Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sieherzlich zu unserer Plenarsitzung.Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass eseine interfraktionelle Vereinbarung gibt, den Entwurfdes GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwick-lungsgesetzes auf der Drucksache 18/1307 dem Aus-schuss für Ernährung und Landwirtschaft zur Mitbera-tung zu überweisen.Darüber hinaus sollen die Unterrichtungen der Bun-desregierung zu Stellungnahmen des Bundesrates undGegenäußerungen der Bundesregierung auf den Druck-sache 18/1574, 18/1575, 18/1577, 18/1579 und 18/1586zu den bereits überwiesenen Gesetzentwürfen auf denDrucksachen 18/1305, 18/1306, 18/1307, 18/1308 und18/1311 an die entsprechenden federführenden und mit-beratenden Ausschüsse überwiesen werden.Die meisten von Ihnen werden mit den Ziffern ver-mutlich keine konkreten Texte verbinden. Aber da essich hier erkennbar um eine technische Erweiterung derbereits vorgenommenen Überweisungen sowie stärkereMitberatung auch anderer Ausschüsse handelt, ist dasvermutlich vereinbarungsfähig. Darf ich zu diesen Vor-schlägen also Ihr Einvernehmen feststellen? – Das ist derFall. Dann können wir so verfahren.Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute vor 25 Jahrenfanden zwei Ereignisse statt, die unterschiedlicher nichtsein könnten und doch eines gemeinsam haben: den Wil-len der Menschen zu freier Selbstbestimmung. Am4. Juni 1989 wurde in Peking der Platz des HimmlischenFriedens zum Schauplatz eines blutigen Massakers.Gleichzeitig fanden in Polen die ersten Wahlen statt, diediesen Namen tatsächlich verdienen. Die brutale Gewalt,mit der die chinesische Staatsmacht die friedliche Kund-gebung Zehntausender Demonstranten niederschlagenließ, zerstörte alle Hoffnungen auf ein sich demokratischwandelndes China. Die Bilder vom Tiananmen-Platz– junge Menschen von Panzern niedergewalzt und zu-sammengeschossen – gingen 1989 um die Welt, und esgab immer wieder Nachrichten von Folter und langerHaft, die für viele folgte. Sie schockierten im damalsnoch geteilten Europa all jene, die auf friedlichen politi-schen Wandel überall in der Welt hofften – nicht zuletztdurch die gleichzeitige Entwicklung in Polen; denn amselben Tag, am 4. Juni 1989, errang in unserem Nachbar-land die Solidarnosc einen überwältigenden Wahlsieg.Zum ersten Mal stand in der Folge ein nicht kommunis-tischer Ministerpräsident an der Spitze eines Landes desWarschauer Paktes.Der friedliche Machtwechsel in Polen gab den Bür-gerbewegungen in den anderen Staaten des Ostblocks,auch in der DDR, Auftrieb. Er beförderte einen politi-schen Prozess, an dessen Ende der Fall der BerlinerMauer und des Eisernen Vorhangs in Europa stand.Während die Polen heute dieses herausragende Ereig-nis ihrer eigenen wie der europäischen Geschichte feier-lich würdigen, wird in China jedes Gedenken an dasBlutbad vom 4. Juni 1989 rigoros unterbunden. Doch Er-innerung lässt sich nicht verbieten, und sie lässt sich inunserer Zeit auch nicht mehr tilgen. Wir vergessen nicht.
Wir freuen uns heute mit unseren polnischen Nachbarn.Aber unsere Gedanken sind auch bei den 1989 in ChinaErmordeten und ihren Angehörigen, bei denen, die inHaft leiden mussten und noch immer leiden müssen.Die Polen und wir Europäer haben vor 25 Jahren er-fahren, dass sich der Freiheitswille der Menschen aufDauer nicht unterdrücken lässt. Deshalb gilt unsere Er-mutigung und Solidarität all denen, die in diesen Tagenund Stunden, in welchem Land auch immer, mutig fürDemokratie und Menschenrechte kämpfen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf:Abgabe einer Regierungserklärung durch dieBundeskanzlerinzu den Ergebnissen des Informellen Abend-essens der Staats- und Regierungschefs derEU-Mitgliedstaaten am 27. Mai 2014 in Brüs-sel sowie zum G-7-Gipfel am 4./5. Juni 2014 inBrüssel
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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Hierzu liegen drei Entschließungsanträge der FraktionDie Linke vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-rung 96 Minuten vorgesehen. – Auch dies ist offenkun-dig einvernehmlich. Dann verfahren wir so.Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hatnun die Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Der heute beginnende G-7-Gipfel wird das letzte Zusammentreffen der G-7-Staats-und Regierungschefs sein, bevor Deutschland die Präsi-dentschaft dieser Gruppe übernimmt. Damit kommtgroße Verantwortung auf unser Land zu. Zuvor wirdaber die G 7 heute und morgen in Brüssel viele Beratun-gen gerade auch mit Blick auf den G-20-Gipfel führen,der im November im australischen Brisbane stattfindenwird. Dazu legen wir für uns als G 7 eine gemeinsameLinie fest.Uns leitet das gemeinsame Verständnis, dass ein star-kes, nachhaltiges und ausgewogenes Wirtschaftswachs-tum nur mit durchgreifenden Strukturreformen und einerwachstumsorientierten Haushaltskonsolidierung zu er-reichen ist. Deshalb werden wir unter anderem über Ar-beitsmarktreformen sprechen, zum Beispiel über Mög-lichkeiten, wie wir Investitionen effizient fördern, kleineund mittlere Unternehmen gezielt stärken oder die Er-werbsbeteiligung von Frauen in den G-20-Ländern erhö-hen können.Die Entwicklung der Weltkonjunktur ist insgesamt er-mutigend. So liegt die IWF-Prognose für das globaleWachstum mit 3,6 Prozent in diesem Jahr auf der Höhedes Durchschnittswertes der Jahre 2000 bis 2013. Für2015 wird mit 3,9 Prozent sogar ein Wachstum über die-sem Durchschnittswert erwartet.Zugleich dürfen wir aber nicht übersehen, dass jedesnoch so gute Wachstum auf tönernen Füßen stehenwürde, wenn wir nicht weiter konsequent daran arbeite-ten, die Lehre aus der verheerenden weltweiten Finanz-krise von 2008 und 2009 zu ziehen. Damit sich einesolche Krise nicht wiederholt, müssen wir die beschlos-senen Finanzmarktreformen international entschlossenumsetzen und da, wo es Lücken gibt, weitere beschlie-ßen. Hier ist manches erreicht, aber längst noch nicht al-les, was dringend notwendig ist. Und mit der Entfernungvon der akuten Krise – auch das muss man sagen – wirdes eher beschwerlicher als leichter, entsprechende Be-schlüsse zu fassen.Wir haben bereits starke Regulierungen, zum Beispielfür globale systemrelevante Banken, erreicht. Aber jetzt– das wird ein Schwerpunkt in Brisbane sein – geht esvor allen Dingen auch darum, dass die Schattenbankeneiner strengen Regulierung unterworfen werden. An-sonsten wird es Ausweichbewegungen von den Bankenauf die Schattenbanken geben, und die Finanzmarkt-regulierung wäre wieder außerordentlich lückenhaft.Die G-7-Staaten teilen die gemeinsame Überzeugung,dass ein offenes und freies Wirtschaftssystem Vorausset-zung für Wachstum und Stabilität ist. Der freie Welthan-del ist hierbei Wachstumsmotor und leistet einen wichti-gen Beitrag zu mehr Wachstum, vor allen Dingen aberzu mehr Beschäftigung, ohne dass die öffentliche Haus-halte zusätzlich belastet werden. Wir wollen die interna-tionalen Märkte weiter öffnen und Handelsbarrierenabbauen. Wir hören immer wieder – so steht es in denBerichten der OECD –, dass die Handelsschranken inden letzten Jahren eher mehr geworden sind.Wenn wir über freien Handel sprechen, dann geht essowohl um Fortschritte bei der Welthandelsorganisation,also bei der WTO, als auch um bilaterale Freihandelsab-kommen wie zum Beispiel das der Europäischen Unionmit den Vereinigten Staaten von Amerika. Wir werdenals G 7 deutlich machen, dass wir die Welthandelsorga-nisation auf dem Weg zum Abschluss der Verhandlun-gen der Doha-Entwicklungsrunde mit Nachdruck unter-stützen.Einen breiten Raum werden heute und morgen selbst-verständlich auch Fragen der Energiepolitik einnehmen.Bereits vor einem Monat haben die G-7-Energieministerin Rom die sogenannte Initiative für Energieversor-gungssicherheit der G 7 von Rom beschlossen. Mit ihrhaben sie sich auf kurzfristige Maßnahmen zur Stärkungder Energiesicherheit verständigt wie zum Beispiel aufNotfallpläne, Gefährdungsanalysen und technische Hil-fen. Bis 2015 wollen sie einen umfassenden langfristi-gen Aktionsplan erarbeiten, mit dem verhindert werdensoll, dass Energie als politisches Zwangsmittel einge-setzt wird – ein brisantes Thema, wie wir zum Beispielan den gegenwärtigen Diskussionen zwischen Russlandund der Ukraine um den Gaspreis sehen.Es ist natürlich von hoher ökonomisch-ökologischerBedeutung, gleichzeitig die Märkte transparenter zu ma-chen, die Versorgung zu diversifizieren und vor allenDingen auch die Energieeffizienz zu steigern. Denn diesist zwingend erforderlich, um die Treibhausgasemissio-nen zu reduzieren. Dabei spielt auch die Umstellung vonfossilen Energieträgern auf erneuerbare Energien einewesentliche Rolle.
Nur wenn wir die Abhängigkeit unserer Wirtschaft vonfossilen Brennstoffen reduzieren, können wir eine nach-haltige Energieversorgung erreichen.
Wir werden dies auf dem G-7-Gipfel in Brüssel erneutdeutlich machen. Deutschland ist mit seiner Energie-wende und einem Anteil der erneuerbaren Energien ander Stromerzeugung von 25 Prozent einer der Vorreitereiner nachhaltigen Energieversorgung, meine Damenund Herren.
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Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
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Dies ist auch mit Blick auf den VN-Klimagipfel Ende2015 in Paris wichtig, für dessen Gelingen Deutschlandals G-7-Präsidentschaft eine wichtige Rolle zukommenwird. Es ist kein Geheimnis, dass die Staatengemein-schaft deutlich mehr Anstrengungen unternehmen muss,um das 2-Grad-Ziel zu erreichen. Wir wollen bis 2015eine umfassende und international bindende Vereinba-rung abschließen, die dann 2020 in Kraft tritt. Wir müs-sen alles daransetzen, dass der Gipfel von Paris einErfolg wird; denn ein zweites Scheitern wie in Kopenha-gen können wir uns nicht leisten.
Eng verbunden mit der Klima- und Energiepolitik istohne Zweifel die Entwicklungspolitik. Wir werden inBrüssel vor allem die Umsetzung bestehender Initiativenvoranbringen. Dies betrifft zum Beispiel die Anfang2015 in Deutschland stattfindende Konferenz zur Wie-derauffüllung des Impffonds GAVI, die kanadischeInitiative zur Verbesserung der Mütter- und Kinderge-sundheit und die amerikanische Initiative zur Ernäh-rungssicherung. Notwendig sind auch weitere Schrittebei vertraglichen Rohstoffpartnerschaften, um Entwick-lungsländern bessere Möglichkeiten zu verschaffen, vonihrem Rohstoffreichtum auch wirklich nachhaltig zuprofitieren. Wir setzen uns besonders für die InitiativeCONNEX ein, die die Länder bei den Vertragsverhand-lungen im Rohstoffbereich rechtlich und auch mit geolo-gischer Expertise beraten soll.Die G-7-Staaten sind sich ihrer besonderen Verant-wortung bewusst, eine ambitionierte Agenda für die Zeitnach 2015, das heißt die sogenannte Post-2015-Agendafür nachhaltige Entwicklung, zu erarbeiten. Sie wissen:Die Millenniumsentwicklungsziele laufen dann aus, undwir brauchen eine Nachfolge. Alle Menschen auf der Weltsollen ein Leben in Würde führen können, und gleichzei-tig müssen wir unsere natürlichen Lebensgrundlagen schüt-zen und uns an der Regenerationsfähigkeit der Erde aus-richten – nichts anderes bedeutet Nachhaltigkeit. Das mussuns gelingen. Ich bin unserem Bundespräsidenten a. D.Horst Köhler sehr dankbar, dass er bei der Vorbereitungder zukünftigen Ziele eine ganz entscheidende Rolle ge-spielt hat.
Wir setzen uns für eine globale Partnerschaft ein, diebisheriges Denken in Kategorien wie Geber hier undNehmer dort, Nord hier und Süd dort überwindet.
Während der deutschen G-7-Präsidentschaft wird dieseine herausgehobene Rolle spielen.Meine Damen und Herren, wenn wir uns all dieseThemen des G-7-Gipfels vor Augen führen, mit denenwir uns heute und morgen in Brüssel beschäftigen wer-den, so könnte man fast meinen, es handele sich um ei-nen ganz normalen Gipfel. Das ist aber natürlich in kei-ner Weise so. Das wird schon daran deutlich, dass sichseit 16 Jahren die Staats- und Regierungschefs der wich-tigsten Wirtschaftsnationen – genauso wie heute dieFinanzminister – erstmals wieder im G-7-Format, alsoohne Russland, und nicht mehr im G-8-Format treffenwerden.Das Vorgehen Russlands bei der Annexion der Krimhat diesen Schritt unumgänglich gemacht; denn die G 8ist eben nicht nur eine ökonomische Gemeinschaft, son-dern sie ist auch eine Gemeinschaft, die Werte teilt.Dazu gehört zwingend die Achtung des Völkerrechts,des Rechts souveräner Staaten, ihre Zukunft selbst zubestimmen. Die Ukraine ist ein solcher völkerrechtlichanerkannter souveräner Staat, dessen territoriale Unver-sehrtheit Russland verletzt hat. Die Lage in der Ukrainewird deshalb einen breiten Raum in den Beratungen derG 7 einnehmen. Dies war schon beim InformellenAbendessen der europäischen Staats- und Regierungs-chefs in Brüssel vor einer Woche der Fall, das ja eigent-lich zur Beratung der Ergebnisse der Europawahlen an-gesetzt war.Bei den ebenfalls am 25. Mai abgehaltenen ukraini-schen Präsidentschaftswahlen wurde Petro Poroschenkozum Präsidenten gewählt, und zwar bereits im erstenWahlgang mit einer beeindruckenden Mehrheit. DieOSZE hat diese Wahl anerkannt. Noch Tage vorher gabes Zweifel, ob die Wahl überhaupt durchgeführt werdenkönnte; aber die große Mehrheit der Ukrainer hat sichnicht einschüchtern lassen, sondern ihre eigene ent-schlossene Antwort gegeben. Das Wahlergebnis verdeut-licht auch, dass die Kräfte in der Ukraine, die sich natio-nalistisch radikal präsentieren, glücklicherweise nur sehrgeringen Zulauf bekamen.Bis zu diesen Präsidentschaftswahlen hat die Über-gangsregierung von Ministerpräsident Jazenjuk in eineräußerst schwierigen Situation viel auf den Weg gebracht:den Beginn eines Verfassungsreformprozesses, der ne-ben rechtsstaatlichen Reformen auch die Fragen von De-zentralisierung und Sprachengebrauch in den Mittel-punkt stellt, die Runden Tische zum Nationalen Dialogfür alle Kräfte, die sich von Gewalt distanzieren – ichmöchte an dieser Stelle dem Botschafter Ischinger einganz herzliches Dankeschön sagen, der sich in diesemProzess ganz herausragend eingebracht hat –,
und die Verabschiedung wirtschaftlicher Reformgesetze,um eine wirtschaftliche Gesundheit zu ermöglichen. Alldies waren unter den gegebenen Umständen ganz we-sentliche Beiträge. Aber, meine Damen und Herren, die-ser Weg muss fortgesetzt werden. Er verdient unsere Un-terstützung. Ein solches Signal der Unterstützung gingauch vom Treffen der europäischen Staats- und Regie-rungschefs in der letzten Woche aus, und ein solches Si-gnal wollen wir auch vom G-7-Treffen aussenden.Als Bundesregierung verfolgen wir seit Beginn derUkraine-Krise eine Politik des Dreiklangs. Neben dem
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ersten Punkt dieses Dreiklangs, der gezielten Unterstüt-zung der Ukraine, steht zweitens das unablässige Bemü-hen, im Dialog mit Russland eine diplomatische Lösungder Krise zu finden. In unseren Gesprächen – des Au-ßenministers mit dem Außenminister Lawrow, auch inmeinen Gesprächen mit Präsident Putin – machen wirdeutlich, dass Russland von der Konfrontation zurKooperation zurückkehren muss.Was wir aktuell sehen, ist allenfalls ein gemischtesBild. So gibt es ermutigende Zeichen der Respektierungder Wahl und zur Rolle der OSZE, auch der Rückzug ei-nes Teils der russischen Truppen von der ukrainischenGrenze ist ein positives Zeichen. Aber gleichzeitigspricht die Lage in der Ukraine auch noch eine andereSprache. Die Annexion der Krim hält an. Berichte derVereinten Nationen und der OSZE verdeutlichen, dasssich die Menschenrechtssituation auf der Krim vor allemfür die Krim-Tataren deutlich verschlechtert hat. Die Si-tuation in der Ostukraine hat sich nach einem ähnlichenMuster, wie wir es schon vorher auf der Krim gesehenhaben, dramatisch verschlechtert. Die Berichte der Ver-einten Nationen und der OSZE enthalten besorgnis-erregende Aussagen zu systematischen Übernahmen vonoffiziellen Gebäuden und von Infrastruktur, zu den Pseu-doreferenden in einer Atmosphäre der Gewalt und derEinschüchterung, die meist von prorussischen Separatis-ten ausgeht. Russlands Föderationsrat hält die Autorisie-rung militärischer Gewalt gegen die Ukraine aufrechtund bekundet Respekt für die verfassungswidrigen Refe-renden. Hinzu kommen noch die mehrfachen gewaltsa-men Geiselnahmen von Beobachtern der OSZE durchprorussische Separatisten.Angesichts dieser Lage ist es unverändert entschei-dend, von einer Tendenz der Destabilisierung zu einerDeeskalation der Lage vor Ort zu kommen. Dabeikommt Russland eine entscheidende Rolle zu. Wir be-mühen uns deshalb darum, dass es alsbald zu Kontaktenzwischen dem neugewählten Präsidenten in der Ukraineund dem russischen Präsidenten kommt. Ganz entschei-dend ist es, dass Präsident Putin seinen Einfluss auf dieSeparatisten geltend macht, damit sie von Gewalt undEinschüchterung Abstand nehmen, die Waffen abgebenund die Besetzungen beenden. Nur so können wir wiederzu einer friedlichen Situation auf allen Seiten zurückkeh-ren.
Indem Russland seine Grenzen jedoch nicht odernicht ausreichend kontrolliert, sodass in großem UmfangKämpfer und Munition in den Südosten der Ukraine ge-langen können, trägt es weiter zur Destabilisierung desNachbarn bei. Wenn dies nicht aufhört, dann – das ist derdritte Punkt des Dreiklangs unseres Handelns – werdenwir uns nicht scheuen, weitere Sanktionen zu verhängen,Sanktionen der im März beschlossenen Stufe 3. Dies hatder Europäische Rat in der letzten Woche bekräftigt. Da-rüber sind wir uns auch in der G 7 einig. Ich sage es abernoch einmal: Sanktionen sind kein Selbstzweck. Wirwollen sie nicht. Wir wollen eine enge Partnerschaft mitRussland. Aber wenn sie unvermeidlich sein sollten,dann werden wir auch einmütig über sie befinden.Meine Damen und Herren, wir haben einen langenAtem, wenn es darum geht, Freiheit, Recht und Selbst-bestimmung auf dem europäischen Kontinent durchzu-setzen. Unsere Aufgabe ist es, die Ukraine auf ihremselbstbestimmten Weg zu schützen und altem Denken inEinflusssphären aus dem 19. und 20. Jahrhundert mitAntworten des globalen 21. Jahrhunderts zu begegnen.Im Übrigen: Gemeinsame Geschichte begründetkeine Gebietsansprüche gegenüber einem souveränenStaat. Gerade Staaten mit gemeinsamer Geschichte soll-ten mit Respekt und unter Wahrung des Rechts eng zu-sammenarbeiten und zusammenleben.
Das ist ja gerade die Grundlage, die uns in weiten TeilenEuropas in den letzten Jahrzehnten eine einzigartige Zeitdes Friedens, der Freiheit und des Wohlstands ermög-licht hat. Gemeinsame Geschichte, so schwierig sie auchim Verlaufe der Jahrhunderte immer wieder war, wurdezum Fundament von Gemeinsamkeit und europäischemZusammenwachsen.Wie glücklich wir in Europa über das europäischeFriedenswerk sein können, zeigt ja nicht nur die Lage inder Ukraine, sondern das zeigt auch und vor allem dasElend vieler Menschen anderswo auf der Welt. So wer-den auf dem G-7-Gipfel auch andere Themen eine Rollespielen: Der Bürgerkrieg in Syrien hat inzwischen über160 000 Todesopfer gefordert und destabilisiert die Län-der um Syrien herum; Libyen befindet sich in einer in-stabilen Lage; in Nigeria wütet die schreckliche Terror-organisation Boko Haram. Deshalb müssen wir auchalles daransetzen, in diesen Krisenbereichen das zu tun,was möglich ist, um den Menschen dort wieder ein ver-nünftiges Leben zu ermöglichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor diesem Hinter-grund zeigt sich: Wir können eigentlich gar nicht dank-bar genug sein, dass vor anderthalb Wochen, am25. Mai, gut 400 Millionen Europäerinnen und Europäerihr nächstes Europäisches Parlament frei, geheim undfair wählen konnten. Ich freue mich sehr, dass inDeutschland die Wahlbeteiligung im Vergleich zu 2009von 43 Prozent auf immerhin fast 48 Prozent gestiegenist und dass sich in Deutschland die überwiegende Mehr-heit der Wählerinnen und Wähler eindeutig für Europaausgesprochen hat.
Dies ist Ausdruck der Überzeugung, dass Europa unseregemeinsame Zukunft ist.In den vergangenen Wochen habe ich bei vielen Ver-anstaltungen im ganzen Land viel Zuspruch und Wert-schätzung für Europa erfahren, aber eben auch Sorgeund Kritik gehört. Unzufriedenheit und Unsicherheitsind in anderen Ländern der Europäischen Union nochviel weiter verbreitet als in Deutschland, wie wir an vie-len Wahlergebnissen sehen können. In einigen Ländern
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gibt es teilweise dramatische Tendenzen der Europa-skepsis und des Populismus. Die Ursachen für dieZustimmung zu diesen Parteien sind sicher auch im na-tionalen Umfeld zu suchen. Dennoch lassen diese Ergeb-nisse auch den Schluss zu, dass die Bürgerinnen undBürger bessere Antworten von Europa erwarten.Das verlangt konkret: Wir können und müssen dieEuropäische Union noch besser machen. Wir müssen al-les dafür tun, die Stärkung von Wachstum, Wettbewerbs-fähigkeit und vor allem Beschäftigung in das Zentrumunserer Arbeit zu stellen. Europa muss sich auf das We-sentliche konzentrieren, und dabei muss es sich an dieselbst gegebenen Regeln und Verträge halten. Wenn wirdas verstehen, dann ziehen wir im Übrigen auch die rich-tige Lehre aus der europäischen Staatsschuldenkrise undverhindern, dass sich eine solche Krise wiederholenkann.Deshalb haben wir beim Informellen Abendessen derStaats- und Regierungschefs der EU in der vergangenenWoche darüber beraten, welche politischen Prioritätendie Arbeit der Europäischen Union und ihrer Institutio-nen in den nächsten fünf Jahren bestimmen sollten. AlleStaats- und Regierungschefs der EU stimmen darin über-ein, dass sich das Handeln der Europäischen Union inden kommenden Jahren inhaltlich wie organisatorischauf die zentralen Zukunftsfragen konzentrieren muss:auf eine Agenda für Wachstum, Wettbewerbsfähigkeitund Beschäftigung, die auch die soziale Dimension zumTragen bringt; auf eine funktionierende und vertiefteWirtschafts- und Währungsunion, die den Zusammen-halt der EU-28 wahrt; auf gemeinsame Antworten zumKlimawandel und in der Energiepolitik einschließlichdes Abbaus der Energieabhängigkeit; auf die Stärkungdes Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts;auf ein geeintes Außenhandeln der Europäischen Union.Wir wollen unser europäisches Wirtschafts- und So-zialmodell im globalen Wettbewerb zum Erfolg führen.Dafür müssen wir in den Feldern stark sein, auf denen inZukunft die globale Wertschöpfung stattfindet. Wir müs-sen die Potenziale und Möglichkeiten des Freihandelsund des Binnenmarkts ausschöpfen und für eine stärkereDynamik in Forschung, Innovation und Schlüsseltech-nologien sorgen. Gerade für Europa und da insbesonderefür Deutschland als starkes Industrieland bietet die Ver-bindung klassischer Industriekompetenz mit Informa-tionstechnologien große Chancen. Mit dem Begriff„Industrie 4.0“ wird die Digitalisierung der Wertschöp-fungsketten beschrieben. Wenn die Europäische Unionihr Handeln auf Schwerpunkte wie diese konzentriert,dann – davon bin ich überzeugt – wird Europa zu neuerStärke und Stabilität finden und werden die Bürgerinnenund Bürger neues Vertrauen schöpfen.
Meine Damen und Herren, politische Prioritäten brau-chen das Personal, das diese Prioritäten vertreten undumsetzen kann. Das gilt in diesen Wochen vorneweg fürdie Wahl des nächsten Präsidenten der EuropäischenKommission. Der Vertrag von Lissabon sieht hierfür vor,dass der Europäische Rat dem Europäischen Parlamentunter Berücksichtigung des Ergebnisses der Europawahlmit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für dasAmt des Kommissionspräsidenten vorschlägt, über dendann das Europäische Parlament abstimmt. Das steht inArtikel 17 Absatz 7 der EU-Verträge. Dementsprechendhaben wir bei unseren Treffen den Präsidenten des Euro-päischen Rates, Herman Van Rompuy, beauftragt, dievertraglich vorgesehenen notwendigen Konsultationenzu führen. Er wird dem Europäischen Rat im Juni überdie Ergebnisse seiner Konsultationen berichten.Herman Van Rompuy hat angekündigt, die Konsulta-tionen mit den neu gebildeten politischen Gruppierungendes Europäischen Parlaments und ihren neu gewähltenVorsitzenden aufzunehmen. Er wird zudem bilateraleGespräche mit den Mitgliedern des Europäischen Ratesführen. Auch ich führe natürlich viele Gespräche mitmeinen europäischen Kollegen über die politischen In-halte wie auch darüber, dass ich mich für die Wahl desSpitzenkandidaten der Europäischen Volkspartei bei derEuropawahl, Jean-Claude Juncker, zum nächsten Präsi-denten der Europäischen Kommission mit der notwendi-gen qualifizierten Mehrheit einsetze, und so tut dies auchdie ganze Bundesregierung, meine Damen und Herren.
Wir alle kennen die Vorbehalte mancher Mitgliedstaa-ten, zum Beispiel die Großbritanniens. Damit das klarist: Ich teile diese Vorbehalte nicht. Aber ebenso klarsage ich auch: Ich halte es für grob fahrlässig, ja eigent-lich für inakzeptabel, mit welcher Lockerheit manchedarüber sprechen, dass es doch eigentlich gleichgültigsei, ob Großbritannien nun zustimme oder nicht, mehrnoch: ob Großbritannien Mitglied der EuropäischenUnion bleibe oder nicht, nach dem Motto: Reisende sollman nicht aufhalten. Meine Damen und Herren, das istalles andere als gleichgültig, unwichtig, egal.
Großbritannien ist wahrlich kein bequemer Partner.Großbritannien hat schon viel von Europa profitiert undbekommen. Doch umgekehrt hat Großbritannien Europaauch schon viel gegeben. Dazu lohnt es sich, in diesemgroßen Gedenkjahr aus der berühmten Rede von Bun-despräsident Richard von Weizsäcker vor beiden Häu-sern des britischen Parlaments vor fast 30 Jahren zu zi-tieren. Damals sagte Richard von Weizsäcker mit Blickauf Großbritanniens Widerstand gegen Deutschland imNationalsozialismus – ich zitiere ihn –:Was wäre aus Europa heute geworden … wenn es– also das britische Volk –nicht die Kraft gefunden hätte, seine Existenz aufsSpiel zu setzen …, um die Hoffnung aller europäi-schen Völker auf eine bessere Zukunft in Freiheitzu bewahren? Großbritannien braucht seine euro-päische Berufung nicht zu beweisen.Ende des Zitats.
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Bei allen Unterschieden, die schon dadurch deutlichwerden, dass Großbritannien am Britischen Pfund fest-hält und Deutschland aus tiefer Überzeugung für die ge-meinsame Währung, den Euro, eintritt, gilt:
Deutschland und Großbritannien teilen gemeinsameWerte und Interessen. Wir verfolgen gemeinsam wesent-liche Ziele, vorneweg das Ziel einer starken, wettbe-werbsfähigen Europäischen Union, die ihre Kräfte bün-delt. Deshalb führe ich meine Gespräche gerade auchmit Großbritannien in dem europäischen Geist, der unsEuropäern über mehr als fünf Jahrzehnte immer wiedergeholfen hat, bestmögliche Ergebnisse für alle zu finden.Das erfolgt nicht immer einstimmig. Vor allem ist esmanchmal mühsam und anstrengend; es dauert auch.Doch wie schon bei der Überwindung der europäischenStaatsschuldenkrise oder bei der Verabschiedung des eu-ropäischen Haushalts bis 2020, so folge ich auch hierdem Grundsatz „Gründlichkeit vor Schnelligkeit“. GuteErgebnisse in Brüssel, die alles bedenken, sind seltenüberstürzt zustande gekommen. Sie brauchen Zeit. Diehaben wir, und deshalb nutze ich sie.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung setztsich mit aller Kraft dafür ein, dass die Europäische Unionverloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnt, indem sieihre Prioritäten zum Wohle der Menschen setzt: fürWachstum, für Beschäftigung und für Wettbewerbsfä-higkeit. Nur mit einer starken und stabilen EuropäischenUnion können wir gemeinsam unsere Interessen undWerte selbstbewusst in der Welt vertreten und behaup-ten. Denn wir werden nie vergessen: Wir Europäer sindzu unserem Glück vereint. Gleichzeitig setzen wir ge-meinsam mit unseren Partnern in der G 7 alles daran,Frieden, Freiheit und Wohlstand in der Welt zu festigen.Dieser großen Aufgabe sind wir uns gerade in diesemJahr der bedeutenden Gedenktage besonders bewusst.Herzlichen Dank.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält die Kol-
legin Sahra Wagenknecht für die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!Frau Bundeskanzlerin, es ist ja neuerdings in der deut-schen Debatte zu einem Vorwurf geworden, wenn je-mand versucht, etwas zu verstehen. Ich glaube, zumin-dest das kann man Ihnen, Frau Merkel, nicht vorwerfen:Sie sind wirklich keine Versteherin – weder von Russ-land noch von Frankreich noch von anderen Ländern –,Sie glauben offenbar eher, die Probleme von oben herablösen zu können.
Wir müssen aufhören, eine hochgefährliche halbhe-gemoniale Stellung, in die die Bundesrepublik wie-der hineingerutscht ist, in alter deutscher Manierrücksichtslos auszuspielen.Das schreibt Ihnen und der gesamten Bundesregierungder Philosoph Jürgen Habermas ins Stammbuch. Ermeint damit vor allem, aber nicht nur den demütigendenUmgang mit Frankreich.Am 25. Mai ist bei den Europawahlen in Frankreichder Front National von Marine Le Pen stärkste politischeKraft geworden. Auch in anderen europäischen Ländernhaben nationalistische, rechtspopulistische, teils offenfaschistische Kräfte – wie die Goldene Morgenröte inGriechenland – kräftig zugelegt. Wenn das nicht alsWeckruf taugt, dass es in Europa nicht so weitergehenkann wie bisher, worauf wollen Sie dann noch warten?
Darauf, dass Frau Le Pen französische Präsidentin wird?Und jetzt sagen Sie nicht, Deutschland habe mit derwirtschaftlichen Misere in Frankreich nichts zu tun. DieAgenda 2010 war nicht nur eine massenhafte Enteig-nung deutscher Arbeitnehmer, die heute im Schnitt3,6 Prozent weniger Lohn bekommen als im Jahr 2000,sondern das durch Leiharbeit, Werkverträge, Minijobs,sachgrundlose Befristung ermöglichte Lohndumpingdeutscher Unternehmen war natürlich auch ein massiverAngriff auf die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Kon-kurrenten, denen solche Knebelinstrumente zur Erpres-sung ihrer Arbeitnehmer nicht zur Verfügung standen.
Auch damit hängt zusammen, dass zum Beispiel Länderwie Frankreich und Italien seit Einführung des Euro ei-nen erheblichen Teil ihrer industriellen Kapazitäten ver-loren haben.Der französische Mindestlohn liegt mit 9,53 Euroüber 1 Euro höher als der Mindestlohn, den Sie jetzt mitdem Gestus einer sozialen Heldentat endlich in Deutsch-land einführen wollen und den Sie auch noch durch Aus-nahmen durchlöchern werden.Sicher, nach Ihrer Logik könnte Frankreich seinenMindestlohn natürlich auch absenken. Wahrscheinlichsehen Sie es sogar als Erfolg Ihrer Politik an, dass mitt-lerweile unter dem Druck der Krise die Löhne europa-weit sinken; dass ein Großangriff auf Arbeitnehmer-rechte gleich der Agenda 2010 jetzt in ganz Europa läuft;dass überall die Ausgaben für Bildung, für Gesundheit,für Renten zusammengestrichen und die Sozialsystemezerstört werden.Aber finden Sie es wirklich so erstaunlich, dass sichimmer mehr Menschen von einem Europa abwenden,das sie als Lobbyistenklub für Banken und große Unter-nehmen empfinden und das sie verantwortlich machen fürdie Zerstörung ihrer Arbeitsplätze, für die Zerstörung ih-
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Dr. Sahra Wagenknecht
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rer sozialen Sicherheit und ihres Wohlstands; dass immermehr Menschen eine EU als Bedrohung empfinden, dienichts mehr zu tun hat mit den großen Ideen der Freiheit,der Demokratie, der Solidarität und der Sozialstaatlich-keit, die sie stattdessen entmündigt und ihre demokrati-schen Entscheidungsmöglichkeiten einschränkt, eineEU, die unter Solidarität nur noch den perversen Vor-gang versteht, Hunderte Milliarden für Rettungsschirmezu verpulvern, die am Ende nur reichen Anlegern undBanken etwas nützen, eine EU, die mit ihrem Marktfana-tismus und ihrer Wirtschaftshörigkeit die Kluft zwischenArm und Reich in Europa immer tiefer aufreißt?
Wer sich wundert, dass auf einem solchen Boden die na-tionalistische und rechtspopulistische Saat gedeiht, derhat nichts, aber auch wirklich gar nichts verstanden.
Das ist auch Ihre Saat, Frau Merkel, das ist auch das Er-gebnis der von Ihnen verantworteten Politik.
Wer glaubt, eine Lösung der Euro-Krise sei auf denWeg gebracht, weil Hedgefonds inzwischen wieder grie-chische Staatsanleihen kaufen, der verwechselt die Weltder Finanzzocker mit dem realen Leben.
Ein arbeitsloser Jugendlicher in Spanien, der auf abseh-bare Zeit keine realistische Chance auf einen Wiederein-stieg ins Arbeitsleben hat, oder ein diabeteskranker Grie-che, der nicht mehr weiß, wie er sein Insulin bezahlensoll, die haben den Luxus einer solchen Verwechslungnicht; ihr Leben spielt in der realen Welt, und sie spüren,dass diese ihnen kaum noch eine Zukunft bietet.Wenn sich das nicht ändert, wenn die Krisenlastennicht endlich von denen getragen werden, die von derganzen Party profitiert haben, wenn die Armut in Europaweiter wächst und wenn der soziale Ausgleich scheitert,dann scheitert Europa, und das ist dann auch Ihre Mit-verantwortung, Frau Bundeskanzlerin.
In der Ukraine ist Europa schon gescheitert. Das Landversinkt in einem blutigen Bürgerkrieg. Wie schön klan-gen doch die blumigen Versprechungen, die Sie denUkrainern noch vor wenigen Monaten gemacht haben.Angeblich wollte die deutsche Regierung die Kräfte, diefür Demokratie, für Freiheit und für Europa sind, gegenjene unterstützen, die für Oligarchie, für Armut und fürKorruption stehen. Heute unterstützen Sie eine Regie-rung, der vier Minister einer offen antisemitischen undantirussischen Nazipartei angehören, eine Regierung, dieden Konflikt erst richtig angeheizt hat und heute brutalKrieg gegen die eigene Bevölkerung führt.
Sie stützen einen Präsidenten, der seine Wahlkampagnemit seinem milliardenschweren Raubvermögen und ei-nem eigenen Fernsehsender betrieben hat, einen Oligar-chen, der dem früheren Staatschef Janukowitsch an Kor-ruption, Gangstertum und krummen Geschäften in nichtsnachsteht und der übrigens auch einmal sein Ministerwar.Damit es nicht zu peinlich wird, belügen Sie die Öf-fentlichkeit hinsichtlich der wahren Situation in derUkraine, zu der eben gehört, dass schwerreiche Oligar-chen wie afghanische Warlords eigene Privatarmeen fi-nanzieren und das Land schamlos ausplündern, währendein Großteil der Ukrainer in drückender Armut lebt, ei-ner Armut, die sich infolge der jetzt dem Land von derEU und vom IWF diktierten Kürzungen weiter verschär-fen wird. Sie verschweigen, dass bewaffnete Schläger-trupps des Rechten Sektors nach wie vor auf demMaidan kampieren, dass sich Linke in vielen Teilen derUkraine nicht mehr ohne Gefahr für Leib und Leben freibewegen können und dass die Regierung statt einer Ent-waffnung dieser marodierenden Nazibanden lieber einParteiverbot der Kommunistischen Partei betreibt.Der Mord an über 40 Zivilisten in einem Gewerk-schaftshaus in Odessa, das von diesem rechten Mob an-gezündet wurde und in dem die Opfer lebendig ver-brannten, ist leider keine russische Propaganda, sonderngrausame Realität,
eine Realität, die mit dem von Ihnen gemalten Bild einerweltoffenen proeuropäischen Ukraine nichts zu tun hat.
Ist es nicht geradezu verantwortungslos, einer Regie-rung, die so offenkundig elementarste demokratischeMaßstäbe verletzt, auch noch mit Milliarden an EU-Geldunter die Arme zu greifen? Wäre es nicht sehr viel nahe-liegender, sich dafür einzusetzen, dass die Raubvermö-gen der Oligarchen endlich der ukrainischen Bevölke-rung zurückgegeben werden? Da liegt genug Geld, umdie Finanzprobleme der Ukraine zu lösen.
Schluss mit Oligarchie und Korruption! Demokratieund bessere soziale Absicherung: Das waren die Anlie-gen der ursprünglichen Maidan-Bewegung. Sie wurdenvon den aktuellen Machthabern in Kiew komplett verra-ten – auch von Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, indem Siediese Machthaber unterstützen.
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3264 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Juni 2014
Dr. Sahra Wagenknecht
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Was für die EU gilt, das gilt genauso für die Ukraine.Nur wenn die Menschen eine soziale Perspektive haben,wird auch das Land eine haben.Die erste Bedingung dafür ist ein Ende des Bürger-kriegs. Der neue Präsident unternimmt noch nicht ein-mal den Versuch, die Lage zu deeskalieren. Er will keineGespräche und keine Verhandlungen, sondern den gna-denlosen Einsatz militärischer Gewalt, obwohl jede Er-fahrung lehrt, dass es in Bürgerkriegen keine schnellenSiege gibt, sondern nur endloses Blutvergießen.Frau Merkel und Herr Steinmeier, wenn Sie nach allden Fehlschlägen Ihrer Ukraine-Diplomatie zu einer ver-antwortungsvollen Außenpolitik zurückkehren wollen,dann setzen Sie Poroschenko unter Druck, den Krieg ge-gen die eigene Bevölkerung zu stoppen
und den Weg zu Verhandlungen und einem Waffenstill-stand zu eröffnen. Dann können Sie das Putin auchglaubwürdig sagen und ihn entsprechend unter Drucksetzen.
Dazu gehört es aber eben, die legitimen Interessen al-ler Seiten ernst zu nehmen. Genau das hat der Westengegenüber Russland über Jahre sträflich vernachlässigt.Heute sieht es doch selbst der frühere US-Verteidigungs-minister Robert Gates so, dass die NATO-Osterweite-rung ein Fehler war, ein Fehler, der – so Gates wörtlich –„die Ziele der Allianz untergrub und das, was die Russenals ihre nationalen Lebensinteressen betrachteten, ver-antwortungslos ignorierte“.Genauso verantwortungslos ist es, über Artikel 10 desEU-Assoziierungsabkommens die Ukraine in eine ge-meinsame Verteidigungspolitik mit der EU und damitfaktisch in eine Kooperation mit der NATO einbinden zuwollen. Genauso verantwortungslos ist die absurdeSanktionsdebatte, die das Klima weiter verschlechtert
und die das Potenzial hat, der deutschen und der europäi-schen Wirtschaft massiv zu schaden, während sich US-amerikanische Gas- und Ölkonzerne ins Fäustchen la-chen.Es gibt keinen Frieden und keine Sicherheit in Europaohne oder gegen Russland.
Es liegt deshalb in der unbedingten Verantwortung derBundesregierung, sich klar und entschieden gegenObamas erschreckende Kriegsrhetorik und die angekün-digte Truppenstationierung in Osteuropa auszusprechen.Wir brauchen keine weitere militärische Provokation.
Wir brauchen auch nicht noch mehr Waffen in dieserwaffenstarrenden Welt.
Wer genau 100 Jahre nach dem Beginn des ErstenWeltkrieges und nach den Gräueln des Zweiten Welt-krieges immer noch über führbare Kriege inmitten vonEuropa nachdenkt und fantasiert,
der ist, muss ich sagen, krank im Kopf und der muss indie Schranken gewiesen werden, egal ob er Obama,Rasmussen oder sonst wie heißt.
Deshalb, Frau Merkel: Lösen Sie sich endlich ausdem Schlepptau dieser US-Kriegspolitik.
Setzen Sie sich – möglichst gemeinsam mit Frankreich –dafür ein, dass Europa sich diesem Eskalationskurs ver-weigert.Der französische Historiker Emmanuel Todd hatDeutschland ein vernichtendes Zeugnis ausgestellt.
– Emmanuel Todd. Falls Sie den Namen noch nicht ge-hört haben, sollten Sie sich einmal belesen.
Ich zitiere ihn:Unbewusst … sind die Deutschen heute dabei, ihreKatastrophen bringende Rolle für die anderen Euro-päer – und eines Tages auch für sich selbst – wiedereinzunehmen.
Wenn Ihnen das nicht zu denken gibt, wenn Sie das alsFrechheit denunzieren, dann tut es mir wirklich leid.
Frau Bundeskanzlerin, die deutsche Europapolitikstand einmal in einer anderen Tradition. Sie stand in ei-ner Tradition, die begründet wurde durch den Bruder-kuss Charles de Gaulles und Adenauers im Elysée, durchden Händedruck Mitterrands und Helmut Kohls über denGräbern von Verdun und durch den Kniefall WillyBrandts in Warschau, mit dem er Deutschland für immerverpflichtete, gegen Judenhass und Rassismus in allerWelt vorzugehen, und der den Geist seiner Ost- und Ent-spannungspolitik symbolisch zum Ausdruck brachte.Knüpfen Sie endlich wieder an diese Tradition der deut-schen Außen- und Europapolitik an!
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Juni 2014 3265
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Das Wort erhält nun der Kollege Axel Schäfer für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieSPD-Bundestagsfraktion unterstützt die Regierungs-erklärung der Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sietragenden Minister und all das, was in diesem Zusam-menhang insbesondere der deutsche AußenministerFrank Steinmeier in den letzten Tagen und Wochen getanhat.
Da meine Redezeit begrenzt ist, liebe KolleginWagenknecht, nur zwei Hinweise: Erstens. Es ist unak-zeptabel, das, was wir hier in Deutschland politisch um-setzen und was wir auch kontrovers diskutieren, in ir-gendeiner Weise mit dem Erstarken faschistischer undfremdenfeindlicher Kräfte in einen Zusammenhang zubringen. Das ist weder die Politik der Union noch diePolitik der Grünen noch die Politik der Sozialdemokra-ten.
Zweitens. Es ist genauso unakzeptabel und unredlich,hier ständig über die Frage eines Krieges zu reden, wäh-rend die Mitglieder aller Fraktionen und der Regierung– die Kanzlerin hat das noch einmal deutlich gemacht –sich klar gegen militärische Lösungen ausgesprochenhaben. Das müssen Sie doch irgendwann einmal zurKenntnis nehmen.
Reden wir jetzt einmal darüber, was uns in Europaverbindet. Ich finde, es ist ein wichtiger Punkt, dass amD-Day auch Deutsche in Tradition dessen, was Richardvon Weizsäcker am 8. Mai 1985 zur Befreiung von dernationalsozialistischen Diktatur in Deutschland und inEuropa und zu der besonderen Verantwortung, die wirhaben, erklärt hat, den Alliierten danken. Deshalb ist eswichtig, dass die Bundeskanzlerin an diesem Tag auchmit Präsident Putin redet. Sie hat unser volles Vertrauendafür, diesen Dialog mit Russland fortzusetzen.
Es gibt einen zweiten Punkt. Ich danke allen Wahlbe-obachterinnen und Wahlbeobachtern
der CSU, der CDU, der Grünen, der SPD und der Links-partei, die als Vertreter der OSZE und anderer internatio-naler Organisationen in die Ukraine gereist sind, um dortnicht nur in Worten, sondern auch durch Präsenz und de-mokratisches Handeln für faire, gerechte und freie Wah-len einzustehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dafürgilt ihnen, hoffe ich, der Dank des ganzen Hauses. Daswar eine richtige und mutige Tat.Ich selbst durfte vor zehn Jahren bei der Orangen Re-volution in Donezk, der Partnerstadt meiner HeimatstadtBochum, mit dabei sein. Das war diesmal leider nichtmöglich. Diesen Weg der Partnerschaft und des Einste-hens für Demokratie durch das ganze Haus müssen wirauch gemeinsam weitergehen.
Der dritte Punkt. Wir haben am 25. Mai die Direkt-wahl zum Europäischen Parlament durchgeführt. Es istein wichtiger Schritt auf dem Wege der Parlamentarisie-rung der Gemeinschaft, dass die Fraktionen der Europäi-schen Volkspartei – dazu gehören die Christdemokratenmit ihrem künftigen Vorsitzenden Manfred Weber –, derGrünen mit ihrer Vorsitzenden Rebecca Harms, der So-zialdemokraten mit ihrem künftigen Fraktionsvorsitzen-den Martin Schulz sowie der Linkspartei mit ihrer Frak-tionsvorsitzenden Gabi Zimmer und, nicht zu vergessen,die liberale Fraktion, die zusammen über 500 Mitgliederdes neugewählten Parlaments repräsentieren und auchalle hier im Bundestag vertreten sind, direkt nach derWahl gesagt haben: Ja, wir stehen mit unseren Parteifa-milien dazu, dass der Sieger der Europawahl zuerst dieMöglichkeit bekommt, als Präsident gewählt zu werden.Das ist Jean-Claude Juncker, ein Christdemokrat ausLuxemburg. Wir alle wünschen Jean-Claude Juncker al-les Gute, dass es ihm gelingt, eine Mehrheit zu finden.Wir erwarten von den Staats- und Regierungschefs, dasssie dies akzeptieren. Sie sind nicht mehr Formateur einereuropäischen Regierung, der Kommission, sondern siesind der politische Notar, der Dinge voranbringen muss,und wir werden sie dabei unterstützen.
Ich sage das auch, weil das ein Stück Geschichte desDeutschen Bundestages ist. Unsere Vorgängerinnen undVorgänger haben schon in den 60er-Jahren dafür ge-kämpft, dass das Europäische Parlament direkt gewähltwird. Das war noch zu Adenauers Zeiten.Wir haben als Zweites durchgesetzt, dass es eine par-lamentarische Frauenquote gibt, was auch in der SPDnicht ganz einfach war. Das war in der Zeit von WillyBrandt und Helmut Schmidt.Wir haben drittens im Europäischen Parlament einkommunales Wahlrecht durchgesetzt und erreicht, dassdas Europäische Parlament gleichberechtigt mit ent-scheidet. Das war schon zur Zeit Helmut Kohls. DasGanze ist dann mit dem Vertrag von Lissabon vollendetworden.
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Axel Schäfer
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Und wir haben viertens mit einer Initiative des Deut-schen Bundestages und des SPD-Abgeordneten Profes-sor Dr. Jürgen Meyer, Ulm, erreicht, dass wir eine euro-päische Bürgerinitiative, das heißt die Möglichkeit derdirekten Demokratie, in die europäischen Verträge auf-nehmen. Das ist ein gemeinsamer parlamentarischer Er-folg in Europa. Aber das ist auch das Ergebnis aller pro-europäischen Kräfte, die im Bundestag wirken. Damitsollten wir gerade nach dem 25. Mai stolz und selbstbe-wusst umgehen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Der 25. Mai war leider auch ein Tag der Erstarkungvon antieuropäischen, fremdenfeindlichen, nationalisti-schen bis hin zu rechtsextremistischen Kräften. Diesesollten wir hier in diesem Haus gemeinsam bekämpfen.Wir gehen keinen Schritt zurück. Wir stehen zu dem,was in Hunderten Verträgen in allen Mitgliedstaaten seitüber 60 Jahren mit verfassungsgebenden Mehrheiten anEuropa bzw. an Gemeinschaft geschaffen worden ist.Wir brauchen uns für nichts, was in Europa als Gemein-schaft vorangebracht worden ist, zu entschuldigen, fürabsolut nichts und bei niemandem. Wir machen das mitgeradem Rücken und mit klarem Blick, und wir führendiese Auseinandersetzung mit offenem Visier.
Das heißt gleichzeitig: Wir stellen uns jeder Kritik,die an konkreten europäischen Problemen wie der Be-kämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, der Bankenkon-trolle und Maßnahmen zur Antidiskriminierung geübtwird.
Aber wir werden nicht zulassen, dass diejenigen, die dieEuropäische Union in Wort und Tat zerstören wollen, aufkeinen Widerstand stoßen. Ich sage als Sozialdemokratganz klar in Richtung Großbritannien und in Erinnerungan das, wofür schon Helmut Schmidt als Kanzler anläss-lich der Volksabstimmung 1975 gekämpft hat, als esdarum ging, dass das United Kingdom in der Europäi-schen Gemeinschaft bleibt: Wir werden alles tun, dassGroßbritannien dabeibleibt. Nutzen wir die Möglichkei-ten, die wir politisch haben, sei es über bilaterale Part-nerschaften oder in europäischen Gremien. Aber einesist auch klar: Herr Cameron, der in Europa im Bremser-häuschen sitzt, darf nicht den Zug der europäischen Eini-gung zum Entgleisen bringen. Das werden wir nicht zu-lassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, fünf Fraktionen imEuropäischen Parlament werden einen wichtigen Beitragdazu leisten, dass der Wahlsieger Jean-Claude JunckerKommissionspräsident wird. Der Deutsche Bundestagsollte genau dies unterstützen. Glück auf!
Katrin Göring-Eckardt ist die nächste Rednerin fürdie Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Bundeskanzlerin, nach Ihrer Rede frage ich micherneut: Was haben Sie uns eigentlich zum Kommissions-präsidenten sagen wollen? Herr Schäfer hat ein paarklare Worte gesagt. Von Ihnen habe ich gehört: Ja odervielleicht; ja, wenn nicht Frau Lagarde, oder „mal se-hen“. – Das Lavieren hat kein Ende. Es hat erst einenKatholikentag gebraucht, damit Sie fünf Tage nach derEuropawahl wenigstens einmal den Namen von HerrnJuncker ausgesprochen haben.
– Ich finde das großartig. – Ich finde das aber vor allenDingen paradox. Da wird diese Europawahl zum Duellder Spitzenkandidaten ausgerufen – in diesem Fall mussman bei der männlichen Formulierung bleiben –, auf dereinen Seite die Konservativen und auf der anderen Seitedie Sozialdemokraten, und danach sind es im Europapar-lament die Grünen, die Liberalen und die Sozialdemo-kraten, die sagen: Der Konservative soll sich um eineMehrheit bemühen. – Frau Merkel, ich finde, das, wasSie hier tun, ist eine Schwächung der EuropäischenUnion, eine Schwächung des Europäischen Parlaments.
Es ist damit auch eine Schwächung der europäischenIdee. Wenn es darum geht, Demokratie durchzusetzen,dann muss Schluss sein mit der Hinterzimmerpolitik.Darum geht es in diesen Tagen in Europa.
Zwischendurch habe ich mir einmal vorgestellt, wasgewesen wäre, wenn nach einer Bundestagswahl dieWahlsiegerin Frau Merkel hieße und dann jemand sagenwürde: Sie werden es bestimmt nicht!
Ich kann mich an eine solche Situation erinnern; das war2005.
Das ist regelrecht schröderesk, was Sie hier machen,Frau Merkel. Insofern sage ich klar und deutlich: Beken-nen Sie sich endlich zu den Mehrheiten, und sagen Sieeindeutig, was Sie tatsächlich wollen! Ich finde, Sie kön-nen zu dem Spitzenkandidaten, den Sie ausgerufen ha-ben, stehen. Sie sollten nicht herumlaufen und sagen:Schauen wir einmal, was das Europäische Parlamentmacht; das könnten wir am Ende noch berücksichtigen. –Da hilft es auch nichts, Paragrafen vorzulesen. Wenn
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Katrin Göring-Eckardt
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man für Europa kämpfen will, dann muss man das mitLeidenschaft tun, gerade an so einer Stelle.
Was es heißt, wenn man das nicht macht, was esheißt, wenn man Europa von vornherein diffamiert, daskann man ganz gut bei Ihrem Kollegen aus Bayern se-hen, Herrn Seehofer.
– Herr Seehofer ist aber aus Bayern.
Er ist dort Ministerpräsident und CSU-Vorsitzender. –Frau Hasselfeldt musste schon zu sehr starken Wortengreifen.
„Testosterongesteuert“ hat sie Herrn Seehofer genannt.Da scheint einiges los zu sein in der CSU.
Ich kann nur sagen: Entweder man bekennt sich zuEuropa, oder man bereitet denen den Boden, die mitPopulismus und Ausländerfeindlichkeit arbeiten, die ge-gen eine Willkommenskultur in Deutschland sind, diedagegen sind, dass dieses Europa tatsächlich eine ge-meinsame Sozialunion ist und bleibt, die dagegen sind,Europa stark zu machen. Denen bereitet man auf dieseWeise den Boden. Deswegen ganz klar und deutlich:Wer für Europa kämpft, macht es nicht wie die CSU inBayern.
Meine Damen und Herren, die Krise in der Ukrainezeigt uns sehr gut, wie sehr wir Frieden und Rechtsstaat-lichkeit zu schätzen wissen sollten. Der Kampf dafürhier bei uns ist eben auch ein Zeichen für die Leute, diedort mit ihrem Leben dafür eintreten, dass das gelingt.Frau Wagenknecht, wenn ich mir Ihr Weltbild anschaue,das Sie uns heute hier präsentiert haben,
dann muss ich sagen: Kein Wort über die Krim, keinWort über den Exodus der Tataren, kein Wort darüber,dass dort tatsächlich Wahlen stattgefunden haben! Ent-schuldigung, bedeutet Ihnen denn das gar nichts?
Sie reden hier wieder von dem Einfluss von Neofa-schisten in der Regierung der Ukraine. Meine Güte, diehaben am Sonntag, als auch die Europawahl stattfand,bei der Wahl zum Präsidenten der Ukraine noch nichteinmal 2 Prozent der Stimmen bekommen. Können Siedas wenigstens einmal zur Kenntnis nehmen, auch wenndas vielleicht einen Moment an Ihrem Weltbild kratzt,Frau Wagenknecht?
Wenn Sie sich hierhinstellen und versuchen, mit bil-ligstem Populismus auf dem Rücken der Menschen inder Ukraine, die es wahrlich nicht leicht haben, ich weißnicht was zu erreichen – möglicherweise wollen Sie inIhrer eigenen Partei eine Mehrheit bekommen; manch-mal scheint mir das der eigentliche Grund für Ihre Redezu sein –, dann kann ich nur sagen: Das geht nicht. Dortversuchen Menschen, ein demokratisches Land aufzu-bauen, dort versuchen Menschen, für Frieden zu sorgen.Sie werden unterstützt, ja, sie werden auch von unsunterstützt. Wer das nicht akzeptiert und wer das nichtmit unterstützt, der stellt sich außerhalb von Friedens-bemühungen und außerhalb von Demokratie, FrauWagenknecht.
Die Herausforderungen in Europa werden wahrlichnicht geringer. Die Europäische Union muss mit ehrgei-zigen Klimazielen in die UN-Verhandlungen im nächs-ten Jahr gehen. Ein ambitioniertes Klimaschutzabkom-men wäre doch einmal etwas. Frau Merkel, Sie stellensich hierhin, sagen: „wichtig, wichtig“, aber Sie handelnnicht danach. Klar, wir müssen unsere Abhängigkeit vonrussischen Gasimporten verringern, aber doch bestimmtnicht durch Fracking oder durch Atomenergie und ganzbestimmt nicht durch Kohleenergie.
Es geht um den Ausbau der erneuerbaren Energien, esgeht um die Energieunion, vor allem durch den Umstiegauf die Erneuerbaren. Das wäre die Fortsetzung des Frie-densprojekts Europa im 21. Jahrhundert.Barack Obama hat vorgelegt und gezeigt, dass Klima-schutz Führung und Mut braucht und man sich auch ein-mal gegen Mehrheiten stellen muss, wenn man Verant-wortung für die Zukunft übernehmen will. Wo ist IhrEngagement für ambitionierte Klimaschutzziele? Sie sa-gen, Deutschland sei Vorreiter. Ich sage: Nein, Deutsch-land war einmal Vorreiter, aber inzwischen steigen dieCO2-Emissionen wieder, und der Ausbau der erneuerba-ren Energien wird ohne Not ausgebremst. Wenn Klima-schutz wirklich Chefsache wäre, dann würden Sie,meine Güte, im Herbst nach New York zur Klimakonfe-renz fahren, statt zu Hause zu bleiben und das KlimaKlima sein zu lassen.
Mit Blick nach Brandenburg muss man klar und deut-lich sagen: Wer jetzt neue Tagebaue aufmacht, um nochmehr dreckige Kohle zu fördern, der macht das zu80 Prozent gegen die Bevölkerung in Brandenburg undder macht es zu 100 Prozent gegen den Klimaschutz.SPD und Linke haben das beschlossen, und ich kann nursagen: Das hat nichts mit Klimaschutz zu tun. Sie sollten
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Katrin Göring-Eckardt
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hier nicht mehr herumlaufen und davon reden, dass Sieden Kohleausstieg wollen; Sie sollten hier nicht mehrherumlaufen und davon reden, dass Sie für den Klima-schutz sind.
Das gilt auch für das Fracking. Wenn eine Verord-nung beschlossen werden soll, die am Ende dafür sorgt,dass für 86 Prozent der Fläche in Deutschland Frackingerlaubt ist, dann hat das mit Trinkwasserschutz und Ge-sundheitsschutz nichts mehr zu tun; vielmehr geht es da-rum, Fracking grundsätzlich zu erlauben. Darum sollman nicht herumreden. Auch das hat nichts mit Klima-schutz zu tun.
Meine Damen und Herren, am Schluss will ich auf et-was eingehen, was mich an Ihrer Rede, Frau Merkel, ge-ärgert hat,
ja, besonders betroffen gemacht hat. Wenn man über dieKrisenherde in der Welt mit drei Sätzen redet, wenn mandarüber redet, wie die Situation in Syrien ist und gleich-zeitig kein Wort dazu verliert, dass wir nicht nur dieAufgabe haben, im Rahmen der Möglichkeiten dort zuhelfen, sondern dass es ein Mindestmaß an Menschlich-keit wäre, wenn wir endlich sagen würden: „Wir müssenhier mehr Flüchtlinge aufnehmen“,
dann entgegne ich klar und deutlich: Das ist eine falscheSchwerpunktsetzung.Ich will Ihnen sagen: Wenn wir in Europa eine men-schenwürdige Flüchtlingspolitik machen wollen, dannheißt das für uns als Erstes, Verantwortung hier inDeutschland zu übernehmen und dafür zu sorgen, dasswir eine Willkommenskultur haben, dafür zu sorgen,dass wir ein offenes Europa haben, dafür zu sorgen, dasswir ein Europa der Vielfalt haben, ein Europa, das wirnicht den Rechten an die Hand geben, ein Europa, beidem wir klar und deutlich sagen: Nein, die AfD ist keinePartei, die sich in irgendeiner Weise für Europa einsetzt,sondern eine Partei, die sich gegen Europa einsetzt. Dassollten Sie Ihren Kollegen in Sachsen vielleicht einmalklar und deutlich sagen. Schließlich stellen sich HerrTillich und Herr Flath hin und behaupten, sie könntensich vorstellen, nach der Landtagswahl mit der AfD zu-sammenzuarbeiten.
Das ist eine klare Ansage gegen Europa, und das ist aucheine klare Ansage gegen all das, was wir mit Vielfalt undLiberalität in unserem Land und in Europa erreichenwollen.
Ein solidarisches, friedfertiges Europa, darum muss esauch an dieser Stelle gehen.Vielen Dank.
Nun erhält die Kollegin Dağdelen das Wort für eine
Kurzintervention.
Frau Kollegin Göring-Eckardt, Ihre Rede gerade erin-nerte mich an den großen Dichter und Denker BertoltBrecht, der einmal treffend formuliert hat:Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß einDummkopf. Aber wer sie weiß und sie eine Lügenennt, der ist ein Verbrecher!
Es entsetzt mich – ich bin darüber wirklich schockiert –,dass Sie hier die Behauptung aufstellen, dass sich mitden geringen Stimmenzahlen für die Kandidaten derSwoboda oder des Rechten Sektors das Problem desNeofaschismus, das Problem des Antisemitismus in derUkraine erledigt habe.
Sie wissen ganz genau, dass das nicht stimmt. DreiMinister der Regierung in Kiew, also der Regierung derUkraine, sind Mitglied der neofaschistischen ParteiSwoboda. Ein Minister dieser Regierung steht derSwoboda nahe. Ein weiterer Minister gehört der UNA-UNSO, einer neofaschistischen Organisation, an. Dasheißt, eigentlich haben fünf Minister dieser Regierungeinen neofaschistischen Hintergrund. Der Rechte Sektorkontrolliert weiterhin den ukrainischen Sicherheitsappa-rat.
Sie haben vergessen, davon zu sprechen, dass der Prä-sidentschaftskandidat der extrem rechten Radikalen Par-tei, Oleg Ljaschko, über 1,5 Millionen Stimmen unddamit über 8 Prozent bei der sogenannten Präsident-schaftswahl bekommen hat. Sie haben von diesen Wah-len gesprochen, ohne auch nur ein einziges Mal daraufhinzuweisen, unter was für Kriegsumständen sie stattge-funden haben.
Kandidatinnen und Kandidaten, zum Beispiel vonBorotba oder der KP in der Ukraine, und viele anderehaben ihre Kandidaturen zurückgezogen, weil sie vonFaschisten bedroht worden sind. Der Kandidat der Parteider Regionen ist während seiner Kandidatur unter Haus-arrest gestellt worden. Wie kann man da eigentlich vonfreien, fairen Wahlen sprechen, frage ich Sie.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Juni 2014 3269
Sevim Dağdelen
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Ich bin wirklich entsetzt darüber, wie hier die Fa-schisten, die Antisemiten verharmlost werden.
Ich bin entsetzt über diesen Tabubruch der deutschenAußenpolitik, die von Ihnen, Frau Kollegin, mitgetragenwird. Das ist wirklich schändlich.
Frau Göring-Eckardt hat das Wort zur Erwiderung.
Frau Dağdelen, ich nehme zur Kenntnis, dass Sie
Wahlen, die in der Ukraine stattgefunden haben, ignorie-
ren wollen.
Frau Dağdelen, ich nehme auch zur Kenntnis, dass Sie
die Situation in einem Land mit einer Freiheitsbewe-
gung, die auf dem Maidan begann und die in alle Teile
des Landes ausgeweitet worden ist, so sehen. Unter
schwierigsten Bedingungen haben dort Wahlen stattge-
funden. Diese schwierigsten Bedingungen waren wohl
vor allem, dass insbesondere im Osten der Ukraine Se-
paratisten, die aus Russland unterstützt worden sind, da-
für gesorgt haben, dass Menschen Angst hatten, ins
Wahllokal zu gehen. Trotzdem haben es viele gemacht.
Trotzdem wurde versucht, diese Wahlen so frei und so
fair wie möglich durchzuführen.
Die OSZE hat klar und deutlich festgestellt: Ja, diese Wah-
len waren frei. Ja, diese Wahlen sind zu akzeptieren. –
Frau Dağdelen, ich finde, dann könnten Sie auch einmal
eine Sekunde darüber nachdenken, ob Sie diese Wahlen
ebenfalls akzeptieren können.
Ich glaube, dass Sie nicht akzeptieren, dass es ein
schwieriger Weg ist, bei dem es nicht einfach Ja und
Nein gibt. Es ist ein schwieriger Weg, dafür zu sorgen,
dass Demokratie auch tatsächlich einziehen kann, dass
Korruption tatsächlich bekämpft werden kann; dafür
sind die Leute nämlich auf die Straße gegangen.
Es ist wohl klar und deutlich – das sage ich für die Frak-
tionen, die hier in diesem Haus sitzen, für die SPD, für
die Union genauso wie für uns, und für jedes Mitglied
der Bundesregierung –: Niemand hier wird Faschisten
unterstützen wollen. Sie sollten aufhören mit dieser ab-
surden Unterstellung, Frau Dağdelen!
Wenn Sie Bert Brecht zitieren wollen, Frau Dağdelen,
tun Sie das gern weiter. Ich jedenfalls werde nicht akzep-
tieren, dass Sie mich eine Verbrecherin nennen.
Ich will ausdrücklich sagen, dass es auch in einer
politischen Auseinandersetzung und in einer heftigen
Debatte – das möchte ich an Sie richten, Frau Dağdelen –
nicht gerechtfertigt ist, Kolleginnen und Kollegen etwas
zu unterstellen, für das es überhaupt keine sachliche Be-
gründung gibt.
Jetzt hat der Kollege Schockenhoff das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich will unterstreichen, was die Bundeskanzlerin zuRecht betont hat: Die Ukrainer haben Petro Poroschenkobei einer Wahlbeteiligung von deutlich über 60 Prozentim ersten Wahlgang mit 54 Prozent zu ihrem Präsidentengewählt. Das ist ein starkes Zeichen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion gratuliert Herrn Poroschenko zu die-sem wichtigen Sieg. Er tritt eine äußerst schwierige Auf-gabe an.Die Debatte, die wir hier führen, verwundert michschon etwas. Es lohnt sich aber nicht, darauf weiter ein-zugehen.Herr Schäfer hat zu Recht allen gedankt, die als Wahl-beobachter dabei waren. Frau Dağdelen, Mitglieder IhrerFraktion waren an der OSZE-Wahlbeobachtermissionbeteiligt, und sie haben diese Wahl als frei und fair be-zeichnet. Wenn Ihnen, Frau Dağdelen, nun das Ergebnisnicht passt – Sie haben wörtlich von einer „sogenanntenPräsidentschaftswahl“ gesprochen –, dann zeigt dies,dass Sie noch nicht in der Demokratie angekommensind. Sie sind nach wie vor zutiefst von totalitärem Den-ken geprägt.
Ich will auch auf einen anderen Umstand ausdrück-lich hinweisen. Herr Poroschenko ist in allen Wahlkrei-sen des gesamten Landes mit deutlicher Mehrheit ge-
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3270 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Juni 2014
Dr. Andreas Schockenhoff
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wählt worden – selbst in den umkämpften Orten imOsten. Da dies in der Vergangenheit anders war – dieWahlergebnisse der führenden Kandidaten zeigten imOsten und im Westen deutliche Unterschiede –, hat die-ses Wahlergebnis einen ganz besonderen politischenStellenwert. Herr Poroschenko ist der Präsident allerUkrainer. Das ist das wichtige Ergebnis der Wahl vom25. Mai.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der Präsiden-tenwahl setzen die Ukrainer ein klares Zeichen. Es istder unmissverständliche Auftrag, für Demokratie,Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung sowie fürdie politische, wirtschaftliche und soziale Einheit desLandes zu sorgen. Die Ankündigung des gewählten Prä-sidenten, zuerst in den Osten der Ukraine zu reisen undsich um die Stärkung der Wirtschaft und um die Verbes-serung der sozialen Lage dort zu kümmern, ist dafür einesehr wichtige Botschaft. Es muss darum gehen, dass dieMenschen im Osten der Ukraine wieder Vertrauen in diePolitik finden, die in Kiew gemacht wird, zumal es inder Vergangenheit leider auch gravierende Fehler mitBlick auf die Menschen im Osten des Landes gegebenhat.Gerade die Menschen im Osten der Ukraine müssenschnell von den Wirtschafts- und Finanzhilfen des IWFund der EU profitieren; denn dort ist die wirtschaftlicheund soziale Lage besonders schwierig. Dies wäre aucheine wichtige Antwort an die Separatisten. Denn dannlautet die Botschaft für die Menschen in den umkämpf-ten Gebieten: Während die Separatisten für Unsicherheitund Terror sorgen, während Moskau Waffen und Kämp-fer schickt, leistet Kiew auch mithilfe der EU und mitunserer Unterstützung konkrete Beiträge, damit es denMenschen in der Ostukraine Stück für Stück besser gehtund ihre Region wirtschaftlich modernisiert wird. DieMenschen dort wollen endlich sicher und in Frieden le-ben. Dazu brauchen sie unsere Unterstützung.
Herr Kollege Schockenhoff, lassen Sie eine Zwi-
schenfrage zu?
Nein.Das Wahlergebnis ist deshalb auch ein starkes Signalgegen die Gewalt der Separatisten und Terroristen undgegen die Einmischung von außen. Die Ukrainer wollenihren eigenen, selbstbestimmten Weg gehen. Mit denStimmzetteln haben sie allen russischen Destabilisie-rungsaktivitäten der letzten Wochen eine klare Absageerteilt. Das sollte Moskau endlich akzeptieren.Doch was ist die Realität des russischen Handelns?Inzwischen sprechen die Separatisten ganz offen davon,dass sie von russischen Soldaten unterstützt werden undsich ihrem Kommando unterstellt haben. Letzte Wochehaben wir aus dem Sicherheits- und Verteidigungsrat derUkraine Zahlen dazu erhalten: Circa 800 russische Be-rufssoldaten befinden sich allein in den StädtenLugansk, Slowjansk und Donezk. Weiterhin sind dort600 russische Freiwillige – vor allem pensionierte oderaus der Armee ausgeschiedene russische Soldaten. DieseZahlen dürften in der Zwischenzeit weit höher sein; dennwir hören jeden Tag von neuen Militärkonvois, die ausRussland in die Ukraine einsickern. Der russischeGrenzschutz schaut dem tatenlos zu.Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützt des-halb nachdrücklich die Aufforderung der Staats- und Re-gierungschefs der EU von Anfang der Woche an Mos-kau, „seinen Einfluss auf die bewaffneten Separatistenzu nutzen, um die Lage in der Ostukraine zu deeskalie-ren und vorrangig zu verhindern, dass Separatisten undWaffen in die Ukraine gelangen“. Aber wir müssen fest-stellen, dass Russland dazu bisher nicht bereit ist. Wennrussische Soldaten und andere mit modernsten russi-schen Waffen ausgerüstete Kämpfer mit Billigung derrussischen Grenztruppen und damit mit Billigung Mos-kaus in die Ukraine eindringen können, dann ist diesauch eine Form militärischer Intervention Russlands inder Ukraine.Nach der Annexion der Krim stellt Russland mit die-sen militärischen Destabilisierungsaktivitäten im Ostender Ukraine auch weiterhin grundsätzliche Elemente dereuropäischen Friedensordnung und die über viele Jahreerarbeiteten Regelwerke einer europäischen Sicherheits-architektur infrage. Russland belastet durch sein Verhal-ten Frieden, Sicherheit und Stabilität in Europa weiter-hin schwer.Unsere Bündnispartner im Osten, insbesondere diebaltischen Staaten und Polen, fühlen sich besonders be-droht. Ich sage ganz deutlich: Deren Sorgen sind auchunsere Sorgen. Deshalb ist es richtig, dass die NATO-Staaten bereits eine Verstärkung ihrer Streitkräfte undzusätzliche Truppen auf dem Boden unserer östlichenPartner und in der Ostsee beschlossen haben.
Ob dort darüber hinaus auch permanente Stationierun-gen erforderlich werden, wird bis zum NATO-GipfelAnfang September zu prüfen sein. Das wird sehr davonabhängen, ob Russland sein unberechenbares und ag-gressives Verhalten, vor allem gegenüber der Ukraine,fortsetzt.Ich sage aber auch – das ist von meinen Vorrednernbis auf eine Ausnahme bestätigt worden –: Wir alle wis-sen und sind überzeugt, dass dieser Konflikt militärischnicht zu lösen ist. Deshalb wird es notwendig sein, dassdie neue ukrainische Führung unter Beteiligung und mitHilfe der USA und der EU das Gespräch mit Moskausucht, um eine Lösung zu finden, die die Gewalttätigkeitbeendet, die zur Entwaffnung der illegal bewaffnetenGruppen und zum Abzug der russischen Soldaten undGeheimdienstkräfte führt und die die Souveränität undIntegrität der Ukraine sichert.Es ist genauso notwendig, auf Moskau einzuwirken,damit es zu konstruktiven und lösungsorientierten Ge-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Juni 2014 3271
Dr. Andreas Schockenhoff
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sprächen bereit ist. Wir bedanken uns bei der Bundes-kanzlerin und beim Außenminister für ihre Bemühun-gen, die wir auch weiterhin mit Nachdruck unterstützen.
In diesem Zusammenhang ein Wort zur völkerrechts-widrigen Annexion der Krim durch Russland: Es gibtMenschen – auch ein ehemaliger Bundeskanzler gehörtdazu –, die davon reden, dass die Krim – so wörtlich –für immer weg sei. Das ist nichts anderes als die Aner-kennung von Landraub und Völkerrechtsbruch. Des-wegen begrüßt und unterstützt die CDU/CSU-Bundes-tagsfraktion mit Nachdruck, dass die Staats- undRegierungschefs der EU die unrechtmäßige Eingliede-rung der Krim in die Russische Föderation erneut scharfverurteilt und zum Ausdruck gebracht haben, dass siediese Annexion nicht anerkennen werden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, niemand weißheute, unter welchen Voraussetzungen und wann dieKrim wieder zur Ukraine gehören wird. Aber die Ge-schichte hat gezeigt, dass die WiedervereinigungDeutschlands möglich war und dass die baltischen Staa-ten ihre Unabhängigkeit zurückgewinnen konnten. Wa-rum sollte das nicht auch für die Krim möglich werden?Gerade wir Deutschen, die nach 40 Jahren unsere Ein-heit wiedererlangen konnten, sollten nicht so reden, liebeKolleginnen und Kollegen.
Die Menschen in der Ukraine haben große Erwartun-gen an ihren neu gewählten Präsidenten Poroschenko.Zugleich sind die Herausforderungen im Zusammen-hang mit der politischen, wirtschaftlichen und sozialenVeränderung enorm. Die Reformbemühungen im Be-reich der Justiz, der Staatsanwaltschaft und im Sicher-heitssektor sowie zur Bekämpfung von Korruption sindeine echte Herausforderung. Deshalb begrüßen wir sehr,dass die Europäische Union und auch die einzelnen Mit-gliedstaaten der EU umfangreiche Unterstützung zuge-sagt haben bzw. bereits konkrete Hilfe leisten.Herr Poroschenko möchte so bald wie möglich denHandelsteil des Assoziierungsabkommens unterschrei-ben. Auch das sollten wir nachdrücklich unterstützen,zumal alle russischen Vorwürfe, dieses Abkommenwürde der russischen Wirtschaft schaden, in sich zusam-mengebrochen sind. Russland hat in den Verhandlungenmit der Europäischen Union dazu keinerlei Belege vorle-gen können.Um es klar zu sagen: Wir müssen die Zusammenar-beit zwischen der EU und der Ukraine zu einer Erfolgs-geschichte machen. Wir müssen dabei den schwierigerenWeg gehen: mit den Mitteln der Soft Power und des Völ-kerrechts gegen russische militärische Destabilisierungund Völkerrechtsbruch.Dies ist kein Konflikt fern im Osten der Ukraine. Diesist ein Konflikt, der uns direkt angeht.
Es geht um Frieden, um Sicherheit und die Stärke desRechts in ganz Europa.Vielen Dank.
Jetzt erhält zunächst Herr Hunko das Wort zu einer
Kurzintervention.
Herr Kollege Schockenhoff, Sie haben mich vorhinals Wahlbeobachter angesprochen; ich habe die Wahlenin Odessa beobachtet.
– Auch er hat eben von den Wahlbeobachtern der Links-fraktion gesprochen.Ich möchte an dieser Stelle sagen, dass die Wahlen inOdessa, in Kiew, in Lwiw und in anderen Städten fairund friedlich abgelaufen sind. Das Problem aber ist– auch das ist von den internationalen Organisationenbenannt worden –, dass ein Großteil der Wähler im Ge-biet Donezk und Lugansk, das 5,1 Millionen Wähler,also ein Siebtel der Wahlbevölkerung, umfasst, nichtwählen konnte, weil dort Bürgerkrieg herrscht,
und dass eine Reihe von oppositionellen Kandidaten ausdem Spektrum der Kommunistischen Partei, zum Bei-spiel der Kandidat Simonenko, und aus dem Spektrumder Partei der Regionen aufgrund von Übergriffen, die esgegeben hat – sogar im Parlament; das kann man janachprüfen –, ihre Kandidatur aus Angst zurückgezogenhat. Auch das muss man benennen, wenn man abwägenwill, wie die Wahlen zu beurteilen sind.
Ich möchte Sie fragen – denn, Herr Schockenhoff, Siesind auf die Situation im Osten sehr intensiv eingegan-gen –, ob Sie bereit sind, öffentliche Signale in RichtungPoroschenko, in Richtung der Übergangsregierung inKiew dahin gehend zu senden, dass der gegenwärtigeMilitäreinsatz gestoppt wird, dass Waffenruhe eintritt,um zu Verhandlungen zu kommen. Wir haben jetzt dieSituation, dass sogar die Luftwaffe gegen einzelneStädte in der Region Lugansk eingesetzt wird. Das kanndoch nicht sein. Dies ist doch kein Weg, um zu einerDeeskalation im Osten zu kommen.
Eine zweite Frage möchte ich stellen. Es wurde in derDebatte darauf hingewiesen: Das Problem mit den Fa-schisten ist nicht so groß.
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– Es wurde vorhin gesagt – –
– Entschuldigung, hören Sie doch einmal zu!
Es wurde vorhin gesagt: Tjagnibok hat weniger als2 Prozent erhalten; das Problem ist damit doch kleiner,als wir es darstellen.
– Das erkläre ich überhaupt nicht.
Darf ich darum bitten, dass wir wieder zu einer sachli-
chen Auseinandersetzung kommen.
– Nein, Entschuldigung, Herr Kauder, es geht nicht da-
rum, Herrn Hofreiter anzugreifen. Ich sage nur: Wir soll-
ten zu einer sachlichen Auseinandersetzung kommen
und keine Unterstellungen machen, Herr Hunko.
Es wurde vorhin gesagt – das ist auch richtig –, dass
die Swoboda-Partei – –
Herr Hunko, ich darf daran erinnern: In der Auseinan-
dersetzung ist keine Bewertung dahin gehend getroffen
worden, dass damit das Problem gering sei. Das ist nicht
getan worden. Das können Sie sicherlich im Protokoll
nachlesen.
Dann werde ich es anders formulieren. Es wurde vor-
hin gesagt, dass der Kandidat der Swoboda weniger als
2 Prozent erhalten hat.
Ich frage Sie: Werden Sie darauf hinwirken, dass die
Swoboda-Partei, die immer noch in der Regierung ist,
aus der Regierung ausscheidet? Warum sitzt sie noch in
der Regierung, wenn sie doch so wenig Rückhalt hat?
Herr Schockenhoff.
Herr Kollege Hunko, das Problem ist, dass eine Wahl,
von der Sie sagen, dass diese Wahl frei und fair abgelau-
fen sei, von der vor Ihnen sitzenden Frau Dağdelen als
eine „sogenannte Wahl“ bezeichnet wird, weil ihr das
Ergebnis nicht passt.
Von diesem totalitären Denken müssen Sie Abstand neh-
men. Alles andere haben wir vorhin deutlich gesagt.
Als nächster Redner hat Franz Thönnes das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zehn Wahlbeobachter des Deutschen Bundestages wa-ren am 25. Mai in Kiew und in anderen Teilen derUkraine unterwegs. Am Ende stellen alle fest – auchKollege Hunko hat es gerade wiedergegeben –: DieseWahl hat eindeutig den vereinbarten Prinzipien entspro-chen, die die OSZE zu bewerten hatte. Vielleicht war essogar mit die demokratischste Wahl, die bisher in derUkraine stattgefunden hat. Die Wahl folgte einem ein-deutigen, klaren, demokratischen Verfahren und hat einErgebnis gebracht, das denjenigen zugutekommt, die dieWahlen unter schwierigen Umständen vorbereitet haben;sie verdienen unsere Anerkennung. Dem neuen Präsi-denten Petro Poroschenko ist zu gratulieren.
Vor der Wahl gab es von Russland Erklärungen, diebesagten, man werde das Ergebnis akzeptieren. Manmuss sagen: Angesichts der Spannungen war das schonein wichtiger Schritt. Aber eigentlich haben wir alle da-rauf gewartet, dass auch Moskau nach der Wahl deutlichsagt: Wir erkennen die Entscheidung des ukrainischenVolkes eindeutig an.
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Franz Thönnes
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Dazu gehört auch die Erwartung, dass ein entsprechendhochrangiger Gast aus Russland teilnimmt, wenn Präsi-dent Poroschenko am kommenden Samstag in das Amteingeführt wird. Auch dadurch könnte die Anerkennungder Wahlentscheidung zum Ausdruck gebracht werden.Deutschland bringt sie zum Ausdruck; ich denke, es istgut, dass Bundespräsident Gauck in Kiew dabei seinwird.
Die Wahlbedingungen waren natürlich eine große He-rausforderung. Im Osten sind die Wahlen zum großenTeil von Extremisten, von bewaffneten und gewalttäti-gen Gruppen, behindert worden, die teilweise Wahlur-nen zerschlagen haben, die Menschen in Wahllokalenbedroht und an der Ausübung ihres Wahlrechts gehinderthaben. Das zeigt ganz klar und eindeutig, welches Ver-hältnis diese Gruppen zur Demokratie haben; sie stehennicht für eine gute Zukunft der Ukraine. Doch in anderenTeilen des Landes hat es geradezu einen Wahlenthusias-mus gegeben: Menschen, die bei 30 Grad zwei oderzweieinhalb Stunden vor dem Wahllokal in der Schlangestehen, um von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen,nachmittags um 16 Uhr schon 60 Prozent Wahlbeteili-gung, in einigen Regionen bis zu 80 Prozent. Welch einglaubhaftes Zeichen, wie wichtig man die Demokratie indiesem Land nimmt!
Die Menschen sind im Kern – das müssen wir alsWahlbeobachter der OSZE sagen – am Ende ihre eige-nen demokratischen Wahlbeobachter geworden, weil siegenau sehen konnten, dass jeder seinen Ausweis vorzei-gen musste, dass man den Empfang der Wahlzettel quit-tieren musste. Ich denke, das war ein gutes Zeichen. Eswar ein eindrucksvolles Beispiel für lebendige Demo-kratie, und es war – das ist wichtig – ein deutliches Be-kenntnis dazu, dass man eine geeinte und keine gespal-tene Ukraine haben will.
Auch ich sage es jetzt hier – das muss man wahrschein-lich wiederholen –: Es war auch ein eindeutiges Zeichengegen rechts, ein eindeutiges Votum gegen rechts. Manwill die Zukunft der Ukraine nicht mit Nationalisten,nicht mit Faschisten, nicht mit Antisemiten gestalten.Das Votum war eindeutig dagegen gerichtet.
Damit sagt keiner, dass die rechte Bewegung wegwäre; sie ist weiterhin entschieden mit demokratischenMitteln zu bekämpfen. Sie dürfen aber auch nicht negie-ren, dass das Abkommen vom 21. Februar eine inklusiveRegierung vorsah, sodass die damals existierendenKräfte einzubeziehen waren,
und dass das Parlament, das vom Volk demokratisch le-gitimiert worden ist, diese Regierung gewählt hat. Alsomüssen so schnell wie möglich Neuwahlen in derUkraine erfolgen, mit einem vergleichbaren Resultat, so-dass keine Antisemiten, keine Faschisten und keine Na-tionalisten im Parlament sitzen. Das ist die richtige Ant-wort.
Mit der Wahl ist klar geworden: Die einseitige Propa-ganda, dass die ganze Maidan-Bewegung faschistischwäre, wie wir es teilweise aus russischen Medien hörenund es manchmal auch hier geäußert wird, ist widerlegt;ihr wurde der Nährboden entzogen. Wer im Zusammen-hang mit der Ukraine mit Schwarz-Weiß-Bildern arbei-tet, trägt nicht dazu bei, dass eine friedliche Lösung ge-funden wird.Spricht man mit den Menschen, die in der Schlangestehen, darüber, welche Erwartungen sie haben, so wirddeutlich: Es geht um Demokratie, es geht um bessere Le-bensbedingungen, es geht um einen Blick in RichtungEuropa. Es geht auch um die aktive Bekämpfung derKorruption.Der Präsident trägt nun große Verantwortung. Auchdie Kraft der Versöhnung und des Verhandelns ist gefor-dert. Aber diese Kraft wird von allen Beteiligten erwar-tet. Es ist ein Lichtblick, dass Russland und die Ukrainezurzeit pragmatisch über Gaspreise verhandeln. Das istein wichtiger Schritt.Dieser Pragmatismus ist auch notwendig, wenn es da-rum geht, dass wir von Russland erwarten, dass es sichwieder aktiv einschaltet, um die zwei OSZE-Teams ausder Geiselhaft zu befreien.
Dieser Pragmatismus wird erwartet, wenn es darumgeht, dass auch von russischer Seite ein Beitrag dazu ge-leistet wird, dass die Gewalt, dass das Sterben in der Re-gion beendet wird, dass Moskau die Separatisten aufruft,den Kampf, auch die Attacken gegen die ukrainischenSicherheitskräfte und das Besetzen von Häusern, einzu-stellen.All das zeigt: Es besteht die Notwendigkeit, die Kraftaufzubringen, um zu einer Verhandlungslösung beizutra-gen. Deswegen wird neben dem Truppenabzug, denRussland inzwischen wohl zu drei Vierteln geleistet hat,auch erwartet – diese Erwartung richtet sich auch an dieukrainische Regierung –, dass man gemeinsam pragma-tisch etwas für die Grenzsicherung unternimmt, dassnicht permanent Wagenkolonnen von bewaffneten undmilitarisierten Menschen die Grenze passieren können,dass damit ein Beitrag geleistet wird, dass sozusagen der„Nachschub“ von Gewaltpotenzial endlich aufhört. Ei-gentlich müsste Moskau ein großes Interesse daran ha-ben.
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3274 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Juni 2014
Franz Thönnes
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Wenn es Moskau mit der in den Sicherheitsrat derVereinten Nationen eingebrachten Resolution ernst istund wenn durch die Resolution auch noch die territorialeIntegrität der Ukraine gewährleistet werden würde, dannwäre das ein gutes Zeichen, das zu mehr Glaubwürdig-keit beitragen würde. Das wäre ein ganz wichtiger undzentraler Schritt.Vier zentrale Pfeiler sind meines Erachtens für dieStabilität in der Ukraine notwendig. Der erste Pfeilerwar die Entscheidung für die jetzt abgehaltene Präsident-schaftswahl. Der zweite Pfeiler wird sein, den Verfas-sungsprozess zügig voranzutreiben. Der dritte Pfeilerwird sein, in der zweiten Jahreshälfte Neuwahlen auszu-rufen. Der vierte Pfeiler wird sein, eine neue Regierungzu wählen. Damit wäre für die Ukraine ein entscheiden-der Schritt auf dem Weg in eine gute Zukunft getan.Abschließend möchte ich festhalten – das ist für unsganz zentral; das wird auch in Zukunft so sein –: DieBundesregierung, die Bundeskanzlerin und der Bundes-außenminister haben unsere Unterstützung bei dieserwichtigen Arbeit, mit Besonnenheit und mit Balance inBrüssel eine gemeinsame Antwort der EuropäischenUnion zu finden.Heute ist das Friedensgutachten 2014 vorgelegt wor-den. Ich glaube nicht, dass es ein guter Ratschlag ist,Verteidigungsetats zu erhöhen. Eigentlich geht es darum,Verzicht auf Konfrontation und Festhalten am Dialog zuüben. Für Europa, die USA und auch für Russland gilt:So wie wir hierbei Verlässlichkeit zu bewahren haben,erwarten wir auch auf der anderen Seite Verlässlichkeitdurch klar belegbare Handlungen.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Wir erwarten, dass die Schlussakte von Helsinki ein-
gehalten wird. Wir erwarten von Russland, dass es ga-
rantiert: keine Androhung und kein Gebrauch von Ge-
walt, die Unverletzbarkeit der Grenzen, die territoriale
Integrität der Staaten und eine friedliche Konfliktlösung.
Für unsere gemeinsame Zukunft in Europa erwarten wir
hierzu eine klare Antwort aus Moskau.
Das Wort hat jetzt Manuel Sarrazin von Bündnis 90/
Die Grünen.
Verehrte Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ei-gentlich wollte ich die Kanzlerin ins Kreuzfeuer nehmenund mich nicht so sehr mit der Linkspartei beschäftigen.
– Sie sind noch da? Das ist hervorragend. Denn ich findedas Spiel um die Kommissionspräsidentschaft schon be-merkenswert.Oftmals ist von einem Demokratiedefizit der EU dieRede, Frau Kanzlerin. Ich glaube, wir erleben geradeeher ein Politikdefizit mancher Staats- und Regierungs-chefs im Europäischen Rat. Das ist das eigentliche Pro-blem.
Ich möchte Sie da nicht ganz ausnehmen. Sie wissen,dass ich nicht der Gemeinste hier im Haus bin, aber,ganz ehrlich gesagt: Sie haben monatelang aus demKanzleramt verlauten lassen: Ach, das mit den Spitzen-kandidaturen, das wird am Ende schon anders werden.Dass Sie sich jetzt hinter Cameron und dieser relativ bil-ligen Drohung, vielleicht aus der EU auszutreten, verste-cken, passt nicht zu Ihrem Format. Ich glaube, Sie habenviel mehr Format zu bieten.
Frau Kanzlerin, die Menschen in Deutschland habenein Recht darauf, einen oder zwei Tage nach der Europa-wahl zu erfahren, welche Position Deutschland hinsicht-lich der Besetzung des Spitzenpostens in der EU-Kom-mission vertritt. Sie hätten das genauso klar sagenkönnen wie Herr Cameron. Das schließt ja nicht aus,dass man mit ihm redet.
Wenn Sie an dieser Stelle das Gesicht Englands wahrenwollen, heißt das nicht, dass Sie Herrn Cameron dieganze Bank hinterherschmeißen müssen.
Das wirkliche Problem von Herrn Cameron dürfenSie aber nicht unterschätzen. Das wirkliche Problem vonHerrn Cameron ist der Rechtspopulismus von UKIP undanderen. Sie können ihn unterstützen, indem Sie zur AfDund den deutschen Rechtspopulisten klar Stellung bezie-hen. Zeigen Sie klare Kante und sagen Sie, dass fürRechtspopulisten kein Platz ist. Damit wären Sie HerrnCameron ein Vorbild. Ihm nützt es nichts, wenn aus denReihen der CDU schon fast Koalitionsangebote unter-breitet werden.
Wenn wir darüber reden, dass man klare Kante gegenrechts zeigen sollte, muss man auch sagen, dass sich man-che hier im Haus deutlichere Aussagen der Linksparteiüber Kollegen wie Herrn Dugin, Herrn Naryschkin,Herrn Schirinowski oder andere, die in Russland etwaszu sagen haben, wünschen. Das kommt in Ihren Redennie vor. Vielleicht würde das aber auch helfen.
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Manuel Sarrazin
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Ich möchte eines ganz deutlich sagen: Diese Präsi-dentschaftswahlen sind eine große Chance für dieUkraine, weil sie zur Stabilisierung beitragen können,weil sie für eine neue Stimmung in Kiew sorgen
und weil niemand, mit dem man in der Ukraine spricht,auch nicht die Vertreter der Partei der Regionen, die Le-gitimität dieser Wahl anzweifelt. Also sollten auch wir esnicht tun. Wenn man das macht, handelt man nicht imInteresse der Vertreter der Ostukraine.
Herr Poroschenko hat angekündigt, den Verfassungs-prozess voranzutreiben und Neuwahlen durchzuführen.Das ist doch genau der Weg, den Sie wollen. Sie wollendoch, dass man über Wahlen die Geister der Vergangen-heit, die Geister, die bei der Wahl 2012 erfolgreich wa-ren – wie Swoboda –, endlich auf das Maß zurück-schrumpft, das ihnen zusteht: am besten raus aus demParlament!
Wenn wir möchten, dass die Menschen im Osten derUkraine an diesen Prozessen partizipieren können, wennwir möchten, dass ihre Interessen im neuen Parlamentvertreten werden, wenn wir möchten, dass der Osten imVerfassungsprozess bei der schwierigen Frage der Ge-staltung der Macht – Präsident, Parlament, Regierung –Gehör findet, dann muss es in unserem Interesse sein,dass in Donezk, in Lugansk und in anderen Städten einpolitisches Klima herrscht, in dem man sich traut, aufdemokratische Weise politisch zu streiten. Ich glaube,dass die Separatisten diesen Gebieten einen Bärendiensterweisen. Die Menschen im Osten der Ukraine habenschlichtweg Angst. Sie haben inzwischen Angst davor,auf die Straße zu gehen, weil Tausende von Kämpfernaus dem Kaukasus mit schwerem Gerät auf den Straßenstehen. Das ist kein Klima, in dem der Osten seine An-liegen in Kiew durchsetzen kann. Das müssen Sie mei-ner Ansicht nach deutlicher adressieren.
– Herr Gehrcke, in meinen Gesprächen in Kiew hat nie-mand, auch nicht die Vertreter aus der Ostukraine, diedort sehr gut vernetzt waren, auch niemand von der Par-tei der Regionen, in Abrede gestellt, dass Russland zu-mindest nichts tut, um eine Einflussnahme zu verhin-dern.
Es wurde vielmehr zum Ausdruck gebracht, dass Russ-land auf diesem Weg seine Interessen in der Ukraine ver-tritt, und Russland hat ein Interesse an der Destabilisie-rung und der Delegitimierung des neuen Präsidenten, dergerade durch Wahlen legitim gewählt wurde. Das solltenwir Russland bei allem Verständnis, das man habenkann, nicht durchgehen lassen.
Wenn man möchte, dass die Antiterroroperation been-det wird,
dann muss man auch dafür sein, dass schweres Kriegs-gerät und Kämpfer nicht mehr in die Ukraine einsickernkönnen.
Ich finde es absolut richtig, mit allen Mitteln, die einemzur Verfügung stehen, friedlich auf Russland einzuwir-ken und das einzufordern. Wir haben bei den Wahlen ge-sehen, dass die Drohung mit Sanktionen ein effektivesMittel ist, um darauf hinzuwirken, dass man sich aufei-nander zubewegt. Ich glaube, dass der Kreml etwas Be-wegung gezeigt hat. Deswegen sollte man den politi-schen Druck auf Russland hochhalten. Auf diese Weisegewinnt man gleichzeitig Glaubwürdigkeit in Bezug da-rauf, die ukrainische Regierung in die Pflicht zu nehmen,den Verfassungsprozess und die Neuwahlen demokra-tisch und freiheitlich anzugehen.Vielen Dank.
Als nächste Rednerin hat Elisabeth Motschmann das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen!Frau Wagenknecht, Frau Dağdelen, Sie haben sich indieser Debatte komplett aus der Außenpolitik abgemel-det. Mit Polemik, Populismus und Demagogie – welcheSie anderen vorwerfen – kann man kein einziges Pro-blem lösen. Man kann nur hoffen, dass Sie in diesemLand niemals irgendeine Regierungsverantwortung tra-gen werden.
Die Kanzlerin hat zu Recht gesagt, dass der G-7-Gip-fel nicht unter normalen Bedingungen stattfindet: nichtSotschi, sondern Brüssel ist der Treffpunkt, nicht Putin,
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3276 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Juni 2014
Elisabeth Motschmann
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sondern die EU ist Gastgeber, nicht acht, sondern siebenStaaten nehmen teil. Russland wurde ausgeladen, unddas ist genau das richtige Zeichen. Diejenigen, die sichin Brüssel nicht treffen, werden sich nun allerdings inder Normandie zum Gedenken an den D-Day treffen.Darin könnte man einen Widerspruch sehen. Ich sehe da-rin aber eine Chance, auf dieser anderen Ebene eine Be-gegnung möglich zu machen, Gespräche zu führen undein Stück weiterzukommen. Deshalb wünsche ich derKanzlerin alles Gute für diese Gespräche.
Die Einverleibung der Krim – das will ich hier in allerDeutlichkeit sagen, weil wir es immer wieder sagenmüssen; Frau Wagenknecht, Sie vergessen das – war einschwerwiegender Bruch des Völkerrechts. Das kann diewestliche Welt nicht hinnehmen. Die Destabilisierungder Ostukraine durch russische Separatisten, durch russi-sche Soldaten mit russischen Pässen – wir wissen esdoch inzwischen –, ist eine nicht akzeptable Situationund Provokation, und zwar nicht nur für die Ukraine,sondern für jeden demokratischen Staat. Wladimir Putinnimmt – auch das will ich ganz deutlich sagen – fürseine politischen Ziele Menschenrechtsverletzungen undden Tod vieler Menschen, vieler Zivilisten, vieler Solda-ten in Kauf. Das zeigt, dass Russland nichts, aber auchgar nichts aus der Geschichte gelernt hat.
– Sie auch nicht, Herr Gehrcke. Darüber müssen wirnoch reden.Umso positiver ist zu bewerten, dass die Reaktionendes Westens trotz unterschiedlicher Positionen besonne-ner, verantwortungsbewusster und abgestimmter warenund sind. Die Devise lautet Deeskalation. Dazu habendie Bundeskanzlerin und der Außenminister maßgeblichbeigetragen. Dafür danke ich ihnen herzlich.Es ist richtig, an einer politischen Lösung zu arbeiten.Es ist richtig, alle Gesprächsmöglichkeiten auszuschöp-fen. Es ist richtig, notwendige Sanktionen Schritt fürSchritt umzusetzen. Das alles ist kein Ausdruck vonSchwäche, sondern von Stärke. Das sage ich, weil man-che ja auf die Idee kommen, das sei eine schwache Au-ßenpolitik. Ich finde, das ist eine starke Außenpolitik. Esist richtig, der Ukraine nun mit allen zur Verfügung ste-henden Mitteln zu helfen. Ein erster Erfolg war die Prä-sidentschaftswahl; das wurde hier schon wiederholtgesagt. Die Wahlbeteiligung war erfreulich, und das Er-gebnis war es auch. Erfreulich war natürlich auch – auchdas wollen Sie nicht wahrhaben – das vernichtende Er-gebnis für die rechten Parteien, insbesondere für dieSwoboda-Partei.
– Da sind wir uns dann einmal einig. Das ist ja schön.Der neu gewählte Präsident steht nun vor einer gro-ßen Aufgabe. Seine nächsten Ziele sind die Parlaments-wahlen, die Verfassungsreform und der nationale Dialog.Poroschenko muss nun selbstverständlich auch mitRussland verhandeln. Dabei bleibt zu hoffen, dass Putindiese Wahl nicht nur verbal akzeptiert, sondern den Wor-ten nun auch Taten folgen lässt. Der Abzug seiner Trup-pen aus dem Grenzgebiet der Ukraine ist ein ersterSchritt in die richtige Richtung. Aber weitere Taten müs-sen folgen.Alle Mitarbeiter der OSZE müssen sofort und bedin-gungslos freigelassen werden; ich glaube und hoffe, dasswir uns auch da einig sind. Die Grenzen müssen so gesi-chert werden, dass kein Nachschub von Soldaten undWaffen mehr möglich ist; da bin ich mir schon nichtmehr so sicher, ob das passiert. Sämtliche Separatistenmüssen ihre Waffen niederlegen. Die russische Medien-propaganda, die übrigens in all diesen Ländern – nichtnur in der Ukraine, sondern auch in den baltischen Län-dern – nach wie vor betrieben wird, muss natürlich auchendlich ein Ende finden. Des Weiteren dürfen wir nichtzulassen – auch das hat die Kanzlerin gesagt –, dass Gasals Mittel der Erpressung oder gar als Waffe gegen einensouveränen Staat eingesetzt wird.Vor kurzem war ich im Baltikum, das ja zu 100 Pro-zent vom Gas aus Russland abhängig ist. Der 29-jährigeAbgeordnete Smiltens von der liberal-konservativenPartei in Lettland hat mir etwas gesagt, das mich dochzum Nachdenken brachte. Er sagte: Wir wollen lieber inRiga frieren als in Sibirien. – Man hat dort Angst.Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. In denletzten Tagen gab es wichtige Vorstöße, etwa vonGünther Oettinger im Hinblick auf das Gas. Wir habengestern von einer Initiative Barack Obamas erfahren. Erverstärkt mit 1 Milliarde Dollar die militärische Sicher-heit. Dabei handelt es sich um ein Sicherheitspaket fürPolen und die baltischen Länder. Das ist keine Kriegs-strategie, Frau Wagenknecht,
sondern das ist eine Antwort, die wir leider geben müs-sen, wenn auf der anderen Seite unendlich viele Soldatenan den Grenzen stehen.
– Den haben wir aber nicht angefangen, Herr Gehrcke.Überlegen Sie einmal, wer angefangen hat!Ich hoffe und wünsche, dass der G-7-Gipfel zu einergroßen Geschlossenheit der beteiligten Länder führt
und dass wir dazu erheblich beitragen können. Das wirddie Kanzlerin mit Sicherheit sehr gut tun.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Juni 2014 3277
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Als nächste Rednerin hat die Kollegin Katarina
Barley von der SPD das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr verehrte Gäste! Wir haben heute schonsehr viel über Frieden und Demokratie gehört. HeuteMorgen haben wir an zwei Ereignisse in China undPolen erinnert. Wir diskutieren sehr viel über dieUkraine. Ich finde, gerade an einem solchen Tag sollteman auch einmal sagen, wie froh wir sein können, dasswir in diesem Haus so engagiert streiten, wie wir es hiertun, und wie froh wir angesichts der Vergangenheit, diewir haben, sein können, dass wir in einem Land leben, indem Demokratie und Frieden inzwischen zu einerSelbstverständlichkeit geworden sind. Das hat auch et-was damit zu tun, dass wir unsere Verantwortung wahr-genommen haben und Teil der Europäischen Uniongeworden sind, Teil einer Institution, die als Frie-densprojekt angelegt ist und dies hoffentlich auch immerbleiben wird.Die ersten Wahlen zum Europäischen Parlament nachInkrafttreten des Lissabonner Vertrages liegen hinteruns. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokratensind zu diesen Wahlen mit zwei zentralen Versprechenangetreten, nämlich Europa sozialer und demokratischermachen zu wollen. Dem zweiten Versprechen – Europanoch demokratischer zu machen – kommen wir geradeein Stück näher. Denn die großen Parteienfamilien hat-ten sich entschieden, für das Amt des Kommissionsprä-sidenten, eines der wichtigsten Ämter der EuropäischenUnion, europäische Spitzenkandidaten ins Rennen zuschicken. Die Bürgerinnen und Bürger sollten über die-ses wichtige Amt entscheiden – ein großer Schritt zumehr Demokratie in Europa.Die Alternativen lagen klar auf der Hand. Die Spit-zenkandidaten waren Martin Schulz und Jean-ClaudeJuncker. Beide haben sich einer öffentlichen Diskussiongestellt, von der man, wenn man sie mit der Diskussionüber die Europawahlen der vergangenen Jahre ver-gleicht, sagen muss: Es gab ein viel stärkeres Interesseder Medien, der Öffentlichkeit und – wahrscheinlich ha-ben auch Sie es an den Wahlkampfständen gemerkt – derWählerinnen und Wähler an diesem Europa, weil es mitPersonen, mit Gesichtern, und erst dann mit Program-men verbunden wurde.Die Tendenz sinkender Wahlbeteiligungen ist ge-stoppt worden bei dieser Europawahl; wir haben esschon gehört. In Deutschland ist die Wahlbeteiligungsogar erheblich gestiegen. Ich denke, auf dieses neueVertrauen, das Europa dadurch gewonnen hat, müssenwir jetzt aufbauen, und das Versprechen, das die Parteienvor der Wahl unter Beteiligung fast aller Staats- und Re-gierungschefs gegeben haben, muss auch nach der Wahlgelten. Ich bin wirklich froh, dass die Bundesregierungdas ebenso sieht und Jean-Claude Juncker als Kandida-ten für das Amt des Kommissionspräsidenten unter-stützt.
Gleichzeitig müssen wir feststellen, dass in vier euro-päischen Staaten – in Großbritannien, Griechenland,Frankreich und Dänemark – extreme oder antieuropäi-sche oder beide Merkmale vereinende Parteien jeweilsauf dem ersten Platz gelandet sind. Was machen wir nunmit einem solchen Ergebnis, das den extremen Parteienlinks wie rechts einen so enormen Zulauf beschert hat?Die erste Möglichkeit wäre, das als Signal gegen dieeuropäische Einigung zu sehen und dementsprechendEuropa einzuschränken, sich für weniger Europa zu ent-scheiden und damit in gewisser Weise der britischen Li-nie unter David Cameron zu folgen.Die zweite Möglichkeit – es wird Sie nicht verwun-dern, dass dies von mir favorisiert wird – ist, das Wahler-gebnis durchaus als Kritik am gegenwärtigen Zustandder Europäischen Union zu verstehen, sich zu fragen, woEuropa besser werden muss, und die Europäische Unionentsprechend weiterzuentwickeln. Denn wir wissen: Fürviele Menschen ist die EU auch mit Befürchtungen, Un-sicherheiten und Ängsten, teilweise auch mit erhebli-chen Einschränkungen verbunden. Wir müssen deshalbdafür sorgen, dass die Europäische Union ein Projektbleibt – und noch stärker wird –, das das Leben der Men-schen spür- und wahrnehmbar zum Positiven hin verän-dert. Das ist die Linie, die wir Sozialdemokraten vertre-ten.
Nach der Wahl geht es wieder an die inhaltliche Ar-beit. Worum muss es gehen? Die Arbeitslosigkeit zu be-kämpfen, Wachstum und Beschäftigung zu schaffen,muss im Zentrum unserer gemeinsamen Anstrengungenfür Europa stehen.
Martin Schulz hat es einmal klar und deutlich formu-liert: „Ohne Arbeit kein Zusammenhalt und keine Zu-kunft.“
Wir brauchen einen Pakt für gute Arbeit und existenzsi-chernde Mindestlöhne in ganz Europa. Die sozialen Si-cherungssysteme und die Arbeitnehmerrechte müssengestärkt werden. Sozial- und Steuerdumping müssen be-endet werden. Das dringlichste Problem ist sicherlich dieJugendarbeitslosigkeit. Die Jugend – im Süden Europasinsbesondere – braucht eine konkrete Zukunftsperspek-tive; denn das sind die Menschen, die weiter an demHaus Europa bauen sollen. Sie müssen Europa als einenOrt erleben, der ihnen Möglichkeiten eröffnet und sieeben nicht hängen lässt. Die Jugendbeschäftigungsinitia-tive und ihr Hauptschwerpunkt, die Jugendgarantie,müssen ein Erfolg werden. Damit das klappt, sind alleMitgliedstaaten der Europäischen Union, das Europäi-sche Parlament und die Europäische Kommission ge-fragt – und natürlich der neue Kommissionspräsident;
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3278 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Juni 2014
Dr. Katarina Barley
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denn Europa ist mehr als die Addition von 28 Einzelinte-ressen.Wir dürfen bei allem Klein-Klein die zentralen He-rausforderungen nicht aus den Augen verlieren. Wirkämpfen weiter für ein soziales und solidarisches Eu-ropa, für ein Europa, das Chancen und Perspektiven bie-tet, für ein Europa, von dem die Menschen sagen, esträgt dazu bei, dass ihr Leben besser wird, ebenso diePerspektive für das Leben ihrer Kinder. Das ist unserZiel und dafür streiten wir weiter.Vielen Dank.
Als nächster Redner spricht Florian Hahn von der
CDU/CSU.
Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnenund Kollegen! Der Name und der Ort des diesjährigenGipfels der wichtigsten Industrienationen zeigen bereits:Es hat sich etwas verändert in dieser Welt. Wir sprechenvon einem G-7- und nicht mehr von einem G-8-Gipfel.Die Regierungschefs tagen in Brüssel und nicht, wie ur-sprünglich geplant, in Sotschi in Russland. Beides ist einmarkanter Ausdruck der veränderten Rahmenbedingun-gen deutscher und westlicher Außenpolitik angesichtsder Ereignisse der letzten Monate in der Ukraine. Durchden Ausschluss Russlands aus dem Kreis der großenAcht sind wir auf den Stand von 1998 zurückgefallen.Gleichzeitig sind wir mit unseren Partnern in den G 7 alsWerte- und Sicherheitsgemeinschaft noch näher zusam-mengerückt.Im Hinblick auf den Debattenbeitrag unserer KolleginWagenknecht von vorhin muss ich sagen: Das erinnertmich schon sehr an ihre frühere Mitgliedschaft in derKommunistischen Plattform. Sie haben gesagt, es gebekeinen Frieden in Europa ohne oder gegen Russland. Ichsage Ihnen: Es gibt keinen Frieden in Europa, wenn sichnicht alle an das Völkerrecht halten, und das gilt auch fürRussland.
Die Annexion der Krim durch Russland war und isteine massive Verletzung des geltenden Völkerrechts.Das ist mit unseren gemeinsamen Werten in keinerWeise vereinbar. Deshalb war der Schritt, nur unter denG 7 zu tagen, notwendig und richtig – im Sinne unsererGlaubwürdigkeit und unserer Prinzipientreue und füruns Deutsche insbesondere auch im Spiegel unserer Ge-schichte.Gleichzeitig haben wir uns – allen voran unsere Bun-deskanzlerin und der Bundesaußenminister – in den letz-ten Monaten mit ganzer Kraft dafür eingesetzt, den Ge-sprächsfaden zu allen Beteiligten festzuhalten undgemeinsam nach politischen Lösungen zu suchen. Diesgeschah aus der tiefen Überzeugung, dass es in unsererVerantwortung liegt, alle diplomatischen Mittel auszu-schöpfen, und vor dem Hintergrund unserer Geschichte,da wir um den besonderen Wert wissen, auch unterschwierigen Bedingungen immer wieder das Gesprächzu suchen.Wenn wir heute auf die aktuellen Entwicklungen inder Ukraine schauen, dann sehen wir neben den vielenbedrückenden Nachrichten erstmals seit vielen Wochenwieder schwache Hoffnungsschimmer. Das besonnene,aber entschlossene Handeln der Bundesregierung, derEU und der internationalen Staatengemeinschaft waralso nicht umsonst. Das kann die Linke so viel negieren,wie sie möchte.Die klaren Mehrheiten bei den Präsidentschafts- undden Bürgermeisterwahlen für Poroschenko undKlitschko sind ein starkes Signal nach innen und nachaußen. Sie zeigen: Der ganz überwiegende Teil derukrainischen Bevölkerung ist geeint in dem Bekenntniszur Demokratie und zu europäischen Werten. Besonderserfreulich ist, dass auch die Menschen im von Unruhenerschütterten Osten des Landes trotz der zahlreichenEinschüchterungsversuche und Blockaden durch prorus-sische Separatisten ein eindeutiges Votum für die Frei-heit und Einheit des Landes abgegeben haben.Ich begrüße ausdrücklich die Ankündigung des russi-schen Präsidenten, das Wahlergebnis zu respektieren undmit der neuen ukrainischen Führung zu kooperieren. DieLage in der Ostukraine ist aber noch immer brandgefähr-lich. Es gibt noch immer schwere Gefechte und vieleTote. Hier sind wir in der Verantwortung, auch weiterhinalle diplomatischen Mittel auszuschöpfen, um zu einerStabilisierung beizutragen.Zugleich müssen wir aber in der EU und in der NATOeinig bleiben und fest zu unseren Partnern und zu unse-ren bisherigen Entscheidungen stehen. Nur ein ent-schlossenes Bündnis, das mit einer Stimme spricht, wirdernst genommen.Ich begrüße es deshalb sehr, dass unsere Bundes-ministerin von der Leyen noch einmal betont hat, dassdie Sorgen unserer östlichen Partner auch unsere Sorgensind. Auch Poroschenko ist in der Verantwortung, durchkluges und entschiedenes Handeln Herr der Lage zuwerden und sein Volk zu schützen. Dabei die richtigenund angemessenen Mittel zu finden, ist sicherlich eineextreme Herausforderung. Nicht zuletzt ist Putin in derVerantwortung, seinen Einfluss auf die Separatisten zunutzen und zu einer Deeskalation beizutragen. Raketen-tests in Grenznähe sind sicher nicht das erhoffte Signal,das wir uns wünschen.Putin ist in den vergangenen Wochen wieder kleineSchritte auf den Westen zugegangen. Dazu gehören seinEngagement zur Freilassung der von den Milizen festge-haltenen OSZE-Beobachter, seine Forderung, das soge-nannte Referendum in der Region Donezk zu verschie-ben, um zunächst die notwendigen Bedingungen füreinen Dialog zu schaffen, und die Ankündigung, mit derneuen Führung in der Ukraine zusammenzuarbeiten. Daswaren kleine Schritte, aber sie führen in die richtige
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Florian Hahn
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Richtung. Jetzt gilt es: Putin muss seinen Ankündigun-gen endlich auch Taten folgen lassen. Die wenig kon-struktive russische Haltung auf dem jüngsten NATO-Russland-Rat ist hier noch kein Aufbruchssignal gewe-sen.Wir fordern den russischen Präsidenten auf, einenWeg der Kooperation einzuschlagen und in die Mitte derinternationalen Staatengemeinschaft zurückzufinden.Dazu gehören unter anderem eine konstruktive Zusam-menarbeit mit der neuen ukrainischen Führung und eingemeinsames Engagement zur Stabilisierung der Lage inder Ostukraine. Die Grenze zur Ostukraine muss besserkontrolliert und das Einsickern von Kämpfern und Waf-fen wirksam unterbunden werden. Außerdem muss dieEnergieversorgung der Ukraine sichergestellt werden.Der Gaspreis darf nicht dauerhaft dazu missbraucht wer-den, politischen Druck aufzubauen. Nicht zu vernachläs-sigen ist: Es muss eine angemessene Lösung gefundenwerden, um der ukrainischen Bevölkerung wieder einenZugang zur Krim zu ermöglichen.Es ist unser ausdrücklicher Wunsch, dass ein G-8-Gipfel irgendwann wieder stattfinden wird. Klar ist aberauch: Bis dahin ist noch viel zu tun. Ich sage es noch ein-mal: Wir sehen derzeit einige Hoffnungsschimmer in derUkraine. Das sind Chancen für uns, für Poroschenko, fürPutin, vor allem aber für die Ukraine und die Menschenvor Ort. Ich bin mir sicher, die überwältigende Mehrheitdes Bundestages will tatkräftig daran mitwirken, damitwir alle gemeinsam diese Chancen nutzen.Ich habe eingangs gesagt: Die aktuellen Entwicklun-gen in der Ukraine haben die Rahmenbedingungen deut-scher und westlicher Außen- und Sicherheitspolitik ver-ändert. Damit verbunden müssen wir uns wieder mitFragen auseinandersetzen, die angesichts der europäi-schen Einigung und stabiler internationaler Partnerschaf-ten lange Zeit keine oberste Priorität mehr besaßen. DerReiz der Friedensdividende hat zu lange den Blick aufdie Fragen verdeckt, wie wir uns langfristig in derNATO und in der gemeinsamen europäischen Sicher-heitspolitik positionieren wollen. Welche Fähigkeitenwollen wir erhalten? Welche Fähigkeiten müssen wir ge-meinsam entwickeln, um neuen Bedrohungsszenarienbegegnen zu können? Wir müssen vor allem innerhalbEuropas die gemeinsame Sicherheitspolitik vertiefenund endlich weitere konkrete Projekte auf den Weg brin-gen.In diesem Zusammenhang müssen wir uns auch derDiskussion stellen, ob wir in Deutschland und in Europaausreichend Mittel für unsere Sicherheit aufwenden.Auch die Frage der Energieabhängigkeit muss in denFokus rücken. Wir dürfen nicht zulassen, dass über dieEnergieversorgung politischer Druck auf Deutschland,auf die Europäische Union oder die Staaten der interna-tionalen Gemeinschaft ausgeübt werden kann.Wir dürfen nicht dauerhaft erpressbar sein. Deshalbbegrüße ich mit Nachdruck, dass sich die G 7 dieserwichtigen Frage annehmen und einen gemeinsamen Ak-tionsplan entwickeln wollen. Darüber hinausgehendstellt sich für uns die Aufgabe, mittelfristig eine Strate-gie zu erarbeiten, wie wir unsere Bezugsquellen, insbe-sondere beim Gas, diversifizieren, Transportwege si-chern und eine leistungsfähige europäische Infrastruktursicherstellen.Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, gleichzeitigbefürworten wir das klare Bekenntnis der großen Siebenzur Weiterentwicklung der internationalen Handelslibe-ralisierung. Das war immer unsere Politik. Dieser Weghat Deutschland immer gutgetan; denn Deutschland– vor allem auch meine Heimat Bayern – gehört als Ex-portspitzenreiter zu den größten Profiteuren eines offe-nen Weltmarktes und teilharmonisierter Wirtschafts-räume.
Das gilt für Europa wie für die zahlreichen internationa-len Handelsabkommen.Das europäische Freihandelsabkommen mit denUSA, TTIP, ist und bleibt deshalb zuallererst eine Rie-senchance für unser Land und auch für Europa. Die USAsind einer der wichtigsten Exportmärkte für unsere Un-ternehmen, und wir sind mit Abstand wichtigster Han-delspartner der USA innerhalb der Europäischen Union:30 Prozent aller EU-Exporte in die USA kommen ausDeutschland.Durch TTIP würde der weltweit größte Binnenmarktmit rund 800 Millionen Menschen entstehen. Schätzun-gen gehen für Europa von einem jährlichen Wachstums-impuls von fast 120 Milliarden Euro und 400 000 neuenArbeitsplätzen aus. Ich sage es noch einmal: Das ist zu-allererst eine Riesenchance und wäre auch ein Konjunk-turprogramm gegen die hohe Arbeitslosigkeit in den Kri-senstaaten – ohne Steuermittel.
Ich sage aber auch ganz klar: TTIP darf es nicht umjeden Preis geben. Die Verhandlungen müssen transpa-rent und offen und unter enger Einbindung der Mitglied-staaten, ihrer Parlamente und der allgemeinen Öffent-lichkeit geführt werden. Die Kommission hat hier inletzter Zeit erste Schritte eingeleitet und die von vielenSeiten geäußerten Bedenken ernst genommen. DieserWeg muss unbedingt fortgesetzt werden.Das Freihandelsabkommen darf unter keinenUmständen zu einer Absenkung unserer hohen Schutz-niveaus führen, beispielsweise in den Bereichen Um-weltschutz, Verbraucherschutz, Tierschutz, Gesundheits-schutz und Arbeitnehmerschutz. Es muss natürlich auchein besonderes Augenmerk auf das Thema Datenschutzgelegt werden. Es muss abgesichert sein, dass Regelun-gen zum Schutz des Allgemeinwohls nicht durchSchiedsgerichte unterwandert werden können. An einerso ausgestalteten Partnerschaft wollen und werden wirals CSU und als Union mit voller Kraft mitarbeiten.Abschließend bleibt zu sagen: Der diesjährige G-7-Gipfel nimmt sich der wichtigen Fragen unserer Zeit an.Ich bin sicher, die Bundeskanzlerin wird unsere Interes-sen wie gewohnt und, wie sie es auch kürzlich bei demTreffen der Regierungschefs der EU-Staaten getan hat,mit starker Stimme und Durchsetzungskraft einbringen
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3280 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Juni 2014
Florian Hahn
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und vertreten. Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben dabeiunsere volle Unterstützung.Herzlichen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich Kollegen Klaus
Barthel, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Na-türlich hat uns heute das Thema Ukraine besonders be-schäftigt und vieles andere überlagert. Ich will aber da-rauf hinweisen, dass die Regierungserklärung darüberhinaus viele andere Facetten hatte; Kollegin Barley undKollege Hahn haben schon einiges angesprochen.Ich will mich jetzt, auch wenn es vielleicht auf An-hieb nicht sehr emotional erscheint, ein bisschen mit denwirtschaftspolitischen Fragen beschäftigen. Die Kanzle-rin hat darauf hingewiesen, dass es bei dem bevorstehen-den G-7-Treffen auch um die Vorbereitung des G-20-Gipfels gehen soll. Insofern lohnt sich ein Blick auf dieLage der Weltwirtschaft.Die Kanzlerin – sie musste das Plenum leider schonverlassen – hat ein eher rosiges Bild von der Weltwirt-schaft gezeichnet und gesagt, dass das Wachstum relativhoch ist. Wir alle können nur hoffen, dass sie recht hat.Aber ich mahne zur Vorsicht. Wir haben nämlich eineäußerst labile Situation der Weltwirtschaft. Russlandzum Beispiel ist schon ohne die Sanktionen ökonomischunter starkem Druck, etwa durch den Kapitalabfluss, umnur ein Beispiel zu nennen. In der derzeitigen Sanktions-debatte bedrohen wir uns gegenseitig mit wirtschaftli-chem Schaden.Aber nicht nur dieser Konflikt belastet die Weltwirt-schaft, sondern in fast allen Schwellenländern wieChina, Indien, Brasilien und Südafrika kriselt es vor sichhin. Die Wachstumsraten sind rückläufig. In den USAwar das Wachstum im ersten Quartal negativ. Wie es inJapan weitergeht, weiß man nicht genau. Die Verschul-dung steigt, und wir wissen nicht, ob die Abenomicswirklich zum Ziel führen.Die ILO, die Internationale Arbeitsorganisation,kommt in ihrem aktuellen Weltarbeitsbericht zu dem Er-gebnis, dass die Arbeitslosigkeit weltweit weiter anstei-gen wird, und zwar um zusätzliche 3,2 Millionen Men-schen in diesem Jahr und damit auf über 200 MillionenMenschen 2014, und dass sich dieser Anstieg bis auf213 Millionen Menschen im Jahr 2018 fortsetzen wird.Der Schwerpunkt dieses Anstiegs wird laut Weltar-beitsreport der ILO in Nordafrika, in Nahost und in Zen-tral-, Ost- und Südosteuropa liegen. Ich komme späterdarauf zurück. Die ILO, die ich zitiert habe, ist übrigenskeine arbeitspolitische Organisation, sondern sie arbeitettripartistisch mit Unternehmen, Regierungen und Ge-werkschaften.Deswegen soll und muss auf dem G-7-Gipfel auchüber die Weltwirtschaft geredet werden. Der Europäi-schen Union kommt dabei eine besondere Bedeutung zu,die wir uns noch einmal klarmachen müssen.Wir haben uns insbesondere in Deutschland, aberauch in der EU in den letzten zehn Jahren ziehen lassen.Unsere Exportkonjunktur war auf das Wachstum in denLändern gestützt, die ich gerade genannt habe: in denSchwellenländern und in anderen Ländern dieser Welt.Aber es ist klar: Das kann und wird nicht so weiterge-hen. Alle, die sich mit Prognosen beschäftigen, sagen:Für Europa sind keine Impulse mehr aus der restlichenWelt zu erwarten.Die Europawahl – auch das müssen wir an dieserStelle sagen – war eine Absage der Wählerinnen undWähler an die bisherige Wirtschaftspolitik in Europa.Deswegen sind Äußerungen aus der Bundesregierungwie die von Staatsminister Roth, die EU müsse sich umWachstum kümmern, ausdrücklich zu unterstreichen. InItalien formuliert Herr Renzi das ähnlich. Selbst in Spa-nien legt Ministerpräsident Rajoy jetzt ein Konjunktur-programm auf. Darüber kann man zwar durchaus strei-ten, aber vielleicht findet die Europäische Zentralbankmehr Gehör,
die vorletzte Woche ihren Finanzstabilitätsbericht veröf-fentlicht hat. Ich will nur einige Stichworte nennen. Da-rin ist die Rede von der „Möglichkeit eines scharfen undungeordneten Abbaus der jüngsten Kapitalflüsse“. ZuDeutsch: Es existieren Spekulationsblasen. Wir haben esmit einer Überhitzung der Finanzmärkte zu tun. Es gibtzu viele faule Kredite. Der Wendepunkt sei nicht er-reicht, heißt es. Es gebe unsichere konjunkturelle Per-spektiven und ein signifikantes Risiko einer weiterenVerschlechterung der Kreditqualität. Des Weiteren wirdfestgestellt, dass der Schattenbanksektor und die Deriva-temärkte noch nicht im Griff sind, sondern weiter wach-sen. Selbst Musterländer in Europa wie Finnland und dieNiederlande erleben einen Rückgang ihrer Wirtschafts-leistung.Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir esnicht noch einmal darauf anlegen dürfen, dass die Euro-päische Zentralbank – da stehen morgen Beschlüsse an –die europäische Konjunktur und Finanzmarktstabilitätretten muss. Vielmehr müssen wir sehen, dass das einepolitische Aufgabe ist. Ich hoffe, dass von den bevorste-henden Gipfeln klare Signale zum Handeln ausgehen.
Das heißt, wir brauchen eine Kurskorrektur, auch von-seiten der Europäischen Kommission. Es geht nicht umirgendwelches personelles Geplänkel, sondern um dieinhaltliche Ausrichtung. Der Kurs von Barroso undKonsorten muss beendet werden. Die wirtschafts- undsozialpolitische Geisterfahrt, die noch immer stattfindet– die Europäische Kommission polemisiert beispiels-weise gegen unsere Rentenpolitik und den Mindestlohnund fordert, dass in den Krisenländern noch mehr ge-spart wird und in den öffentlichen Haushalten noch mehrKürzungen vorgenommen werden –, führt überhaupt
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Klaus Barthel
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nicht zum Ziel. Deswegen brauchen wir auf europäi-scher Ebene ein neues Programm, das sowohl zur Be-wältigung der eigenen Krise als auch zur Vorbeugung ei-ner weltweiten Wirtschaftskrise beiträgt. Dabei müssenwir eine wichtige Rolle spielen.Wir müssen uns in der Bundesrepublik auch selberehrlich machen. Wir in der Großen Koalition haben die-sen Kurswechsel doch längst vollzogen. Wir geben mehrfür Bildung und Forschung aus. Daher kann man vonSpanien, Griechenland, Italien und Frankreich nicht dasGegenteil verlangen. Wir geben mehr für öffentliche In-vestitionen aus, wie unser Bundeshaushalt zeigt, den wirin der nächsten Sitzungswoche verabschieden. Wir sor-gen dafür, dass die Löhne steigen, die Gewerkschaftengestärkt werden und der Mindestlohn eingeführt wird.Wir geben mehr für soziale Leistungen, für Pflege undRenten aus.
Der Kollege Schlecht von der Fraktion Die Linke
würde gerne eine Zwischenfrage stellen. Mögen Sie das
zulassen?
Ja.
Herr Kollege Barthel, die Andeutungen hören sich, so
wie ich sie verstehe, ganz gut an. Sie sind offenbar der
Meinung, dass ein europäisches Konjunktur- oder Inves-
titionsprogramm notwendig ist. Sehen Sie denn Chan-
cen, dass die Austeritätspolitik, über deren Sinn nun in
Italien, Frankreich und Spanien diskutiert wird und die
diesen Ländern maßgeblich von Deutschland aufoktroy-
iert wurde, zurückgenommen wird und dass die Bundes-
regierung ein Zukunfts-, Investitions- oder Marshallpro-
gramm für die südeuropäischen Länder auflegt? Sehen
Sie denn tatsächlich eine Chance, dass diese Regierung
und diese Große Koalition hier in Deutschland einen ent-
sprechenden Kurswechsel in der Europapolitik vorneh-
men?
Ich habe gerade versucht, darzulegen, dass ich dafür
nicht nur die Notwendigkeit, sondern auch die Chance
sehe; sonst hätte ich das nicht erwähnt. Der eine Ansatz-
punkt ist, dass wir diesen wirtschaftspolitischen Wechsel
bereits vollzogen haben. Aber auch die Mehrheiten in
Europa haben sich verändert. Bei dem Programm der
Kommission geht es nicht um Herrn Schulz oder Herrn
Juncker, sondern um eine andere europäische Politik.
Wir von der Großen Koalition streiten für Wachstums-
impulse, die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit und
für mehr Investitionen. Ohne Investitionen wird auch
das, was die Kanzlerin erwähnt hat – Industrie 4.0, digi-
tale Gesellschaft und Energiewende –, nicht zustande
kommen. Für ein entsprechendes Umdenken lassen sich
inzwischen Anzeichen in ausreichender Zahl finden. Ich
würde mich freuen, wenn es dafür nicht nur vonseiten
der Grünen, sondern auch von Ihrer Seite, Herr Schlecht,
Unterstützung gäbe und wenn nicht immer alles in
Bausch und Bogen verdammt würde.
Ich komme zum Schluss, da meine Redezeit sowieso
fast abgelaufen war, als die Zwischenfrage gestellt
wurde.
Das stimmt zu 100 Prozent.
Ich möchte nur darauf hinweisen: Es lohnt sich, sich
diese Studien der Internationalen Arbeitsorganisation
mit Blick auf die Weltwirtschaft und die Verarmungspro-
zesse, die gerade in Europa ablaufen, anzuschauen, und
es lohnt sich, über das angesprochene Freihandelsab-
kommen zu debattieren; denn, Kollege Hahn, wenn wir
wollen, dass dieses Abkommen wirklich etwas für Be-
schäftigung und Wohlstand bringt, dann müssen wir da-
für sorgen, dass es nicht einfach nur freien Handel gibt,
sondern dass die sozialen Standards, an denen wir hier
arbeiten, nämlich die Lebensqualität, die Einkommenssi-
tuation, die Mitbestimmung usw., verbessert werden.
Das müssen wir über solche internationalen Handelsab-
kommen absichern.
Wir sollten nicht sagen, dass wir das Freihandelsab-
kommen auf jeden Fall abschließen, weil Freihandel per
se gut ist. Dafür braucht es Regeln auf dem Weltmarkt,
und dafür sollten wir uns gemeinsam einsetzen. Ich
hoffe, dass wir in Europa an einem Strang ziehen. Ich
glaube, dass die Koalition es tut. Aber wir müssen auch
innerhalb Europas und im Rahmen der G 7 und G 20
schon noch ein Stück Überzeugungsarbeit leisten.
Als nächster Rednerin erteile ich der Kollegin Sibylle
Pfeiffer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ei-nen sehr breiten Raum hat sehr zu meiner und vielleichtauch zu Ihrer Freude das Thema Entwicklungspolitik beider Regierungserklärung der Bundeskanzlerin zum G-7-Gipfel in Brüssel eingenommen. Das heißt, Entwick-lungspolitik ist ein wichtiger Bestandteil der Außen- undSicherheitsarchitektur nicht nur Deutschlands, sondernauch Europas. Ich finde das richtig, ich finde das gut.Es wird allerhöchste Zeit, dass wir darüber reden. Ichglaube, dass die Themensetzungen der Troika unter derFührung Deutschlands, die den Gipfel organisiert hat– die Frau Bundeskanzlerin hat es eben gesagt –, richtig
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Sibylle Pfeiffer
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waren. Die Themen sind mit der Unterstützung unsererBundeskanzlerin, die im Übrigen eine wunderbare An-wältin für Entwicklungspolitik ist, was wir alle wissen,gesetzt worden. Ich freue mich darüber und danke ihrsehr herzlich dafür.Aus der Vielfalt der Themen wurden die Themen aufdem G-7-Gipfel herausgesucht, die wichtig sind und aufdie die Schwerpunkte gesetzt werden müssen. Eines die-ser Themen – das beschäftigt uns auch in Deutschlandimmer wieder – sind Steuern und Abgaben, aber auchSteuerhinterziehung und Korruption. Wir als Entwick-lungspolitiker wissen, dass Korruption eines der wich-tigsten Hindernisse für die Entwicklung in den Ländernist. Ich glaube, es ist unsere Aufgabe und die der interna-tionalen Gemeinschaft, darauf zu achten, dass die Ent-wicklung der Länder vorangehen kann.Dazu gehört auch, dass wir Strafverfolgungsbehördenund Steuerfahndungsbehörden einrichten. Bei dieserAufgabe sollten wir den Entwicklungsländern unsereUnterstützung zusagen, weil dieses ihnen selber nützt.Das ist das eine. Das andere ist, dass wir in diesem Zu-sammenhang Hilfestellung leisten. Das kann Deutsch-land allerdings nicht alleine machen; das ist vielmehreine internationale Aufgabe, und deshalb ist es richtigund gut, dass das auf dem G-7-Gipfel an vordersterStelle behandelt wird.Die Senkung der Müttersterblichkeit – MDGs 4 und5 – ist nach wie vor eine Aufgabe der internationalenGemeinschaft, die dringend gelöst werden muss. Dieseläuft als Nachfolge der Muskoka-Initiative 2010 in Ka-nada im Jahre 2015 aus. Das muss ein Thema sein, mitdem wir uns auf internationaler Ebene auseinandersetzenmüssen. Damals sind 5 Milliarden Dollar seitens der in-ternationalen Gemeinschaft zugesagt worden. Es mussjetzt über eine Nachfolgeregelung geredet werden, weildie Mütter- und Kindersterblichkeit für die Zukunft derLänder sehr wohl ein wichtiges Thema ist. Deshalb ist eswichtig, dass wir uns damit auseinandersetzen.Das gilt auch für die Themen sexuelle und reproduk-tive Gesundheit, Zwangsverheiratung, Kinderheirat undGenitalverstümmelung. Alles das behindert die Entwick-lung einer Gesellschaft, vor allem deshalb, weil esFrauen daran hindert, sich in die Gesellschaft einzubrin-gen, ihre Stärken auszuspielen, die Gesellschaft zu stüt-zen und nach vorne zu bringen.Ich freue mich in diesem Zusammenhang – auch dieBundeskanzlerin hat es schon gesagt –, dass wir dieGAVI-Wiederauffüllungskonferenz nächstes Jahr wahr-scheinlich hier in Berlin, aber zumindest in Deutschlandhaben werden.Ein weiteres wichtiges Thema ist die Ernährungssi-cherung. Ich freue mich, dass unser Minister Müller die-ses Thema zu seinem Thema gemacht hat, es als prioritäridentifiziert hat. Es handelt sich um ein internationalesThema. Wichtig ist auch, dass wir erkennen, dass diesesThema innerhalb der internationalen Gemeinschaft be-handelt werden muss. In Camp David haben wir verein-bart, dass wir bis 2020 die Anzahl der Hungernden um50 Millionen reduzieren. Das ist ein ehrgeiziges Ziel.Auch da können wir nicht allein handeln; das muss iminternationalen Kontext passieren.Zur Rohstoffinitiative. Natürlich ist es wichtig, dasswir über die Rohstoffe reden. Die Rohstoffe sollten vorallen Dingen dazu da sein, Einkommen in den Entwick-lungsländern zu generieren. Die Entwicklungsländermüssen über ihre Rohstoffe und ihre Güter Einkommenund Steuern generieren. Sie müssen über die Erlöse, diesie im Zusammenhang mit ihren Rohstoffen erzielen,selber entscheiden können. Ich finde, das muss interna-tional an erster Stelle diskutiert werden. Wir müssen einegemeinsame Lösung finden; denn wir müssen dazu bei-tragen, dass die Länder in der Lage sind, sich selber zuerhalten und ohne unsere Unterstützung ihre Haushalteaufzustellen. Ich glaube, das ist wichtig. Zu all diesemgehören die Rohstoffe dazu. Wir können dazu beitragen,dass es in diesem Bereich faire Verträge mit allen Betei-ligten gibt.Dieser G-7-Gipfel mit seinen Themenstellungen,auch den entwicklungspolitischen, ist genau richtig imHinblick auf das, was an großen Ereignissen im nächstenJahr auf uns zukommt. Das sind der Klimagipfel Ende2015 in Paris, die Post-2015-Agenda und vor allen Din-gen die G-7-, vielleicht auch G-8-PräsidentschaftDeutschlands. Wir haben da eine große Aufgabe vor uns.Ich erinnere mich an den G-8-Gipfel 2007 in Heiligen-damm. Im Vorfeld fand eine hervorragende Parlamenta-rierkonferenz mit 170 Parlamentariern aus der ganzenWelt statt. Das entwicklungspolitische Thema dabei war„Gesundheit in den Entwicklungsländern“. Ich würdemich freuen, wenn es uns gelingen würde, wieder einentwicklungspolitisches Thema zu finden, mit dem wiruns im Vorfeld der G-7- oder G-8-Präsidentschaft nächs-tes Jahr einbringen können. Es wäre ein super Zeichen,wenn wir Parlamentarier uns sowohl an der Themenset-zung als auch an der Bearbeitung der Themen beteilig-ten.Herzlichen Dank.
Als letztem Redner in der Aussprache zur Regie-
rungserklärung erteile ich das Wort dem Kollegen Detlef
Seif, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Aus-führungen der Kollegen Katrin Göring-Eckardt undManuel Sarrazin zur Besetzung des Amtes des Kommis-sionspräsidenten kann ich nicht nachvollziehen. Eins istklar: Die Union ist bundesweit und die EVP ist europa-weit die stärkste Kraft geworden. Das heißt, wir habenden Anspruch, den Kommissionspräsidenten zu stellen.Das steht außer Frage. Die Kanzlerin hat das ausdrück-lich erklärt.Aber die Probleme sind vielschichtiger. Die Kanzlerinhat erläutert: Artikel 17 des EU-Vertrages ist nicht ohneGrund so ausgestaltet worden. Die EU hat 28 Mitglied-
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Detlef Seif
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staaten. Es gibt das Europäische Parlament. Es bedarfzunächst Konsultationen der dann zu bildenden Fraktio-nen im Europäischen Parlament mit den Regierungs-chefs und keiner öffentlichen Diskussion. Wenn wirÄnderungen der Institutionen wünschen, sollten wir auf-hören, die Besetzung des Amtes des Kommissionspräsi-denten zum Spielball machtpolitischer Auseinanderset-zungen zu machen. Das schadet dem Amt.
Meine Damen und Herren, wir können der Bundes-kanzlerin dankbar dafür sein, dass sie in diesem Verfah-ren wie in vielen anderen Verfahren der ruhende Pol istund kein Marktschreier, der herumbrüllt und mit demHolzhammer auf Cameron einschlägt. Wir haben diestaatspolitische Verantwortung, mit den anderen Mitglied-staaten vernünftig zusammenzuarbeiten. Auch wenn wirdie Meinung des britischen Premiers vielleicht nicht tei-len, zählt seine Meinung. Warten Sie doch das Verfahrenab. Wir werden danach sehen, wer Kommissionspräsi-dent wird.Kaum sind die Wahlen vorbei, gibt es auch schon dieersten Ratschläge, nicht nur aus Paris, Rom, Madrid undAthen, sondern auch von unserem StaatsministerMichael Roth. Herr Barthel, auch Sie haben das in IhreRede eingebaut: Wir brauchen einen grundsätzlichenWandel in der politischen Ausrichtung. – So war IhreAussage.
Aber treffen Sie damit den Kern der Sache? Die Vor-schläge sind sicherlich gut gemeint, aber wir alle wissendoch: Wir haben zunächst einmal länderspezifische Pro-bleme. Die Krisen der Vergangenheit, angefangen vonder Finanzmarktkrise über die Staatsschuldenkrise biszur Wirtschaftskrise in einzelnen Ländern, hängen dochnicht damit zusammen, dass keine Sozialleistungen ge-zahlt wurden. Das Gegenteil ist der Fall: Es wurden Rie-senbeträge für den Konsum zur Verfügung gestellt. Eswurden die Stabilitätskriterien nicht eingehalten. Ichwarne davor, die Politik, die uns in den letzten Jahrenauf den richtigen Pfad gebracht hat, zu korrigieren.Soweit Sie das im Sinne von Konjunkturprogrammenmeinen, im Sinne von – ich übersetze das einmal in dieeuropäische Sprache – „zweckgerichteter Verwendungder Strukturförderungsmittel“, haben Sie unsere volleUnterstützung. Auch wir sind für die Bekämpfung derJugendarbeitslosigkeit. Auch wir sind dafür, Wachs-tumsimpulse zu setzen, aber nicht dadurch, dass wir den-selben Fehler wie in der Vergangenheit machen.
Eines ist klar: Solide Staatsfinanzen sind die Voraus-setzung auch für künftiges Wachstum, aber sie schöpfenes nicht. Deshalb ist es wichtig, dass die Fehler, die zur-zeit immer noch bestehen, überwunden werden. Mankann sich nur an den Kopf fassen: In Griechenland sindimmer noch keine Kredite an kleine und mittlere Unter-nehmen aus KfW-Mitteln ausgegeben. Wir haben dieKrise seit Jahren. Das hat noch nicht funktioniert. Erst inden nächsten Wochen soll das umgesetzt werden. Es gibtimmer noch nicht ausreichende Verwaltungsstrukturen.Steuererhebung, Steuereinzug funktionieren immer nochnicht richtig. Das sind die Probleme, die wir haben.Wenn die überwunden sind, dann geht es auch mit denWachstumsimpulsen aufwärts.Meine Damen und Herren, es gibt vielfältige Ursa-chen für das Ergebnis der Europawahl; man kann dasnicht verallgemeinern. Betrachten Sie das einmal länder-spezifisch: Es gibt Länder, in denen die linken Kräfte be-sonders zugelegt haben. Das sind in erster Linie die Pro-grammländer. Es gibt Länder, in denen die rechtenKräfte zugelegt haben. Das sind die Länder, die überwie-gend mit europäischer Politik zu leben haben, zum Bei-spiel im Bereich der Zuwanderung.
Wir müssen uns Gedanken machen, welche Politik wirauf europäischer Ebene umsetzen. Wir können nicht ver-allgemeinern und sagen: Dieses oder jenes ist der Grund.Ganz entscheidend ist, Herr Barthel: Hier wird diewichtigste Frage, die ich für die nächsten Monaten sehe,kaum erörtert: Wer von Ihnen geht denn davon aus, dassdie EU-Kommission in den letzten Jahren die Kräfte, diesie vom Personal und auch von den Mitteln her gehabthätte, tatsächlich genutzt hat? Woran liegt das? Habenwir eine Bundesregierung mit 28 Ministern? Das könn-ten wir uns nicht vorstellen. Die Minister würden sichbehindern. So viele Kompetenzen gibt es gar nicht. Dawürde jeder dem anderen eine Kompetenz wegnehmen.Es gäbe Überschneidungen. Genau das sieht man auchan dem Arbeitsprogramm der EU-Kommission für dasJahr 2014. Wenn man einmal da hineinguckt, wenn mansich vor Augen führt, wie erkennbar die gegenseitigeBlockade der Kommissare ist, kommt man zu demSchluss: Das ist die dringendste Maßnahme, die wir aufden Weg bringen müssen.
Wir wissen, bei den europäischen Verträgen und beidem Machtgefüge können wir nicht sagen: Wir änderndas jetzt, und zwar so, wie es ja eigentlich auch im Ver-trag vorgesehen ist: Verkleinerung der Kommission aufeine Zahl von Mitgliedern, die zwei Dritteln der Zahl derMitgliedstaaten entspricht. Das wird nicht funktionieren.Also müssen wir einen anderen Weg wählen. WolfgangSchäuble hat einen guten Vorschlag gemacht. DiesenVorschlag sollten wir aufgreifen und mit Nachdruck ver-treten und durchsetzen: Dem Kommissionspräsidentensollten Vizepräsidenten an die Seite gestellt werden, diedie Kernkompetenzen bearbeiten, und den Vizepräsiden-ten sollten die anderen Kommissare fachlich zugeordnetsein.Wir müssen erst einmal eine Organisation und Ar-beitsmöglichkeiten schaffen, die inhaltlich optimales Ar-beiten erlauben. Das ist zurzeit nicht umgesetzt, und daswird eine unserer Hauptaufgaben sein.
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Detlef Seif
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Jetzt geht es um Inhalte, und es geht auch darum:Mich erinnert die Europäische Union – bis auf die sehrerfolgreiche Krisenpolitik, die wir, insbesondere natürlichder Rat, auf den Weg gebracht und umgesetzt haben – soein bisschen an eine Durchwurschtelunion. Man könntees auf Englisch auch als „muddling-through union“ be-zeichnen: Man hat ein Ziel, man will es erreichen – Au-gen zu und durch. Das merken wir bei allen wichtigenThemen, auch bei den Themen der Gegenwart.Fangen wir an bei der Gemeinschaftswährung. DieGemeinschaftswährung wurde auf den Weg gebracht,ohne dass effektiv sichergestellt wurde, dass sich dieEuro-Länder tatsächlich an die Haushaltsdisziplin hal-ten. Dieses große Problem war Mitauslöser der Krise.In Griechenland wurde der Euro eingeführt, obwohldie strengen Stabilitätskriterien dort nicht erfüllt waren –Augen zu und durch. In der Vergangenheit wurden neueMitglieder aufgenommen, obwohl man wusste, dass manbei einigen Kapiteln noch nicht so weit war. Es wurdegesagt: Das wird schon werden. – Bei Rumänien undBulgarien ist es aber nicht geworden. Dort gibt es einenhohen Korruptionsgrad, und auch die Rechtsstaatlichkeitin diesen Ländern ist nicht so, wie wir uns das wün-schen. Während des Aufnahmeprozesses schien alles inOrdnung zu sein. Wir haben aber keine Kriterien, mit de-nen wir kontrollieren können, dass dies auch mittel- undlängerfristig der Fall ist. Da müssen wir in der Zukunftbesser aufpassen.Ein weiterer Punkt. Nachbarschaftspolitik wird be-trieben, ohne dass man bemerkt, dass es sich dabei umAußenpolitik handelt – mit allen Risiken und Chancen.Schauen Sie nur in die Ukraine; ich will das gar nichtweiter ausführen. Wir brauchen eine Europäische Union,die die wichtigen Themen nicht ausschließlich politischentscheidet und die Folgen ihres Tuns bedenkt. Auchhier brauchen wir klare Kriterien.Kurz und abschließend gesagt: Die Organisation derEU-Kommission ist grundsätzlich zu ändern. Die Euro-päische Union soll nur Regelungen für die Dinge auf denWeg bringen, die einheitlich geregelt werden müssen.Da sind die Briten, die Niederländer und die Dänen nichtunsere Gegner. Sie haben das Thema angestoßen, unddamit tragen sie dazu dabei, Europa zu verbessern. Nurdie wichtigen übergreifenden Themen gehören nach Eu-ropa, aber nicht das Klein-Klein.Wenn das die EU-Kommission, die hoffentlich neuformiert und anders organisiert wird, bei ihrer Arbeit be-herzigt, dann hat das Projekt Europa, das für uns alleeine Herzensangelegenheit ist, eine gute Chance.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen damit zur Abstimmung über die dreiEntschließungsanträge der Fraktion Die Linke.
Entschließungsantrag auf Drucksache 18/1621. Werstimmt für diesen Entschließungsantrag der Fraktion DieLinke? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Dannist dieser Antrag gegen die Stimmen der Linken mit denStimmen aller übrigen Fraktionen abgelehnt.
Entschließungsantrag auf Drucksache 18/1622. Werstimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist dieser Antraggegen die Stimmen der Linken mit den Stimmen allerübrigen Fraktionen abgelehnt.
Entschließungsantrag auf Drucksache 18/1623. Werstimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmtdagegen? – Dann ist dieser Antrag gegen die Stimmender Linken mit den Stimmen aller übrigen Fraktionenabgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:Befragung der BundesregierungDie Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-binettssitzung mitgeteilt: Entwurf eines Gesetzes zurEinführung des ElterngeldPlus mit Partnerschafts-bonus und einer flexibleren Elternzeit im Bundes-elterngeld- und Elternzeitgesetz.Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Berichthat die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauenund Jugend, Frau Manuela Schwesig. – Bitte schön, FrauMinisterin.Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie,Senioren, Frauen und Jugend:Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren Abgeordnete! Ich freue mich sehr, dass dasBundeskabinett heute den von mir vorgelegten Gesetz-entwurf zum ElterngeldPlus mit Partnerschaftsmonatenund der flexibleren Elternzeit verabschiedet hat. Wir ge-hen mit diesen Vorschlägen neue Wege in der modernenFamilienpolitik. Wir wollen die Vereinbarkeit von Fami-lie und Beruf stärken und setzen dabei vor allem auf dasThema Partnerschaftlichkeit.Die Lebenswirklichkeit von jungen Paaren inDeutschland hat sich verändert. 60 Prozent der Paare mitKindern unter drei Jahren wünschen sich sowohl einepartnerschaftliche Teilung der Erziehungs- und derHausarbeit als auch Zeit für den Job. Und genau darumgeht es beim ElterngeldPlus mit den Partnerschaftsmo-naten: Wir wollen zukünftig ermöglichen, dass Mütterund Väter, die während des Elterngeldbezugs früh in den
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Bundesministerin Manuela Schwesig
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Job einsteigen und Teilzeit arbeiten, nicht länger Nach-teile haben. Vielmehr erhalten sie das ElterngeldPluslänger als das bisherige Elterngeld.Wenn sie die Elternzeit partnerschaftlich teilen, sichalso beide Zeit für das Kind oder die Kinder nehmen,und beide in Teilzeit in einem Korridor zwischen 25 und30 Stunden arbeiten gehen, gibt es zusätzliche Partner-schaftsmonate. Das ist die Idee des ElterngeldPlus mitden Partnerschaftsmonaten. Wir wollen die Vereinbar-keit von Beruf und Familie und vor allem die Partner-schaftlichkeit zwischen Männern und Frauen stärken.Dies gilt natürlich auch für Alleinerziehende. Auch siekönnen von den zusätzlichen Partnerschaftsmonatenprofitieren.Ein weiterer Punkt im vorliegenden Gesetzentwurf istdie Flexibilisierung der Elternzeit. Wir wollen, dass El-tern die Möglichkeit haben, die dreijährige Elternzeit biszum achten Lebensjahr ihres Kindes flexibler aufzutei-len. Das bedeutet, dass die Elternzeit nicht vor allem amAnfang der Lebenszeit des Kindes voll genommen wer-den muss, sondern noch Luft nach hinten ist und man dieMöglichkeit hat, auch später noch eine Auszeit zu neh-men, zum Beispiel wenn ein Kind zur Schule kommt.Die Elternzeit kann laut Gesetzentwurf zukünftig ohneZustimmung des Arbeitgebers genommen werden. Auchan dieser Stelle wollen wir die Eltern stärken.In einer dritten Komponente des vorliegenden Ge-setzentwurfes geht es um eine Klarstellung im Hinblickauf die sogenannten Mehrlingsgeburten. Das Bundesso-zialgericht hat geurteilt, dass das Gesetz an der Stellederzeit unklar ist und Eltern von Mehrlingskindern imGrunde – neben dem Mehrlingsbonus – doppelt Eltern-geld beziehen können. Wir wollen an dieser Stelle klar-stellen, dass es für Eltern von Mehrlingen einen einmali-gen Anspruch auf Elterngeld und wie bisher einenMehrlingsbonus von 300 Euro gibt.Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, das El-terngeldPlus mit den Partnerschaftsmonaten und der fle-xibleren Elternzeit ist ein wichtiges familienpolitischesVorhaben der Regierungskoalition. Wir wollen neueWege beschreiten. Wir wollen die Vereinbarkeit von Be-ruf und Familie stärken. Wir wollen vor allem dafürSorge tragen, dass Männer und Frauen sowohl Zeit fürKinder als auch Zeit für den Job haben. Dieser partner-schaftliche Gedanke tut nicht nur den Familien gut, son-dern ist auch für eine moderne Gleichstellungspolitikwichtig. Denn er unterstützt vor allem auch Frauen, diewieder in den Job einsteigen wollen.An Frauen darf nicht alles – Job und Kinder – hängenbleiben. Das neue ElterngeldPlus sorgt deshalb dafür,dass auch die Männer Zeit für Kinder haben. Die posi-tive Nachricht ist: Die Politik muss das nicht verordnen.Die Politik kann das fördern und unterstützen. Denn diejungen Väter von heute wünschen sich das. Jeder zweiteVater möchte seine Arbeitszeit zugunsten der Familie re-duzieren. Auch das sollten wir fördern. Wenn beide El-ternteile Zeit für die Familie haben, tut das am Endenicht nur den Eltern, sondern auch und vor allem denKindern gut.In diesem Sinne freue ich mich auf die parlamentari-schen Beratungen im Bundesrat und natürlich in diesemHohen Hause. Wir gehen einen weiteren guten Schritt.Das ist ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zu einerpartnerschaftlichen Vereinbarkeit von Beruf und Fami-lie.Vielen Dank.
Die erste Frage hat der Kollege Wunderlich, Fraktion
Die Linke.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Schwesig, vielen
Dank für die Einführung in das ElterngeldPlus. Es tun
sich jedoch einige Fragen auf, insbesondere hinsichtlich
der vorgesehenen Erwerbsstundenvoraussetzung. Es ist
ja geplant, dass 25 bis 30 Wochenstunden gearbeitet
werden soll, wenn man in den Genuss des Elterngeld-
Plus und des Partnerschaftsbonus kommen will. Halten
Sie diese Zahl von Erwerbsstunden für realistisch, insbe-
sondere im Hinblick auf Alleinerziehende?
Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend:
Ich halte es für realistisch. Man muss hier zwei Dinge
voneinander trennen. Das ElterngeldPlus, also den län-
geren Elterngeldbezug während der Teilzeitarbeit, be-
kommen alle unabhängig von der Stundenzahl und unab-
hängig davon, ob der Partner Teilzeit arbeitet oder nicht.
Lediglich die Partnerschaftsmonate – vier Monate für
den Vater und vier Monate für die Mutter – gibt es nur
dann, wenn beide parallel Teilzeit arbeiten. Damit wol-
len wir dem partnerschaftlichen Gedanken, den 60 Pro-
zent der Paare haben, aber nur 14 Prozent realisieren,
Rechnung tragen. Der Korridor von 25 bis 30 Stunden
ist gewählt worden, weil wir damit keine Minijobs unter-
stützen wollen. Wir wollen einen Arbeitszeitkorridor,
der eine wirtschaftliche Existenz ermöglicht. Das ist ins-
besondere für Alleinerziehende wichtig. Deshalb ist die-
ser Korridor zwischen 25 und 30 Stunden insbesondere
vor dem Hintergrund einer sicheren Erwerbstätigkeit,
einer guten Erwerbsperspektive und der Armutsvermei-
dung gut gewählt.
Die nächste Frage hat die Kollegin Frau Dr. Hein,
ebenfalls Fraktion Die Linke.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Ministerin, ichhabe eine Frage zu den Mehrlingsgeburten. Warum wirddas Urteil des Bundessozialgerichtes, in dem steht, dassEltern bei Zwillings- oder Mehrlingsgeburten nicht nurpro Geburt, sondern für jedes neugeborene Kind eineneigenen Elterngeldanspruch haben, so nicht umgesetzt?Um wie viel würde der Haushalt entlastet, wenn Siees so machen, wie Sie es beschrieben haben?
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Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie,Senioren, Frauen und Jugend:Bei der Einführung des Elterngeldes wurde die beson-dere Situation von Mehrlingseltern berücksichtigt. Manhat sich damals ganz bewusst dafür entschieden, dassauch diese Eltern den grundsätzlichen Elterngeldan-spruch in der Dauer von zwölf plus zwei Partnermonatenhaben. Aber weil zwei Kinder auch eine besondere fi-nanzielle Herausforderung sind, gibt es einen Extra-bonus von 300 Euro. Das Bundessozialgericht hat jetztgeurteilt – weil das Gesetz an dieser Stelle nicht klar for-muliert war –, dass es neben den 300 Euro zukünftigauch möglich sein kann, dass man zwei mal zwölf pluszwei Partnermonate nimmt. Das hört sich natürlich gutan. Aber es geht weit über das hinaus, was der Gesetz-geber damals gewollt hat. Mehr geht immer; gar keineFrage. Aber das Urteil bewirkt Mehrkosten von 100 Mil-lionen Euro. An dieser Stelle stellen wir im Gesetz nurklar: Es gibt nicht weniger, sondern es gibt wie immerdie 300 Euro. Damit können wir die Mehrkosten in Höhevon 100 Millionen Euro, die jetzt schon pro Jahr entste-hen, auffangen und können diesen Betrag auch zur Fi-nanzierung des Elterngeldes nutzen, weil das Elterngeldinsgesamt sehr dynamisch ist. Wie Sie aus dem Haushaltwissen, sind die Mittel für das Elterngeld mittlerweileauf insgesamt 5 Milliarden Euro angestiegen. Es warendamals ungefähr 3 Milliarden Euro geplant. Diese Ent-wicklung hat sich ergeben, weil die Löhne steigen unddamit auch das Elterngeld steigt und weil immer mehrMänner Elterngeld beanspruchen und deren gute Gehäl-ter zu Buche schlagen. Ich denke, das Gesamtpaket istfür Mehrlingseltern eine gute Lösung, weil sie weiterhindas bekommen, worauf sie auch bisher einen Anspruchhatten. Wir müssen aber zusehen, dass das Elterngelduns finanziell nicht ganz um die Ohren fliegt.
Der Kollege Marcus Weinberg hat heute erstens Ge-
burtstag und zweitens beschlossen, ihn mit uns zu ver-
bringen. Herzlichen Glückwunsch!
Er hat jetzt eine Frage an die Frau Bundesministerin. –
Bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Es ist mir natürlich
eine große Ehre, mit Ihnen meinen Geburtstag zu ver-
bringen. Ich greife das auf, was die Ministerin gesagt
hat, dass nämlich immer mehr junge Väter mehr Zeit mit
den Kindern verbringen wollen. Insoweit bedeutet diese
Flexibilisierung eine neue Epoche, um Arbeitszeit, Er-
werbstätigkeit und Familienzeit zusammenzubringen.
Deswegen begrüßen wir ausdrücklich, dass dies heute
im Kabinett verabschiedet wurde. Es ist mehr als nur
das, was im Koalitionsvertrag steht: Es ist tatsächlich
eine neue Epoche.
Es gab aber Kritik der Arbeitgeber, die gesagt haben,
dass die neuen Möglichkeiten, gerade die flexiblere El-
ternzeit, zu Problemen führen würden. Können Sie ein-
mal skizzieren, wie Sie mit der Kritik der Arbeitgeber
und der Verbände umgegangen sind?
Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend:
Das kann ich gerne tun. Vorweg auch von mir herzli-
chen Glückwunsch und vor allem Zeit für die Familie,
möglichst heute noch an Ihrem Geburtstag.
Es gibt die Kritik der Arbeitgeber, die sagen: Wenn
die Eltern ohne unsere Zustimmung in Elternzeit gehen
können, dann ist es für uns schwieriger; die Flexibilisie-
rung sehen wir kritisch. – Aus deren Sicht kann man dies
so sehen. Aber am Ende mussten wir uns entscheiden. In
der gemeinsamen Abwägung, die sich auch schon im
Koalitionsvertrag findet, haben wir gesagt: Wir wollen
die Familien stark machen. Wir wollen damit deutlich
machen, dass die Eltern auf Elternzeit Anspruch haben.
Es ist eine wichtige Schonzeit für die Familien, es ist
eine wichtige Zeit für die Paare, um in der Partnerschaft
zusammenzukommen.
Wir sind den Arbeitgebern insoweit entgegengekom-
men, als wir die Frist für die Anmeldung der Elternzeit
von 8 auf 13 Wochen erhöhen, sodass die Arbeitgeber
mehr Planungssicherheit haben. So sind wir den Arbeit-
gebern entgegengekommen, aber setzen das klare Zei-
chen: Familien haben Vorfahrt. Das ist ein wichtiges
Zeichen; denn wir können nicht nur in unseren Sonn-
tagsreden sagen: „Die Familien sind wichtig“, sondern
müssen dann, wenn es zum Schwur kommt, auch so han-
deln. Ich denke, das ist jetzt ein guter Kompromiss.
Als Nächster hat der Kollege Rix, SPD-Fraktion, das
Wort.
Herzlichen Dank. – Frau Ministerin, schon in den ers-ten Medienberichten zu dem Gesetzentwurf ist eine posi-tive Resonanz zu erkennen. Das hätte sich manch ande-rer an dieser Stelle eines Gesetzgebungsverfahrens auchgewünscht. Herzlichen Dank für die Vorlage, die das Ka-binett jetzt dem Bundesrat und dem Bundestag zuleitet.Das ist ein erster wichtiger Schritt beim gesamtenThema Familienarbeitszeit. Ich finde, das ist unserer Ko-alition und Ihrem Hause besonders gut gelungen.Ich möchte eine Nachfrage stellen. Wir beschäftigenuns immer mit dem Thema „Teilzeit und Vollzeit“, dasnatürlich auch bei der Elternzeit eine Rolle spielt. Wel-che Möglichkeiten haben Eltern beim ElterngeldPlus, inTeilzeit zu gehen, und können sie wieder in Vollzeit ge-hen? Welche gesetzlichen Regelungen sind dort geplant?Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie,Senioren, Frauen und Jugend:Schon heute haben die Eltern die Möglichkeit, in Teil-zeit zu gehen. Wenn Eltern das in der Elterngeldzeit tun,dann werden sie zurzeit benachteiligt. Ich habe aktuelleine E-Mail von einer jungen Frau auf dem Tisch, diebeschreibt, dass sie aus beruflichen Gründen gerne wäh-rend der Elterngeldzeit in Teilzeit arbeiten will, weil ihr
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Bundesministerin Manuela Schwesig
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das in ihrem Job langfristig eine bessere Perspektivegebe. Sie beschreibt aber, dass es sich für sie gar nichtlohnt, weil der Elterngeldanspruch sonst verfällt. Wirwollen mit dem ElterngeldPlus die Teilzeitarbeit unter-stützen.Nach meiner Einschätzung geht es nicht nur um einefinanzielle Unterstützung, sondern auch um eine Wert-schätzung. In der Vergangenheit wurde Teilzeitarbeitviel zu häufig abgewertet. Ich finde es richtig, dassEltern die Möglichkeit haben, in bestimmten Lebens-phasen, zum Beispiel wenn sie kleine Kinder haben, dieArbeitszeit zu reduzieren – man könnte auch bei derPflege darüber nachdenken –, ohne große Nachteile zuhaben, ohne auf das Abstellgleis zu geraten, auch ohnefinanzielle Nachteile zu erleiden.Wir helfen mit dem ElterngeldPlus und erhoffen unsvon den Partnerschaftsmonaten, dass sich Paare dadurchauf die Diskussion einlassen – viele tun es jetzt schon –:Wie können wir die Zeit für die Arbeit und die Zeit fürdie Familie aufteilen? – Richtig gut flankiert wird dieseIdee, wenn das Recht auf Rückkehr von Teilzeit in Voll-zeit kommt, damit Teilzeit keine dauerhafte Sackgasseist. Deshalb freue ich mich sehr, dass meine KolleginArbeitsministerin Nahles nach ihren anderen Mammut-projekten ein entsprechendes Gesetzgebungsverfahrenangeht. Wir brauchen ein Recht auf Rückkehr von Teil-zeit in Vollzeit. Teilzeit darf keine Sackgasse sein.
Als nächster Fragestellerin erteile ich Frau Kollegin
Crone, SPD-Fraktion, das Wort.
Ich freue mich auch, dass dieses neue Gesetz bald das
Licht der Welt erblickt. Es ist bestimmt sehr schön, aller-
dings manchmal auch ein bisschen kompliziert. Deswe-
gen habe auch ich eine Nachfrage: Wie wirkt sich das für
Selbstständige aus? Wie profitieren sie davon?
Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend:
Vielen Dank. – Es ist einzuräumen, dass das Eltern-
geld und das ElterngeldPlus kompliziert wirken. Das
liegt meines Erachtens aber auch daran, dass die Lebens-
situation in jeder Familie unterschiedlich ist. Das Gute
ist, dass wir hier nicht eine Einheitslösung für die Fami-
lien vorgeben, sondern zukünftig die Familien – ob al-
leinerziehend, ob in Partnerschaft – ihrer Lebenssitua-
tion entsprechend auf den Baukasten „Elterngeld,
Partnerschaftsmonate, ElterngeldPlus“ zurückgreifen kön-
nen, so wie es zu ihrer Lebenswelt passt. Das ist für
Selbstständige unheimlich wichtig.
Selbstständige profitieren genauso wie Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer vom ElterngeldPlus und
vielleicht noch einen Tick mehr, weil es gerade die
Selbstständigen, die Kleinunternehmerinnen und -unter-
nehmer sind, die sich oft nicht eine Auszeit von zwölf
plus zwei Monaten leisten können, sondern sagen: Ich
muss mich spätestens nach sechs Monaten in meiner
Firma sehen lassen. – Mit dem ElterngeldPlus werden
sie jetzt viel besser unterstützt. Insofern freue ich mich,
dass gerade das Unternehmertum, dass die Selbstständi-
gen und die Soloselbstständigen – das hilft vor allem
auch den Frauen – mit dem ElterngeldPlus und den Part-
nerschaftsmonaten eine besondere Unterstützung erhal-
ten.
Nächste Fragestellerin ist Frau Kollegin Kömpel,
SPD-Fraktion.
Vielen Dank. – Zunächst möchte ich erwähnen, dassich es fast bedauere, dass ich vor 16 Jahren bzw. 11 Jah-ren meine Kinder bekommen habe, weil ich glaube, dasses die Eltern heutzutage durch die entsprechenden Ange-bote sehr viel leichter haben.Ich kann mich noch gut erinnern, wie das mit der Auf-gabenverteilung zu Hause war: Es war selbstverständ-lich, dass ich als Frau sowohl als Selbstständige gearbei-tet als auch alle anderen Pflichten mit übernommenhabe. Meine Frage an Sie, sehr verehrte Frau Ministerin:Wie wollen Sie dafür sorgen, dass die Aufgaben wirklichpartnerschaftlich geteilt werden?Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie,Senioren, Frauen und Jugend:Man kann sich nicht wirklich in die Diskussion derPaare einmischen; die muss jedes Paar für sich führen.Aber das Gute ist: Die jungen Väter von heute sindschon viel weiter. Jeder zweite Vater sagt: Ich möchtemeine Arbeitszeit reduzieren, weil ich mehr für meineFamilie da sein möchte. – Jede zweite Mutter sagt: Ichmöchte wieder früh in meinen Job einsteigen, aber bittenicht in einen Minijob, mit dem ich keine Perspektivehabe, sondern mit einer guten Perspektive, was die Stun-den angeht.Eine Frau hat nur dann die Möglichkeit, wieder gut inihren Job einzusteigen, wenn sie in der Partnerschaft Un-terstützung durch den Mann hat. Eine erste Idee, diePartnerschaftlichkeit zu unterstützen, wurde in den frü-heren Regelungen zum Elterngeld durch die Partnermo-nate verwirklicht.Mit dem Partnerschaftsbonus machen wir nun einenviel größeren Schritt. Wir fördern damit die parallele Er-werbstätigkeit und die parallele Zeit für Kinder. Wir ge-ben deswegen den angesprochenen Stundenkorridor vor.Wir wollen keine feste Stundenzahl vorschreiben, wirwollen nur dafür sorgen, dass die Stundenzahl eine Höheerreicht, die wirtschaftlich trägt, möglichst für beide, fürdie Frau und den Mann.Wir erhoffen uns von diesem Anreiz, dass sich diePaare, die ein solches Modell wollen, dafür entscheidenund dass vielleicht auch andere Paare sich entsprechendeGedanken machen. Ich glaube nicht, dass es ein fami-lienpolitisches Instrument gibt, das den Familien alleinehelfen kann. Es geht immer um einen Mix aus Zeit, In-frastruktur und Geld.
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Bundesministerin Manuela Schwesig
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Hinter jedem familienpolitischen Instrument sollteaber eine Botschaft stehen. Die Botschaft des Eltern-geldPlus mit den Partnerschaftsmonaten ist: Wir wollen,dass ihr Job und Familie vereinbaren könnt und dass ihres in guter Partnerschaft tut. – Die Partnerschaft zwi-schen den Geschlechtern stellt auch eine wichtigegleichstellungspolitische Komponente dar.
Nächste Fragestellerin ist Frau Kollegin Dr. Schlegel,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident, herzlichen Dank. – Frau Ministerin,
ich habe zu diesem Geburtstagsgeschenk, das Sie uns
bzw. den Vätern und Müttern machen, noch eine Frage
zur Statistik: Wie viele Eltern bzw. wie viele Alleinerzie-
hende werden dieses Angebot wohl annehmen? – Danke
schön.
Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend:
Es gibt derzeit 45 000 Elterngeldbezieher, die schon
während der Elterngeldzeit in Teilzeit arbeiten und da-
durch den angesprochenen Nachteil haben. Es gibt der-
zeit 500 Paare, die sich das partnerschaftlich teilen. Das
stärkste Beispiel ist, wenn Mutter und Vater jeweils sie-
ben Monate parallel Elternzeit nehmen. Dann ist aber
nach sieben Monaten Schluss mit der finanziellen Unter-
stützung in Form von Elterngeld. Mit dem Elterngeld-
Plus können sie die Dauer auf 14 Monate erhöhen.
Bei den Berechnungen für das ElterngeldPlus gehen
wir von der Basis aus, dass sich künftig mindestens
7 000 Paare für die Partnerschaftsmonate, die partner-
schaftliche Aufteilung, entscheiden. Wir werden sehen,
wie sich das tatsächlich entwickelt. Das hängt ja auch
von den flankierenden Maßnahmen ab, zum Beispiel
vom Recht einer Rückkehr in Vollzeit nach Teilzeit.
Als nächster Fragestellerin erteile ich das Wort Frau
Kollegin Dr. Brantner, Bündnis 90/Die Grünen.
Danke schön. – Die Elternzeit endet ja, wenn das
Kind das achte Lebensjahr erreicht. Ich möchte gerne
wissen, aus welchem Grund Sie sich entschieden haben,
die Grenze beim achten Lebensjahr zu ziehen. Der Ge-
setzentwurf geht auf den Achten Familienbericht zurück,
in dem vorgeschlagen wird, die Altersgrenze bei 14 Jah-
ren zu ziehen. Manche gehen sogar weiter und sprechen
sich für eine Grenze bei 18 Jahren aus.
Wir wissen, dass zum Bespiel der Übergang in die
weiterführende Schule für manche Kinder eine schwie-
rige Lebensphase ist, in der die Eltern eigentlich gern
Zeit hätten. Von daher die Frage an Sie: Warum bis zum
achten Lebensjahr?
Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend:
Bis zum 14. Lebensjahr wäre wünschenswert. Wir ha-
ben schon in den Koalitionsverhandlungen darüber bera-
ten. Wir verlängern aber nicht nur den Zeitraum, in dem
Elterngeld bezogen werden kann, bis zum achten Le-
bensjahr. Jetzt ist es so, dass am Anfang zwei Jahre
Elternzeit genommen werden müssen und nur ein Jahr
nach hinten hinaus verlagert werden kann. Mit der vor-
gesehenen flexiblen Elternzeit sorgen wir dafür, dass
zwei Jahre nach hinten hinaus verlagert werden können.
Es wäre natürlich wünschenswert, wenn dieser Zeitraum
bis zum 14. Lebensjahr verlängert würde.
Wir unternehmen jetzt einen ersten wichtigen Schritt
zur Flexibilisierung der Elternzeit. Um das für die Ar-
beitswelt handhabbar zu gestalten, haben wir uns ent-
schieden, zunächst die Möglichkeit zu schaffen, dass
zwei Jahre Elternzeit aufgespart und bis zum achten Le-
bensjahr des Kindes genommen werden können. Damit
müssen Erfahrungen gesammelt werden. Alles andere
hätte aus Sicht der Arbeitgeber sehr viel Planungsunsi-
cherheit mit sich gebracht. Das ist ein Kompromiss, den
wir in den Verhandlungen gefunden haben. Ich finde es
wichtig, dass zumindest die Einschulungszeit berück-
sichtigt wird.
Wir werden das ElterngeldPlus und die Partner-
schaftsmonate evaluieren. Wir werden Erfahrungen mit
der Elternzeit sammeln. Ich bin gespannt, wie viele
Paare von diesem Angebot Gebrauch machen werden.
Ich persönlich glaube nicht, dass die Arbeitgeber besorgt
sein müssen. Nach meiner Einschätzung werden infolge
dieser Flexibilisierung viele sagen: Ich will früh in den
Beruf zurückkehren – die meisten wollen nach einem
Jahr wieder in den Job einsteigen, meistens nicht in Voll-
zeit, sondern mit einer vollzeitnahen Teilzeit –; ich habe
aber die Sicherheit, dass ich, wenn es aus irgendeinem
Grund nicht klappt, wenn es meinem Kind dabei nicht
gut geht oder es Probleme bei der Einschulung gibt,
noch einmal Elternzeit in Anspruch nehmen kann. – Wir
werden sehen, wie viele davon Gebrauch machen.
Die nächste Frage kommt von der Frau Kollegin
Dörner, Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank, Frau Ministerin, für Ihre Ausführungen.Ich denke, wir sind uns alle einig, dass Sie mit der El-terngeldreform, die jetzt ansteht, eine Gerechtigkeitslü-cke schließen, was das Teilelterngeld angeht. Eine an-dere Gerechtigkeitslücke bleibt aber aus Sicht derFraktion der Grünen ganz klar bestehen. Sie besteht da-rin, dass Familien mit einem sehr geringen Einkommen,die ALG II beziehen, von dieser Reform gar nicht profi-tieren, weil bekanntermaßen das Elterngeld – das giltauch für alle Reformschritte, die jetzt anstehen – weiter-hin beim Regelsatz angerechnet wird. Das ist aus unsererSicht eine weitere Gerechtigkeitslücke, die man drin-gend schließen sollte. Die Kolleginnen und Kollegenvon der SPD waren in der letzten Legislaturperiode völ-lig einer Meinung mit uns, dass das unbedingt angepackt
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werden sollte. Insofern meine Frage an Sie: Haben Siedas ins Kabinett eingebracht? Gedenken Sie, sich für dieGleichstellung der Eltern, die ein geringes Einkommenbeziehen, an dieser Stelle einzusetzen?Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie,Senioren, Frauen und Jugend:Es ist wichtig, dass Eltern, die ein geringes Einkom-men haben, durch das Elterngeld unterstützt werden. Dasgilt zum Beispiel für Studierende, die neben dem BAföG300 Euro Elterngeld bekommen. Es ist so, wie Sie es sa-gen: Wenn Eltern arbeitslos sind, dann können sie300 Euro Elterngeld beziehen; aber spätestens, wenn sieArbeitslosengeld II beziehen, wird es angerechnet. Daswird kritisch gesehen. Wir haben darüber schon in denKoalitionsverhandlungen beraten. Wir haben uns abernicht darauf geeinigt, Eltern, die ALG II beziehen, dasElterngeld wieder anrechnungsfrei zu zahlen.Ich finde aber, die größere Gerechtigkeitslücke be-steht darin, dass diese Eltern vor der Geburt ihres Kindesoffensichtlich keine Arbeitsmarktperspektive hatten.Ziel muss es sein, diesen Eltern eine Arbeitsmarktper-spektive zu bieten, damit die dauerhafte Ungerechtig-keit, die weit über den Elterngeldbezug hinausgeht, ge-schlossen wird.
Als nächster Fragestellerin gebe ich das Wort Frau
Kollegin Schulte, SPD-Fraktion.
Danke, Herr Präsident. – Die Ministerin hat die Vor-
teile des ElterngeldPlus für die Familien schon gut erläu-
tert. Ich möchte Sie gerne fragen, welche Vorteile die
Arbeitgeber vom ElterngeldPlus haben. Die zweite
Frage lautet – –
Nur eine Frage. Es gibt noch ein paar andere, die Fra-
gen stellen wollen. Deswegen bitte immer nur eine
Frage.
Gut, okay. Entschuldigung.
Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend:
Die Arbeitgeber haben aus meiner Sicht immer Vor-
teile, wenn die Familien gestärkt werden; denn in den
Familien sind Frauen und Männer, die als Fachkräfte in
der Arbeitswelt gebraucht werden. Unternehmen be-
schweren sich über den Fachkräftemangel. Insbesondere
den Frauen werden in der Arbeitswelt noch nicht die
Chancen angeboten, die sie verdient haben und die un-
sere Unternehmen eigentlich nutzen müssten. Deshalb
ist es gut, dass mit dem ElterngeldPlus der Wiederein-
stieg in das Arbeitsleben, insbesondere von Frauen, un-
terstützt wird.
Das haben auch die Arbeitgeber erkannt. Sie unter-
stützen das ElterngeldPlus mit den Partnerschaftsmona-
ten. Vereinzelte Stimmen, zum Beispiel die des DIHK-
Chefs Schweitzer, unterstützen die Idee der Familienar-
beitszeit, weil man erkannt hat, dass wir die Frauen auch
dadurch unterstützen, dass auch die Männer Zeit für Fa-
milie haben; denn dadurch haben die Frauen viel bessere
Arbeitsmarktperspektiven. Das ist für die Frauen gut,
weil sie für ihr Einkommen und für ihre Rente Jobs
brauchen, die gut bezahlt werden; aber es ist natürlich
auch aus Sicht der Arbeitgeber für die Bekämpfung des
Fachkräftemangels gut. Deshalb glaube ich, dass sich
auch die Arbeitgeber mit der flexiblen Elternzeit an-
freunden können.
Wichtig ist, dass in Deutschland beides geht, Familie
und Job, und dass es nicht immer ein Gegeneinander ist.
Dieses Gegeneinander, dass sich eine Frau zwischen Job
und Kindern entscheiden muss – dies betrifft vor allem
junge Frauen –, passt nicht in das 21. Jahrhundert.
Als nächste Fragestellerin hat sich Frau Kollegin
Yüksel, SPD-Fraktion, gemeldet.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Sie haben eben kon-
kret das ElterngeldPlus genannt. Ich würde Sie bitten,
noch einmal konkret auf die Änderungen bei Mehrlings-
geburten einzugehen; denn darüber haben wir heute,
glaube ich, noch nicht viel gehört. – Danke.
Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend:
Streng genommen gibt es im Gesetz keine Änderung
hinsichtlich der Mehrlingsgeburten, sondern eine Klar-
stellung. Als das Elterngeld eingeführt worden ist, hat
man sich für die Mehrlingsgeburten überlegt, neben dem
Elterngeld – die Eltern haben einen Anspruch auf Eltern-
geld für die Dauer von zwölf plus zwei Monaten – einen
Mehrlingsbonus von 300 Euro pro Kind zu zahlen. Man
hat sich damals entschieden, dieses Geld zur Verfügung
zu stellen, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die
finanziellen Aufwendungen natürlich höher sind, wenn es
zum Beispiel zwei Kinder sind. Das fängt ganz schlicht
beim Windelkauf an. Jeder, der ein Kind hat, weiß, wie
viel das kostet. Diese 300 Euro gibt es weiterhin.
Das Sozialgericht hat geurteilt, dass die Frage, ob
diese Eltern für zwei Kinder einmalig oder zweimalig
zwölf plus zwei Monate Elterngeld beziehen können, im
Gesetz nicht klar geregelt ist. Das Gericht sagt: Weil es
nicht klar ist, bekommen die Eltern beides, doppeltes El-
terngeld und den Mehrlingsbonus von 300 Euro. Wir
schaffen an dieser Stelle eine gesetzliche Klarstellung
und machen das Gesetz korrekter. Für die Mehrlingsel-
tern wird es weiterhin diese 300 Euro geben.
Als nächste Fragestellerin hat Frau Kollegin Pantel,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrte Frau Ministerin, dass das eine große Ver-besserung für die Familien ist, ist, glaube ich, unbestrit-
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3290 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Juni 2014
Sylvia Pantel
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ten, egal ob es der Partnerschaftsbonus ist, ob es die fle-xibler gestaltete Wiedereingliederung ist oder eben auchdie Verbesserung der finanziellen Lage der Familien.Wann haben Sie vor, uns vorzustellen, wie was von denFamilien angenommen wurde? Gibt es da schon einenfesten Zeitplan? Wann, glauben Sie, können Sie uns dieersten Ergebnisse berichten?Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie,Senioren, Frauen und Jugend:Ich würde mich freuen, wenn das parlamentarischeVerfahren es ermöglicht, dass das Parlament das Gesetzzum 1. Januar 2015 verabschiedet, sodass das Eltern-geldPlus und die Partnerschaftsmonate für alle Geburtenab 1. Juli 2015 gelten können. Die Änderungen müssenvor Ort noch umgesetzt werden. Die Elterngeldstellen,die sich in den Ländern befinden, müssen das natürlichordentlich umsetzen und die Paare gut beraten können.Diese tolle Flexibilität, die es dadurch gibt, bedeutet na-türlich gleichzeitig, dass man Paare darüber gut beratenkönnen muss. Dafür braucht man Zeit. Als ehemaligeLandesministerin weiß ich, dass man für die Umsetzungeinen Zeitpuffer braucht. Das Gesetz könnte dann ab1. Juli 2015 zu wirken beginnen. Wir haben geplant,2017 mit der Evaluation zu beginnen, weil wir natürlichein Stück Strecke brauchen, um zu schauen, wie eswirkt. Wir können dann in 2017 erste Evaluationsergeb-nisse vorlegen.
Kollege Wunderlich hat noch eine Frage.
25 bis 30 Wochenarbeitsstunden sind völlig utopisch,
sagt auch der VAMV. Bei Alleinerziehenden funktioniert
das gar nicht.
Aber davon einmal abgesehen: Warum sollen denn
Alleinerziehende, die mit dem Kindesvater das gemein-
same Sorgerecht haben, von den Partnermonaten, vom
ElterngeldPlus ausgenommen werden? Es läuft doch ge-
rade den Sorgerechtsregelungen, für die wir in der letz-
ten Legislaturperiode gekämpft haben, nämlich dem
Sorgerecht bzw. der Sorgepflicht für beide Eltern, zuwi-
der, wenn alleinerziehende Mütter oder Väter oder
Paare, die nicht verheiratet sind und zusammenleben,
letztlich vor die Alternative gestellt werden: entweder
ElterngeldPlus und Bonus oder gemeinsames Sorgerecht
in alleiniges Sorgerecht ändern. Man muss sich entschei-
den zwischen dem gemeinsamen Sorgerecht für das ge-
meinsame Kind oder für die Partnermonate. Das kann
doch nicht der Sinn sein. Ich denke, darüber müssen wir
im Rahmen der Gesetzgebung dringend reden. Ich
denke, da ist wirklich Änderungsbedarf angesagt. Oder
sehen Sie das anders?
Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend:
Ich bin mir gerade nicht sicher, ob ich das, was Sie sa-
gen, richtig verstanden habe. Ich verstehe den Punkt, den
Sie ansprechen, nicht.
– Ja, in Bezug auf Alleinerziehende verstehe ich das
schon. Es ist doch jetzt so: Bei einem gemeinsamen Sor-
gerecht müsste es in unserem Interesse sein, dass sich
zum Beispiel auch die Väter an der Elternzeit beteiligen;
das ist bei einem gemeinsamen Sorgerecht ja nicht
grundsätzlich ausgeschlossen.
Jetzt komme ich zu den Alleinerziehenden, bei denen
das gemeinsame Sorgerecht – ich sage es einmal salopp –
eher auf dem Papier steht, in der Realität aber nicht prak-
tiziert wird, weil die Frau doch ganz alleine mit dem
Kind ist. Über diese Fälle haben wir gesprochen, auch
mit dem Verband. Da muss man sich aber fragen: Wel-
che praktische Lösung gibt es? Wir können ja nicht die
Elterngeldstellen beauftragen, das zu überprüfen; das
wäre ein bisschen schwierig. In dem Fall, in dem eine
Alleinerziehende das alleinige Sorgerecht hat, sie also
definitiv alleine für das Kind verantwortlich ist, kann sie
zusätzlich zu den Regelungen, von denen sie Gebrauch
machen kann – oder er; es gibt ja auch alleinerziehende
Männer mit alleinigem Sorgerecht –, die vollen Partner-
schaftsmonate und Boni bekommen.
Was die Wochenstunden anbetrifft, würde ich Ihnen
gerne mitgeben: Es muss unser Interesse sein, dass Al-
leinerziehende wenigstens durch die genannte Zahl von
Wochenstunden abgesichert sind. Dass das in der Reali-
tät oft nicht der Fall ist, weil es keine adäquate Kinder-
betreuung gibt, ist ein zusätzliches Problem. Deswegen
ist es wichtig, dass wir auch bei diesem Thema voran-
kommen.
Ich wundere mich über Ihre Aussage, weil ich weiß,
dass gerade Sie – völlig zu Recht – kritisieren, dass es
nicht sein kann, dass viele betroffene Frauen nur wenige
Wochenstunden arbeiten und daher keine gute existen-
zielle Absicherung haben. Der Korridor von 25 bis
30 Stunden soll dazu führen, dass man nicht sagt: „Na
gut, wenn die Frau noch zehn Stunden Teilzeit macht,
dann ist die Welt ja wieder in Ordnung“; er soll dazu bei-
tragen, dass die Frau eine höhere Stundenzahl bekommt.
Es ist so, wie Sie sagen: Das ist eine Sache, die wir im
parlamentarischen Verfahren gerne noch vertiefen kön-
nen. Ich wollte nur berichten, warum der Korridor zu-
stande gekommen ist, nämlich deshalb, weil es auch um
die wirtschaftliche Existenz geht.
Gibt es noch weitere Fragen zum Thema der heutigenKabinettssitzung? – Das ist nicht der Fall. Gibt es andereFragen an die Bundesregierung? – Das ist nicht der Fall.Dann beende ich die Regierungsbefragung.Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 auf:FragestundeDrucksache 18/1589
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Juni 2014 3291
Vizepräsident Peter Hintze
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Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Auswär-tigen Amtes. Die Fragen 1 und 2 der AbgeordnetenSevim Dağdelen und die Fragen 3 und 4 der Abgeordne-ten Agnieszka Brugger werden schriftlich beantwortet.Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums des Innern. Zur Beantwortung steht derParlamentarische Staatssekretär Professor Dr. GünterKrings bereit.Ich rufe die Frage 5 des Abgeordneten Andrej Hunkoauf:Welche Antworten bzw. sonstigen Hinweise kann die Bun-desregierung ein Jahr nach den Enthüllungen des Whistle-blowers Edward Snowden zur weltweiten Spionagepraxis vonUS-Behörden über die erhoffte „zeitnahe Beantwortung“ aufdie zahlreichen „übermittelten Fragenkataloge“ mitteilen
bzw. in welchem Umfang hat die Bundesregierung mittler-weile zwar Antworten erhalten oder Erkenntnisse gewonnen,sich allerdings dagegen entschieden, diese „dann auch demParlament öffentlich bekannt geben können“ (ebenda)?Herr Staatssekretär, bitte.D
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege Hunko,
das Bundesministerium des Innern hat mit Schreiben
vom 11. Juni, mit Schreiben vom 26. August und mit
Schreiben vom 24. Oktober 2013 Fragen an die Bot-
schaft der Vereinigten Staaten von Amerika in Berlin ge-
richtet. Auf keines dieser Schreiben – wie in den Me-
dien, glaube ich, schon bekannt geworden ist – liegt
bisher eine entsprechende Antwort vor.
Die Botschaft des Vereinigten Königreichs von Groß-
britannien und Nordirland in Berlin wurde mit Schreiben
des Bundesministeriums des Innern vom 24. Juni 2013
um Beantwortung eines Fragenkatalogs gebeten. Sie ant-
wortete am gleichen Tag, dass die britische Regierung
grundsätzlich zu nachrichtendienstlichen Angelegenhei-
ten nicht öffentlich Stellung nehme; derartige Gespräche
seien der Ebene der Nachrichtendienste vorbehalten.
Weitere Fragen wurden der britischen Botschaft mit
Schreiben vom 5. November 2013 gestellt. Darauf
wurde am 7. November, zwei Tage später, geantwortet;
es wurde für die weitere Sachverhaltsaufklärung erneut
auf die Ebene der Nachrichtendienste verwiesen.
Die damalige Bundesministerin der Justiz, Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, hat sich bereits kurz nach
dem Bekanntwerden der Vorgänge mit Schreiben vom
12. Juni 2013 an US-Justizminister Eric Holder gewandt
und ihn darum gebeten, die Rechtsgrundlage für Prism
und seine Anwendung zu erläutern. Sie hat US-Justiz-
minister Holder mit Schreiben vom 24. Oktober 2013 an
die gestellten Fragen erinnert. Eine Antwort des US-Jus-
tizministeriums an das deutsche Justizministerium liegt
nach unserem Wissen bisher nicht vor.
Mit Schreiben vom 24. Juni 2013 hat die damalige
Bundesministerin der Justiz ebenfalls kurz nach dem
Bekanntwerden der entsprechenden Vorgänge, den briti-
schen Justizminister Christopher Grayling und die briti-
sche Innenministerin Theresa May gebeten, die Rechts-
grundlage für Tempora und dessen Anwendungspraxis
zu erläutern. Der britische Justizminister hat auf das
Schreiben der damaligen Bundesministerin der Justiz
mit seinem Schreiben vom 2. Juli 2013 geantwortet. Da-
rin erläutert er die rechtlichen Grundlagen für die Tätig-
keit der britischen Nachrichtendienste und für deren
Kontrolle.
Vertreter der Bundesregierung haben sich in zahlrei-
chen Gesprächen mit Vertretern der amerikanischen und
der britischen Regierung für eine zeitnahe Beantwortung
der übermittelten Fragenkataloge eingesetzt und im Rah-
men dieser Gespräche auch Sachverhalte erörtert, die
Gegenstand der Fragenkataloge waren. Im Übrigen wird
darauf hingewiesen, dass sich die Fragestellungen mit
der Aufklärungsarbeit des 1. Untersuchungsausschusses
der 18. Wahlperiode, die von der Bundesregierung unter-
stützt wird, überschneiden.
Haben Sie eine Nachfrage, Herr Kollege Hunko?
Ja. – Vielen Dank, Herr Dr. Krings. Morgen ist,
glaube ich, der Jahrestag der Snowden-Enthüllungen. Es
gab, wie Sie gerade erwähnt haben, eine Reihe von
Schreiben der Bundesregierung an die USA, die offen-
bar alle, wenn ich Sie richtig verstanden habe, nicht be-
antwortet worden sind. Meine Frage ist: Sind Sie der
Meinung, dass hier mit genug Nachdruck vorgegangen
wurde, oder welche Mittel sehen Sie, noch zu einer Ant-
wort zu kommen? Oder sind Sie der Meinung, dass es
bei dieser Nichtbeantwortung bleiben wird? Dann
müsste man ja sagen, dass es keine Antwort geben wird,
und das entsprechend kommunizieren.
D
Herr Abgeordneter, ich teile die Feststellung – dashabe ich ja im Prinzip detailliert, wie es gewünscht war,aufgelistet –: Es gab Schreiben, die seitens der Amerika-ner unbeantwortet geblieben sind. Von daher habe ichbereits in einer Bundestagsrede vor einigen Monaten ge-sagt, dass das Antwortverhalten der Amerikaner im Hin-blick auf diese konkreten Fragen absolut unbefriedigendist; das ist offensichtlich. Die Briten haben geantwortet,allerdings nur in formaler Hinsicht und auf den Verweisauf die nachrichtendienstlichen Verbindungslinien undGesprächskanäle beschränkt. Insofern sind die Antwor-ten auf diese konkreten Fragestellungen in der Tat unbe-friedigend.Es gibt keine völkerrechtlichen Zwangsmittel, die dain Betracht kommen. Es gibt allerdings durchaus Ge-spräche zwischen den Nachrichtendiensten, auch zwi-schen den Regierungen. Der Bundesinnenminister warerst kürzlich in den Vereinigten Staaten. Über die The-
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3292 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Juni 2014
Parl. Staatssekretär Dr. Günter Krings
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men wird also gesprochen, übrigens – das kann ich beidieser Gelegenheit feststellen – eher in den USA als inGroßbritannien, wenn Sie mir diese persönliche Ein-schätzung gestatten. Die Kritik aus Deutschland – sei-tens der Bundesregierung, aber auch aus anderen Krei-sen in Deutschland – hat durchaus Widerhall gefunden.Es gab sehr konkrete Ankündigungen des amerikani-schen Präsidenten, die natürlich noch nicht im Einzelnenumgesetzt sind, dass sich Dinge verändern werden, auchim Hinblick auf den Schutz nichtamerikanischer Staats-bürger vor entsprechenden Aktivitäten. Es gibt insofernschon Widerhall, aber eben keine Beantwortung der kon-kreten Fragestellungen; dafür fehlen uns in der Tat denk-bare Zwangsmittel.
Haben Sie eine weitere Zusatzfrage, Herr Hunko? –
Bitte.
Noch einmal die konkrete Frage: Rechnen Sie noch
mit einer Beantwortung, oder rechnen Sie nicht mehr mit
einer Beantwortung der Fragen?
D
Ich rechne nicht mit einer Beantwortung der konkre-
ten Schreiben. Ich rechne aber damit – und bin da sogar
sehr zuversichtlich –, dass wir über die Themen, die dort
angesprochen werden, weiter im Gespräch bleiben und
es dort auch weitere Reaktionen geben wird und auch
Veränderungen erfolgen werden.
Eine Frage dazu vom Kollegen Ströbele, Bündnis 90/
Die Grünen.
Danke, Herr Staatssekretär. Da bin ich gerade noch
rechtzeitig gekommen.
Ich erinnere mich an den letzten Sommer ganz gut:
Da waren in der Tat sowohl Minister als auch die Chefs
der Dienste in den USA. Sie kamen wieder und haben
gesagt: Die Fragen, die die Bundesregierung schriftlich
an die US-Regierung gestellt hat, werden – so hieß es
erst – innerhalb von sechs Wochen beantwortet, weil zu-
vor noch einige Dokumente heruntergestuft werden
müssen. Dann waren sie wieder da, und als sie zurückka-
men, wurde gesagt: Das dauert noch ein bisschen. Der
Termin für die Beantwortung wurde dreimal verschoben.
Der Endtermin, den ich mitbekommen habe, war Mitte
Dezember 2013, also kurz vor Weihnachten. Das war
dann aber auch nicht der Fall.
Herr de Maizière war jetzt dort zu Besuch, was sicher
richtig und wichtig war. Hat er bei dieser Gelegenheit et-
was dazu gesagt? Hat er gefragt, warum sie ihre festen
Versprechen nicht einhalten? Oder waren das keine Ver-
sprechen? Sie haben selber gesagt, sich auch darüber ge-
ärgert zu haben, dass es keine Antworten gibt. Versucht
man, der Sache auf den Grund zu gehen, warum das
nicht der Fall ist und wie das entschuldigt wird?
D
Ich kann und will jetzt keine Einzelheiten aus den
vertraulichen Gesprächen des Ministers mit amerikani-
schen Stellen berichten. Wichtig und richtig ist aber
– ich glaube, das ist heute im Innenausschuss auch hin-
reichend zum Ausdruck gekommen –, dass genau die
Themen, die Gegenstand der schriftlichen Anfragen wa-
ren, auch in den Gesprächen des Ministers zur Sprache
gekommen sind. Über diese Themen wird also gespro-
chen, und zwar nicht nur auf dieser Ebene, sondern auch
auf fachlicher Ebene zwischen den Ministerien und den
Nachrichtendiensten.
Dass die Briefe mit den konkreten Anfragen unbeant-
wortet geblieben sind, halte auch ich für unbefriedigend.
Das heißt aber nicht, dass wir nicht zuversichtlich sind,
bei diesen Themen weiterzukommen und Informationen
zu erhalten. Im Übrigen wäre es auch noch nicht befrie-
digend und keine hinreichende Antwort auf die Briefe
gewesen, wenn bestimmte Rechtsregeln und Entschei-
dungen von amerikanischen Gerichten heruntergestuft
worden wären, was einmal in Aussicht gestellt worden
ist.
Es ist jetzt wichtig, dass wir den Dialog mit den Ame-
rikanern vertiefen. Dafür gibt es unter anderem den
Cyber-Dialog, den das Auswärtige Amt mit den Ameri-
kanern jetzt beginnt, um in den Themen weiterzukom-
men, um Lösungen zu finden und um die amerikanische
Praxis gegenüber deutschen Staatsbürgern zu verändern.
Darum geht es jetzt, nicht so sehr darum, sklavisch zu
sagen: Wir haben bestimmte Fragen in den Briefen ge-
stellt, die jetzt beantwortet werden müssen. – Das wäre
zwar wünschenswert und richtig; aber mir geht es jetzt
um den Erfolg in der Sache und nicht um diese drei
Briefe aus dem letzten Jahr.
Wir kommen damit zur Frage 6 des Kollegen AndrejHunko, Fraktion Die Linke:Welche weiteren Details kann die Bundesregierung zu In-halt, Dauer, Kostenübernahmen und Teilnehmern des unterFederführung des Bundeskriminalamts organisierten Exper-tenaustauschs beim Spezialeinsatzkommando Hannover zurFortbildung der Spezialkräfte der brasilianischen Militärpoli-zei Batalhão de Operações Policiais Especiais, BOPE, und derDivisão de Operações Especiais, DOE, in Vorbereitung aufdie Fußball-WM in Brasilien mitteilen, und inwiefern wurdeErkenntnissen der Bundesregierung über die in der städti-schen Kriegsführung spezialisierten BOPE bezüglich etwai-ger unverhältnismäßiger Gewalteinsätze, einer rigorosen undaggressiven Grundhaltung und von der brasilianischen Zivil-gesellschaft und internationalen Menschenrechtsorganisato-ren geäußerten Kritik an der Einheit, die sich im Siegerfilmder Berlinale 2008 Tropa de Elite widerspiegeln, bei der Fort-bildung Rechnung getragen?Herr Staatssekretär.
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D
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege Hunko,
grundsätzliches Ziel aller Maßnahmen der polizeilichen
Aufbauhilfe ist natürlich auch die Förderung von Demo-
kratie und Rechtsstaatlichkeit. Sie verfolgt das Ziel, be-
stehende Reformprozesse in den jeweiligen Empfänger-
staaten voranzubringen.
Die Bundesregierung orientiert sich hierbei nicht an
fiktiven Filmen wie dem von Ihnen erwähnten Film
Tropa de Elite, der auch bereits einige Jahre alt ist, son-
dern an den eigenen Grundsätzen für polizeiliche Auf-
bauhilfe. Zudem darf ich erwähnen, dass die in diesem
Film offenbar thematisierten Sondereinheiten in Rio de
Janeiro unter ganz anderen – auch dramatischen – Be-
dingungen und einer ganz anderen Sicherheitslage arbei-
ten müssen als die von der Maßnahme, um die es hier
geht, begünstigten Einheiten aus der brasilianischen
Hauptstadt Brasilia. Schon aus diesem Grund ist ein Ver-
gleich mit einem solch fiktiven Film aus meiner Sicht
unsinnig.
Im konkreten Fall wurde am 30. Januar 2013 über den
Verbindungsbeamten des Bundeskriminalamtes ein be-
reits mehrfach vorgetragenes Ersuchen des Innenminis-
ters des brasilianischen Bundesstaates Distrito Federal
rund um die Hauptstadt Brasilia zur Fortbildung von
Spezialkräften der BOPE und der DOE in Vorbereitung
auf die anstehenden Großereignisse – Fußballweltmeis-
terschaft 2014 und Olympische Spiele 2016 – in Brasi-
lien übermittelt. Das Ersuchen wurde sowohl durch das
Bundesministerium des Innern als auch durch das Aus-
wärtige Amt geprüft und die Umsetzung vor dem Hinter-
grund der Stärkung der Menschenrechte und der Rechts-
staatlichkeit befürwortet.
Aufgrund des positiven Votums wurde das Ersuchen
schließlich über die Bund-Länder-Koordinierungsstelle
für polizeiliche Aufbauhilfe an das Landeskriminalamt
Niedersachsen in Hannover, Bereich Spezialeinsatzkom-
mando – SEK –, vermittelt. Das entsprechende Einsatz-
kommando SEK Niedersachsen führte daraufhin vom
28. Oktober bis zum 15. November 2013 in Deutschland
einen Fortbildungslehrgang durch, welcher vom Bundes-
kriminalamt mit 8 650 Euro finanziell unterstützt wurde.
Insgesamt nahmen zehn brasilianische Vollzugsbeamte
an der Veranstaltung teil.
Während der dreiwöchigen Ausbildungsmaßnahme
wurden das Sicherheitskonzept Fußball am Beispiel ei-
nes Bundesligaspiels, verschiedene Taktiken unter ande-
rem bei Bus- und Flugzeuginterventionen im Falle von
Geiselnahmen und das Personenschutzkonzept vermit-
telt sowie Schießübungen durchgeführt und Selbstvertei-
digungstechniken eingeübt. Die jeweiligen Inhalte wur-
den stets nach rechtsstaatlichen Grundsätzen vermittelt.
Das Gebot der Verhältnismäßigkeit bei solchen Maßnah-
men und Strategien zur Deeskalation waren und sind
zentrale Inhalte derartiger Lehrgänge.
Zusatzfrage, Herr Kollege Hunko?
Ja, vielen Dank. – Ich will noch einmal erläutern, wo-
rum es geht. Durch deutsche Polizeien wird eine, so
kann man sagen, höchst umstrittene brasilianische Mili-
tärpolizei aus- und fortgebildet, die nicht nur in dem
Film, sondern auch von internationalen Menschenrechts-
organisationen wie Amnesty International wegen ihrer
Brutalität kritisiert wird. Das Logo dieser brasilianischen
Polizei zeigt einen Totenkopf mit zwei Revolvern und
einem Schwert.
Dies alles findet vor dem Hintergrund der bald begin-
nenden WM statt. In Brasilien gibt es aus meiner und
auch aus unserer Sicht zu Recht Proteste, weil die Bevöl-
kerung aus ihren Wohnvierteln vertrieben wird und im
sozialen Bereich ein eklatanter Mangel herrscht, wäh-
rend gleichzeitig teure Stadien gebaut werden. Halten
Sie es vor diesem Hintergrund für sinnvoll, eine solche
Militärpolizei in Deutschland fortzubilden?
D
Ich erkenne durchaus an, dass es im Zusammenhang
mit der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien Fragestel-
lungen gibt. Sie haben auf die sozialen Missstände hin-
gewiesen; es gibt auch andere Bereiche. Aber das heißt
natürlich nicht, dass wir an der Sicherheit der Fußballer
und auch der Fans aus Deutschland, die nach Brasilien
reisen, kein Interesse haben. Im Übrigen gilt das auch für
nichtdeutsche Teilnehmer und Fans in Brasilien. Wir
wollen natürlich, dass diese Fußballweltmeisterschaft
– die Entscheidung für Brasilien ist so getroffen worden –
sicher ablaufen wird.
Teil des Sicherheitskonzepts sind offensichtlich auch
Militärpolizeieinheiten, die – noch einmal – in den ver-
schiedenen Teilen Brasiliens sehr unterschiedlich operie-
ren. Die Sicherheitslage in Rio de Janeiro, die Sie in Ih-
rer Frage als Anknüpfungspunkt genommen haben, ist
offenbar eine ganz andere als die in Brasilia, der Haupt-
stadt, die durch Gewalttaten nicht in dem Maße aufgefal-
len ist, wie wir das zum Teil von anderen Teilen Brasi-
liens hören mussten oder wie es von den Medien
kolportiert worden ist. Insofern ist die Zusammenarbeit
mit diesen Einheiten absolut gerechtfertigt, umso mehr,
als es gerade auch darum geht, rechtsstaatliche Prinzi-
pien und Deeskalationsprinzipien in die Ausbildung ein-
fließen zu lassen. Insofern glaube ich, dass wir einen
Beitrag zu einem Mehr an Sicherheit bei dieser Fußball-
weltmeisterschaft, aber auch zu einem Mehr an Rechts-
staatlichkeit bei den Sicherheitskräften geleistet haben.
Noch eine Frage? – Bitte.
Es ist sehr häufig so, dass, wenn es um umstrittene Si-cherheitskooperationen geht, argumentiert wird: Wirkümmern uns darum, dass rechtsstaatlich und deeskala-tiv vorgegangen wird und dass die Menschenrechte be-achtet werden. – Können Sie konkretisieren, in welcherForm das in die Fortbildung eingeflossen ist?
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3294 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Juni 2014
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D
Ich darf noch einmal darauf hinweisen: Teil des Si-
cherheitskonzeptes bzw. des Lehrgangskonzeptes sind
Deeskalationsstrategien, beispielsweise der in Deutsch-
land juristisch entwickelte Grundsatz der Verhältnismä-
ßigkeit bei staatlichen und polizeilichen Maßnahmen.
Das ist ein zentraler Teil der Lehrgangsinhalte, nicht nur
im Fall Brasiliens, sondern auch bei anderen Koopera-
tionen mit Ländern. Man mag bestimmte Kritikpunkte
formulieren; aber ich bin mir sehr sicher, dass das, was
wir in Deutschland an Ausbildung vermitteln konnten,
zu mehr Rechtsstaatlichkeit geführt hat und im Ergebnis
nicht nur der Sicherheit, sondern auch dem Vorgehen, im
positiven Sinne auch dem bürgerrechtlichen Vorgehen
der Kräfte zugutegekommen ist.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz. Die
Frage 7 der Kollegin Halina Wawzyniak wird schriftlich
beantwortet.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums der Finanzen. Zur Beantwortung steht
der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Michael Meister
zur Verfügung.
Ich rufe Frage 8 des Kollegen Dr. Gerhard Schick auf:
Bedeuten die Äußerungen des Bundesministers der Finan-
zen, Dr. Wolfgang Schäuble, der bei einer Veranstaltung am
30. April 2014 an der Universität Bielefeld Medienberichten
gesagt hat: „OMT – wir werden die Voraussetzungen dafür
nicht schaffen, das geht nur einstimmig. … Denn Entschei-
dungen des ESM sind einstimmig, und wir werden ein solches
Programm nach dieser Ankündigung der EZB nicht beschlie-
ßen“, dass die Bundesregierung keinem Unterstützungs-
programm für einen Staat der Euro-Zone im Rahmen des
Europäischen Stabilitätsmechanismus, ESM, mehr zustimmen
wird, da dadurch die Europäische Zentralbank, EZB, die
Möglichkeit erhielte, im Rahmen ihres Programms „Outright
Monetary Transactions“, OMT, bei Bedarf unbegrenzt Staats-
anleihen dieses Staates zu kaufen?
Herr Staatssekretär, bitte.
D
Vielen Dank, Herr Präsident. – Der ESM wird aktiv,
wenn dies zur Wahrung der Finanzstabilität des Euro-
Währungsgebietes insgesamt und seiner Mitgliedstaaten
unabdingbar ist. Ein Programm muss zudem mit strenger
Konditionalität hinsichtlich der notwendigen Reformen
versehen sein. Nur wenn alle Voraussetzungen nach dem
ESM-Vertrag vorliegen und der Deutsche Bundestag zu-
gestimmt hat, darf der deutsche Gouverneur im ESM-
Rat einer Hilfe zustimmen. Das sind die zentralen Vo-
raussetzungen, unter denen die Bundesregierung auch
künftig ein verlässlicher Partner sein wird.
Die wirtschaftliche Lage im Euro-Raum hat sich
deutlich stabilisiert. Die Krisenpolitik der Währungs-
union hat sich daher als äußerst erfolgreich erwiesen.
Durch Strukturreformen zur Verbesserung der Wettbe-
werbsfähigkeit kommen die Programmländer allmählich
auf einen nachhaltigen Wachstumskurs. Das Vertrauen
der Kapitalmärkte in Anlagen im Euro-Raum ist wieder
deutlich gestiegen. Spanien, Irland und zuletzt auch Por-
tugal haben ihre Programme erfolgreich abgeschlossen
und können sich wieder selbstständig an den Kapital-
märkten refinanzieren. Es gibt daher keinen Anlass, über
ein neues ESM-Programm zu spekulieren.
Zusatzfrage, Herr Dr. Schick.
Herr Staatssekretär, das beantwortet meine Frage lei-
der nicht. Das Zitat, das ich in meiner Frage angeführt
habe, ist eindeutig. Es geht nicht darum, ob man das Pro-
gramm braucht oder nicht; vielmehr heißt es in dem Zitat
des Ministers in Bezug auf das entsprechende Maß-
nahmenprogramm OMT der Europäischen Zentralbank:
„… wir werden die Voraussetzungen dafür nicht schaf-
fen“, und weiter: „… wir werden ein solches Programm
nach dieser Ankündigung der EZB nicht beschließen“.
Darin geht es nicht darum, dass die wirtschaftliche Lage
so ist, wie sie ist, und es geht auch nicht darum, ob es
irgendwelche Bedingungen gibt, sondern es ist ein klares
politisches Statement.
Meine Frage ist: Steht die Bundesregierung zu dieser
Aussage „Wir werden ein solches Programm nicht be-
schließen“, oder folgt die Bundesregierung dem, was Sie
gerade vorgetragen haben, und korrigiert insofern den
Bundesfinanzminister? Das sind nämlich zwei unter-
schiedliche Aussagen. Ich glaube, es ist wichtig, dass
das im Parlament geklärt wird.
D
Herr Kollege Schick, das, was ich eben vorgetragen
habe, ist die Position der Bundesregierung, zu der auch
der Bundesfinanzminister steht. Er hat mit seiner Äuße-
rung deutlich gemacht, dass ohne Zustimmung der Bun-
desrepublik Deutschland ein entsprechendes Programm
nicht auf den Weg gebracht werden kann.
Noch eine Zusatzfrage, Herr Dr. Schick.
Ist die Äußerung des Bundesfinanzministers, die ich
zitiert habe, insofern missverständlich gewesen und
durch Ihre heutigen Äußerungen korrigiert worden?
D
Meine Äußerung heute entspricht der gemeinsamenHaltung des Bundesfinanzministers und der Bundesre-gierung. Ich habe nicht entdecken können, Herr KollegeSchick, dass daran etwas missverständlich ist.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Juni 2014 3295
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(B)
Die Fragen 9 und 10 des Kollegen Dr. Axel Troost
und die Frage 11 des Kollegen Volker Beck werden
schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Arbeit und Soziales. Die Frage 12 des
Kollegen Volker Beck, die Frage 13 der Kollegin
Veronika Bellmann und die Fragen 14 und 15 des Kolle-
gen Markus Kurth werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Die
Frage 16 des Kollegen Harald Ebner wird ebenfalls
schriftlich beantwortet.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums der Verteidigung.
Ich rufe die Frage 17 des Kollegen Hans-Christian
Ströbele auf:
Inwieweit trifft es zu, dass die Bundesregierung in ihren
nen Euro eingestellt hat zur Verausgabung schon ab 2014
– nebst Verpflichtungsermächtigungen für die Folgejahre – für
die Beschaffung militärischer Drohnen MALE-UAS im Sys-
tem SAATEG, obwohl die Bundesministerin der Verteidigung,
Dr. Ursula von der Leyen, mehrfach öffentlich erklärt hatte,
vor solchen Beschaffungsentscheidungen müsse eine vertiefte
„gesellschaftliche Debatte über den Einsatz von Drohnen“
stattfinden und es gebe „aktuell keinen Entscheidungsdruck“
, und hält die Bundesregierung an der
Zustimmung der Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel zum
Beschluss des Rates der europäischen Staats- und Regierungs-
chefs vom 19./20. Dezember 2013 fest, prioritär eine europäi-
teidigung durch das Bundesamt für Ausrüstung, Informations-
technik und Nutzung der Bundeswehr „marktverfügbare“
Systeme primär von fünf außereuropäischen Anbietern unter-
kürzlich die Bundesministerin der Verteidigung ein entspre-
chendes Angebot dreier europäischer Unternehmen „heftig,
brüsk und knapp“ zurückwies ?
Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staats-
sekretär Dr. Ralf Brauksiepe bereit. Herr Staatssekretär,
bitte.
D
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege Ströbele,
ich antworte Ihnen wie folgt: Die im Haushaltsentwurf
2014 vorgesehenen Haushaltsmittel für die Realisierung
eines durch Piloten ferngesteuerten Luftfahrzeugs der
MALE-UAS-Klasse – MALE-UAS steht für Medium
Altitude Long Endurance Unmanned Aerial System –
sind Mittel, die bei einer Beschaffungsentscheidung im
Jahr 2014 für einen Kauf von unbemannten Aufklä-
rungssystemen verwendet werden könnten. Mit der Ein-
arbeitung dieser Werte in den Haushaltsentwurf ist keine
Entscheidung für die Beschaffung eines solchen Systems
präjudiziert. Ein Vertragsschluss für den Kauf eines
marktverfügbaren unbemannten Aufklärungssystems als
sogenannte Überbrückungslösung zur kurzfristigen
Schließung der bestehenden Fähigkeitslücke würde im
Rahmen der etablierten Verfahren erst nach der parla-
mentarischen Billigung einer entsprechenden Beschaf-
fungsvorlage, einer sogenannten 25-Millionen-Euro-
Vorlage, erfolgen.
Unabhängig davon unterstützt das Bundesministe-
rium der Verteidigung grundsätzlich die Ratsschlussfol-
gerungen des Europäischen Rates vom Dezember 2013.
Darin begrüßt der Europäische Rat „die Entwicklung
von ferngesteuerten Flugsystemen im Zeitrah-
men 2020–2025: Vorarbeiten für ein Programm für die
nächste Generation von europäischen ferngesteuerten
Flugsystemen mit mittlerer Flughöhe und großer Flug-
dauer “. So weit das Zitat.
Eine deutsche Beteiligung an weiteren Arbeiten ist
damit nicht präjudiziert. Entscheidungen in Bezug auf
die Beschaffung qualitativ neuer Waffensysteme werden
nicht vor der im Koalitionsvertrag vereinbarten Prüfung
völker- und verfassungsrechtlicher, sicherheitspoliti-
scher und ethischer Fragen getroffen.
Die erwähnte Untersuchung des Bundesamtes für
Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bun-
deswehr zu alternativen MALE-Plattformen dient einer
generellen Markterkundung mit Blick auf verfügbare
MALE-Systeme.
Zusatzfrage, Herr Kollege Ströbele.
Herr Staatssekretär, den ersten Teil Ihrer Antwort
habe ich nicht ganz verstanden. Es wird eine nicht uner-
hebliche Millionensumme in den Haushalt eingestellt,
und Sie sagen: Ob sie genutzt wird, also ob wir das Geld
tatsächlich brauchen, wissen wir noch gar nicht. – Das
wird dann ab 2014, also ab diesem Jahr, für einen länge-
ren Zeitraum bewilligt, und zwar mit Verpflichtungser-
mächtigungen. Dabei wissen Sie noch gar nicht, ob das
genutzt wird, weil die Diskussion, die Sie zu Recht ein-
fordern, noch nicht stattgefunden hat. Man braucht doch
keine Mittel einzustellen, wenn man noch gar nicht
weiß, ob man sie nutzen will.
D
Herr Kollege Ströbele, zunächst möchte ich Sie da-rauf hinweisen – es war der Kürze der Antwort geschul-det, dass ich darauf noch nicht ausdrücklich eingegangenbin; aber es ist sicherlich auch keine neue Informationfür Sie –, dass das Haushaltsrecht das Königsrecht desParlaments ist und dass der Deutsche Bundestag, demSie genauso angehören wie ich, über den Haushalt 2014noch gar nicht beschlossen hat. Daher bin ich an dieserStelle in der Verlegenheit, etwas zu kommentieren, wasder, dessen Recht es ist, abschließend darüber zu ent-scheiden, nämlich der Deutsche Bundestag, noch garnicht entschieden hat.Ich beziehe mich nur auf den Haushaltsentwurf, derseitens der Bundesregierung eingebracht wurde. Dazu
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3296 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Juni 2014
Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
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gehört natürlich, dass für verschiedene Fälle Vorsorgegetroffen wird und entsprechende Mittel bereitgestelltwerden müssen, im Übrigen für dieses Jahr für militäri-sche Beschaffung in einem überschaubaren Umfang –um hier keinen falschen Eindruck entstehen zu lassen.Das ist ein völlig übliches Verfahren, Herr KollegeStröbele. Das kann auch gar nicht anders sein. Wir alsDeutscher Bundestag können keine Beschlüsse fassen,für die im Haushalt keine Vorsorge getroffen ist.Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Morgen wird über dieVerlängerung des KFOR-Mandats im Kosovo entschie-den. Nach dem Antrag der Bundesregierung wird diesesMandat bis in das nächste Jahr verlängert. Selbstver-ständlich ist auch dafür im Entwurf des Haushalts 2014Vorsorge getroffen, genauso wie in der Planung für2015. Wenn der Deutsche Bundestag der Verlängerungdieses Mandats nicht zustimmt, wird das Geld dafürselbstverständlich nicht gebraucht. Wenn aber entspre-chende Beschlüsse gefasst werden, müssen diese auchfinanziell unterlegt sein. Das ist ganz normales Haus-haltsrecht.
Noch eine Zusatzfrage, Herr Kollege Ströbele.
Der Unterschied besteht darin, dass die Soldaten
schon da sind. Aber darauf will ich nicht näher eingehen.
Auch den zweiten Teil meiner Frage sehe ich als nicht
beantwortet an. Die Frau Bundeskanzlerin hat zu dem
Beschluss des Europäischen Rates – den haben Sie eben
zitiert –, in dem festgelegt werden sollte, dass prioritär
eine europäische militärische Drohne entwickelt werden
soll, gesagt, dass sie das unterstützt und richtig findet.
Aber einige Zeit später wird – wenn das, was in der FAZ
zu lesen war, stimmt – heftig, brüsk und knapp zurück-
gewiesen, dass die drei europäischen Unternehmen, die
ein entsprechendes Angebot unterbreitet haben, in Be-
tracht kommen.
D
Zunächst lege ich Wert auf die Feststellung, Herr
Ströbele, dass der von Ihnen behauptete Unterschied so
nicht besteht. Es geht nicht darum, dass Soldaten schon
irgendwo sind. Wenn aus Sicht der Bundesregierung
Mandate verlängert werden sollen, dann kann dies nur
geschehen, wenn im Haushalt entsprechend Vorsorge
getroffen wird. Wenn keine Verlängerung erfolgt, wer-
den die Soldaten abgezogen. Dann mögen dafür in dem
entsprechenden Jahr außerplanmäßig Kosten entstehen.
Aber die für den Einsatz im Haushalt vorgesehenen Mit-
tel werden dann nicht verausgabt werden müssen.
Darüber hinaus gibt es den von Ihnen angesprochenen
bzw. skizzierten Widerspruch nicht. Ich habe Ihnen ge-
sagt, dass das Bundesministerium der Verteidigung zu
dem steht, was der Europäische Rat im Hinblick auf dort
zu leistende Entwicklungsarbeiten beschlossen hat. Die
Bundesministerin der Verteidigung hat in dem Artikel,
den Sie ansprechen, darauf hingewiesen, wie es üblicher-
weise sein sollte, nämlich dass die Politik eine Lücke in
der militärischen Fähigkeit feststellt und sich dann mit
der Frage an die Industrie wendet, welches Unternehmen
eine Lösung dafür anbieten kann. Das ist das übliche
Verfahren. Wir sind bei weitem noch nicht in diesem
Stadium.
Ich darf Sie darauf hinweisen, dass für den 30. Juni
eine öffentliche Anhörung des Verteidigungsausschusses
mit dem Titel „Völker-, verfassungsrechtliche sowie si-
cherheitspolitische und ethische Aspekte im Zusammen-
hang mit unbemannten Luftfahrzeugen, die über Aufklä-
rung hinaus auch weitergehende Kampffähigkeiten
haben“ geplant ist. Das ist aus Sicht der Bundesregie-
rung und – so denke ich – der sie tragenden Koalitions-
fraktionen ein wichtiger Beitrag zur gesellschaftlichen
Debatte, die wir über dieses Gebiet führen wollen. Ich
bin dankbar, dass diese Anhörung einvernehmlich – das
ist mein Kenntnisstand –, im Konsens der Obleute, be-
schlossen worden ist. Das ist die Debatte, die wir jetzt
führen wollen.
Entscheidungen sind in keiner Weise getroffen wor-
den. Dazu verweise ich auf die Antwort, die ich Ihnen
schon gegeben habe, nämlich dass mit der Unterstützung
der Ratsschlussfolgerung eine deutsche Beteiligung an
weiteren Arbeiten nicht präjudiziert ist. Es gibt keinerlei
Präjudiz über eine bestimmte Entwicklung, die wir
selbst wollen, oder über den Kauf von bestimmten Sys-
temen.
Die von Ihnen angesprochene Antwort meines Vor-
gängers Christian Schmidt auf eine entsprechende Frage
des Abgeordneten Hunko macht auch deutlich, dass
dem, was das BAAINBw dort untersucht hat, keine kon-
krete Beschaffungsabsicht zugrunde lag. Ich bitte des-
halb, nichts hineinzuinterpretieren, wo nichts hineinzu-
interpretieren ist, weil noch nichts entschieden ist und
noch keine Debatten geführt worden sind, insbesondere
noch nicht abschließend.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend. Zur Beantwortung steht Frau Parlamentarische
Staatssekretärin Elke Ferner bereit.
Ich rufe Frage 18 der Abgeordneten Veronika
Bellmann auf:
Welche Perspektiven haben Schulverweigererprojekte aus
dem Förderprogramm „Die 2. Chance“, die ursprünglich am
31. Dezember 2013 auslaufen sollten, aber bis zum 30. Juni
2014 unter der Maßgabe verlängert wurden, bis dahin verläss-
liche Rahmenbedingungen für eine Fortführung der Projekte
zu schaffen, und wie sieht der neue Zeitplan dafür aus?
Frau Staatssekretärin, bitte.
E
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau KolleginBellmann, das ESF-Bundesprogramm „Schulverweige-rung – Die 2. Chance“ wäre regulär Ende Dezem-ber 2013 beendet gewesen und wurde einmalig bis Ende
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Juni 2014 3297
Parl. Staatssekretärin Elke Ferner
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Juni 2014 verlängert. Die Schulverweigererprojekte ha-ben zukünftig die Möglichkeit, sich über ihre Kommunebeim neuen ESF-Bundesvorhaben „JUGEND STÄRKENim Quartier“ zu bewerben.Die Vorbereitungen für das neue ESF-Modellpro-gramm „JUGEND STÄRKEN im Quartier“ laufen jetztauf Hochtouren. Die Standorte der bisherigen ESF-Pro-gramme – ich sagte es bereits – können sich über die An-tragstellung ihrer Kommune für eine Teilnahme amneuen Modellprogramm bewerben, sofern sie die Aus-schreibungskriterien erfüllen. Für den Beginn des Inte-ressenbekundungsverfahrens und die damit verbundeneVeröffentlichung der Förderrichtlinien müssen jedochzunächst die finanztechnischen Rahmenbedingungen fürdie ESF-Förderperiode 2014 bis 2020 im Detail festste-hen.Die Interessenbekundung ist für den Sommer 2014vorgesehen. Mit dem Programmbeginn ist im viertenQuartal 2014 zu rechnen, sofern bis dahin das operatio-nelle Programm des Bundes von der EU-Kommissiongenehmigt wurde. Mit einer Entscheidung der EU-Kom-mission ist nach derzeitigem Stand im Oktober 2014 zurechnen.
Haben Sie eine Zusatzfrage, Frau Kollegin Bellmann?
Ja.
Bitte schön.
Das heißt, dass es in jedem Fall eine Lücke, also eine
Unterbrechung des Programms, geben wird, weil es
keine Überbrückung, beispielsweise aus dem Bundes-
haushalt, geben wird?
E
Die Verlängerung bis Ende 2014 wurde über Restmit-
tel aus dem ESF finanziert. Es stehen dafür derzeit keine
weiteren Mittel zur Verfügung. Es ist so, dass das Pro-
gramm eigentlich im Dezember 2013 abgeschlossen ge-
wesen wäre. Es war allen Beteiligten von vornherein
klar, dass es 2013 abgeschlossen ist. Es wurde dann mit-
hilfe der ESF-Mittel bis Mitte des Jahres verlängert. Die
Kommission hat die Fristen, die ursprünglich vorgese-
hen waren, leider nach hinten verschoben, sodass die
Kommission nach derzeitigem Stand erst im Oktober
dieses Jahres über das operationelle Programm entschei-
det.
Wir wollen das trotzdem so weit vorbereiten, dass
schon im Sommer ein Interessenbekundungsverfahren
stattfinden kann, sodass eine Vorauswahl getroffen wer-
den kann, wenn am Ende die Förderkriterien von der
Kommission fest beschieden worden sind.
Noch eine Zusatzfrage? – Bitte.
Das neue Programm ist, wie Sie es jetzt angedeutet
haben, schon relativ weit in der Entwicklung. Können
Sie etwas zu den Laufzeiten der Programme sagen?
Ich habe ein bisschen ein Problem damit, wenn Pro-
gramme, die die Arbeit mit Menschen, ob Jung oder Alt
oder Jugendlichen, insbesondere benachteiligten Jugend-
lichen, zum Inhalt haben, durch die kurzen Laufzeiten
ihre Wirkung am Ende etwas verfehlen. Es ist schwierig,
wenn dort keine Kontinuität hineinkommt. Das ist so-
wohl für die Jugendlichen als auch für die Pädagogen
schwierig; denn nicht alle Pädagogen, die die Pro-
grammführung übernehmen, sind auch geeignet oder be-
rufen. Deswegen sind wir immer sehr froh, wenn wir ge-
eignete Leute finden, die mit den Jugendlichen arbeiten.
Wenn das nach kurzer Zeit wieder aufhört, verfehlt das
Programm letztendlich sein Ziel. Insofern meine Frage:
Haben Sie bei der Beantragung der Programme konti-
nuierlich längere Laufzeiten, wie sie in den bisherigen
Programmen üblich waren, eingeplant?
E
Die Laufzeit der Programme hängt mit der ESF-För-
derperiode zusammen. Diese Förderperiode war zuletzt
von 2007 bis 2013, und sie wird jetzt von 2014 bis 2020
sein, also jeweils sechs bis sieben Jahre. Das ist von der
EU vorgegeben; darauf haben wir keinen Einfluss. Wir
können sagen: Das ist uns zu kurz; wir machen nicht mit.
Die Alternative ist: Wir nutzen diese Periode.
Insofern ist man jetzt daran interessiert, dass dieses
ESF-Bundesprogramm weiterläuft. Zunächst einmal ist
es auf vier Jahre befristet. Ich gehe aber davon aus, dass
sich das Programm „JUGEND STÄRKEN im Quartier“
bewähren wird, dass es über die gesamte ESF-Förder-
periode laufen wird.
Wir haben prinzipiell das Problem bei Bundespro-
grammen, ob über ESF-Mittel oder über Bundesmittel
gefördert, dass der Bund dafür nicht originär zuständig
ist; denn die Jugendhilfe ist eindeutig eine kommunale
Aufgabe. Wir versuchen, mit zusätzlichen Modellpro-
grammen zu helfen. Diese Programme sind aber – das
muss ich leider sagen – zeitlich befristet.
Danke schön. – Wir kommen damit zum Geschäftsbe-reich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz,Bau und Reaktorsicherheit. Zur Beantwortung der Fra-gen steht der Parlamentarische Staatssekretär FlorianPronold bereit.Die Fragen 19 und 20 der Kollegin Heidrun Bluhmwerden nicht aufgerufen, weil die Kollegin Bluhm nichtanwesend ist. Es wird verfahren, wie in der Geschäfts-ordnung vorgesehen.
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3298 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Juni 2014
Vizepräsident Peter Hintze
(C)
(B)
Wir kommen zur Frage 22 der Abgeordneten AnnalenaBaerbock, Bündnis 90/Die Grünen:Was sind die Gründe der Bundeskanzlerin für ihre Absageder Teilnahme am VN-Klimagipfel von Ban Ki-moon imSeptember 2014, und ist der Bundesregierung bekannt, obder US-Präsident Barack Obama oder Chinas Präsident XiJinping teilnehmen werden?Herr Staatssekretär, bitte.Fl
Die Bundeskanzlerin begrüßt das persönliche Enga-
gement des UN-Generalsekretärs und hat ihre volle poli-
tische Unterstützung versichert, auch wenn ihr persön-
lich eine Teilnahme aus terminlichen Gründen nicht
möglich sein wird. Deutschland wird bei diesem Treffen
hochrangig vertreten sein. Eine Entscheidung, wer für
die Bundesregierung teilnimmt, wird rechtzeitig vor dem
Klimagipfel in New York bekannt gegeben. Über die
Teilnahme anderer Staats- und Regierungschefs liegt uns
zurzeit keine offizielle Information vor.
Haben Sie eine Nachfrage, Frau Kollegin? – Bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Vielen Dank, Herr
Pronold. – Auch wenn es mich immer wieder freut, mit
Ihnen in einer Diskussion zu stehen, wundert es mich
jetzt doch, dass das Bundeskanzleramt hier nicht antwor-
tet; schließlich war die Frage, weswegen Frau Merkel an
diesem Gipfel nicht teilnimmt, an das Bundeskanzleramt
gerichtet. Gefragt war auch danach, was die Gründe da-
für sind, welche Termine dieser Teilnahme also entge-
genstehen. Diese Fragen stellen sich insbesondere vor
dem Hintergrund, dass der jetzige Chef des Bundeskanz-
leramts in seiner Zeit als Umweltminister in Warschau
die Aussage getätigt hat, dass die damalige Bundesregie-
rung begrüßt, dass bis Anfang 2015 allen Staaten Pläne
zur CO2-Emissionsminderung vorlegen werden. Diese
Aussage findet man auch jetzt noch auf der Internetseite
Ihres Hauses. Dort wird außerdem betont:
Deutschland setzt sich dafür ein, dass möglichst
viele Staaten bereits auf dem im September auf Ein-
ladung von UN-Generalsekretär Ban Ki Moon statt-
findenden Gipfel der Staats- und Regierungschefs
– das steht explizit auf der Seite des BMU –
Angaben machen.
Distanziert sich jetzt das BMU von dieser damals ge-
tätigten Aussage?
Noch einmal: Aufgrund welcher anderen Termine
kann Frau Merkel nicht selber zu diesem Gipfel reisen?
Fl
Ich weiß als Mitglied der Bundesregierung sehr viel;
aber ich kenne nicht jeden Termin und jede Begründung
der Bundeskanzlerin. Wir werden diesbezüglich nachfra-
gen und Ihnen mitteilen, was sie an diesem Tag anderes
und wahrscheinlich auch Wichtigeres machen wird.
Ansonsten gilt – wir haben das im Ausschuss schon
mehrmals miteinander besprochen –: Das vordringliche
Ziel der Bundesregierung ist, die CO2-Einsparvorgaben
einzuhalten. Sie wissen ganz genau, dass unsere Bundes-
regierung in diesem Bereich nicht nur in Europa, son-
dern in der Welt wirklich führend ist. Das bringen nicht
nur die Bundeskanzlerin, sondern auch alle Minister,
egal ob in früherer oder in heutiger Funktion, an vielen
Stellen immer wieder zum Ausdruck.
Haben Sie noch eine Zusatzfrage?
Ja. – Meine Frage war außerdem, welche anderen
Staats- und Regierungschefs an diesem Gipfel teilneh-
men. Sie haben gesagt, Ihnen lägen dazu keine Erkennt-
nisse vor. Obama hat ja persönlich erklärt, dass er teil-
nimmt. Das sollte auch der Bundesregierung bekannt
sein. Auch Frankreich hat seine Teilnahme zugesagt. In-
sofern frage ich noch einmal – Ihre Antwort können Sie
mir schriftlich nachreichen –, welche anderen Staats-
und Regierungschefs gegenüber der Bundeskanzlerin
oder der Bundesregierung schon geäußert haben, dass
sie teilnehmen. Auch Großbritannien hat seine Teil-
nahme schon in Erwägung gezogen.
Fl
Darum habe ich gesagt: Uns liegen keine offiziellen
Informationen diesbezüglich vor. Selbstverständlich
können auch Mitglieder der Bundesregierung Zeitung le-
sen und Medienberichte zur Kenntnis nehmen, aber wir
wollen Ihnen qualifizierte Auskünfte geben. Wenn wir
diese Mitteilung als Bundesregierung offiziell erhalten,
können wir sie an Sie weitergeben. Solange sie uns offi-
ziell nicht vorliegt, ist es mir leider nicht möglich, das so
zu beantworten.
Aber wenn Sie das eh schon aus Zeitung und Fernse-
hen wissen, stellt sich mir die Frage, warum Sie die Bun-
desregierung noch fragen.
Frau Kollegin Lemke, Bündnis 90/Die Grünen, hat
eine Frage.
Herr Staatssekretär Pronold, da ich zwar davon aus-gehe, dass Sie meine Einschätzung teilen, dass es einSkandal ist, dass Frau Merkel am Gipfel nicht teilnimmt,das hier aber öffentlich nicht äußern können, möchte ichSie fragen, ob angesichts der jüngsten Äußerungen vonPräsident Obama die Bundesregierung die Entschei-dung, dass Frau Merkel am Gipfel nicht teilnimmt, über-denken wird, da sie ja – ich glaube, das habe ich aus der
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Juni 2014 3299
Steffi Lemke
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(B)
Zeitung erfahren – gesagt hat: Es muss etwas passierenangesichts der dramatischen Entwicklung bei der Klima-katastrophe. – Vor dem Hintergrund der Daten, die wirdiesbezüglich haben, und der Tatsache, dass selbst dieUSA, die bisher nicht als prioritäre Klimaschützer be-kannt geworden sind, teilnehmen werden und Obama einambitioniertes Programm angekündigt hat – mehr nochnicht, aber zumindest angekündigt –, frage ich also:Wird die Bundesregierung die Entscheidung der Nicht-teilnahme jetzt überdenken?Fl
Sie dürfen davon ausgehen, dass das, was ich hier
sage, und das, was ich nicht sage, miteinander vereinbar
ist. Ich bitte Sie, mir nicht zu unterstellen, dass ich etwas
für einen Skandal halte, was keiner ist.
Es ist an der Bundeskanzlerin, zu entscheiden, woran
sie teilnimmt, und zu berücksichtigen, welche anderen
terminlichen Verpflichtungen da sind. Man kann der
Bundesregierung nun alles Mögliche vorwerfen, aber
mit Sicherheit nicht, dass wir uns nicht mit allem Nach-
druck für die Klimaschutzziele einsetzen. Wir haben so-
gar ambitioniertere Klimaschutzziele, als wir sie oft in
internationalen Vereinbarungen vorfinden, und das wis-
sen Sie auch; ein Beispiel ist die europäische Ebene.
Deswegen ist die Bundesregierung hier führend.
Wir freuen uns darüber, dass jetzt auch Präsident
Obama auf die Linie einschwenkt, die die Bundesregie-
rung schon über Jahre hinweg verfolgt und mit der sie
beispielgebend vorangeht. Ob das Änderungen an der
Planung der Bundeskanzlerin zur Folge haben wird,
kann ich Ihnen nicht sagen. Da es bisher wichtige
Gründe gibt, dass die Bundeskanzlerin nicht teilnehmen
kann, sondern aus dem Bereich der Bundesregierung
hochrangig vertreten sein wird, wird sich an der Pla-
nung, vermute ich, nichts ändern.
Damit kommen wir zur Frage 23 der Kollegin
Annalena Baerbock zur gleichen Thematik:
Sieht die Bundesregierung die Gefahr, dass das Fernblei-
ben der Bundeskanzlerin vom VN-Klimagipfel im September
2014 von der internationalen Staatengemeinschaft dahin ge-
hend interpretiert werden könnte, dass der Klimaschutz in der
Bundesregierung nicht die höchste Priorität genießt und sich
die Bundeskanzlerin der VN-Klimastrategie verweigert?
Herr Staatssekretär.
Fl
Sie fragen mich – das ist auch schon aus den vorhe-
rigen Nachfragen deutlich geworden –, ob ich die be-
sondere Gefahr sehe, dass aus der Nichtteilnahme der
Bundeskanzlerin geschlossen werden könne, dass die
Bundesregierung das Einhalten der Klimaziele nicht
mehr ernst nimmt. Diese Gefahr sehe ich nicht.
Erstens wird die Bundesregierung hochrangig vertre-
ten sein.
Zweitens tritt die Frau Bundeskanzlerin – das ist Ih-
nen auch bekannt – in der internationalen Klimaschutz-
politik sehr ambitioniert auf. Das persönliche Engage-
ment der Bundeskanzlerin zeigt sich zum Beispiel auch
in dem von ihr ins Leben gerufenen jährlichen Petersber-
ger Klimadialog, zu dessen fünfter Sitzung die Bundes-
regierung in diesem Jahr circa 35 Minister und hochran-
gige politische Vertreter Mitte Juli nach Berlin einlädt.
Der Dialog mit persönlicher Beteiligung der Bundes-
kanzlerin wird zur Vorbereitung sowohl des informellen
Gipfeltreffens in New York als auch der 20. Vertrags-
staatenkonferenz Ende 2014 in Lima beitragen. Darüber
hinaus hat die Bundeskanzlerin angekündigt, Klima-
schutz zu einem wichtigen Thema der deutschen G-7-
Präsidentschaft im Jahr 2015 zu machen, um so einen
starken Impuls für die Verabschiedung eines ambitio-
nierten internationalen Klimaschutzabkommens bei der
21. Vertragsstaatenkonferenz 2015 in Paris zu geben.
Damit sind alle Befürchtungen, die Sie so wohlmei-
nend in Richtung Bundesregierung formulieren, wirklich
ausgeräumt.
Haben Sie dazu eine Nachfrage, Frau Kollegin?
Ja, weil die Befürchtungen noch nicht ausgeräumtsind.Zum einen möchte ich nur einmal darauf hinweisen,dass dieser Gipfel nicht „Gipfel der höchsten Vertreterder Länder“, sondern explizit „Gipfel der Staats- undRegierungschefs“ heißt. Deswegen entspricht ein Ersatzdurch höchste Vertreter nicht dem, was da angekündigtwurde.Zum anderen: Wenn das höchste Priorität genießt,was in der Regierungserklärung der Bundeskanzlerinheute zumindest rhetorisch so angeklungen ist, und dieBundeskanzlerin die G-7-/G-8-Präsidentschaft dem Kli-maschutz widmen will, wäre es dann nicht sehr ratsam,insbesondere bei einer G-7-Präsidentschaft, auf demTreffen, auf dem alle führenden Staats- und Regierungs-chefs anwesend sind – Sie haben auch von einem vorbe-reitenden Treffen gesprochen –, auch selbst anwesend zusein, um das zu diskutieren?Vor dem Hintergrund, dass die Europäische Umwelt-agentur heute deutlich gemacht hat, dass die EU ihreKlimaschutzziele für 2020 schon so gut wie erreicht hat– nämlich 19,7 Prozent CO2-Einsparung –, frage ich:Müsste es jetzt nicht einen neuen Aufschlag vonseitender Bundeskanzlerin und der EU geben, für den Ban-Ki-moon-Gipfel noch einmal nachzubessern? Alles anderewürde ja bedeuten, dass man in den nächsten sechs Jah-ren keine weiteren Anstrengungen bei der Einsparungvon CO2-Emissionen unternehmen möchte, während an-dere Länder, wie gerade die USA, angekündigt haben, indiesem Bereich weiter voranzuschreiten.
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3300 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Juni 2014
(C)
(B)
Fl
Die erste der beiden Fragen, die Sie gerade gestellt
haben, würde ich nicht anders beantworten als vorhin.
Deswegen erübrigt sich eine weitere Antwort.
Zu Ihrer zweiten Frage. Die Bundesregierung – allen
voran die Bundeskanzlerin und die Ministerin – hat im-
mer deutlich gemacht, dass sie sehr ambitioniert an Kli-
maschutzziele herangeht. Es ist erfreulich, wenn wir auf
europäischer Ebene dem Ziel näher gekommen sind, als
dies bisher vermutet wurde. Aber das ist natürlich kein
Grund, nachzulassen. Wir müssen weiter ambitioniert
voranschreiten.
Frau Kollegin Baerbock, Ihre zweite Nachfrage.
Sie haben gerade gesagt: „weiter ambitioniert voran-
schreiten“. Werden Sie also noch einmal nachbessern
und neue Ziele vorlegen?
Fl
Sie haben die großartige Fähigkeit, aus Antworten
ganz komische Schlussfolgerungen zu ziehen.
Wir treten auf europäischer Ebene sehr stark dafür
ein, dass wir in Europa weiterkommen. Darüber haben
wir heute im Ausschuss gesprochen. Auf europäischer
Ebene stellt sich die Situation so dar, dass nicht alle
Staaten die Erreichung von ambitionierten Klimaschutz-
zielen in dem Maße verfolgen, wie wir das tun.
Auf internationaler Ebene, also über die europäische
Ebene hinaus, gibt es jetzt die positiven Signale aus den
USA. Nichtsdestotrotz sind wir insgesamt sehr weit von
dem Anspruch der Bundesregierung entfernt, das glo-
bale Klimaschutzziel zu erreichen. Deswegen werden
wir weiter dafür kämpfen, dass die Vereinbarungen ein-
gehalten werden und dass wir zu besseren internationa-
len Übereinkommen gelangen.
Frau Kollegin Lemke.
Herr
Wird das Bundes-
umweltministerium darauf drängen, dass im Bundes-
kanzleramt Überlegungen angestellt werden, die Planun-
gen von Frau Merkel zu verändern und doch zum
Klimagipfel zu fahren?
Bei all meiner Wertschätzung für Frau Bundesum-
weltministerin Hendricks muss ich sagen: Sie ist nicht
die Bundeskanzlerin. Ich gehe davon aus, dass die Bun-
deskanzlerin ambitionierter für Klimaschutz verhandeln
kann, insbesondere angesichts der Tatsache, dass Präsi-
dent Obama anwesend sein wird. Werden Sie diesbezüg-
lich tätig werden?
Fl
Da das Bundeskanzleramt vertreten ist, wird diese
Debatte das Bundeskanzleramt vermutlich erreichen.
Darüber hinaus handelt es sich um eine Frage, die vorhin
schon indirekt gestellt worden ist. Die Termingestaltung
ist die Entscheidung der Bundeskanzlerin. Selbstver-
ständlich wird die Bundesregierung die Klimaschutz-
ziele, die sie sich selber gesetzt hat, auch auf internatio-
naler Ebene mit aller Macht verfolgen.
Schönen Dank.
Die Frage 24 der Kollegin Kotting-Uhl wird schrift-
lich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Ministeriums
für Bildung und Forschung.
Die Fragen 25 und 26 der Kollegin Höhn werden
ebenfalls schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich der Bundeskanz-
lerin und des Bundeskanzleramtes.
Die Fragen 27 und 28 der Kollegin Rößner werden
schriftlich beantwortet.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums für Wirtschaft und Energie. Zur Beant-
wortung der Fragen steht die Parlamentarische Staatsse-
kretärin Brigitte Zypries zur Verfügung.
Die Frage 29 der Kollegin Kotting-Uhl wird ebenfalls
schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 30 des Abgeordneten Jan van Aken
auf:
Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über den ille-
galen Reexport von Pistolen des Typs SP2022 des Herstellers
SIG Sauer aus den USA nach Kolumbien – bitte unter Angabe
des genauen Datums der Kenntnisnahme –, und was hat sie
seit Kenntnisnahme des Sachverhalts unternommen, um die-
sen aufzuklären?
Bitte schön, Frau Staatssekretärin.
B
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Abgeordneter,die Bundesregierung hat durch die öffentliche Bericht-erstattung und damit in Zusammenhang stehenden Pres-semeldungen Kenntnis von dem Vorwurf der Lieferungvon Pistolen des Modells SP2022 des Hersteller SIGSauer nach Kolumbien erlangt. Der Vorwurf wiegt in un-seren Augen schwer, und der Vorgang muss aufgeklärtwerden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Juni 2014 3301
Parl. Staatssekretärin Brigitte Zypries
(C)
(B)
Der in den Medien dargestellte Sachverhalt wirft nochzahlreiche Fragen auf. Deswegen müssen wir zunächstden Sachverhalt klären. Dazu hat das Ministerium seinenachgeordnete Behörde, das Bundesamt für Wirtschaftund Ausfuhrkontrolle, beauftragt, den Vorwürfen nach-zugehen und den Sachverhalt umfassend aufzuklären.
Haben Sie eine Zusatzfrage, Herr Kollege? – Bitte
schön.
Vielen Dank. – Eigentlich ist die Zusatzfrage relativ
simpel. Heißt das, dass Sie während der Aufklärung
überhaupt keine Rüstungsexportgenehmigungen mehr
für die USA erteilen? Die Frage ergibt sich daraus, dass
das Bundeswirtschaftsministerium mir vor einigen Wo-
chen auf eine Kleine Anfrage schriftlich geantwortet hat
– ich zitiere –:
Bei erwiesenen Verstößen gegen Endverbleibszusi-
cherungen wird die Erteilung von Ausfuhrgenehmi-
gungen für den betreffenden Empfänger
– hier: USA –
grundsätzlich so lange ausgesetzt, bis der Sachver-
halt geklärt und die Gefahr erneuter ungenehmigter
Reexporte ausgeräumt ist.
Wir haben hier erwiesene Verstöße gegen die Endver-
bleibszusicherung. Sie klären noch auf. Insofern wäre
die logische Konsequenz aus dem, was Sie mir geschrie-
ben haben: erst einmal keine Genehmigungen mehr für
die USA.
B
Herr Abgeordneter, ich habe Ihnen gerade vorgetra-
gen, dass der Sachverhalt, wie er in den Medien berichtet
wird, für uns noch zahlreiche Fragen aufwirft und mit
verschiedenen Unsicherheiten behaftet ist. Das betrifft
sowohl die Annahmen zu möglichen Lieferwegen als
auch die in Rede stehenden Stückzahlen der Pistolen, die
aus deutscher Produktion stammen sollen. Deswegen
kann ich Ihnen nicht sagen, dass tatsächlich ein solcher
Verstoß vorliegt. Ich habe Ihnen gerade gesagt und deut-
lich gemacht, dass wir noch nicht hundertprozentig wis-
sen, ob ein solcher Verstoß vorliegt, und deshalb das
Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle beauf-
tragt haben, den Vorwürfen nachzugehen und den Sach-
verhalt umfassend aufzuklären. Deswegen kann ich Ihre
Nachfrage nicht mit Ja beantworten, weil sie einen Sach-
verhalt unterstellt, der nicht gegeben ist.
Sie haben das Wort zu einer zweiten Nachfrage.
Frau Zypries, ich gestehe zu, dass es noch ganz viele
Fragen gibt. Die habe ich auch. Die möchte ich auch
gerne beantwortet haben. Sie wissen aber zwei Dinge
ganz sicher:
Erstens. Es gab – das haben Sie mir schriftlich gege-
ben – keine Exportgenehmigung für diese Pistole aus
Deutschland.
Zweitens. Diese Pistole ist jetzt in Kolumbien mit
dem Aufdruck „Made in Germany“; die Fotos haben Sie
gesehen. Das heißt, es ist ein erwiesener Verstoß. Inso-
fern können Sie sich hier nicht herausreden. Wenn Sie
mir schriftlich mitteilen, dass bei erwiesenen Verstößen
bis zur Aufklärung des Sachverhaltes erst einmal ausge-
setzt wird, dann ist doch jetzt der Moment, wo Sie auf-
hören müssten, Exportgenehmigungen für die USA zu
erteilen.
B
Herr Abgeordneter, es bleibt dabei, dass die Wege,
auf denen geliefert wurde, unserer Auffassung nach
nicht hundertprozentig geklärt sind. Deswegen teile ich
Ihre Schlussfolgerung nicht. Ich bitte Sie einfach, einen
Moment zuzuwarten. Dann können wir uns entweder
hier oder bei anderer Gelegenheit gerne wieder darüber
unterhalten.
Dann kommen wir zur Frage 31 des Kollegen Jan van
Aken:
Wurden seitens der Bundesregierung Genehmigungen für
den Export von Fertigungsunterlagen – Technologieunterla-
gen und Ähnliches – sowie von Komponenten für diese
Pistole in die USA erteilt, und, wenn ja, benötigen die USA
Reexportgenehmigungen für die auf Basis der Fertigungs-
unterlagen produzierten Pistolen sowie für alle Pistolen, die
mit den Komponenten gefertigt wurden?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
B
Genehmigungen für Rüstungsgüter und Rüstungs-
technologie werden nur bei Vorliegen von Endverbleibs-
erklärungen, die grundsätzlich ein Reexportverbot mit
Erlaubnisvorbehalt enthalten, erteilt.
Die Frage zielt im Übrigen auf die Offenlegung des
Inhalts von Ausfuhrgenehmigungen für ein konkretes
Unternehmen ab. Aufgrund des verfassungsrechtlich ge-
währleisteten Schutzes von Geschäfts- und Betriebsge-
heimnissen kann die Bundesregierung dazu keine Aus-
kunft erteilen.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Frau Zypries, das meinen Sie nicht ernst, oder? Siewissen – Sie waren selbst einmal im Bereich der Juriste-rei tätig –, dass es, wenn dort steht: „grundsätzlich nurmit Reexportgenehmigung“, dann nicht heißt „immer“.Deswegen habe ich konkret nachgefragt, ob es in diesemeinen konkreten Fall, in dem wir illegalerweise deutschePistolen in Kolumbien finden, eine Reexportgenehmi-gungsverpflichtung für die Lizenzlieferung gab und ob
Metadaten/Kopzeile:
3302 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Juni 2014
Jan van Aken
(C)
(B)
es überhaupt eine solche Lizenzvergabe gegeben hat.Auf beides verweigern Sie jetzt die Antwort. Das kön-nen Sie nicht ernst meinen. Hier gibt es eigentlich eineandere Praxis in Ihrem Hause.B
Sehr verehrter Herr Abgeordneter, da muss ich Ihre
beiden Zusatzfragen mitnehmen und im Hause nachfra-
gen. In meinen Unterlagen hier steht nichts dazu, und ich
weiß es schlicht nicht.
Gut, dann ist das so verabredet.
Wir kommen zur Frage 32 der Kollegin Heike
Hänsel:
Wie viele deutsche Pistolen des Typs SIG Sauer SP2022
wurden nach Kenntnis der Bundesregierung unter Bruch der
deutschen Exportrichtlinien nach Kolumbien geliefert oder
weitergeliefert, und von wem bzw. über welchen Weg gelang-
ten die Waffen nach Erkenntnissen der Bundesregierung nach
B
Das Ministerium hat nach Bekanntwerden der Vor-
würfe das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkon-
trolle, also eine nachgeordnete Behörde, beauftragt – Sie
haben es eben wahrscheinlich schon bei der Beantwor-
tung der Frage Ihres Kollegen mitbekommen –, den Vor-
würfen nachzugehen und den Sachverhalt umfassend
aufzuklären. Das ist noch nicht abgeschlossen. Deswe-
gen würde ich auch Sie bitten, insoweit zu warten, bis
die Ergebnisse vorliegen.
Gleichwohl haben Sie das Recht zu einer Nachfrage,
Frau Hänsel.
Danke. – Frau Staatssekretärin, ich habe eine Nach-
frage; denn diese Waffenexporte sind ja mit einer End-
verbleibserklärung verbunden. Meine Frage: Wie prüfen
Sie den Endverbleib? – Offensichtlich sind hier Waffen
weitergeliefert worden; zumindest gab es Genehmigun-
gen für die Ausfuhr der Waffen in die USA, und sie sind
dann in Kolumbien gelandet. Also: In welcher Form prü-
fen Sie denn eigentlich den Endverbleib von Waffen?
B
Wenn wir eine Genehmigung erteilen, dann prüfen
wir den Endverbleib anhand von Informationen, die wir
aus dem jeweiligen Land erhalten. Wenn es Zweifel gibt,
dass die Waffen beim Empfänger verbleiben, dann wer-
den Ausfuhranträge abgelehnt. Aber wir können natür-
lich nicht, wenn wir Ausfuhren einmal genehmigt haben,
neben den Waffen stehen bleiben und gucken, was mit
ihnen passiert; das geht nicht. Wir müssen darauf ver-
trauen, dass die Zusicherung eingehalten wird. Wenn sie
nicht eingehalten wird, passiert genau das, was der Kol-
lege van Aken eben zitiert hat: Dann werden keine neuen
Ausfuhrgenehmigungen mehr erteilt. Das heißt, die
Strafe, wenn Sie so wollen, folgt erst mit dem nächsten
Antrag. Wie sollten wir ansonsten in einem Land, in das
einmal exportiert wurde, etwas vollziehen?
Haben Sie eine weitere Nachfrage?
Ja. – Mich würde des Weiteren interessieren: Wie
kann es denn sein, dass zum Beispiel Journalisten und
die Medien mehr über den Endverbleib von Waffen wis-
sen als die Bundesregierung, die diese Waffenexporte
genehmigt? Wie erklären Sie sich das?
B
Ich weiß nicht, was Sie jetzt damit meinen. Es kann ja
nur so sein, dass irgendjemand einer bestimmten Waffe
hinterherrecherchiert. Das macht aber die Bundesregie-
rung nicht, wie ich gerade gesagt habe. Wir vertrauen
darauf, dass sich unsere Vertragspartner vertragsehrlich
verhalten. Es gibt beim Export ja eine Auflage, und wir
gehen davon aus, dass sie eingehalten wird. Wenn nicht,
dann kann es eben nur Sanktionen geben; das ist wie
auch sonst manchmal im Leben.
Zu einer weiteren Nachfrage hat der Kollege Hans-
Christian Ströbele das Wort.
Frau Staatssekretärin, dazu habe ich dann doch eine
Zusatzfrage. „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ –
das ist ein alter Grundsatz; Sie kennen ihn wahrschein-
lich auch. Stellen wir uns einmal vor, es gäbe keine Jour-
nalisten: Würden Sie – nicht Sie persönlich, sondern die
Bundesregierung oder die einschlägigen Stellen – dann
nie etwas davon erfahren, wenn sich ein Land nicht an
die Vertragsverpflichtungen hält?
B
Es können sich auch aus anderen Umständen solche
Erkenntnisse ergeben.
– Was weiß ich? Man kann sich aber auf alle Fälle an-
dere Umstände vorstellen, unter denen man mitbe-
kommt, dass bestimmte Waffen weitergeliefert wurden,
obwohl sie nicht weitergeliefert werden durften.
Kollege van Aken hat noch eine Nachfrage.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Juni 2014 3303
(C)
(B)
Gestatten Sie mir vor der Nachfrage einen kurzen
Kommentar: Natürlich kann man neben einer Waffe ste-
hen bleiben; die Amerikaner tun das zum Beispiel. Es ist
absolut möglich – auch nach Abgabe einer Endver-
bleibserklärung –, noch Jahre später vor Ort zu kontrol-
lieren, wo eine Waffe geblieben ist. Im Rahmen des so-
genannten Blue-Lantern-Programms der Amerikaner
findet das regelmäßig statt. Sie haben sich politisch ent-
schieden, das nicht zu tun. Das ist aber etwas ganz ande-
res, als zu sagen, man könne es nicht. Sie wollen es
nicht. Das wollte ich nur der Vollständigkeit halber sa-
gen.
Ich habe eine weitere Frage zu dem ganzen Komplex:
Gibt es jetzt eigentlich Ermittlungen der Staatsanwalt-
schaft?
B
Das weiß ich nicht.
– Wir sind ja im Moment, wie ich Ihnen schon sagte, an
dem Punkt, dass das Bundesamt die Frage klärt, was da
eigentlich passiert ist, und den Sachverhalt ermittelt.
Man könnte selbstverständlich parallel dazu einen
Antrag bei der Staatsanwaltschaft stellen; das wäre si-
cherlich möglich. Es würde zwar nichts passieren, weil
die warten würde, bis das Bundesamt den Sachverhalt
richtig ermittelt hat, aber nichtsdestotrotz will ich gerne
klären, ob so etwas schon einmal gemacht wurde. –
Danke schön.
Ich rufe nun die Frage 33 der Kollegin Heike Hänsel
auf:
Gedenkt die Bundesregierung, vom US-Außenministe-
rium eine Erklärung über die Nichteinhaltung der Endver-
bleibserklärung im Zusammenhang mit den ursprünglich an
die US-Armee gelieferten deutschen Waffen des Typs
SIG Sauer SP2022 und nach Kolumbien ohne Genehmigung
des Bundesamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle
gelangten Waffen zu verlangen, und hat die Bundes-
regierung die US-Armee folgerichtig nun von der Belieferung
mit weiteren Kriegswaffen und kriegswaffennahen sonstigen
B
Frau Abgeordnete, wir wollen – wie ich das eben be-
reits mehrfach sagte – den Sachverhalt zunächst aufklä-
ren. Dann werden wir die entsprechenden Schlussfolge-
rungen ziehen.
Ihre erste Nachfrage.
Danke schön, Frau Staatssekretärin. – Ich habe also
jetzt gelernt, dass die Bundesregierung nicht sehr gut
über den Endverbleib von Waffen, für die sie die Export-
genehmigung erteilt hat, informiert ist. Es gibt viele
Maßnahmen, um solche Vorgänge zu kontrollieren. Es
könnte ein regelmäßiger Mechanismus eingeführt wer-
den.
Nach Ihren Aussagen werden jetzt Nachforschungen
von der nachgeordneten Behörde eingeleitet. Meine kon-
krete Frage lautet: Wenn sich jetzt herausstellen sollte,
dass die Waffen von den USA weitergeliefert wurden,
wird die Schlussfolgerung dann sein, dass es keine Aus-
fuhrgenehmigungen mehr geben wird? Und wird es
Sanktionen gegenüber der US-Regierung geben?
B
Wenn der Sachverhalt aufgeklärt ist, dann werden wir
entscheiden, was wir tun. Genau so ist es.
Ihre zweite Frage.
Ich habe noch eine generelle Frage. Gibt es eigentlich
eine rechtliche Verpflichtung deutscher Rüstungsunter-
nehmen, zu melden, wenn sie selbst Hinweise auf Zuwi-
derhandlungen in Bezug auf die Endverbleibserklärung
haben? Wie wird gegebenenfalls eine Unterlassung, also
wenn die Unternehmen dies nicht melden, sanktioniert?
B
Diese Frage kann ich Ihnen jetzt nicht beantworten.
Die Frage müssen wir schriftlich beantworten.
Gut, das halten wir so fest. – Danke.Ich rufe die Frage 34 des Kollegen Hans-ChristianStröbele auf:Inwieweit trifft es zu, dass der Bundessicherheitsrat in sei-ner Sitzung am 7. Mai 2014 nicht auf Widerstand des Bundes-ministers für Wirtschaft und Energie, Sigmar Gabriel, hin
„fast zwei Drittel Exportanträge“ für
Rüstungsgüter „abgelehnt“ hat, sondern die meisten und heik-len Exportbeschlussvorlagen lediglich von der Tagesordnungabgesetzt hat mit der Folge, dass für Juni 2014 eine neuerlicheSitzung vorgesehen ist und derzeit über 200 Vorlagen unbe-
gierung die Genehmigungspraxis gestalten, wenn dasBundesverfassungsgericht die derzeitige Praxis auf meineVerfassungsklage hin beanstandet, und insbesondere die vomDeutschen Bundestag am 8. Mai 2014 verlangte rasche Unter-richtung über Rüstungsexportentscheidungen über eine Ände-rung der Geschäftsordnung hinaus regeln?Bitte, Frau Staatssekretärin.
Metadaten/Kopzeile:
3304 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Juni 2014
(C)
(B)
B
Herr Ströbele, Sie wissen ja, dass der Bundessicher-
heitsrat geheim tagt und dass der Deutsche Bundestag
über die abschließenden Genehmigungsentscheidungen
informiert wird. Das Kabinett hat dazu heute eine neue
Geschäftsordnung beschlossen, sodass der Deutsche
Bundestag künftig schneller informiert werden wird.
Wie Ihre Klage vor dem Bundesverfassungsgericht
ausgehen mag, darüber möchte ich jetzt nicht spekulie-
ren. Wenn uns die Entscheidung vorliegt, werden wir
uns selbstverständlich danach richten, soweit sich aus
dieser Entscheidung Verpflichtungen für die Bundesre-
gierung ergeben sollten.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Danke. – Ich habe in meiner Frage ja zitiert, dass „fast
zwei Drittel der Exportanträge“ für Rüstungsgüter „ab-
gelehnt“ wurden. Können Sie sagen, ob darunter auch
Exportanträge gewesen sind, für die schon vorher eine
Genehmigung vorgelegen hat bzw. über die schon eine
Vorentscheidung getroffen wurde?
B
Nein, das kann ich Ihnen nicht sagen, weil ich keine
Auskünfte aus den Sitzungen des Bundessicherheitsrates
geben darf; jenseits der Tatsache, dass ich nicht dabei
war.
Ihre zweite Nachfrage.
Ich habe noch eine allgemeine Frage, die Sie mir ver-
mutlich auch nicht beantworten können. Ich habe heute
einen Brief vom Bundesverfassungsgericht bekommen,
in dem auf die Antwort der Bundesregierung auf eine
Frage des Kollegen van Aken Bezug genommen worden
ist. Darin heißt es, dass die Entscheidung der jeweiligen
Bundesregierungen aus den vergangenen Jahren angeb-
lich für die spätere Lieferung, für die Endentscheidung
verbindlich sein sollen. Ist das zutreffend?
B
Ich verstehe die Frage nicht. Die Entscheidungen sol-
len verbindlich sein?
Es gibt ja eine Voranfrage, eine Genehmigung und
dann gibt es noch einmal – –
B
Sie meinen, dass die Entscheidungen über die Voran-
fragen verbindlich sind?
Ja, die Vorentscheidungen.
B
Die Voranfragen haben natürlich eine Bindungswir-
kung, sonst gäbe es sie nicht. Sie sind selber Jurist und
wissen das deshalb eigentlich auch. Natürlich können sie
geändert werden, es sind ja nur Voranfragen. Sie können
dann geändert werden, wenn sich die Verhältnisse in
dem Land, in das exportiert werden soll, geändert haben
oder wenn Besorgnis besteht, dass dort Menschenrechts-
verletzungen und Ähnliches begangen werden.
Dann wird das erneut überprüft.
– Nein.
Kollege Ströbele, ich bitte, jetzt nicht ins Zwiege-
spräch einzutreten, so spannend das auch sein mag.
Der Kollege van Aken hat die Möglichkeit zu einer
Zusatzfrage. Dann wird die Informationsübermittlung
hier sicherlich funktionieren.
Es ist richtig gemein, dass mir meine Frage als Zu-
satzfrage angerechnet wird; denn der Kollege Ströbele
hatte die Frage schon schriftlich gestellt.
Ich frage Sie jetzt noch einmal ganz einfach: Ist es
richtig, dass im Juni wieder eine Sitzung des Bundes-
sicherheitsrates stattfindet? Heute Morgen hat das Kabi-
nett neue Transparenzregeln für den Bundessicherheits-
rat beschlossen. Heute Mittag haben wir eine Liste der
Entscheidungen des Bundessicherheitsrates erhalten. Es
gibt in Sachen Transparenz ja einen neuen Wind, so
schwach er auch sein mag; deswegen frage ich: Das Da-
tum der nächsten Sitzung des Bundessicherheitsrates
dürfen Sie mir doch nennen?
B
Nein.
Bis jetzt war es Usus, dass man es nicht sagen darf. Faktist wenigstens, dass ich es nicht sagen kann, weil ich esnicht weiß.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Juni 2014 3305
(C)
Mit dieser Klarstellung sind wir am Ende der Fragen
des Geschäftsbereichs des Bundesministeriums für Wirt-
schaft und Energie, die hier mündlich beantwortet wer-
den.
Die Frage 35 des Kollegen Christian Kühn soll
schriftlich beantwortet werden. Die Fragen 36 und 37
der Kollegin Dr. Julia Verlinden werden entsprechend
unseren Richtlinien schriftlich beantwortet. Für diejeni-
gen auf den Besuchertribünen, die sich jetzt fragen, was
das heißt, sage ich: Der Gegenstand dieser Fragen ist
noch Gegenstand von Debatten in dieser Sitzungswoche
des Bundestages. Deshalb werden sie in der Fragestunde
nicht beantwortet.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Donnerstag, den 5. Juni 2014,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen viel
Erfolg für all Ihre Vorhaben am heutigen Tag.