. Dazu müssen sich natürlich alle Teile der
Welt verändern. Auch wir selbst werden uns verändern
müssen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Deutschland nimmt in diesem wichtigen Jahr eine be-
deutende Rolle ein: Das ist die G-7-Präsidentschaft, wie
schon erwähnt wurde. Diese müssen wir für nachhaltige
Entwicklung und Klimaschutz nutzen. Chancen ergeben
sich aber auch daraus – auch daran will ich hier erin-
nern –, dass wir erstmalig den Vorsitz im Menschen-
rechtsrat der Vereinten Nationen innehaben. Auch die
Themen, die dort behandelt werden, gehören in den Be-
reich von nachhaltiger, zukunftsfähiger Entwicklung.


(Beifall der Abg. Dr. Bärbel Kofler [SPD] und Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Weil die Dinge zusammengehören, weil Menschen-
rechte integraler Bestandteil sowohl des SDG-Prozesses
als auch des Klimaschutzprozesses sind, will ich – ich
kann auch gar nicht anders, weil ich mir gerade noch
einmal ein Video angeschaut habe – einige Stunden,
bevor wieder eine Auspeitschung des Bloggers Raif
Badawi stattfindet, sagen, dass ich es gut finde, dass der
Bundestagspräsident heute Morgen so klare Worte dazu
gefunden hat.


(Beifall im ganzen Hause)


Ich habe mir gerade noch einmal ein Video bei YouTube
angeschaut, in dem seine Kinder, die ja zum Glück mitt-
lerweile in Kanada leben, zu sehen waren. Es ist wirklich
herzzerreißend, was man da sieht. Die Auspeitschung ist
ein barbarischer Akt, und es muss klar sein: Wenn die
Führung Saudi-Arabiens – man muss immer sagen: es ist
die Führung in Saudi-Arabien; es sind nicht die Men-
schen – einen anständigen Platz in der Weltgemeinschaft
haben will, dann muss sie ganz schnell von dieser barba-
rischen Tat absehen. Dann muss das aufhören.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Christine Buchholz [DIE LINKE]: Ich denke, das ist ein Stabilitätsfaktor!)


Die Welt ist eben nicht auf einem nachhaltigen Pfad.
Es ist schwer, die Dinge zu ändern, aber es ist dringend
notwendig. Meine Mutter hat immer zu mir gesagt – das
ist ja ein Zitat aus der Bibel –: Man hat das Gefühl, der
Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Das gilt für
viele Länder der Welt, eben auch deswegen, weil es





Frank Schwabe


(A) (C)



(D)(B)

kompliziert ist, sich zu verändern. Umso wichtiger ist es,
dass Deutschland insbesondere die Chance des G-7-Gip-
fels nutzt.

Ich will daran erinnern, dass im Programm nicht nur
etwas zum Klimaschutz und zu nachhaltiger Entwick-
lung steht, sondern zum Beispiel auch zur Situation der
Weltmeere. Das ist ein ganz zentrales Thema, das wir in
den Mittelpunkt rücken müssen. Da geht es in der Tat
um die Vermüllung der Weltmeere. Es wird aber auch
ein anderes spannendes Thema angesprochen: Das ist
der Unterwasserbergbau, für den es bisher kaum ver-
nünftige internationale Regelungen gibt. Ich glaube, wir
ahnen noch gar nicht, welcher Schaden da zurzeit ange-
richtet wird. Ich finde gut, dass das Thema Bestandteil
des G-7-Gipfels sein soll.

Dann geht es natürlich in der Tat auch um den Klima-
schutz, um ein Momentum für den Klimaschutz. Das ist
die Chance, die von deutscher Seite entsprechend ge-
nutzt werden kann. Es geht um die Finanzierung bis zum
Jahr 2020, darum, glaubwürdig zu zeigen: Wie können
wir einen Aufwuchspfad schaffen, um die 100 Milliar-
den US-Dollar zu erreichen? Es geht darum, zu überle-
gen: Wie können wir das Erfolgsmodell aus Deutsch-
land, die erneuerbaren Energien, noch stärker in der Welt
fördern? Es geht auch ein bisschen darum, wie wir die
internationalen Organisationen stärken können, wie end-
lich aus dem UN-Umweltprogramm eine UN-Organisa-
tion gemacht werden kann.

Zusammen mit anderen Aktivitäten wie dem Peters-
berger Klimadialog und einer überzeugenden eigenen
Klimaschutzpolitik in Deutschland können wir dafür
sorgen, dass das Jahr 2015 ein erfolgreiches internatio-
nales Jahr wird.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807921500

Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3156 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Stärkung des Rechts des Angeklagten auf
Vertretung in der Berufungsverhandlung und
über die Anerkennung von Abwesenheitsent-
scheidungen in der Rechtshilfe

Drucksache 18/3562
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f)

Innenausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist auch dieses so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla-
mentarische Staatssekretär Christian Lange, SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


C
Christian Lange (SPD):
Rede ID: ID1807921600


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf zur
Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in
der Berufungsverhandlung und über die Anerkennung
von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe
dient der Umsetzung europarechtlicher Verpflichtungen
der Bundesrepublik Deutschland in das nationale Recht.

Die Vorgaben aus einem Urteil des Europäischen Ge-
richtshofs für Menschenrechte vom 8. November 2012
sollen umgesetzt werden. Der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte hat entschieden, dass das in Arti-
kel 6 Absatz 3 der EU-Menschenrechtskonvention ga-
rantierte Recht des Angeklagten, sich in einer Strafsache
durch einen Verteidiger seiner Wahl verteidigen zu
lassen, verletzt sei, wenn das Gericht die Berufung des
abwesenden Angeklagten trotz Erscheinens eines von
ihm bevollmächtigten Verteidigers als Vertreter verwirft.
Genau dies ist aber die zwingende Folge des geltenden
§ 329 Absatz 1 Satz 1 unserer Strafprozessordnung. Die
Vertragsstaaten der Konvention haben sicherzustellen,
dass ihre innerstaatlichen Rechtsordnungen mit der Kon-
vention übereinstimmen. § 329 StPO ist daher entspre-
chend zu ändern.

Es stellt sich dann natürlich die weitere Frage, liebe
Kolleginnen und Kollegen, was bei Nichterscheinen des
Angeklagten mit dessen Berufung geschehen soll, wenn
sein Rechtsmittel nicht mehr verworfen werden kann. Im
deutschen Strafprozessrecht gilt im Grundsatz, dass ge-
gen einen ausgebliebenen Angeklagten keine Hauptver-
handlung stattfindet. Das geltende Strafprozessrecht
räumt dem Verteidiger daher bisher auch nur in wenigen
Fällen eine über die Verteidigung hinausgehende Befug-
nis zu einer tatsächlichen Vertretung des Angeklagten in
der Hauptverhandlung ein. Der rechtskräftige Abschluss
eines Strafverfahrens kann aber im Interesse der Funk-
tionsfähigkeit der Strafrechtspflege natürlich nicht allein
von der Bereitschaft des Angeklagten zum Erscheinen in
der Berufungshauptverhandlung abhängig sein. Der Ge-
setzentwurf bestimmt daher als weitere Konsequenz aus
dem Urteil, dass dann ohne den Angeklagten mit dem
schriftlich bevollmächtigten Verteidiger als dessen Ver-
treter verhandelt werden kann, soweit nicht besondere
Gründe eine Anwesenheit des Angeklagten erfordern,
etwa weil sich das Gericht einen persönlichen Eindruck
vom Angeklagten machen muss. Entfällt die Vertre-
tungsbefugnis oder die Vertretungsbereitschaft des Ver-
teidigers während der in der Abwesenheit des Angeklag-
ten durchgeführten Berufungshauptverhandlung oder
entfernt sich der Vertreter einfach unentschuldigt, sieht
der Gesetzentwurf als Rechtsfolge dann wieder eine Ver-
werfung der Berufung des Angeklagten vor. Denn die
eingeräumte Vertretungsmöglichkeit soll nicht zugleich





Parl. Staatssekretär Christian Lange


(A) (C)



(D)(B)

eine Möglichkeit zur Verschleppung des Verfahrens
durch den Angeklagten oder seinen Verteidiger eröffnen.

Damit, meine Damen und Herren, wird einerseits das
Recht des Angeklagten auf eine Vertretung in der Beru-
fungsverhandlung entsprechend gestärkt, andererseits
aber auch kein Recht des Angeklagten auf Abwesenheit
in der Berufungshauptverhandlung begründet. Die in der
Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Men-
schenrechte vorgenommene Abwägung zwischen dem
Interesse an der Anwesenheit des Angeklagten in der
Hauptverhandlung und seinem Recht auf Vertretung
durch einen Verteidiger wird im Entwurf insbesondere
nicht zum Anlass genommen, die begrenzten Möglich-
keiten, eine Vertretung des abwesenden Angeklagten
auch in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung vorzu-
nehmen, auszuweiten und damit maßgebliche Struktur-
prinzipien der deutschen Strafprozessordnung zu ändern,
die dem Anspruch auf rechtliches Gehör des Angeklag-
ten, aber auch der Schaffung einer möglichst sicheren
Entscheidungsgrundlage der Gerichte dienen.

Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf dient
zum anderen der Umsetzung des EU-Rahmenbeschlus-
ses zu Abwesenheitsentscheidungen aus dem Jahr 2009.
Mit dem vorliegenden Entwurf wird der EU-Rahmenbe-
schluss durch eine entsprechende Änderung der §§ 83,
87 b und 88 a des Gesetzes über die internationale
Rechtshilfe in Strafsachen umgesetzt. Dort werden ab-
schließend die Fälle geregelt, in denen ausnahmsweise
eine Verpflichtung zur Anerkennung und Vollstreckung
einer Abwesenheitsentscheidung besteht.

Meine Damen und Herren, ich bitte Sie um konstruk-
tive Beratungen in den Ausschüssen und schließlich um
Zustimmung.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807921700

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Halina

Wawzyniak, Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Halina Wawzyniak (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807921800

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen

und Kollegen! Mit dem Gesetzentwurf soll das Recht
des oder der Angeklagten auf Vertretung in Berufungs-
verhandlungen gestärkt werden und – es ist schon gesagt
worden – der Rahmenbeschluss über die Anerkennung
von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe um-
gesetzt werden. Für die Nichtjuristinnen und Nichtjuris-
ten unter uns: Die Berufung ist eine zweite Tatsachenin-
stanz. Das heißt, es werden nicht nur Rechtsfragen
geklärt, sondern auch Tatsachenfragen. Berufung kön-
nen Angeklagte und Staatsanwaltschaft einlegen; das zu
wissen, ist bei diesem Thema vielleicht nicht ganz un-
wichtig.


(Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])

Zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses will ich an
dieser Stelle gar nicht viel sagen; das ist okay, das kön-
nen Sie so machen.

Ich will vielmehr auf die Änderung der Strafprozess-
ordnung eingehen. Nun ist es ja so, dass Sie im Koali-
tionsvertrag aufgeschrieben haben, dass Sie sich der
Strafprozessordnung und dem Jugendgerichtsgesetz ins-
gesamt zuwenden wollen. Es gibt auch eine Experten-
kommission beim Bundesministerium der Justiz und für
Verbraucherschutz, die umfassende Vorschläge zur Re-
form der Strafprozessordnung erarbeitet. Das ist insge-
samt begrüßenswert.

Da wir hier keine Umsetzungsfrist haben, hätte ich
persönlich es besser gefunden, wenn wir die Änderung
des § 329 StPO, über den wir jetzt reden, in die umfas-
sende Reform mit eingebunden hätten. Um es gleich zu
sagen: Ich finde das, was Sie vorschlagen, nicht kom-
plett falsch, aber ich glaube, dass das Teufelchen – es ist
nur ein Teufelchen, kein Teufel – im Detail steckt.

Sie haben gesagt – das ist völlig richtig –, dass mit der
Änderung des § 329 StPO ein Urteil des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte umgesetzt wird. Nach
diesem Urteil kann sich der Angeklagte in der Beru-
fungsverhandlung durch einen Rechtsanwalt vertreten
lassen. § 329 Absatz 1 Satz 1 – auch darauf haben Sie
hingewiesen – hat das bisher nicht in allen Fällen vorge-
sehen. Der Europäische Gerichtshof hat gesagt: Das ist
ein Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren. In-
sofern ist die von Ihnen in dem Satz 1 vorgenommene
Klarstellung, nach der die Verwerfung der Berufung
ohne Verhandlung bei Nichterscheinen des Angeklagten
oder eines Vertreters grundsätzlich nicht möglich ist,
ausdrücklich zu begrüßen.

Ich sehe ein kleineres Problem – deswegen sprach ich
vom Teufelchen und nicht vom Teufel – in der Neurege-
lung des § 329 Absatz 1 Satz 2 StPO. Sie sieht vor, dass
unter bestimmten Bedingungen die Berufung ohne Ver-
handlung zur Sache dennoch verworfen werden kann.
Ihre Begründung, es solle verhindert werden, dass ein
Verfahren verzögert und eine weitere Verhandlung verei-
telt wird, kann ich nachvollziehen. Deswegen schlagen
Sie jetzt vor, dass die Berufung ohne Verhandlung zur
Sache verworfen werden kann, wenn aufgrund bestimm-
ter Handlungen die Fortführung der Hauptverhandlung
dadurch verhindert wird, dass weder der Rechtsanwalt
noch der Angeklagte anwesend ist.

Ich finde es auch richtig, dass Sie in der Begründung
darauf hinweisen, dass eine zwangsweise Vorführung
des Angeklagten nicht möglich ist. Deswegen ändern Sie
konsequenterweise auch § 330 StPO; das ist so weit alles
in Ordnung. Ich würde trotzdem einen kleinen, konstruk-
tiven Änderungsvorschlag machen. Ich würde Sie darum
bitten, darüber nachzudenken, ob wir bei den in § 329
Absatz 1 Satz 2 StPO genannten Gründen eine Zweitan-
setzung vorsehen können, bevor die Berufung ohne Ver-
handlung verworfen wird. Ich weiß: Auch das würde
möglicherweise zu Verzögerungen oder zu einer Verlän-
gerung führen. Aber wenn wir gesetzlich festschreiben,
dass in diesem Fall eine Zweitansetzung stattfinden soll,
und wenn zu dieser Zweitansetzung niemand erscheint,





Halina Wawzyniak


(A) (C)



(D)(B)

dann ist es aus meiner Sicht nachvollziehbar, dass man
davon ausgehen kann, dass der Angeklagte oder der
Rechtsanwalt, der ihn vertritt, kein Interesse mehr hat.
So würden wir den Prinzipien eines fairen Verfahrens,
des rechtlichen Gehörs und der richterlichen Aufklärung
näherkommen. Ich bitte Sie, über diesen Vorschlag kons-
truktiv nachzudenken.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807921900

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Patrick

Sensburg, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dirk Wiese [SPD])



Dr. Patrick Sensburg (CDU):
Rede ID: ID1807922000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Prozessuale Verfahrensrechte sind wesentlicher Bestand-
teil eines Rechtsstaates. Deswegen beschäftigen wir uns
heute in erster Lesung – das ist der erste Teil des Gesetz-
entwurfs – mit der Stärkung der Rechte des Angeklag-
ten.

Staatssekretär Lange und die anderen Vorredner ha-
ben es bereits gesagt: Das geht zurück auf eine Entschei-
dung des Europäischen Gerichtshofs für Menschen-
rechte. Es geht um einen Fall, in dem der Kläger vor
dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bei
einer Verhandlung des Berufungsgerichts persönlich
nicht anwesend war. Er zog es aus bestimmten Gründen
vor, nicht zu dieser Verhandlung zu gehen. Ohne seine
Anwesenheit ist die Berufung direkt verworfen worden.
Dagegen hat er sich gewendet; denn er wurde vor dem
Berufungsgericht anwaltlich vertreten. Er ist der Mei-
nung: Das verstößt gegen sein Recht auf Zugang zu ei-
nem Gericht, gegen sein Recht auf rechtliches Gehör
und gegen sein Recht auf einen Verteidiger seiner Wahl.

All das sind wesentliche Rechte, die ein Rechtsstaat
vorsieht, genauso wie das Recht der Unschuldsvermu-
tung, das Recht, dass keine Strafe ohne gesetzliche
Grundlage verhängt werden darf, und das Recht auf ein
faires Verfahren. Es war richtig, dass das Ministerium ei-
nen Entwurf zur Überarbeitung des § 329 Absatz 1
Satz 1 der StPO vorgelegt hat; denn der Europäische Ge-
richtshof für Menschenrechte hat entschieden, dass eine
Berufung nicht schon deshalb verworfen werden darf,
weil der Angeklagte in der Verhandlung fehlt, aber sein
Verteidiger anwesend ist.

Der vorliegende Gesetzentwurf wirft – das ist gerade
von Kollegin Wawzyniak formuliert worden – an der ei-
nen oder anderen Stelle noch Fragen zu Feinheiten auf.
Über die können wir diskutieren. Schauen wir uns die
Formulierung an. Sie lautet:

Soweit nicht besondere Gründe die Anwesenheit
des Angeklagten erfordern, findet die Hauptver-
handlung auch ohne ihn statt, wenn er durch einen
Verteidiger mit schriftlicher Vertretungsvollmacht
vertreten wird oder seine Abwesenheit im Fall der
Verhandlung auf eine Berufung der Staatsanwalt-
schaft nicht genügend entschuldigt ist.
Fragen wirft dieser Entwurf nach meiner Meinung da-
hin gehend auf, weil der Verteidiger in dieser Situation
als Vertreter des Angeklagten auftritt. Möglicherweise
würde das seiner Stellung als unabhängiges Organ der
Rechtspflege nicht gerecht werden, wenn er lediglich
Tatsachen vorträgt. Wenn es um Rechtsfragen oder um
technische Fragen geht, sehe ich kein Problem. Wenn
der Verteidiger aber einen neuen Sachvortrag in der Be-
rufungsverhandlung bringt, dann sehe ich das Problem,
dass seine Stellung als unabhängiges Organ der Rechts-
pflege in ein etwas schiefes Licht gerät.

Der Grundsatz der Anwesenheit des Angeklagten in
der Hauptverhandlung ist richtig. Es ist auch richtig,
dass der abwesende Angeklagte in der Hauptverhand-
lung durch den Verteidiger vortragen lassen kann. Aber
man muss bedenken, dass immer die höchstpersönliche
Einlassung bevorzugt wird und dass sich durch Lücken
in der Einlassung Nachfragen ergeben können. Eine Klä-
rung wäre in einer solchen Situation nicht möglich. – All
diese Punkte müssen wir noch klären. Der Entwurf in
Gänze ist sicherlich sehr zu begrüßen.

Nehmen wir uns ein Beispiel an § 73 OWiG: Es kann
dann auf die Anwesenheit des Betroffenen verzichtet
und auf den Rechtsanwalt abgestellt werden, wenn keine
neue Einlassung zum Sachverhalt erfolgt. Ich könnte mir
vorstellen, dass in einem solchen Fall diese Regelung er-
folgversprechend ist, sodass der Verteidiger nur noch zu
rechtlichen oder technischen Fragen Stellung nimmt. Bei
einem neuen Sachvortrag stelle ich mir das etwas
schwierig vor.

Ich hoffe, dass wir im anstehenden Berichterstatterge-
spräch in der kommenden Woche diese Fragestellung
noch einmal gemeinsam diskutieren und dann diesen
grundsätzlich sehr zu begrüßenden Entwurf auch ge-
meinsam zu einem erfolgreichen Gesetzgebungsverfah-
ren führen können. Mein Eindruck ist: Ich glaube, es
wird uns gelingen, das auch über alle Fraktionen hinweg
hinzubekommen, weil die Intention, die Absicht, Rechte
zu stärken, richtig ist. Das wollen wir gemeinsam. Es
muss dann eben nur ein rundes Paket werden. Ich
glaube, das können wir im anstehenden Berichterstatter-
gespräch erreichen. Ich würde mich freuen, wenn uns
das gemeinsam gelingt, und danke für Ihre Aufmerk-
samkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807922100

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Hans-Christian

Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Stellen wir uns Folgendes vor: Ein erdachter Grüner
wird fotografiert. Dieses Foto von ihm taucht im Internet
auf. Auf diesem Foto sieht man ihn in seinem Garten sit-
zen, und im Hintergrund steht eine Pflanze, die wie eine
Hanfpflanze aussieht.


(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Gibt der ein Interview?)






Hans-Christian Ströbele


(A) (C)



(D)(B)

Er wird angezeigt. Die Staatsanwaltschaft leitet ein Er-
mittlungsverfahren ein. Er kommt vor Gericht – die
meisten Strafprozesse beginnen übrigens beim Amtsge-
richt; ungefähr 70 Prozent, nehme ich einmal an, habe
aber keine genauen Zahlen – und wird dort von einem
unverständigen alten Richter verurteilt, der sich mit
Hanf und Pflanzen usw. nicht so gut auskennt.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Er sagt: Das ist aber total ungerecht. Ich bin nicht zur
Verhandlung hingegangen,


(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Ist das Altersdiskriminierung?)


weil ich davon ausgegangen bin, dass vor deutschen Ge-
richten immer Gerechtigkeit geübt und die Wahrheit ge-
funden wird.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: So dumm ist noch nicht mal ein Dealer!)


Deshalb geht er in Berufung. Das kann man nur beim
Amtsgericht tun. Wenn man beim Landgericht, wie Uli
Hoeneß, anfängt, kann man keine Berufung einlegen. Da
gibt es nur die Möglichkeit der Revision. – Er geht also
in Berufung – das ist die zweite Tatsacheninstanz – und
nimmt sich einen ganz tollen Verteidiger – einen Ideal-
verteidiger; ich will keinen Namen nennen –


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


und sagt sich: Da habe ich jetzt einen, der mich raushaut.
Der hat ganz eindeutige Argumente. Daran kann das Be-
rufungsgericht gar nicht vorbei. – Er geht nicht zur Ver-
handlung, hat Wichtigeres zu tun, weil er sagt: Ich werde
ja in der zweiten Instanz sowieso freigesprochen.

Nach der geltenden Rechtslage ist es in der Tat so,
dass die Berufung, wenn der Angeklagte nicht krank ist,
verworfen wird. Dann wird nicht nur nicht ausreichend
argumentiert, sondern dann wird auch gar nicht verhan-
delt und die Berufung verworfen. Ich finde es natürlich
außerordentlich gut, dass der Europäische Gerichtshof
nun gesagt hat: Das ist nicht in Ordnung. Ein Angeklag-
ter muss auch das Recht haben, sich vertreten zu lassen,
wenn er meint, dass eine andere Person ihn besser vertei-
digen kann. Wenn der Angeklagte einen Anwalt beauf-
tragt und deshalb die Berufung verworfen wird – das
geht nicht. Ein Angeklagter muss auch, ohne dass er an-
wesend ist, Gerechtigkeit finden.

Jetzt denkt man, dass dies umgesetzt wird, weil das
Justizministerium gesagt hat: Da der Europäische Ge-
richtshof das für richtig hält, setzen wir das um und sa-
gen in Zukunft: Wenn der Anwalt nicht nur über eine
Verteidigervollmacht verfügt, sondern auch über eine
Vollmacht, die ihn zur Vertretung des Angeklagten be-
rechtigt – das ist nämlich eine eigene Vollmacht; das ist
in der Regel nicht der Fall, das wird häufig verwech-
selt –, dann kann auch verhandelt werden. Ich fasse ein-
mal Absatz 1 und Absatz 2 des § 329 StPO aus dem
Gesetzentwurf zusammen. Aber das Bundesjustizminis-
terium hat es nicht dabei bewenden lassen, sondern hat
gesagt: Wir müssen doch wieder Einschränkungen vor-
nehmen. Es geht nicht, wenn erstens der Verteidiger aus
irgendeinem Grund den Saal verlässt, zum Beispiel weil
er es eilig hat oder zu einem anderen Prozess geht, bei
dem er besser verdient – dann ist er vielleicht kein so gu-
ter Verteidiger –, weil dann nicht mehr verhandelt wer-
den kann, wenn zweitens der Angeklagte selber im Pro-
zess anwesend war und während der Verhandlung geht
und wenn er sich drittens extra verhandlungsunfähig
macht und deshalb nicht erscheinen kann. In diesen Fäl-
len kann er sich nicht vertreten lassen. Das sind die Ein-
schränkungen.

Nehmen Sie doch einfach den Europäischen Gerichts-
hof ernst, und lassen Sie die Regelung, wie ich sie am
Anfang dargestellt habe, wie Sie sie auch gesehen haben
– Frau Wawzyniak auch –, bestehen, und zwar ohne die
genannten Einschränkungen, weil das zu solch blöden
Überlegungen führt wie: Wenn der Angeklagte nicht
kommt, weil er sich selber verhandlungsunfähig ge-
macht hat, muss ein Arzt befragt werden. Der muss dann
erst einmal geholt werden. Er muss den Angeklagten un-
tersuchen, weil er ein Gutachten abgeben soll, ob der
Angeklagte tatsächlich verhandlungsunfähig ist.

Wir sind mit der Regelung bzw. mit der Richtung
grundsätzlich einverstanden – das ist klar; der Europäi-
sche Gerichtshof will die Rechte der Angeklagten stär-
ken –; ohne diese Einschränkungen würden wir die Re-
gelung für richtig halten, sie befürworten und dafür
stimmen. Nun gibt es aber einen anderen Vorschlag. Wir
müssen uns im Ausschuss und in den Berichterstatterge-
sprächen zusammensetzen und den einen oder anderen
Sachverständigen hinzuziehen. Wir werden uns das alles
genau anhören und schauen, ob dabei am Ende ein Kom-
promiss herauskommen kann, damit der Verteidiger in
dem Fall, den ich gebildet habe, sagen kann: Die Pflanze
sieht nur so aus wie eine Hanfpflanze.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Gummibaum! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die tut nur so!)


Oder: Das ist gar keine richtige Hanfpflanze, in der Can-
nabis ist, das man auch rauchen kann, sondern das ist
eine Nutzhanfpflanze, deren Besitz gar nicht strafbar ist.


(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: So was weiß der Verteidiger? Woher weiß der das so genau?)


Damit könnte der gute Verteidiger den Angeklagten frei-
bekommen. Dazu brauchte er den Mandanten gar nicht.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807922200

Danke schön. – Nächster Redner ist Dirk Wiese,

SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Dirk Wiese (SPD):
Rede ID: ID1807922300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Herr Kollege Ströbele, ich glaube, in Ihrem
Vortrag fehlte nur diese Frage: Hat H. S. sich strafbar ge-
macht? Beurteilen Sie den Fall prozessual! – Dann könn-
ten wir den Fall heute in dieser Runde gemeinsam lösen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich rauche nie!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, Kernstück des vor-
liegenden Gesetzentwurfs sind in Umsetzung des soge-
nannten Neziraj-Urteils des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte die Neuregelung des § 329 StPO so-
wie die Umsetzung des Rahmenbeschlusses „Abwesen-
heitsentscheidungen“ des Rates aus dem Jahre 2009.
Entsprechend der Urteilsvorgabe des Europäischen Ge-
richtshofs für Menschenrechte soll künftig ein Nichter-
scheinen des Angeklagten nicht mehr zwingend zur Ver-
werfung der Berufung führen, sofern ein nachweislich
zur Vertretung bevollmächtigter Verteidiger an seiner
statt erscheint und eine Anwesenheit des Angeklagten
nicht aus besonderen Gründen erforderlich ist.

Der Parlamentarische Staatssekretär Christian Lange
hat die Hintergründe des Urteils sowie die Umsetzung
des Rahmenbeschlusses bereits fundiert dargestellt. Um
Wiederholungen hier und jetzt zu vermeiden, möchte ich
mich daher auf die drei zentralen Punkte des Gesetzent-
wurfs beschränken.

Erstens: Vertretung durch Verteidiger. Der Ange-
klagte kann sich künftig durch einen nachweislich zur
Vertretung bevollmächtigten Verteidiger vertreten las-
sen. „Nachweislich bevollmächtigt“ heißt hier, dass der
Angeklagte sich von einem mit schriftlicher Vertretungs-
vollmacht bevollmächtigten Verteidiger vertreten lassen
muss.

Zweitens: kein Recht auf Abwesenheit in der Hauptver-
handlung. Lassen Sie mich hier ausdrücklich klarstellen,
dass mit den Neuregelungen in dem heute zu debattieren-
den Gesetzentwurf kein Recht auf Abwesenheit des Ange-
klagten in der Berufungshauptverhandlung begründet wer-
den soll. Der Angeklagte ist selbstverständlich nach wie
vor verpflichtet, in der Hauptverhandlung zu erscheinen.
Zusätzlich wird in allen Fällen, in denen die Aufklärungs-
pflicht des Gerichts die persönliche Anwesenheit des An-
geklagten gebietet, seine Anwesenheit auch weiterhin
durch die auch zukünftig vorgesehenen Zwangsmittel der
Vorführung sichergestellt werden können.

Drittens: besondere Gründe für Anwesenheit des An-
geklagten. Das Gericht kann überdies auch weiterhin die
Anwesenheit des Angeklagten im Berufungsverfahren
anordnen, sofern besondere Gründe dies erforderlich
machen. Solche sind etwa bei konkreten Anhaltspunkten
dafür gegeben, dass die Aufklärung bestimmter Um-
stände oder die Erhebung bestimmter Beweise ohne den
Angeklagten nicht möglich sein werden. Als Beispiel sei
hier eine Gegenüberstellung mit Zeugen oder Mitange-
klagten genannt.

Das Erfordernis der besonderen Gründe ist den deut-
schen Gesetzen übrigens nicht fremd. So findet sich in
§ 50 Absatz 1 Jugendgerichtsgesetz, der auch für die Be-
rufungsverhandlung gilt, diese Voraussetzung wieder.
Sie sehen, auch wenn in diesem Beispiel „besondere
Gründe“ dafür vorliegen müssen, dass in der Abwesen-
heit des Angeklagten verhandelt werden kann: Der
Rechtsbegriff der „besonderen Gründe“ ist – siehe § 50
Absatz 1 Jugendgerichtsgesetz – alles andere als neu.

Ich komme zum Schluss. Mit dem vorliegenden Ge-
setzentwurf schützen wir die Rechte des Angeklagten
entsprechend dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte, geben aber gleichzeitig den Gerich-
ten genug Instrumente mit, um die Anwesenheit des An-
geklagten in notwendigen Fällen sicherzustellen.

Ich freue mich auf die parteiübergreifenden Beratun-
gen, die demnächst anstehen, und danke für die Auf-
merksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807922400

Das war hinsichtlich der Redezeit vorbildlich. – Der

nächste Redner ist Herr Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-
Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Volker Ullrich (CSU):
Rede ID: ID1807922500

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Die heutige Debatte dreht sich um die gesetz-
geberische Umsetzung eines Urteils des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte. Im Kern geht es um
die Frage: Kann sich der Angeklagte in der Berufungs-
verhandlung durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen?

Das deutsche Recht kennt dem Grundsatz nach keine
Verhandlung ohne den Angeklagten. Ich möchte in we-
nigen Sätzen ausführen, weshalb dieses Prinzip richtig
ist: Es geht nicht nur um die Sicherstellung des rechtli-
chen Gehörs des Angeklagten, sondern auch um eine ob-
jektive Chance des Gerichts, die Wahrheit zu finden.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)


Diese Wahrheitsfindung soll durch den persönlichen
Eindruck des Angeklagten sichergestellt werden. Den-
noch hat der Europäische Gerichtshof für Menschen-
rechte gesagt, es verletze den Grundsatz des Rechts auf
ein faires Verfahren, wenn ein verteidigungsbereiter Ver-
teidiger, der bevollmächtigt worden ist, in der Beru-
fungsverhandlung nicht verhandeln kann, sondern das
Verfahren durch Urteil abgewiesen wird. Es ist auch
richtig, dass sich die Bundesregierung nach diesem
Urteil nicht darauf verlässt, dass es die Rechtsprechung
alleine regeln wird, sondern eine gesetzliche Regelung
getroffen wird.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)


Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist aber jene:
Inwiefern wollen wir das Recht auf eine Verhandlung
ohne den Angeklagten in unserer Rechtsordnung berück-
sichtigen? Anders ausgedrückt: Nehmen wir einen Para-
digmenwechsel hin zu einem Strafverfahren ohne Ange-
klagten vor oder nicht? Diese Frage ist durchaus von
Relevanz, weil sich die europäischen Rechtsordnungen





Dr. Volker Ullrich


(A) (C)



(D)(B)

in diesem Bereich deutlich unterscheiden. Das deutsche
Recht kennt im Prinzip keine Verhandlung ohne den An-
geklagten, während in Frankreich, in Italien oder auch in
den Beneluxstaaten eine solche Verhandlung durchaus
an der Tagesordnung ist. Ohne dem Europäischen Ge-
richtshof für Menschenrechte zu nahe treten zu wollen:
Diese unterschiedlichen Konzepte der Verhandlung ohne
Angeklagten waren sicherlich auch ausschlaggebend für
dieses Urteil.

Festzuhalten ist aber: Es gibt kein Recht, wonach der
Anwalt den Angeklagten ersetzt, sondern es gibt nur das
Recht, dass der Verteidiger in der Berufungsverhandlung
für den Angeklagten spricht. Da wir unsere Prinzipien
der Strafprozessordnung bewahren wollen, sollten wir
dieses Urteil meiner Meinung nach nur sehr restriktiv
umsetzen.

Vor dem Hintergrund einer zurückhaltenden Umset-
zung dieses Urteils begrüße ich die Einwände des Bun-
desrates. Der Bundesrat hat nämlich gesagt, der Verteidi-
ger solle in der Berufungsverhandlung nur dann zum
Zuge kommen, wenn er explizit für diesen Termin
bevollmächtigt wird. Nach dem Wortlaut des Regie-
rungsentwurfs könnte es schon ausreichen, dass der Ver-
teidiger irgendwann im Verlauf des Strafverfahrens be-
vollmächtigt worden ist, möglicherweise schon in der
ersten Instanz, damit er in der Berufungsverhandlung ein
Stück weit an die Stelle des Angeklagten tritt. Das soll
vor dem Hintergrund der Stellung des Rechtsanwalts ei-
gentlich verhindert werden. Der Rechtsanwalt ist nicht
allein Partei, sondern auch Organ der Rechtspflege.
Angesichts dieser besonderen Ausgestaltung sollte der
Anwalt auch nicht durch eine strafprozessuale Reform
stärker in die Rolle der Partei gedrängt werden. Deswe-
gen bitte ich, dass wir die Frage, inwiefern der Anwalt
bevollmächtigt werden muss, im Laufe der Beratungen
noch einmal diskutieren.

Meine Damen und Herren, im Übrigen empfehle ich
uns, dass wir uns auf die guten Traditionen unserer Straf-
prozessordnung besinnen. Die Verhandlung bei Anwe-
senheit des Angeklagten gehört zu unseren rechtsstaatli-
chen Traditionen. Diese sollten wir bewahren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807922600

Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/3562 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Wie ich sehe, ist das
nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin
Vogler, Sabine Zimmermann (Zwickau), Jan
Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Elektronische Gesundheitskarte stoppen –
Patientenorientierte Alternative entwickeln

Drucksache 18/3574
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss Digitale Agenda

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Kathrin
Vogler, Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807922700

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren!
1 213 960 000 Euro – so viel hat die elektronische Ge-
sundheitskarte die Versicherten der gesetzlichen Kran-
kenkassen bis gerade eben gekostet, über 1,2 Milliarden
Euro für eine Karte, die bisher nicht mehr kann als die
alte Krankenversicherungskarte. Das soll wohl noch län-
ger so bleiben, zumindest schreibt dies das Bundes-
ministerium für Gesundheit in seiner Antwort auf eine
Kleine Anfrage meiner Fraktion vom November des
letzten Jahres. Nun steht im SGB V: Leistungen der ge-
setzlichen Krankenversicherungen sollen ausreichend,
zweckmäßig und wirtschaftlich sein. – Die Linke sagt:
Die E-Card, diese elektronische Gesundheitskarte, ist
weder zweckmäßig noch wirtschaftlich. Auch deshalb
lehnen wir sie ab.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir teilen auch die Sorge vieler Versicherter, Ärztin-
nen und Ärzte, Datenschützerinnen und Datenschützer,
dass eine zentrale Struktur den Schutz der sensiblen So-
zialdaten im Gesundheitswesen vor Missbrauch auf
Dauer nicht gewährleisten kann. Deshalb fordern wir mit
unserem Antrag, der Ihnen heute vorliegt: Stoppen Sie
die E-Card jetzt, bevor weitere Milliarden an Kranken-
kassenbeiträgen in diesem schwarzen Loch der Gesund-
heitspolitik versickern!


(Beifall bei der LINKEN)


Wir fordern Sie auch auf, endlich ernst zu machen
und ernsthaft über moderne IT-Lösungen für das Ge-
sundheitswesen nachzudenken. Wir müssen jetzt Alter-
nativen zur E-Card prüfen. Es ist doch so, dass schon die
einfachsten Anwendungen die Gematik, also die Betrei-
bergesellschaft, vor schier unüberwindliche Schwierig-
keiten zu stellen scheinen. Bis heute gibt es keine
Konzepte und keinen verbindlichen Zeitplan für patien-
tenrelevante Anwendungen. Das kann man zum Beispiel
daran erkennen – der vdek, der Verband der Ersatzkas-
sen, weist in einer Pressemitteilung darauf hin –, dass die
derzeitige Karte nicht einmal über genügend Speicher-
platz verfügt, um einen Medikationsplan darauf zu spei-
chern. Ein Medikationsplan ist keine große Datei, son-
dern maximal ein DIN-A4-Blatt mit ein bisschen Text,
vielleicht 1 Kilobyte. Zu einem Zeitpunkt also, an dem
Millionen Menschen über Smartphones mit etlichen Gi-
gabyte Speicherplatz verfügen und USB-Sticks oder
Speicherkarten nicht mehr die Welt kosten, ist das ein
echter Anachronismus.


(Beifall bei der LINKEN)






Kathrin Vogler


(A) (C)



(D)(B)

Wir brauchen für das Gesundheitswesen IT-Lösun-
gen, die sowohl in Sachen Datenschutz als auch in Sa-
chen Funktionalität zweckmäßig und ausreichend, aber
eben auch datensparsam und zukunftssicher sind.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Bundesgesundheitsministerium allerdings möchte
bei der E-Card weiter aufs Gaspedal treten. Aus dem
Ministerium verlautbart jetzt, die E-Card sei ein Sport-
wagen, der leider nur in der Garage stehe. Jetzt aber solle
eine sechsspurige Autobahn gebaut werden, auf der der
Flitzer dann mit Tempo 250 losrasen könnte. Das Bild
finde ich ein bisschen schräg. Es zeigt auch, dass Sie
umwelt- und verkehrspolitisch vielleicht nicht ganz auf
dem neuesten Stand sind. Ich muss Ihnen vorwerfen –
ich bleibe dabei im Bild –, dass Sie offensichtlich einen
Sportwagen gebaut haben, der nicht einmal genug Platz
im Kofferraum hat, um eine kleine Kiste Bier oder
Mineralwasser darin zu transportieren. Wenn Sie jetzt
nicht auf die Bremse treten, Kolleginnen und Kollegen
von den Regierungsfraktionen, dann droht die E-Card
zum BER der Gesundheitspolitik zu werden,


(Beifall bei der LINKEN)


der immer mehr Geld verschlingt, ohne dass wir jemals
erfahren, wann er denn endlich funktionieren wird.


(Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])


Wir fordern: Stoppen Sie die E-Card jetzt! Gehen wir
zurück auf Los! Entwickeln wir neue Alternativen, pati-
entenfreundlich und datensparsam! Beenden Sie den
Druck auf die Skeptikerinnen und Skeptiker unter den
Versicherten! Die alten Krankenkassenkarten können
gültig bleiben. Für diejenigen, die sich keine E-Card
zulegen wollen, muss das Ersatzverfahren auf Papier
weiter möglich sein. Ich freue mich auf jeden Fall auf
die weiteren Beratungen, auch zum E-Health-Gesetz.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807922800

Vielen Dank, Frau Kollegin Vogler. – Nächste Redne-

rin ist Dr. Katja Leikert, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Katja Leikert (CDU):
Rede ID: ID1807922900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen von der
Linken! Sie bringen hier einen Antrag mit dem Titel
„Elektronische Gesundheitskarte stoppen – Patienten-
orientierte Alternative entwickeln“ ein. Eigentlich
braucht man bei dieser Überschrift schon gar nicht mehr
weiterzulesen. Erstens ist klar, dass es sich hierbei um
reine Obstruktionspolitik im Hinblick auf ein national
bedeutendes Großprojekt handelt.


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das ist der BER auch!)

Wenn Sie die eGK stoppen wollen, kommen Sie damit
außerdem schlichtweg zu spät; denn die eGK ist seit
Januar dieses Jahres für alle gesetzlich Versicherten
bindend.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Zweitens wird schon beim Lesen des Titels klar, dass Sie
mit keiner Alternative aufwarten. Das hat auch Ihr Vor-
trag, Frau Vogler, deutlich gemacht.

Es wird Zeit, dass Sie aufhören, völlig überzogene
Schreckensszenarien zu zeichnen, und mit Sachlichkeit
zum Gelingen dieses Vorhabens beitragen. Es geht um
viel mehr als um eine Plastikkarte. Interessanterweise
gestehen Sie bereits im ersten Satz Ihres Antrags zu
– ich zitiere daraus –:

Die digitale Datenspeicherung und -übertragung
kann helfen, die Gesundheitsversorgung qualitativ
zu verbessern sowie effizienter und sicherer zu ge-
stalten.

Wir von der CDU/CSU-Fraktion haben uns jedenfalls
eine optimale und vor allem moderne Gesundheitsver-
sorgung der Bevölkerung auf die Fahnen geschrieben.
Genau deshalb arbeiten wir gemeinsam mit unserem
Koalitionspartner an der Digitalisierung des Gesund-
heitswesens.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Weil Sie hier vieles verzerrt dargestellt haben, liebe
Frau Vogler, möchte ich in dieser Debatte gern zunächst
einmal grundsätzlich einordnen, wo wir stehen. Es geht
um eine Entwicklung, die uns in nahezu sämtlichen Le-
bensbereichen seit Jahrzehnten beschäftigt, nämlich um
die fortschreitende Digitalisierung. Sie ist auch im Ge-
sundheitswesen vielerorts angekommen. Doch gerade
wenn es um den Transfer und die Speicherung von ge-
sundheitsrelevanten Daten geht, bewegen wir uns oft
noch im analogen Zeitalter. Da war zugegebenermaßen
nicht alles schlecht. Aber es geht viel besser, als Anam-
nesen auf Karteikärtchen festzuhalten, Befunde zu
faxen, Arztbriefe mit der Post zu verschicken oder für je-
des Rezept persönlich beim Arzt erscheinen zu müssen.
Das können wir natürlich noch die nächsten 20 Jahre so
machen, wie Sie es vorschlagen. Aber aus meiner Sicht
kostet das viel Geld und Zeit, die die Ärzte und Praxis-
teams viel besser nutzen könnten, nämlich für die Ver-
sorgung des Patienten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Es ist klar, dass wir die Digitalisierung im Gesundheits-
wesen nicht deswegen fordern, weil wir gerne elektroni-
sche Spielereien vorantreiben wollen, sondern uns geht
es in erster Linie um die Versorgung der Patienten und
die Verbesserung der Informationsverarbeitung, vor al-
lem im Gesundheitswesen.

Wir Gesundheitspolitiker stehen im Hinblick auf die
Versorgung vielen Herausforderungen gegenüber; über
nichts anderes haben wir im ersten Jahr dieser Legis-
laturperiode hier gesprochen. Die Menschen leben län-
ger. Sie werden aber auch länger krank sein. Es wird viel
mehr chronisch Kranke geben. Diese wechseln oft





Dr. Katja Leikert


(A) (C)



(D)(B)

zwischen den verschiedenen Sektoren in unserem Ge-
sundheitssystem: zwischen einem niedergelassenen
Arzt, einer Klinik, einem Rehabetrieb. Hier müssen
Daten leicht ausgetauscht werden können. Elektronische
Arzt- und Entlassbriefe können die Arbeit erheblich er-
leichtern.

Außerdem wollen wir für alle Menschen eine Versor-
gung auf Spitzenniveau vorhalten, egal ob sie in einer
Stadt oder auf dem Land leben. Gerade bezüglich der
Versorgung im ländlichen Raum – es ist absehbar, dass
sich dort zukünftig weniger Ärzte niederlassen wollen;
das ist ein Fakt, den wir berücksichtigen müssen –
brauchen wir neue Ansätze und ein besseres Versor-
gungsmanagement. Dies kann zum Beispiel durch die
Telemedizin, die wir auch vorantreiben wollen, geleistet
werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dies, verehrte Damen und Herren, sind nur einige
Beispiele, weshalb ich in der Digitalisierung des Ge-
sundheitswesens grundsätzlich eine große Chance sehe,
die Qualität der medizinischen Versorgung in Deutsch-
land zu verbessern.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Warum Sie all diese Neuerungen den Versicherten vor-
enthalten wollen, das müssen Sie uns hier einmal erklä-
ren, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der Lin-
ken!


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Gehen Sie doch mal auf meine Argumente ein! Haben Sie überhaupt zugehört? – Gegenruf des Abg. Jens Spahn [CDU/CSU]: Welche Argumente? Ich habe keines gehört! – Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir sind einfach nur froh darüber, dass Sie hier keine
Regierungsverantwortung tragen.

Jetzt erkläre ich Ihnen noch einmal, wie das mit der
Telematikinfrastruktur und mit der eGK geplant ist: Es
hilft nichts, wenn wir in Deutschland viele Inseln haben,
wo der elektronische Fortschritt Einzug hält, dieser aber
beispielsweise beim Transfer von Daten endet. Was
nützt ein papierloses Krankenhaus, wenn zum Schluss
Arzt- und Entlassbriefe doch per Post verschickt werden
müssen? Es besteht aus meiner Sicht kein Zweifel daran,
dass sich daran etwas ändern muss. Wir brauchen ein si-
cheres Netz für Gesundheitsdaten. Diese Idee ist nicht
neu; sie gibt es seit zehn Jahren. Ich gebe zu: Das hat
sehr viel Geld gekostet, vielleicht auch ein bisschen zu
viel. Deswegen müssen wir jetzt Gas geben, um hier
weiter voranzukommen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Dirk Heidenblut [SPD])


Bereits 2004 hat der Gesetzgeber den Auftrag für die-
ses Projekt an die Selbstverwaltung gegeben. Wir müssen
uns das einmal vorstellen: Es handelt sich dabei um ein
Projekt, bei dem 70 Millionen Versicherte, 2 100 Kran-
kenhäuser, 21 000 Apotheken und 208 000 Haus-, Fach-
und Zahnärzte miteinander vernetzt werden. Frau Kolle-
gin, Sie bemühten eben das Bild mit dem Sportwagen;
dieses Bild wird oft bemüht. Es handelt sich bei diesem
Netz in der Tat um eine Datenautobahn zwischen den
verschiedenen Leistungserbringern, dem Patienten und
insgesamt den Akteuren im Gesundheitswesen. Auf die-
ser Datenautobahn sollen bald viele Sportwagen flitzen;
dahinter stehen wir.

Die elektronische Gesundheitskarte ist sozusagen der
elektronische Schlüssel, mit dem die Patienten auf ihre
Daten zugreifen können. Der Patient bestimmt – das ist
auch etwas, was Sie in der Debatte immer wieder falsch
darstellen –, welche Daten gespeichert werden und wer
Zugriff auf die Daten hat.

Viele von Ihnen, die das Vorhaben des Aufbaus einer
Telematikinfrastruktur schon länger begleiten als ich,
wissen um die Blockaden in den Selbstverwaltungs-
strukturen. Das sind an sich schöne Strukturen, die auch
oft effektiv arbeiten; aber in diesem Fall gab es hier
große Blockaden, und die gilt es aufzulösen. Es ist wich-
tig, dass die Versicherten endlich eine handfeste Leis-
tung erhalten. Die Versicherten interessiert nämlich
nicht, wer wann wem in welcher Sitzung mit welchen
Forderungen die Laune verdorben hat. Entscheidend ist
die Frage: Wie können wir den Nutzen der Digitalisie-
rung für die Menschen spürbar machen? Ziel muss es
sein, dass die elektronische Gesundheitskarte samt Tele-
matikinfrastruktur einen erkennbaren Mehrwert für die
Versorgung der Menschen hat. Wir von der CDU/CSU-
Fraktion setzen uns dafür ein und stecken nicht den Kopf
in den Sand, wie es die Kolleginnen und Kollegen von
der Linken tun.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dirk Heidenblut [SPD])


Wir möchten, dass die Telematikinfrastruktur so
schnell wie möglich kommt und möchten dann auch so
schnell wie möglich Anwendungen sehen. Deshalb ma-
chen wir jetzt ein Gesetz. Wir nennen es kurz neumo-
disch E-Health-Gesetz; länger heißt es: Gesetz für si-
chere digitale Kommunikation und Anwendungen im
Gesundheitswesen. Ich bin sehr froh, dass sich Minister
Gröhe persönlich an die Spitze dieser Bewegung gestellt
hat. Für den Aufbau der Telematikinfrastruktur gibt es
– auch das erkläre ich Ihnen gerne – einen klaren Plan:
Die Testphasen sollen bis Anfang 2016 abgeschlossen
sein. Danach soll das bundesweite Roll-out erfolgen.

Bei der Frage, welche Anwendungen künftig digital
laufen sollen, ist langfristig natürlich vieles vorstellbar.
Zunächst wollen wir die Notfalldaten auf die elektroni-
sche Gesundheitskarte packen und auch den elektroni-
schen Medikationsplan. Sie können sich natürlich da-
rüber lustig machen; aber es ist für viele Menschen,
gerade chronisch Kranke, die viele Medikamente neh-
men, sehr wichtig, dass diese Daten schnell verfügbar
sind.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Ja, das weiß ich! Deshalb bin ich ja so genervt!)






Dr. Katja Leikert


(A) (C)



(D)(B)

Vor dem Hintergrund der vielen sinnvollen Neuerun-
gen, die mit der eGK und der Telematikinfrastruktur ver-
bunden sind, lehnen wir den Antrag der Linken ab. Ihnen
fällt zu diesem Thema nicht mehr ein, als das hochbe-
tagte Datenschutzgespenst aus der Mottenkiste zu holen


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Hört! Hört!)


und Behauptungen aufzustellen, die klar von der Hand
zu weisen sind.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dirk Heidenblut [SPD] – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das ist ja interessant!)


Erstens. Anders als Sie es darstellen – das ist ganz
wichtig –, ist kein Zentralserver geplant, auf dem alle
Daten lagern. Die Gesundheitsdaten werden dezentral
gespeichert, und zwar größtenteils dort, wo sie entste-
hen, nämlich beim Arzt, im Krankenhaus und bei den
Krankenkassen oder auf externen Speichern. Hier gibt es
klare Regeln, wer wie wann auf die Daten zugreifen
darf.

Zweitens. Alle Versicherten dürfen selber auswählen,
welche Gesundheitsdaten über ihre Karte abrufbar und
wem sie zugänglich sein sollen. Auch hier streuen Sie
den Menschen immer wieder Sand in die Augen.

Drittens. Wenn die Telematikinfrastruktur erst einmal
steht, dann werden die Sicherheitsstandards bezüglich
der Gesundheitsdaten weitaus höher sein als heute. Sie
können ja schlecht behaupten, dass beispielsweise ein
Fax sicherer ist als das, was wir hier planen.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Richtig!)


Erlauben Sie mir abschließend noch eine Anmerkung.
Ihr Antrag ist für mich – ich verfolge das alles seit einem
Jahr etwas genauer – einmal mehr nur ein Symbol für
die Tragik der Diskussionen rund um die eGK. Die
Schwarzmaler und Verschwörungstheoretiker haben lei-
der im Diskurs der letzten zehn Jahre die Oberhand ge-
habt. Damit muss jetzt Schluss sein. Wir von der CDU/
CSU-Fraktion freuen uns jedenfalls auf die Verbesserun-
gen im Gesundheitswesen durch mehr Digitalisierung
und bleiben am Ball.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807923000

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Maria Klein-

Schmeink, Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-
legen! Anders als die Rednerin von der CDU/CSU
würde ich nicht sagen, dass es sich nicht lohnt, den An-
trag der Linken zu lesen. Es werden die richtigen Fragen
gestellt; es wird aber die falsche Antwort gegeben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist nämlich nicht die richtige Antwort, die elektroni-
sche Gesundheitskarte zu stoppen. Wenn wir den Daten-
schutz ernst nehmen und das Recht auf informationelle
Selbstbestimmung sowie die Möglichkeiten IT-gestütz-
ter Gesundheitsversorgung miteinander in Verbindung
bringen und zu einem guten Ausgleich führen wollen,
dann müssen wir den Fragen nachhaltbar nachgehen und
gleichzeitig nach adäquaten Lösungen suchen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist Ihnen, meine lieben Freundinnen und Freunde
von der Linken, mit Ihrem Antrag nicht gut gelungen.

Es geht hier um folgende Fragen: Erstens. Wie kön-
nen wir elektronisch gestützte Patienteninformationen
für eine Verbesserung der Patientenversorgung einset-
zen? Wir wissen, dass es schon heute sehr viele IT-ge-
stützte Verfahren gibt. Es gibt viele Informationen – das
wurde schon gesagt – in allen Versorgungssystemen, die
wir sinnvollerweise miteinander verknüpfen müssen, um
eine gute Versorgung zu erreichen.

Zweitens. Wie können wir einen an die neuen Erfor-
dernisse angepassten Datenschutz gewährleisten? Wir
müssen dafür sorgen, dass die Standards, die wir einzu-
halten haben, wirklich die höchstmöglichen Standards
sind; denn die Gesundheitsdaten sind äußerst sensibel.
Diese Daten haben einen staatlichen Schutz verdient.
Wir müssen sicherstellen, dass jeder Patient und jeder
Versicherte darauf vertrauen kann, dass diese Daten tat-
sächlich sicher sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Heiko Schmelzle [CDU/CSU])


Drittens. Es geht nicht nur um den Datenschutz, son-
dern auch darum, wie das Recht auf informationelle
Selbstbestimmung gewahrt werden kann. Es muss ge-
währleistet sein, dass jeder Patient und jeder Versicherte
selber entscheiden kann, welche Daten zugänglich ge-
macht werden und welche nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Heiko Schmelzle [CDU/CSU] und Kathrin Vogler [DIE LINKE])


Viertens. Wir müssen überlegen, ob wir nach den Ent-
hüllungen von Snowden nicht noch einmal auf das Si-
cherheitskonzept schauen müssen, das zehn Jahre alt ist.
Die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte ist
eben ein sehr langwieriges Verfahren.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Noch einmal zehn Jahre!)


Wir müssen uns fragen, ob alle Komponenten und Ver-
fahren datenschutzrechtlich auf dem richtigen Stand
sind. Auch diese Frage ist zu stellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE])


Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Ko-
alition, es stellt sich natürlich die Frage, ob Sie diesen
Dingen auch wirklich nachgehen. Wir als Grüne haben





Maria Klein-Schmeink


(A) (C)



(D)(B)

eine Kleine Anfrage gestellt; ich habe auch schriftliche
Fragen eingereicht. Ich muss sagen: Das Ministerium ist
gerade auf den Teil, in dem es um Datenschutzstandards
und die Selbstbestimmung der Patienten und der Versi-
cherten geht, nicht adäquat eingegangen. Das werden wir
im weiteren Verfahren, auch beim geplanten E-Health-
Gesetz, noch einmal deutlich anmahnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Kommen wir zu der Frage: Was ist überhaupt mit dem
geplanten E-Health-Gesetz? Wie müssen wir das bewer-
ten? Zunächst einmal müssen wir feststellen – Frau
Leikert, Sie wollten mit dem Auto ganz schneidig los-
fahren –, dass nach Ausgaben von 1 Milliarde Euro in-
nerhalb von zehn Jahren das Ergebnis einer Gesund-
heitskarte mit einem nichtvaliden Lichtbild, die nicht
mehr kann als die Versichertenkarte, eine erbärmliche
Ausbeute ist. Da müssen wir in der Tat besser werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir werden aber nicht dadurch besser, dass Sie jetzt sa-
gen: Wir müssen Gas geben. – Wir müssen etwas ande-
res machen: Wir müssen die Verfahren beschleunigen
und klare Zeitpläne einfordern. Wir müssen die Selbst-
verwaltung ermahnen und dürfen nicht zulassen, dass sie
die Verfahren ausbremst. Das aber ist zehn Jahre lang er-
folgreich geschehen. Deshalb stehen wir heute mit ei-
nem so erbärmlichen Ergebnis da.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807923100

Bitte denken Sie an die Redezeit. Sie ist abgelaufen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Eine Frage, die im weiteren Gesetzgebungsverfahren
um das E-Health-Gesetz eine große Rolle spielen wird,
will ich noch kurz ansprechen: Erlauben wir bezogen auf
die Telematikinfrastruktur und die eGK sogenannte
Mehrwertdienste? Das wird eine große Frage sein. Sie
können sicher sein: Wir werden dieses Thema kritisch
begleiten. Ich bin sehr gespannt, was ich dann von Ihnen
höre.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807923200

Nächster Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist

Dirk Heidenblut, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Katja Leikert [CDU/CSU])



Dirk Heidenblut (SPD):
Rede ID: ID1807923300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ja, die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte
und der Aufbau der Telematikinfrastruktur sind ein Pro-
zess, mit dem wir uns viele Jahre lang beschäftigt haben
und der uns über viele Jahre begleitet. Vor diesem Hin-
tergrund ist bei uns allen eine gewisse Unruhe zu spüren
– die Kollegin Leikert hat das angesprochen –; denn wir
wollen endlich dafür sorgen, dass das Ganze jetzt lang-
sam, aber sicher in die Pötte kommt und nicht weiter
verzögert wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir von der Großen Koalition wollen endlich Schub
in die Sache bringen. Wir wollen dafür sorgen, dass die
nötige Konsequenz an den Tag gelegt wird und wir zügig
vorankommen. Wir müssen Fahrt aufnehmen, damit wir
mit der nötigen Geschwindigkeit vorankommen. Die Pa-
tientinnen und Patienten – das will ich zum Thema Pa-
tientenfreundlichkeit deutlich sagen – sollen endlich die
Vorteile genießen können, die in der elektronischen Ge-
sundheitskarte und in der Telematikinfrastruktur ste-
cken.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich muss deutlich sagen: Ihr Antrag ist an dieser Stelle
völlig kontraproduktiv. Mit dem von Ihnen geforderten
Stopp ist, anders als es in der Überschrift steht, nicht nur
der Stopp der elektronischen Gesundheitskarte gemeint.
Sie wollen auch die Telematikinfrastruktur, also all das,
was für die anderen Dinge erforderlich ist – die eGK ist
ja nur ein kleiner Teil des Ganzen – in den Stopp einbe-
ziehen. Das ist der absolut falsche und für die Versicher-
ten auch nicht tragbare Weg, im Übrigen auch der Weg,
der am Ende die größten Kosten verursachen wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Sie hätten Ihren Antrag anders überschreiben müssen;
die Kollegin Leikert hat das schon gesagt. Sie verlangen
ja keinen Stopp. Sie hätten schreiben müssen: Einsam-
meln und Einstampfen der elektronischen Gesundheits-
karte und vertragswidriges Brechen der Verträge, die wir
haben, um die Testphase durchzuführen. Außerdem hät-
ten Sie noch eine finanzielle Bewertung vornehmen
müssen. – Das kann nun wirklich nicht der richtige Weg
sein. Diesen Weg werden wir sicherlich nicht mitgehen.

Die Koalition hat sich den Ausbau der Telemedizin
zum Ziel gesetzt. Es bedarf aller Anstrengungen – ich
bin dem Ministerium sehr dankbar, dass es mit dem an-
gekündigten, zielgerichteten E-Health-Gesetz den nöti-
gen Weg beschreiten wird –, damit wir dieses für die Pa-
tientinnen und Patienten gut nutzbare und vernünftige
System endlich auf die Spur setzen. Eine gut nutzbare
elektronische Gesundheitskarte gibt dem Patienten und
der Patientin die Hoheit über ihre Daten, eine Hoheit, die
im Moment übrigens gar nicht besteht. Ich weiß nicht,
wer von Ihnen schon einmal versucht hat, an seine Daten
zu kommen. Erstens rennen Sie von Pontius zu Pilatus.
Zweitens wird Ihnen von dem einen oder anderen immer
noch gesagt: Ich muss noch einmal gucken, ob ich Ihnen
Ihre Röntgenaufnahmen geben kann.

Wir wollen den Patientinnen und Patienten die Hoheit
über ihre Daten geben; das ist unser Ziel. Wir wollen
auch – das war aus meiner Sicht nicht strittig, insofern
weiß ich nicht, was bei der Selbstverwaltung strittig sein





Dirk Heidenblut


(C)



(D)(B)

soll –, dass sie die Hoheit über ihre Daten selbstbe-
stimmt wahrnehmen können. Gerade dafür sollen sie die
elektronische Gesundheitskarte nutzen können, damit sie
– im Zweifel gemeinsam mit dem Arzt – entscheiden,
welche Daten von wem genutzt werden können.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das, liebe Antragsteller, ist doch Patientenorientie-
rung in Reinform. Insofern können Sie nicht einfach sa-
gen: Wir brauchen eine patientenorientierte Alternative,
die Sie im Übrigen gar nicht benennen. Das ist ja schön;
dann forschen wir erst einmal wieder zehn Jahre.

Wir brauchen die Gesundheitskarte. Wir brauchen sie
natürlich in vernünftiger Form, und wir brauchen auch
einen vernünftigen Mehrwert, einen vernünftigen Nut-
zen der Gesundheitskarte. Damit meine ich keinen
Mehrwert bei den Dienstleistungen, sondern nutzbare
Leistungen auf der Gesundheitskarte, um das kurz klar-
zustellen, damit wir nicht schon an dieser Stelle in die
Diskussion einsteigen.

Wir müssen mehr Schwung beim Aufbau hinlegen.
Ich bin dankbar für das Autobeispiel. Ich habe nämlich
auch eines. Wir müssen einen Gang zulegen und dürfen
keinesfalls bei voller Fahrt den Rückwärtsgang einlegen.
Das wäre nicht zielführend; das bringt nicht das, was wir
wollen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Eines muss man kritisch in Richtung Selbstverwal-
tung sagen, die schon mehrfach angesprochen worden
ist. In erster Linie ist dabei die Selbstverwaltung gefragt;
denn sie hat seit Jahren den Auftrag, als Gesellschafter
der Gematik das Ganze auf die Spur zu setzen und ver-
nünftig voranzubringen. Sie ist auch dafür verantwort-
lich, das Ganze zu lösen. Allerdings scheint das nicht
richtig zu funktionieren.

Wenn die Kassenärztliche Vereinigung jetzt schon
wieder den Stopp der Gesundheitskarte fordert – sie
würde deshalb Ihren Antrag höchstwahrscheinlich sehr
wohlwollend betrachten –, dann macht sie dies als ein
Teil der Selbstverwaltung, die die gesetzliche Aufgabe
hat, die elektronische Gesundheitskarte und die Telema-
tikinfrastruktur voranzubringen. Das verstehe ich nicht
unter einem patientenfreundlichen Umgang mit dem,
was wir erwarten.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Vor all dem gibt es ein gewisses Verständnis für den
Ärger der Kassen und dafür, dass sie die Versicherten-
gelder nicht mehr gerne herausrücken. Aber, liebe Kas-
sen, das kann nicht Sinn und Ziel sein. Mit einem
schlichten Mittelstopp erreichen wir nicht das, was wir
wollen. Das erreichen wir vielmehr mit dem E-Health-
Gesetz. Wir erreichen das damit, dass wir klare Vorga-
ben machen, klare Werte aufsetzen, klar regeln, wann es
wie weitergeht, und das Ganze entsprechend mit Sank-
tionen begleiten. Damit erreichen wir, dass wir an dieser
Stelle weiterkommen.
Wir wollen und wir brauchen für die Patientinnen und
Patienten eine Versorgungsstruktur, eine gute und si-
chere Telematikinfrastruktur, und wir brauchen auch die
Sicherheit für Wirtschaft und Industrie, damit sie für den
Patienten nützliche Leistungen aufsetzen kann, damit
auf dieser Datenautobahn etwas „fahren“ kann.

Vor all dem müssen wir endlich die Tests beginnen.
Vor all dem muss die Telematikinfrastruktur endlich ver-
nünftig ans Laufen kommen. Das wollen wir als Große
Koalition. Wir wollen, dass die Patienten über die elek-
tronische Gesundheitskarte als Schlüssel die Hoheit über
ihre Daten haben. Ich denke, das System ist durchaus als
sicher zu bezeichnen. Viele Datenschützer teilen diese
Ansicht durchaus.

Eine funktionierende Telematikinfrastruktur ist in Zu-
kunft der Schlüssel für die Kommunikation im Gesund-
heitswesen. Sie wird unsere Versorgung stärken – auch
das ist schon angesprochen worden – und damit von gro-
ßem Nutzen sein.

Wenn auch Sie, liebe Antragsteller, all dies für die Pa-
tienten wollen, dann ist es das Einfachste, Sie ziehen Ih-
ren Antrag zurück und unterstützen uns und vor allen
Dingen das Ministerium dabei, das E-Health-Gesetz ver-
nünftig und schnell auf den Weg zu bringen. Wir möch-
ten ernsthaft eine vernünftige, gute IT-Struktur im Ge-
sundheitswesen. Machen Sie mit! Das wird uns freuen.

Ihrem Antrag zustimmen werden wir nicht.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807923400

Vielen Dank, Herr Kollege Heidenblut. – Einen schö-

nen guten Abend von mir. Jetzt kommen wir langsam
auf die Zielgerade.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3574 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Änderung des Bundesbeamtengesetzes
und weiterer dienstrechtlicher Vorschriften

Drucksache 18/3248

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)


Drucksache 18/3748

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.

Dann kommen wir jetzt zur Abstimmung. Der Innen-
ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/3748, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 18/3248 in der Ausschussfas-

1) Anlage 2

(A)






Vizepräsidentin Claudia Roth


(A) (C)



(D)(B)

sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD.
Enthalten hat sich Bündnis 90/Die Grünen. Dagegen ge-
stimmt hat die Linke.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist angenommen bei Zustimmung von CDU/CSU
und SPD, Ablehnung durch Die Linke und Enthaltung
von Bündnis 90/Die Grünen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gerhard
Schick, Kerstin Andreae, Dr. Thomas Gambke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten
Richard Pitterle, Susanna Karawanskij, Dr. Axel
Troost, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Sonderermittler zur Aufarbeitung der Cum-
Ex-Geschäfte einsetzen

Drucksache 18/3735
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich sehe kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abge-
ordnete Dr. Gerhard Schick für Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Sachverhalt klingt technisch kompliziert, ist aber ei-
gentlich ganz einfach. Das Finanzamt ist zehn Jahre lang
umfunktioniert worden. Anstatt Gelder dafür zu sam-
meln, dass wir alle öffentliche Leistungen bekommen,
ist das Finanzamt zu einer Geldsammelmaschine für
Multimillionäre und Banken geworden, und zwar da-
durch, dass die Betreffenden Steuererstattungen bekom-
men haben, die sie nicht verdient haben. Damit verhält
es sich in etwa so, als ob man für ein Kind zweimal Kin-
dergeld bekäme.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Sauerei!)


Da sich deutlich nachweisen lässt, dass die Fonds, die
eingerichtet wurden, nur an Multimillionäre vertrieben
wurden, handelt es sich in der Wirkung um eine Umver-
teilung von unten nach oben in einem eklatanten Aus-
maß. Dieser Fehler hätte nie passieren dürfen. Er ist aber
leider zehn Jahre lang vorgekommen. Wir wissen nicht
genau, wie groß das Volumen des Schadens ist. Laut un-
serem Antrag gehen Schätzungen aus Branchenkreisen
von 12 Milliarden Euro aus. Da sich nach unserem
Kenntnisstand das Volumen bestimmter Teilgeschäfte
einzelner Banken im dreistelligen Millionenbereich be-
wegt, halten wir diese Schätzung für durchaus realis-
tisch.

Nun stellt sich die Frage: Wie konnte das passieren?
Diese Frage geht uns alle an; denn das hat in der Zeit be-
gonnen, als das Finanzministerium von Minister Eichel
geleitet wurde, hat sich in der Regierungszeit der Großen
Koalition fortgesetzt – damals wurde ein falscher, fast
schädlicher Korrekturversuch unternommen – und wurde
erst unter Finanzminister Schäuble beendet, allerdings
relativ spät. Zudem haben wir das damals im Finanzaus-
schuss nicht wirklich erfasst. Daher tragen alle Verant-
wortung. Dieser müssen wir gerecht werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE])


Es stellen sich viele Fragen: Warum hat die Finanz-
aufsicht nicht mitbekommen, was die Banken dort ma-
chen? Warum hat der Fiskus nicht früher etwas unternom-
men, obwohl es bereits 2002 entsprechende Hinweise
vom Bankenverband gab? Warum wurde nicht rechtzei-
tig gegengesteuert? Ist der Staat dazu nicht in der Lage
gewesen, weil er es nicht verstanden hat, und müssen wir
deswegen seine Kompetenzen stärken, oder ist hier be-
wusst falsch gehandelt worden? Dann ist die Verantwor-
tung zu klären. Wir meinen, dass man hier nicht zur Ta-
gesordnung übergehen kann, wenn der Staat in solch
eklatantem Maße das Gegenteil von dem tut, was die
Bürger von ihm erwarten, nämlich das Steuergeld für die
Befriedigung ihrer Interessen einzusetzen und nicht für
die Erreichung der Renditeziele weniger Investoren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Nun machen wir einen Vorschlag, wie man darange-
hen könnte. Mit diesem Vorschlag spielen wir als Op-
position Ihnen den Ball zu. Wir schlagen vor, einen Son-
derermittler einzusetzen, der dieser Sache auf den Grund
geht, sodass wir im Parlament die notwendigen Konse-
quenzen ziehen können. Er oder sie soll die Frage beant-
worten, wie es dazu kommen konnte, wo die Verantwort-
lichkeiten sind, ob die jetzt getroffenen Maßnahmen, um
den Schaden zu reduzieren – es laufen jetzt Gerichtsver-
fahren, der Fiskus versucht, das zu korrigieren; inwieweit
das erfolgreich sein wird, wird man sehen –, adäquat sind
und ob für die Zukunft Vorkehrungen getroffen sind,
dass sich so ein Skandal, wahrscheinlich der größte
Steuerskandal unseres Landes, nicht noch einmal wie-
derholen kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Jetzt gibt es Argumente, die ich gehört habe, warum
dieser Vorschlag vonseiten der Koalition nicht mitgetra-
gen werden könne. Ich höre, ein Sonderermittler sei
nicht vorgesehen. Es gibt aber viele Beispiele von Fäl-
len, in denen Sonderermittler eingesetzt worden sind.
Das kann ein Untersuchungsausschuss machen, das Par-
lamentarische Kontrollgremium hat es gemacht, Joschka
Fischer hat eine Historikerkommission eingesetzt, der
Innenminister Friedrich hat damals einen Sonderermitt-
ler im Zusammenhang mit den NSU-Akten eingesetzt.





Dr. Gerhard Schick


(A) (C)



(D)(B)

Es gibt also eine Reihe von Vorbildern, wo das gemacht
worden ist. In diesem Fall würde es sich auf jeden Fall
lohnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Deswegen fordere ich Sie auf: Lassen Sie uns unserer
gemeinsamen Verantwortung hier gerecht werden! Wenn
ich Bürgerinnen und Bürgern erzähle, was hier passiert
ist, ist das Entsetzen sehr groß. Ich glaube, die einzige
Antwort, die man auf Fehler in dieser Größenordnung in
einer Demokratie geben kann, ist, nun wirklich alles da-
ranzusetzen, dass sich so etwas nicht noch einmal wie-
derholt, es wirklich aufzuarbeiten und nicht parteipoliti-
sche Interessen an einer Vertuschung in den Vordergrund
zu stellen. Es geht vielmehr darum, unsere Verantwor-
tung gegenüber Bürgerinnen und Bürgern wahrzuneh-
men, die erwarten, dass der Staat mit ihrem Geld das tut,
was wir ihnen sagen, nämlich Leistungen für Bürgerin-
nen und Bürger in diesem Land zur Verfügung zu stel-
len.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807923500

Vielen Dank, Gerhard Schick. – Nächster Redner in

der Debatte ist Olav Gutting für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Olav Gutting (CDU):
Rede ID: ID1807923600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lassen Sie mich eines vorwegschicken: Es geht bei
Cum-Ex-Geschäften nicht um ein Steuergestaltungsmo-
dell, sondern es geht dabei aus meiner Sicht schlicht um
Betrug. Das hat nichts mehr mit einem Wettlauf zwi-
schen Fiskus und findigen Beratern zu tun, um einen
Wettstreit darum, wer vielleicht besser die Feinheiten
des Steuerrechts ausnutzen kann. Das könnte man viel-
leicht noch sportlich sehen. Bei den Cum-Ex-Geschäften
geht es vielmehr letztendlich um eines: Das ist eine
Schweinerei.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD])


Eine einmal abgeführte Kapitalertragsteuer kann nur
einmal bescheinigt werden. Das war auch schon immer
die Meinung des Bundesfinanzministeriums. Das ist
auch logisch, und diese Logik, dass man eine einmal ab-
geführte Kapitalertragsteuer nur einmal bescheinigen
kann, müsste auch denjenigen eingeleuchtet haben, die
hier doppelt kassiert haben. Ich halte dieses Vorgehen
wie gesagt für betrügerisch. Die rechtliche Einordnung
sollten wir aber den zuständigen staatlichen Strafverfol-
gungsbehörden überlassen, den Gerichten und den
Staatsanwaltschaften. Es ist nicht die Aufgabe des Bun-
destages und nicht Aufgabe der Bundesregierung, hier
die Strafbarkeit festzustellen. Dafür gibt es gesonderte
Institutionen.

(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist auch nicht beantragt! Beantragt ist die Aufklärung im öffentlichen Interesse!)


Deshalb halte ich auch den Antrag, einen Sonderer-
mittler einzusetzen, lieber Kollege Schick, mit Verlaub
für Unfug. Was soll das für ein Sonderermittler sein?
008? Mit welcher Lizenz? Was soll das?

Wir haben nach der Strafprozessordnung die Staatsan-
waltschaften. Die ermitteln in eigener Zuständigkeit als
zur Objektivität verpflichtetes Organ der Rechtspflege.
Sie können auf die Polizei zurückgreifen, und sie können
auf die Beamten der Steuerfahndung zurückgreifen. All
das ist möglich, das ist Sache der Staatsanwaltschaft.
Deswegen geht es hier nicht um die Einsetzung eines
Sonderermittlers.

Wenn Sie von der Linken das wollen, dann können
Sie dieses Instrument vielleicht nutzen, um den Verbleib
der SED-Millionen oder -Milliarden zu untersuchen.
Das wäre etwas für einen Sonderermittler. Aber lassen
wir das.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN: Oh!)


Wenn Sie, Herr Kollege, wirklich eine Aufklärung
wollen – das wollen auch wir –, wenn Sie die politisch
Verantwortlichen für dieses mögliche Versagen feststel-
len wollen, dann beantragen Sie einen Untersuchungs-
ausschuss. Das steht Ihnen frei, und das steht Ihnen als
Opposition zu. Das ist auch Ihre Aufgabe, und das ist
völlig in Ordnung. Deswegen brauchen wir keinen Son-
derermittler, für den es letztendlich keine verfassungs-
rechtliche Grundlage gibt. Soweit es darum geht, die
strafrechtliche Verantwortung zu klären, ist dies Auf-
gabe der Gerichte und der Staatsanwaltschaft. Daran
führt kein Weg vorbei.

Es ist auch nicht so, wie es hier gerade dargestellt
wurde: dass der Gesetzgeber nicht reagiert hätte. Es gab
Erlasse, und es gab Versuche, diese unsäglichen Modelle
zu stoppen. Was man aber auch sagen muss, ist, dass
diese Modelle immer wieder variiert wurden. Findige
Menschen – Berater, Fondsverkäufer, Banker – haben
Gestaltungsräume genutzt und diese Modelle immer
wieder geändert.

Wir haben 2007 eine Regelung eingeführt, dass die
Nutzung bei inländischen Abwicklungsbanken keine un-
berechtigten Steuerbescheinigungen mit sich bringt. Was
war die Folge? Man ist auf ausländische Banken ausge-
wichen. Das BMF hat darauf im Jahr 2009 mit einem
BMF-Schreiben reagiert, und man hat die Erfordernisse
an Steuerbescheinigungen im Zusammenhang mit Leer-
verkäufen über ausländische Kreditinstitute geändert.
Der Missbrauch, der daraufhin wieder erfolgte, wurde
– Sie haben es richtig gesagt – unter Wolfgang Schäuble
2011 mit dem OGAW-IV-Umsetzungsgesetz durch eine
grundsätzliche Umstellung der Systematik zur Erhebung
von Kapitalertragsteuern tatsächlich beendet. Damit
wurde diesen Modellen endgültig die Grundlage entzo-
gen.





Olav Gutting


(A) (C)



(D)(B)

Ich jedenfalls hoffe inständig und ich bin auch zuver-
sichtlich, dass unsere Ermittlungsbehörden, dass unsere
Gerichte hier mit aller notwendigen Härte gegen diese
– ich muss es noch einmal sagen – Schweinerei vorge-
hen, dass klar festgestellt wird, dass die Cum-Ex-Ge-
schäfte unzulässig waren, dass sie rechtswidrig waren,
dass diese Praxis endlich entlarvt wird. Ich glaube aber,
einen Sonderermittler, dessen Einsetzung Sie hier vor-
schlagen, brauchen wir dazu nicht. Deswegen werden
wir diesen Antrag ablehnen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807923700

Vielen Dank, lieber Kollege Gutting. – Nächster Red-

ner in der Debatte ist Richard Pitterle für die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Richard Pitterle (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807923800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-

ginnen und Kollegen! Für die, die noch nie von Cum-
Ex-Geschäften gehört haben: Das war ein wahrer Gold-
esel für Banken und Superreiche. Zwischen 2002 und
2012 wurde der Staat damit um schätzungsweise 12 Mil-
liarden Euro gebracht. 12 Milliarden Euro, das ist fast
das Doppelte des Entwicklungshilfeetats für dieses Jahr.
Und wer durfte letzten Endes die Zeche zahlen? Richtig,
wieder die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.

Folgendes ist passiert: Durch komplizierte Konstruk-
tionen bei Aktienverkäufen konnten sich Banken und
Großinvestoren zweimal vom Staat Steuern erstatten las-
sen, obwohl diese Steuer nur einmal gezahlt worden ist.
Erst 2012 wurde dieser Praxis per Gesetz ein Riegel vor-
geschoben. Waren diese Geschäfte illegal? Oder wurde
nur eine Regelungslücke ausgenutzt? Das zu klären, ist
tatsächlich Sache der Gerichte.

Womit wir uns jedoch endlich intensiv beschäftigen
müssen, ist die Rolle, die das zu jener Zeit von SPD und
Union geführte Bundesfinanzministerium in dieser Sa-
che gespielt hat. Offensichtlich hatte die politische Lei-
tung des Ministeriums die Kontrolle über die Gescheh-
nisse verloren. Viel schlimmer noch: Sie ist trotz
Hinweisen, wie zum Beispiel durch den Bundesverband
deutscher Banken im Jahr 2002, untätig geblieben. Fünf
Jahre später wurde zwar der Versuch unternommen, den
Raubzug der Vermögenden zu stoppen, über ausländi-
sche Banken konnte er jedoch noch bis zur Gesetzesän-
derung 2012 fortgesetzt werden.

Meine Damen und Herren, zehn Jahre lang wurde die-
ser Umverteilung von unten nach oben zugesehen. Das
ist schlichtweg ein Skandal!


(Beifall bei der LINKEN)


Deswegen fordern wir, Bündnis 90/Die Grünen und die
Linke, die Einsetzung eines Sonderermittlers, damit end-
lich lückenlos aufgeklärt wird, warum so lange nichts
unternommen wurde. „Im Dunkeln ist gut munkeln“,
sagt ein Sprichwort. Von diesem scheint sich die Bun-
desregierung leiten zu lassen, weil sie nämlich offen-
sichtlich kein Interesse an der Aufklärung hat. Das las-
sen wir Ihnen so nicht weiter durchgehen.


(Beifall bei der LINKEN)


Bereits vor zwei Jahren hatte die Linke eine klitze-
kleine Anfrage zu diesem Thema gestellt. In seiner Ant-
wort behauptete Schäubles Ministerium, erst seit 2009
von Cum-Ex-Geschäften über ausländische Banken ge-
wusst zu haben. Ich frage Sie: Wer hat dem Minister den
Hinweis des Bankenverbands von 2002 vorenthalten?
Das ist doch nicht mehr zu fassen!


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aber es kommt noch schlimmer: In der Antwort auf
eine Anfrage der Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen
behauptet die Bundesregierung, in dem Schreiben des
Bundesverbands von 2002 sei ja nur auf die abstrakte
Möglichkeit dieser Geschäfte hingewiesen worden, nicht
aber darauf, dass auch die Gefahr bestehen könnte, dass
jemand diese Möglichkeit nutzt.


(Heiterkeit bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, bei allem Respekt, das ist
doch lächerlich und an Naivität nicht zu überbieten.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es ist allseits bekannt, dass auf den Finanzmärkten
selbstverständlich jede Möglichkeit ausgelotet wird, um
Profite zu machen. Das sollte sich auch bis zum jeweili-
gen Finanzminister herumgesprochen haben.

Bei Menschen, die Hartz IV beziehen, wird streng
kontrolliert, ob ja kein Cent zu viel hinzuverdient wird.
Aber wenn bei den Cum-Ex-Geschäften der Superrei-
chen ein paar Milliarden Euro unter die Räder kommen,
lehnen Sie es ab, genau hinzuschauen.

Es besteht dringender Anlass, die Versäumnisse im
Finanzministerium hier endlich aufzuarbeiten.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Bündnis 90/Die Grünen und die Linke sind jedenfalls
gewillt, das zu tun. Die Steuerzahlerinnen und Steuer-
zahler haben ein Recht darauf, zu erfahren, wer zu ver-
antworten hat, dass Geld an Banken und Superreiche
verschenkt worden ist.

Danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807923900

Vielen Dank, Herr Kollege Pitterle. – Nächster Red-

ner in der Debatte: Lothar Binding für die SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Lothar Binding (SPD):
Rede ID: ID1807924000

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mich irritiert ein we-
nig die Aufregung über eine Regelungslücke, die man
schließen musste, im Verhältnis zu der Aufregung über
die Tatsache, dass es Steuerbetrug gibt. Ich meine, dass
der Steuerbetrug eine größere Aufregung verdient als
das Bestehen einer Regelungslücke.

Wenn ich mich richtig erinnere, wurde eben vorgetra-
gen, dass diese Cum-Ex-Geschäfte eigentlich schon weit
zurückreichen, möglicherweise – ich glaube, Gerhard
Schick hat es gesagt – bis ins Jahr 2002.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Hans Eichel!)


Denken wir einmal zurück: Damals war Christine Scheel
Vorsitzende des Finanzausschusses und verantwortlich.
Wenn ich mich richtig erinnere, hat damals auch die
Linke diese komplexen Gestaltungen entlang der Bör-
senstichtage bzw. Hauptversammlungen nicht so durch-
drungen, dass sie einen Antrag gestellt hätte, diese
Lücke zu schließen. Es gab mehrere Anläufe, das zu tun;
es war hochkomplex.

Ich rege mich über das auf, was da tatsächlich passiert
ist. Das war nur mit den Banken möglich. Da glaubte
man, es sei ein legales Geschäft, einmal eine Steuer zu
bezahlen und dann, weil wir eigentlich faire Regelungen
der Rückerstattung haben, eine Gestaltung zu wählen,
bei der man den Betrag zweimal zurückbekommt. Man
vergriff sich gewissermaßen am Staatsschatz, betrog die
Gemeinschaft. Das ist, finde ich, ein Verhalten, bei dem
sich von selbst verstehen muss, dass es nicht in Ordnung
ist. Dahin gehört die Aufregung eigentlich. Da müssen
wir sehr viel schärfer zugreifen. Ich würde sagen: Das ist
strafwürdiges Unrecht.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


In Juristenkreisen wird das gelegentlich ein bisschen
bestritten. Man sagt: Das war ja rechtsförmlich zulässig.
– Ich muss sagen: Es gibt Dinge, die sich von selbst ver-
bieten. – Professor Seher hat den Begriff des Erfolgsun-
rechts benutzt. Das verstehe ich so: Wenn man im Un-
recht angekommen ist, hatte man Erfolg. – Das ist eine
wunderbare Definition dafür, wie man sich im Unrecht
bereichern kann und das dann rechtsförmlich rechtfer-
tigt. Da mache ich nicht mit. Das ist für mich nicht ein-
zusehen.


(Beifall bei der SPD)


Selbst wenn der Gesetzgeber zu spät etwas verboten
hat – das stimmt –, was sich eigentlich von selbst verbie-
tet, selbst wenn die Finanzverwaltung zu spät erkannt
hat, wie diese komplexen Vorgänge funktionieren, selbst
wenn das alles wahr ist: Ein privater Investor muss sich
von einem leistungslosen Parasiten unterscheiden, und
das ist hier nicht mehr der Fall. Deshalb wollen wir da-
gegen vorgehen.

Ich bin Minister Schäuble dankbar, dass er es ge-
schafft hat, jetzt in einem dritten Schritt diese Lücke
wirklich zu schließen. Wie hat er das gemacht? Durch
ein vollständiges Umstellen des Erstattungssystems in
der Körperschaftsteuer! Das war ein sehr großes Rad.
Bisher war es so, dass die die Kapitalertragsteuer an den
Fiskus abführende Stelle eine andere war als die Stelle,
die die Kapitalertragsteuerzahlung bescheinigte. Wenn
zwei Funktionen so auseinanderfallen, kann es sein, dass
die Beteiligten nicht genug voneinander wissen und dass
Menschen das ausnutzen. Für mich ist die eigentliche
Kritik auf die zu richten, die es ausgenutzt haben in dem
Wissen, dass es rechtswidrig ist.


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und warum soll man das nicht aufarbeiten?)


– Das brauchen wir nicht aufzuarbeiten, weil alles aufge-
arbeitet ist. Es gibt hinreichend Transparenz. Es gibt so-
gar eine Personalaufstockung beim Bundesamt für Steu-
ern. Es gibt hinsichtlich Cum-Ex-Geschäften eine
Unterstützung der Länder seitens des Bundes. Es ist ei-
gentlich alles transparent. Wir waren in den drei gesetz-
geberischen Verfahren hinreichend beteiligt wie auch bei
der Erarbeitung der jüngsten Lösungsvorschläge.

Der Blick zurück hilft hier überhaupt nicht weiter.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Lasst uns doch nach vorne schauen. Was passiert denn
gegenwärtig? Ich frage einmal die Grünen, insbesondere
Gerhard Schick: Passiert denn gegenwärtig in ähnlicher
Weise irgendetwas wie vor zwölf Jahren, das wir jetzt
nicht erkennen? Lasst uns doch danach suchen, was jetzt
passiert und was es an zukünftigen Aufgaben gibt.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807924100

Herr Kollege Binding, lassen Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Schick zu oder nicht?


Lothar Binding (SPD):
Rede ID: ID1807924200

Ich möchte keine Zwischenfrage zulassen,


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber schwach!)


weil ich denke, dass es schon sehr spät ist. Wir werden
das hier ja noch mehrfach behandeln, weil es ein sehr
großes und wichtiges Thema ist.

Ich glaube auch, dass es hilft, wenn wir schauen, wer
sich rechtfertigen müsste. Keiner kann sich davon frei-
sprechen, es nicht rechtzeitig reguliert zu haben.


(Beifall des Abg. Dr. Carsten Sieling [SPD])


Weder ihr von den Linken noch wir noch ihr von den
Grünen oder ihr von der CDU/CSU. Niemand. Insofern
tragen wir alle die gleiche Verantwortung.

Aufzuklären gibt es nichts. Was ist denn offen? Die
technischen Fragen zu klären, ist eine relativ einfache
Angelegenheit. Wenn wir aber heute die technischen
Fragestellungen klären – manche Leute fragen sich ja,
warum das Cum-Ex-Geschäfte heißt; das kann ich gerne
noch erklären –, dann entdecken solch skrupellose
Leute, die es bisher schon ausgenutzt haben, morgen
eine neue Technik, weil es uns in einer unmoralischen
Gesellschaft nie gelingen wird, alles so zu regulieren,





Lothar Binding (Heidelberg)



(A) (C)



(D)(B)

dass kein Gauner mehr eine Chance hat, das auszunut-
zen.


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber dafür muss man nicht zehn Jahre brauchen!)


Auch wenn es rechtsförmlich oder legal ist, ist das nicht
in Ordnung.


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Viele Worte, aber kein Argument zu unserem Antrag! Schwach! Schwach!)


Es heißt eben deshalb Cum-Ex-Trade bzw. Cum-Ex-
Geschäft, weil es darum geht, dass Leute unmittelbar vor
einer Hauptversammlung Aktien verkaufen, mitunter
kombiniert mit Auslandsgeschäften und Leerverkäufen,
und zwar mit Dividende, also cum Dividende, die dann
einen Tag nach der Hauptversammlung – das ist der so-
genannte Ex-Tag – beim Käufer Dividendenansprüche
generieren, um auf diese Weise durch unterschiedliche
Besitzer der gleichen Aktie doppelte Ansprüche zu er-
zeugen. Damit wird ein ungerechtfertigter Vorteil er-
schlichen.

Wenn wir die jetzt vorhandenen Instrumente und die
jetzt gültige Regelung betrachten, dann stellen wir fest –
ich bin mir gar nicht sicher, dass die Grünen dem nicht
folgen können –, dass es jetzt sehr gut geregelt ist. Es ist
ja auch nicht so, dass im vorliegenden Antrag gesagt
würde, es sei jetzt nicht gut geregelt. Jetzt ist es sehr gut
geregelt, und ich glaube, dass wir damit sehr gut leben
können.

Die Frage ist nun: Was soll eigentlich so ein Sonder-
ermittler machen? Er könnte uns erklären, was in der
Vergangenheit war. Er schreibt einen Aufsatz bzw. ein
Gutachten über die Vergangenheit. Das hilft uns aber für
die Zukunft gar nichts. Das kann uns für zukünftige Fra-
gestellungen nicht helfen, weil das, was da untersucht
würde, ja untersucht ist.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Aber wir würden Fehler im Ministerium vielleicht erkennen!)


Ich habe mich nun gefragt, warum das Instrument des
Sonderermittlers beantragt wurde und nicht ein Untersu-
chungsausschuss. Wir haben doch ein Instrument, das
sehr scharf ist. Man könnte doch einen Untersuchungs-
ausschuss beantragen. Wenn einem diese Sachverhalte
so wichtig sind und so wesentlich erscheinen, könnte
man doch einen Untersuchungsausschuss anstrengen.
Ich fände es spannend, zu sehen, welche Aufgaben die-
ser sich geben würde. Ich glaube aber, dass auch dieses
Instrument nicht zielführend ist.

Deshalb sollten wir jetzt keinen vordergründigen
Aktionismus an den Tag legen, sondern sensibel
schauen, was gegenwärtig passiert. Wir haben ja den fes-
ten Vorsatz, dass uns das nicht wieder passiert.

Schönen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807924300

Danke, Herr Kollege Binding. – Das Wort zu einer

Kurzintervention hat der Kollege Dr. Schick.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Da ich persönlich angesprochen worden bin, möchte
ich es doch noch einmal kurz klarstellen. Ich teile völlig
die Empörung gegenüber den Investoren.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das ist gut!)


Diese Form, Geschäfte zu machen, bei denen die Ren-
dite ausschließlich darin besteht, die Öffentlichkeit zu
schädigen, darf nicht vorkommen. Genau deswegen be-
steht Aufklärungsbedarf; denn diese Geschäftsmodelle
sind auch von öffentlich-rechtlichen Landesbanken be-
trieben worden. Genau deswegen müssen wir auch auf
der staatlichen Seite dringend schauen, wie so etwas pas-
sieren konnte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Der zweite Punkt. Es ist argumentiert worden, dass
doch jetzt alles gut sei und wir uns den künftigen Sachen
widmen können. Wenn wir aber nicht wissen, warum es
sein konnte, dass der Finanzaufsicht, dem Fiskus, dem
Finanzministerium und allen Fraktionen so lange Zeit
das Problem, das so große Ausmaße hat, nicht bekannt
geworden ist, dann müssen wir davon ausgehen, dass die
Schweinereien, die heute passieren, auch unter unserem
Radar bleiben.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wir müssen die Gegenwart untersuchen und nicht die Vergangenheit!)


Deswegen ist es unsere Verantwortung, die Defizite auf-
zuarbeiten, um dies künftig zu verhindern; denn die Res-
sourcen dazu brauchen wir.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Ein kurzer letzter Punkt. Der Hinweis, dass alle Par-
teien dies nicht verhindern konnten, zwingt uns, gemein-
sam aufzuarbeiten. Und da sollte der Fingerzeig gegen
die anderen unterbleiben. Die Bürger erwarten anderes
von uns.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807924400

Herr Binding, Sie haben die Möglichkeit, zu antwor-

ten. Wenn Sie nicht wollen, dann brauchen Sie auch
nicht.


Lothar Binding (SPD):
Rede ID: ID1807924500

Doch, ganz kurz. – Ich will nur ganz kurz erwidern,

weil ich in keinem einzigen Punkt mit Ausnahme des
Verfahrens widerspreche. Lassen Sie uns die Gegenwart
untersuchen und nicht mit Blick auf eine aufgeklärte
Vergangenheit Bekanntes reflektieren.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807924600

Vielen Dank, Herr Binding. – Der letzte Redner in

dieser Debatte ist Philipp Graf Lerchenfeld für die CDU/
CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Graf Philipp Lerchenfeld (CSU):
Rede ID: ID1807924700

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Präsidentin!

Hohes Haus! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!
Gäste sind nicht mehr zu begrüßen, verständlicherweise.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)


Ich denke, heute haben wir eine hohe moralische Ent-
rüstung gesehen. Ich verstehe das, lieber Kollege Schick,
was Sie hier gesagt haben. Ich glaube, wir müssen uns
ganz klar darüber sein, dass Betrug immer möglich ist,
dass kriminelle Handlungen natürlich auch möglich sind
und dass solche Dinge erst nach einem gewissen Zeitab-
lauf entdeckt werden. Wir sind uns vollkommen klar da-
rüber. Nehmen wir zum Beispiel eine Betriebsprüfung.
Hier haben wir meistens Betriebsprüfungszeiträume von
fünf Jahren. Wir haben darüber hinaus noch entspre-
chende Finanzklagen. Wir haben entsprechende Dinge,
die das Ganze zeitlich verzögern. Deswegen sind durch-
aus Reaktionen auf entsprechende betrügerische Fälle
erst mit Verzögerung zu erwarten.

Ich glaube, es sind mittlerweile sämtliche Maßnah-
men ergriffen worden, um diese Probleme zu erhellen,
um diese Probleme tatsächlich auszugrenzen. Im Jahr
2007 ist im Jahressteuergesetz der erste Bruch gemacht
worden, indem man gesagt hat, dass inländische Ge-
schäfte so nicht mehr abgewickelt werden können. Im
Jahr 2012 hat man durch ein weiteres Gesetz verhindert,
dass solche Geschäfte mit ausländischen Banken und
Geschäfte, die ohne Intermediär stattfinden, unterbunden
wurden. Somit ist die Frage, die Sie in Ihrem Antrag ge-
stellt haben, ob die getroffenen Maßnahmen zur Scha-
densbegrenzung adäquat sind, eigentlich gelöst.

Die zweite Frage, die sich stellt, ist: Sie wollen einen
Sonderermittler einführen. Unsere Verfassung kennt das
Instrument des Sonderermittlers eigentlich nicht. Wir ha-
ben, wie der Kollege vorhin richtig ausgeführt hat, das
Instrument des Untersuchungsausschusses. Hier können
wir als Parlament entsprechende Maßnahmen ergreifen.
Das wäre durchaus überlegenswert.


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das können auch Sie beantragen!)


Nur glaube ich, dass mittlerweile mit großer Sorgsam-
keit vonseiten des Finanzministeriums reagiert wurde.

Man muss sich auch darüber klar sein, dass Cum-Ex-
Transaktionen hochgradig komplizierte Dinge sind, die
nur mit hohem Sachverstand und mit exzellentem Wis-
sen tatsächlich geprüft werden können. Das geht nicht
einfach so durch – ich sage einmal – irgendeinen Finanz-
beamten. Das Bundeszentralamt für Steuern hat zusätz-
lich personelle Ressourcen bereitgestellt, damit zum
Beispiel auffällige Erstattungserträge auch aus der Ver-
gangenheit geprüft werden können. Den Bundesländern
wurde in diesem Zusammenhang vom Bundeszentralamt
noch eine Unterstützung bei Außenprüfungen angebo-
ten. Letztlich findet jetzt ein vernünftiger Wissenstrans-
fer zwischen Bund und Ländern statt, der genau diesen
Sachverhalten entsprechend Rechnung trägt.

Ich denke, man sieht aber auch, dass immer wieder
Vergangenheitsfälle neu aufgedeckt werden, weil sie zu
den vorherigen Fällen unterschiedlich waren. Das führt
zu entsprechenden Strafmaßnahmen und Steuerzahlun-
gen. Der deutsche Fiskus wird sich hier sicherlich schad-
los halten.

Ein besonders augenfälliger Streitfall in diesem Zu-
sammenhang ist im Moment die Klage von verschiede-
nen Steuerpflichtigen gegen die Bank Sarasin in der
Schweiz: Mehrere Kläger verlangen von der Bank Scha-
densersatz in Millionenhöhe, weil sie bei diesen Ge-
schäften angeblich falsch beraten worden sind. Die Bank
Sarasin in Basel hatte das Cum-Ex-Vehikel im Frühling
2010 aufgebaut, genau mit dem Ziel, dafür in Deutsch-
land groß zu werben und es hier zu vermarkten. Jetzt se-
hen sich die Bank und ihr privater Eigentümer entspre-
chend umfänglichen Ermittlungen schweizerischer und
deutscher Strafverfolgungsbehörden ausgesetzt.

Liebe Kollegen, die Finanzverwaltung war grundsätz-
lich immer der Auffassung, dass es sich bei diesen Ge-
schäften nicht um ein Modell zur steuerlichen Gestal-
tung, sondern um unzulässige Gestaltungen oder – wie
der Kollege Gutting vorhin ganz richtig gesagt hat – um
Betrug handelt. Diese Haltung ist Gott sei Dank mittler-
weile vom BFH bestätigt worden.


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So eindeutig ist das Urteil nicht!)


Die frühen Hinweise, die ursprünglich gegeben wor-
den sind, waren so unkonkret, dass man wirklich nicht
erkennen konnte, was da tatsächlich vorgegangen ist.
Die Ausgestaltung der Modelle wurde insgesamt mög-
lichst groß verschleiert, damit eine Aufdeckung schwie-
rig wurde.

Es ist meiner Ansicht nach nicht notwendig, die ver-
gangenen Sachverhalte zu prüfen. Vielmehr müssen wir
uns im Klaren darüber sein, dass hier alle Maßnahmen
richtig ergriffen worden sind. Ihr Antrag ist deswegen
nicht notwendig und damit abzulehnen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807924800

Vielen Dank, Graf Lerchenfeld.

Damit schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3735 an den Finanzausschuss vorge-
schlagen. – Sie sind damit einverstanden. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b auf:

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(12. Ausschuss)






Vizepräsidentin Claudia Roth


(A) (C)



(B)

Dr. Alexander S. Neu, Wolfgang Gehrcke, Jan
van Aken, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE

Einrichtung einer Nelson-Mandela-Stiftungs-
professur für Friedenspolitik und Völker-
recht
Drucksachen 18/1329, 18/1643

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(12. Ausschuss)

Dr. Alexander S. Neu, Wolfgang Gehrcke, Jan
van Aken, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE

Henry-Kissinger-Stiftungsprofessur an der
Universität Bonn verhindern
Drucksachen 18/1330, 18/1642

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.

Tagesordnungspunkt 17 a. Wir kommen zur Be-
schlussempfehlung des Verteidigungsausschusses zum
Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Einrich-
tung einer Nelson-Mandela-Stiftungsprofessur für Frie-
denspolitik und Völkerrecht“. Der Ausschuss empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1643,

1) Anlage 3
den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/
1329 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustim-
mung von CDU/CSU und SPD und Ablehnung von der
Linken und Bündnis 90/Die Grünen.

Tagesordnungspunkt 17 b. Beschlussempfehlung des
Verteidigungsausschusses zum Antrag der Fraktion Die
Linke mit dem Titel „Henry-Kissinger-Stiftungsprofes-
sur an der Universität Bonn verhindern“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 18/1642, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/1330 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Damit ist die Beschlussempfehlung ange-
nommen bei Zustimmung von CDU/CSU und SPD, Ge-
genstimmen von den Linken und Enthaltung von Bünd-
nis 90/Die Grünen.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, 16. Januar 2015, 9 Uhr,
ein.

Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen, was
immer Sie machen, noch einen schönen, friedlichen, he-
donistischen Donnerstagabend.