Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alleherzlich. Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten,haben wir noch einige Wahlen durchzuführen. Davorwürde ich gerne die Gelegenheit nutzen, den Kollegin-nen und Kollegen, die während unserer parlamentari-schen Osterpause besondere Geburtstage gefeiert haben,noch einmal herzlich zu diesem Ereignis zu gratulieren:Der Kollege Dr. h. c. Gernot Erler hat seinen 70. Ge-burtstag gefeiert. Der Kollege Dr. h. c. Hans Michelbachsowie der Kollege Rüdiger Veit haben ihren 65. Ge-burtstag gefeiert. Ihren 60. Geburtstag begingen die Kol-legin Dagmar Wöhrl sowie die Kollegen ThomasOppermann und Ewald Schurer. Allen Genannten unddenjenigen, die nicht ganz so auffällige Geburtstagewährend der Osterpause hatten, möchte ich auch auf die-sem Wege noch einmal herzlich gratulieren und allesGute für das neue Lebensjahr wünschen.
Was die notwendigen Wahlen angeht, schlägt dieSPD-Fraktion für den Wahlprüfungsausschuss vor, dieKollegin Gabriele Fograscher für den KollegenMichael Hartmann und den Kollegen Florian Post fürden Kollegen Christian Flisek als ordentliche Mitgliederzu wählen. Sind Sie damit einverstanden? – Das siehtganz danach aus. Damit sind die Kollegin Fograscherund der Kollege Post als ordentliche Mitglieder diesesAusschusses gewählt.Die CDU/CSU-Fraktion schlägt vor, für die KolleginAndrea Lindholz die Kollegin Dr. Astrid Freudensteinals neue Schriftführerin zu wählen. – Auch dazu kannich keinen Widerspruch erkennen. Dann ist die KolleginDr. Freudenstein als Schriftführerin gewählt.Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die ver-bundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktelisteaufgeführten Punkte zu erweitern:ZP 1 Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU undSPDZur aktuellen Lage in der Ukraine
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten BrigittePothmer, Beate Walter-Rosenheimer, KerstinAndreae, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENJugendarbeitslosigkeit in Europa bekämp-fen – Stopp des Programms MobiPro-EU so-fort aufhebenDrucksache 18/1343Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussZP 3 Beratung des Antrags der AbgeordnetenAnnalena Baerbock, Marieluise Beck ,Dr. Franziska Brantner, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENHilfe für die Flüchtlinge aus Syrien – Unter-stützung für die NachbarstaatenDrucksache 18/1335ZP 4 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver-fahren
Unterrichtung durch die BundesregierungStadtentwicklungsbericht 2012Drucksache 17/14450Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheit
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für TourismusAusschuss für Kultur und MedienZP 5 Weitere abschließende Beratung ohne Aus-sprache
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Gerhard Schick, Manuel Sarrazin, KerstinAndreae, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENzu dem Vorschlag für eine Verordnung desEuropäischen Parlaments und des Rates zurFestlegung einheitlicher Vorschriften und ei-nes einheitlichen Verfahrens für die Abwick-lung von Kreditinstituten und bestimmtenWertpapierfirmen im Rahmen eines einheitli-chen Abwicklungsmechanismus und eineseinheitlichen Bankenabwicklungsfonds sowiezur Änderung der Verordnung Nr. 1093/2010 des Europäischen Parlaments und desRatesKOM(2013) 520 endg.; Ratsdok. 12315/1/13hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 desGrundgesetzesFür einen europäischen Bankenabwicklungs-mechanismus und BankenabwicklungsfondsDrucksache 18/1340ZP 6 Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion DIE LINKEErgebnisse des Treffens von BundeskanzlerinDr. Angela Merkel mit US-Präsident BarackObamaZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten SylviaKotting-Uhl, Jürgen Trittin, Agnieszka Brugger,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENKündigung bilateraler Kooperationen im Be-reich der Nutzung atomarer TechnologienDrucksache 18/1336ZP 8 Vereinbarte Debattezum Europäischen Tag zur Gleichstellung vonMenschen mit BehinderungZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan vanAken, Wolfgang Gehrcke, Christine Buchholz,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEFür ein generelles Verbot des Exports vonKriegswaffen und sonstigen RüstungsgüternDrucksache 18/1348ZP 10 Beratung des Antrags der AbgeordnetenAgnieszka Brugger, Katja Keul, Dr. FrithjofSchmidt, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENEchte Transparenz und parlamentarische Be-teiligung bei RüstungsexportentscheidungenherstellenDrucksache 18/1360ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten FriedrichOstendorff, Harald Ebner, Peter Meiwald, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENDen Umgang mit Nährstoffen an die UmweltanpassenDrucksache 18/1338Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitZP 12 Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Kirsten Tackmann, Caren Lay, Dr. DietmarBartsch, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKEWasserqualität für die Zukunft sichern –Düngerecht novellierenDrucksache 18/1332Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitVon der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden.Außerdem werden die Tagesordnungspunkte 6 b, 8und 10 abgesetzt. Darüber hinaus kommt es zu den inder Zusatzpunkteliste dargestellten weiteren Änderun-gen des Ablaufs.Schließlich mache ich auf mehrere nachträglicheAusschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunkte-liste aufmerksam:Der am 14. Februar 2014 überwiesenenachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Aus-schuss für Wirtschaft und Energie zurMitberatung überwiesen werden:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Er-leichterung der Bewältigung von Konzernin-solvenzenDrucksache 18/407Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Arbeit und SozialesDer am 20. März 2014 überwiesenenachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Innen-ausschuss zur Mitberatung überwiesenwerden:Erste Beratung des von den Fraktionen derCDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zur Umsetzung der Entschei-dung des Bundesverfassungsgerichts zur Suk-zessivadoption durch LebenspartnerDrucksache 18/841Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2697
Präsident Dr. Norbert Lammert
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InnenausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendDer am 4. April 2014 überwiesenenachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss fürTourismus zur Mitberatung überwie-sen werden:Beratung des Antrags der Abgeordneten CorinnaRüffer, Kerstin Andreae, Markus Kurth, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENFünf Jahre UN-Behindertenrechtskonven-tion – Sofortprogramm für Barrierefreiheitund gegen DiskriminierungDrucksache 18/977Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für TourismusSind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –Das ist offensichtlich der Fall.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 bauf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur grund-legenden Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes und zur Änderung weiterer Bestim-mungen des EnergiewirtschaftsrechtsDrucksache 18/1304Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und LandwirtschaftAusschuss für Verkehr und digitale InfrastrukturAusschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitb) Beratung des Antrags der Abgeordneten EvaBulling-Schröter, Caren Lay, Ralph Lenkert,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEÖkostromförderung gerecht und bürgernahDrucksache 18/1331Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie
FinanzausschussAusschuss für Ernährung und LandwirtschaftAusschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Dazu höre ichkeine Einwände. Dann können wir so verfahren.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächstder Bundesminister für Wirtschaft und Energie, SigmarGabriel.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft undEnergie:Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Mit der Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes wollen wir sicherstellen, dass die Energie-wende weiter vorankommt. Bei den Ausbaupfaden fürWindenergie und Photovoltaik wird die Höhe nicht etwa,wie gelegentlich öffentlich behauptet, verringert, son-dern verstetigt, und sie werden sogar weiter ausgebaut.Der Ausbaupfad der Photovoltaik bleibt wie bisher.Beim Ausbaupfad für Windenergie an Land legen wirmit ebenfalls 2,5 Gigawatt pro Jahr den höchsten Wertals Ziel fest, den wir in den letzten zehn Jahren nur eineinziges Mal erreicht haben. Damit werden die beidenkostengünstigsten Formen der erneuerbaren Energiendie Energiewende weiterhin tragen.Beim Ausbaupfad für die eher kostenintensive Bio-masse erfolgt eine Festlegung auf die Verwendung vonReststoffen und auf 100 Megawatt pro Jahr. Bei Off-shorewind wollen wir durch einen Ausbaupfad von6,5 Gigawatt bis 2020 die Größenordnung erreichen, diewir brauchen, um eine echte Industrialisierung voranzu-treiben und damit deutliche Kostensenkungen auch indiesem Feld der Produktion erneuerbarer Energien zu er-reichen. Die Stahl- und Werftindustrie im Norden undOsten Deutschlands, aber auch der Maschinenbau unddie Elektrotechnik im Westen und im Süden der Repu-blik werden davon profitieren.Ich nenne diese ambitionierten Ausbauziele so detail-liert, um zu zeigen, dass niemand Sorge haben muss, dieEnergiewende würde ausgebremst oder die Ausbauzieleder erneuerbaren Energien würden insgesamt begrenzt,im Gegenteil.
– Herr Krischer, ich sage dies insbesondere wegen Ih-nen. Hören Sie einfach einmal zu.
Herr Krischer, bei Kenntnis der Grundrechenartenmuss man Folgendes erkennen: Zehn Jahre lang ist nureinmal die Leistung von 2,5 Gigawatt an Land erreichtworden, und jetzt liegt ein Gesetzentwurf vor, in demvorgesehen ist, dass man diese 2,5 Gigawatt jedes Jahrerreicht. Angesichts dessen ist es bei Kenntnis derGrundrechenarten relativ schwer, öffentlich zu behaup-ten, man würde den Ausbau der Windenergie an Landausbremsen.
Aber umgekehrt gilt auch: Dort, wo nach 20 JahrenFörderung die Kosten nicht gesunken, sondern gestiegensind, fahren wir den Ausbau deutlich zurück. Dort, wowir Überförderungen der Windenergie sehen – auch diesist zum Teil bei sehr guten Standorten der Fall –, bauenwir die Überförderung ab. Beides gehört zusammen:
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Bundesminister Sigmar Gabriel
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Ausbau der kostengünstigen Energieträger und Abbauder kostenintensiven Energieträger und der Überförde-rung – nur durch diese Kombination machen wir dieEnergiewende erfolgreich, sicher und bezahlbar.Heute haben die erneuerbaren Energien am Strom-markt einen Anteil am Stromverbrauch von etwa 25 Pro-zent. Wir wollen 2025 einen Anteil der erneuerbarenEnergien am Nettostromverbrauch von 40 bis 45 Prozenthaben, bis 2035 sogar von 55 bis 60 Prozent. Deutsch-land wird Vorreiter für eine Energiepolitik bleiben, dieuns mittel- und langfristig übrigens auch unabhängigervom Import konventioneller Energieträger machen wird.Wir setzen die Energiewende damit unbeirrt fort, aberwir sichern auch ihre Voraussetzungen. Diese lauten:Bezahlbarkeit und Sicherheit in der Versorgung. Nurwenn wir diese beiden Voraussetzungen gewährleisten,wird die Energiewende dauerhaft die Unterstützung derBürgerinnen und Bürger behalten.Ich will mich an dieser Stelle ausdrücklich bei all de-nen bedanken, die sich dieser Herausforderung gerade inden letzten Wochen und Monaten intensiv gestellt haben.Das gilt auch für die Länder, meine Damen und Herren.Trotz mancher Änderungsvorschläge im Detail, die si-cher auch in den Beratungen im Deutschen Bundestagund im Bundesrat auftauchen werden – über sie mussnoch diskutiert und es muss entschieden werden –, findetder jetzt vorgelegte Gesetzentwurf nach intensiver Bera-tung in Zielrichtung und Ausrichtung die Zustimmungaller Ministerpräsidenten der Bundesländer. Das gilt aus-drücklich auch für den Weg in die Marktintegration undin die Ausschreibungen ab 2017. Niemand – darauf legeich Wert – muss Angst davor haben, dass auf diesemWeg Bürgerwindparks oder Energiegenossenschaftenkeine Chance auf Teilnahme mehr erhalten.
Im Gegenteil: Wir werden einen gesonderten Gesetzent-wurf in den Bundestag einbringen, mit dem wir dieseBeteiligung der Bürgerinnen und Bürger nachhaltig si-chern werden, meine Damen und Herren.
Die Zustimmung der Länder zu diesem Gesetzent-wurf, jedenfalls in Zielrichtung und Ausrichtung, istauch deshalb so wichtig, weil das Wichtigste für dieEnergiewende natürlich Planbarkeit und Berechenbar-keit sind. Wir müssen in eine Situation kommen, in derauch bei wechselnden Regierungsmehrheiten in Bundund Ländern nicht wieder Richtungswechsel herbeige-führt und veränderte Rahmenbedingungen für die Ener-giewende erzeugt werden.Meine Damen und Herren, als der Beschluss fiel, er-neuerbare Energien mit garantierten Abnahmepreisen zufördern, waren Windräder und Photovoltaikkraftwerkeerst eine Nischentechnologie. Heute sind die Erneuerba-ren auf dem Weg zur Leittechnologie. Genau deshalbmüssen wir das Erneuerbare-Energien-Gesetz jetzt än-dern. Es ist ein Unterschied, ob ein Gesetz eine Nischen-technologie fördern soll oder ob es eine Technologie för-dern soll, die sozusagen zum veritablen Bestandteil, zumLeitbestandteil des Strommarktes werden soll.Vieles ist durch den Ausbau der Erneuerbaren in gro-ßem Stil verbessert worden. Seit es das EEG gibt, konn-ten vor allen Dingen die Kosten der Stromerzeugung inden Bereichen Windenergie und Photovoltaik drastischgesenkt werden. Aber diese rasche Entwicklung hat auchihren Preis, und zwar im doppelten Sinn: Neben sinken-den Kosten pro Anlage gibt es steigende Systemkostender Energiewende. Diese gilt es in den nächsten Wochenund Monaten zu stabilisieren. Denn der Ausbau der er-neuerbaren Energien ist vor allen Dingen in systemati-scher Hinsicht eine Herausforderung. Es ist falsch, „Jeschneller, desto besser“ zum Motto der Energiewende zuerklären. Das Motto muss lauten: „Je systematischer,desto besser“ und „Je planvoller, desto besser“. Dasmuss das Ziel der Energiewende sein.
Für diese systematische Einbindung fehlt es zurzeitimmer noch an vielem: Es fehlt an Netzen und Spei-chern. Es fehlt die Klärung der Verbindung zwischen er-neuerbaren Energien und fossilen Kraftwerksparks. Esfehlt an einem neuen Strommarktdesign. Es fehlt an eu-ropäischer Einbettung. Es fehlt natürlich auch an einemfunktionierenden Emissionshandel. All diese Aufgabenmüssen in den nächsten Monaten angegangen werden.Das, was wir jetzt vorliegen haben, ist nur ein ersterBaustein. Die systematische Einbindung ist aber die Vo-raussetzung für den Erfolg der Energiewende.Eine Bemerkung noch zum Emissionshandel. Natür-lich ist es eigentlich unfassbar, dass wir viel Geld für dieFörderung der erneuerbaren Energien ausgeben undgleichzeitig seit zwei Jahren steigende CO2-Emissionenin Deutschland und Europa zu verzeichnen haben.
– Herr Krischer, ich bin dankbar für jeden Zwischenrufvon Ihnen, weil er zur Belebung solcher Reden hilfreichist.
Aber es ist eben nicht so, wie Sie behaupten. DasSchlimme ist, Herr Krischer: Sie wissen das ganz genau.In einer aufgeklärten Debatte darf man nicht das Gegen-teil dessen, was man selber genau weiß, öffentlich erklä-ren.
Ich meine das nicht persönlich. Es ist aber gut, dass manangesichts solcher Zwischenrufe die Sachverhalte erläu-tern kann. Wie Sie wissen, ist das Problem, dass der eu-ropäische Emissionshandel zerstört ist. Es ist dieseBundesregierung, die sich in Europa darum bemüht,Bündnispartner zu gewinnen, um den Emissionshandelendlich wieder in Gang zu bekommen. Sie sollten unsdafür loben und uns nicht öffentlich kritisieren!
Meine Damen und Herren, in den letzten Wochen istviel darüber debattiert worden, ob es richtig ist, die deut-sche Industrie von den Kosten der Energiewende in Tei-
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Bundesminister Sigmar Gabriel
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len zu befreien. Immer wieder wird dabei der Versuchunternommen, die Interessen der Verbraucherinnen undVerbraucher gegen die Interessen am Erhalt industriellerArbeitsplätze auszuspielen. Auch gestern in der Frage-stunde im Deutschen Bundestag ist das wieder in Teilender Fall gewesen. Ich glaube, dass der Versuch, Verbrau-cher gegen industrielle Arbeitsplätze auszuspielen,grundfalsch ist, meine Damen und Herren, grundfalsch.
Zunächst muss man einmal mit der Mär aufräumen,die deutsche Industrie würde keinen Beitrag zur Umstel-lung auf erneuerbare Energien leisten. Der Beitrag derdeutschen Industrie zur EEG-Umlage umfasst mehr als7 Milliarden Euro. Wenn Sie Dienstleistungen, Handelund Gewerbe dazuzählen, sind es insgesamt mehr als12 Milliarden Euro. Das ist mehr als die Hälfte der Kos-ten, die wir beim Ausbau der erneuerbaren Energien zubewältigen haben.In Wahrheit geht es um ungefähr 2 000 Industrie-unternehmen mit entsprechender internationaler Han-delsintensität, deren Energieintensität dazu führt, dassdrastisch steigende EEG-Umlage-Kosten für sie im Hin-blick auf ihre internationale Konkurrenzfähigkeit zu ei-nem massiven Wettbewerbsnachteil würden. Natürlichkönnten wir einen Dreipersonenhaushalt bei den Strom-kosten um 40 bis 45 Euro pro Jahr entlasten, wenn wirauch diesen 2 000 Unternehmen sämtliche Ausnahmenstreichen würden. – Übrigens: Wenn man das machte,wovon Herr Krischer behauptet, ich hätte das verspro-chen, dann betrüge die Entlastung gerade einmal 1 Mil-liarde Euro, dann würde ein Dreipersonenhaushalt nichteinmal 10 Euro im Jahr sparen. – Der Preis dafür wäreallerdings der Verlust von Hunderttausenden industriel-len Arbeitsplätzen in diesem Land.
Es ist doch keine Erfindung von Industrielobbyisten,dass die Strompreise in den USA halb so hoch sind wiein Europa und in Deutschland. Es ist doch keine Erfin-dung von Industrielobbyisten, dass, wenn wir uns nichtin der Europäischen Union dafür eingesetzt hätten, dieseAusnahmen beizubehalten, mittelständische Unterneh-men mit 200, 300, 400 Beschäftigten auf einmal statt ei-ner halben Million Euro EEG-Umlage 1,5 MillionenEuro, manche sogar 6 Millionen Euro zu tragen hätten.Sie wären unmittelbar in die Insolvenz marschiert. Des-wegen ist es richtig, dass wir uns für diese Ausnahmeneingesetzt haben, meine Damen und Herren.
Wer Verbraucher gegen industrielle Wertschöpfungausspielt, der macht beide zum Verlierer; denn geradedie Tatsache, dass wir eine mittelständische industrielleWertschöpfung haben, ist doch der Grund, warum wirbesser aus der Krise herausgekommen sind als andere.Noch etwas: Wir wollten mit der EnergiewendeNachahmer erzeugen. Wir wollten doch nicht Klima-schutz in Deutschland machen, sondern wir wollten an-dere dafür gewinnen, dass sie mitmachen. Das werdendie aber nur dann tun, wenn wir mit der Energiewendeden industriellen Erfolg unseres Landes nicht beschädi-gen. Wir werden doch kein Entwicklungsland dazu brin-gen, seinen Industrialisierungspfad nachhaltig mit erneu-erbaren Energien zu gestalten, wenn das Land, das amstärksten industrialisiert ist in Europa, seine Industrie da-bei beschädigt.
Niemand würde uns folgen, meine Damen und Herren,niemand.Gestern hat das Kabinett deshalb die Besondere Aus-gleichsregelung für stromintensive Unternehmen be-schlossen. Weil auch dazu wirklich viele falsche Aussa-gen getroffen wurden, zum Beispiel, wir würden diePelzindustrie oder den Braunkohletagebau oder Uranan-reicherungsanlagen fördern, will ich dazu einmal einpaar Bemerkungen machen: Entweder gehört ein Unter-nehmen zu den 68 Branchen auf der Liste, die die EU-Kommission veröffentlicht hat; dann hat es die Möglich-keit, beim BAFA einen Antrag zu stellen, um eine Be-freiung zu erhalten. Das heißt aber noch nicht, dass die-ser Antrag genehmigungsfähig ist – dazu muss dasUnternehmen nachweisen, dass das Verhältnis Strom-kosten zur Bruttowertschöpfung mindestens 16 bzw.17 Prozent ausmacht. Deswegen wird das zitierte Unter-nehmen der Pelzindustrie oder auch die Urananreiche-rungsanlage in Zukunft genauso wenig wie in der Ver-gangenheit eine Ausnahme genehmigt bekommen. Inder Vergangenheit gab es in Deutschland übrigens über-haupt keine Bedingungen dafür; das gesamte produzie-rende Gewerbe konnte Anträge stellen. Jetzt reduzierenwir das auf eine ausgewiesene Liste von Branchen. Aberes ist einfach – seien Sie mir nicht böse! – entwedermangelnder Kenntnisstand
oder absichtliche Desinformation, wenn öffentlich er-klärt wird, jeder, der auf der Liste steht, würde eine Aus-nahme genehmigt bekommen. Ich finde, es ist ganz ein-fach: Statt das öffentlich zu behaupten, kann der, dereine Frage hat, uns einfach einmal anrufen. Aber ichgebe zu: Die nächste Pressemitteilung wird dann schwie-riger.
Die zweite Möglichkeit ist: Man gehört zwar nicht zudiesen 68 Branchen, steht aber auf einer zweiten Bran-chenliste, die die EU-Kommission veröffentlicht hat.Um auf dieser zweiten Branchenliste zu erscheinen, istnur eine Handelsintensität von mehr als 4 Prozent erfor-derlich. Nach unserer Besonderen Ausgleichsregelungkann ein Unternehmen demgegenüber nur dann einenentsprechenden Antrag stellen, wenn es eine Stromkos-tenintensität von mehr als 20 Prozent aufweist.
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2700 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Bundesminister Sigmar Gabriel
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– Das habe ich Ihnen gestern erklärt: Aus diesem Grundgibt es die Verordnungsermächtigung in dem Gesetzent-wurf. Sie müssen die Vorlagen natürlich lesen, bevor SiePressemitteilungen herausgeben.
Ich will nur darauf hinweisen, dass die Stromkostenin-tensität und die Handelsintensität der Branche Voraus-setzungen dafür sind, dass man eine Ausnahmegenehmi-gung erhält.Noch etwas war und ist uns wichtig: In der Vergan-genheit haben Unternehmen, zum Beispiel Schlachthöfe,damit begonnen, ihre Arbeitnehmer auszugliedern undsie in finsterste Werkvertragsverhältnisse zu bringen.Dadurch haben sie ihre Bruttowertschöpfung künstlichreduziert, um in den Genuss der Besonderen Ausgleichs-regelung zu kommen.Wir haben in der EU durchsetzen können, dass wirdie Wertschöpfung durch Leiharbeiter, Werkvertragsar-beitnehmer und andere mit zur Bruttowertschöpfungzählen können, damit wir mit dem Erneuerbare-Ener-gien-Gesetz nicht einen Anreiz dafür setzen, aus fairenBeschäftigungsverhältnissen zu fliehen. Das wird mitdieser Besonderen Ausgleichsregelung endlich geändert.
Aus den genannten Gründen ist es falsch, zu behaup-ten, dass sich bereits aus dem Erscheinen einer Brancheauf der Liste automatisch der Anspruch auf eine Ermäßi-gung hinsichtlich der EEG-Umlage ergibt.Der vorliegende Entwurf des EEG orientiert sich ebennicht an Einzelinteressen, sondern zielt auf einen breitenKonsens über das übergeordnete Interesse unseres Lan-des ab. Meine Bitte ist, dass wir den Versuch unterneh-men – und ich bin mir sicher, wir können das schaffen –,den Gesetzentwurf noch vor der Sommerpause nicht nurhier, sondern auch im Bundesrat zu Ende zu beraten,weil das die Voraussetzung dafür ist, dass wir die Ener-giewende ohne weitere Konflikte mit der EuropäischenUnion, aber auch ohne Konflikte in Bezug auf Planungs-unsicherheit fortsetzen und die erneuerbaren Energienerfolgreich ausbauen können.Ich sage aber auch: Das hier ist nur der erste Bausteindessen, was wir in dieser Legislaturperiode gemeinsamschaffen müssen. Es gibt noch viel mehr zu tun. Ich binmir sicher, dass wir den gefundenen Konsens über denAusstieg aus der Atomenergie auch hinsichtlich derFrage finden müssen, wie wir erneuerbare Energien,Netzintegration, Speicher, Kapazitätsmärkte und anderesmiteinander organisieren können. Nur wenn wir bei derEnergiewende einen breiten gesellschaftlichen Konsenserreichen, erreichen wir auch Planbarkeit und Sicherheit,und das ist die wichtigste Voraussetzung.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort erhält nun die Kollegin Caren Lay für die
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Minister Gabriel, ich muss mich über dieAussagen, die Sie heute zu den Industrierabatten ge-macht haben, schon wundern. Vor ein paar Monaten – imDezember; das ist ja noch nicht so lange her – wurdenSie noch mit völlig anderen Aussagen zitiert.
Dort hieß es:Man kann die Ausnahmeregelungen– gemeint waren die Industrierabatte –deutlich reduzieren, das haben wir auch schon imWahlkampf gesagt, dass das sein muss. Das, wasfrüher FDP und CDU da gemacht hatten, war vielzu groß.
Das ist offenbar lange her und längst vergessen; dennin der Zwischenzeit haben Sie sich damit gebrüstet, dassSie die ganze Zeit mit viel Tamtam nach Brüssel gereistsind und die Anzahl der zu befreienden Unternehmenund Branchen ausgeweitet haben.
Am Ende haben Sie dann auch noch einen zum Teil un-befristeten Bestandsschutz für diejenigen Branchendurchgesetzt, die von CDU und FDP damals befreit wur-den. Wissen Sie, das ist unlogisch. Ich finde es ein Stückweit unfair, sich von diesen ehemaligen Zielen so mirnichts, dir nichts zu verabschieden.
Dann sagen Sie hier: Die Verbraucher sollen sichnicht als Verlierer fühlen. – Schön wäre es! Wo sinddenn bitte schön die Fakten, die diese Aussage unterle-gen? Es bleibt doch auch bei dem, was Sie jetzt verhan-delt haben, dabei, dass im Endeffekt die Rentnerin undder Student für Wiesenhof und die Steinkohleindustriedie Stromrechnung mitbezahlen. Dann sagen Sie auchnoch: Das ist gut für den Wirtschaftsstandort Deutsch-land. – Ich frage Sie: Finden Sie das sozial gerecht? Ichjedenfalls nicht.
Kommen wir zu Ihren wirtschaftspolitischen Aussa-gen. Auch bei dem, was jetzt im Rahmen der Industrie-rabatte verhandelt wurde, bleibt es prinzipiell möglich,dass der Bäcker an der Ecke für die Großbäckerei mit ei-nem deutlich höheren Stromverbrauch die Stromrech-nung mitbezahlt. Das ist doch wirtschaftspolitischer Un-sinn. So kann es doch nun wirklich nicht gehen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2701
Caren Lay
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Die Frage ist natürlich: Was kostet das Ganze? Siestellen sich hier hin und sagen: Diese 40 bzw. jetzt schon45 Euro im Jahr sind für eine durchschnittliche Familieeine erträgliche Summe, um die Industriestandorte inDeutschland zu subventionieren. – Wissen Sie, ich finde,das ist eine ganz schön zynische Haltung gegenüber alldenjenigen Leuten, für die 45 Euro eine Menge Geldsind. Vielleicht sollten Sie das als Sozialdemokrat ein-mal mitbedenken.
Es kann sein, Herr Minister, dass Ihnen diese 45 Euronichts ausmachen. Aber Sie glauben doch nicht im Ernst,dass diese Zwangskollekte für die deutsche Industrie aufKosten der Stromzahler nur annähernd eine Mehrheit inder Bevölkerung finden würde. Wenn dieser Gesetzent-wurf durch eine Volksabstimmung legitimiert werdenmüsste, dann würde er abgelehnt. Ich finde, das sollteauch der Deutsche Bundestag tun.
Wissen Sie, die Öffentlichkeit diskutiert jetzt seit übereinem Jahr, genauer gesagt: seit anderthalb Jahren, überdie Reform der Ökostromförderung. Diverse Reisennach Brüssel, Einladung der Kanzlerin von sämtlichenMinisterpräsidenten waren die Folge. Was ist am Endedabei herausgekommen? Außer Spesen nichts gewesen!Die Verbraucher schauen weiterhin in die Röhre, und dieEnergiewende wird dabei abgewürgt. Dafür hat sich derganze Aufwand wirklich nicht gelohnt.
Sie sagen, Sie wollen den erneuerbaren Energien garnicht an den Kragen gehen. Schön wäre es! StichwortArbeitsplätze: Die Branche der erneuerbaren Energienist eine der zukunftsfähigsten Branchen in Deutschland.Hier sind über 400 000 Arbeitsplätze entstanden. In denletzten Jahren sind aber im Bereich der erneuerbarenEnergien schon 10 000 Arbeitsplätze weggefallen, ins-besondere in der Solarbranche und in Ostdeutschland.Experten gehen jetzt davon aus, dass mit Ihrem Gesetz-entwurf die ganze Sache noch schlimmer wird und dassgerade im Bereich der erneuerbaren Energien Arbeits-plätze in Gefahr sind. Ich hätte mir schon gewünscht,dass Sie dazu wenigstens einen einzigen Satz gesagt hät-ten.
Wir als Linke wollen Ökologisches und Soziales zu-sammendenken. Wir sagen: Wir brauchen die Energie-wende, und wir wollen der Energiewende ein Sozialsie-gel aufdrücken. Wir gehen nicht all denjenigen auf denLeim, die sagen: Die Erneuerbaren machen den Stromteurer. – Diese Menschen haben in Wirklichkeit nur dieProfitinteressen der Kohle- und Atomlobby und die derGroßindustrie im Hinterkopf. Das machen wir als Linkenicht mit.
– Es wäre ein Leichtes und auch möglich, die Stromkos-ten für die Verbraucherinnen und Verbraucher zu senken;Herr Heil, vielen Dank für Ihren Zwischenruf. Die SPDhatte gemeinsam mit uns im Wahlkampf den einen oderanderen klugen Vorschlag eingebracht. Nehmen wir zumBeispiel die Senkung der Stromsteuer. Was ist denn da-raus geworden? Nichts ist daraus geworden. Auf diesemGebiet haben Sie keine einzige soziale Flankierungdurchsetzen können. Ich finde, das ist für eine sozialde-mokratische Politik ganz schön beschämend.
Wenn wir jetzt hier über die große Belastung der In-dustrie lamentieren, dann sagen Sie doch auch wenigs-tens ein einziges Wort zu den über 320 000 Haushaltenim Jahr – Tendenz steigend –, denen der Strom abgestelltwird. Dazu habe ich vom Minister und auch von der Ko-alition kein einziges Wort gehört. Ich finde es schlimm,dass den Menschen der Strom abgestellt wird und Siediese im Dunkeln sitzen lassen. Das muss endlich einEnde haben.
Es gibt viele andere Möglichkeiten, die Stromkostenzu reduzieren und die Energiewende trotzdem nicht zugefährden. Wir als Linke haben ein ganzes Paket dazuvorgelegt. Neben der Senkung der Stromsteuer wollenwir die Strompreisaufsicht wieder einführen. Auch dashatte die SPD noch im Wahlkampf gefordert. Heute ha-ben Sie kein Wort dazu gesagt.Oder greifen Sie einen klugen Vorschlag von KlausTöpfer, Ilse Aigner und auch von der Linken auf, einenEnergiewendefonds einzurichten und mit einem Haus-haltszuschuss und einer zeitlichen Streckung der Investi-tionszuschüsse für die Erneuerbaren zu mehr sozialerGerechtigkeit beizutragen. Auch das wäre eine klugeIdee.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.Auch wir als Linke wollen die Industrierabatte nichtkomplett abschaffen.
Auch uns liegen natürlich die Arbeitsplätze in der Indus-trie am Herzen. Aber so, wie Sie es vorschlagen, geht esnicht. Die Vergabe muss an klare Kriterien gebundensein, und die Rabatte müssen deutlich reduziert werden.Das haben Sie noch vor ein paar Wochen gefordert. Ichwürde mir sehr wünschen, dass Sie sich in der Debatteund bei der Gesetzesberatung wieder daran erinnernkönnen. So, wie Sie es vorgeschlagen haben, geht es je-denfalls nicht.
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2702 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
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Michael Fuchs ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Minister,ich bin der Meinung, dass wir auf einem guten Weg sind,das EEG so zu reformieren, dass es am Ende des TagesAkzeptanz in der Bevölkerung findet. Das ist unsereAufgabe. Aber dabei muss auch die Akzeptanz der Un-ternehmen gewahrt bleiben. Es kann nicht sein – wie esgerade von der Linken gefordert wurde –, dass man Un-ternehmen wissentlich und willentlich kaputtmacht;
denn sie können in Deutschland nicht mehr arbeiten,wenn sie Strompreise nach linkem Muster zu bezahlenhaben.Wer das fordert, der weiß genau, dass er in Deutsch-land diverse Grundstoffindustrien kaputtmacht. Wennsie kaputt sind, dann gehen Wertschöpfungsketten ka-putt, und dann haben wir – das gilt auch für HerrnKrischer – am Ende des Tages nichts gewonnen.
Wir haben ein EEG, das sehr, sehr teuer ist. Wir för-dern in diesem Jahr die erneuerbaren Energien mit23,8 Milliarden Euro. Auf 20 Jahre gerechnet sind wirnahe an einer halben Billion Euro Fördermittel. Daszeigt doch, wie sehr Deutschland bereit ist, in die Förde-rung einzusteigen. Die 23,8 Milliarden Euro entsprechenin etwa der Größenordnung des Verkehrsetats vonMinister Dobrindt. Wenn wir in dem Bereich etwas mehrGeld für die Straßen hätten, dann würde es uns vermut-lich etwas besser gehen.
Meine Damen und Herren, dieses Fördersystem musseingeschränkt, verbessert und gedeckelt werden. Das istin diesem Gesetzentwurf angelegt. Wir werden das eineoder andere im Gesetzgebungsverfahren noch intensivdiskutieren müssen. Aber ich bin davon überzeugt, dasswir das hinbekommen.Wir nehmen 5,1 Milliarden Euro aus der Umlage he-raus, damit uns die energieintensive Industrie nicht ausDeutschland flüchtet. In einem Punkt bin ich mit Ihnen,Herr Minister, nicht ganz einer Meinung. Ich war vor ei-nigen Tagen in Washington auf einem Kongress. DieAmerikaner haben ein Fünftel unserer Stromkosten inden Bereichen, wo sie Schiefergas ausbeuten. Das ist ge-fährlich. Die Amerikaner betreiben eine Reindustriali-sierungspolitik, und sie wollen gerade energieintensiveUnternehmen anlocken, in den USA zu produzieren.Wenn diese bei uns wegfallen, gehen ganze Wertschöp-fungsketten von A bis Z kaputt. Das trifft nicht nur denStahlproduzenten, sondern auch den Stahlverarbeiter,den Oberflächenbeschichter sowie das Transportunter-nehmen, das die Güter hin- und herfährt. Das wissen wiralle, und deswegen wird das verhindert. Deswegen ist esauch völlig in Ordnung, dass wir diese Unternehmen be-freien.Machen wir uns doch bitte nichts vor: Ohne diese Un-ternehmen käme es zu einem drastischen Anstieg derEEG-Umlage, weil dann wesentlich weniger industriel-ler Strom abgenommen würde. Dementsprechend müss-ten die anderen höhere Beträge zahlen. Das ist nun ein-mal nicht zu ändern.Es trifft auch nicht zu – wie Sie es behaupten –, dassdie Großverbraucher komplett geschont werden. DerEntwurf der Bundesregierung sieht vor, dass wir zumBeispiel die Mindestumlage verändern. Wir haben danneine doppelt so hohe Mindestumlage für die Großver-braucher. Das ist eine sehr spürbare Maßnahme. Wir ha-ben dazu auch entsprechende Anrufe aus allen Branchenbekommen.Im EEG-Gesetzentwurf formulieren wir nun etwas– das ist wichtig –, was bislang für die erneuerbarenEnergien fast Drohworte sind. Wir erwarten Eigenver-antwortung, und wir wollen auch Wettbewerb. In Zu-kunft muss Wettbewerb herrschen. Das bedeutet Direkt-vermarktung und Ausschreibung. Beides sieht derGesetzentwurf vor. Wir werden das intensiv begleiten.Wir müssen die Mentalität „Produce and forget“ been-den. Es kann nicht sein, dass jemand ein Produkt erzeugt– in diesem Fall Strom – und nicht dafür verantwortlichist, dass es vermarktet wird.
Ich habe über 23 Jahre ein Unternehmen geführt. Ichhätte es sehr gerne gesehen, wenn ich meine Produkteeinfach auf den Hof hätte stellen und sagen können: Sehtzu, wie ihr damit klarkommt! – Wenn man sich um denVertrieb überhaupt nicht kümmern muss, ist das sehr an-genehm. Aber das kann so nicht weitergehen. Das müs-sen wir verändern; das ist unser Ziel. Das wird durch Di-rektvermarktung und Ausschreibungsregeln noch indieser Legislaturperiode umgesetzt werden. Das sind na-türlich für die Erneuerbaren böse Worte. Aber das mussso sein. Wir wollen die Erneuerbaren nicht abwürgen, imGegenteil.
Der Bundesminister hat eben die Ausbaufrage völlig zuRecht angesprochen. Einen geplanten jährlichen Zubauvon jeweils 2 500 Megawatt im Wind- und Solarbereichkann man wahrlich nicht als Abwürgen bezeichnen.Deswegen sollten Sie das auch nicht behaupten.
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Dr. Michael Fuchs
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In einem Punkt bin ich mit dem Gesetzentwurf nichtganz zufrieden. Das ist der Offshorebereich. Das wirdbesonders teuer. Da sollten wir sehr vorsichtig sein; dennwir können nicht mehr im bisherigen Stil weitermachen.Wie ich bereits zu Beginn meiner Rede erwähnt habe,geben wir bereits 500 Milliarden Euro aus. Jede Anlage,die hinzukommt, verteuert das Ganze noch einmal.In Deutschland darf es auch nicht 16 Energiewendengeben. Es darf nicht dazu kommen, dass jedes Bundes-land sein eigenes Spielchen spielt. Rheinland-Pfalz willin 15 Jahren mithilfe der erneuerbaren Energien ener-gieautark sein. Mir ist es unerklärlich, wie das in einemBundesland wie Rheinland-Pfalz möglich sein soll.Ohne jegliche Absicherung durch andere Energieträgerenergieautark zu werden, dürfte ziemlich schwierig sein.Deswegen finde ich es richtig, dass die Bundesregierungin die Speicherforschung investiert. Gerade die erneuer-baren Energien benötigen Speicher. Wenn es keine ent-sprechenden kostengünstigen Speichermedien gibt, wirdAutarkie allein mit Erneuerbaren nicht funktionieren.Ich will noch etwas zu den Windkraftanlagen sagen.Hören Sie gut zu, Herr Krischer! Nach heutigen Förder-sätzen wird eine 3-Megawatt-Anlage – das entsprichtdem Standard, der heute onshore gebaut wird – mit6,5 Millionen Euro über eine Laufzeit von 20 Jahren ge-fördert. 500 Megawatt kosten gemäß heutigen Fördersät-zen 1 Milliarde Euro Fördermittel. Der von uns vorgese-hene Zubau von 2,5 Gigawatt pro Jahr kostet bei einer20-jährigen Laufzeit dementsprechend 5 Milliarden EuroFördermittel. Das sind gewaltige Belastungen, die wirder Bevölkerung, aber auch den Unternehmen aufbür-den. Das wollen und akzeptieren wir auch. Aber mehrkann und darf es nicht sein, weil es sonst nicht mehr zutragen ist. Wie Sie wissen, werden sich die laufendenFörderungen frühestens im Jahr 2025 deutlich reduzie-ren, weil erst dann teure Anlagen der Vergangenheit ausder Förderung fallen.Wir müssen außerdem dafür sorgen, dass alle Maß-nahmen betreffend die Steigerung der Effizienz und denNetzausbau so beschleunigt werden, dass weiterhin An-lagen aufgebaut werden können. Ohne einen vernünfti-gen Netzausbau funktioniert das Ganze überhaupt nicht.Ich halte es deshalb für sehr wichtig, dass wir begleitenddie Verfahren für den Netzausbau beschleunigen; dennwenn keine Netze vorhanden sind, können wir denStrom beispielsweise nicht von Nord nach Süd transpor-tieren und in den Verteilnetzen nicht für ein sinnvollesHin und Her sorgen. Aber dazu müssen auch die Erneu-erbaren – so steht es auch im Koalitionsvertrag – ihrenBeitrag leisten. Es ist nicht einzusehen, dass ausschließ-lich die Stromkunden den Netzausbau bezahlen, wäh-rend die Betreiber von Erneuerbare-Energien-Anlagennichts dazu beitragen müssen; denn Letztere sind dieje-nigen – wenn man vom Verursacherprinzip ausgeht –,die uns im Wesentlichen dazu zwingen, einen teurenNetzausbau vorzunehmen.TenneT hat vor einigen Tagen errechnet, dass alleinder Netzausbau im Bereich der Übertragungsnetze23 Milliarden Euro kosten wird. Das muss noch umge-legt werden; ich möchte, dass alle, die einspeisen, daranbeteiligt werden. Das haben wir im Koalitionsvertrag sovereinbart. Herr Minister, wir sollten an die Gesetz-gebung in diesem Bereich so schnell wie möglich heran-gehen.Das Einspeisemanagement muss geregelt werden,und wir müssen dafür sorgen, dass wir die Ziele, die wiruns beim Ausbau der erneuerbaren Energien gesetzt ha-ben, sicher erreichen; dies muss aber auch so kosten-günstig und kosteneffizient geschehen, wie es notwendigist, und schließt Wettbewerbsfähigkeit und EU-Konfor-mität ein. Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, dass Sie eszusammen mit der Bundeskanzlerin geschafft haben, dieEU-Konformität herzustellen, sodass wir in Zukunftkeine Angst mehr haben müssen, dass unsere BesondereAusgleichsregelung in irgendeiner Weise gefährdet ist.Danke schön.
Das Wort hat nun der Kollege Oliver Krischer, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Bundesminister Gabriel, es ist schon erstaunlich,wie breitbeinig Sie sich hier hinstellen und so tun, alsginge mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien allesso weiter wie bisher, als würde diese Erfolgsgeschichteweiterlaufen. Ein Blick auf die Fakten Ihres eigenen Ge-setzentwurfs zeigt etwas anderes. Sie reduzieren dasAusbautempo der erneuerbaren Energien um die Hälfte,und zwar nicht um die Hälfte gegenüber grünen Zielen,sondern um die Hälfte gegenüber Zielen der schwarz-gelben Bundesregierung. Das ist wahrlich ein Armuts-zeugnis.
Sie machen damit das EEG zu einem Bestandsschutz-instrument für die Kohleindustrie, für die fossile Ener-gieerzeugung.
Sie machen damit aus der Energiewende, die wir inDeutschland einmal hatten, eine Braunkohlewende. Da-gegen werden wir uns wehren.
Herr Gabriel, besonders dreist ist es, dass Sie sich hierhinstellen und sagen, bei der Windenergie werde in Zu-kunft noch etwas laufen. Es ist richtig, dass bei derWindenergie in Zukunft noch etwas passieren wird, aberdas passiert nur, weil grün regierte Bundesländer sichdafür eingesetzt und das durchgesetzt haben. Wären Ihre
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2704 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Oliver Krischer
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ursprünglichen Vorschläge zum Tragen gekommen,dann würde südlich von Hannover keine einzige Wind-kraftanlage mehr gebaut werden; dann hätten Sie auchdas noch kaputtgemacht.
Was Sie kaputtmachen, ist die Biogaserzeugung.Diese stellen Sie komplett ein. Sie beenden die Techno-logieentwicklung, wobei sie eine Chance wäre, eine resi-duale, eine flexible Energieerzeugung zum Ausgleichvon Wind- und Sonnenenergie zu bekommen. Das been-den Sie. Es ist unverantwortlich, dass man eine Technik,die in Deutschland entstanden ist, so beendet.
Genauso trifft es die Photovoltaik. Nur, Sie habennicht den Mut, das zu sagen. Sie schreiben in den Ge-setzentwurf einen Zubau von 2 500 Megawatt – das ha-ben Sie eben auch gesagt –, aber auch da zeigt ein Blickauf die Fakten etwas anderes. Wir haben im Momentschon, unter dem gültigen EEG, einen Zubau bei Photo-voltaik, der gegen null geht. Das zeigen die Zahlen derBundesnetzagentur. Sie verschlechtern die Bedingungenvor allen Dingen mit der absurden Eigenstromregelung,sodass wir mit Ausnahme des Kleinsegments in Zukunftnull Photovoltaikstrom mehr haben. Es ist absurd, dieneben der Windenergie kostengünstigste Form derEnergieerzeugung, nämlich die aus Sonne, abzuwürgen.Das ist Unsinn. Das ist absurd. Aber das ist das ErgebnisIhrer Politik.
Der ganz besondere Klopper in diesem Gesetzentwurfist die Eigenstromregelung. Wenn in Zukunft ein mittel-ständisches Unternehmen oder ein Privathaushalt mit ei-nem Blockheizkraftwerk effizient Energie erzeugen unddamit zur Energiewende beitragen will und das mit einerPhotovoltaikanlage kombiniert, dann zahlen diese eineEEG-Umlage von 50 Prozent auf den selbst verbrauch-ten Strom.
Das führt dazu, dass diese ganzen Projekte am Ende un-wirtschaftlich werden. Herr Fuchs, Sie wollen das nicht,aber eigentlich haben Sie einen Koalitionsvertrag unter-schrieben, in dem steht, dass wir genau das voranbringenwollen. Wir fördern das über das Kraft-Wärme-Kopp-lungsgesetz. Diese Förderung schlägt sich eins zu eins inder EEG-Umlage nieder, sodass das Ganze zu einemNullsummenspiel wird. Damit einher geht zusätzlicheBürokratie. Das alles ist Unsinn. Die positive Entwick-lung wird somit abgewürgt.
Es wird noch schlimmer. Wenn es wenigstens eineGleichbehandlung gäbe! Aber derjenige, der erneuerbareEnergien erzeugt – vielleicht sieht er ein Braunkohle-kraftwerk, wenn er aus dem Fenster schaut –, muss zurKenntnis nehmen, dass das, was für die dezentrale Kraft-Wärme-Kopplung und für die Photovoltaik gilt, für Koh-lekraftwerke nicht gilt: Sämtliche Kohlekraftwerke sindvon der Eigenverbrauchsumlage ausgenommen; sie zah-len auf ihren Eigenstromverbrauch also keine EEG-Um-lage. Das ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit.
Ich fordere Sie auf, das zu beenden und an dieserStelle wenigstens Kostengerechtigkeit herzustellen. Daswürde auch dem Mittelstand und denjenigen, die sich daengagieren wollen, etwas bringen. Bisher hatte ich dieHoffnung, dass sich wenigstens die Union für diesen Be-reich engagiert. Aber an dieser Stelle tun Sie überhauptnichts.
Meine Damen und Herren, kommen wir zur Besonde-ren Ausgleichsregelung. Sie haben uns gestern einen Ge-setzentwurf vorgelegt. Dafür haben Sie vier Wochen län-ger als geplant gebraucht. Ihre sonstigen Pläne liegenschon ein bisschen länger vor. Ich bin einmal gespannt,wie Sie die Verabschiedung Ihres Gesetzentwurfes ver-fahrenstechnisch, also im Hinblick auf die Beratungenim Bundesrat, zustande bringen wollen. Aber das sehenwir dann.
Es ist völlig unstrittig – ich finde es absurd, dass dashier immer wieder infrage gestellt wird –, dass dieGrundstoffindustrie – Metallerzeugung, Chemie und Pa-pier – eine Befreiung von der EEG-Umlage braucht. Da-rum geht es nicht. Aber Sie müssen mir schon erklären,warum Firmen, die Fantasieschmuck herstellen, oder,um das andere Extrembeispiel zu nehmen, die deutschePanzerindustrie neuerdings in der Liste der von derEEG-Umlage zu befreienden Unternehmen auftauchen.Wollen Sie, dass die deutsche Panzerindustrie in Saudi-Arabien konkurrenzfähig ist, oder worum geht es dabei?
Sie schaffen mit dieser Liste ein bürokratischesMonster unglaublicher Art. Das führt in der Tat zu Be-schäftigung: zur Beschäftigung bei Beratern und Rechts-anwälten, bei Gerichten. Das wird dazu führen, dass je-der sein Schlupfloch sucht, um am Ende in den Genussdes Privilegs der Befreiung zu kommen.Das zeigt aktuell schon das Beispiel Vattenfall: Die-ses Unternehmen, das Braunkohletagebau betreibt, stehtzwar nicht mehr in der Liste der von der EEG-Umlagezu befreienden Unternehmen. Jetzt plötzlich wollen Sieaber, dass Vattenfall vom Eigenstromprivileg profitiert.Aha, da staunen wir. So läuft das also in Zukunft. Durchdie von Ihnen geplante Regelung wird jeder seinSchlupfloch finden. Bezüglich Ihres Versprechens, dassdie Kosten um 1 Milliarde Euro gesenkt werden, dassdie privaten Verbraucher entlastet werden, haben wirgestern gehört: Das war ein großes Missverständnis. Siegestehen ein: Die privaten Verbraucher werden mit Mil-liardenbeträgen zusätzlich belastet. Das ist das ErgebnisIhrer Politik.
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Oliver Krischer
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Wenn wir schon über Arbeitsplätze reden, dann müs-sen wir endlich auch einmal über die Arbeitsplätze in derErneuerbare-Energien-Branche reden.
Da stellen Sie Zehntausende von Arbeitsplätzen infrage.Ich verweise darauf, dass dort 400 000 Arbeitsplätze ge-schaffen worden sind. Dazu höre ich überhaupt nichtsvon Ihnen. Man kann den Eindruck haben: Bei Ihnen istein Arbeitsplatz nur dann ein guter Arbeitsplatz, wennder IG BCE-Organisationsgrad in dem jeweiligen Be-trieb besonders hoch ist.
In manchen Bereichen interessieren Sie sich nullkomma-null für die Arbeitsplätze. Das darf an dieser Stelle über-haupt nicht sein.Ich sage Ihnen: Gehen Sie einmal in den Kreis Bor-ken im Münsterland. Da gibt es drei innovative Unter-nehmen im Bereich Blockheizkraftwerke, Biogas, Pho-tovoltaik. Sie beschäftigen in einer ländlichen Regiontausend Menschen. Dort weiß man am Ende des Jahresnicht mehr, ob man noch eine Chance hat. Man hat viel-leicht noch eine Chance im Ausland. Ich bedauere, dassHerr Gabriel sich da nicht einmal blicken lässt, dass erda nicht einmal Gesicht zeigt und seine Politik erklärt.Herr Gabriel, da gehen Sie nicht hin, darum drücken Siesich herum.
Herr Kollege.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss.
Gut.
Wir haben Ihnen einen großen Konsens angeboten.
Der Bundesrat hat in den letzten Tagen über 200 Ände-
rungsanträge zu diesem Gesetzentwurf gestellt. Insofern
kann es ja wohl nicht sein, dass es da einen Konsens
gibt. Wir sagen: Dieser Gesetzentwurf ist ein Anschlag
auf die Energiewende. Er ist ein Anschlag auf die Ar-
beitsplätze. Er ist ein Anschlag auf den Klimaschutz.
Dieses Abwürgen der Energiewende werden wir in die-
ser Form nicht mittragen. Sie sollten sich aufraffen und
das EEG wieder zu einem Gesetz machen, das von einer
breiten parlamentarischen Mehrheit getragen wird.
Wenn ich die Äußerungen von Herrn Fuchs richtig ver-
standen habe, dann wird es am Ende sogar noch schlim-
mer, und das werden wir nicht mittragen. Das kann ich
Ihnen sehr deutlich sagen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Ehrentri-
büne hat der Präsident des Staatsrates des Sultanats
Oman, Herr Dr. al-Manthari, mit seiner Delegation
Platz genommen. Ich möchte ihn im Namen aller Kolle-
ginnen und Kollegen des Hauses ganz herzlich bei uns
begrüßen.
Sehr geehrter Herr Präsident, Sie haben in den ver-
gangenen Tagen sehr intensive Gespräche mit vielen
Kolleginnen und Kollegen hier im Haus und darüber hi-
naus geführt. Wir wünschen Ihnen für Ihren Aufenthalt
in Deutschland, für die politische und wirtschaftliche
Entwicklung Ihres Landes, insbesondere aber für die
weitere parlamentarische Arbeit alles Gute und danken
Ihnen für Ihr Interesse an unserer Arbeit.
Der nächste Redner in der Debatte ist der Kollege
Hubertus Heil.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Die grundlegende EEG-Reform, die wir heute in derersten Lesung miteinander beraten, hat zum Ziel, dasswir die Energiewende tatsächlich wieder vom Kopf aufdie Füße stellen. Die polemischen Einlassungen der Op-position haben ein bisschen vernebelt, worum es wirk-lich geht.
Wir können einmal ganz ruhig und sachlich, HerrKrischer, miteinander über das reden, was heute vorliegt.Es geht im Kern um drei Dinge:Zum einen geht es tatsächlich darum, dass wir dafürsorgen, dass Grundstoffindustrien, dass energieintensiveUnternehmen, die im internationalen Wettbewerb ste-hen, auch weiterhin in Deutschland produzieren können.Jetzt sage ich Ihnen einmal eines, Herr Krischer undFrau Lay: Einem deutschen Bundeswirtschaftsministervorzuwerfen, dass er sich für zukunftsfähige industrielleArbeitsplätze in Deutschland einsetzt, ist ungefähr ge-nauso schlau, wie Greenpeace vorzuwerfen, dass mansich für die Rettung der Wale einsetzt; das ist ziemlicherUnsinn.
Ich will Ihnen einmal eines sagen: Diese polemischeArt und Weise, mit der Sie das Ganze zu diffamierenversuchen, indem Sie zum Beispiel die Liste der Euro-päischen Kommission zitieren und im gleichen Atemzug
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2706 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Hubertus Heil
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verschweigen, dass es nicht darum geht, ganze Branchenzu befreien,
sondern darum, Branchen antragsberechtigt zu machen,damit Unternehmen, die nach objektiven Kriterien im in-ternationalen Wettbewerb stehen und gleichzeitig ener-gieintensiv sind, das Leben nicht schwer gemacht wird,finde ich nicht redlich. Deshalb, Herr Krischer: MehrKretschmann und weniger Krischer in der Energiepolitikder Grünen, das wäre eine gute Idee.
In diesem Zusammenhang, Frau Lay, erzähle ich Ih-nen einmal etwas aus meiner Heimat. Es gibt ein Elekt-rostahlwerk in meiner Heimatstadt Peine. Der Betriebs-rat besteht im Wesentlichen aus ordentlichen IG-Metallern,
die meisten davon Sozialdemokraten, einer ist von derLinkspartei, und einer ist übrigens von den Grünen. Die-ses Unternehmen ist ein Elektrostahlwerk, das vom phy-sikalischen Prozess her alle Möglichkeiten der Energie-effizienz ausschöpfen kann, aber sehr viel Energieverbraucht, um Schrott einzuschmelzen und darausStahlträger zu machen, die dann exportiert werden. Dasist ein Stück Kreislaufwirtschaft. Wenn wir dieses Unter-nehmen so einbeziehen würden, wie Sie das verlangen,dann ist klar, was mit den 780 Arbeitsplätzen in meinerHeimatstadt passieren würde – das kann ich Ihnen sagen –:Die wären weg.Deshalb ist meine herzliche Bitte: Falls Sie noch Be-triebsräte kennen, die in Grundstoffindustrien arbeiten,und mit denen sprechen würden oder falls Sie sich ein-mal mit dem, wie ich finde, sehr klugen Wirtschafts-minister von Brandenburg, einem Mitglied Ihrer Partei,in der Energiepolitik in Verbindung setzen könnten,wäre ich Ihnen sehr dankbar. Die könnten zur Aufklä-rung beitragen.
Ich glaube, dass die Linkspartei ein gestörtes Verhältniszu industriellen Arbeitsplätzen in Deutschland hat. Dasist ihr Problem. Das darf nicht unseres werden.
Ich bin der Bundesregierung – namentlich dem Bun-deswirtschaftsminister, aber auch der Kanzlerin – sehrdankbar, dass sie etwas hinbekommen hat, mit dem vieleschon fast nicht mehr gerechnet haben, nämlich eineVerständigung mit der Europäischen Kommission, dasswir an dieser Stelle eine EU-konforme Regelung bekom-men, übrigens keine, die die Wirtschaft nicht in die Fi-nanzierung der Energiewende einbezieht. Auch das istvorhin vorgetragen worden: Es wird eine Erhöhung derMindestumlage geben, und zwar für alle, und es ist so,dass die deutsche Wirtschaft insgesamt ihren Beitragleistet.Ich sage noch einmal: Wer Arbeitsplätze im indus-triellen und mittelständisch produzierenden Bereich ge-gen Verbraucher und Familien ausspielt, der macht einschäbiges Spiel.
Das ist in der Sache vollkommen ungerechtfertigt. Ichsage Ihnen auch: Zum Gelingen der Energiewende wer-den wir die Grundstoffindustrien in Deutschland brau-chen. Windräder brauchen Stahl. Energieeffizienzbraucht chemische Produkte, und wir wollen, dass die inDeutschland produziert werden, meine Damen und Her-ren.
– Ganz deutlich Sie! – Herr Krischer, ich weiß nicht, wasmit Ihnen passiert ist. Sie sind wirklich ein kundigerMensch. Seit Sie aber in der Opposition gegen dieseBundesregierung – gegen diesen Bundesminister fürWirtschaft und Energie – zu Felde ziehen müssen, habenSie jegliches Maß und jegliche Mitte in der Debatte ver-loren.
Es scheint Ihnen eher um grüne Profilierung in Ihrer Par-tei zu gehen und nicht mehr um die Sache. Das istschade. Es mag bei den Grünen welche geben, die sichim parlamentarischen Verfahren konstruktiv auf dieseDebatten einlassen. Ich würde mir das sehr wünschen;denn wir müssen raus aus diesen Grabenkampfdiskussi-onen der Vergangenheit.Wir sind doch miteinander der Meinung, dass wir dieEnergiewende zum Erfolg führen müssen. Wir habenehrgeizige Klimaschutzziele. Wir wollen raus aus derAtomkraft. Jetzt geht es um die Frage, wie wir diesenWeg miteinander planbar, berechenbar und kosteneffizi-ent gestalten. Kein vernünftiger Mensch in diesem Hausstellt die Energiewende mehr infrage. Diejenigen aber,die für die Energiewende sind, müssen heute zu Refor-men bereit sein.
Es geht nicht mehr um die Markteinführung von Er-neuerbaren, sondern um die Marktdurchdringung mit Er-neuerbaren. Deshalb kann man nicht zulassen, dassÜberförderung stattfindet. Daher ist das zweite Ziel die-ser Reform mehr Kosteneffizienz beim Ausbau der er-neuerbaren Energien. Wir setzen mit einer vernünftigen,planbaren Förderung und klaren Ausbauphasen, mit Sys-temintegration auf die kostengünstigsten Erneuerbaren.
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Hubertus Heil
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Das sollten Sie unterstützen und nicht diffamieren,meine Damen und Herren.
Herr Kollege Heil, darf die Kollegin Lay Ihnen eine
Zwischenfrage stellen?
Sehr gerne. Bitte schön.
Frau Lay.
Vielen herzlichen Dank für das Gestatten dieser Zwi-
schenfrage. – Sie haben mir und auch dem Kollegen von
den Grünen vorgeworfen und im Grunde suggeriert, als
würde vor allen Dingen die Fraktion Die Linke die In-
dustrierabatte komplett abschaffen wollen. Ich frage Sie,
ob Sie zur Kenntnis nehmen wollen, dass nach unserem
Konzept der Reduzierung der Industrierabatte – das ha-
ben übrigens die SPD im Wahlkampf und der Minister
vor vier Monaten im Fernsehen gefordert – beispiels-
weise Stahl Peine – diese Firma haben Sie zitiert; das gilt
aber auch für andere Unternehmen der Stahl- und der
Chemieindustrie – weiterhin privilegiert werden würde.
Auch wir wollen diese Arbeitsplätze nicht gefährden.
Als Linke können wir aber eine massenhafte Zunahme
der Zahl der Branchen, die prinzipiell von Industriera-
batten profitieren könnten, nicht mitmachen. Nehmen
Sie zur Kenntnis, dass auch wir weiterhin Ausnahmere-
gelungen für die Stahlindustrie und für die Chemieindus-
trie vorsehen.
Sehr geehrte Frau Lay, ich nehme zur Kenntnis, dass,wenn Sie das so vertreten – was ich begrüße –, offen-sichtlich Ihre Polemik gegen die Ausnahmen mit demgerade Gesagten nicht ganz zusammenpasst. An dieserStelle will ich Ihnen sagen: Von Ausweitung kann dochgar keine Rede sein. Das Volumen bleibt erhalten. Wirgehen nach objektivierbaren Kriterien wie internationa-ler Wettbewerb, Handelsintensität und Energieintensitätvor.Wir sind gemeinsam der Meinung, dass wir Trittbrett-fahrer nicht gebrauchen können. Gemeinsam sind wirder Meinung, dass es vernünftig ist, dass sich Unterneh-men nicht aus der Solidarität der EEG-Umlage ausklin-ken können, indem sie beispielsweise massiv in Leihar-beit ausweichen. Genau das regelt dieses Gesetz.Wenn das, was Sie beschreiben, wirklich Ihr Konzeptist, würde ich es gerne zur Kenntnis nehmen; aber Siekönnen doch nicht im gleichen Atemzug – das beziehtsich auf die Rede, die Sie vorhin gehalten haben – gegendie Tatsache zu Felde ziehen, dass wir solche Ausnah-men mit einem bestimmten Volumen haben.Das, was der Bundesminister gemacht hat, will ich Ih-nen vorrechnen. Ich will Ihnen sagen, was es bedeutenwürde, wenn man die komplette EEG-Umlagebefreiungfür energieintensive Betriebe verschwinden lassenwürde.
Dabei geht es um 40 Euro für einen dreiköpfigen Haus-halt bzw. um etwa 4 Euro pro Monat. Der Preis wäre,dass diese industriellen Arbeitsplätze in energieintensi-ven Betrieben im Rahmen der Konkurrenz verschwindenwürden. Sie müssen sich schon entscheiden: Stimmt IhrKonzept, oder stimmt die Polemik, die Sie hier vorhinvon diesem Pult aus vorgetragen haben?
Meine Damen und Herren, es gibt also nur Ausnah-metatbestände für diejenigen, die sie brauchen – nichtfür diejenigen, die sie missbrauchen. Dafür haben wirjetzt objektivierbare Kriterien. Wir haben eine Verständi-gung mit der Europäischen Kommission.Erstens. Das wird das beihilferechtliche Verfahren zuEnde bringen, und es wird dazu führen, dass wir Rechts-und Planungssicherheit auch für die Unternehmen – da-bei geht es um Arbeitsplätze – haben, die ab 1. Januar2015 Befreiung beantragen können. Nicht jeder, der dieBefreiung beantragt, wird sie auch bekommen. Deshalbist es richtig, nicht Branchen zu nennen, sondern die Si-tuation von einzelnen Unternehmen zu betrachten.Zweitens. Wir schaffen die Voraussetzungen dafür,kosteneffizienter auszubauen; aber wir werden aus-bauen, Herr Krischer. Von Ausbremsen kann überhauptkeine Rede sein.
Wir haben jetzt 25 Prozent erneuerbare Energien, undwir werden 45 Prozent erreichen. Dafür ist es aber not-wendig, nicht nur Kosteneffizienz zu schaffen, sondernden Ausbau der Netze zeitlich stärker mit dem Ausbauder erneuerbaren Energien zu synchronisieren. Darumgeht es. Es geht um Systemintegration. Wir wollen kei-nen Wegwerfstrom produzieren, sondern Strom, der tat-sächlich gebraucht wird.
Dazu brauchen wir diese Verlässlichkeit.Drittens. Es geht darum, für die gesamte deutscheWirtschaft im Hinblick auf die Erneuerbaren endlichPlanungs-, Rechts- und Investitionssicherheit zu schaf-fen. Die vielen Auseinandersetzungen der letzten Jahrehaben doch in weiten Teilen der deutschen Wirtschaft,was die Erneuerbaren angeht, vor allem eines ausgelöst:entweder so etwas wie Schlussverkaufsmentalität – nocheinmal ordentlich Druck machen – oder in anderen Pha-
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2708 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Hubertus Heil
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sen das krasse Gegenteil, nämlich Investitionsattentis-mus. Mit dieser grundlegenden Reform schaffen wir dieMöglichkeit, dass jeder sich darauf einstellen kann, wo-hin die Reise geht, und zwar über den Zeitraum des jetzi-gen EEG hinaus bis zu einem neuen Marktdesign mit an-deren Mechanismen, die planbar sind und die in diesemÜbergangszeitraum auch berechenbar sind.Wir haben uns in Deutschland vorgenommen, unterden Bedingungen eines hochindustrialisierten Landeseine doppelte Energiewende zu schaffen, mit sehr ehr-geizigen Klimaschutzzielen, mit dem Ausstieg aus derAtomkraft. Ich bin als Anhänger dieser Energiewendeder festen Überzeugung, dass wir damit langfristig Rie-senchancen für Deutschland eröffnen – ökologisch,sozial; im Übrigen auch wirtschaftlich –, weil wir ange-sichts der wachsenden Weltbevölkerung und des wach-senden Energiehungers auf der Welt Exporteur für guteund saubere Lösungen im Bereich der Energieversor-gung sein können, bei Erneuerbaren, bei Systemen, beiEnergieeffizienz.
Herr Kollege.
Aber dafür müssen wir die Referenz im eigenen Land
hinbekommen. Wir müssen in Deutschland die Energie-
wende schaffen, damit wir diese Technologien zukünftig
auch exportieren können. Mit diesem ersten Schritt einer
grundlegenden EEG-Reform, die wir im parlamentari-
schen Verfahren jetzt auf den Weg bringen, leisten wir
dazu unseren Beitrag.
Herzlichen Dank.
Eva Bulling-Schröter ist die nächste Rednerin für die
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Sehr geehrter Minister Gabriel, vieleaus den Reihen der Linken, der Grünen, aber auch derSPD und sogar der CDU sind vor zwei Jahren auf dieStraße gegangen gegen die EEG-Reform von FDP-Minister Rösler, der die erneuerbaren Energien bekämpfthat. Jetzt haben Sie, Herr Gabriel, das Ministerium über-nommen. Viele haben gedacht: Der wird das sehr gutmachen mit der Energiewende;
denn der Gabriel war ja ehemaliger Umweltminister.
Weit gefehlt! Sie, Herr Gabriel, schicken die erneuer-baren Energien ins Nirwana. Grund dafür sind vor allemdie von Ihnen ab 2017 geplanten Ausschreibungen.Dann soll Schluss sein mit festen Preisen für die Anbie-ter erneuerbarer Energien. Stattdessen möchten Sie einenPreiskampf zwischen den Erneuerbaren um die Vergü-tungssätze. Die Anbieter erneuerbarer Energien feil-schen und unterbieten sich dann wie auf dem Basar, derbilligste Dumpinganbieter gewinnt. Dreimal darf manraten, wer in der Lage sein wird, diese Dumpingpreiseanzubieten. Richtig, es sind die Großinvestoren. Damitrollen Sie den Energieriesen den roten Teppich aus undbrechen der Bürgerenergie das Genick.
Da wollen wir nicht hin.
Es gibt ja schon ganz viele Erfahrungen aus dem Aus-land mit Ausschreibungen, die dazu geführt haben, dassProjekte nicht stattgefunden haben und nicht realisiertwerden konnten, dass Firmen pleitegegangen sind. EineEnergiegenossenschaft kann sich das gar nicht leisten.Ich persönlich kenne einen Mittelständler, der bei einerAusschreibung in Südafrika mitgemacht hat. Das Projektliegt seit drei Jahren auf Eis, und es ist nicht absehbar, obda überhaupt etwas passiert. Die Gefahr besteht, dass dieErneuerbaren schlimme Rückschläge erleiden. Das kön-nen wir uns nicht leisten, schon allein im Hinblick aufden Klimaschutz. Es geht aber auch um regionale Wert-schöpfung und um Arbeitsplätze.
Wenn dann immer behauptet wird, die EU würde dasalles vorschreiben: Das ist einfach nicht richtig; denn dieEU lässt den Mitgliedstaaten ausdrücklich den Raum,diese Regelung flexibel zu handhaben. Mit den Aus-schreibungen schreiben Sie in dieses Gesetz quasi seineeigene Abschaffung hinein; denn die festen Preise sind– oder muss man sagen: „waren“? – das Rückgrat desEEG.Wir Linken haben eine Kleine Anfrage zu Erfahrun-gen und Plänen der Ausschreibung gestellt. Bitte lesenSie die Anfrage. Die Antworten sind einfach toll: Manprüft, man weiß noch nichts, man hat noch keine Erfah-rungen. – Das ist so, als wenn man sich in ein Auto setztund erst hinterher die Bremsen prüft. Da kann ich nur sa-gen: Gute Fahrt, Herr Minister!Natürlich entfaltet das neue EEG auch schon vor2017 eine Wirkung – das hören wir bei vielen Podiums-diskussionen; da sind Sie alle dabei –: durch Ausbaukor-ridore, Deckelungen und Einschnitte vielfältiger Art. DieInvestoren sind doch nicht blöd: Sie rechnen das durchund sagen dann: Das rechnet sich nicht mehr; wir ma-chen es nicht.Die Pflicht zur Direktvermarktung könnte den gelten-den Vorrang für Erneuerbare in der Realität sogar um-kehren. Das ist eben kein Gesetz mehr für regenerativeEnergien, sondern quasi gegen sie; denn die regenerati-ven Energien müssen dann mit den fossilen Energienkonkurrieren. Wir alle wissen: Bei den regenerativenEnergien sind alle Kosten mit eingerechnet, bei den fos-silen und atomaren eben nicht. Wenn man die Kosten beidiesen Energien ähnlich der EEG-Umlage beziffern
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2709
Eva Bulling-Schröter
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müsste, dann würden Kohlestrom oder Atomstrom10 Cent pro Kilowattstunde mehr kosten. Das bezahlenaber die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.
Die ganze Reform ging mit einer Strompreisdebatteeinher, die von Anfang an eine Farce war. Die mantra-artigen Beteuerungen, die Energiewende sei zu teuer, ha-ben nichts mit der wahren Entwicklung der Preise vonWind- und Solarenergie zu tun. Die Preise sind heutenicht mehr hoch; sie wurden wirklich nach unten ge-drückt. Sie haben die Höhe der EEG-Umlage zu einerArt Teufelszeug hochstilisiert. Dabei hatten wir 2013,wie die Bundesnetzagentur gerade berichtete, den nied-rigsten Börsenstrompreis seit 2004. Warum sagen Sieden Verbraucherinnen und Verbrauchern nicht die ganzeWahrheit, nämlich weshalb dieser unglaublich niedrigeBörsenpreis nicht an sie weitergegeben wird – es wäredoch logisch, dass sie auch davon profitieren –, wohlaber die damit einhergehende hohe EEG-Umlage? Wa-rum sorgen Sie nicht dafür, dass auch die normalenLeute von den niedrigen Börsenpreisen profitieren undnicht nur die Industrie, die im Grunde doppelt kassiert?Ich habe Sie gestern zum Merit-Order-Effekt gefragt.Dabei geht es darum, dass die Preise an der Börse immerniedriger werden, sie werden bald bei 3 Cent pro Kilo-wattstunde liegen. Auch dies ist ein Gewinn für die In-dustrie.Es wird uns ja permanent vorgeworfen: Die Linkewill die Arbeitsplätze vernichten. – Bevor ich in denBundestag kam, war ich Schlosserin und Betriebsrätin,
und nach acht Jahren im Bundestag war ich es zwischen-durch noch einmal. Ich kenne die Probleme der Kolle-ginnen und Kollegen besser als vielleicht viele in diesemSaal.
Sie glauben doch nicht, dass wir Arbeitsplätze vernich-ten wollen.
Lesen Sie doch einmal, was der Handel schreibt. Auchder Handel möchte Vergünstigungen und spricht in demZusammenhang über Arbeitsplätze. Ferner: Was ist mitden Zehntausenden Arbeitsplätzen im Bereich der rege-nerativen Energien?Zum Schluss. Es ist eine scheinheilige Debatte.
Wer hat denn Leiharbeit eingeführt? Wer hat denn Dum-pinglöhne eingeführt? Wer hat denn ermöglicht, dass inFleischereien Vertragsfirmen billig arbeiten? Das warendoch nicht wir.
Verlagerungen von Betrieben geschehen nicht nur wegenStrompreisen, sondern wegen ganz anderer Dinge. Wirsind nicht diejenigen, die Arbeitsplätze vernichten wol-len. Wir wollen Gerechtigkeit, wir wollen soziale Ge-rechtigkeit.
Frau Kollegin.
Ich will nicht, dass es so weit kommt, dass das Ver-
hängen von Stromsperren an der Tagesordnung ist – so
wie in meiner Heimatstadt, in der man jüngst einem
Menschen den Strom gesperrt hat, der auf ein Atemgerät
angewiesen ist. So geht das nicht.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Joachim Pfeiffer das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn man sich diese Debatte so anhört, ist es notwen-dig, sich klarzumachen, worum es eigentlich geht. Wennman die Linken und die Grünen hier hört, dann könnteman meinen, das EEG und die Förderung der erneuerba-ren Energien wären ein Selbstzweck oder eine Ersatz-religion und das wäre ein Wert an sich.
Es ist kein Wert an sich, vielmehr ist das EEG Mittelzum Zweck. Es ist ein Mittel zur Erreichung unsererenergiepolitischen Ziele.
Die energiepolitischen Ziele sind in diesem Hause mitgroßer Mehrheit verabschiedet worden: nämlich dass wir– das ist heute, außer vom Bundeswirtschaftsminister,von keinem erwähnt worden – im Bereich der Energie-effizienz endlich vorankommen, Energie einsparen. Wirwollen bis 2050 50 Prozent Primärenergie einsparen.
Deshalb geht es nicht nur um den Strom, über den wirheute schwerpunktmäßig diskutieren, sondern es gehtdarum, dass wir im Gebäudesektor – nicht nur im Neu-bau, sondern vor allem im Bestand – die entsprechendenPotenziale heben. Wenn dieses nicht gelingt, werden wirbei der Energieeinsparung und beim Umbau der Ener-gieversorgung scheitern.
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2710 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Dr. Joachim Pfeiffer
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Es geht auch darum, im Bereich des Verkehrs die not-wendigen Schritte einzuleiten; das steht heute allerdingsnicht im Mittelpunkt der Debatte. Schließlich geht es inder Tat auch darum, den Ausbau der erneuerbaren Ener-gien im Strombereich voranzubringen. Wir wollen, dass2050 von dem Rest an Energie, der dann noch ver-braucht wird – wenn die Energieeinsparung gelingt –,der überwiegende Teil aus Erneuerbaren gewonnen wird.Was die Mengen anbelangt, sind wir weitaus erfolgrei-cher als ursprünglich gedacht. In der Vergangenheit sinddie Ausbauziele regelmäßig weit überschritten worden:bei der Photovoltaik 2009 und 2010, bei Windenergie– das ist vorhin angesprochen worden –, bei der Bio-masse und darüber hinaus. Leider besteht aber das Pro-blem, dass dieser mengenmäßige Erfolg uns jetzt kosten-mäßig vor die Füße fällt bzw. wir einen Kostenrucksackzu tragen haben. Denn es ist in der Vergangenheit beimschnelleren Ausbau und bei der schnelleren Senkung derKosten für erneuerbare Energien nicht gelungen, dieVergütungssätze genauso schnell zu senken, wie es not-wendig wäre, um eine Überforderung zu vermeiden. Dasist das Problem, vor dem wir heute, im Jahr 2014, ste-hen. Wir haben bereits über 120 Milliarden Euro für dieFörderung erneuerbarer Energien und die Energieerzeu-gung ausgegeben. Nach heutigem Stand sind, selbstwenn wir die Förderung erneuerbarer Energien sofortbeenden würden, in den nächsten 20 Jahren noch einmal280 bis 300 Milliarden Euro – die heute schon zugesagtsind – über die Umlage von den Stromverbrauchern ab-zutragen.Deshalb reformieren wir das EEG heute in erster Le-sung und diskutieren es in den nächsten Wochen im Par-lament. Auch hier gilt selbstverständlich das Struck’scheGesetz: Kein Gesetz wird den Bundestag so verlassen,wie es ihn erreicht hat.
Es gibt eine Reihe von Stellschrauben, bei denenNachbesserungsbedarf besteht. Damit werden wir uns inder Koalition intensiv auseinandersetzen. Wir laden Sieauch gerne ein, uns darin zu unterstützen.Um was geht es bei dieser Reform, über die wir heutesprechen? Ein Baustein des Marathons des Umbaus derEnergieversorgung ist, das EEG europafest zu machen.Über uns schwebt das Damoklesschwert eines Beihilfe-verfahrens aus Europa. Was ist, wenn wir nicht bis zurSommerpause die Besondere Ausgleichsregelung, auchdas Grünstromprivileg, reformieren? Für über 1 MillionArbeitsplätze und Tausende Unternehmen besteht Pla-nungsunsicherheit, weil sie nicht wissen, wie es mit In-vestitionen und Arbeitsplätzen in den nächsten Jahrenvorangeht. In einer gemeinsamen Kraftanstrengung istes in und mit Brüssel gelungen, Europa zu überzeugen,sodass wir jetzt für ganz Europa – nicht nur für Deutsch-land – Umwelt- und Beihilfeleitlinien haben, die in dennächsten fünf, zehn Jahren Planungssicherheit für Inves-titionen und Arbeitsplätze in Deutschland gewährleisten.Damit können wir in Deutschland die Wertschöpfungs-ketten in der Grundstoffindustrie – bei Chemie, beiStahl, bei Alu und bei Kupfer – entsprechend sichern.Auch das ist angeklungen: Nur wenn wir in Deutsch-land diese Wertschöpfungsketten erhalten, werden inDeutschland Windräder gebaut; denn hier wird keinWindrad gebaut ohne diese Grundstoffindustrie. Es fährtauch kein Hochgeschwindigkeitszug in Deutschlandohne diese Grundstoffindustrien.
Und es wird kein einziges deutsches hochwertiges Autogebaut und exportiert, wenn wir nicht diese Wertschöp-fungsketten in Deutschland erhalten.
Deshalb werden wir jetzt mit der Besonderen Aus-gleichsregelung an dieser Stelle langfristige Planungssi-cherheit schaffen.Wenn Sie jetzt zum wiederholten Male behaupten,dass diese Entlastungen – der Bundeswirtschaftsministerhat die absoluten Zahlen genannt; ich will sie an andererStelle aufgreifen – an den Steigerungen bei der EEG-Umlage schuld wären, dann erzählen Sie wider besseresWissen etwas Falsches. Wir haben in Deutschland in die-sem Jahr eine EEG-Umlage von 6,3 Cent pro Kilowatt-stunde.
Wenn wir alle Ausnahmen im Bereich des EEG strei-chen würden, hätten wir eine vielleicht um 1,2 oder1,3 Cent geringere Umlage. Das heißt, die EEG-Umlagebetrüge dann immer noch 5 Cent. Damit wird klar unddeutlich, dass die energieintensiven Unternehmen beider gesamten Entwicklung nicht Täter, sondern Opfersind und insofern nicht für die hohe Umlage verantwort-lich gemacht werden können – ganz im Gegenteil. ImÜbrigen ist es eine Milchmädchenrechnung: Wenn dieseenergieintensiven Unternehmen weg wären, in die Insol-venz gehen müssten, verlagert würden, dann wären nichtnur die Arbeitsplätze und die Wertschöpfungskettenweg, sondern dann müssten die Verbliebenen in zwei,drei Jahren die Kosten tragen, die ich gerade dargelegthabe und die für 20 Jahre festgeschrieben sind.
Dann wäre es für den Einzelnen noch teurer, als es jetztschon ist. Das kann ja wohl nicht Ihr Ernst sein; das kannvon keinem hier in diesem Saal so gewollt sein.
Es geht nicht nur um die Frage der Europafestigkeit;es geht um die erneuerbaren Energien insgesamt, die nunwahrlich keine Nische mehr sind. Als man 1990, 1991das Stromeinspeisungsgesetz auf den Weg gebrachthat, hat man gesagt: Wir wollen das mal mit 50 Millio-nen D-Mark pro Jahr fördern. – Dann hat man dieses Ge-
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Dr. Joachim Pfeiffer
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setz 2000 in das EEG überführt und gesagt: Spätestens2008, 2009 ist das EEG nicht mehr notwendig; dann istdie Technologieförderung so weit, dass die erneuerbarenEnergien auf eigenen Beinen stehen können. – Jetzt hatmanches ein bisschen länger gedauert; aber wir sind inder Vergangenheit auch manches zu langsam angegan-gen. Deshalb haben wir heute eben diesen Kostenruck-sack, den ich angesprochen habe.Wir haben heute die Situation, dass der Börsenpreis,über den hier fabuliert wird, nur noch eine Restgröße ist,weil die Erneuerbaren von der Börse unabhängig sind:Sie bekommen eine feste Vergütung, die ein Vielfachesdes Börsenpreises beträgt, unabhängig davon, ob derStrom gebraucht wird oder nicht. Wir haben die Situa-tion, dass all die Photovoltaik, die im Moment inDeutschland installiert ist, Kosten von ungefähr 40 Centpro Kilowattstunde verursacht; das ist mehr als dasZehnfache des Börsenpreises. Deshalb müssen die Anla-gen zur Gewinnung erneuerbarer Energien, die jetzt, woes darum geht, den Anteil der Erneuerbaren an derStromversorgung von 25 auf 30 bis 40 Prozent zu stei-gern, installiert werden, dann auch an den Markt ge-bracht werden. Deshalb wollen wir eine Direktvermark-tung. Deshalb wollen wir, dass die Börse entsprechendeKnappheitssignale aussenden kann und so die richtigenAnreize gesetzt werden, im Übrigen auch im Hinblickauf Emissionen. Solche Anreize werden im Moment na-türlich überhaupt nicht gesetzt, weil die Börse nur nocheine Restgröße ist.Wir müssen den Ausbau der Erneuerbaren, der in derVergangenheit bei der Erzeugung mengenmäßig erfolg-reich war, dringend mit dem Ausbau der Netze imOnshore- und Offshorebereich synchronisieren. DiesesJahr wird ein Vergütungsvolumen von 900 MillionenEuro allein auf Strom entfallen, der in Offshoreanlagenerzeugt wird, aber gar nicht an Land kommt, weil keineLeitungen vorhanden sind. Wir werden Hunderte vonMillionen Euro bezahlen, weil Strom aus Onshorewind-kraftanlagen in Norddeutschland nicht in die Ver-brauchszentren im Süden transportiert werden kann,weil es nicht die entsprechenden Leitungen gibt. Dasheißt, da haben wir in der Vergangenheit Fehler ge-macht. Peter Altmaier hat schon im letzten Jahr daraufhingewiesen, dass der Ausbau der erneuerbaren Ener-gien mit dem Ausbau der Netze zu synchronisieren ist.
Herr Kollege Pfeiffer.
Wir wollen jetzt mit dieser Reform diese Dinge angehen.
Aber dabei wird es nicht bleiben: Wir werden uns bereits
im Herbst über andere Fragen unterhalten müssen – über
KWK, über Energieeffizienz und auch über das zukünftige
Marktdesign –, um diesen Umbau voranzutreiben.
Herr Kollege Pfeiffer!
Dann werde ich Gelegenheit haben, hier im Plenum
daran anzuknüpfen. – Vielen Dank, Herr Präsident.
Ich hoffe, wir haben jetzt gute Beratungen. Ich lade
Sie wirklich ein, sich konstruktiv und nicht nur pole-
misch daran zu beteiligen.
Die Kollegin Julia Verlinden wird diese Einladung
jetzt sicher gleich aufgreifen. Jedenfalls ist sie die
nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Wir sollten uns noch einmal in Erin-nerung rufen, warum wir das Projekt Energiewende ei-gentlich begonnen haben. Als die rot-grüne Bundesre-gierung im Jahr 2000 das Erneuerbare-Energien-Gesetzeingeführt hat, da wollten wir den Ausstieg aus derAtomenergie, wir wollten den Umstieg auf eine kli-maneutrale Energieversorgung und eine Entmonopoli-sierung der Stromerzeugung.
14 Jahre später haben wir schon ein gutes Stück desWeges geschafft, und wir können noch weiter gehen.Diesen Erfolg, den wir bisher erreicht haben, haben wirden engagierten Bürgerinnen und Bürgern zu verdanken;denn sie waren es, die trotz der Widerstände der großenEnergiekonzerne, die trotz schwarz-gelber Sabotagever-suche und die trotz Ihrer großkoalitionären Bremsmanö-ver in die Energiewende investiert haben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Anzahlder Energiegenossenschaften und der Bürgerenergiepro-jekte in Deutschland wächst stetig. Allein Privatperso-nen und Landwirte haben bisher fast die Hälfte der In-vestitionen in die erneuerbaren Energien im Strommarktgetätigt. Die vier großen Energiekonzerne hingegen hat-ten gerade einmal einen Anteil von 5 Prozent. Nun frageich Sie, liebe Bundesregierung: Wer bringt hier eigent-lich die Energiewende voran? Sie sind das im Augen-blick offenbar nicht.
Die treibende Kraft hinter der Energiewende ist diegroße gesellschaftliche Unterstützung. Gleichzeitig istdiese Beteiligungsmöglichkeit der Bürgerinnen und Bür-ger wichtig für die Akzeptanz des Projekts Energie-wende. Aber genau dieser Bürgerenergiewende wirft dieBundesregierung nun Knüppel zwischen die Beine.Die verpflichtende Direktvermarktung für Anlagenüber 100 kW Leistung führt zu höheren Kreditzinsenbei den Banken und errichtet damit eine Hürde fürBürgerenergieprojekte. Die Belastung des Eigenver-brauchs bei Erneuerbare-Energien-Anlagen und die dro-
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Dr. Julia Verlinden
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henden Ausschreibungen bergen ebenfalls die Gefahr,die Bürgerenergiewende abzuwürgen. Sie fördern dieGroßen und bremsen die Kleinen. Herr Gabriel, Sie tundamit genau das Gegenteil dessen, was ich mir unter ei-ner Demokratisierung und Entmonopolisierung derEnergieversorgung vorstelle.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD undvon der Union, lassen Sie uns doch jetzt im Gesetzge-bungsprozess Verbesserungen für diese investitionsberei-ten Menschen verankern, damit die Bürgerenergiewendeweitergeht, damit die Atomkraftwerke abgeschaltet wer-den, damit weniger Kohle verfeuert wird und damit wirunsere überlebensnotwendigen Klimaziele erreichen.
Abschließend möchte ich noch betonen, dass es beider Energiewende nicht ausschließlich um den Ausbauder erneuerbaren Energien geht; Herr Pfeiffer hat das ge-rade angesprochen. Herr Pfeiffer hat richtigerweise gesagt:Für ein Gelingen der Energiewende sind Energieeffizienzund Energieeinsparung eine unabdingbare Vorausset-zung. – In Ihren Sonntagsreden, liebe Kollegen von derUnion und der SPD, erzählen Sie alle immer, wie wich-tig die Energieeffizienz ist. Aber bisher habe ich keineeinzige politische Aktivität in dieser Richtung von derBundesregierung wahrgenommen – keine einzige! –,und das macht mich langsam echt wütend.
Es geht nicht nur darum, zu reden, sondern auch da-rum, zu handeln; das wissen Sie. Ich möchte Sie daranerinnern, dass bis Juni die Umsetzung der europäischenEnergieeffizienzrichtlinie ansteht. Herr Gabriel, Siemüssen eine Energieeinsparung von rund 2000 Petajoulenach Brüssel melden. Bisher hat Ihr Ministerium nichtden blassesten Schimmer,
mit welchen politischen Maßnahmen Sie diese EU-An-forderungen überhaupt erreichen sollen. Das ist einSkandal!
Herr Gabriel, Sie haben mir eben vorgeworfen, ichhätte nicht genau nachgelesen. Vielleicht werfen Sienoch einmal einen Blick in die Publikationen Ihres eige-nen Hauses. Als Sie noch Umweltminister waren, da ha-ben Sie die Themen Ressourcen und Energieeffizienzganz nach vorne gestellt. Es wäre schön, wenn Sie diesejetzt als Energieminister umsetzen würden.
Gerade jetzt, wo die Diskussion über die Energiever-sorgungssicherheit und über unsere Erdgaslieferungenaus Russland angesichts der Ukraine-Krise Tempo auf-nimmt: Wie wichtig wäre es da, dass die Bundesregie-rung jetzt in Gebäudesanierung investiert! Die Unterneh-men, die hochwertige Effizienztechnik bereitstellen, diein Forschung und Entwicklung investiert haben, die alsoEffizienz produzieren, und das Handwerk stehen bereit.Sie sitzen in den Startlöchern.
Liebe Bundesregierung, nur durch Energieeinspa-rung machen wir uns unabhängiger von Energieimportenund sparen gleichzeitig Heizkosten ein. Wachen Sie end-lich auf!
Nächster Redner für die CDU/CSU ist der Kollege
Andreas Lenz.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir bera-ten heute in erster Lesung einen Gesetzentwurf zur Re-form des Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Wir wollenund wir werden damit den Ausbau der erneuerbarenEnergien weiter voranbringen.Ziel der Reform ist auch, die Dynamik in der Kosten-entwicklung zu begrenzen. Dabei gilt es einmal mehrfestzuhalten, dass die Energiewende zum Nulltarif eineIllusion ist. Die Kosten, die das Gesetz aus der Vergan-genheit bedingt, werden zumindest mittelfristig weiter-hin anfallen. Die Umsetzung der Energiewende lässtsich eben nicht per Knopfdruck bewerkstelligen. DieEnergiewende ist vielmehr eine Generationenaufgabe.Auch deshalb darf es keine Denkverbote geben. DerVorschlag, die Lasten der Energiewende über einen län-geren Zeitraum zu strecken, ist nach wie vor diskus-sionswürdig.Im Rahmen der Energiewende gilt es, riesige Infra-strukturprojekte zu stemmen, die Leistungsfähigkeit un-serer Wirtschaft zu erhalten sowie die Versorgungssi-cherheit zu gewährleisten. Dabei soll der Strombezahlbar bleiben. Auch deshalb dürfen wir das Ziel derweitgehenden Marktfähigkeit der erneuerbaren Energiennicht aus dem Blickfeld verlieren;
denn die Energiewende kann nur gelingen, wenn die Be-völkerung hinter ihr steht. Die Bevölkerung steht nachwie vor hinter der Energiewende. Über 80 Prozent derMenschen in unserem Land halten sie für richtig.Wenn man die Medienberichte von Anfang Aprilnoch im Kopf hat, könnte man glauben, dass es eigent-lich nichts mehr zu beraten gäbe, da sich Bund und Län-der weitgehend einig seien.
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Dr. Andreas Lenz
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Es ist jedoch unsere Pflicht als Parlament, notwendigeund sinnvolle Änderungen herbeizuführen.
Im Übrigen haben die Länder eine Fülle von Änderungs-anträgen eingebracht – Sie haben es gerade gesagt –, diees zu prüfen gilt.
Es gilt, verantwortungsbewusst und gewissenhaft an denentsprechenden Stellschrauben zu drehen. Das werdenwir machen. Dabei geht es gar nicht zwangsläufig da-rum, durch die Änderungen die Kosten zu erhöhen.
Es geht vielmehr darum, ein handwerklich sauberes Ge-setz zu beschließen. Gerade deshalb werden wir jetzt imparlamentarischen Verfahren mit ganzer Kraft an Nach-besserungen des Kabinettsbeschlusses arbeiten.
Gerade im Bereich der Biomasse konnte man tatsäch-lich den Eindruck gewinnen, hier wolle man einer gan-zen Branche den Garaus machen.
Das ist Gott sei Dank, auch weil die CSU darauf hinge-wirkt hat, nicht passiert. Es bedarf jedoch noch weitererNachbesserungen. Eine Studie des Fraunhofer-Instituts,die jüngst veröffentlicht wurde, bestätigt beispielsweisedie positive Wirkung von Biogas auf den Strommarkt.Biomasse kann als flexibler Energieträger einen wertvol-len Beitrag zur Systemstabilität leisten. Sie ist vielfältignutzbar, als Wärme-, Strom- und Kraftstofflieferant.Gerade der Bestandsschutz muss uns als Land mit ho-hen Standards bei der Rechtssicherheit wichtig sein.Hier ist auch die Kanzlerin beim Wort zu nehmen.
Alle Bürgerinnen und Bürger müssen sich auf vom Staatgetroffene Entscheidungen verlassen können. Deshalbmüssen wir im parlamentarischen Verfahren ins Detailgehen. An einigen Stellen droht der Bestandsschutznämlich ausgehöhlt zu werden. Beispielsweise muss diemomentan geplante Definition der Höchstbemessungs-leistung für Biomasseanlagen angepasst werden. EineFestsetzung der Höchstbemessungsleistung nach den imaktuellen Kabinettsbeschluss enthaltenen Vorgabenwürde für viele Biogasbetriebe den finanziellen Ruin be-deuten. Hier sind Existenzen in Gefahr.
Auch die vorgesehene Abschaffung der bewährtenEinsatzstoffvergütungsklassen bei der Biomasse gleichteinem Kahlschlag. Wir halten es zudem für erforderlich,die Vergütungsklasse gerade für Holz zu erhalten. DieHolzvergasung bzw. -verstromung hat sich durch neueinnovative Verfahren in den letzten Jahren sehr positiventwickelt. Die Vergütungsklasse für Holz ist sinnvollund notwendig.
Der CSU-Landesgruppe ist es ein großes Anliegen,dass die Biomasse auch künftig ihren festen Platz imEnergiemix behält. Für den Eigenverbrauch haben wiruns auf weitgehenden Bestandsschutz geeinigt. Kritischzu sehen ist jedoch die Einbeziehung von Neuanlagen.
Dies macht systematisch keinen Sinn, da gerade der Ei-genverbrauch netzentlastend wirkt.
Aus unserer Sicht wäre es die beste Lösung, für neueAnlagen zur Eigenstromerzeugung eine leistungsabhän-gige Netzanschlussgebühr zu veranschlagen. Auch hin-sichtlich der Stichtagsregelung besteht Handlungsbedarf.Hier wurden im guten Glauben und im Vertrauen auf be-stehende Regelungen teilweise erhebliche Investitionengeleistet, die jetzt im Feuer stehen.Apropos Feuer: Die Wasserkraft ist eine verlässlicheheimische Energiequelle. Nun wissen wir, dass die Was-serkraft im Norden der Republik eine eher untergeord-nete Rolle spielt. Trotzdem sollten wir uns auch hier anden Koalitionsvertrag halten, in dem zur Wasserkraftsteht:Die bestehenden gesetzlichen Regeln haben sichbewährt und werden fortgeführt.
Hier muss am Gesetzentwurf nachgebessert werden.Die Besondere Ausgleichsregelung für energie- undhandelsintensive Unternehmen bleibt weitestgehend be-stehen. Wenn es die Ausnahmen für die Industrie nichtgäbe, würde ein privater Haushalt zwar etwa 45 Euroweniger Stromkosten pro Jahr haben; wegen der zu er-wartenden Wohlstandsverluste würde das real verfüg-bare Einkommen eines Haushalts jedoch um circa400 Euro pro Jahr sinken. Es geht bei der BesonderenAusgleichsregelung darum, den IndustriestandortDeutschland langfristig zu erhalten.Auf dem Weg in ein neues Energiezeitalter ist dieseReform des EEG nur ein erster Schritt. Wir müssen unsbei den nächsten Schritten um die Kapazitätsmärktekümmern. Wir brauchen weitere Forschung hinsichtlichder Speichertechnologien und des Lastenmanagements.Wir müssen den Netzausbau und damit verbunden dieweitere Integration der regenerativen Energien voran-bringen. Dabei kommt es darauf an, die Bürgerinnen undBürger ernsthaft einzubeziehen. Abstandsflächen undErdverkabelung können hier Optionen sein. Auch die
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Schaffung eines funktionierenden CO2-Marktes und eineengere europäische Koordinierung sind geboten.Ich wünsche uns gute Beratungen mit – das ist vielwichtiger – guten Ergebnissen.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dirk Becker für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Mit den beiden vorherigen Rednern bzw. der Rednerinund dem Redner hat die Debatte eine Wendung bekom-men. Ja, wir reden über das EEG, über Inhalte. HerrDr. Lenz hat gerade im Namen der CDU/CSU-Bundes-tagsfraktion die Meinungsfindungsrunde der Koalitioneröffnet und einige Ideen genannt, über die auch bei unsdiskutiert wird.
– Ja, Oliver Krischer, ein versteinertes Gesicht gab esauch bei mir heute. Deine Rede hatte daran einen großenAnteil.Ich will eines sehr deutlich sagen: Frau Verlinden, ichfinde, Sie haben wirklich mit der gebotenen Sachlichkeitauch inhaltlich debattiert. Das war im Vergleich zu denReden, die ich zuvor gehört habe, wohltuend. LieberOliver, dir muss ich sehr deutlich sagen: Wir kennen unsnun schon seit vielen Jahren, und wir haben viele ener-giepolitische Gespräche hier im Deutschen Bundestaggeführt. Ich verstehe, dass Opposition Kritik übt. Diesedarf auch einmal kräftig sein, aber muss auf richtigenFakten beruhen
und nicht auf falschen Zitaten und Behauptungen, dienicht stimmen.
– Ganz ruhig, ich komme noch darauf. Im Gegensatz zueuch habe ich etwas mitgebracht, in dem etwas dazusteht. – Es ist sehr gefährlich, ausschließlich aus partei-politischem Kalkül zu versuchen, die Bundesregierungsowie CDU/CSU und SPD hier mit Dingen, die nichtstimmen, vorzuführen.
Denn Sie gehen das große Risiko ein, dass Sie mit IhrenBehauptungen, zu denen ich jetzt komme, auch die Ak-zeptanz für die Energiewende beschädigen. Das mussich Ihnen deutlich sagen.
Ich gebe zu: Die Regelungen der Besonderen Aus-gleichsregelung sind hochkompliziert und nicht einfach.Man muss sie sich vielleicht dreimal durchlesen, bis mansie versteht.
Ich will Folgendes feststellen: Die Möglichkeiten zurAusnahme von der EEG-Umlage werden durch dieseEEG-Novelle teils drastisch eingeschränkt. Der Ministerhat das eben umfassend dargestellt; Sie haben es abernicht verstanden. Daher will ich einige Punkte noch ein-mal deutlich machen:
Früher waren alle Gewerbebranchen antragsberechtigt,heute sind es nur 219 Branchen. Dazu kam es nicht nachdem Gutdünken des Ministers und der Regierung, son-dern dies ist eine Regelung – Frau Lay, das müssen Siehinnehmen; ich hinterfrage langsam Ihre Europataug-lichkeit –, die die EU für alle EU-Mitgliedstaaten getrof-fen hat. Das ist keine Lex Deutschland.
Es ist falsch, zu behaupten, dass für die Panzerindustrieund für den Kunstschmuck Ausnahmen gelten würden;denn in diesen Bereichen liegt keine ausreichende Strom-intensität vor.
Sie müssen sich vielleicht noch einmal mit den Fragenauseinandersetzen: Was heißt „Anteil an der Bruttowert-schöpfung“? Was heißt „Handelsintensität“?“ Und washeißt „Stromintensität“?
Wenn man das nicht versteht, sollte man damit aber auchkeine polemische Politik betreiben.
Ich will eines, auch mit Blick auf Frau Lay, sagen:Gerade die Linken kritisieren das, was wir in diesem Be-reich für die deutsche Industrie gemacht haben; ich habein der gestrigen Debatte einen Satz dazu gesagt. LassenSie uns einmal folgendes Szenario durchspielen: DerBundeswirtschaftsminister hätte den Erfolg, den er hatte,
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Dirk Becker
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nicht gehabt, und wir hätten heute den Stand umzuset-zen, den Almunia vor acht Wochen umsetzen wollte.Dann wären die Linken die erste Partei, die mit 200 Leu-ten vor dem Reichstag stehen und dem Minister totalesVersagen vorwerfen würde, weil er sich nicht um die In-dustrie und die Menschen gekümmert hat.
Dieser Minister sorgt dafür, dass diese Arbeitsplätze inDeutschland erhalten bleiben.
Nun, Herr Lenz, will ich auf ein paar Punkte zu spre-chen kommen, die Sie erwähnt haben. Das EEG, überdas wir heute diskutieren – es ist von den Grünen undvon anderen beschrieben worden –, wandelt sich von ei-nem Markteinführungsinstrument hin zu einem Instru-ment der Marktdurchdringung der erneuerbaren Ener-gien. Wir befinden uns auf einem Weg, auf dem wirunser Land energiepolitisch wieder in die volle Souverä-nität führen und die Abhängigkeit von Kohle und Öl im-mer weiter minimieren wollen. Es ist übrigens ganzwichtig, in der Kostendebatte darauf hinzuweisen: DieEnergiewende kostet Geld – Herr Dr. Lenz hat das ge-sagt –, und sie wird auch in Zukunft Geld kosten. Aberauch der Import von Kohle und Öl kostet Geld. DiesesGeld fließt ab; das andere Geld bleibt im Land. Wichtigist daher, nicht nur die Kostenaspekte zu betonen, son-dern auch die volkswirtschaftlichen bzw. energiewirt-schaftlichen Aspekte durch das EEG zu stärken.Ich will ganz kurz, Herr Dr. Lenz, noch ein paarPunkte ansprechen. Ja, wir müssen darauf achten, dasswir die vorgesehenen Regelungen im Hinblick auf dieTechnologien so scharf stellen, dass sie wirken, dass derZubau im Bereich Biomasse im Rahmen der Szenarientatsächlich erfolgen kann. Wir werden, was die Aus-schreibungen betrifft – der Minister ist darauf zu spre-chen gekommen –, nicht nur im Blick haben müssen,dass die Bürgerprojekte auch in Zukunft durchgeführtwerden können, sondern ganz wichtig ist auch die Fest-stellung: Ausschreibungen sind kein Selbstzweck.
Herr Kollege!
Ich komme sofort zum Schluss. – Sie müssen kosten-
effizient sein, dürfen also nicht zu gestiegenen Kosten
führen.
Wir sind uns all dieser Punkte bewusst. Wir werden
im weiteren Verfahren auch die Opposition zu einer
sachlichen Debatte über die Inhalte einladen und – da
bin ich sicher – ein Instrument verabschieden, das die
Energiewende auch weiterhin zum Erfolg führt.
Herzlichen Dank.
Herr Krischer, ich habe Ihre Wortmeldung gesehen.
Aber nach ständiger Übung können wir Kurzinterventio-
nen nach Ablauf der Redezeit des jeweiligen Redners
aus hoffentlich allgemein nachvollziehbaren Gründen
nicht zulassen.
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Bareiß.
– Wenn jemand den unbändigen Wunsch hat, zusätzliche
Bemerkungen zu machen, empfiehlt es sich, sich zu ei-
nem frühen Zeitpunkt und nicht kurz vor Ende der Ver-
anstaltung anzumelden.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! MeineHerren! Nachdem wir jetzt ziemlich am Ende der De-batte sind und schon vieles gesagt ist, möchte ich zu Be-ginn meiner Rede doch noch einmal darauf eingehen, inwelchem Umfeld und in welchem Rahmen wir die EEG-Novelle dieses Jahr bestreiten.Der Zubau bei den erneuerbaren Energien war so ra-sant, wie keine Partei in den letzten Jahren vorhergese-hen hat. Gerade unter der CDU/CSU-geführten Bundes-regierung haben wir bei den erneuerbaren Energien inden letzten Jahren jedes Jahr Rekordzubauraten vermel-den können. Deutschlands Stromerzeugung durch erneu-erbare Energien hat heute einen Anteil von 24 Prozent –so viel wie kein anderes Industrieland in der Welt.Auf der anderen Seite konnten wir trotz Planungsbe-schleunigungsgesetzen im Netzbereich nicht die Infra-struktur, die notwendig ist, Schritt für Schritt mit zu-bauen. Auch haben wir trotz erheblicher Investitionenund Forschungsaufwendungen im Bereich der Speicher-technologien leider nicht die Erfolge gehabt, die wir unsgewünscht haben. Das führt dazu, dass wir beim Ausbauder erneuerbaren Energien erhebliche Probleme erleben.Die Entwicklung hat gezeigt, dass die Kostenfrage jetztan einem ganz kritischen Punkt ist; denn die Verbrauchs-preise liegen im Schnitt bei circa 28 Cent je Kilowatt-stunde, und der Industriestrompreis liegt bei über10 Cent je Kilowattstunde. Nach den neuesten Zahlenvon Eurostat, die vor wenigen Tagen veröffentlicht wor-den sind, haben wir nach Zypern und Italien die höchs-ten Industriestrompreise in ganz Europa.
Beim EEG besteht deshalb dringend Handlungsbe-darf.
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Thomas Bareiß
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Wir müssen beim Zubau nachsteuern. Wir müssen sogar,lieber Herr Krischer, in manchen Bereichen bremsendeinwirken, wie wir es in den letzten Jahren im PV-Be-reich leider viel zu spät gemacht haben; aber wir habenes gemacht, und es hat auch funktioniert. Wir müssenden Zubau so gestalten, dass die Infrastruktur mithaltenkann. Auch das wird ein ganz wichtiger Baustein sein.Wir müssen die Förderung der erneuerbaren Energien sogestalten, dass sie kosteneffizient zu erzielen ist. Dasheißt beispielsweise, dass wir Windräder dort bauenmüssen, wo auch Wind vorhanden ist, und nicht in ei-nem Schwarzwaldtal, wo Windräder nichts zu suchenhaben. Zudem müssen wir die erneuerbaren Energien– darauf ging Herr Becker gerade ein – in den Wettbe-werb auf dem Markt überführen. Das EEG muss vomMarkteinführungsinstrument zu einem Marktinstrumentausgebaut werden. Wir wollen mit dem EEG nicht nurauf Umwelt- und Klimaschutz setzen, sondern in Zu-kunft vor allem auch Versorgungssicherheit und Bezahl-barkeit zur obersten Maxime des EEG machen.Was machen wir konkret? Da möchte ich einigePunkte aufgreifen, die meine Vorredner genannt haben.Wir definieren erstmals einen verbindlichen Ausbaupfadfür die erneuerbaren Energien, der sowohl nach unten alsauch nach oben für die Politik der nächsten Jahre geltenmuss. Diesen Ausbaupfad, der technologiespezifisch de-finiert worden ist für Wind, Wasserkraft, Biomasse undSolarenergie, werden wir auf den Mechanismen, die wirdie letzten Jahre entwickelt haben, aufbauen. Ich nennehier nur den Deckel, der im Solarbereich funktionierthat; wir werden ihn auch in anderen Bereichen, bei-spielsweise bei Wind onshore, implementieren. Ichglaube, das wird ein richtiger Schritt sein, um die Aus-bauziele im Bereich Wind zu erzielen, ohne dass überGebühr, aber auch nicht zu wenig zugebaut wird. Damitschaffen wir Planungssicherheit. Wir schaffen für die In-vestoren die richtigen Anreize. Der Netzausbau kannsich darauf einstellen, wo und wann entsprechende Aus-bauziele bewirkt werden. Wir schaffen auch Planungs-sicherheit für den konventionellen Kraftwerkspark, derauch die nächsten Jahrzehnte noch gebraucht wird, umdie Stromversorgungssicherheit in Deutschland zu ge-währleisten.Wir wollen die erneuerbaren Energien Schritt fürSchritt – ich sage auch hier: sehr moderat – in den Marktüberführen. Wir wollen eine stufenweise Direktvermark-tung, Jahr für Jahr, von Großanlagen bis zu Kleinanla-gen. Die Sorge, die hier teilweise von der Oppositionzum Ausdruck gebracht wurde, kann ich nicht ganznachvollziehen; denn wir haben gerade in der jetzigenGesetzesnovelle in vielerlei Punkten noch einmal erheb-liche Risiken abgedeckt. Wir haben die erneuerbarenEnergien in vielerlei Hinsicht weich gebettet. Ich nennenur als Stichworte die Ausfallvermarktung und die glei-tende Marktprämie. Ich glaube – das sage ich sehr of-fen –, dass wir auch über diese Punkte noch einmal in-tensiv reden müssen; wir müssen schauen, ob wir hiernicht für noch mehr Markt sorgen können.
Trauen wir den erneuerbaren Energien doch etwas zu!
Ich bin davon überzeugt, dass wir schon heute in vie-len Bereichen weiter sind, als die Grünen glauben. DieDirektvermarktung wird schon heute von vielen prakti-ziert. Das Marktprämienmodell, das von Peter Altmaierund Norbert Röttgen damals entwickelt wurde, funktio-niert und wird in vielen Bereichen übernommen.
Bei 80 bis 90 Prozent der Windenergieanlagen wirddiese Marktprämie genutzt.
Deswegen kann man sie auch in den Markt überführen.Ich denke, hier könnten wir über eine Direktvermark-tung mehr tun. Wir sollten noch mutiger sein, als wir esjetzt mit dem Gesetzentwurf sind.Das Ausschreibungsmodell ist ein weiterer Punkt, mitdem wir Markt möglich machen. Es wird in den nächs-ten Jahren einen Paradigmenwechsel einleiten und dasEEG auf eine neue Stufe bringen. Wir werden uns in dennächsten zwei Jahren sehr viel Zeit dafür nehmen. Wirbrauchen Testphasen, die wir in dem Gesetzentwurfschon klar definiert haben, indem wir sagen: Wir wollenversuchen, ob dieses Modell im Bereich der Photovol-taik-Freiflächenanlagen, einem Nischenmarkt, funktio-niert. Ich könnte mir auch vorstellen, es noch in anderenBereichen zu testen, zum Beispiel im Onshorebereich.Ich glaube, wir müssen hier wirklich viele Erfahrungensammeln. Im Ausland kam es teilweise zu Fehlern; eswurde aber auch viel Gutes gemacht. Diese Erfahrungenmüssen wir in unser Modell implementieren und so einModell ausgestalten, das kosteneffizient und wettbe-werblich orientiert ist. Dies schreibt ja auch das EU-Bei-hilfeverfahren vor, und wir sind aufgefordert, hier voran-zugehen. Ich bin der Auffassung, dass ab 2017 nicht derDeutsche Bundestag, sondern der Markt, im Wettbewerbdurch Angebot und Nachfrage, die Preise für erneuer-bare Energien definieren sollte. Dort gehört es nämlichhin.
Herr Becker und Herr Lenz haben schon verschiedeneHandlungsbedarfe angesprochen. Auch ich möchte zweiaufgreifen, die mir wichtig sind, nämlich die Themen Ei-genverbrauch und Verbraucherschutz. Ich will aber nocheinmal deutlich sagen: Die Abstimmung mit den Län-dern im Vorfeld war sicherlich richtig. Es ist nämlichnotwendig, dass wir eine breite Akzeptanz für diese No-velle erreichen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2717
Thomas Bareiß
(C)
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Es ist aber auch wichtig, dass wir hier im ParlamentHandlungsfelder definieren, in denen wir uns einbrin-gen. Deshalb gilt auch hier das Struck’sche Gesetz: KeinGesetz kommt so aus dem Parlament heraus, wie es ein-gebracht worden ist.Wir wollen über den Bereich Eigenstrom noch einmalintensiv diskutieren. Die entsprechenden Vorschlägesind gegenüber dem, was hier ursprünglich vorgesehenwar, noch einmal verbessert worden. Das war auch not-wendig; denn ich glaube weiterhin, dass das Modell, dasjetzt im Gesetzentwurf steht, sehr bürokratisch, oftmalsnicht praxisnah und vor Ort auch nicht umsetzbar ist. Ichglaube auch, dass wir aufpassen müssen, dass wie beider Besonderen Ausgleichsregelung, die uns in Brüsselein Verfahren eingebracht hat, nicht neue Tatbeständefür eine wettbewerbliche Verzerrung entstehen. Deshalbsollten wir auch hier mit Ziel und Augenmaß vorgehen.Ich halte auch die rechtliche Grundlage für sehr frag-würdig. Ich glaube, dass wir auch das noch einmal ge-nauestens prüfen müssen. Ich könnte mir auch hier vor-stellen, mehr zu tun
und für eine stärkere Verantwortlichkeit und Solidarisie-rung in Bezug auf die Netze zu sorgen. Wie gesagt: Ichglaube, dass wir hierüber vielleicht im Parlament einenKonsens finden.Zum Thema Vertrauensschutz. Ich glaube, auch hier-für brauchen wir einen Ansatz, der dem Koalitionsver-trag gerecht wird, in dem wir klar und deutlich gesagthaben:Altanlagen genießen Bestandsschutz. Der Vertrau-ensschutz im Hinblick auf getätigte und in der Rea-lisierung befindliche Investitionen ist entsprechendzu gewähren.Ich glaube, der Stichtag ist ein ganz wichtiger Punkt,über den wir diskutieren müssen. Wir müssen sehen,dass Biogasanlagen und auch Windparks andere Vorlauf-phasen haben als eine Solardachanlage. Deshalb gilt hierauch für mich als Wirtschaftspolitiker die erste Prioritätder Gewährleistung von Investitions- und Vertrauens-schutz.
Es gibt viele Punkte, die wir angehen müssen. DieMenschen und die Investoren warten darauf, dass wirjetzt zügig vorangehen. Deshalb: Packen wir es an!Herzlichen Dank.
Letzter Redner zu diesem Debattenpunkt ist der Kol-
lege Alois Gerig für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Als letzter Rednerhabe ich jetzt die Möglichkeit, diese Debatte aus meinerSicht zusammenzufassen.Bereits in der letzten Legislaturperiode ist klar gewor-den, dass es einer Reform des EEG bedarf, um die Ener-giewende, deren Gelingen sich die Große Koalition– das haben wir heute sehr deutlich gehört – sehr wohlauf die Fahne geschrieben hat, nicht zu gefährden. Dageht es um die Bezahlbarkeit für die Bürger und um dieWettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen. Sprich: Esgeht um die Balance zwischen dem Ausbau der erneuer-baren Energie und der Strompreisentwicklung und damitverbunden auch um die Akzeptanz bei der Bevölkerung.Im vorliegenden Entwurf zur Reform des EEG sindviele richtige und wichtige Punkte enthalten. Glückli-cherweise wurde seit dem ersten Entwurf schon einigeskorrigiert. Aber als Berichterstatter für Energie in derAG „Ernährung und Landwirtschaft“ möchte ich in en-ger Abstimmung mit meinen Kollegen doch noch den ei-nen oder anderen Änderungsvorschlag ins parlamentari-sche Verfahren einbringen.Worum geht es uns? Wir alle wollen den Ausstieg ausder Kernenergie und den Umstieg auf klimafreundlicheerneuerbare Energien, mittelfristig möglichst ohne EEG,mit voller Marktintegration. Für mich steht aber auchfest: Die Energiewende kann nur mit dem ländlichenRaum gelingen. Dort sind die Ressourcen in Feld undWald für Bioenergie, die Dächer für Solaranlagen unddie Standorte für die Windkraftanlagen. Damit dieseEnergiewende ein Erfolg wird, müssen wir also auch dieWeichen für den ländlichen Raum richtig stellen: Durchdezentrale Energieerzeugung und -nutzung braucht esnur kurze Wege, und der Netzausbau kann auf das not-wendige Maß beschränkt werden. Windkraftanlagendürfen nicht gegen den Willen der Bürger gebaut wer-den. Nach meiner Ansicht kann man auf neue Freiflä-chen-PV-Anlagen entlang von Autobahnen und Bahn-trassen künftig sogar verzichten.Akzeptanz für die Energiewende erreichen wir ambesten durch Transparenz, insbesondere Verlässlichkeit.Wir erreichen sie auch durch Bürgerbeteiligung. Diesgilt besonders für die strukturschwachen ländlichen Re-gionen. Diesbezüglich ist in den vergangenen Jahren– da werden Sie mir recht geben – sehr viel geschehen.Auch durch politische Unterstützung wurden Bioener-gieregionen geschaffen. Allein in Baden-Württembergsind 140 Energiegenossenschaften mit über 25 000 Mit-gliedern gegründet worden; dort warten alle auf positiveSignale aus Berlin. Da werden gemeinsam Wind-, Solar-und Biomasseanlagen betrieben. Es gibt Genossenschaf-ten für Nahwärmenetze und mittlerweile auch gemein-same Mieterstromprojekte. All diese Menschen glaubenan die Energiewende, auch zum Wohle des Klimaschut-zes – heute und in Zukunft noch mehr – und einer positi-ven Zukunft unseres Planeten im Sinne der Enkel undUrenkel.Erreicht haben wir diese Entwicklung durch ein Netz-werk der Regionen, der Kommunen und der Landkreise,
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2718 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Alois Gerig
(C)
(B)
die sich die Erneuerbaren und die Energieeffizienz – da-rum geht es, und ich bin froh, dass dieses Thema heutedes Öfteren angesprochen wurde – auf die Fahnen ge-schrieben haben. Deshalb brauchen wir eine EEG-No-velle mit Augenmaß, die das Engagement der Bürgerin-nen und Bürger für diese Wende weiter fördert. Statt nurauf den Ausbau der Erneuerbaren zu setzen, müssen wirauch nach Wegen suchen, wie wir das Engagement nochstärker auf den Wärmemarkt – auch das wurde hier sehrdeutlich gesagt – und insbesondere auf die Energieeffi-zienz ausrichten.Nach dem jetzigen Entwurf des EEG sehe ich insbe-sondere bei den Vorschlägen für die Biomasse noch Kor-rekturbedarf. Ich freue mich, dass ich diesbezüglichnicht alleine dastehe. Gewiss wurden in der Vergangen-heit Fehler gemacht, sodass es punktuell in Deutschlandzu einer Überfrachtung mit Biogasanlagen und damit zuAkzeptanzproblemen gekommen ist. Aber ich verweiseauf die erfolgte Korrektur in unserem EEG 2012, dieschließlich dazu geführt hat, dass seitdem nur noch sehrwenige neue Biogasanlagen zugebaut wurden. Herstellervon Biogas- und Biomasseanlagen für feste Brennstoffebeginnen sich derzeit – das ist eine erfreuliche Entwick-lung – auf den internationalen Märkten zu etablieren.Die Branche spricht von einem Exportanteil von derzeit30 bis 40 Prozent. Wenn wir das jetzt durch überzogenepolitische Forderungen zerstören – dazu würde der jet-zige Entwurf führen –, dann hätte das fatale Folgen fürdie ganze Branche, aber auch für die Außenwirkung in-nerhalb und außerhalb der Grenzen Deutschlands.Die Bioenergie liefert derzeit zwei Drittel der erneu-erbaren Energien. Die Branche beschäftigt nach eigenenAngaben 380 000 Menschen. Die Bioenergie liefert ei-nen wichtigen Beitrag zur Stromerzeugung. Durch dieSpeichermöglichkeit ist sie in der Lage, flexibel Regel-und Spitzenstrom zu liefern, und ist damit bei einer wei-teren Zunahme von fluktuierendem Solar- und Wind-strom das wichtigste Standbein für eine dezentrale Ener-gieversorgung, die wir zumindest so lange brauchen, biswir das Netz von Nord nach Süd ausgebaut haben.Wir müssen die Vereinbarungen im Koalitionsvertragzum vollen Bestands- und Vertrauensschutz – das giltauch, wie schon erwähnt, für Stichtage und die Höchst-bemessungsleistung – bei der Umsetzung zu 100 Prozenternst nehmen, ebenso wie die Aussage, dass wir zukünf-tig überwiegend, also nicht ausschließlich, Rest- undAbfallstoffe für die Biogasproduktion einsetzen werden.Darum bitte ich in der Debatte. Ich bin überzeugt: Miteinem vernünftigen Zubau – natürlich müssen wir dasAusbautempo reduzieren, ohne die Branche abzuwürgen –schaffen wir diese Wende.
Meine Damen und Herren, die Große Koalition istfest entschlossen, die Energiewende zu einem Erfolg fürunser Land zu machen. Aber eines ist klar: Nur wenn wireinen vernünftigen Dreiklang aus Klimaschutz, Versor-gungssicherheit und Bezahlbarkeit hinbekommen, wirdin unserer Gesellschaft die Akzeptanz für die Energie-wende erhalten. Lassen Sie uns in diesem Sinne gemein-sam an einer Bürger-Energiewende arbeiten. Ich bin festdavon überzeugt: Nach sicherlich intensiven Debatten inden kommenden Wochen werden wir Ende Juni ein gu-tes Gesetz für unser Land beschließen.Danke für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenauf den Drucksachen 18/1304 und 18/1331 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlichder Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Bevor ich den Tagesordnungspunkt 5 aufrufe, möchteich Sie darauf aufmerksam machen, dass wir im Laufedes Nachmittages voraussichtlich drei namentliche Ab-stimmungen durchführen werden, die auch in den Über-sichten für die Tagesordnung angekündigt worden sind.Dabei wird es für die letzte der voraussichtlich drei na-mentlichen Abstimmungen eine Änderung im Zeitab-lauf geben, auf die sich die Fraktionen verständigthaben: Die namentliche Abstimmung zum Tagesord-nungspunkt 11 – Mehr Transparenz bei Rüstungsexport-entscheidungen sicherstellen – soll um einen Tagesord-nungspunkt vorgezogen werden, um die Kollision mitanderen Terminen am späteren Nachmittag bzw. frühenAbend vermeiden zu helfen. Das wird natürlich in geeig-neter Weise in die Büros kommuniziert, und wir werdenbei den nächsten namentlichen Abstimmungen noch ein-mal darauf aufmerksam machen. Aber wenn Sie dasbitte für Ihre Zeitplanung schon einmal berücksichtigen!Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 5 und den Zu-satzpunkt 2 auf:5 Beratung des Antrags der Abgeordneten SabineZimmermann , Wolfgang Gehrcke,Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneterund der Fraktion DIE LINKEKürzungspolitik beenden – Soziale Errungen-schaften verteidigen – Soziales Europa schaf-fenDrucksache 18/1116Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten BrigittePothmer, Beate Walter-Rosenheimer, KerstinAndreae, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENJugendarbeitslosigkeit in Europa bekämpfen –Stopp des Programms MobiPro-EU sofortaufhebenDrucksache 18/1343Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2719
Präsident Dr. Norbert Lammert
(B)
Für diese Debatte ist nach einer interfraktionellenVereinbarung wiederum eine Aussprachezeit von 96 Mi-nuten vorgesehen. – Das findet offensichtlich allgemeineZustimmung. Also können wir so verfahren.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächstdie Kollegin Sabine Zimmermann für die Fraktion DieLinke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Bundesregierung wird nicht müde, dasErfolgsmodell Europa zu preisen. So sagte kürzlichStaatsminister Roth: „Europa gilt nach wie vor als ein-zigartiges Erfolgsmodell.“ Frau Merkel meint sogar, daseuropäische Wirtschafts- und Sozialmodell gründe aufder individuellen Würde des einzelnen Menschen. Dafrage ich mich doch wirklich: Was ist das für ein Sozial-modell, das zulässt, dass 125 Millionen Menschen in Ar-mut und sozialer Ausgrenzung leben?
Wie sieht es denn aus mit der individuellen Würde dieserMenschen? Wollen Sie ernsthaft zum Modell erheben,dass die Arbeitslosigkeit in vielen Ländern dramatischzugenommen hat, dass sich die Langzeitarbeitslosigkeitoft verdoppelt oder verdreifacht hat, dass in Spanien,Griechenland oder Italien die Hälfte der jungen Men-schen keinen Job hat? Nein, das ist nicht das Europa, dasunsere Bevölkerung in Deutschland will.
Junge Menschen in Europa geben jedenfalls eine ganzklare Antwort. Ausgerechnet in einer Umfrage des Euro-päischen Parlaments haben sechs von zehn jungen Men-schen auf die Frage: „Haben Sie das Gefühl, in IhremLand durch die Wirtschaftskrise an den Rand gedrängtund vom wirtschaftlichen und sozialen Leben ausge-schlossen zu sein?“, mit Ja geantwortet. Das muss Ihnendoch zu denken geben. Aber Beispiele gibt es auch beiuns. In den 90er-Jahren waren unsere Truckfahrer im in-ternationalen Fernverkehr mit mehr als 5 000 DM Spit-zenverdiener. Heute müssen mehr als 80 000 Truckfah-rer ihren kärglichen Lohn mit Hartz IV aufbessern. Dasist nicht die Politik, die die Menschen wollen. Hier musssich ganz deutlich etwas ändern.
Es geht nicht nur um eine gewaltige Absenkung derVerdienste. Es geht auch um eine dramatische Ver-schlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen inEuropa. Diese müssen verbessert werden. Am vergange-nen Samstag sind die deutschen Truckfahrer auf dieStraße gegangen, um für bessere Arbeits- und Lebensbe-dingungen und gegen Lohndumping zu demonstrieren.
Sie haben ein beeindruckendes Zeichen für Europa ge-setzt; denn sie haben Solidarität mit den Kollegen ge-zeigt, die unter noch schlechteren Arbeitsbedingungen,zu noch mieseren Löhnen und windigen Vertragsbedin-gungen arbeiten müssen. 400 Euro im Monat, Lkw, beidenen auf nahezu jedes Extra, das Komfort oder Si-cherheit erhöhen könnte, verzichtet wird, monatelangeAbwesenheit von den Familien, Verträge ohne sozialeAbsicherung, das sind die Bedingungen, unter denentschechische Fahrer leben müssen. Das kann es dochnicht sein.
Dennoch sagen diese Menschen Ja zu Europa und euro-päischer Solidarität. Aber sie sagen Nein zu einem Eu-ropa des Lohndumpings und des Sozialabbaus.
Europa wird nur eine Chance haben, wenn es einebreite Zustimmung in der Bevölkerung gibt. Diese gibtes nur, wenn viele Bürgerinnen und Bürger das Gefühlhaben, dass Europa ihre Lebensqualität verbessert. Frei-heit, offene Grenzen und Frieden stellen einen gewalti-gen Fortschritt dar. Aber die Menschen erwarten auchein Leben in wirtschaftlicher und sozialer Sicherheit.Das ist das Europa, das die Menschen in Deutschlandund in Europa wollen.
Europa darf nicht nur wenigen nutzen, deren Reich-tum immer weiter wächst. In Europa gab es im letztenJahr 766 Dollarmilliardäre. Deren Vermögen ist in Euroumgerechnet auf etwa 1,5 Billionen angewachsen. Dasentzieht sich jedweder Vorstellungskraft. Das ist mehrals das Doppelte von dem, was die europäischen Steuer-zahler für die Bankenrettung als Bürgschaft hinterlegthaben. Das, meine Damen und Herren, ist Ihre Politik,die Politik der Bundesregierung.Für eine Krise, die sie nicht zu verantworten hat, wirddie Bevölkerung in Geiselhaft genommen. Löhne wer-den gesenkt, Arbeitnehmerrechte und der Sozialstaat ab-gebaut. Statt in Wachstum und in Beschäftigung zu in-vestieren, wird gekürzt. Die Wirtschaft schrumpft, unddie Schulden steigen. So gibt es zwei Europas, die der-zeit zueinander im Gegensatz stehen. Das eine ist dasEuropa der Wirtschaft, der Vermögenden und der Lob-byisten, das andere ist ein soziales Europa, ein Europa,welches die Menschen wollen.Die Linke will diese europäische Kürzungspolitik be-enden. Wir fordern stattdessen ein EU-weit koordiniertesInvestitionsprogramm, mit dem Arbeitsplätze geschaf-fen, die Wirtschaft ökologisch umgebaut und Bildung,Gesundheitsversorgung und öffentliche Infrastrukturausgebaut werden.
Dumpingkonkurrenz bei den Löhnen darf es nicht ge-ben. Wir brauchen eine europaweite Millionärsabgabe,um gerade die Krisenverursacher und -gewinner in dieVerantwortung zu nehmen. Meine Damen und Herren,auch Sie kommen nicht an der Wahrheit vorbei: Wer einsoziales Europa will, muss es den Reichen nehmen.Danke schön.
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2720 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
(C)
(B)
Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen Mark
Helfrich, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Lassen Sie mich zu Beginn eines in
aller Deutlichkeit sagen: Europa ist eine weltweit einzig-
artige Erfolgsgeschichte. Das lassen wir uns auch nicht
durch einen solchen Antrag wie den, der heute vorliegt,
kaputtmachen.
Unsere Europäische Union, die auf dem Konzept der
sozialen Marktwirtschaft beruht, ermöglicht es ihren
Bürgern, ihr Leben nach ihren eigenen Wünschen und
Vorstellungen zu gestalten. Im EU-Vertrag ist festge-
schrieben, dass ein hoher Beschäftigungsgrad, sozialer
Zusammenhalt, ein angemessener Sozialschutz und die
Bekämpfung sozialer Ausgrenzung bei der Gestaltung
und der Umsetzung der EU-Politik in allen Bereichen
berücksichtigt werden müssen. Wir arbeiten für ein Eu-
ropa, das den Menschen Chancen für ihr berufliches und
soziales Wohlergehen eröffnet, und das schon seit 1951.
Wir befinden uns bereits jetzt auf einem sehr hohen
Wohlstandsniveau. Obwohl nur 7 Prozent der Weltbe-
völkerung in der Europäischen Union leben,
produzieren wir 25 Prozent des weltweiten Bruttoinlands-
produkts. Ja, ich spreche zuerst über das BIP, weil alles,
was Sie unter sozialen Errungenschaften subsumieren,
zunächst erwirtschaftet werden muss. Ich werde nicht
müde, auf diesen Zusammenhang, der eigentlich ganz
simpel ist, von Ihnen aber immer wieder geleugnet wird,
hinzuweisen.
Während Sie, meine Damen und Herren der Linken,
behaupten, dass die sozialen Errungenschaften auf brei-
ter Front zunichtegemacht werden, muss ich an dieser
Stelle sagen, dass die Wirtschafts- und Währungsunion
unser heutiges ausgesprochen hohes Sozialniveau erst
ermöglicht hat und dass die Mitgliedstaaten der Europäi-
schen Union heute 50 Prozent aller Sozialleistungen der
Welt auf sich vereinen. Ich wiederhole das gerne: 7 Pro-
zent der Weltbevölkerung erhalten 50 Prozent aller So-
zialleistungen.
Weil Sie in Ihrem Antrag die EU mehr oder minder
als Verschwörung marktradikaler Kräfte porträtieren,
würde ich gerne auf ein paar Punkte eingehen und darle-
gen, wie wir in diese schwierige Situation gekommen
sind. Es ist eine völlig verantwortungslose Finanz- und
Verschuldungspolitik gewesen, die diese Situation, die
Sie hier zu Recht als bedrohlich und bedrückend be-
schreiben, herbeigeführt hat. Wir haben im Laufe der
Krise verschiedene Weiterentwicklungen der Instru-
mente erlebt, die dazu führen sollen, dass sich diese
Dinge nicht wiederholen und damit auch in Zukunft von
derartigen Entwicklungen kein Risiko mehr für soziale
Errungenschaften in Europa drohen kann. Da sind wir
auch beieinander.
Es ist letztlich dem Konzept der Wirtschafts- und
Währungsunion zu verdanken, dass einige Krisenländer
– Spanien, Irland, Portugal – aus dem Hilfsprogramm
bereits herauskommen konnten und damit als Gesell-
schaft, als Staat das, was wir uns alle gemeinsam wün-
schen, auch in Zukunft leisten können.
Wir alle wissen, dass das Wohlstandsgefälle in der
Europäischen Union eine ganz wesentliche Ursache für
die Armutswanderung innerhalb der EU ist. Wir wollen
nicht, dass Menschen ihr Land verlassen müssen, weil
sie dort keine Perspektive sehen. Auch deswegen sind
wir der Meinung, dass durch die Mitgliedstaaten soziale
Errungenschaften, ein Niveau der sozialen Sicherung
vor Ort nachhaltig gewährleistet werden müssen. Ich
sage an dieser Stelle aber auch ganz deutlich: Ich bin der
festen Überzeugung, dass Sozialpolitik noch sehr lange
Aufgabe der Mitgliedstaaten und nicht der EU bleiben
wird.
Die EU setzt soziale Mindeststandards; das ist richtig
so.
Sie hat mit dem Europäischen Sozialfonds seit langem
ein Instrument, um auf soziale Lagen in Europa einwir-
ken zu können. Der Europäische Sozialfonds ist bereits
vor mehr als 50 Jahren geschaffen worden. Es geht da-
rum, Unterschiede bei Wohlstand und Lebensstandard
zwischen den Mitgliedstaaten und den einzelnen Regio-
nen zu verringern. Es geht um die Verbesserung der Be-
schäftigungs- und Bildungschancen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten
Sabine Zimmermann?
Ich würde gerne weiter ausführen.
Also nicht. Dann führen Sie bitte weiter aus.
Es werden unter anderem Maßnahmen in den Be-reichen Fort- und Weiterbildung, Unterstützung vonBeschäftigten und Unternehmen bei Umstrukturie-rungsmaßnahmen, Bekämpfung des vorzeitigen Schul-abbruchs und praktische Hilfen für arbeitslose Jugendli-che sowie Integration benachteiligter Menschen in denArbeitsmarkt gefördert.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2721
Mark Helfrich
(C)
(B)
Zwischen 2007 und 2013 sind insgesamt 76 Milliar-den Euro aufgewendet worden. Diese Geschichte wirdfortgeführt. In der nächsten Periode, 2014 bis 2020, flie-ßen 80 Milliarden Euro aus dem ESF und weitere3,2 Milliarden Euro für Jugendinitiativen. Auch da siehtman, dass es einen Ausbau und nicht einen Abbau gibt.Diese Mittel kommen insbesondere den Regionen über-proportional zugute – das ist auch richtig so –, die unterdem EU-Durchschnitt liegen, was ihre wirtschaftlicheund soziale Entwicklung betrifft.Ein weiterer Meilenstein bei der Überwindung derStaatsschuldenkrise ist die Wachstumsstrategie „Europa2020“. Sie hat – wie sollte es anders sein? – sozialeKernziele in den Bereichen Beschäftigung und Bildung,soziale Inklusion und Bekämpfung von Armut. 20 Mil-lionen Menschen sollen bis 2020 aus der Armut heraus-geführt werden, und es soll eine Beschäftigungsquotevon 75 Prozent der Menschen im erwerbsfähigen Altererreicht werden. Um diese beiden Hauptziele zu unter-füttern, gibt es eine Reihe von Initiativen; Sie alle wissendas. „Jugend in Bewegung“ ist ein entsprechendes In-strument; die „Agenda für neue Kompetenzen und neueBeschäftigungsmöglichkeiten“ ist ein weiteres.Bei all dem ist uns bewusst, dass die Chancen auf Ar-beit in Europa noch ungleich verteilt sind. Deutschlandhat eine sehr niedrige Jugendarbeitslosigkeit, ganz an-ders als viele andere Länder in der Europäischen Union.Dort stehen junge Menschen vor gigantischen Heraus-forderungen; das ist völlig klar. Weil das so ist, ist auchauf Drängen der Bundesrepublik vereinbart worden,dass man 6 Milliarden Euro zur Bekämpfung der Ju-gendarbeitslosigkeit in der EU zur Verfügung stellt. Ichfinde das sehr beeindruckend. Auch ich weiß, dass es inder Umsetzung in den Mitgliedstaaten durchaus nochAnlaufschwierigkeiten und Defizite gibt. Aber das Zielund auch die Bereitschaft, das Ganze zu unterfüttern,sind ganz klar gegeben.Das soll nicht heißen, dass wir nicht weiterhin auf diebewährten Maßnahmen aus dem Europäischen Sozial-fonds zurückgreifen können, um benachteiligten Jugend-lichen entsprechend Hilfe gewähren zu können.Sie kennen EURIS, ein Kooperationsnetzwerk der öf-fentlichen Arbeitsvermittlungen aller EU-Staaten. Bereitsin den Anfängen dieser Kooperation sind 50 000 Stellenpro Jahr für junge Europäerinnen und Europäer vermit-telt worden. Ich glaube, auch das ist ein Zeichen, dasssich Europa dieser Aufgabe stellt.
Dann möchte ich das Thema „Jugend in Beschäfti-gung bringen“ ansprechen, auch unter dem Stichwort„Jugendgarantie“ bekannt. Mitgliedstaaten werden ver-pflichtet, Schulabgängern unter 25 Jahren nach Verlassender Schule innerhalb von vier Monaten einen Ausbildungs-platz zuzuweisen bzw. eine weitere Bildungsmaßnahme zugewähren oder eine Praktikumsstelle zu vermitteln, damitin Europa nicht eine verlorene Generation groß wird, waswir nicht wollen. Insofern ist auch dieser Baustein rich-tig.In diesem Zusammenhang können wir als Deutschefroh sein, dass wir das duale Ausbildungssystem haben.Das ist behutsam angepasst sicherlich auch ein Erfolgs-modell für die Europäische Union. Nur so können dannauch die Probleme in den jeweiligen Mitgliedstaaten an-gegangen werden.Nichtsdestotrotz stellen wir uns mit dem ProgrammMobiPro-EU der Verpflichtung, hier in DeutschlandPlätze für Auszubildende und junge Berufstätige zurVerfügung zu stellen. Die in Aussicht stehende Mittel-verdreifachung – das sage ich zu den Kolleginnen undKollegen der Grünen – ist, anders als das in dem Antragdargestellt wird, durchaus vorbildlich. Ich glaube, dassdie Bundesregierung dort die Zeichen der Zeit erkannthat.
Apropos „Zeichen der Zeit“:
Wenn Sie einen kurzen Blick auf Ihre Uhr werfen wür-
fen!
Ich komme zum Ende. – Sehr geehrte Damen und
Herren der Linken, Sie sehen also: Es gibt bereits zahl-
reiche realisierte, realisierbare und erfolgversprechende
Maßnahmen zur Förderung und Unterstützung von Ju-
gendlichen sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mern in Europa. Dies ist Ausdruck eines sozial gestalte-
ten und wirtschaftlich starken Europas, dessen Einstehen
für seine sozialen Errungenschaften Sie auch vor dem
Hintergrund der herannahenden Europawahl bitte nicht
in Abrede stellen sollten.
Danke schön.
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der
Kollegin Brigitte Pothmer, Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Helfrich, Sie ha-ben das Problem der Jugendarbeitslosigkeit in Europaangesprochen. In der Tat: Dieses Problem ist wirklichsehr signifikant. 5,5 Millionen junge Leute in Europasind weder in Ausbildung noch in Arbeit. In einigenLändern ist es besonders dramatisch; da sind über 50Prozent aller Jugendlichen weder in Ausbildung noch inArbeit.Deswegen hat es in der vergangenen Legislaturpe-riode diverse Gipfel gegeben. Die Kanzlerin sprach voneiner verlorenen Generation, der man Unterstützung an-bieten müsse. Das Programm, das einen Beitrag dazuleisten sollte, war MobiPro.Nun hatte MobiPro, wie man sich denken kann, er-hebliche Anlaufschwierigkeiten. Bis so etwas in ganzEuropa bekannt wird, dauert es natürlich eine Weile.
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2722 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Brigitte Pothmer
(C)
(B)
Aber jetzt läuft das Programm. Genau in dem Moment,in dem sich die Jugendlichen entschieden haben, diesesAngebot anzunehmen,
wird das Programm wegen Überfüllung geschlossen.
Es gibt einen Antragsstopp zum 8. April dieses Jahres.Alles, was danach kommt, wird auf das nächste Jahr ver-tröstet. Ich frage Sie: Was haben Sie sich eigentlich ge-dacht? Sie haben ein Programm ins Schaufenster gestelltund wundern sich, dass dieses Programm jetzt auch ge-kauft wird. Das wollen Sie nicht.Ich will Ihnen einmal etwas zu der Dimension sagen:Von 5,5 Millionen jugendlichen Arbeitslosen haben sich9 000 für das Programm beworben. Frau von der Leyenhat damals gesagt: Das ist gelebte Solidarität. – Diesegelebte Solidarität ist bei Ihnen bereits bei 9 000 Jugend-lichen überfordert. Im kommenden Jahr wird das Pro-gramm auf 2 000 Jugendliche gedeckelt. Das ist wenigerals ein Tropfen auf den heißen Stein im Kampf gegen dieJugendarbeitslosigkeit; das ist aber auch weniger als einTropfen auf den heißen Stein im Kampf gegen den Fach-kräftemangel.
MobiPro ist aber keine mildtätige Geste, sondern auchein Beitrag zur Bekämpfung des Fachkräftemangels. Sievon der CDU haben einen TV-Spot. In dem TV-Spot sa-gen Sie: Deutschland sollte in Europa eine Vorbildfunk-tion einnehmen. – Diese Vorbildfunktion sollten Sieauch in der Bundesregierung einnehmen.Danke schön.
Ich muss zur allgemeinen Entspannung beitragen.
Bleiben Sie bitte entspannt: Bei einer Kurzintervention
darf man durchaus einen kleinen Redebeitrag halten. Sie
unterscheidet sich von einer Zwischenfrage. Dies war
ein kleiner Redebeitrag. Der Kollege darf darauf antwor-
ten, er muss es aber nicht. Mögen Sie?
Frau Pothmer, das ist ein kleines Déjà-vu, Sie haben
schon einmal einen ähnlichen Vortrag im Rahmen einer
Zwischenfrage gehalten, als ich kürzlich hier im Plenum
gesprochen habe.
Ich kenne kein Schaufenster, in dem Waren ausge-
stellt sind, die ungefähr 100 Millionen Euro schwer sind.
Ich finde beeindruckend, was hier geleistet wird. Wir
sind beieinander, dass wir es möglichst vielen Menschen
anbieten und zur Verfügung stellen sollen, weil es ein
ganz tolles Projekt ist. Die Nachfrage nach dieser Mög-
lichkeit ist unbestritten. Ich wundere mich, dass Sie im-
mer einen Anlass finden, dieses eigentlich tolle Projekt
kaputtzureden. Irgendwie kann ich das nicht nachvoll-
ziehen.
Als Nächstem erteile ich das Wort dem KollegenDr. Wolfgang Strengmann-Kuhn.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diegerade vom Kollegen Helfrich gehaltene Rede standeher unter dem Motto „Ein Betriebswirt liest Verwal-tungsvorschriften vor“, als dass eine soziale Vision vonEuropa darin erkennbar gewesen wäre.
Die ist aber dringend notwendig.Sie haben etwas vernachlässigt. Natürlich ist es so,dass Sozialleistungen erwirtschaftet werden müssen.Umgekehrt ist es aber auch so, dass Sozialpolitik und da-mit soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherung über-haupt eine Voraussetzung für wirtschaftliche Entwick-lung ist, die dazu führt, dass überhaupt genügend da ist,damit finanziert werden kann. Das ist eine typische Er-rungenschaft der sozialen Marktwirtschaft. Sie habendas völlig vernachlässigt. Das muss aber im Sinne derVision eines sozialen Europas unbedingt mitgedachtwerden.Solch eine Vision – auch konkrete Schritte dahin – sindunbedingt notwendig; denn wir brauchen ein starkes Eu-ropa. Das sieht man jetzt bei der Ukraine-Krise, bei der eswichtig ist, dass Europa mit einer Stimme redet. Mansieht das bei vielen globalen Problemen, die wir haben:beim Klimawandel, bei der Frage der globalen Gerech-tigkeit und bei der Frage der Demokratie in der Welt.Wer, wenn nicht Europa, soll denn da in der Welt Vorbildsein? Das geht nur, wenn wir ein zusammenwachsendesund ein solidarisches Europa haben, damit es da mit ei-ner Stimme sprechen und gemeinsam Vorbild sein kann.
Die Realität ist aber eine ganz andere. Wir erleben,dass die Zustimmung zur EU europaweit sinkt. In denKrisenländern sinkt sie aufgrund der beschriebenen Si-tuation. Da stimme ich der Kollegin Zimmermann, wasdie Beschreibung der Situation anbelangt, zu. Es gibtmassiv hohe Arbeitslosigkeit insbesondere bei der Ju-gend. In Griechenland gibt es steigende Säuglingssterb-lichkeit und teilweise verheerende gesundheitliche Si-tuationen. Das ist eine Folge der Krisenpolitik, wie sieinsbesondere die CDU-geführte Regierung in den letztenJahren immer wieder eingefordert hat. Das bringt unsüberhaupt nicht weiter.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2723
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
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– Wir haben dem zugestimmt, Herr Kollege, weil wir ge-sagt haben: Wir müssen den Ländern helfen. Auch dasgehört zu einem solidarischen Europa. Denn die Alterna-tive, nicht zu helfen, wäre sogar noch schlechter gewe-sen als die jetzige Situation. Das hätte sie völlig in denRuin getrieben.Mit den Hilfspaketen wurde Zeit gekauft. Diese Zeitist nicht genutzt worden. Wir hätten sie dringend not-wendig gehabt, um eine Krisenpolitik zu fahren, diemehr soziale Gerechtigkeit schafft und auch die Reichenmit in die Pflicht nimmt. So wäre ein Schuh daraus ge-worden. Dagegenzustimmen, so wie Sie das gemacht ha-ben, wäre der völlig falsche Weg gewesen. Zur Solidari-tät in Europa gehört dazu, dass man mit denKrisenländern solidarisch ist.
Aber auch in den reicheren Ländern nimmt die Zu-stimmung zur EU ab, weil es hier die Vorstellung gibt– die auch von Linken und anderen geschürt wird –,dass viel Geld für Bankenrettung verschwendet würdeund bei uns nicht mehr genügend Geld für Sozialleis-tungen zur Bekämpfung von Armut zur Verfügungstünde.Wenn man sich die Situation in Deutschland an-schaut, erkennt man, dass die Armut auf einem hohenNiveau verharrt. Die Altersarmut steigt, die Armut vonErwerbstätigen steigt, und die Armut von Kindern istnach wie vor auf einem skandalös hohen Niveau. Dasmüssen wir ändern.Wir brauchen in ganz Europa, dass die „starkenSchultern“ in allen Ländern mit den Schwachen in allenLändern solidarisch sind. Das ist eine Vision von Eu-ropa, wie wir sie eigentlich haben müssten.
Die EU ist dabei gar nicht so schlecht, wie sie von derLinken immer gemacht wird. Sozialpolitische Ziele gibtes spätestens seit dem Gipfel von Lissabon 2000. Seit-dem gibt es jährlich eine einheitliche Armutsberichter-stattung auf der Basis gemeinsamer Indikatoren. DieMitgliedstaaten müssen darlegen, was sie zur Bekämp-fung der Armut unternehmen. Das ist durch den Lissa-bon-Vertrag noch einmal gestärkt worden, in dem die so-zialpolitischen Ziele ausdrücklich benannt sind. HerrKollege Helfrich hat auf die Strategie „Europa 2020“hingewiesen, aber ein wesentliches Ziel komplett ver-gessen, nämlich das Ziel der Armutsreduktion, das zumersten Mal ein quantitatives Ziel ist. Danach soll dieZahl der Armen in Europa um 10 Prozent reduziert wer-den.Was hat die schwarz-gelbe Bundesregierung seiner-zeit gemacht? Sie hat gesagt: Die Kriterien der EU gefal-len uns nicht. Wir suchen uns ein neues Kriterium aus,an dem wir das festmachen. – Wo kommen wir denn hin,wenn sich jedes Land seine eigenen Kriterien aussuchtund sagt: „Wir halten uns nicht daran“? Es ist wichtig,dass wir an dieser Stelle europäische Kriterien haben.Ich fordere die Regierung auf: Halten Sie sich an die inder EU vereinbarten Indikatoren, und sichern Sie zu,dass Deutschland seinen Beitrag zur Reduzierung vonArmut leisten wird!
Was ist nötig, und welche Möglichkeiten hat dieUnion? Es ist richtig, es gibt auf europäischer Ebenekeine sozialpolitischen Kompetenzen im engeren Sinne,aber es gibt die Möglichkeit, Zielsetzungen zu vereinba-ren. Es gibt die Offene Methode der Koordinierung. Esgibt die Möglichkeit, soziale und andere Mindeststan-dards zu setzen. Es wäre wichtig, solche Mindeststan-dards zu formulieren, auch was die Rechte von Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmern angeht. Man könnteauf europäischer Ebene vereinbaren, dass in allen Län-dern Grundsicherungssysteme eingeführt werden, die esin einigen Ländern nicht gibt, zum Beispiel in Griechen-land. Die haben nicht einmal so etwas wie Hartz IV. Mankönnte vereinbaren, dass alle Menschen Zugang zur so-zialen Sicherung haben, dass es Netze der sozialen Si-cherung ohne Lücken gibt. Das sind Zielvereinbarungen,die durchaus möglich wären.Im Rahmen der Krisenpolitik wäre der Effekt nochstärker. Man hätte den Griechen sagen können: Wir hel-fen nur unter der Bedingung, dass ein Grundsicherungs-system eingeführt wird,
wir helfen nur unter der Bedingung, dass arbeitsrechtli-che Standards eingeführt und sogar verbessert werden.Wir hätten helfen können unter der Bedingung, dass diegesundheitlichen Mindeststandards eingehalten werden.Wir hätten nicht zuletzt auch zur Bedingung machenmüssen, dass sich die Reichen an der Finanzierung derKrise und der Hilfen durch eine höhere Besteuerung be-teiligen. Das alles hätte man machen können.
Wir als Grüne wollen aber noch weiter gehen. Wirwollen, dass im Rahmen der Diskussion über mehr wirt-schafts- und finanzpolitische Kompetenzen der EU auchüber sozialpolitische Kompetenzen der EU geredet wird.
Es ist notwendig, dass man Finanz-, Wirtschafts- undSozialpolitik auf europäischer Ebene stärker koordiniert.Deswegen wollen wir einen Europäischen Konvent, beidem – auch das ist wichtig – öffentlich diskutiert wird,was dort passiert; denn wir wollen ein demokratischesEuropa, in dem die Menschen mitbestimmen können,welche Kompetenzen in den Bereichen Wirtschaft, Fi-nanzen und Soziales auf EU-Ebene angesiedelt werdensollen.Wir Grüne wollen ein ökologischeres, demokratische-res und sozialeres Europa. Ich finde, es lohnt sich für unsalle, gemeinsam dafür zu kämpfen.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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2724 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
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Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Kolle-
gin Dagmar Schmidt, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Beginn möchte icheinen doppelten Dank an die Partei Die Linke ausspre-chen. Erstens möchte ich mich dafür bedanken und ichbin froh, dass ich ein paar Dinge, die Ihre Partei in denletzten Wochen und Monaten an europafeindlichen Äu-ßerungen verlautbart hat, in Ihrem Antrag nicht lesenmusste, und dass sich offensichtlich diejenigen durchge-setzt haben, die die EU für ein demokratisches Reform-projekt halten und daran mitwirken und Verantwortungübernehmen wollen. Das ist gut so.
Zweitens möchte ich mich dafür bedanken, dass Sieuns mit Ihrem Antrag die Chance geben, über das sozialeund demokratische Europa zu reden, ein soziales und de-mokratisches Europa, das seit fast 100 Jahren Vision undprogrammatisches Ziel der SPD ist. Ich möchte zwei füruns wichtige Wegmarken benennen.Die SPD hat bereits 1925 in ihrem Heidelberger Pro-gramm zwischen zwei Weltkriegen und in großer Weit-sicht die Schaffung der europäischen Wirtschaftseinheitund der Vereinigten Staaten von Europa gefordert – imWissen um die Grenzen des Nationalstaates und des na-tionalstaatlichen Handelns und im Wissen um die ge-meinsamen Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiterdiesseits und jenseits deutscher Grenzen.Kanzler Willy Brandt hat in seiner Regierungserklä-rung 1969 mit den Worten „Wir wollen ein Volk der gu-ten Nachbarn sein und werden im Inneren und nach au-ßen“ nicht nur einen Maßstab für deutsche Politikgesetzt, sondern auch
– alles ganz geblieben? –
und gerade beim Fortschreiten der europäischen Integra-tion einen Maßstab für europäische Politik: Wir Euro-päerinnen und Europäer wollen gute Nachbarn werden –im Inneren und nach außen.Sehr geehrte Damen und Herren, Europa ist nicht nurein Friedensprojekt – es war schon immer auch ein Pro-jekt, gemeinsam und solidarisch den Wohlstand zu si-chern. Sozialer Fortschritt – das hat die SPD in ihrer150-jährigen Geschichte leidvoll erfahren müssen –kommt nicht von heute auf morgen und erst recht nichtvon allein. Die soziale Integration Europas ist ein Pro-zess, ist ein Weg, auf dem schon viel erreicht wurde,aber vor allem noch vieles zu erledigen ist.Nichts zeigt das deutlicher als die Folgen der Finanz-markt- und Wirtschaftskrise und die mit ihnen einherge-hende zunehmende Abwendung von Europa. Das sozialeEuropa, das Europa der sozialen Marktwirtschaft gelingtnur, wenn wir gemeinsam die Ursachen der Krise be-kämpfen. Die Armut steigt, während auf den Finanz-märkten wieder die Champagnerkorken knallen und so-genannte Ramschanleihen im Euro-Raum schon wiederein Volumen von 90 Milliarden Euro erreichen und da-mit einen neuen Rekord erzielen. Aber für Bankentren-nung, für Finanztransaktionsteuer, für Bankenunion undFinanzmärkte, die der Realwirtschaft dienen, für einengemeinsamen Rahmen für gerechte Steuern, für die Be-endigung von Steuerdumping und dafür, das Land derGewinne auch zu einem Land der Steuereinnahmen zumachen, dafür kann man am 25. Mai sein Kreuz machen.
Das soziale Europa gelingt nur, wenn wir gemeinsamArbeitslosigkeit bekämpfen und in Arbeit in Europa in-vestieren. Jeder zehnte Europäer ist arbeitslos, jedervierte Jugendliche und in Ländern wie Griechenland,Spanien und Kroatien mehr als jeder zweite. Ein sozialgespaltenes Europa wollen wir nicht. Deswegen gilt es,einiges in Ordnung zu bringen. Das betrifft existenzsi-chernde Mindestlöhne in allen europäischen Ländern,gleiche Lohn- und Arbeitsbedingungen am gleichen Ort,starke Arbeitnehmerrechte, starke europäische Gewerk-schaften und fairen Wettbewerb statt Sozialdumping,gute Ausbildung und Perspektiven für junge Menschen.Alles das kann man umsetzen, wenn der politische Willeund die politische Mehrheit dafür da sind.
Das soziale Europa gelingt nur mit einer starken euro-päischen Wirtschaft, die gute und sichere Arbeitsplätzeschafft. Dafür braucht es Investitionen in Forschung,Bildung, Infrastruktur und einen starken Mittelstand. Al-lein in meinem Wahlkreis, dem Lahn-Dill-Kreis in Mit-telhessen, machen die Exporte nach Europa 1 MilliardeEuro Industrieumsatz aus. Das sind 5 000 Arbeitsplätze,die direkt an der Kaufkraft in den EU-Staaten, der Wirt-schaftskraft in unseren Nachbarländern und den Vortei-len des Binnenmarktes hängen. Da fällt die Überzeu-gungsarbeit für Europa leichter.Aber wir müssen die sozialen Rahmenbedingungendafür schaffen, dass alle Menschen in Europa eine Per-spektive auf Wohlstand haben und die Chancen einer eu-ropäischen Integration auch für sich erkennen. Wer dieMenschen auf dem Weg nach Europa mitnehmenmöchte, der muss das soziale Europa bauen. Denn dasFriedensprojekt und der starke Binnenmarkt brauchendas soziale Fundament und das solidarische Handeln,um zukunftsfähig zu sein. In diesem Sinne wollen wirgute Nachbarn sein – im Inneren und nach außen.
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Als nächstem Redner erteile ich das Wort Kollegen
Dr. Martin Pätzold, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion setztsich für ein soziales Europa ein, ein Europa, in demjunge Menschen Perspektiven haben, sich frei zu entfal-ten, und in dem älteren Menschen nach ihrem Berufs-leben soziale Mindeststandards garantiert werden. DieBundesrepublik Deutschland ist dabei mit ihren Errun-genschaften durch die soziale Marktwirtschaft ein Vor-bild in der Europäischen Union. Unsere sozialen Stan-dards sollten das Richtmaß für die Entwicklung einessozialen Europas sein, auch wenn uns klar sein sollte,dass noch viele Jahre und Jahrzehnte vergehen werden,bis dies in allen Staaten der Europäischen Union erreichtwerden kann.Wir sollten so ehrlich sein und uns eingestehen, dassdieser Prozess Zeit braucht. Bei der europäischen Ideegeht es nicht nur um Freiheit und Frieden, sondern auchum wirtschaftlichen Wohlstand in der Breite. Für michpersönlich ist die Idee der Europäischen Union derHauptgrund gewesen, warum ich mit 18 Jahren in dieCDU eingetreten bin.
– Da sollte man Applaus von der eigenen Fraktion be-kommen.Ich selber vereine europäische Wurzeln in meinerPerson. Ich bin im Ausland geboren und dort einigeJahre aufgewachsen. Mein Vater war Auslandsjournalist,und meine Mutter ist nicht in Deutschland geboren. Fürmich ist damit das Projekt Europa nicht abstrakt, son-dern sehr konkret. Deswegen kämpfe ich so sehr für dieEuropäische Union und für ein soziales Europa.
Heute leben über 500 Millionen Menschen in denMitgliedstaaten der Europäischen Union auf einer Flä-che von rund 4,3 Millionen Quadratkilometern. Sie allewünschen sich für ihre eigene Zukunft und die Zukunftder nachfolgenden Generationen ein Leben in Friedenund sozialer Sicherheit.Auf der einen Seite ist die Europäische Union in denJahrzehnten seit ihrer Gründung immer stärker zusam-mengewachsen, auf der anderen Seite gab es Herausforde-rungen für das Zusammenwachsen. Die unterschiedlichenKulturen und Traditionen der europäischen Nationen re-präsentieren den großen Reichtum der EuropäischenUnion. Doch sie stellen auch eine permanente Herausfor-derung dar, gemeinsame Regeln und Standards im Zusam-menleben der Völker zu finden. Die Unterschiede in denTraditionen, den politischen Systemen, aber auch die öko-nomischen Möglichkeiten und Gegebenheiten werdenneben der Wirtschafts- und Finanzpolitik gerade in derSozialpolitik deutlich.Soziale Sicherung war und ist in den einzelnen Län-dern von der wirtschaftlichen Situation abhängig. Daherist es ein Ziel der Europäischen Union, die unterschiedli-chen Systeme aufeinander abzustimmen und zu moder-nisieren. Die Sozialpolitik gewinnt in einem Europa, dasdas Zusammenwachsen als wichtige Errungenschaft be-trachtet, immer mehr an Bedeutung. Sie prägt und be-stimmt alle anderen Politikfelder und trägt so auch ent-scheidend zum Gelingen unserer Zukunft bei. Geradedurch die Erweiterung der Europäischen Union von2004 und 2007 und den Beitritt Kroatiens 2013 hat dasZusammenwachsen Europas neue Akzente bekommen.Europa ist ein politisches Gebilde, das einstige Gegen-sätze miteinander versöhnt, alte Fronten verschwindenlässt und ein neues Gefüge schafft. Die Länder Europasprofitieren voneinander und sind stark voneinander ab-hängig.Das soziale Europa musste viele Brüche und Umbrü-che erleben, um sich auf Frieden und Freiheit zu besin-nen. Ich bin davon überzeugt, dass es dabei nicht nur umFreiheit gehen darf, sondern dass wir uns als Bundesre-publik Deutschland dafür einsetzen müssen, dass mate-rieller Wohlstand in der Breite möglich wird. Europakennt heute noch kein einheitliches Sozialmodell. DieLissabon-Agenda sieht vor, dass die Sozialpolitik wei-terentwickelt wird.Der Europäischen Sozialfonds wurde gegründet – dashat mein Kollege Helfrich schon angesprochen –, umFördergelder für Umschulungen, Fortbildungen und zurFörderung von beruflicher Mobilität gemeinsam zu er-reichen. Man wollte erreichen, dass alle Menschen, diearbeiten konnten und wollten, Arbeit finden und damitzu einem wirtschaftlichen Ausgleich unter den Regionenin Europa beitragen. Bis heute werden Vorhaben geför-dert, die den Zugang zu Ausbildungen verbessern, neueBeschäftigungsmöglichkeiten schaffen, Existenzgrün-der unterstützen, öffentliche Dienste verbessern und be-nachteiligten Menschen beim beruflichen Einstieg oderWiedereinstieg helfen. In festen Zeiträumen werden dieRichtlinien des Europäischen Sozialfonds an die aktuel-len Notwendigkeiten angepasst.Die Chancen und Möglichkeiten für Jugendliche sindim wahrsten Sinne des Wortes grenzenlos. VerschiedeneEU-Programme zum lebenslangen Lernen und zum Be-reich Jugend in Aktion machen es möglich, dass Berufs-praktika oder das Studieren im EU-Ausland jedem of-fenstehen. Die EU-Jugendstrategie sieht vor, dass wirdies nachhaltig gestalten und damit auf Dauer Erfolg er-zielen können. Sie zielt dabei auf die Förderung der so-zialen und beruflichen Eingliederung Jugendlicher, dieFörderung der persönlichen Entfaltung, des sozialen Zu-sammenhalts und des gesellschaftlichen Engagementsab.Trotz dieses Engagements ist die Arbeitslosigkeit inden 28 Mitgliedstaaten dramatisch hoch. Wir müssen derLinken recht geben. An diesem Thema arbeiten wir. DieWirtschafts- und Finanzkrise war ein Grund für die deut-liche Verschlechterung auf dem Arbeitsmarkt. Aber auchhier haben wir politisch reagiert: Im Februar 2013 wurdedie Beschäftigungsinitiative für junge Menschen im Al-
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2726 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Dr. Martin Pätzold
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ter von 15 bis 24 Jahren im Europäischen Rat angenom-men. Hierbei sollen mit 6 Milliarden Euro Regionen ge-stärkt werden, in denen die Jugendarbeitslosigkeit mitmehr als 25 Prozent am größten ist. Dabei geht es auchdarum, langfristige Beschäftigung zu schaffen und keineverlorene Generation in Europa zu haben. Die Bundesre-gierung will Ansätze des erfolgreichen Konzepts der du-alen Ausbildung exportieren und den Ländern damit hel-fen, ihre Strukturdefizite auszugleichen und damitnachhaltige Strukturen vor Ort zu schaffen.Die Bundesrepublik Deutschland und die Europäi-sche Union stehen vor großen Herausforderungen. Unsgeht es darum, ein soziales Europa zu schaffen. Am 25.Mai haben die Bürgerinnen und Bürger in Europa dieMöglichkeit, für dieses soziale Europa zu stimmen. Ichglaube, in der Bundesrepublik Deutschland geht es vorallen Dingen darum, dass die Bürgerinnen und Bürgerdie Möglichkeit nutzen, demokratische Parteien zu stär-ken. Das ist wichtig, damit wir das soziale Europa wei-terentwickeln können. Meine Fraktion wird sich imDeutschen Bundestag weiterhin dafür einsetzen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Als Nächstem erteile ich dem Kollegen Harald
Weinberg, Fraktion Die Linke, das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! In der EU-
Grundrechtecharta, Artikel 35 – Gesundheitsschutz –,
heißt es:
Jede Person hat das Recht auf Zugang zur Gesund-
heitsvorsorge und auf ärztliche Versorgung nach
Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften
und Gepflogenheiten. Bei der Festlegung und
Durchführung aller Politiken und Maßnahmen der
Union wird ein hohes Gesundheitsschutzniveau si-
chergestellt.
Das ist in Europa nicht gegeben – im Gegenteil.
Nehmen wir das Beispiel Griechenland. Die Kür-
zungspolitik der Troika hat zu einem faktischen Zusam-
menbruch der Gesundheitsversorgung in Griechenland
geführt. In der Troikavereinbarung wird unter anderem
vorgeschrieben, dass der griechische Krankenversiche-
rungsträger die Zahl der Ärzte zweimal um 10 Prozent
reduzieren muss. Wegen dieser Vorgabe wurden im Fe-
bruar 2014 alle 350 öffentlichen Polikliniken vorläufig
geschlossen. Ohne jedwede gesundheitswissenschaftli-
che Expertise wurde festgelegt, dass die öffentlichen Ge-
sundheitsausgaben auf 6 Prozent des Bruttoinlandspro-
duktes gesenkt werden müssen; mittlerweile sind die
Ausgaben weiter gesunken, weil das Bruttoinlandspro-
dukt weiter sinkt.
Der damalige griechische Gesundheitsminister sagte
2011, dass die Kürzungen im Gesundheitssystem nicht
mit dem Skalpell, sondern mit dem Schlachtermesser
vorgenommen würden, übrigens unter aktiver Beteili-
gung der deutschen Bundesregierung und des deutschen
Bundesgesundheitsministeriums. Es gibt mittlerweile
eine Fülle an wissenschaftlichen Untersuchungen zu den
Auswirkungen der Kürzungsdiktate auf den Gesund-
heitszustand der griechischen Bevölkerung. Die Ergeb-
nisse sind eindeutig und verheerend. Ein Buch von zwei
Public-Health-Wissenschaftlern, das gerade auf Deutsch
erschienen ist, trägt dann auch bezeichnenderweise den
Titel Sparprogramme töten, und das ist bitterernst ge-
meint.
Einige Beispiele: Die Zahl der HIV-Neuinfektionen
unter Drogenabhängigen ist von 9 im Jahre 2008 auf 484
im Jahre 2012 gestiegen, weil keine sauberen Spritzen
mehr kostenlos ausgegeben werden. Die Zahl der Neuin-
fektionen mit Tuberkulose hat sich nach 2012 binnen ei-
nes Jahres verdoppelt. Die Säuglingssterblichkeit ist
zwischen 2008 und 2010 um 43 Prozent angestiegen.
Circa 30 Prozent der griechischen Bevölkerung sind
nicht mehr krankenversichert, haben keinen Zugang zu
einer Gesundheitsversorgung. Zur Notfallversorgung al-
ler Menschen, auch der Nichtversicherten, sagte der ak-
tuelle griechische Gesundheitsminister im Februar 2014,
dass alle Patienten in dringlichen Fällen eine Behand-
lung erhalten würden, aber eine Krebserkrankung stuft
er nur im Endstadium als dringlich ein.
Was wir also in Griechenland dringend brauchen, ist
die Wiederherstellung einer medizinischen Grundversor-
gung.
Stattdessen wird jedoch unter Federführung des BMG
eine Reformagenda aufgelegt, die diese Grundversor-
gung nicht wirklich in den Blick nimmt, sondern Ver-
satzstücke der deutschen Gesundheitsreform auf Grie-
chenland überstülpt, beispielweise die Einführung des
DRG-Vergütungssystems im Krankenhausbereich. Das
ist für mich nichts anderes als der Versuch, in Griechen-
land infrastrukturell ein Gewerbegebiet zu erschließen.
Die deutschen Krankenhauskonzerne, Asklepios vor-
weg, sind bereits auf Einkaufstour und versuchen, grie-
chische Kliniken aufzukaufen. Das kann und soll nicht
sein.
Wenn wir ein soziales Europa wollen, dann müssen
wir es den Reichen und der Troika nehmen.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kolle-
gen Michael Gerdes, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heu-tige Debatte liefert den Anstoß, über das Thema „sozia-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2727
Michael Gerdes
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les Europa“ zu reden. Tatsächlich mussten wir in denletzten Jahren bei europapolitischen Diskussionen sehrhäufig, vielleicht zu häufig, über Finanzmärkte, Bankenoder Ratingagenturen streiten. Wirtschafts- und Wäh-rungspolitik allein bringt uns aber nicht das Europa, daswir uns wünschen.Wir Sozialdemokraten wollen ein Europa, in dem so-ziale Gerechtigkeit und Zusammenhalt die Basis fürwirtschaftlichen Erfolg sind. Um die soziale SpaltungEuropas zu verhindern, brauchen wir insgesamt mehrBeschäftigung, speziell in Süd- und Osteuropa.Gerade die junge Generation braucht unsere Auf-merksamkeit und Unterstützung.
Junge Menschen brauchen eine Chance, damit sie nichtdas Vertrauen in sich selbst und in das europäische Pro-jekt verlieren. MobiPro-EU ist da nur ein Projekt; eingutes im Übrigen.
Arbeit und das damit verbundene Einkommen bedeu-ten – hier wie überall – Teilhabe. Wir müssen allen Ju-gendlichen eine Perspektive bieten, damit sie eine selbst-bestimmte Zukunft in Europa erleben. Sie brauchen eineChance auf Ausbildung. Deshalb stehen wir als SPD zureuropäischen Jugendgarantie, die jedem arbeitslosen Ju-gendlichen unter 25 Jahren binnen vier Monaten ein An-gebot für einen Job, eine Ausbildung oder ein Praktikummacht. Bei ihrer Umsetzung brauchen wir dringendmehr Entschlossenheit. Gut ausgebildete junge Men-schen haben in ganz Europa gute Perspektiven.Mehr Arbeitsplätze können dann entstehen, wenn wirarbeitsmarktrelevante Ideen und Maßnahmen europa-weit besser koordinieren. Die Europäische Beschäfti-gungsstrategie ist ein Anfang. Die europäischen Arbeits-marktzahlen zeigen allerdings, dass wir besser werdenmüssen. Dazu sind Investitionen in Bildung und in dieQualifizierung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mern notwendig.Gezielte Weiterbildung ist nur ein erstes Stichwort,wenn es darum geht, die Menschen auf die moderne Ar-beitswelt vorzubereiten.
Gute Beschäftigung beginnt viel früher, nämlich mit gu-ter Schulbildung, besseren Übergängen zwischen Schuleund Beruf, und sie geht weiter mit einer soliden Berufs-ausbildung, die Theorie und Praxis miteinander verbin-det.Die Vergleichbarkeit und gegenseitige Anerkennungder Berufsbilder in der EU sind auch noch nicht kom-plett vollzogen. Viele Zuwanderer sind gut ausgebildet,können aber in ihrem eigentlichen Beruf nicht arbeiten,weil ihre Ausbildung in Europa nicht anerkannt wird.Das schadet uns allen. Wenn wir dem Facharbeiter- undFachkräftemangel vorbeugen wollen, müssen wir bei derAnerkennung schneller sein. Es ist nicht richtig, wenn inDeutschland Fachkräfte unterhalb ihrer Qualifikation alsbillige Hilfskräfte verheizt werden, während wir gleich-zeitig über Fachkräftemangel diskutieren.
Auch Innovationen und eine funktionierende Infrastruk-tur fallen nicht vom Himmel. Beides muss ausreichendfinanziert werden, um mehr Jobs zu schaffen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Grundsatz„Gute Arbeit“ soll nicht nur hier in Deutschland gelten,sondern in ganz Europa. Dabei geht es mir um grundle-gende Errungenschaften wie den Kündigungsschutz, dieTarifautonomie oder die Maxime „Gleiche Löhne fürgleiche Arbeit“. Selbstverständlich sollte gute Arbeitüberall in Europa existenzsichernd sein.
Gute Arbeit heißt aber auch: möglichst gleiche Stan-dards in der Arbeitswelt. Das betrifft den Arbeitsschutz,die Unfallversicherung und die Sozialversicherungssys-teme gleichermaßen. Eine Vereinheitlichung der Stan-dards darf aber nicht die Absenkung unseres Niveaus be-deuten. Wir wollen ein Europa mit einheitlichen Regeln.Deshalb geht es nicht ohne Mitbestimmung. Starke Be-triebsräte und Gewerkschaften sind kein Hindernis fürden Arbeitsmarkt. Im Gegenteil: Mitbestimmung heißtmitdenken, anpacken, Verantwortung übernehmen. Alldas kann dabei helfen, die gewünschte Wettbewerbsfä-higkeit aufrechtzuerhalten. Insofern spricht nichts dage-gen, die Regeln für Mitbestimmung in Unternehmen eu-ropäischer Rechtsform auszuweiten.
Der Vergleich mit anderen Ländern zeigt: Uns geht esin Deutschland recht gut, die Erwerbstätigkeit ist hoch,und es wird viel exportiert. Leider profitieren aber nichtalle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vom Wachs-tum. Es gibt zu viele Menschen mit geringen Löhnenund Minijobs. Sorgen bereiten uns zudem die Langzeit-arbeitslosen.Gut also, dass der flächendeckende gesetzliche Min-destlohn kommt. Der Gesetzentwurf von MinisterinAndrea Nahles wird dafür sorgen, dass über 4 MillionenBeschäftigte in Deutschland bald mehr Geld in der Lohn-tüte haben werden. Darüber hinaus ist ein europäischerPakt für Mindestlöhne wünschenswert, damit Lohn- undSozialdumping europaweit bekämpft werden können.
Mindestens genauso wichtig wie der Mindestlohnsind gute Tarifabschlüsse, an die sich alle halten. Das Ta-rifpaket der Großen Koalition wird die Tarifflucht man-cher Branchen beenden. Das ist gute und gerechte Be-schäftigungspolitik. Wir machen unsere Hausaufgaben.Damit leisten wir unseren Beitrag zu einem sozialen Eu-ropa.Herzlichen Dank. Glück auf!
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2728 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
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Als nächste Rednerin rufe ich Annalena Baerbock,
Bündnis 90/Die Grünen, auf.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Europa muss sozialer werden – die-
ser Spruch eint alle, von tiefrot bis tiefschwarz. Das sieht
man heute hier, in dieser Debatte. Das sieht man auch an
den Wahlplakaten. Das Schöne an dem Spruch ist, dass
man hinter der Forderung nach einem sozialen Europa
die nationalen Defizite wunderbar verstecken kann.
Ich finde es etwas schade, dass die Linke in ihrem An-
trag nicht stärker dieses Dilemma aufgegriffen hat, dass
die EU in den Kernbereichen der Sozialpolitik keine
Kompetenz hat und in diesen Bereichen deswegen nicht
aktiv werden kann. Liebe Linke, das ist nicht so, weil die
EU neoliberal und böse ist, sondern das ist so, weil sich
die Mitgliedstaaten bei ihrer Gründung 1951 darauf ver-
ständigt haben. Als man das mit dem Lissabon-Vertrag
ein Stück weit ändern wollte – Artikel 3 des EU-Vertra-
ges –, haben ausgerechnet Sie dagegen gestimmt.
Es ist ja auch viel einfacher, alles in einen Topf zu
werfen und zu sagen: Die böse, unsoziale EU ist schuld.
In Ihrem Antrag gehen Sie zumindest etwas differenziert
vor, in Ihrem Wahlkampfvideo aber leider nicht. Da wer-
fen Sie der unsozialen EU auch noch vor, dass die Kran-
kenschwestern in Deutschland so schlecht bezahlt wer-
den und wir hier keine Kitaplätze haben. Daran ist die
EU nun aber wirklich nicht schuld.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder
Zwischenbemerkung von Frau Zimmermann?
Ja.
Bitte schön.
Vielen Dank, Frau Kollegin, dass Sie die Zwischen-frage zulassen. Ich möchte Sie etwas fragen, da Sie ge-sagt haben, das Soziale könne nicht europaweit geregeltwerden. Es geht hier nicht darum, dass wir die gleicheRente für alle Menschen in Europa fordern. Es geht zumBeispiel darum: Was erzähle ich den Truckfahrern, diehier Briefkastenfirmen aufmachen, die Scheinselbststän-digkeit fördern? Wie kann dafür gesorgt werden, dass sieinnerhalb von Europa ordentliche Arbeitsbedingungenhaben? Ist es nicht das Mindeste, dass sie ordentlicheLöhne, dass sie gleiche und faire Arbeitsbedingungenverlangen können? Das ist doch eine Frage von Europaund keine Frage der einzelnen Staaten.
Erzählen Sie diesen Leuten einmal, dass es ein Pro-blem ist, dass sich die deutsche Bundesregierung jahre-lang gegen die Entsenderichtlinie gesperrt hat. Da sichDeutschland als eines von ganz wenigen Ländern jahre-lang gegen einen nationalen Mindestlohn, gegen einengesetzlichen Mindestlohn gesperrt hat, hat die Entsende-richtlinie nicht gegriffen. Deswegen gibt es Schlupflö-cher. Erzählen Sie diesen Truckfahrern, die hier, wie Sieselbst gesagt haben, Briefkastenfirmen aufmachen,
dass keine Briefkastenfirmen aufgemacht werden sollen,dass das in der Europäischen Union zu unterbinden ist.
– Nein, seine Firmen sollen das verändern. Dafür müs-sen sich die Regierungen einsetzen, auch die Bundesre-gierung. Sie müssen die Schuldigen benennen, die sichimmer gegen die Richtlinie aussprechen. Aber Sie kön-nen doch nicht sagen – das machen Sie auch in IhremAntrag –, dass die Arbeitszeit in Europa unrechtmäßiggestaltet wird, und einfach verschweigen, dass sich diedeutsche Bundesregierung jahrzehntelang verweigert hatund stattdessen für Opt-out-Regelungen für Deutschlandgesorgt hat. Sie müssen doch differenzieren. Sie sagennur: Die EU ist unsozial.
Im Umkehrschluss bedeutet das: Das Nationale ist so-zial. So einfach ist die Welt aber nun einmal nicht.
Jetzt komme ich zu Ihrem Wahlkampfvideo zurück.Ich rege mich so sehr darüber auf, weil Ihre Europapoli-tiker es eigentlich besser wissen. Man kann die Leutedoch nicht für blöd verkaufen. Aber was machen Sie inIhrem Video? Zu Ihren ganzen schönen Forderungen,die Sie an die EU haben, egal ob die EU die Kompetenzdafür hat oder nicht, lassen Sie auch noch den Vorsitzen-den Ihrer Bundestagsfraktion sprechen, als wenn der fürdie Europawahl am 25. Mai 2014 antreten würde. Inso-fern unterscheiden Sie sich keinen Millimeter von derCDU, die im Wahlkampf Frau Merkel plakatiert.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2729
Annalena Baerbock
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– Darauf bin ich definitiv nicht neidisch. – Das beförderteben diese Politikverdrossenheit. Die Leute wollen sichnicht für dumm verkaufen lassen, wenn sie am 25. Maiwählen gehen. Sie wissen, dass sie eben nicht Merkelwählen können und auch nicht den Kollegen Gysi, son-dern diejenigen, die für das Europaparlament antreten.
Wir müssen darüber reden – da gibt es ja Differenzenin diesem Haus; das wurde bei dem Beitrag der CDU ge-rade noch einmal deutlich –, ob wir dazu bereit sind, aufdie europäische Ebene mehr Kompetenz im sozialen Be-reich zu verlagern, um eben ein Schleifen durch die Hin-tertür über die Binnenmarktregeln zu verhindern. Sie,liebe CDU, haben ganz klar gesagt, dass Sie das nichtwollen. Ich finde es sehr schade, dass Sie das nicht wol-len. Wir sagen sehr deutlich: Wir können unsere Lehrenaus der Wirtschafts- und Finanzkrise nur ziehen, wennwir bereit sind, verstärkt über soziale Mindeststandardsauf europäischer Ebene zu reden.
Das Dramatische ist ja: Wenn wir die EU zusammen-halten wollen, müssen wir dazu beitragen, dass sie einsoziales Gesicht bekommt – da sind wir ganz bei Ihnen,liebe Linke –, aber dann müssen wir auch Kompetenz-übertragung zulassen. Dann müssen Sie auch für Ver-tragsänderungen offen sein und können das nicht immereinfach pauschal ablehnen.
Wichtig ist für uns: Wer Europa sozialer machen will,muss in bestimmten Fällen sofort einen Nothilfefondsauflegen, wie zum Beispiel in Griechenland, wenn dieGesundheitsversorgung kollabiert. Das haben wir inForm des Globalisierungsfonds auch geschafft, wennUnternehmen plötzlich aus einem Land abwandern. WerEuropa sozialer machen will, muss europäische Min-deststandards einführen, nicht nur im Arbeitsrecht, son-dern auch bei den Sicherheitsleistungen. Wir brauchenda intelligente Korridorlösungen. Wer Europa sozialermachen will, muss eine soziale Wirtschaftsklausel imEU-Recht einführen. Wer Europa sozialer machen will,muss auch über stabile makroökonomische Kontexte re-den. Da können Sie sich nicht verweigern. Wir müssenin der Wirtschaftsunion vorankommen, und auch dieFrage einer Basisarbeitslosenversicherung darf dannkein Tabuthema mehr sein.
– Ich rede über ein soziales Europa. Wenn Sie das nichtkennen, tut mir das leid.Wer das Integrationsprojekt Europa nicht gefährdenwill, darf auch Europas Jugend nicht vergessen. Es istkatastrophal, wenn jeder vierte junge Mensch in Europaohne Ausbildung oder Arbeit ist. Es ist eine Schande,wenn wir für die von allen Parteien und Fraktionen pro-pagierte Jugendgarantie nur 137 Euro pro Jugendlichemzur Verfügung stellen, ein Hektar Fläche für Landwirt-schaft in der Europäischen Union aber 300 Euro be-kommt und dafür auch noch eine fehlgeleitete Agrarpoli-tik manifestiert wird. Das erklären Sie einmal denJugendlichen in Europa.
Die Redezeit, Frau Kollegin.
Wenn wir das Integrationsprojekt – das ist mein letz-
ter Satz – nicht gefährden wollen – da komme ich auf
Frau Pothmer zurück –, dann müssen wir bei MobiPro-
EU, wenn Sie alle das Programm so gut finden, jetzt ak-
tiv werden.
Dann müssen Sie jetzt unseren Antrag dazu unterstützen.
Es kann doch nicht sein, dass die Jugendlichen, die wie-
der ein bisschen Hoffnung in die Solidarität Europas ge-
setzt haben, hier in Deutschland sind und Anfang des
Jahres Anträge gestellt haben
– jetzt hören Sie doch einmal zu –, jetzt kein Geld erhal-
ten. Dadurch verlieren sie die Hoffnung in Europa wie-
der. Solange bei MobiPro-EU nicht nachgebuttert wird –
wir haben noch Haushaltsverhandlungen, da können Sie
das tun –, solange wir unseren eigenen Anforderungen
hier nicht gerecht werden, sollten wir nicht über ein ver-
stärkt soziales Europa reden.
Herzlichen Dank.
Der letzte Satz ist so lang geraten, dass die Kollegin
ihre Redezeit stark überzogen hat. – Kollege Ulrich von
den Linken möchte eine Kurzintervention machen. Bitte.
Kollegin Baerbock, eigentlich will ich Ihnen nicht er-klären, dass es Ihre Aufgabe als Teil der Oppositionwäre, die Bundesregierung zu kritisieren und nicht dieLinken, die einen vernünftigen Antrag in den Bundestageingebracht haben. Aber auch Opposition muss als neueAbgeordnete gelernt werden.Ein bisschen schwierig ist, wenn Sie hier eine künstli-che Trennung zwischen der Arbeit der Bundesregierung,der politischen Ausrichtung der Bundesregierung unddem, was die EU-Kommission macht, vornehmen. Es istdoch eindeutig, dass die Bundesregierung wesentlichdazu beigetragen hat, dass die Troika diese unsozialeKürzungspolitik in den Programmländern umgesetzt hat.
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2730 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Alexander Ulrich
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Aber dass die Bürger nicht trennen, was die EU-Kom-mission in der Troika und vorher die Bundesregierungmacht, ist doch klar. Da kann man keine künstliche Tren-nung vornehmen.Würden Sie sagen, dass das, was die Bundesregierungin Brüssel und Straßburg durchgesetzt hat, zu einem un-sozialeren Europa beigetragen hat? Würden Sie mir auchrecht geben, wenn ich sage, dass Sie diesem Kürzungs-programm hier im Bundestag zugestimmt haben?
Wollen Sie reagieren?
Natürlich hat es Auswirkungen der Austeritätspolitik
in Europa gegeben. Wir alle haben sie bisher kritisiert;
auch Teile der derzeitigen Bundesregierung kritisieren
sie. Aber Sie müssen zwischen der Frage „Was sagt die
Troika?“ und der Frage „Was wird dann umgesetzt?“
unterscheiden. Sie können nicht einfach sagen: An al-
lem, was im Süden Europas jetzt schlecht läuft, ist die
EU, die Troika oder die Austeritätspolitik schuld. – Die
Probleme mit dem Gesundheitssystem in Griechenland
sind dramatisch; das habe ich in meinem Redebeitrag ja
auch angesprochen. Da müssen wir stärker aktiv werden.
Aber es gab in Griechenland schon vorher Probleme mit
dem Gesundheitssystem – es hat auch vorher nicht funk-
tioniert –,
und es gab auch vorher schon Probleme mit der Renten-
versicherung.
Es hilft nichts, wenn wir einseitig sagen: „Daran sind
die Troika und die Austeritätspolitik schuld“, die Mit-
gliedstaaten aber sagen können: Wir sind fein raus; wir
haben hier keine Verantwortung. – Mein Appell ist: Wir
müssen ganz klar benennen, wo jede Regierung eines
Mitgliedstaates Verantwortung trägt. Auch die Bundes-
regierung trägt Verantwortung dafür, dass sie nur auf
Austerität und nicht auf eine stärkere Solidarität im
Rahmen der EU und nicht auf ein stärkeres soziales
Bewusstsein gesetzt hat; das gilt auch im Hinblick auf
einige Maßnahmen im Rahmen der Troika. Auch das
haben wir immer kritisiert.
Wir haben allerdings differenziert, auch bei unserer
Zustimmung im Deutschen Bundestag. Es ist eben nicht
so, dass man einfach sagen kann: Wir sind mit der Maß-
nahme XY nicht einverstanden, wir sind nicht damit ein-
verstanden, dass es Kürzungen im Gesundheitsbereich
gibt, und deswegen lehnen wir alle weiteren Hilfs-
programme und -pakete komplett ab, auch unter der
Maßgabe, dass Griechenland dann ganz schnell bankrott
gewesen wäre.
Als nächster Rednerin erteile ich der Kollegin
Christel Voßbeck-Kayser, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Kurz vor der Europawahl bringt die Fraktion Die Linkeeinen Antrag zum Thema „soziales Europa“ ein – einSchelm, wer Böses dabei denkt. Denn ein sozialesEuropa war und ist immer Grundlage der EuropäischenUnion gewesen.Ein soziales Europa bedeutet auch ein stabilesEuropa, nämlich ein Europa mit soliden Finanzen undharter Währung. Dies sind Voraussetzungen für sichereArbeitsplätze und dauerhaften Wohlstand.Ein soziales Europa ist auch ein Europa der Chancen:gute Bildung in ganz Europa und Bildungsabschlüsse,die EU-weit anerkannt werden; Schüler, Schülerinnen,Auszubildende, Studierende können überall in Europalernen und arbeiten.Ein soziales Europa ist auch ein gefestigtes Europa, indem schwächere Länder gestärkt werden, um wett-bewerbsfähiger zu werden.Und: Ein soziales Europa ist auch ein zukunftsfähigesEuropa. Europäische Fördergelder werden nicht mehrnur nach Himmelsrichtung, sondern nach festen Krite-rien vergeben. So können die Regionen bei der Bewälti-gung des Bevölkerungswandels unterstützt werden. Zueinem zukunftsfähigen Europa gehört auch ein gutesMiteinander von Jung und Alt.Dies alles ist Europa. Dieses Europa wird seit Jahr-zehnten durch verschiedene Programme unterstützt.
Dabei gilt für uns in der Union immer der Grundsatz„Hilfe zur Selbsthilfe“. Unterstützung gibt es nur, wenndie betroffenen Staaten Reformen durchführen und ihreFinanzen in Ordnung bringen. Irland und Portugal sindgute Beispiele, die zeigen, dass diese Form der Hilfe derrichtige Weg ist.
In Ihrem Antrag erwähnen Sie, Kollegen und Kolle-ginnen der Fraktion Die Linke, die durchaus hoheArbeitslosigkeit in unseren europäischen Nachbarlän-dern. Sie unterlassen es aber, zu erwähnen, dass die Zah-len der Arbeitslosigkeit und auch der Jugendarbeitslosig-keit in Europa aktuell sinken. Die Arbeitslosenquote inder EU ist im März dieses Jahres im Vergleich zumVorjahr von 10,9 auf 10,5 Prozent gesunken. Die Ju-gendarbeitslosenquote in der EU ist im gleichen Zeit-raum von 23,5 auf aktuell 22,8 Prozent zurückgegangen.Ich denke, diese Zahlen zeigen einen positiven Trend,der Ihnen dem Anschein nach entgangen ist.
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Christel Voßbeck-Kayser
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Sie erwähnen in Ihrem Antrag auch Kroatien, einLand mit einer Jugendarbeitslosigkeit in Höhe von49,2 Prozent. Ja, diese traurige Zahl ist richtig. Sie unter-lassen es aber auch hier, zu erwähnen, dass Kroatien erstseit dem letzten Jahr, genau erst seit Juli 2013, Mitgliedder EU ist. Diese Jugendarbeitslosigkeit ist ja nicht erstdurch die Mitgliedschaft entstanden. Dies ist eine ver-fälschte Darstellung von Tatsachen.
Richtig ist folgender Zusammenhang: Das Wirt-schaftswachstum in Europa liegt in diesem Jahr bei1,2 Prozent. Länder wie Irland und Portugal, die icheben schon genannt habe, profitieren hiervon, sie habennämlich ein Wachstum zu verzeichnen. Was positivesWachstum bedeutet, das haben wir hier bei uns inDeutschland erlebt: Es führt zu mehr Beschäftigung unddamit zur Reduzierung der Zahl der Arbeitslosen. Auchdie aktuellen Zahlen aus Portugal und Irland belegen dasdoch – vergleichen wir es mit den Zahlen vom Vorjahr –:Portugal hatte 2013 eine Arbeitslosenquote von17,4 Prozent und liegt jetzt bei 15,2 Prozent. Irland hatteim Vorjahr eine Arbeitslosenquote von 13,7 Prozent undliegt jetzt bei 11,8 Prozent. Dies ist auch der Grund,warum beide Länder es selbstständig geschafft haben,den Rettungsschirm zu verlassen. Das zeigt, dass wir mitdieser Politik auf dem richtigen Weg sind.
Deshalb sind die in Ihrem Antrag getroffenen Aussagen,liebe Kollegen und Kolleginnen der Fraktion Die Linke,nicht zutreffend.Ich darf auch daran erinnern, dass im März 2010 einTreffen der Staats- und Regierungschefs der EU statt-gefunden hat, auf dem die Strategie „Europa 2020“ be-schlossen wurde. Ich will jetzt nicht näher auf die Kern-ziele eingehen; aber mit diesem Programm, das jetzt fürdie nächsten sieben Jahre gilt, werden mehr als 80 Mil-liarden Euro für diese Kernziele und damit für die Men-schen in ganz Europa zur Verfügung gestellt. Von diesen80 Milliarden Euro gehen mindestens 20 Prozent derMittel in die soziale Eingliederung. Ich finde, besserkann man ein soziales Europa nicht beschreiben.
Ich darf auch daran erinnern, dass jetzt die achte För-derperiode des Europäischen Sozialfonds – das ist schonmehrfach erwähnt worden; das erste Mal ging er 1958 anden Start – beginnt. Der Europäische Sozialfonds, liebeKollegen und Kolleginnen, hat sich mit seinen Schwer-punkten immer an den aktuellen sozialen und wirtschaft-lichen Notwendigkeiten der Mitgliedstaaten und ihrerMenschen orientiert.All diese von mir genannten Maßnahmen beschreibensehr wohl ein soziales Europa. Wir müssen den einge-setzten europäischen Mitteln aber auch Zeit geben, umzu wirken. Der positive Trend bei Wachstum und Be-schäftigung bestätigt das.Sie können eines mitnehmen, Kollegen und Kollegin-nen der Fraktion Die Linke: Die Bundesregierung unterunserer Kanzlerin Angela Merkel wird sich auch weiter-hin selbstverständlich für „Europa 2020“ und damit fürein soziales Europa einsetzen.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort Alexander
Ulrich, Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beimanchen Vorrednern müssen wir mal wieder anfangenein bisschen zu sortieren.
Nach einer von den Finanzmärkten verursachten Wirt-schaftskrise rutschte die Europäische Union ab in einesoziale Krise. Der Grund dafür war eine völlig verfehltePolitik in der Krise. Frau Baerbock, daran trägt natürlichdie Bundeskanzlerin, Angela Merkel, eine Hauptschuld.Natürlich ist das so.
Nicht die Verursacher der Krise wurden zur Rechen-schaft gezogen, nein, die Bürgerinnen und Bürger in Eu-ropa mussten die Zeche zahlen für die perverse Zockereiauf den Finanzmärkten. Diese unsoziale, zum Teil men-schenverachtende Politik
wurde und wird von der Troika in den Programmländernundemokratisch durchgesetzt – mit großer Unterstützungder Bundesregierung, Frau Baerbock,
ob es die schwarz-gelbe Bundesregierung war mit großerUnterstützung der SPD oder die schwarz-rote jetzt mitgroßer Unterstützung der Grünen. Sie alle hier sind mit-verantwortlich für Massenarbeitslosigkeit, Perspektiv-
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Alexander Ulrich
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losigkeit vieler Millionen Jugendlicher in Europa undMassenarmut.Der Kurs der Bundesregierung und ihre Kürzungs-politik bedrohen Europa. Noch nie ist es wirtschaftlicherfolgreich gewesen, sich aus einer Krise herauszuspa-ren. Fast 20 Millionen Menschen sind in den Ländernder Euro-Zone erwerbslos. Das ist ein Anstieg um70 Prozent seit 2007.Wenn wir die soziale Lage in Europa beurteilen, danndürfen wir aber nicht nur in die anderen Länder schauen.Auch in Deutschland verschlechtert sich diese rasant.Wie der Paritätische Wohlfahrtsverband gerade in sei-nem Jahresgutachten feststellte, ist jeder siebte Bürgerarmutsgefährdet bzw. arm.
Herr Kollege, Kollege Sarrazin fragt, ob er eine Zwi-
schenfrage stellen darf.
Herr Sarrazin immer.
Verehrter Kollege Ulrich, ich würde Ihnen gerne die
Frage stellen, ob Sie mir skizzieren können, wie aus Ih-
rer Sicht die Leistungen des griechischen Staates für
Rentner, Krankenhäuser, Bedienstete, Uniformträger,
Pensionäre und Lehrer ausgesehen hätten, wenn die
Europäische Union mit Zustimmung des Deutschen
Bundestages Griechenland keine Kredithilfen in Höhe
von insgesamt 200 bis 250 Milliarden Euro zur Verfü-
gung gestellt hätte,
und ob Sie glauben, dass ein griechischer Staat, der an
den Märkten keine Schulden aufnehmen kann, ohne
Kredithilfen überhaupt noch in der Lage gewesen wäre,
seine sozialen Leistungen zu erbringen.
Herr Sarrazin, vielen Dank für die Frage; denn damitkann ich auch Herrn Strengmann-Kuhn antworten, der inseiner Rede ja auch auf das Abstimmungsverhalten imBundestag eingegangen ist.Es ist nun einmal so: Die Troika wusste sehr wohl,wie man Löhne, Renten usw. in Griechenland kürzt, siewusste aber nicht, dass dort offensichtlich ein immenserReichtum vorhanden ist. In Griechenland gibt es näm-lich einen unheimlichen privaten Reichtum. Die Reichensind aber ungeschoren davongekommen. Da hätte manherangehen müssen. Das wäre notwendig gewesen, umden Staatshaushalt in Ordnung zu bringen.
Das haben die Grünen aber nicht verstanden.
Ihre Solidarität gilt den Finanzjongleuren, der Finanzin-dustrie und den Großkonzernen. Unsere Solidarität giltden Menschen in Griechenland, und deshalb haben wirmit Nein gestimmt. – Vielen Dank.
Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat also festge-stellt, dass auch in Deutschland jeder Siebte in Armutlebt bzw. arm ist, dass jeder vierte Beschäftigte fürDumpinglöhne arbeitet bzw. in einem prekären Be-schäftigungsverhältnis steht und Altersarmut auch inDeutschland für viele Menschen ein immer größeresProblem wird. Dagegen tut diese Bundesregierung reingar nichts – auch nicht mit dem Rentenpaket.
Das europäische Sozialmodell, ein ganz wesentlicherFaktor für die Stabilität des europäischen Hauses, wirdvon der EU-Kommission und der deutschen Bundes-regierung massiv beschädigt.Wie sieht die Beteiligung der Krisenverursacher ander Bewältigung der Krise aus? Wo ist der Beitrag derVermögenden und Spitzenverdiener? Das reichste 1 Pro-zent der Gesellschaft besitzt fast 40 Prozent des gesam-ten Vermögens. Das Vermögen der Millionäre in Europaübersteigt mit 14 Billionen Euro die gesamte Staats-verschuldung bei weitem. Hier müsste man endlich her-angehen.
Stattdessen wird die Kluft zwischen Arm und Reich inDeutschland und in Europa immer größer. Wo sind dieAktivitäten der Bundesregierung? Nichts! Nada! Von derCDU/CSU erwartet ja schon niemand mehr Aktivitätenfür ein soziales Europa, aber für die SPD sollte das S inihrem Namen doch noch irgendeine Bedeutung undAktualität haben.Weil die Zerstörung des europäischen Sozialmodellseinigen offenbar immer noch nicht weit genug geht, solljetzt ein Handelsabkommen TTIP mit den USA verhan-delt werden. Das ist ein weiterer Angriff auf die Arbeit-nehmerrechte, die Gesundheit, die öffentlichen Leistun-gen, den Umweltschutz und die Demokratie. TTIP mussgestoppt werden!
Das ist nicht unser Europa und nicht das Europa, dasdie Bürgerinnen und Bürger wollen. Ein Europa der
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2733
Alexander Ulrich
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Banken und Konzerne muss scheitern. Die Konkurrenzum die niedrigsten Löhne und Sozialleistungen in Eu-ropa schadet allen – auch den Menschen in Deutschland.Daher ist es notwendig, dass die unsoziale Kürzungs-politik sofort beendet wird und die Troikakürzungs-pakete zurückgenommen werden. Wir brauchen eineUmverteilung des gesellschaftlichen Reichtums vonoben nach unten durch mehr Steuergerechtigkeit.
Wir brauchen ein europaweites Investitionsprogrammzur Schaffung von guter Arbeit und zur Umsetzung einessozial-ökologischen Umbaus. Wir brauchen einen euro-paweiten Mindestlohn in Höhe von 60 Prozent des natio-nalen Durchschnittseinkommens sowie ein gemeinsamesVorgehen in der EU gegen Armut durch soziale Mindest-standards.Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Die in-transparenten Verhandlungen mit den USA zu TTIPmüssen sofort beendet werden.
Die Linke will weder ein Zurück zu den Nationalstaatennoch eine EU der Banken und Konzerne. Wir wollen einsoziales, solidarisches, demokratisches und friedlichesEuropa, ein Europa der Menschen. Dafür streiten wirkonsequent, nicht nur bei den Europawahlen. Wer einsoziales Europa will, muss den Reichen etwas nehmen.Vielen Dank.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort Waltraud
Wolff, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! In einer Zitate-datenbank stieß ich bei der Suche nach dem Wort „Kri-tik“ auf den ehemaligen britischen Premier BenjaminDisraeli. Ich kannte den Mann nicht, aber ich fand zweiganz spannende Zitate von ihm. Das erste lautet: „Es istleichter, Kritik zu üben, als recht zu haben.“ Das zweiteheißt: „Es ist viel einfacher, Kritik zu üben, als etwasanzuerkennen.“ – Wenn man nicht wüsste, dass Disraeliim 19. Jahrhundert gelebt hat, könnte man meinen, erkommentiert den Antrag der Linken.
Dazu passt auch, dass der Kollege Ulrich die Frage desKollegen Sarrazin überhaupt nicht beantwortet hat. Sieist nämlich von den Linken gar nicht zu beantworten.
Beim Lesen des Antrags der Linken „Kürzungspolitikbeenden – Soziale Errungenschaften verteidigen – So-ziales Europa schaffen“ entsteht der Eindruck, dass dieEU für Sozialdumping verantwortlich sei und diese Poli-tik von der Troika ausgelöst worden sei.Liebe Kolleginnen und Kollegen, man kann die Poli-tik der Troika kritisieren, keine Frage.
Fakt ist, dass wir eine Finanz- und Schuldenkrise hatten– die Schuldigen dafür sind ja wohl anderswo zu suchen –,
auf die die Troika erst reagiert hat.
Fakt ist, dass ein Land mit einem übergroßen öffentli-chen Sektor, das dazu keine oder kaum Steuereinnahmengeneriert, selber ein dickes hausgemachtes Problem hat.Das ist so.Natürlich kann man die Frage stellen, ob die Maßnah-men zur Bekämpfung der Krise in Europa richtig ge-wählt sind. Wir sagen: Konsolidierung ist notwendig.Mindestens genauso notwendig ist es aber, auch kon-junkturelle Anreize zu setzen. Sie haben in einem recht:Arbeitsmarktpolitische Aktivitäten – das finde ichauch – dürfen sich nicht nur auf die Mobilität von Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmern beschränken. Na-türlich brauchen wir Wachstumsperspektiven und Zu-kunftsinvestitionen. Natürlich müssen wir gerade jetztjungen Menschen helfen, einen Einstieg in Arbeit zu fin-den. Wir brauchen beides. Darum finde ich es ziemlichmies, dass manche Kollegen sich hier hinstellen unddiese beiden Dinge gegeneinander ausspielen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der EuropäischeSozialfonds ESF hat in der letzten Förderperiode von2007 bis 2013 9,4 Milliarden Euro zur Verfügung ge-stellt. Gefördert wurden insbesondere die Eingliederungbenachteiligter Menschen in den Arbeitsmarkt und auchWeiterbildungsmaßnahmen. 490 Programme wurden da-von finanziert. Zur Förderung von sprachgestütztenKursen, die berufsbezogen eingeführt wurden, hat dasBundesministerium für Arbeit und Soziales die Mittelwiederholt aufgestockt, gerade weil die Nachfrage sogroß gewesen ist. Das ist ganz konkrete Hilfe für dieMenschen, die eine Arbeit suchen.
Gerade in den südeuropäischen Ländern ist der ESFein ganz wichtiger Baustein der Arbeitsmarktpolitik.Über 15 Millionen Menschen in Europa werden jedesJahr mit 10 Milliarden Euro aus dem ESF unterstützt.Dabei steht natürlich die Bekämpfung der Jugendarbeits-losigkeit für uns im Fokus; das ist überhaupt keine
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Waltraud Wolff
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Frage. Wir haben Regionen in Europa – das ist schon ge-sagt worden – mit mehr als 25 Prozent Jugendarbeitslo-sigkeit. Deswegen werden in der nächsten Förderperiodemindestens 6,4 Milliarden Euro für die Jugendbeschäfti-gungsinitiative eingesetzt. 3 Milliarden Euro dafür kom-men aus den Mitteln des ESF. Um auch ganz schnell hel-fen zu können, werden die Mittel direkt von Beginn derFörderperiode an zur Verfügung stehen. Das ist Hilfe,die bei den Menschen ankommt. Deshalb sollte manEuropa nicht immer nur herunterreden und allesschlechtmachen.
Meine Damen und Herren, die SPD hat immer für einsoziales Europa gestanden, und Europa hat auch eine so-ziale Dimension. Der Europäische Sozialfonds ist einganz kleines Beispiel dafür.Natürlich kann Europa noch besser werden. Wir allewollen es verbessern, und wir wollen auch, dass das so-ziale Netz enger gestrickt wird. Ein soziales Europa undwirtschaftliche Dynamik sind keine Gegensätze. Das so-ziale Europa ist vielmehr die Voraussetzung für einenguten wirtschaftlichen Erfolg.
Davon bin ich zutiefst überzeugt, und dafür treten wirSozialdemokraten auch bei den Europawahlen am25. Mai an.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bedanke michfür Ihre Aufmerksamkeit und mache Platz für dienächste Rednerin.
Das ist sehr sympathisch, zumal es schon auf eine
leichte Überziehung der Redezeit hinausgelaufen war.
Als nächster Rednerin erteile ich der Kollegin Antje
Lezius, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir be-schäftigen uns heute angesichts des vorliegenden An-trags der Kollegen von den Linken mit einem großenProjekt, dem der europäischen Integration. Europa – dasist die seit über 60 Jahren erfolgreiche Idee einer Frie-densordnung auf europäischem Boden, und das kannman gerade im Hinblick auf die Situation in der Ukraineund am heutigen 8. Mai, dem Jahrestag des Kriegsendes,nicht oft genug betonen.
Und es ist noch mehr: Nach dem Ende des ZweitenWeltkrieges ist es uns durch die europäische Integrationgelungen, in allen Politikfeldern Kooperation unter denMitgliedstaaten herzustellen und den ursprünglich alsWirtschaftsgemeinschaft gemeinten Zusammenschlussauch politisch voranzubringen. Wer heutzutage in derEU jung ist, hat keine Grenzen mehr erlebt, kennt nurden Euro als Zahlungsmittel und lebt mit wesentlichenFreiheiten, die für viele von uns selbstverständlich ge-worden sind. Darüber wird oft vergessen, dass der Inte-grationsprozess mühsam war und auch aktuell in Gefahrist, von Populisten von rechts und links infrage gestelltzu werden. Das, meine Damen und Herren, ist sehrschade.Ihr Antrag, werte Kollegen, bezieht sich auf eineganze Reihe von Dingen, die Sie wahrscheinlich anEuropa nicht schätzen. Sie glauben sich in Ihrer Hoff-nung auf sozialen Fortschritt und Zusammenarbeit ent-täuscht. Aber die Realität sieht anders aus.
Wir leben in einem Europa der Solidarität. Seit dem Be-ginn der Euro-Krise versuchen die europäischen Staatengemeinsam, diese zu meistern. Dies gelingt auch, trotzder linken Unheilsprophezeihungen. Mithilfe einer um-fassenden Gesamtstrategie wurde versucht, nicht nurMechanismen zur Krisenbewältigung zu implementie-ren, sondern auch Krisen durch präventive Maßnahmenzu vermeiden.Deutschland hat als wirtschaftlich starker Mitglied-staat und Stabilitätsanker eine besondere Verantwortungund wird auch in Zukunft alle Möglichkeiten nutzen, umein politisch und wirtschaftlich starkes und sozial ge-rechtes Europa zu schaffen. Wir sind uns klar darüber,dass immer noch einige Mitgliedstaaten unsere Hilfe be-nötigen, und wir leisten diese Hilfe, weil wir an Europaglauben.
Aber auch das muss gesagt werden: Die betroffenenStaaten müssen zunächst selbst versuchen, ihre Finanzendurch eigene Anstrengungen wieder in Ordnung zu brin-gen. Das gebietet allein die Fairness gegenüber der Ge-meinschaft.
Damit ist nicht zuletzt gemeint, dass beispielsweise imFalle Griechenlands der Staat effizienter gestaltet undzum Beispiel – darin gebe ich Ihnen recht – auch Steuer-hinterziehung effektiv bekämpft werden muss. Dies istim ureigenen Interesse gerade der Bevölkerung; dennwenn der Staat mehr einnimmt, kann er auch mehr aus-geben, zum Beispiel für die öffentliche Daseinsfürsorge.Das ist keine Frage der Anwendung von Marktmecha-nismen, sondern von Bürgersinn.Deutschland hat seinen Weg durch die Euro-Krise ge-funden. Auch wir haben unseren Bürgern viel abver-langt. Aber das hat sich gelohnt; denn heute verzeichnenwir Rekordbeschäftigung. Gleichzeitig haben wir mit
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2735
Antje Lezius
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5,1 Prozent bzw. 2,9 Millionen Erwerbslosen im April2014 die niedrigste Arbeitslosigkeit seit der Wiederver-einigung
und europaweit mit 7,4 Prozent die niedrigste Jugend-arbeitslosigkeit. Sie sehen hier mehr als deutlich, wiesich vernünftige Politik mit Augenmaß letzten Endesauszahlt.
Auch in der aktuellen Debatte über den Mindestlohnkönnen wir von anderen Ländern lernen, wie es nichtgeht. Von überzogenen Löhnen, die Unternehmen nichtleisten können, profitiert am Ende niemand. In Frank-reich liegt die Arbeitslosenquote aktuell doppelt so hochwie bei uns, die Jugendarbeitslosigkeit bei sage undschreibe 25 Prozent.Die kluge deutsche Arbeitsmarktpolitik der vergange-nen Jahre hat erkannt, dass gerade Berufsanfänger nichtunbedingt von einem Mindestlohn profitieren, zum Bei-spiel weil es ihnen an Berufserfahrung fehlt. Das hat da-mit zu tun, dass sich Unternehmer genau ausrechnenmüssen, wie produktiv ein Arbeitsplatz sein muss, damiter sich lohnt. Wenn diese dann feststellen, dass er sichnicht lohnt, dann wird er eben nicht besetzt. Deswegenwollen wir beim Mindestlohn eine Mindestaltersgrenzeeinziehen, weil die jungen Leute eine Ausbildung ma-chen sollen, anstatt sich von hohen Stundenlöhnen einersofort aufgenommenen Arbeit verführen zu lassen. Wirwissen schließlich, dass Qualifikation besser vor Ar-beitslosigkeit schützt, und Arbeit schützt am besten vorArmut.
Die Strategie „Europa 2020“ der Europäischen Unionsetzt darauf, bis Ende des Jahrzehnts so viele Menschenwie möglich in Arbeit zu bringen. Hierzu gibt es einBündel an Maßnahmen, die sich unter anderem mit denBereichen Beschäftigung, Bildung und soziale Inklusionbefassen. Die dafür vorgesehenen Mittel des Europäi-schen Sozialfonds sind dabei darauf ausgelegt,verschiedene Projekte zu koordinieren und damit Be-schäftigung zu fördern. Allein Deutschland stehen zwi-schen 2014 und 2020 etwa 6,3 Milliarden Euro zur Ver-fügung, davon allein 1,3 Milliarden Euro für sozialeIntegration und Armutsbekämpfung. Europaweit beträgtdiese Summe rund 10 Milliarden Euro, die aus nationa-len Mitteln noch aufgestockt wird.Allerdings wird bemängelt, dass es auf nationalerEbene häufig problematisch ist, die Mittel auch in vol-lem Umfang abzurufen, zum Beispiel in Bulgarien undRumänien, wo es massive Probleme in der öffentlichenVerwaltung gibt. Im Falle Rumäniens wurden nur bis zu30 Prozent der zur Verfügung stehenden Mittel abgeru-fen. Hier müssen wir ansetzen und Hilfestellung leisten,damit Gelder auch dort ankommen, wo sie benötigt wer-den.Maßnahmen, die aus Mitteln des ESF finanziert wer-den, richten sich daher ausdrücklich auch an die Systemeder beruflichen Bildung und haben die Verbesserung öf-fentlicher Dienstleistungen zum Ziel. Auch direkteAngebote wie Qualifizierungsmaßnahmen und die Un-terstützung von Jugendlichen beim Übergang von derSchule in das Berufsleben werden gefördert. Die Bun-desagentur für Arbeit plant weiterhin, den Ausbau einerBeratungsstruktur zur beruflichen Orientierung in denje-nigen Ländern voranzubringen, die hier Nachholbedarfhaben. So fördern wir aktiv den Abbau der Jugend-arbeitslosigkeit.
Neben guter Arbeitsmarktpolitik haben wir inDeutschland das europaweit vorbildlichste System derdualen Ausbildung. Nirgendwo sonst gibt es einen An-satz, der akademische und praktische Ausbildung in denBetrieben verbindet. Damit auch Jugendliche aus ande-ren europäischen Staaten diese Art der Ausbildung ken-nenlernen können, gibt es das Programm MobiPro; dieKollegen von den Grünen haben bereits darauf hinge-wiesen. Es fördert Jugendliche, die einen Blick über denTellerrand werfen möchten. Wir freuen uns darüber, dassdieses Angebot so gut angenommen wird. Wir werdenuns im Laufe der aktuellen Haushaltsberatungen bemü-hen, den jungen Leuten so gut wie möglich gerecht zuwerden. Ministerin Nahles hat hier bereits positive Si-gnale gegenüber dem Fachausschuss gegeben, wofür ichdankbar bin.
Gemeinsam wollen wir versuchen, das Vertrauen derBürger in die europäischen Institutionen wiederherzu-stellen. Frieden, Freiheit und Stabilität sind die Grund-werte dieses europäischen Einigungswerkes. Gerade am8. Mai sollten wir alle dankbar sein und daran denken,dass sich dieses Europa auch ganz anders hätte entwi-ckeln können, auch Sie, liebe Kollegen von der Linken.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort
Dr. Matthias Bartke, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Wir Sozialdemo-kraten glauben nicht, dass die europäische Krisenpolitikder letzten Jahre alternativlos war. Nur, eines muss manschon sagen: Der Kurs zeigt jetzt erste positive Verände-rungen. Griechenland hat im vergangenen Jahr zum ers-ten Mal in seiner Geschichte einen Leistungsüberschussvon 1,25 Milliarden Euro erwirtschaftet.
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Dr. Matthias Bartke
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Auch im Krisenland Spanien ist ein Silberstreif amHorizont sichtbar. Die Produktivität erhöht sich, und derExport ist in den vergangenen drei Jahren um 20 Prozentgestiegen. Frau Voßbeck-Kayser hat auf die positivenEntwicklungen in Irland und Portugal hingewiesen. Eswäre daher aberwitzig, diese Politik genau in dem Mo-ment umzukehren, in dem sie erste Früchte trägt.
Genau das aber fordert der Antrag der Linkspartei.Die Anträge der Linken und der Grünen, vor allemder der Grünen, benennen jedoch zu Recht ein Thema,das uns alle besorgt: die Situation der Jugendlichen inden Krisenländern. In elf Ländern der EU liegt die Ju-gendarbeitslosigkeit bei über 25 Prozent. In Griechen-land und Spanien liegt sie sogar bei über 50 Prozent. Dasist nicht nur ökonomisch betrachtet eine Katastrophe,sondern auch in politischer und pädagogischer Hinsicht.Die meisten betroffenen Jugendlichen verbinden mit Eu-ropa nicht mehr die Werte Chancengerechtigkeit,Gleichberechtigung und Toleranz; sie verbinden mit Eu-ropa eher Perspektivlosigkeit, Enge und Chancenunge-rechtigkeit. Da müssen wir gegensteuern.
Und das tun wir auch. Die Bundesregierung geht mit ih-rem Sonderprogramm MobiPro-EU den richtigen Weg.
MobiPro-EU bietet europäischen Jugendlichen einePerspektive in Deutschland. Es war schon klar, dass die-ses Programm attraktiv für Jugendliche in anderen EU-Ländern sein könnte. Dass wir aber insbesondere in denletzten Monaten mit Anträgen fast überrannt wurden, ha-ben wir nicht erwartet. Bundesarbeitsministerin AndreaNahles hat gestern im A-und-S-Ausschuss beeindru-ckend dargelegt, wie bemüht alle Seiten sind, dem gro-ßen Ansturm auf das Programm gerecht zu werden. DasErgebnis ist beeindruckend. Der Förderansatz allein fürdas laufende Jahr 2014 wurde in unterschiedlichenSchritten und durch unterschiedliche Maßnahmen in ei-nem Kraftakt von ursprünglich 33 Millionen Euro auffast 100 Millionen Euro aufgestockt.
Das ist eine Verdreifachung. Es wurde verabredet, dassalle Anträge, die bis zum 8. April eingereicht wurden,ohne Wartezeit beschieden werden. Das ist ein finanziel-ler Kraftakt, der in diesen Zeiten seinesgleichen sucht.Die Haushälter müssen diesen Regelungen zwar nochzustimmen, aber ich bin mir ganz sicher, dass sie dasauch tun werden.
Eines ist aber natürlich auch klar: Das Problem derJugendarbeitslosigkeit in Europa kann nicht in Deutsch-land gelöst werden. Das sagt auch der Antrag der Grü-nen durchaus zutreffend. Frau Pothmer, zu Ihrer Lang-intervention möchte ich Ihnen aber ganz grundsätzlichsagen: Wenn in einem Programm die Mittel ausgegebensind, dann kann man nicht einfach noch mehr ausgeben,jedenfalls nicht, wenn man verantwortliche Finanzpoli-tik macht.
Sie sollten daher anerkennen, dass die Bundesregie-rung große Anstrengungen geleistet hat, der enormenNachfrage nachzukommen. Bis April dieses Jahreshaben 9 000 junge Menschen insgesamt über 42 000 An-träge gestellt. Niemand, der einen Antrag vor dem 8. Ap-ril gestellt hat, muss warten. Alle werden bedient. Dieje-nigen, die danach kommen, wussten um den Mittelstopp.
Herr Kollege, die von Ihnen eben angesprochene Frau
Kollegin Pothmer würde gerne etwas sagen. Darf sie das
jetzt?
Aber gerne.
Bitte.
Herr Kollege, wir sind uns beide einig, dass das Pro-
gramm MobiPro durchaus ein richtiger Ansatz ist. Es
war doch zu erwarten, dass es eine gewisse Zeit braucht,
bis dieses Programm bekannt wird und dann auch ange-
nommen werden kann. Finden Sie es vor dem Hinter-
grund, dass das Programm jetzt endlich ans Laufen
kommt, richtig, dass wir jetzt, am Erfolgspunkt, das Pro-
gramm stoppen und bis zum Jahr 2015 nichts machen?
Glauben Sie wirklich, dass dieses Stop-and-go funktio-
nieren kann? Nennen Sie mir einen Bildungsträger, der
bereit ist, eine Infrastruktur an Räumlichkeiten und an
Personal vorzuhalten, wenn er noch nicht einmal weiß,
ob er 2015 wieder zum Zuge kommen kann. Ein erhebli-
cher Teil dieser Bildungsträger hat Kooperationsverträge
mit den Bildungsträgern vor Ort geschlossen. Am Ende
geht es um 2 000 Personen in ganz Europa. Glauben Sie
wirklich, dass eine entsprechende Infrastruktur über-
haupt aufgebaut werden kann, wenn es immer wieder
dieses Stop-and-go gibt?
Frau Pothmer, Sie sagen das jetzt zum dritten Mal:gestern im Ausschuss, eben in Ihrer Langinterventionund jetzt noch einmal. Dadurch wird es aber nicht besser.
Ich bin am 22. September 2013 zum Bundestagsabge-ordneten dieser Legislaturperiode gewählt worden. FrauNahles ist erst seit kurzem Ministerin. Ich kann nur sa-gen, dass es mich sehr beeindruckt hat, wie flexibel die-ses Ministerium mit den großen Anforderungen umgeht.Dass diese Entwicklung absehbar ist, wussten Sie natür-lich ganz genau; im Nachhinein ist man ja immer
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Dr. Matthias Bartke
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schlauer. Ich kann nur sagen: Wir können natürlich nurauf die aktuellen Situationen reagieren.
Wenn Sie sich in Ihrem Antrag bezüglich MobiPro-EU ausschließlich auf die Förderpause beziehen, dannfinde ich das schlicht peinlich; denn MobiPro-EU ist daseinzige Programm seiner Art in ganz Europa – das neh-men Sie bitte zur Kenntnis –, mit dem Fördermittel einesStaates ausschließlich dafür eingesetzt werden, Jugendli-che anderer Staaten zu fördern. Ich finde das großartig,und ich lasse mir das von Ihnen auch nicht schlechtre-den.
Wichtig sind nicht nur der arbeitsmarktpolitische undder sozialpolitische Nutzen dieses Programms, sondernauch sein europäischer und völkerverbindender Geist.Junge Menschen, die in fremden Ländern gelebt haben,sind immun gegen Fremdenhass und Aggression.
Daran heute, am 8. Mai 2014, 69 Jahre nach Ende desZweiten Weltkrieges, zu erinnern, ist mir wichtig.
Ich selber war als junger Mensch ein Jahr im Schüler-austausch in den USA; das ist über 30 Jahre her. Bei al-lem Hader, den man fürwahr häufig mit der Politik derUSA haben kann, ist mir bis heute eines geblieben: eingroßes Herz und ein großes Verständnis für die Men-schen in diesem tollen Land. Ich bin mir ganz sicher,dass es den Teilnehmern von MobiPro-EU aus ganz Eu-ropa genauso mit Deutschland gehen wird.Ich danke Ihnen.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort Tobias
Zech, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Portugal:Ausstieg in voller Fahrt“. Noch vor drei Jahren hättenwir mit dieser Schlagzeile etwas anderes assoziiert. Wirhätten damit assoziiert, dass ein Land aufgegeben wird.Wir hätten damit assoziiert, dass ein Land vielleicht dieEuro-Zone verlassen muss. Der Titel, den ich Ihnen ge-rade präsentiert habe, stammt aber von gestern, 7. Mai2014, Zeit. „Ausstieg in voller Fahrt“ bezeichnet denAusstieg aus dem EU-Rettungsschirm. Nach Irland undSpanien steht auch Portugal wieder auf eigenen Beinen.n-tv sagt: „Portugal stellt sich wieder in den Wind“. DerRückenwind, den wir all diesen Ländern wünschen, wirdauch die anderen betroffenen Länder wieder auf festenBoden stellen.Damit ist die Krise garantiert noch nicht überwunden.Aber der Ausstieg Portugals zeigt ganz deutlich, dasswir auf dem richtigen Weg sind,
auf einem Weg, den die europäischen Länder vor allemauf der Basis einer stringenten Haushaltsdisziplin ein-schlagen konnten. Heute haben Investoren wieder Ver-trauen in das Land. Das portugiesische Haushaltsdefizitkonnte auf 4,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts hal-biert werden. Das Wichtigste: Die Portugiesen konntenihre Glaubwürdigkeit und auch ihr Selbstvertrauen zu-rückgewinnen. Auch wenn Portugal weiterhin extremsparen muss, zeigt sich, dass die durchgeführten Maß-nahmen, so bitter sie im Einzelnen sind, richtig undwichtig sind.Liebe Kollegen von der Linken, Sie kritisieren in Ih-rem Antrag, dass es kein soziales Europa mehr gibt.Stimmt das denn? Der Sparkurs verlangte den Menschenzwar Entbehrungen ab, aber diese Entbehrungen warenund sind weiterhin notwendig. Wir können nicht so tun,als hätte es diese Krise nicht gegeben.Wir diskutieren in etwa acht Minuten über ein ganzwichtiges Thema, nämlich darüber, wie wir mit denFlüchtlingen aus Syrien umgehen. Europa hat einen Zu-strom an Flüchtlingen zu verkraften. Wir sind für dieWelt eine Insel der sozialen Gerechtigkeit, eine Insel derSicherheit und eine Insel der Demokratie. Das lassen wiruns von Ihrem Antrag nicht kaputtreden.
Ich denke, das kann man heute, am 8. Mai – der KollegeBartke hat es betont –, noch einmal unterstreichen.Wir haben – jetzt muss ich mich leider wiederholen,aber es ist wichtig – drei große Projekte in Europa, diewir auch als Deutschland unterstützen, nämlich den Eu-ropäischen Sozialfonds, MobiPro-EU und EURES.Der Europäische Sozialfonds ist ein Fonds, in den alleeinzahlen, um die Mittel denjenigen, die es am drin-gendsten brauchen, egal in welchem Land, auszuzahlen.Mehr als 10 Milliarden Euro jährlich stellt die EU zurVerfügung. Das sind mehr als 10 Prozent des Gesamt-haushalts. Dazu kommen noch Gelder der Mitgliedstaa-ten. Damit wird jährlich 10 Millionen Menschen europa-weit geholfen.Der frühverrentete polnische Arbeitnehmer, wegen ei-ner missglückten Hüftoperation mit Anfang 40 entlas-sen, wird im Rahmen eines ESF-Programms umge-schult. Der spanische Mechaniker, der kurz vor derInsolvenz steht, wird unterstützt. Ebenso profitiert diegriechische Mutter, die nach der Elternzeit erst nach ei-nigen Schulungen den Wiedereinstieg ins Berufslebenfindet. Der ESF greift also genau dort ein, wo die EU ge-braucht wird: bei den Menschen, am Arbeitsplatz, in derBildung, in der Familie.Auch hier gibt es natürlich noch Verbesserungsbedarf,wenn es darum geht, die Mittel vollständig auszuschöp-
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Tobias Zech
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fen, vor allem in bestimmten Ländern; ich denke da anRumänien, wo wir langsam in einen Verbesserungspro-zess eintreten. Aber wir haben schon viel erreicht undwerden natürlich mit Nachdruck weiter daran arbeiten.Nächstes Beispiel: EURES. Das EURES-Netz bietetInformationen, Beratung, Vermittlung für Arbeitskräfteund Arbeitgeber, die vom Recht auf Freizügigkeit Ge-brauch machen möchten. EURES hat derzeit ein Netzvon mehr als 850 – 850! – Beratern, die in täglichemKontakt mit Arbeitsuchenden und Arbeitgebern in ganzEuropa stehen.Ihre Kritik geht dahin, dass Sie diese Projekte für un-terfinanziert halten. Sie sehen sie als unverbindlich anund meinen, dass sie lediglich die Mobilität fördern.Man kann einmal darauf hinweisen, dass 3,1 Prozent derEU-Arbeitnehmer in einem anderen Land arbeiten. An-gesichts von 3,1 Prozent kann, glaube ich, ein bisschenFörderung von Mobilität nicht schaden. Aber – das istmir wichtig und ist auch für die CDU/CSU wichtig –was wir damit nicht fördern wollen – das haben wir nichtvor, und das tun wir auch nicht –, ist ein Braindrain aufder europäischen Fachkräfteebene. Es geht nicht an,Fachkräfte aus ihren Heimatländern abzuziehen. Ein Ab-ziehen wäre viel zu kurzfristig gedacht und würde uns ineinigen Jahren mit immensen Kosten belasten. Es ist unsdaher daran gelegen, die Nationen aus sich heraus wie-deraufzubauen.Dafür ist zum einen der Europäische Sozialfonds da,der die Menschen in ihren Heimatländern unterstützt.Zum anderen bietet EURES die Möglichkeit, wenigstenseinige Jahre Berufserfahrung in einem anderen Land zusammeln. Die wenigsten verlassen ihre Heimat, ihre Fa-milie, ihre Umgebung, ihre Sprache, ihre Sozialisationgern; viele tun es aber, nutzen die Chancen, um dannweitergebildet und motiviert in ihr Heimatland zurück-zukehren.MobiPro-EU – darüber wurde heute schon mehrmalsgesprochen – ist ein Beispiel für das soziale Europa. Esist ein exklusives Programm, das in Deutschland einzig-artig ist. MobiPro-EU ist das Angebot, eine hervorra-gende Ausbildung zu absolvieren. Es ist ein wichtigerSchritt, anderen europäischen Ländern unsere dualeAusbildung näherzubringen. Gerade für die Länder, indenen es das duale Ausbildungssystem gar nicht gibt, istdas eine Riesenchance.Was die Finanzierung angeht – das haben wir heutegehört –, werden alle Anträge bis zum 8. April noch ab-gearbeitet. Wir haben heuer die Mittel in einem Kraftaktverdreifacht. Das muss ich schon noch einmal sagen:Hätte das Programm nicht gegriffen, dann hätten wir unsheute von Ihnen anhören müssen, dass wir falsche Mitteloder falsche Methoden gewählt haben, etwas geförderthaben, was niemanden interessiert. Jetzt haben wir einenErfolg, und dann lassen Sie uns diesen Erfolg doch bitteauch einmal so benennen und das nicht schon wiederschlechtreden, wenn wir gemeinsam diesen Kraftakt mitder Verdreifachung der Mittel heuer geschafft haben.
Welche Möglichkeiten schafft dieses soziale Europa?Europäische Jugendliche können die Chance nutzen, einanderes Land kennenzulernen, sich über Kulturen auszu-tauschen, eine neue Sprache zu erlernen und sich hierausbilden zu lassen – MobiPro-EU –, oder sie könnendie Chance nutzen, im Ausland zu arbeiten und Berufs-erfahrung zu sammeln – EURES –, oder sie können För-derungsmaßnahmen im eigenen Land wahrnehmen –ESF.Liebe Kollegen, wir sind damit sicher nicht am Endeunserer Maßnahmen. Aber wir leben mitten in einem so-zialen Europa mit einigen hervorragenden sozialen Er-rungenschaften. Wir müssen natürlich noch viel tun. Ins-besondere die hohe Jugendarbeitslosigkeit in densüdeuropäischen Ländern bringt eine Situation mit sich,die sich keiner von uns wünscht. Wir dürfen aber auchnicht vergessen, dass die Euro-Krise noch nicht langeher ist, viele Länder noch mittendrin stecken und wirZeit brauchen, um uns wieder auf einem hohen Niveaueinzupendeln. Das müssen wir mit aller Kraft gemein-sam vorantreiben.Es gilt, jungen Menschen eine Zukunft zu bieten. Da-ran arbeiten wir in der EU schon sehr aktiv. Ein Beispiel:die Jugendgarantie. Damit soll gewährleistet werden,dass allen Europäern unter 25 Jahren binnen vier Mona-ten nach Erhalt ihres Abschlusses bzw. nach Verlust ih-res Arbeitsplatzes ein neuer Job oder eine Ausbildungangeboten wird.Das soll jedoch nicht, wie Sie es vorschlagen, gesche-hen, indem wir einen EU-weiten Mindestlohn festlegen.Viele europäische Länder haben bereits den Mindest-lohn, und wir werden ihn heuer auch in Deutschlandeinführen. Diese Länder haben ihn nach ihren Möglich-keiten festgelegt. Einen einheitlichen Standard zu defi-nieren, indem wir ein 60-Prozent-Minimum festlegen,schafft ein erneutes Ungleichgewicht in Bezug auf dieLeistungsfähigkeit der Länder.Bleiben wir aber bei den geplanten Maßnahmen. ImApril hat das EU-Parlament ein Paket von Maßnahmenangenommen, mit dem sichergestellt werden soll, dasskünftig die Banken das Risiko für ihr Scheitern tragenund nicht der Steuerzahler. Drei Gesetzesvorlagen wur-den dafür auf den Weg gebracht. Sie beziehen sich aufdie Restrukturierung und Abwicklung maroder Bankensowie auf die Erneuerung der Systeme zur Einlagen-sicherung bis zu 100 000 Euro.Ich möchte in diesem Zusammenhang auch noch auf„Europa 2020“ hinweisen. Das ist eine Wachstumsstrate-gie der EU für eine intelligente, nachhaltige und integra-tive Wirtschaft in Europa. Diese drei Prioritäten, die sichgegenseitig verstärken, helfen der EU und den Mitglied-staaten, ein hohes Maß an Beschäftigung, Produktivitätund sozialem Zusammenhalt zu erreichen. Jeder Mit-gliedstaat hat für die Bereiche Beschäftigung, Innova-tion, Bildung, soziale Integration, Armutsbekämpfungsowie Klima und Energie seine eigenen nationalen Zielefestgelegt. Ferner wird diese Strategie durch konkreteMaßnahmen auf Ebene der EU und der Mitgliedstaatenuntermauert. Dabei geht es vor allem darum, Arbeits-plätze zu schaffen. Arbeitsplätze schaffen die Unterneh-men. Daher darf neben all den sozialen Aspekten auch
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Tobias Zech
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die Wirtschaft nicht vergessen werden. Die dürfen wir indiesem Punkt nicht aus dem Blick verlieren.Was die CDU/CSU bei der Europawahl erreichenwill, haben meine Vorredner schon zur Genüge ausge-führt. Ich glaube, dafür haben wir besten Rückenwind.Wir werden die positive Bilanz dieser Wahlperiode undder letzten Wahlperiode in der nächsten nur noch stei-gern können.
Vielen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kolle-
gen Norbert Spinrath, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Europa war und ist dasVersprechen auf Frieden. Wir haben eben von mehrerenRednern gehört, dass das Stichwort „Frieden“ in einemwichtigen Zusammenhang mit dem heutigen Datumsteht. Europa war und ist ein Versprechen auf Friedenund Wohlstand. Ich sage aber auch: Um beides muss be-ständig gerungen werden. Wir dürfen das nicht als gege-ben hinnehmen. Es muss – nicht nur bei jeder Wahl, son-dern auch bei jeder einzelnen politischen Entscheidung –beständig darum gerungen werden.In Zeiten der Globalisierung kann Wohlstand abernicht mehr nur in nationalen Grenzen gesichert werden.Deutschland als Exportnation hängt in ganz besonderemMaße vom Wohlergehen und von der wirtschaftlichenProsperität seiner Nachbarn ab. Offene Grenzen fürMenschen – also auch für Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer – bedingen gemeinsame Regelungen zurSicherung der Rechte der Menschen, die jenseits ihresHeimatlandes Arbeit suchen und finden.Wir brauchen ganz klare und gerechte Regeln derEntlohnung und der Rechte auf Urlaub, Absicherungund Mitbestimmung. Diese Ziele hat Michael Gerdeseben sehr deutlich ausgeführt. Dazu gehört aber auch dasModell eines europäischen Mindestlohns, der sich amBruttoinlandsprodukt und am Preisniveau des jeweiligenMitgliedstaates orientiert. Die weltweite Finanzkrise hatauch Europa getroffen. Sie hat Europa auch erschüttert.Dabei sind bei der Bewältigung der Krise in Irland,Spanien und Portugal inzwischen Erfolge zu verzeich-nen. Selbst Griechenland konnte sich zuletzt wieder anden Märkten finanzieren. Das zeugt von wiederherge-stelltem Vertrauen der Märkte in die Krisenländer undauch in die Gemeinschaft. Im Falle des Falles wird esfunktionierende Rettungsinstrumente der EU geben.Allerdings – auch das sage ich in aller Deutlichkeit –sind in der Vergangenheit gravierende Fehler gemachtworden. Die Hilfe erreichte die betroffenen Länder oftzu spät. Dadurch ist Unsicherheit gewachsen. Spekula-tionen sind überhaupt erst ermöglicht und der Schadenenorm vergrößert worden. Im Falle Griechenlands konn-ten die Spekulanten nur deshalb ihr schändliches Spielbetreiben und weitere Länder mit in den Strudel ziehen,weil zu lange gezögert wurde. Das war zum Teil nichtnur Schuld der Troika aus EZB, EU-Kommission undInternationalem Währungsfonds. Oft haben auch die Re-gierungen der betroffenen Länder lieber Renten gekürzt,als die Steuern erhöht. Ist das ein soziales Europa?
Die Krise hat genau die Länder getroffen, die struktu-rell schwach und damit anfällig waren. Die Hilfe für Kri-senländer – das muss die Lehre sein – muss immer zweiDimensionen haben: erstens das sofortige Wiederher-stellen von Vertrauen bzw. – für den Fall, dass das nichtgelingt – einen Ersatz für die Marktkredite und zweitensmittel- und langfristig die Beseitigung der strukturellenSchwächen der Volkswirtschaft, um die heimische Wirt-schaft wieder auf feste Füße zu stellen und damit ebenauch die Arbeitsplätze zu sichern.Die einseitige und schnelle Kürzung der Ausgabendagegen führte zu einer noch tieferen Rezession; dennnun kamen zu den Ausfällen der öffentlichen Ausgabenauch noch die Schwächen der Wirtschaft hinzu. Diereine Fixierung auf eine schnelle Konsolidierung der öf-fentlichen Haushalte war ein Fehler. Damit wurde derSozialstaat an die Grenzen der Handlungsfähigkeit ge-bracht. Diese Fehler haben zu massiven Verwerfungengeführt und müssen nun mühsam repariert werden.Ich glaube, auch an diesem Punkt ist erkennbar, dasssich seit der letzten Bundestagswahl etwas geändert hat.Wir haben deutlich gemacht und deutlich in den Koali-tionsvertrag zwischen Union und SPD hineingeschrie-ben, dass wir nicht nur eine Haushaltskonsolidierungbrauchen, sondern daneben auch zwingend auf Pro-gramme für Wachstum und Beschäftigung setzen müs-sen, um der sozialen Dimension gerecht zu werden. Wirbrauchen kluge Steuerungsinstrumente statt reiner Spar-politik. Wir brauchen effektive nationale Steuersysteme,um auch Unternehmen und vermögende Privatleute miteinem Beitrag an den Kosten beteiligen zu können. Wirbrauchen Maßnahmen für Wachstum und Beschäftigung,die, wie ich schon sagte, gleichberechtigt neben derHaushaltskonsolidierung stehen. Wir müssen, wenn wirdas soziale Europa ernst nehmen, die durch die Sparpoli-tik entstehenden Belastungen gleichmäßig verteilen, da-mit diese nicht einseitig von den sogenannten kleinenLeuten getragen werden müssen.
Schlimmer noch wirkt das verloren gegangene Ver-trauen gerade unter den Jüngeren. Sie sind eben nichtdiejenigen, die für die Krise verantwortlich sind, aber siesind die Leidtragenden dieser Krise. Deshalb müssen wirihnen Zukunft geben.
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2740 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Norbert Spinrath
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In den Krisenländern ist die Arbeitslosigkeit, insbe-sondere unter den Jugendlichen, inakzeptabel hoch, ineinigen Ländern liegt sie nahe bei oder über 50 Prozent.Die in der Beschäftigungsinitiative eingeplanten 6 Mil-liarden Euro für den Kampf gegen die Jugendarbeitslo-sigkeit müssen deshalb jetzt schnell eingesetzt werden.Die auf europäischer Ebene vereinbarte Jugendgarantiemuss jetzt zügig in den einzelnen Ländern umgesetztwerden. Das Ziel muss sein, jedem Jugendlichen eineAusbildung und einen Arbeitsplatz zu garantieren.
Auch Deutschland – darauf ist heute schon mehrfachhingewiesen worden – leistet seinen Beitrag. Viele ar-beitslose, aber bereits gut ausgebildete junge Menschensollen durch das Programm MobiPro-EU eine Chancebekommen, in Deutschland zu arbeiten. Matthias Bartkehat dazu eben sehr eindrucksvoll ausgeführt. Ich sage:Die Nachfrage zeigt, dass dieses Programm richtig istund gebraucht wird. Ich sage aber auch klar – ich denke,da bin ich mir dann mit dem Kollegen Zech von derUnion einig –: Es darf nicht sein, dass wir unseren teil-weise auch selbstverschuldeten Fachkräftemangel alleinmit jungen Menschen aus den Krisenländern lösen unddass wir dort einen Braindrain auslösen, der mittel- undlangfristig den wieder in Gang gebrachten Konjunktur-motor abwürgt, weil im Herkunftsland die dringend be-nötigten Fachkräfte fehlen.
Nach wie vor ist der soziale Bereich eine nationaleDomäne, aber der gemeinsame Binnenmarkt macht anden nationalen Grenzen nicht halt. Deshalb brauchen wirgemeinsame Prinzipen und Kriterien zur Bekämpfungvon Lohn- und Sozialdumping. Das sage ich ganz be-wusst im Deutschen Bundestag; denn gerade in Deutsch-land sind uns diese Vokabeln leider nicht fremd.
Grenzüberschreitende wirtschaftliche Aktivitäten er-fordern auch grenzüberschreitende Arbeitnehmerrechte.Es helfen nur klare Regeln und effiziente Kontrollen.Wir brauchen das Prinzip „gleicher Lohn und gleicheArbeitsbedingungen für gleiche Arbeit am gleichenOrt“, das hat Dagmar Schmidt eben sehr deutlich gesagt.Wir müssen die Entsenderichtlinie auch in ihrer verän-derten Form weiter stärken, um den zunehmenden Miss-brauch von Entsendungen, Werkverträgen und Subunter-nehmeraufträgen einzudämmen. Es gibt noch so vieleSchlupflöcher, die auch in der neuen Version zu stopfensind. Das sollten wir jetzt zügig angehen.Wir haben bereits eine Menge von Details im Koali-tionsvertrag vereinbart, in welcher Hinsicht Europa so-zial werden muss. Die soziale Dimension mit grenzüber-schreitenden Arbeitnehmerrechten, national definiertenMindestlöhnen und sozialen Grundrechten muss gleich-rangig neben die Marktfreiheiten des Binnenmarktes ge-stellt werden. Sozialpolitik muss stärker koordiniert wer-den. Die Gewährleistung sozialer Rechte und Standardsund verbindliche sozialpolitische Ziele gehören dazu.Ich denke, die Zukunft eines Europas der Bürgerinnenund Bürger hat nur dann eine Chance, wenn die Bürge-rinnen und Bürger dieses Europa und die europäischeIdee für sich begreifen und sich damit identifizieren. Da-mit alle Menschen etwas von Europa haben, muss Eu-ropa sozialer, demokratischer und auch solidarischerwerden. Die Menschen müssen erkennen können, dasssie etwas von Europa haben.Ein soziales Europa ist der Motor für unsere Wirt-schaft und damit für den Arbeitsmarkt in Deutschland;dass beides zusammengehört, hat Waltraud Wolff ebensehr eindrucksvoll festgestellt. Ein soziales Europa ver-teilt die Belastungen aus der Sparpolitik gleichmäßigund nicht nur einseitig auf die sogenannten kleinenLeute. Auch diejenigen müssen an den Kosten beteiligtwerden, die sie verursacht haben. Ein soziales Europastellt zur Lösung von Krisen Maßnahmen für Wachstumund Beschäftigung gleichberechtigt neben die Haus-haltskonsolidierung, lässt die Menschen in sozialer Si-cherheit leben und sichert damit sozialen Frieden.
Herr Kollege, die Zeit!
Liebe Kolleginnen und Kollegen – das ist mein
Schlusssatz; herzlichen Dank, Herr Präsident –, nur dort,
wo sozialer Frieden herrscht, kann wirtschaftlicher
Wohlstand wachsen. Ich will weiter für ein soziales Eu-
ropa arbeiten, für ein Europa der Bürgerinnen und Bür-
ger, das nicht nur Banken rettet.
Danke.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 18/1116 und 18/1343 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 a sowie den Zu-satzpunkt 3 auf:6 a) Beratung des Antrags der Fraktionen derCDU/CSU und SPDHilfe für die Flüchtlinge aus Syrien – Un-terstützung für die NachbarstaatenDrucksache 18/1333ZP 3 Beratung des Antrags der AbgeordnetenAnnalena Baerbock, Marieluise Beck ,Dr. Franziska Brantner, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENHilfe für die Flüchtlinge aus Syrien – Unter-stützung für die NachbarstaatenDrucksache 18/1335
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Vizepräsident Peter Hintze
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Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich sehe kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich erteile als erstem Redner das Wort Bundesminis-ter Dr. Gerd Müller.
Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftlicheZusammenarbeit und Entwicklung:Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren!Wartet nicht länger! Handelt! Handelt jetzt, um dasMassaker in Syrien zu beenden!Das waren die Worte von Ban Ki-moon schon vor zweiJahren. Leider hat dieser Appell auch am heutigen Tagnichts an Aktualität verloren; denn die Situation in undum Syrien hat sich seither leider dramatisch verschlech-tert.Deshalb bin ich allen Bundestagsfraktionen sehrdankbar für diese Debatte. Wir müssen Öffentlichkeitschaffen. Wir dürfen die Menschen in Syrien nicht al-leine lassen.
Die Scheinwerfer der Weltöffentlichkeit müssen auf die-sen Krieg, die größte humanitäre Katastrophe der letztenJahrzehnte, gerichtet werden. Diese Bundestagssitzungleistet einen Beitrag dazu.Wer stoppt Assad? Das ist die politische Frage. DieWeltvölkergemeinschaft, die UN, die USA, Russland,Europa, Deutschland, wir alle müssen einen erneuten,auch politischen Vorstoß unternehmen, um die Kampf-handlungen in Syrien zu stoppen.
Das Elend in Syrien ist gewaltig: 150 000 Tote in zweiJahren – man muss sich diese unglaubliche Zahl einmalvorstellen –, Folter, Giftgas, Streubomben. 10 Millio-nen Flüchtlinge in einem Land mit 22 Millionen Ein-wohnern. Das heißt, jeder zweite Syrer ist im eigenenLande oder außerhalb des Landes auf der Flucht.4,5 Millionen Syrer sind in den Nachbarländern alsFlüchtlinge registriert und untergekommen.Im Libanon, in diesem kleinen Land – die Ausschuss-vorsitzende Frau Wöhrl war mit einer Delegation in denvergangenen Tagen dort –, gibt es 1 Million Flüchtlinge.Das muss man sich einmal vorstellen. Dort sitzen zumBeispiel in vielen Schulen mehr syrische Flüchtlingskin-der in den Schulbänken als einheimische Schülerinnenund Schüler; Gott sei Dank werden sie in den dortigenSchulen offen aufgenommen. Es kommt hier zu einervollkommenen Überlastung der Infrastruktur.Die Türkei – Frau Roth, unsere Vizepräsidentin, wardort in mehreren Regionen unterwegs und wird darüberin ihrer Rede berichten – leistet Großartiges. Wir dankender türkischen Regierung an dieser Stelle für den großar-tigen humanitären Einsatz.
1,2 Millionen Flüchtlinge gibt es in Jordanien. Als ichdort vor wenigen Wochen ein Flüchtlingslager besuchthabe, hat mich am meisten eine Stadt nahe der syrischenGrenze beeindruckt. Diese Stadt mit 60 000 Einwohnernhat in den letzten zwei Jahren – das muss man sich ein-mal vorstellen – 120 000 syrische Flüchtlinge aufge-nommen, das Doppelte der Einwohnerzahl, und zwarohne Zelte, einfach in den vorhandenen Häusern undStrukturen. Ich habe eine Bauernfamilie besucht: ein-fach, arm, mit fünf Kindern und 20 Ziegen. Der Bauerhat seinen Ziegenstall ausgeräumt. In diesem Stall lebteine syrische Flüchtlingsfamilie mit fünf Kindern: einBaby auf dem Arm, der 16-Jährige verwundet, ihm fehltein Fuß. – Das ist die Situation in Jordanien. Ich musssagen: Großer Respekt! Auf der jordanischen Seite er-lebt man Helden, die mit Offenheit und Solidarität densyrischen Flüchtlingen begegnen.
Die Menschen vor Ort sind großartig und leisten Heraus-ragendes.Zur Lage in Syrien möchte ich ein paar Fakten nen-nen. Die Situation im Lande selber ist unsäglich. DieBilder der Fernsehkameras, die bei uns, die in Politikund Öffentlichkeit, die in der Gesellschaft Betroffenheitschaffen, fehlen – fast hätte ich gesagt: leider. Die Lagein Syrien ist dramatisch. Es gibt eine hohe Zahl von Bin-nenvertriebenen, und die Bevölkerung in den umkämpf-ten Gebieten wird als Geisel des Regimes genommen:ohne Essen, ohne Strom, ohne Wasser. Bis zu 1 MillionMenschen sind ohne Zugang zu humanitären Hilfsor-ganisationen. Das gab es in den letzten 40 Jahren inBürgerkriegsverhältnissen nicht. Kein Zugang zu hu-manitärer Hilfe, keine humanitären Korridore – das istVölkermord im eigenen Land.
Die UN, Europa und wir dürfen nicht nachlassen, diesanzuprangern. Wir müssen natürlich nach politischenLösungen suchen. Es müssen wieder alle an den Ver-handlungstisch, um die Gespräche in Genf – Genf II,Genf III – erneut aufzunehmen und fortzusetzen. DieBundesregierung hat seit Beginn der Krise mehr als einehalbe Milliarde Euro an Hilfsleistungen erbracht. Das seiauch der deutschen Öffentlichkeit gesagt: Meine Damenund Herren, Zuhörinnen und Zuhörer, durch Entwick-lungsarbeit, humanitäre Hilfe des Auswärtigen Amtesund des Entwicklungsministeriums retten wir Tausendevon Menschen vor Tod, vor Elend und vor Hunger. DasBMZ, unser Ministerium, hat mit der Einrichtung derSonderinitiative „Fluchtursachen bekämpfen – Flücht-linge reintegrieren“ reagiert. Ich danke den Haushalts-
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Bundesminister Dr. Gerd Müller
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politikern. Wir sind mit entsprechenden Haushaltsmit-teln versorgt worden. Wir werden unsere Unterstützungweiter verstärken. Wir helfen vor Ort.Meine Damen und Herren, natürlich ist auch die Be-völkerung aufgerufen, zu spenden. Leider ist die Spen-denbereitschaft in der Gesellschaft für Syrien nicht sehrgroß. Das Elend dort ist groß. Die Menschen dort brau-chen die Hilfe unserer Bevölkerung. Ich unterstütze hierden Spenden- und Unterstützungsaufruf unserer Hilfsor-ganisationen.
Mein besonderer Dank gilt allen Mitarbeitern der Or-ganisationen, die in Syrien unter Einsatz ihres Lebens tä-tig sind. Ich kann nicht alle aufzählen. Aber ich nennebeispielhaft die Kirchen, die politischen Stiftungen, dieWelthungerhilfe – ich selber habe UNICEF vor Ort gese-hen –, das Rote Kreuz, die Malteser, Ärzte ohne Gren-zen, SOS-Kinderdörfer. Alle Helfer der internationalenHilfsorganisationen sind unter Einsatz ihres Lebens inSyrien.Wir schaffen auch vonseiten der deutschen Politiküber die humanitäre Hilfe hinaus Perspektiven. Ich habegestern – das war für mich interessant und sehr überra-schend – die ehemalige Präsidentin des DeutschenBundestages, Frau Professor Süssmuth, getroffen. DerDeutsche Volkshochschul-Verband hat Bildungszentrenin Jordanien eingerichtet. Dort werden junge syrischeFlüchtlinge ausgebildet. Wir müssen auch an die Zeit da-nach denken; denn sie müssen wieder zurück. Zur Re-integration und zum Wiederaufbau des Landes wird dasBMZ zusammen mit der Deutsch-Jordanischen Hoch-schule in Amman, in Grenznähe zu Syrien, einen eige-nen Studienzweig für syrische Jugendliche – Techniker-,Handwerkerausbildung – einrichten.
Ich denke aber – das sage ich angesichts der Dramatikdes Problems vor der Haustüre Europas, 300 Kilometervon Zypern entfernt, ganz bewusst –, die EU muss mehrleisten.
Sie bringen das in Ihren Anträgen zum Ausdruck. Diesbetrifft die Mitgliedstaaten bei der Aufnahme syrischerFlüchtlinge. Die Bereitschaft dazu ist in einigen StaatenEuropas beschämend gering. Ich frage in Richtung derEuropäischen Kommission: Wo bleibt die Reaktion ausBrüssel? – Wir brauchen einen Sonderrat zur Lage derFlüchtlinge aus Syrien.
Ihn einzurichten, wurde bisher verweigert. Wir brauchenein europäisches Sonderprogramm zur Unterstützungder Anrainerländer, für humanitäre Hilfe und Krisenbe-wältigung. Meine Damen und Herren, wo können EU-Gelder sinnvoller eingesetzt werden als hier, im Rahmeneiner Initiative der Europäischen Union für Syrien?
Was die Europäische Union hier geleistet hat, ist nichtausreichend. Umso wichtiger ist diese Debatte, weil wirdamit Initiativen anstoßen und dazu beitragen, dass sichdie Öffentlichkeit für dieses Thema nicht nur interes-siert, sondern dafür gewonnen werden kann.Ich bedanke mich bei Ihnen. Herzlichen Dank.
Herzlichen Dank, Herr Bundesminister. – Nächste
Rednerin ist die Kollegin Ulla Jelpke, Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es istkeine Frage: Es ist gut und richtig, dass die Bundesrepu-blik schon einiges getan hat, um syrische Flüchtlingehier in Deutschland zu unterstützen; es wurde im Antragder Koalition ausführlich dargelegt. Wichtig ist aber,was nicht im Antrag steht und worüber der Antragschweigt: Er schweigt darüber, dass es keine sicherenWege für Flüchtlinge in die EU gibt. Er schweigt leiderauch darüber, dass es eine Beteiligung Deutschlands ander Abschottung der Grenzen Europas gibt. Und erschweigt darüber, welche tödlichen Folgen in diesemZusammenhang auch für syrische Flüchtlinge zu bekla-gen sind. Deswegen sagt die Linke eindeutig: Wir sindes den Opfern und ihren Familien schuldig, hierübernicht zu schweigen.
Denn man kann nicht Grenzen abschotten und dann sotun, als ob man humanitäre Politik macht.
Meine Damen und Herren, die ungefährlichsteFluchtroute für syrische Flüchtlinge führt über Land,über die Türkei nach Griechenland. Durch Zäune undStacheldraht wurde dieser Weg unpassierbar gemacht.Wer den Fluchtweg über die Ägäis sucht, gerät in Ge-fahr, vom griechischen Grenzschutz brutal zurückgewie-sen zu werden oder zu ertrinken. In dieser Woche sindwieder 24 Opfer zu beklagen, Bootsflüchtlinge in derÄgäis. Auch das gehört zur europäischen Abschottungs-politik, und das ist nicht hinnehmbar.
Meine Damen und Herren, da ihnen der Weg überGriechenland versperrt wurde, mussten syrische Flücht-linge in Richtung Bulgarien ausweichen. 2013 kamen11 000 Asylsuchende, über die Hälfte von ihnen Syrer,nach Bulgarien; das waren zehnmal mehr als in den Jah-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2743
Ulla Jelpke
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ren zuvor. Diese Menschen wurden in provisorischenAufnahmelagern in Käfige gesperrt. Sie mussten hun-gern, sie wurden misshandelt, und sie wurden gedemü-tigt. Trotz dieser Zustände schiebt Deutschland Flücht-linge nach Bulgarien ab, weil Bulgarien formal für dieAsylverfahren zuständig ist. Dieser Umgang mit schutz-suchenden Menschen ist schlicht menschenverachtend.
Seit März 2014 haben sich die Verhältnisse im bulga-rischen Asylsystem zwar verbessert – die Aufnahmela-ger sind lange nicht mehr so überfüllt –; aber das liegtkeineswegs daran, dass die Politik humaner gewordenist. Nein, im Gegenteil: Im November 2013 wurde dieGrenze zu Bulgarien für Flüchtlinge schlichtweg dicht-gemacht. 1 500 Polizisten wurden dorthin verlegt, unddie Grenze wurde auf einer Länge von 33 Kilometernmit einem Zaun versehen. Dementsprechend werden dieFlüchtlinge in die Türkei zurückgeschickt. Es ist nichthinnehmbar, dass Europa es zulässt, dass Zäune gebautwerden.
Die Flüchtlinge, die nach Bulgarien und damit nachEuropa wollen, werden mit Kameras und Sensoren über-wacht. Herr Minister Müller, auch das wird mit EU-Gel-dern finanziert. Ich bitte Sie: Lesen Sie die Berichte vonAmnesty International, von Human Rights Watch odervon vielen Flüchtlingsorganisationen, die zeigen, wiebrutal dort mit Flüchtlingen umgegangen wird. Gegendiesen Skandal muss die Bundesregierung ihre Stimmeerheben.
Wir werden uns bei der Abstimmung über die An-träge enthalten, weil es nicht ausreicht, sich ausschließ-lich damit zu brüsten, was man alles schon getan hat;was wir überhaupt nicht bezweifeln. Die Bundesrepublikkann und muss tatsächlich noch mehr tun.
In den Anträgen wird zwar formuliert, dass der Druckauf die europäischen Staaten, syrische Flüchtlinge aufzu-nehmen, erhöht werden soll, aber das bedeutet nicht,dass das auch umgesetzt wird. Hier muss Politik ge-macht werden. Man kann nicht auf der einen Seite imGrunde genommen gegen Flüchtlinge aufrüsten – ichnenne nur EUROSUR, die vielen Maßnahmen, die er-griffen worden sind, um Frontex aufzurüsten, und ande-res mehr –, und auf der anderen Seite sagen: Es muss un-bedingt humanitäre Hilfe geleistet werden.Seien Sie konsequent in Ihrer Flüchtlingspolitik! Wirversuchen es auch. Die Linke hat einen eigenen Antragvorbereitet, über den wir im Innenausschuss noch disku-tieren werden. So, wie die Politik der Bundesregierunggegenwärtig gestaltet wird, kann es nicht weitergehen.Man kann nicht repressiv und gleichzeitig human sein.Danke schön.
Nächster Redner ist für die Sozialdemokraten der
Kollege Niels Annen.
Vielen Dank, Herr Präsident! – Vor einigen Tagenhabe ich das Flüchtlingslager al-Zaatari in Jordanien be-sucht. Die Größe des Flüchtlingslagers sagt etwas überdie Dimension des Konfliktes. Mit über 100 000 Men-schen ist al-Zaatari inzwischen die drittgrößte Stadt Jor-daniens und das zweitgrößte Flüchtlingslager der Welt.Wer sich auf ein Gespräch mit den Flüchtlingen ein-lässt, der – das kann ich Ihnen sagen – braucht gute Ner-ven; denn dieser Krieg ist eine der größten Tragödienunserer Zeit, und das nicht nur, weil er bisher über150 000 Menschen das Leben gekostet hat. Dieser Krieghat den Nahen Osten grundlegend verändert.In Deutschland, liebe Kolleginnen und Kollegen, er-innern wir uns in diesen Tagen daran, dass vor 100 Jah-ren der Erste Weltkrieg ausgebrochen ist. Gleichzeitigwerden wir Zeuge, wie die von den ehemaligen Koloni-almächten konzipierten nahöstlichen Grenzen – Stich-wort „Sykes-Picot-Abkommen“ – zusammenbrechen.Die Folgen für die Stabilität in der Region, aber auch fürunsere Sicherheit sind unabsehbar.Ich habe den Eindruck, dass wir uns als Bundesrepu-blik Deutschland insgesamt zu wenig mit der dramati-schen Entwicklung in Syrien auseinandersetzen.
Im dritten Kriegsjahr müssen wir feststellen: Nicht nurweite Teile des Landes, auch die Idee, das Konzept Sy-rien, ist durch diesen Krieg zerstört worden; denn es gibtheute keine relevante politische oder militärische Kraftmehr, die um den Erhalt dieses Staates kämpft. Religiöseund ethnische Entitäten sind an diese Stelle getreten, unddamit wächst die Gefahr weitreichender ethnischer Säu-berungen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir erleben einenKrieg aller gegen alle. Die Opposition kämpft gegenAssad, führt aber auch gleichzeitig Krieg untereinander.Selbst Experten, die sich schon seit vielen Jahren mit derRegion beschäftigen, haben Schwierigkeiten, nochdurchzublicken und die Lage sowie die wechselndenKoalitionen zu analysieren.Der Krieg ist aber auch ein regionaler Krieg. Präsi-dent Assad kann sich auf die massive Unterstützung desIran und der Truppen der Hisbollah verlassen, ohne dieer nicht überleben kann. Zudem schützt ihn – das wissenwir alle – das russische Veto im Sicherheitsrat. Doch
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2744 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Niels Annen
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umgekehrt gilt auch: Ohne die Unterstützung durch dieGolfstaaten und Saudi-Arabien, aber auch Teile der Tür-kei wäre die Opposition nicht in der Lage, den Kampffortzusetzen. Der weltweit eskalierende Konflikt zwi-schen Sunniten und Schiiten schlägt sich in aller Härteauch in Syrien nieder.Es ist noch gar nicht so lange her, 2012 sagte ein opti-mistischer amerikanischer Präsident: Unser Ziel ist es,al-Qaida zu zerstören, und wir sind auf einem guten Wegdorthin. – Das war die Hoffnung. Doch diese Aussagehat sich als verfrüht erwiesen; denn al-Qaida ist längstein wichtiger Akteur in der Region, ohne dass die deut-sche Öffentlichkeit von der Dramatik dieser Situationausreichend Kenntnis genommen hätte. Mit al-Nusraund ISIL bekämpfen sich sogar gleich zwei mit al-Qaidaverbündete Milizen in Syrien, in einem Bürgerkrieg imBürgerkrieg.Um es klar zu sagen: Beenden wir diesen Krieg nichtso schnell wie möglich, werden auch wir in Deutschlandund Europa mit einem Terrorismusproblem konfrontiertwerden, dessen Ausmaße wir nur erahnen können.
Etwa 250 deutsche Staatsbürger haben bisher in Syrienaufseiten der Islamisten gekämpft, und geschätzte 20 ha-ben dabei ihr Leben verloren. Diejenigen, die zurück-kehren, tragen den Hass, die Radikalisierung mit sichund damit natürlich auch eine Gefährdung für unsere Si-cherheit.Unterdessen strömen Millionen von Flüchtlingen un-aufhaltsam in die Nachbarländer. Im bereits erwähntenCamp al-Zaatari ist es unter der Leitung eines deutschenUNHCR-Mitarbeiters, Herrn Kleinschmidt, gelungen,die Sicherheitslage im Camp zu verbessern und Prostitu-tion, Schwarzmarkt und Menschenhandel zurückzudrän-gen. Das UNHCR stellt sich auf eine lange, möglicher-weise noch jahrelange Verweildauer der Flüchtlinge ein.Besonders dramatisch ist die Lage im Libanon. Über1 Million Flüchtlinge kommen auf nur 4,2 MillionenEinwohner. Die humanitäre Lage dort ist besondersschwierig, auch weil es dort im Gegensatz zur Türkei,die zu Recht gelobt und erwähnt worden ist, und Jorda-nien keine organisierten Lager gibt. Inzwischen befindensich überall im Land Flüchtlinge. Wohnraum ist zum Lu-xus geworden. Bis zum letzten Kellergewölbe werdenUnterkünfte vermietet – zu horrenden Preisen. Beson-ders schlimm ist die Lage in den provisorischen Zeltla-gern. Ich hatte Gelegenheit, ein Lager in der Bekaa-Ebene zu besuchen. Zudem droht das Land selber in denBürgerkrieg hineingezogen zu werden. Während dieHisbollah in Syrien kämpft, radikalisieren sich sunniti-sche Kämpfer im Libanon und greifen schiitische Ein-richtungen an.So wie sich die Lage zurzeit darstellt, müssen wir unsund die deutsche Öffentlichkeit auf einen langen Kriegeinstellen. Und das bedeutet: Wir werden mehr tun müs-sen, um die Nachbarstaaten und die Vereinten Nationenin die Lage zu versetzen, damit umzugehen. Und ja, wirwerden auch mehr Flüchtlinge aufnehmen müssen.
Allein die Aufnahmestelle des UNHCR, die ich inBeirut besucht habe, registriert jeden Tag 2 000 Flücht-linge. Das ist eine von vier Aufnahmestellen. Besonderswichtig scheint mir zu sein, dass wir auch und geradeden Gemeinden in Jordanien, im Libanon und in derTürkei, die unter dieser Last zu leiden haben, unter dieArme greifen, damit es nicht zu weiteren sozialen Span-nungen kommt. 9,3 Millionen Menschen in Syrien sindauf humanitäre Hilfe angewiesen. Deswegen ist es gut,dass das Auswärtige Amt die Hilfe für das UNHCR auf-stockt.Wir dürfen auch das Flüchtlingswerk für die palästi-nensischen Flüchtlinge nicht vergessen; denn die erlei-den gerade eine doppelte Tragödie; darauf ist schon hin-gewiesen worden. Das Lager Yarmouk in Damaskusbietet ein Ausmaß an Zerstörung und Zynismus, daskaum zu fassen ist.Doch alle Hilfe, über die wir hier sprechen müssen,wird nicht ausreichen, wenn es nicht gelingt, wieder ei-nen politischen Prozess zu initiieren. Der UN-GesandteLakhdar Brahimi hat neulich gesagt – ich weiß nicht, obSie das gesehen haben –, dass er jeden Tag, wenn er auf-steht, daran denkt, zurückzutreten. Man kann es ihmnicht übel nehmen; denn nach dem Scheitern der GenferVerhandlungen hat man den Eindruck, dass niemandmehr auf eine politische Lösung setzt, sondern alle, auchunsere eigenen Verbündeten, auf eine militärische Lö-sung setzen. Ich sage deswegen: Die Prioritäten unseresAußenministers sind richtig: deutscher Beitrag zur Ver-nichtung von Massenvernichtungswaffen, mehr zur Ver-besserung der humanitären Situation in Syrien tun undden Terrorismus bekämpfen.Um diesen Krieg zu beenden, müssen wir bereit sein,mit allen Parteien zu reden, innerhalb und außerhalb Sy-riens. Die Unterstützung islamistischer Kämpfer ausdem Ausland wird nicht ohne Konsequenzen bleiben.Wir haben in Afghanistan schon einmal erlebt, dass siedie Waffen dann gegen die richten, von denen sie sie be-kommen haben.Diese militärische Logik müssen wir durchbrechen.Deutschland kann dabei eine Rolle spielen, weil wireben keine Milizen bzw. Akteure vor Ort mit Waffen un-terstützen und weil wir – das hoffe ich zumindest – da-von überzeugt sind, dass es für diesen Konflikt keine mi-litärische Lösung geben kann. Daher müssen wir allestun, um die Nachbarländer Syriens zu stabilisieren undvor allem den Opfern, den Flüchtlingen zu helfen.Herzlichen Dank.
Für Bündnis 90/Die Grünen spricht als nächster Red-ner der Kollege Omid Nouripour.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir disku-
tieren heute im Deutschen Bundestag über die Situation
in Syrien und in den Nachbarstaaten. Es ist wichtig, dass
vom Hohen Hause aus auch ein Signal von Respekt und
Solidarität gerade an die Nachbarstaaten ausgeht, die in
diesen Wochen und Tagen Immenses auf sich nehmen.
Es wäre sehr schön gewesen, wenn wir einen gemein-
samen Antrag hätten stellen können. Der Antrag der Ko-
alition enthält ja auch sehr viele Textteile, die mit unse-
rem Antrag identisch sind. Das liegt daran, dass wir sie
geschrieben haben. Wir helfen gerne, wo es geht. Ich
finde es gerade in dieser Situation wirklich albern, dass
es Reflexe seitens der Koalition gibt, nicht einmal bei ei-
nem so basalen Thema der Humanität zusammen mit
den Linken einen Antrag zu machen. Unabhängig davon
will ich Ihnen sagen, warum wir Ihrem Antrag nicht zu-
stimmen und keinen gemeinsamen hinbekommen haben.
Ihr Antrag hört genau da auf, wo es konkret wird. Ja,
Herr Minister, Sie haben völlig recht: Die EU muss mehr
tun, die EU muss mehr Flüchtlinge aufnehmen. Die an-
deren Staaten müssen mehr tun, müssen mehr Flücht-
linge aufnehmen. Ja, Kollege Annen, es ist richtig:
Deutschland muss mehr tun und auch mehr Flüchtlinge
aufnehmen. Aber genau diese Passagen wollten Sie nicht
in Ihren Antrag aufnehmen. Es reicht nicht, einfach im-
mer nur auf die anderen hinzuweisen. Auch wir müssen
mehr tun, unbenommen davon, dass wir jetzt schon eini-
ges tun.
Die Lage ist zum Verzweifeln. Nachdem wir erfahren
haben, dass die Vereinten Nationen wegen Syrien den
größten Hilfeaufruf ihrer Geschichte gestartet haben, ha-
ben wir dieser Tage Änderungsanträge zum Haushalt ge-
stellt, in denen wir fordern, dass die Mittel für humani-
täre Hilfe auf 400 Millionen Euro aufgestockt werden.
Das ist seitens der Koalition abschlägig beschieden
worden. Es gibt 6,5 Millionen Binnenflüchtlinge und
2,5 Millionen Flüchtlinge in den Nachbarstaaten. Es
geht mittlerweile nicht nur um Syrien, sondern um die
Stabilität einer gesamten Region.
Herr Minister, Sie haben auf Ihrer Jordanien-Reise
selbst gesagt, dass man alles dafür tun muss, dass die
Region nicht destabilisiert wird. Wenn man in den Liba-
non schaut, muss man feststellen, dass es dafür teilweise
leider zu spät ist. Man muss einfach sehen, welch eine
unvorstellbare Solidarität es teilweise von Mensch zu
Mensch gegeben hat. Im Libanon, in der Bekaa-Ebene,
in den engsten Häusern und Räumen haben die Men-
schen noch Leute aufgenommen. In Flüchtlingslagern
der Palästinenser – Kollege Annen hat zu Recht darauf
hingewiesen, in welch schwieriger Lage diese Flücht-
linge sind, auch im Libanon – sind mittlerweile auch sy-
rische Flüchtlinge aufgenommen worden. Das ist ein
Grad an Solidarität, der hier unvorstellbar erscheint.
Aber diese Menschen brauchen jetzt mehr Hilfe, weil die
Infrastruktur in den Nachbarstaaten – im Libanon sieht
man es am gravierendsten – schlicht komplett überlastet
ist.
Herr Minister, es ist leider nicht so, dass die meisten
Kinder in die Schule gehen können. Die syrischen
Flüchtlingskinder sind meistens, zumindest im Libanon,
nicht in Schulen, und die Spannungen steigen; darauf ist
hingewiesen worden. Das sieht man beispielsweise auch
daran, dass die Visa der Flüchtlinge im Libanon jetzt
häufig nicht verlängert werden. Es gibt schon jetzt auch
im Libanon nahezu täglich Tote. Es gibt Gefechte und
größere Konflikte.
Die politischen Kräfte, die bisher mit unglaublicher
Weitsicht und aufgrund der Erfahrung eines eigenen jah-
relangen Bürgerkriegs alles daransetzen, dass im Liba-
non der Bürgerkrieg nicht Einzug hält, sind am Rande
ihrer Kräfte. Gestern ist eine Präsidentschaftswahl im
Parlament im Libanon zum dritten Mal gescheitert. Na-
türlich darf man auch die Situation in Jordanien, im Irak
und in der Türkei nicht vergessen. Wasser, Strom, Wohn-
raum, Schulen und Krankenhäuser – es fehlt mittlerweile
an allem, weil keines dieser Länder mit der notwendigen
Geschwindigkeit so viel Hilfe leisten kann, wie notwen-
dig wäre.
Weil man nicht vergessen darf, dass trotz dieser hu-
manitären Katastrophen in den Nachbarstaaten die Situa-
tion in Syrien selbst deutlich dramatischer ist – sonst
würden die Leute ja nicht fliehen –, weil man sieht, dass
die Zahl der Toten in Syrien dermaßen dramatisch steigt,
dass die UN mittlerweile aufgehört haben, offiziell zu
zählen, ist es notwendig, zu schauen, was man tun kann.
Es ist klar, dass es in einer solchen Situation viele Ak-
teure gibt, aber man muss auch deutlich sagen, dass es
einen Hauptverantwortlichen für die Massaker und für
die humanitäre Katastrophe in Syrien gibt, und das ist
Präsident Assad.
In einer Situation, in der wir nicht wissen, wie wir den
Konflikt in Syrien schnell befrieden können, da uns die
Mittel dazu fehlen und da uns mittlerweile ein Stück
weit auch die Ideen fehlen, müssen wir das tun, was wir
tun können: Wir müssen humanitäre Hilfe leisten, in Sy-
rien und den Nachbarstaaten alles dafür tun, dass das
Leiden der Menschen zumindest gelindert wird, und ver-
hindern, dass der Konflikt die gesamte Region erfasst.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Für die Bundesregierung spricht nun der Parlamenta-rische Staatssekretär Dr. Ole Schröder.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wenn wir heute nach Syrien blicken, dann sindwir entsetzt: über die Toten durch den Bürgerkrieg, überLeid und Elend, über die Vertreibung. Die Menschenverlieren ihre Lebensgrundlage; Existenzen werden zer-stört. Mittlerweile sind mindestens 7 Millionen Men-schen auf der Flucht, davon rund 4,3 Millionen innerhalbSyriens. Circa 2,7 Millionen Menschen haben Syrienverlassen. Sie halten sich zum größten Teil in den Anrai-nerstaaten, aber auch in Ägypten auf. Die Hälfte von ih-nen – das dürfen wir nicht vergessen – sind Kinder.Es geht darum, dieses unvorstellbare Leid zu mildern.Hierfür ist zunächst einmal und vor allem Hilfe vor Orterforderlich. Es ist notwendig, die Menschen mit demAllernötigsten zu versorgen und vor allen Dingen dieAnrainerstaaten dabei zu unterstützen, insbesondere diemedizinische Versorgung, aber auch die Beschulung derKinder sicherzustellen. Genau das tut diese Bundes-regierung. Seit Ausbruch des Bürgerkriegs geben wirmassive finanzielle Hilfen. Wir sind nach den USA daszweitgrößte Geberland. Seit 2012 sind über 0,5 Milliar-den Euro bereitgestellt worden.Das THW leistet zudem vor Ort, in den Flüchtlingsla-gern in Jordanien und im Nordirak, tatkräftig Hilfe, ins-besondere bei der Wasseraufbereitung. Mit der Unter-stützung vor Ort erreichen wir die Masse der besondersHilfsbedürftigen am besten. Der Schwerpunkt der deut-schen Flüchtlingshilfe sollte daher auch weiterhin vorOrt gesetzt werden. Der Einsatz der Mittel ist hier beson-ders wirkungsvoll, und die meisten Menschen wollenauch in der Region bleiben.Natürlich suchen viele Menschen, die auf der Fluchtsind, auch in Deutschland Schutz. Wir stehen diesenFlüchtlingen offen gegenüber. Seit dem Ausbruch desBürgerkriegs 2011 sind 36 000 Menschen aus Syriennach Deutschland eingereist, um hier Asyl zu beantra-gen. In Deutschland leben derzeit 66 000 Syrer. Etwa1 700 neue Asylanträge kommen jeden Monat hinzu.Darüber hinaus hat die Bundesregierung im letzten Jahrfür besonders schutzbedürftige Menschen ein Humanitä-res Aufnahmeprogramm aufgelegt, um sie aktiv nachDeutschland zu holen.Unser Ziel war es, voranzuschreiten und auch andereLänder zu bewegen, ähnliche Aufnahmeprogramme aufden Weg zu bringen. Leider finden wir in Europa nur re-lativ zögerliche Nachahmer. Um das zu ändern, setzenwir uns im Schulterschluss mit dem UN-Flüchtlings-hochkommissar Guterres seit über einem Jahr für dieEinberufung einer Pledging-Konferenz zugunsten syri-scher Flüchtlinge ein. Leider ist die Kommission unsererBitte, ein sogenanntes Pledging-Verfahren durchzufüh-ren, bisher nicht nachgekommen.
Meine Damen und Herren, unser Humanitäres Auf-nahmeprogramm war anfangs auch für das Flüchtlings-hilfswerk der Vereinten Nationen neu. Daher war seineUmsetzung ausgesprochen schwierig. Anfangs musstedas Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das fürdie operative Umsetzung zuständig ist, bis zu zwei Mo-nate auf notwendige Unterlagen der Flüchtlinge warten.Dann gab es das Problem, dass die libanesischen Sicher-heitsbehörden für jeden Flüchtling eine Ausreisegeneh-migung verlangt haben, allerdings ohne diese auchschnell zu erteilen. Das alles hat zu Verzögerungen ge-führt. Letztlich ist die Aufnahme aus einem solchen Kri-sengebiet natürlich immer auch mit Sicherheitsrisikenverbunden. Gerade im Libanon konnten Flüchtlingenicht zu den bereitgestellten Charterflugzeugen gebrachtwerden, weil es die Sicherheitslage einfach nicht zuge-lassen hat.Gleichwohl wird das erste Aufnahmeverfahren nochim Mai abgeschlossen worden sein. Ich danke allen Mit-arbeitern des UNHCR und auch der Caritas, aber auchden Mitarbeitern des Bundesamtes für Migration undFlüchtlinge sowie den Mitarbeitern des AuswärtigenAmtes und des Bundesministeriums des Innern für ihretatkräftig geleistete Arbeit.
Trotz der Herausforderungen und der Schwierigkei-ten, die beim ersten Aufnahmeprogramm aufgetretensind, haben wir uns entschieden, parallel ein zweitesAufnahmeprogramm aufzulegen. Wir konzentrieren unsjetzt nicht nur auf den Libanon, sondern nehmen ins-besondere Verwandte von in Deutschland lebendenSyrern aus allen betroffenen Anrainerstaaten und auchaus Ägypten auf.Nachdem die Länder ihre Aufnahmevorschläge andas Bundesamt für Migration und Flüchtlinge geschickthaben, kommen wir nun gut voran. Das Bundesamt fürMigration und Flüchtlinge hat bereits mehr als einDrittel der teilnehmenden Personen identifiziert. Über1 000 Aufnahmebescheide wurden schon an die deut-schen Auslandsvertretungen übermittelt, sodass in dennächsten Wochen mit zahlreichen Einreisen zu rechnenist. Mehr als hundert Personen sind bereits über daszweite Aufnahmeprogramm eingereist.Darüber hinaus ermöglichen die Bundesländer, dasshier lebende Syrer ihre Verwandten nach Deutschlandholen können, wenn denn der Lebensunterhalt gesichertist. Auch über diesen Weg haben bereits mehr als4 000 Syrer ein Visum für Deutschland erhalten. Wirsind uns darüber im Klaren, dass es gerade für das Aus-wärtige Amt nicht einfach ist, die Situation vor Ort zubewältigen; aber dort wird wirklich alles getan, wasmöglich ist.Mit all diesen Maßnahmen ist Deutschland das Landaußerhalb der Krisenregion, das weltweit mit Abstanddie meisten Flüchtlinge aus Syrien aufnimmt. MeineDamen und Herren, als Vorreiter werden wir uns auchweiterhin international für die humanitäre Aufnahmestarkmachen. Auch national werden wir bei Erreichendes Kontingents nicht mit der aktiven Aufnahme auf-hören. Wir werden in den nächsten Wochen auch ent-sprechende Gespräche mit den Ländern führen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2747
Parl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder
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Meine Damen und Herren, wir sollten uns bei allerNotwendigkeit der Aufnahmeprogramme im Klarensein, dass wir die Not des Bürgerkriegs nicht hier inDeutschland lösen können. Deshalb ist es nach wie vornotwendig, dass wir unsere Hilfe vor Ort noch intensi-vieren. Dort erreichen wir die meisten Menschen, dortkönnen wir diese Not, dieses Elend am ehesten mildern.Das Wichtigste bleibt natürlich, dass der Friedenspro-zess vorankommt. Nur wenn wieder Frieden herrscht,wird es keine Flüchtlinge und keine Not und kein Elendmehr geben.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Kolle-
gin Annette Groth, Die Linke.
Danke. – Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und
Herren! Es wurde schon viel gesagt. Wenn wir über
syrische Flüchtlinge, Menschen in Not reden, möchte ich
ihnen jetzt einmal ein Gesicht geben; sonst ist das immer
so allgemein. Ich denke zum Beispiel an zwei junge
Syrer, Anfang zwanzig, in einem griechischen Polizei-
gefängnis mitten in Athen, die ich Anfang des Jahres ge-
troffen habe. Sie hatten eine weite, gefährliche Reise
hinter sich gebracht, über die Türkei, und sind dann in
Athen aufgegriffen worden, gefesselt und ins Polizei-
gefängnis gesteckt worden. Der eine schaute mich nur an
und sagte: Ich dachte, Europa ist demokratisch, hier
herrschen die Menschenrechte, und die Menschenwürde
wird respektiert. – Was sollte ich da sagen? Ich sagte: Ja.
Wir versuchen zu helfen. Es ist nicht richtig, dass Sie
hier gefangen genommen worden sind.
Das waren nur zwei von sehr vielen, die ich in den
letzten Monaten in griechischen Haftanstalten bzw.
Flüchtlingsgefängnissen gesehen habe.
Ich denke aber auch an eine Syrerin, die mit einem
Deutschen verheiratet ist und jetzt in Syrien, in Damas-
kus, auf ihr Einreisevisum wartet. Es hat ein paar
Probleme gegeben, da die Heirat nicht nach deutschen
Standards erfolgt ist. Sie haben nämlich in Beirut gehei-
ratet und lebten dann in Dubai. Dieses Land mussten sie
verlassen, nachdem er seine Arbeit verloren hatte. Er
ging zurück nach Deutschland, sie nach Syrien. Er hat
mittlerweile wieder eine Arbeit in Deutschland, und wir
hoffen, dass sie jetzt bald mit einem gültigen Visum ein-
reisen kann.
Ich kenne Hunderte von Fällen – Sie kennen viel-
leicht auch ein paar –, bei denen es – Herr Schröder hat
es eben gesagt – an Kleinigkeiten fehlt. Eine Familie
hatte zum Beispiel bis auf ein kleines Papier der Kran-
kenversicherung sämtliche Papiere zusammen. Und es
gibt sehr viele Papiere, die man neben einem hohen re-
gelmäßigen Einkommen, einer Krankenversicherung
usw. nachweisen muss. Aufgrund eines kleinen fehlen-
den Papiers der Krankenversicherung dürfen Menschen
nicht einreisen.
Ich habe Sie gut gehört, Herr Annen und Herr
Dr. Schröder. Sie haben gesagt, wir müssten mehr
Flüchtlinge aufnehmen. Das ist schön. Ich werde das be-
obachten und immer wieder einfordern.
Ich habe mich oft gefragt: Was wäre bei uns in
Deutschland eigentlich los, wenn wir in den letzten zwei
Jahren 20 Millionen Flüchtlinge hätten aufnehmen
müssen? Das entspricht nämlich ungefähr der Relation
Bevölkerung/Flüchtlinge im Libanon. Dort ist jeder
Vierte ein Flüchtling. Was wäre auf Rügen oder Sylt los,
wenn jeden Tag – im Sommer besonders – Flüchtlings-
boote aus der Türkei anlanden würden?
Vor Lesbos – dort war ich auch – ertrinken jeden Tag
Menschen. Das ist eine Schande! Es ist vor allen Dingen
eine absolute Menschenrechtsverletzung, wenn die
griechische Küstenwache, teilweise unterstützt durch
Frontex, Flüchtlingsboote wieder zurück in türkische
Gewässer schiebt, damit sie bloß nicht in griechischen
Gewässern landen und dort Hilfe benötigen. Das passiert
ständig. Pro Asyl und Amnesty International haben
kürzlich eindrückliche Berichte darüber verfasst. Das ist
eine Schande für Europa!
Europa muss also etwas tun. Wir müssen helfen und
auch mehr Flüchtlinge aufnehmen. Daneben müssen
auch die dringend notwendigen Finanzzusagen deutlich
erhöht werden. Bei einem Bedarf von mindestens
5,5 Milliarden Euro wurden 1,7 Milliarden Euro bewil-
ligt. Auch das ist eine Schande!
Ich bedanke mich und hoffe, dass diese Debatte bei
uns hängen bleibt und uns verpflichtet, mehr Flüchtlinge
aufzunehmen und die Hürden deutlich zu senken.
Danke.
Nächster Redner ist der Kollege Achim Post für die
Sozialdemokraten.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Ich will einmal einen Aspektaus der Europadebatte aufgreifen, die vor dieser Syrien-Debatte stattgefunden hat. Dort haben nämlich vieleRednerinnen und Redner zu Recht auf den 8. Mai 1945verwiesen.An diesem 8. Mai 1945 gab es 500 000 Flüchtlingeaus Deutschland, die besonders dankbar waren, dass sieden Naziterror überlebt haben. Zu verdanken haben siedas 80 Ländern, die sie aufgenommen haben. Wenn
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2748 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Achim Post
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diese 80 Länder das nicht getan hätten, dann wären diemeisten dieser 500 000 Menschen tot gewesen.Deshalb ist die Bundesrepublik Deutschland – wirsind jetzt stark und demokratisch – und sind die Bürge-rinnen und Bürger dieses Landes besonders in derPflicht, für Flüchtlinge aus aller Welt – und in diesemFall für Flüchtlinge aus Syrien – etwas zu tun.
Deshalb ist es gut, dass es in dem Antrag der Koali-tion darum geht, zu fragen: Wie können wir diesenFlüchtlingen helfen? Wie können wir diesen Flüchtlin-gen besser helfen? Wie können wir den NachbarländernSyriens helfen? Wie können wir diesen Nachbarländernbesser helfen? Am Schluss des Koalitionsantrags stehenacht konkrete Punkte, die ich alle unterstütze. Ich ver-mute, auch Sie unterstützen sie alle. Auf einen dieserPunkte, der von einigen Vorrednern schon angesprochenwurde, will ich besonders eingehen.Was macht die Europäische Union? Herr Minister, Siehaben darauf hingewiesen: Ich kenne keine EU-Programme für Syrien-Flüchtlinge. Ich kenne keineverbindlichen Vereinbarungen aller EU-Staaten, keineverbindlichen Zahlen. Deswegen unterstütze ich dieBemühungen der Bundesregierung, vor allen Dingen diedes Innenministers, der seit Jahr und Tag auf eine EU-Flüchtlingskonferenz über Syrien drängt, weil wir nurdann, wenn es diese Konferenz gibt, darüber redenkönnen, wie ein faires Verfahren, ein transparentes Ver-fahren und auch ein demokratisches Verfahren organi-siert werden kann.Es ist gut, wenn Deutschland und Schweden viel tun.Aber es ist nicht gut, wenn sehr viele sehr wenig odergar nichts tun.
Deshalb brauchen wir eine gesamteuropäische Lösung.Wenn der jetzige EU-Kommissionspräsident, der nichtmehr lange im Amt ist, dazu nicht fähig oder willens ist,dann muss das eine der ersten großen Aufgaben des neugewählten EU-Kommissionspräsidenten werden.
Wir alle wissen – viele haben das betont –: Die syri-schen Flüchtlinge bleiben langfristig auf weitere inter-nationale Unterstützung angewiesen. Deshalb ist dereuropäische Einsatz richtig, aber es ist auch richtig, dasssich Bund und Länder langfristig darauf verständigenund verpflichten müssen, das, was sie bisher geleistethaben, zu verstetigen und noch mehr als bisher zu tun.
Ich muss an dieser Stelle sagen: So wie es – sagen wireinmal – Ungerechtigkeiten zwischen den 28 europäi-schen Ländern gibt, gibt es sie auch zwischen den16 deutschen Bundesländern. Es gibt viele Länder, dieviel tun, sehr viele sogar. Ich komme aus Nordrhein-Westfalen. Ich kann sagen: Mein Bundesland, meineMinisterpräsidentin, mein Innenminister tun alles, um imRahmen des Länderaufnahmeprogramms möglichst vie-len Menschen aus Syrien zu helfen. Ein anderes Beispielhierfür ist Niedersachsen. Es gibt 15 Länderaufnahme-gesetze. Wir haben aber 16 Bundesländer. Ich vertrauealso darauf, dass eine mächtige Landesgruppe – ichschaue jetzt nach rechts – hier im Deutschen Bundestagdafür sorgt, dass wir bald 16 Länderaufnahmegesetzehaben; denn nur Bund und Länder gemeinsam könnendiese Aufgabe bewältigen.
Zusammengefasst: Wir alle sind in der Pflicht: jedeeinzelne von uns, jeder einzelne von uns, der Bund, dieLänder, die Europäische Union. Ich halte es für einGebot der Solidarität, der Nächstenliebe und derMenschlichkeit, dass wir unsere Anstrengungen weiterverstärken.Schönen Dank.
Herr Kollege Post, das war Ihre erste Rede hier imDeutschen Bundestag.
Ich gratuliere Ihnen dazu und wünsche Ihnen viele wei-tere Reden hier im Hohen Hause.Für unsere nächste Rednerin ist es nicht die ersteRede. Ich erteile das Wort unserer Kollegin ClaudiaRoth.Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sy-rien ist Schauplatz einer humanitären Katastrophe unbe-schreiblichen Ausmaßes: entgrenzte Gewalt, totale Zer-störung, Abertausende Tote, darunter sehr viele Kinder,die Hälfte der syrischen Bevölkerung vertrieben, auf derFlucht. Es ist ein fast biblischer Exodus von Menschenwie Sie und ich, die alles verloren haben.Millionen von ihnen sind in den Nachbarländern ge-strandet. In diesen Ländern, die völlig überfordert sind,führt die humanitäre Katastrophe mehr und mehr zurpolitischen Krise, zur Gefahr einer Destabilisierung undzu einem Flächenbrand in der gesamten Region.Libanon hat – Niels Annen hat es angesprochen –4,2 Millionen Einwohner, und schon jetzt sind dort über1 Million syrische Flüchtlinge registriert. Hunderttau-sende palästinensische Flüchtlinge leben seit Jahrzehn-ten dort. Sie sind oft die Ärmsten der Armen. Deswegen
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2749
Claudia Roth
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haben wir beantragt, die UNRWA besser auszustatten.Es droht ein Kollaps der gesamten Infrastruktur im Liba-non. Ob Bildung oder Gesundheit: Nichts geht mehr.Wenn aber der Libanon auseinanderbricht, dann istauch das Modell eines multireligiösen Zusammenlebensin einer Gesellschaft gescheitert. Das ist ganz sicher einBrandbeschleuniger für Fundamentalismus, Terrorismusund den vermeintlichen Krieg der Religionen.Jordanien ist eines der wasserärmsten Länder welt-weit. Einige von uns waren im Lager al-Zaatari, ausge-legt auf 125 000 Menschen. Das ist jetzt schon die dritt-größte Stadt in Jordanien. Der UNHCR-BeauftragteKilian Kleinschmidt ist dort faktisch ein Bürgermeister.Er baut eine Stadt auf, und er schildert eindringlich dieHerausforderungen. Er sagt, es müsse um sehr viel mehrgehen als um die kurzfristige Aufnahme. Es wird damitgerechnet, dass die Menschen zehn Jahre dort lebenmüssen.Also muss – auch mit unserer Unterstützung – verhin-dert werden, dass eine ganze Generation verloren geht.Deshalb braucht es Erziehung, Schule, Sport und Kultur.Es braucht so etwas wie Leben in Containern und Zelten,und es braucht zum Beispiel Städtepartnerschaften wiemit Amsterdam, das mit dem Lager eine Städtepartner-schaft unterhält und 5 000 Fahrräder geschickt hat.
Die Türkei hat 1 Million Menschen aufgenommen.Über 200 000 Menschen werden in Lagern versorgt.Viele andere prägen zum Beispiel das Stadtbild in Istan-bul, übrigens nicht zuletzt viele Christinnen und Chris-ten, die in diesem Krieg zwischen alle Fronten geratenund voller Angst sind.Lieber Gerd Müller, bitte vergessen Sie auch den Iraknicht. In der kurdischen Region im Nordirak sind350 000 Menschen mit großer Herzlichkeit aufgenom-men worden. Sie haben dort das Recht auf Arbeit. Aberauch diese Region ist an der Grenze ihrer Möglichkeitenangekommen.Ich werde die Trauer, die Verzweiflung, Angst undHoffnungslosigkeit der Menschen dort nicht vergessen.Ich werde aber auch das Lachen der Kinder in diesen La-gern nicht vergessen, die doch nach all dem Terror undHorror, den sie erlebt haben, ein Recht auf Zukunft ha-ben.
Ja, Deutschland hilft. Gerd Müller hat schon vieles er-wähnt. Man kann noch das THW, die Johanniter, das Be-handlungszentrum für Folteropfer und die GIZ hinzufü-gen. Es ist gut, dass Gerd Müller sich als Minister vorOrt ein Bild gemacht hat. Es war eine wunderbare Gesteund ein Zeichen, dass Präsident Gauck und Frau Schadtein Flüchtlingslager besucht haben. Das ist gut. Den-noch: Es reicht vorne und hinten nicht aus, auch wenn esbesser ist als das, was der Rest Europas mit Ausnahmevon Schweden tut.
Sie haben es sehr diplomatisch ausgedrückt. Ich hattedas Gefühl, dass Europa jeden Tag aufs Neue erschre-ckend versagt, sich seiner humanitären Schutzverant-wortung völlig verweigert und dadurch auch die Werte,auf denen Europa basiert, deutlich infrage stellt.
Wir müssen sehr viel mehr tun und uns auch in Eu-ropa für sehr viel mehr einsetzen. Wir brauchen hier beiuns die Bereitschaft, deutlich mehr Flüchtlinge aufzu-nehmen. Wir brauchen eine Erleichterung der Familien-zusammenführung, mehr Mittel für die Soforthilfe undeine nachhaltige Unterstützung der Nachbarregionen.Es ist eine Tragödie, dass die Syrer Opfer eines bruta-len Stellvertreterkrieges werden. Von Iran über Russ-land, Saudi-Arabien, Katar und USA bis zur Türkei: Siealle haben ihre Interessen, und die Syrer zahlen dafür mitihrem Leben.Es ist brandgefährlich, dass die Opposition immermehr dominiert wird von islamistischen Terrorgruppen.Besonders entsetzt haben mich die immer lauter werden-den Stimmen, die sagen: Assad ist sehr schlimm. Abersind die anderen nicht noch schlimmer? – Als wäre einemenschenverachtende Diktatur ein Ausbund an Stabili-tät!
Auch wenn man es fast nicht aushalten kann: Es gibtkeine militärische Lösung. Deswegen brauchen wir einehumanitäre Offensive und immer wieder Verhandlungen,und zwar mit allen. Alle müssen sich an den Tisch setzenund bereit sein, nicht ihre Interessen, sondern endlichdas Überleben der Menschen in Syrien im Auge zu ha-ben. Es braucht – auch angesichts des Schattens der Er-eignisse in der Ukraine – eine engagierte deutsche Poli-tik für die Menschen, für das Ende der Gewalt und füreinen politischen Friedensprozess. Ich hätte mir sehr ge-wünscht, dass der Deutsche Bundestag in dieser Frageeinen gemeinsamen Antrag auf den Weg bringt. Vergesstdie Syrer nicht; denn Vergessen tötet.
Für die CDU/CSU spricht nun der Kollege Philipp
Mißfelder.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Zuerst zum Antrag. Liebe Kollegin Roth,ich glaube, dass die Debatte schon zeigt, dass wir ein ge-meinsames Anliegen haben. Es wäre sicherlich schönergewesen, wenn wir einen gemeinsamen Antrag verab-schiedet hätten. Aber das ist am Ende an Nuancen undnicht an fundamentalen Unterschieden gescheitert. Dassollte man an dieser Stelle ruhig einmal erwähnen. Die
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Philipp Mißfelder
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Textpassagen sind größtenteils gemeinsam erarbeitetworden, Kollege Nouripour. Deswegen ähneln sich diegestellten Anträge so sehr. Wir beide haben ganz zu Be-ginn darüber gesprochen, ob es nicht einen gemeinsa-men Antrag geben könnte. Ich jedenfalls hätte mir einensolchen Antrag gewünscht. Aber es hat nicht geklappt.Die Debatte zeigt umso mehr, dass es unser gemein-sames Anliegen ist, den Menschen in Syrien zu helfen.Ich möchte Kollegin Roth explizit unterstützen, geradevor dem Hintergrund des Genf-II-Prozesses, den wir unsauch im Zusammenhang mit der Ukraine erhoffen undder hoffentlich erfolgreicher ist als Genf I: Wir suchengewissermaßen nach Formaten, die dazu dienen, in Sy-rien einen politischen Prozess einzuleiten.Erinnern wir uns. Zu Beginn des Syrien-Konflikts ha-ben fast alle – inklusive meiner Person – hier im Deut-schen Bundestag gesagt: Eine Friedenslösung kann esnur ohne Assad geben. – Wir haben damals aufwendigeTreffen mit den „Friends of Syria“ arrangiert. Ich hattedamals mit dem ehemaligen Außenminister Westerwelledie Gelegenheit, engagierte Oppositionelle aus Syrien zutreffen. Das hat uns die Hoffnung gegeben, dass dasLand nach einem blutigen Bürgerkrieg, der hoffentlichbald beendet ist, einen Schritt nach vorne geht. Nichtsdavon ist eingetreten. Assad ist noch da. Leider müssenwir die Worte, die wir einst gesprochen haben, beiseite-schieben.Des Weiteren hat die Opposition nicht die Stärke ent-faltet, die wir uns erhofft hatten.
Diejenigen, die wir stärker unterstützen wollten, habengrößtenteils das Land verlassen. – Frau Jelpke, ichmöchte Ihren Zuruf aufgreifen. Wir haben bei „Friendsof Syria“ zu keinem Zeitpunkt Terroristen unterstützt.Vielmehr haben wir diejenigen unterstützt, die sich umeine demokratische Zukunft verdient gemacht haben;das ist etwas vollkommen anderes. Dass dann von außenzusätzliche Kräfte in das Land hineingekommen sindund finanziell unterstützt wurden – und zwar gerade ausder Golfregion –, hat die Situation erschwert. Daher istanzumerken, dass wir zu Beginn des Konflikts von ganzanderen Voraussetzungen ausgegangen sind, als der Ver-lauf später gezeigt hat. Das muss man an dieser Stellekonstatieren.
Herr Kollege Mißfelder, gestatten Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Jelpke?
Nein. Ich habe ihren Zuruf schon aufgegriffen.Letzter Punkt dazu. Ich bin der Meinung, dass nurdie Fortsetzung der politischen Gespräche hilfreich istund dass es in diesem Konflikt keine militärische Op-tion gibt. Der humanitäre Beitrag ist umso wichtiger,um die politischen Gespräche zu begleiten. GerdMüller hat – ebenso wie Staatssekretär Schröder – dan-kenswerterweise für die Bundesregierung deutlich ge-macht, dass Deutschland dort vorbildlich handelt. Natür-lich wünschen wir uns, dass alle anderen europäischenLänder genauso handeln wie wir. Aber nicht in allen ande-ren Ländern ist die gleiche Bereitschaft vorhanden wie beiuns. Da gerade mein Heimatland Nordrhein-Westfalen ge-nannt wurde: Ich bin froh, dass insbesondere die Kom-munen, die sich in der Regel in einer schwierigen finan-ziellen Situation befinden, die Menschen aus Syrien mitoffenen Armen empfangen. Das spricht für die Kulturunseres Landes, und das sollte auch für andere europäi-sche Länder Vorbild sein.
Aber der entscheidende Blick, was die Flüchtlings-problematik angeht, richtet sich – das haben fast alleRedner schon gesagt – auf die Nachbarländer. Es istschon angesprochen worden: Die Türkei leistet Erhebli-ches. In Jordanien sehen wir eine Situation, bei der mansich, von außen betrachtet, nur noch wundert, warum esda noch nicht zu größeren politischen Umwälzungen ge-kommen ist. Darauf müssen wir unseren politischen Fo-kus richten.Auch der Irak ist angesprochen worden. Daraufmöchte ich etwas detaillierter eingehen. In Kurdistan, imNordirak, werden die Menschen mit offenen Armenempfangen. Die Zentralregierung leistet aus meinerSicht noch keinen genügenden finanziellen Beitrag, umden Nordirak stärker zu unterstützen. Der innerirakischeKonflikt, der dort stattfindet, darf nicht auf dem Rückender Menschen, vor allem der Christinnen und Christen,die dort Zuflucht gefunden haben, ausgetragen werden,weil sich Bagdad weigert, dort wesentlich mehr zu leis-ten, als es das bisher tut. Deshalb gilt unsere Solidaritätinsbesondere der Regionalregierung von Kurdistan.
Auch Ägypten ist angesprochen worden. Ägypten hatselber große Schwierigkeiten. Umso bemerkenswerterist es, dass sich die Ägypter an unsere Seite gestellt unduns unterstützt haben.Wie der Kollege Annen gesagt hat, handelt es sich umeine der größten Tragödien unserer Zeit. Wir haben bis-her kein Mittel gefunden, dieses Töten zu stoppen. Wennes auch Signale der Entspannung oder Hoffnungsschim-mer an manchen Tagen gibt, so hat sich doch herausge-stellt, dass Strukturen von außen aus geopolitischenGründen unterstützt worden sind, seitens der Golfstaa-ten, aber auch insbesondere seitens Russlands, und dasswir in einer Situation sind, in der sich die Fronten ver-härtet haben und der Konflikt in Syrien zu einem Stell-vertreterkonflikt geworden ist.Es besteht die große Gefahr, dass die Terroristen, dievon außen eingesickert sind, und die Islamisten, die jetztkampferprobt sind, bei einer Befriedung des Konflikts inandere Länder zurückkehren, teilweise als Flüchtlingegetarnt, und zur Destabilisierung der gesamten Regionbeitragen. Weiterhin droht sich der Stellvertreterkriegauszuweiten.
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Philipp Mißfelder
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Vor diesem Hintergrund glaube ich, dass es nicht nurdarum geht, heute die syrischen Flüchtlinge nicht zu ver-gessen, sondern auch darum, dass wir den Brandherd Sy-rien insgesamt im Blick behalten. Wir müssen uns einerSache bewusst sein: Dieser Konflikt ist noch nicht vor-bei. Wir werden in Zukunft noch mehr leisten müssen,und der politische Weg muss weiter beschritten werden.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Für die Sozialdemokraten erteile ich nun dem Kolle-
gen Rüdiger Veit das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die heutige Debatte ist bemerkenswert. OhneZensuren verteilen zu wollen, möchte ich sagen, dassdieser Bundestag selten so einmütig im Ziel, zum Teilauch so leidenschaftlich und übereinstimmend diskutierthat: ein wohltuender Auftakt von Bundesminister Müllerund viele andere engagierte Beiträge.
Wenn ich jetzt hier noch etwas hinzufüge, dann des-halb, um das Manko des bisherigen Antrags aufzugrei-fen, das der Kollege Nouripour zu Recht erwähnt hat. Esfehlt eine klare Aussage in dem Antrag, was wir ganzkonkret für die Aufnahme der syrischen Flüchtlinge inDeutschland tun sollen. Es wäre wünschenswert gewe-sen, wenn wir zugleich mit diesem eher außenpolitischzentrierten Antrag auch dazu hier hätten eine Aussagetreffen können.
Es wäre wünschenswert gewesen – wir sollten daranarbeiten und nicht nachlassen –, dass das ganze Haus ineinem interfraktionellen Antrag auch hierzu etwas sagt,nicht nur zur Außenpolitik und nicht nur zur Entwick-lungspolitik; denn ich erinnere daran: Die Aufnahmevon Flüchtlingen ist eine gesamtstaatliche Aufgabe allerdrei Ebenen: des Bundes, der Länder und der Kommu-nen. Alle hier vertretenen Parteien sind auch in Landes-regierungen vertreten. Wenn wir uns also mit einermachtvollen Stimme gegenüber allen Landesregierun-gen Gehör verschaffen wollen, dann tun wir gut daran,alle politischen Kräfte dieses Hauses zu bündeln. Des-wegen appelliere ich an Sie, dass wir auch bei der Frageder Aufnahme weiterer Flüchtlinge aus Syrien hier an ei-ner gemeinschaftlichen Lösung arbeiten.
Die ist leider nicht so ganz einfach, sonst hätte sievielleicht schon in diesem Antrag stehen können odervielleicht Gegenstand eines innenpolitisch geprägtenAntrags sein können. Es gibt Verwerfungen nicht nur in-nerhalb der Europäischen Union. Darauf ist mehrfachhingewiesen worden. Was sich die EU an der Stelle leis-tet, ist, wie Herr Bundesminister Müller gesagt hat, be-schämend; ich füge hinzu: Es ist schändlich. Es ist gutund richtig, dass wir mit gutem Beispiel vorangehen.Aber es gibt eben auch ein erhebliches Ungleichge-wicht in der Bundesrepublik selber. Ganz vorne dabeimit Landesaufnahmeanordnungen und großzügigerHandhabung der sogenannten Verpflichtungserklärun-gen der Verwandten sind etwa Nordrhein-Westfalen,Niedersachsen und auch Baden-Württemberg. Einzelneandere Bundesländer liegen mit sehr kleinen Aufnahme-zahlen weit hinten. Bayern ist mit einem eigenen Lan-desaufnahmeprogramm bisher überhaupt nicht beteiligt.Ich sage das nicht, um zu schimpfen. Ich sage das, umdafür zu werben, dass auch in diesem Bundesland eineigenes Landesaufnahmeprogramm aufgelegt wird.Dann können Bund und Länder gemeinsam überlegen,wie sie in einer geschickten Ergänzung und Verteilungder damit verbundenen Kosten und Lasten zu gemein-samen Ergebnissen kommen. Im Endeffekt muss es na-türlich heißen: Wir – gerade Deutschland, gerade auchals Vorbild – haben alle Veranlassung, auch historischeVeranlassung, mehr zur Bewältigung dieser humanitärenKatastrophe zu tun. Dazu reichen die bisherigen Zahlenin keiner Weise aus. Ich will hier bewusst trotzdem keineanderen konkreten Zahlen in den Raum stellen.Ich würde mir sehr wünschen, dass es zu mehr Enga-gement kommt. Ich würde mir auch wünschen, dass wirzu einer gleichmäßigen Verteilung innerhalb Deutsch-lands kommen. Der Königsteiner Schlüssel hat sich hier-für schon in bester Weise bewährt. Vor allen Dingenwürde ich mir wünschen, dass die Flüchtlinge, egal obsie als Asylbewerber gekommen sind, ob sie über denWeg einer Landesaufnahmeanordnung oder über dasBundesprogramm gekommen sind, mit einem einheitli-chen Status ausgestattet werden. Es wäre mein Appell,mein Wunsch, meine Bitte und zugleich meine Einla-dung, dass wir alle daran gemeinsam arbeiten.Wir haben das schon einmal geschafft: Wir haben ineinem einstimmigen Beschluss am 28. Juni des letztenJahres nach einer Delegationsreise des Innenausschussesnach Griechenland und in die Türkei, bei der es auch umdiese Flüchtlingsfragen ging, hier eine gemeinsamePosition verabschiedet, die klar besagt hat: Wir verlan-gen mehr von Europa. Wir unterstützen das Bundesin-nenministerium. Wir wollen insgesamt eine höhere Zahlan Aufnahmen von Flüchtlingen aus Syrien.Das Problem hat sich seitdem, wohlgemerkt was diepolitische Diskussion angeht, nicht verändert und istnicht kleiner geworden; das hat auch der heutige Taggezeigt. Es ist in seiner menschlichen Dimension ganzerheblich angewachsen, bis hin zur, wie ich sage, größ-ten humanitären Katastrophe, zumindest in der Zeit, dieich in der Politik aktiv bin und überblicke. Deswegenbesteht umso mehr Veranlassung, hier zu einer einheitli-
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Rüdiger Veit
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chen Position zu kommen. Dafür werbe ich auch inRichtung meines Koalitionspartners, aber auch allerübrigen Beteiligten. Ich sichere noch einmal meine Un-terstützung zu.Danke für die Aufmerksamkeit.
Abschließende Rednerin in dieser Debatte ist die Kol-
legin Andrea Lindholz, CDU/CSU, der ich hiermit das
Wort erteile.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Seit meiner ersten Rede zum Thema Syrienim März dieses Jahres hat sich die Situation leider kaumverändert. Nach wie vor überschattet die Eskalation inder Ukraine die humanitäre Katastrophe in Syrien. Inden deutschen Medien taucht die katastrophale Lage indem vom Bürgerkrieg zerstörten Land nur ganz seltenauf.Der Zerfall des syrischen Staates fordert nach wie vortäglich neue Todesopfer. Zahllose Menschen werdenverletzt, während 40 Prozent der syrischen Krankenhäu-ser nicht mehr funktionsfähig sind. 9,3 Millionen Syrersind innerhalb und außerhalb ihrer Heimat auf derFlucht. Sie alle benötigen dringend humanitäre Hilfe.Deutschland erfüllt seine humanitären Verpflichtun-gen und hilft massiv. Seit 2012 hat die Bundesregierungüber eine halbe Milliarde Euro für syrische Flüchtlingebereitgestellt. Damit gehört Deutschland zu den größtenbilateralen Geldgebern. Hieran wollen wir festhalten,und wir dürfen da auch nicht nachlassen.Unser Technisches Hilfswerk liefert praktische Hilfein den Flüchtlingslagern in Jordanien und im Nordirak.Die Mitarbeiter des THW und aller anderen Hilfsorgani-sationen vor Ort leisten einen unschätzbaren Dienst fürMillionen von Flüchtlingen. Ihnen gebührt unser Dank.Auch im Asylbereich macht sich das Engagementbemerkbar. In Deutschland werden inzwischen rund1 700 neue syrische Asylanträge pro Monat registriert.Seit 2012 gibt es einen Stopp von Abschiebungen nachSyrien. In den letzten Jahren sind über 36 000 Syrer nachDeutschland gekommen. Damit hat sich die syrische Ge-meinschaft in Deutschland mehr als verdoppelt. Zusätz-lich haben wir zwei Sonderprogramme aufgelegt, mitdenen 10 000 besonders schutzbedürftige Syrer bei unsAsyl erhalten. Deutschland nimmt damit zwei Drittel al-ler syrischen Flüchtlinge auf, die außerhalb der RegionSchutz finden.Bayern, Herr Kollege Post, nimmt im Rahmen desBundesprogramms 1 520 Syrer auf. Das sind 15 Prozentder Gesamtzahl und damit mehr, als jedes andere Bun-desland aufnimmt. Staatsminister Herrmann hat bereitsangekündigt, dass Bayern auch weiterhin über das Maßhinaus Syrer aufnehmen wird und statt auf unflexibleLandesprogramme auf eine Ausweitung des Bundes-programms setzen will. In Bayern leben 4 600 Syrer.Das sind 7 Prozent aller Angehörigen der syrischenCommunity in Deutschland.Unsere europäischen Partnerstaaten haben zwar eben-falls Sonderprogramme aufgelegt. Allerdings kommenalle EU-Staaten zusammen gerade mal auf ein Kontin-gent von 3 900 Sonderplätzen. Selbst große Länder wieFrankreich und Großbritannien stellen nur 500 Plätze be-reit. Das, meine sehr geehrten Damen und Herren, istnicht länger hinnehmbar.Vor diesem Hintergrund bittet die Koalition die Bun-desregierung, unsere europäischen Nachbarn aufzufor-dern, mehr Verantwortung angesichts der humanitärenKatastrophe zu übernehmen. Das gilt sowohl in Bezugauf die Ausweitung der Sonderkontingente außerhalbder gewöhnlichen Asylverfahren als auch in Bezug aufdie Hilfe vor Ort in Syrien und den Nachbarstaaten. Hiermüssen insbesondere mehr Gelder für die humanitäreUnterstützung zur Verfügung gestellt werden. Wir brau-chen auf europäischer Ebene – das hatte ich im Märzschon gesagt – endlich eine Syrien-Flüchtlingskonfe-renz. Auch wenn die schrecklichen Bilder der syrischenFlüchtlingskinder nicht in unseren Medien auftauchen:Es gibt sie doch. Das Elend ist groß, und Europa darfhier nicht wegsehen.
Es kann nicht sein, dass unsere europäischen Partnerdie Verantwortung speziell für Syrien und allgemein imAsylbereich auf Deutschland abwälzen. Im letzten Jahrwurden fast 30 Prozent aller Asylanträge innerhalb Eu-ropas in Deutschland gestellt. Binnen eines Jahres stiegin Deutschland die Zahl der Asylanträge um 70 Prozent.Angesichts dieser Zahlen ist es wichtig, dass wir dieim Koalitionsvertrag vereinbarte Beschleunigung derAsylverfahren zügig umsetzen. Aussichtslose Asyl-verfahren müssen schneller als bisher abgeschlossenwerden. Wir würden damit zusätzliche Kapazitätenschaffen, um für syrische Flüchtlinge schnell eineLösung zu finden, und wir würden die Situation in denKommunen verbessern. Die Kommunen erbringen näm-lich die Hauptleistung bei der Aufnahme der Flücht-linge, was nicht immer ganz einfach ist. Auch ich gehedavon aus, dass wir weitere Flüchtlinge aus Syrien beiuns aufnehmen werden und aufnehmen müssen.Daher wollen wir Serbien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina, aber auch Albanien und Montenegro zusicheren Herkunftsstaaten erklären. Aus diesen Ländernstammt heute mehr als ein Viertel aller Asylbewerber,obwohl die Anerkennungsquote für diese Länder seitJahren bei quasi 0 Prozent liegt. Diese Länder sind si-cher. Serbien bewirbt sich um eine EU-Mitgliedschaft.Die serbische Regierung bittet selber darum, auch vonDeutschland endlich als sicheres Herkunftsland einge-stuft zu werden.
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Andrea Lindholz
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Asyl in Deutschland, meine sehr geehrten Damen undHerren, kann aber immer nur in begrenztem Umfangeine Lösung für Flüchtlingskrisen bieten. Angesichtsvon 43 Millionen Flüchtlingen weltweit wird der tat-sächliche Bedarf an Asyl nie zu decken sein.Vor diesem Hintergrund ist es richtig, dass wir denFokus auf die Unterstützung vor Ort legen, den Men-schen direkt vor Ort helfen und für ein Dach über demKopf, für sauberes Trinkwasser, für Essen und für medi-zinische Versorgung Sorge tragen.Langfristig wird sich die Situation der syrischenFlüchtlinge aber nur verbessern, wenn der Krieg in ihrerHeimat beendet wird. Der Friedensprozess muss dahermit allem Nachdruck und trotz aller Rückschläge weiter-verfolgt werden. Wo die Gespräche enden und wo dieWaffen sprechen, da hat die Politik versagt, und das dür-fen wir nicht akzeptieren.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Lindholz.Damit schließe ich die Aussprache.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über zwei An-träge mit dem gleichlautenden Titel „Hilfe für dieFlüchtlinge aus Syrien – Unterstützung für die Nachbar-staaten“.Zunächst Tagesordnungspunkt 6 a. Abstimmung überden Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD aufDrucksache 18/1333. Wer stimmt für diesen Antrag?– Wer stimmt gegen diesen Antrag? – Wer enthält sich? –Damit ist dieser Antrag mit den Stimmen der Koalitiongegen die Stimmen der Grünen bei Enthaltung der Lin-ken angenommen.Zusatzpunkt 3. Abstimmung über den Antrag der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1335.Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Damit ist dieser Antrag gegen dieStimmen der Grünen mit den Stimmen der Koalition beiEnthaltung der Linken abgelehnt.Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 24 a bis h so-wie den Zusatzpunkt 4 auf:24 a) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demAbkommen vom 2. Dezember 2010 zwischender Europäischen Union und ihren Mitglied-staaten einerseits und Georgien andererseitsüber den Gemeinsamen Luftverkehrsraum
Drucksache 18/1224Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Auswärtiger AusschussAusschuss für Recht und Verbraucherschutzb) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zumVorschlag für eine Verordnung des Rates zurAusdehnung der Anwendung der Verordnung
Nr. …/2013 über ein Aktionsprogramm
in den Bereichen Austausch, Unterstützungund Ausbildung zum Schutz des Euro gegenGeldfälschung
auf die nicht teilnehmenden MitgliedstaatenDrucksache 18/1225Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutzc) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurUmsetzung der Entscheidung des Bundesver-fassungsgerichts zur Sukzessivadoption durchLebenspartnerDrucksache 18/1285Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
InnenausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendd) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurEinführung einer Länderöffnungsklausel zurVorgabe von Mindestabständen zwischenWindenergieanlagen und zulässigen Nutzun-genDrucksache 18/1310Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Ernährung und Landwirtschafte) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzeszur Änderung des Zweiten Buches Sozial-gesetzbuch – Ergänzung personalrechtlicherBestimmungenDrucksache 18/1311Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
InnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GOf) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Alexander S. Neu, Wolfgang Gehrcke, Janvan Aken, weiterer Abgeordneter und derFraktion DIE LINKEHenry-Kissinger-Stiftungsprofessur an derUniversität Bonn verhindernDrucksache 18/1330Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuss
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Vizepräsident Johannes Singhammer
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g) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Alexander S. Neu, Wolfgang Gehrcke, Janvan Aken, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion DIE LINKEEinrichtung einer Nelson-Mandela-Stiftungs-professur für Friedenspolitik und Völker-rechtDrucksache 18/1329Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschussh) Unterrichtung durch die BundesregierungBericht zur Umsetzung des EuropäischenSemesters 2013 und der Europa 2020-Strate-gie unter besonderer Berücksichtigung derländerspezifischen EmpfehlungenDrucksache 17/14622Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitHaushaltsauschussZP 4 Unterrichtung durch die BundesregierungStadtentwicklungsbericht 2012Drucksache 17/14450Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheit
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für TourismusAusschuss für Kultur und MedienEs handelt sich um Überweisungen im vereinfachtenVerfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Ich frage, ob Sie damit einverstanden sind.– Ich sehe keine gegenteiligen Äußerungen. Dann sinddie Überweisungen so beschlossen.Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 25 und Zusatz-punkt 5 auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zuVorlagen, zu denen ebenfalls keine Aussprache vorge-sehen ist.Tagesordnungspunkt 25:Beratung der Ersten Beschlussempfehlung desWahlprüfungsausschusseszu Einsprüchen gegen die Gültigkeit derWahl zum 18. Deutschen Bundestag am22. September 2013Drucksache 18/1160Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-empfehlung ist damit mit den Stimmen aller Fraktionenangenommen.Zusatzpunkt 5:Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Gerhard Schick, Manuel Sarrazin, KerstinAndreae, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENzu dem Vorschlag für eine Verordnung desEuropäischen Parlaments und des Rates zurFestlegung einheitlicher Vorschriften und ei-nes einheitlichen Verfahrens für die Abwick-lung von Kreditinstituten und bestimmtenWertpapierfirmen im Rahmen eines einheitli-chen Abwicklungsmechanismus und eineseinheitlichen Bankenabwicklungsfonds sowiezur Änderung der Verordnung Nr. 1093/2010 des Europäischen Parlaments und desRatesKOM(2013) 520 endg.; Ratsdok. 12315/1/13hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 desGrundgesetzesFür einen europäischen Bankenabwicklungs-mechanismus und BankenabwicklungsfondsDrucksache 18/1340Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage-gen? – Es enthält sich niemand. – Damit ist dieser An-trag gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen mitden Stimmen der Koalition und der Linken abgelehnt.Damit kommen wir jetzt zum Zusatzpunkt 6:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion DIE LINKEErgebnisse des Treffens von BundeskanzlerinDr. Angela Merkel mit US-Präsident BarackObamaIch eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Kollegen Jan Korte das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Seit Juni 2013 rollt die große NSA-Überwa-chungsaffäre. Was passierte seitdem? Am 12. Juni fährtder damalige Innenminister Friedrich nach Washington,wird allerdings sofort ohne Ergebnis wieder zurück-geschickt. Am 4. November 2013 fahren die Chefs vonBND und Verfassungsschutz nach Washington. Diehaben zumindest vom Thema Ahnung, haben aber auchnichts herausgefunden, geschweige denn an dieserPraxis etwas ändern können.Dann kommt der damalige KanzleramtsministerRonald Pofalla und erklärt die Affäre für beendet.Schließlich, nachdem sie doch nicht beendet gewesenist, wird vorgeschlagen: Wir machen ein No-Spy-
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Jan Korte
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Abkommen. Daraus ist nichts geworden. Nun habeneinige fälschlicherweise gehofft, dass, wenn die Bundes-kanzlerin zu ihrem guten Kumpel Präsident Obamafliegt, Klartext gesprochen und sich dann etwas ändernwürde. Das war leider eine große Fehleinschätzung.Wie reagiert die Bundeskanzlerin auf diesen größtenDatenschutz- und Bürgerrechtsverletzungsskandal derletzten Jahrzehnte, der im Übrigen ein Dauerangriff aufunsere Grund- und Freiheitsrechte ist? Sie reagiert mitvölligem Desinteresse, ohne Mut, geschweige denn mitirgendeiner Konsequenz. Das ist einer Bundeskanzlerinund einer Bundesregierung bei der Dimension diesesSkandals nicht angemessen.
Der Besuch bei Präsident Obama war die letzteChance, einmal Klartext zu reden und den USA deutlichzu sagen: Solange unsere Bevölkerung massenhaft undohne einen Grund bespitzelt wird, gehen wir auch diplo-matisch einen begrenzten Konflikt ein, weil wir dasnicht hinnehmen. – Diese Chance wurde leider vertan.Stattdessen steht die Bundeskanzlerin wie ein Wackelda-ckel neben dem US-Präsidenten und tut gar nichts, son-dern glänzt durch völliges Desinteresse. Das kann dochnicht wirklich wahr sein, wie mit diesen Vorgängen um-gegangen wird.
Es ist im Übrigen ganz interessant, dass einige derostdeutschen Genossinnen und Genossen – ich kommeja aus dem Westen – mir erzählt haben, dass sie dieseVorgänge an die alten Zeiten erinnern, als noch von derunverbrüchlichen Freundschaft mit der Sowjetunion ge-sprochen wurde. Das sind in etwa dieselben Verhaltens-weisen, die hier an den Tag gelegt werden. Das kannauch einmal klar angesagt werden.
Es ist ebenfalls interessant, einmal zu untersuchenund über die Frage nachzudenken: Woher kommt denndiese Unterwürfigkeit? Woher kommt dieses Desinte-resse? Woher kommt eigentlich dieses Achselzucken?Dabei nähern wir uns logischerweise, von der Außen-politik kommend, direkt der Innenpolitik. Der Kern fürdie Unterwürfigkeit ist natürlich, dass diese und die vor-herigen Bundesregierungen sowie die deutschen Ge-heimdienste Komplizen der NSA-Praxis sind. Das ist derGrund für die Unterwürfigkeit: Man ist Komplize undGehilfe. Das gehört abgestellt, wie die Linke findet.
In diesem Zusammenhang wurde nicht von der Bun-desregierung, von der ja in dieser Frage überhaupt garnichts zu erwarten ist, sondern verdienstvollerweise vonengagierten und kritischen Journalisten zum Glück sehrviel aufgedeckt.Ein zweiter Grund für diese Unterwürfigkeit, für die-ses Beschwichtigen und Für-beendet-Erklären ist natür-lich auch, dass Deutschland schon lange nicht nur an denoffenen, sondern auch an den geheimen Kriegen derUSA, die von deutschem Boden mit vorbereitet unddurchgeführt werden, aktiv beteiligt ist. Das ist der ei-gentliche Skandal. Es wäre das Mindeste, damit endlichaufzuhören.
Ich habe mich bei unseren Außenpolitikern ein wenigkundig gemacht. Man kann da logischerweise vielleichtnicht ganz so deutlich reden, wie ich das jetzt tue – ichbin ja heute noch sehr zurückhaltend –,
sondern man muss bestimmte Dinge beachten. Das kannich alles verstehen. Aber man hätte in Washington ja zu-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Siehätten sich zum Beispiel mit Jimmy Carter, dem ehema-ligen demokratischen Präsidenten, treffen können, derzur NSA-Praxis sehr deutlich etwas gesagt hätte. Sie hät-ten sich symbolisch mit vielen Kongressabgeordnetentreffen können, die im Kongress dafür sorgen wollen,dass der Datenschutz und die Bürgerrechte eingehaltenwerden. All das hätten Sie tun können. Sie hätten derenKritik aufnehmen können, wenn Sie selber schon nichtin der Lage sind, diese Kritik zu formulieren. Auch dashaben Sie leider sträflich vernachlässigt, was wir sehrbedauern.
Es wäre wirklich notwendig und anerkennenswert ge-wesen, wenn Sie sich ein Beispiel an der brasilianischenStaatspräsidentin Dilma Rousseff genommen hätten. Diehatte nämlich den Mumm, in Anwesenheit von PräsidentObama Klartext zu reden und unverblümte Kritik zu äu-ßern. Das ist richtig. Brasilien hat daran gearbeitet, eineigenes Verschlüsselungssystem einzuführen. Auch indieser Hinsicht bei Merkel und dieser Bundesregierungtotale Fehlanzeige! In Brasilien wurde von der Präsidentineine Internetverfassung auf den Weg gebracht, wurden In-ternetgrundrechte formuliert. Das wäre der richtige Weggewesen. Sie hätten die brasilianische Präsidentin in ih-rem Engagement gegen diese massenhafte Grundrechts-verletzung unterstützen müssen. Es kam nichts. Sie las-sen sie im Regen stehen. Das ist doch nicht hinnehmbar.Das ist nicht zu fassen.
Um abzuschließen: Bei der Bundeskanzlerin ist es jamittlerweile so, dass sie die normalen irdischen Gefildeverlassen hat. Sie schwebt schon mehrere Meter überdem realen Leben und ist in ihrer präsidialen Art kaumnoch ansprechbar für unsere irdischen Probleme hier. Esgeht aber nicht darum, als Bundeskanzlerin einfach Bun-deskanzlerin zu sein; vielmehr sind die Bundeskanzlerinund die Bundesregierung dem Grundgesetz und demSchutz der Rechte der Bürgerinnen und Bürger ver-pflichtet. Dem kommen sie nicht einmal ansatzweisenach. Deswegen ist eine radikale Umkehr in dieser Poli-tik dringend notwendig, um unsere Grund- und Frei-heitsrechte, die unter großen Opfern erkämpft worden
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2756 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Jan Korte
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sind, endlich zu schützen. Das ist Ihre Aufgabe. Da ha-ben Sie vollkommen versagt.
Für die CDU/CSU-Fraktion erteile ich nun das Wort
der Kollegin Elisabeth Motschmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Korte, Sie haben das Thema total verfehlt.
Sie haben eigentlich nur über die NSA geredet, aber IhreAktuelle Stunde hat ein anderes Thema.
Sie sagten über das Treffen: großer Aufwand und keinErgebnis.
Im Übrigen weise ich, lieber Herr Korte, Ihre Äußerung,dass wir Komplizen der NSA sind, hier in aller Deutlich-keit zurück.
Wer die Ergebnisse des Treffens von BundeskanzlerinAngela Merkel und US-Präsident Barack Obama – da-rum geht es in dieser Aktuellen Stunde – bewerten will,muss sich zunächst den weltpolitischen Hintergrund die-ser Reise ansehen. Wir alle blicken in großer Sorge aufdie Ukraine. Die Lage dort ist ernst, sehr ernst. Außen-minister Frank-Walter Steinmeier hat gestern in der Ak-tuellen Stunde sehr deutliche Worte gefunden – ich habedas genau mitgeschrieben –:Die Lage … ist furchtbar.Die Nachrichten sind erschreckend.Die Ereignisse seien dramatisch, hat er gesagt. Und:Dann stehen wir auf unserem Kontinent … an derSchwelle zu einer Konfrontation.So weit Frank-Walter Steinmeier. Er hat gleichzeitigaber auch betont, dass es ihm nicht darum geht, Ängstezu schüren, sondern darum, die Lage ehrlich zu schil-dern. Auch andere Krisenherde in der Welt sind uns sehrwohl bekannt: Syrien, Afghanistan und Afrika, wo esjede Menge Unruhen gibt.Vor diesem Hintergrund und angesichts dieser Lagehat die Bundeskanzlerin mit ihrer Reise wichtige Signalegesetzt: Sie unterstreicht und festigt das Bündnis mitAmerika. Sie dokumentiert, die transatlantischen Bezie-hungen sind intakt. Sie betont, dass ungeachtet aller Dif-ferenzen – ich komme darauf noch zu sprechen –Deutschland und die USA enge Verbündete, ja auchFreunde bleiben. Das ist das erste Ergebnis dieser Reise.Diese Signale werden von Barack Obama geteilt. Er hatgesagt:Deutschland ist einer unserer engsten Verbündetenund unserer engsten Freunde.
Die Linken haben ja noch nie sehr viel von unseremamerikanischen Bündnispartner gehalten, noch nie.
Damit isolieren Sie sich in diesem Haus.Auch das kritische Thema NSA darf doch nicht dazuführen, dass wir vergessen – ich bitte Sie, darüber einmalnachzudenken –, was wir diesem Bündnis zu verdankenhaben.
Ich will Ihnen das in Stichworten sagen – fünf MinutenRedezeit sind leider sehr kurz –: Frieden und Sicherheitnach dem Zweiten Weltkrieg, Aufbauhilfe, Marshall-plan,
Unterstützung bei der deutschen Einheit, zuverlässigerPartner in der NATO, wichtiger Handelspartner. MeineDamen und Herren, gerade in Krisenzeiten ist die Werte-gemeinschaft, die uns verbindet, von ganz großer Bedeu-tung. Sie ist die Grundlage für Frieden, Freiheit undWohlstand in unseren Ländern und in der gesamtenwestlichen Welt.Merkel und Obama haben Einigkeit und Geschlossen-heit gegenüber Russland in der Ukraine-Frage gezeigt.Das ist das zweite wichtige Ergebnis der Reise. Darüberhaben Sie gar nicht geredet.
Die Kanzlerin und der amerikanische Präsident verurtei-len das Vorgehen Putins auf der Krim und in derUkraine. Beide sprechen von Völkerrechtsbruch. Beidebekräftigen die Notwendigkeit weiterer Sanktionen.Beide sind sich einig, dass man die Ukraine unterstützenmuss, auch mit finanziellen Mitteln. Beide sind sich aberauch einig, dass alle diplomatischen Möglichkeiten ge-nutzt werden müssen, um die Lage zu deeskalieren. Esmuss eine politische und darf keine militärische Lösunggeben. Darin sind sie sich vollkommen einig. Diese Ei-nigkeit, dieser Schulterschluss bei dem zentralen undwichtigsten Thema des Treffens ist ein großer Erfolg,lieber Herr Korte. Diese Einigkeit ist genau das richtigeSignal an den russischen Präsidenten Wladimir Putin.Ja, es gab auch kritische Themen. Dazu gehört dieAbhöraffäre. Differenzen sind auch unter Freundenmöglich, übrigens auch nötig. Streit gibt es in jeder Fa-milie, auch in der politischen Familie. Die Verhältnismä-ßigkeit der Maßnahmen zwischen berechtigtem Sicher-heitsinteresse und notwendigem Schutz der Privatsphäre
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2757
Elisabeth Motschmann
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muss gewahrt bleiben. Genau das hat die Bundeskanzle-rin auch gesagt.
Sie hat erneut ein No-Spy-Abkommen gefordert.
Die Umsetzung dieser Forderung allerdings ist nicht ihreSache – sie regiert hier und nicht in Amerika –,
sondern dies ist die Sache Amerikas und BarackObamas.
Wenn Sie dort hingereist wären, Herr Korte, dann hättenwir erst recht kein No-Spy-Abkommen.
Liebe Kollegin Motschmann, Sie denken daran, dass
das Zeitformat der Aktuellen Stunde die fünf Minuten
sind.
Lieber Herr Präsident, heute ist meine fünfte Rede,
heute ist mein fünftes Enkelkind geboren; da reichen
fünf Minuten nicht ganz.
Das Freihandelsabkommen bleibt ein offener Punkt,
obwohl beide Seiten es grundsätzlich bejahen. Angela
Merkel hat für einen zügigen Abschluss des Abkom-
mens zwischen der EU und den USA geworben.
Meine Damen und Herren, ich schließe und sage ganz
klar: Das Treffen der beiden hat gute Ergebnisse ge-
bracht. Die Freundschaft beider Staaten wurde gefestigt.
Wir können einmal mehr sehen, dass in der Außenpolitik
die Linken alles andere als vernünftig und verantwor-
tungsvoll sind.
Vielen Dank.
Ich darf an dieser Stelle zur Geburt des Enkelkindes
herzlich gratulieren, Frau Kollegin Motschmann.
Nächster Redner ist der Kollege Omid Nouripour,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bun-deskanzlerin Merkel hat in Washington die transatlantischeWertegemeinschaft beschworen. Das finde ich richtig. Esgibt eine Wertegemeinschaft, die Gemeinsamkeiten hat,wie zum Beispiel pluralistische Demokratie oder Rechts-staatlichkeit. In die Außenpolitik übersetzt heißt das,dass internationale Regelwerke einzuhalten sind. DieseWertegemeinschaft ist herausgefordert, heutzutage bei-spielsweise in Syrien oder in der Ukraine. Die trans-atlantische Antwort darauf müsste sein, sich auf die ge-meinsamen Werte, die wir haben, zurückzubesinnen.Aber wir müssen feststellen, dass es noch eine weitereHerausforderung gibt: die lange Liste praktischer Politi-ken der Vereinigten Staaten von Amerika, die genau die-sen Werten nicht entsprechen. Dies bringt sehr viele Fra-gen mit sich. Frau Merkel ist nicht mit Antworten,sondern mit leeren Händen zurückgekommen.Zur NSA wird der Kollege Ströbele nachher mehr sa-gen. Erlauben Sie mir jetzt nur die Anmerkung, dass esnicht nur um das Mobiltelefon der Bundeskanzleringeht, sondern vielmehr um uns alle, die wir überwachtwerden.
Die Frau Bundeskanzlerin hat nicht einmal darauf be-harrt, Akteneinsicht in ihrem eigenen Fall zu fordern,oder darauf, dass die Akte vernichtet wird.
Es gab den Irakkrieg, der dem Völkerrecht nachhaltigSchaden zugefügt hat. Es gibt den Drohnenkrieg derAmerikaner in Pakistan, der völkerrechtswidrig ist; erfindet nicht nur dort, sondern auch im Jemen und in So-malia statt. In Pakistan reden wir über 2 500 Tote; Hun-derte Kinder sind darunter. Das ist nicht nur ein Völker-rechtsbruch, sondern es ist ein riesengroßer strategischerFehler im internationalen Kampf gegen den Terrorismus.Es gibt Studien noch und nöcher, die belegen, dass dieserDrohnenkrieg ein großer Helfer für Extremisten ist, umMenschen anzuwerben.
Zeugen wie der ehemalige Pilot von KampfdrohnenBrandon Bryant sagen glasklar: Das, was die Amerika-ner machen, wäre ohne das, was in Deutschland zumBeispiel in Ramstein passiert, in der Form überhauptnicht möglich.
Die Bundesregierung ist aufgefordert, wenigstens dierichtigen Fragen zu stellen, und natürlich muss sie auchdafür sorgen, dass das nicht passiert; denn das ist eine in-direkte Beteiligung am Völkerrechtsbruch.Wir haben Guantánamo. Seit fünf Jahren sagt der US-Präsident nicht nur, dass Guantánamo geschlossen wer-
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2758 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Omid Nouripour
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den muss. Er selbst sagt auch, dass „Guantánamo dermoralischen Autorität“ der USA „geschadet hat“. Essind immer noch 150 Personen dort. Das hat mit unse-rem gemeinsamen Verständnis von Rechtsstaatlichkeitnichts zu tun.Wir haben die Verhandlungen über das Freihandels-abkommen TTIP. Ja, TTIP ist eine riesengroße Chance,
für Arbeitsplätze, für die Märkte auf beiden Seiten, wennes im Ergebnis dazu führt, dass ökologische und sozialeStandards angehoben werden, und es ein transparentesVerfahren gibt. Das, was wir bisher haben, wird demnicht gerecht. Deshalb brauchen wir einen Neustart beiTTIP.
Bei Partnerschaften und Freundschaften können Dif-ferenzen bestehen – da hat die Kollegin Motschmannvöllig recht –; aber sie werden nicht beseitigt, wenn mansie nicht anspricht.
Wenn es Fragen gibt – noch einmal: wir haben sehr vieleFragen an die Amerikaner –, dann braucht man Antwor-ten. Aber die Antworten wird man nicht bekommen,wenn man die Fragen nicht stellt.
Das ist nicht geschehen. Die Frau Bundeskanzlerin – ichhabe es schwarz auf weiß – beharrt nicht einmal darauf,dass ihre persönliche NSA-Akte vernichtet wird. Dannkann man nicht davon sprechen, dass sie nach Amerikagefahren ist, um eine Aufklärung herbeizuführen. Das istschlicht nicht geschehen.
Jetzt will ich etwas zu den Ausführungen des Kolle-gen Korte sagen; denn es gibt doch einen kleinen Unter-schied zwischen der Sowjetunion damals und den USAheute. Darin ist auch die Partnerschaft und die Freund-schaft zu den Vereinigten Staaten von Amerika begrün-det, die ich bezeugen würde. Wenn es um die Positionengeht, die ich gerade benannt habe, gibt es nicht nur in deramerikanischen Zivilgesellschaft Hunderte und Tau-sende von Menschen, sondern auch im Kongress zig Ab-geordnete, die unsere besten Partnerinnen und Partnerund Verbündeten sind,
die gemeinsam mit uns dafür kämpfen, dass diese riesigeÜberwachungsmaschinerie endlich gezügelt wird, dasses ein Freihandelsabkommen gibt, das gewissen Stan-dards entspricht, dass Guantánamo geschlossen wird.Weil wir solche Partner haben, ist es richtig, von einerWertegemeinschaft zu sprechen. Diese Wertegemein-schaft wird aber unterspült, wenn wir Double Standardssetzen. Deswegen muss man diese Double Standards ge-rade in diesen Zeiten klar benennen und gemeinsam ver-suchen, sie abzuschaffen.Wir brauchen die Amerikaner. Aber wenn man sich inder Welt umschaut, dann erkennt man, dass es nicht allzuviele andere potenzielle Partnerstaaten für die USA gibt,die so viele Gemeinsamkeiten aufweisen, die dieselbenWerte verfolgen, etwa Rechtsstaatlichkeit und pluralisti-sche Demokratie. Man muss also feststellen: Die Ameri-kaner brauchen uns genauso. Deshalb ist es ohne Pro-bleme möglich, mit den Amerikanern offen und ehrlichzu sprechen und die richtigen Fragen zu stellen. Dasmuss die Bundesregierung endlich tun.
Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen
Dr. Rolf Mützenich, SPD, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esbesteht kein Zweifel: Die NSA-Affäre hat die Beziehun-gen zwischen den USA und Deutschland nachhaltig be-schädigt. Ich glaube, dass wir dies vonseiten des Deut-schen Bundestages schon mehrfach ausreichenddiskutiert und festgestellt haben. Ich muss aus meinerpersönlichen Sicht sagen: Es hat sich auch mein Bildvon Präsident Obama verändert. Ich glaube schon, dasser zumindest damals, als er vor seiner ersten Amtszeitals Präsidentschaftskandidat der Demokraten antrat, indiesem Zusammenhang zumindest gegenüber uns, ge-genüber Europa, ein anderes Bild vermittelt hat.
Auch das gehört zu einer offenen Diskussion dazu, unddeswegen sagen wir es hier.Wenn Sie hier ehrlich debattieren wollen, müssen Sieaber auch zur Kenntnis nehmen, dass die Bundeskanzle-rin in der gemeinsamen Pressekonferenz mit PräsidentObama auf die Meinungsunterschiede hingewiesen hat.Sie hat sehr deutlich gemacht, dass es hier Differenzenzwischen der Auffassung der Bundesregierung und derAuffassung der Administration gibt. Sie hat gerade auchvor amerikanischem Publikum die ernsthaften Versuchedargestellt – sie sprach über den Cyberdialog und dieMöglichkeiten, die die EU gerade nach der Neuwahl desEuropäischen Parlamentes nutzen sollte –, gemeinsammit den USA zu einem anderen Verhalten zu kommen.Meine Kollegen Saskia Esken und Christian Flisek wer-den sich in dieser Aktuellen Stunde noch mit diesen Fra-gen, auch im Hinblick auf den Untersuchungsausschuss,befassen.Es war gut, dass sich die Bundeskanzlerin auch mitMitgliedern des Kongresses getroffen hat, weil geradedort die Kritik am Verhalten der Geheimdienste – spätes-
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Dr. Rolf Mützenich
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tens zu dem Zeitpunkt, als bekannt wurde, dass auch derKongress offensichtlich von Geheimdiensten abgehörtwurde – gewachsen ist. Es wurden letztlich auch Ermuti-gungen ausgesprochen, da nur so die Voraussetzung da-für geschaffen werden kann, dass sich das Verhalten derUSA verändert.In der Tat – das wurde schon von einigen angespro-chen – war das entscheidende Thema die Ukraine. Nie-mand in Deutschland hätte es der Bundeskanzlerin abge-nommen, wenn sie zu diesem Zeitpunkt dieses Themanicht zum Schwerpunkt ihrer Washington-Reise ge-macht hätte. Durch die Geschehnisse in der Ukrainewerden die Prinzipien der europäischen Friedensord-nung erschüttert. Möglicherweise wird eine Zeiten-wende eingeläutet. Deswegen war es richtig, dass dasThema Ukraine Schwerpunkt der Diskussion war. Wirbrauchen einen vertrauensvollen, aber auch intensivenAustausch. Möglicherweise gibt es unterschiedlicheAuffassungen, unterschiedliche Sichtweisen; aber dasgibt es zwischen Partnern.Nebenbei bemerkt: Es war gut, dass die Bundeskanz-lerin – zumindest habe ich das gelesen – ebenfalls überSyrien und die Herausforderungen der iranischen Atom-krise gesprochen hat. Hier wird deutlich: Der Besuchwar nicht nur erwünscht, sondern er war dringend not-wendig und fand zum richtigen Zeitpunkt statt, weil wirin den nächsten Wochen und Monaten wichtige Ent-scheidungen in diesem Bereich zu treffen haben.Deutschland ist ein unverzichtbarer Partner für die USAund insbesondere für die internationale Staatengemein-schaft. Wann, wenn nicht bei einem solchen Arbeits-besuch, soll das besprochen werden?Ich bin froh, dass die Bundeskanzlerin keine Schau-fensterdiplomatie betreibt und irgendetwas erklärt, waszum Schluss vielleicht doch nicht eingehalten wird.Vielmehr widmet sie sich intensiv den Differenzen, aberletztlich auch den Übereinstimmungen. Das ist verant-wortungsvolle Außenpolitik
und keine Kommentierung, wie der Außenminister inMünchen zu Recht gesagt hat, von der Außenlinie.Wir stellen uns der Aufgabe, eine verantwortungs-volle Außenpolitik zu machen, die versucht, mit diplo-matischen und zivilen Mitteln, mit Klugheit, aber auchmit Besonnenheit auf die innenpolitische Diskussionauch in den USA einzuwirken. Das haben Sie bei IhrerRede zu diesem Thema vollkommen ausgeblendet. Es istwichtig, was die Bundeskanzlerin in den USA gesagthat. Es gibt nun einmal Differenzen aufgrund andererhistorischer Erfahrungen, zum Beispiel in Bezug aufSanktionen. Wir als Deutsche wollen als Verantwortlichein der Außenpolitik Europas deutlich machen, dass wirRussland trotz aller Differenzen für eine gemeinsameeuropäische Friedensordnung brauchen. Vielleicht ist esauch nicht schlecht, Präsident Obama zu ermutigen, wei-terhin auf den Ausbau der Raketenabwehr, zumindestder vierten Stufe, zu verzichten. Es wäre gut, wenn wirdie USA überzeugten, den NATO-Russland-Rat alswichtiges Dialogforum ernst zu nehmen. Insbesonderefür die konventionelle Abrüstung in Europa braucht eseine konstruktive Haltung der USA. Dafür treten wir So-zialdemokraten ein.Wir hatten nie zu viel Entspannungspolitik. Wir brau-chen sogar mehr Entspannungspolitik, gerade in diesenZeiten.Vielen Dank.
Nächster Redner für die CDU/CSU ist der Kollege
Thorsten Frei, dem ich hiermit das Wort erteile.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Linke hatdiese Aktuelle Stunde beantragt, um eine Bewertung desAmerika-Besuches unserer Bundeskanzlerin vorzuneh-men. Ich schließe mich der überwiegenden Mehrheit derbisherigen Redner an und sage: Dieser Besuch war ers-tens richtig, zweitens ein Erfolg und ist drittens zur rich-tigen Zeit erfolgt.
Natürlich ist richtig, dass im vergangenen Jahr dieMassenüberwachung durch die NSA in Deutschland Ge-sellschaft und Medien erschüttert hat.
Auch wir sind der Auffassung, dass es mit unseren Maß-stäben von Rechtsstaatlichkeit nicht vereinbar ist, mas-senhaft Daten und Informationen abzugreifen, ohne dasses dafür irgendeinen Grund oder auch nur irgendeinenVerdachtsfall gibt. Das haben wir damals gesagt, und dassagen wir heute. Da reden wir nichts schön. Auch wennwir zur Kenntnis zu nehmen haben, dass auch in Ame-rika eine Debatte darüber in Gang gekommen ist und esauch dort Widerstände gegen diese gängige Praxis derÜberwachung gegeben hat, ist natürlich festzustellen,dass die Bewertung des Spannungsverhältnisses zwi-schen Freiheit und Sicherheit diesseits und jenseits desAtlantiks unterschiedlich austariert und aufgelöst wird.Das ist zutreffend.Ich plädiere dafür, dass wir nicht blauäugig und illusi-onär an diese Debatte herangehen, sondern uns bewusstmachen, dass es gängige Praxis von Diensten weltweitist, Informationen zu beschaffen, um dadurch ein gutesStück weit ihrer exekutiven Verantwortung, Sicherheitfür die Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten, eigeneInteressen zu verfolgen, aber auch für Werte einzuste-hen, nachzukommen. Auch das dürfen wir in dieser De-batte nicht vergessen. Genauso wenig dürfen wir verges-sen – auch das ist schon angesprochen worden –, dass esunter Freunden auch Meinungsverschiedenheiten gebendarf. Die gibt es in diesem Fall. Diese hat die Bundes-kanzlerin, auch wenn Sie es negieren, deutlich angespro-chen, und zwar nicht erst bei diesem Besuch, sondern
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2760 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Thorsten Frei
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bereits vielfach in den vergangenen Monaten. Ichglaube, dass gute Partnerschaften und Freundschaften esaushalten müssen – sie tun es in diesem Falle auch –,dass man diese unbequemen Wahrheiten und auch dieKritik anspricht, die berechtigterweise im Raum stehen.Kluge und verantwortungsvolle Außenpolitik mussletztlich über den Tag hinaus denken, muss letztlich auchVerantwortung übernehmen für das, was kommt. Deswe-gen ist es falsch, aus einer Empörungshaltung herausAußenpolitik mit dem Bauch zu machen. Es wäre sehrviel klüger, den Kopf einzuschalten. Genau das tun dieBundesregierung und die Bundeskanzlerin ganz persön-lich.
Wer glaubt denn im Ernst, dass die Herausforderungen,beispielsweise in der Ukraine – sie sind vom KollegenMützenich angesprochen worden –, in Afghanistan, imIran, in Syrien oder Nahost nachhaltig ohne die Unter-stützung der USA zu lösen sind? Im Gegensatz zu Ihnensagen wir: Wir müssen in der Außenpolitik eine größereVerantwortung, entsprechend unserer wirtschaftlichenLeistungsfähigkeit und Größe, übernehmen. Man kannsich nicht vom Acker machen, wenn es schwierig wirdund, wenn die Amerikaner die Aufgabe übernehmen, sieauch noch kritisieren. Das ist einfach nicht in Ordnung.Das müssen wir an dieser Stelle deutlich sagen.Die Verflechtung zwischen den USA und Deutsch-land, die Nähe zu den USA ergibt sich aus unserer Ge-schichte, vor allen Dingen aus den vergangenen 70 Jah-ren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. DieAmerikaner haben uns in besonderer Weise geholfenund es uns ermöglicht, ein wirtschaftlich prosperieren-des und demokratisches Deutschland aufzubauen. Essind die Herausforderungen der Zukunft, die uns verbin-den und deutlich machen: Es gibt keine ÄquidistanzDeutschlands zu Russland und den USA. Wir lassen esnicht zu, dass man einen Keil in die westliche Partner-schaft treibt.
Ich bin sicher, dass wir auch im ökonomischen Be-reich eine starke Zusammenarbeit zwischen Deutschlandund der Europäischen Union einerseits und den USA an-dererseits benötigen. Wir brauchen ein erfolgreichesFreihandelsabkommen, weil niemand davon so profitiertwie Deutschland. Wir haben eine Exportquote von73 Prozent. Die USA sind nach der EU der wichtigsteExportmarkt für unsere Wirtschaft, das wichtigste Ziel-land für deutsche Investitionen; vor allen Dingen hängtjeder vierte Arbeitsplatz in Deutschland vom Export ab.Wir brauchen das Freihandelsabkommen, weil es zumehr Sicherheit, zu mehr Wohlstand, zu mehr Wachs-tum, zu sinkenden Preisen und zu einer größeren Pro-duktvielfalt führen wird.Lassen Sie mich zum Ende noch einen Aspekt anspre-chen: Es kommt hier nicht in erster Linie auf Euro undCent an. Es kommt vor allen Dingen auf die politischeund geostrategische Bedeutung an. Es kommt darauf an,ob wir nebenanstehen wollen, wenn Standards für Ver-braucherschutz, beispielsweise Standards für den Schutzgeistigen Eigentums, Standards für Wettbewerb und In-vestitionen, gesetzt werden, oder ob wir gemeinsam mitunseren europäischen Partnern und den USA daran mit-arbeiten wollen.Wenn wir es nicht tun, wenn wir es nicht schaffen,dann machen das in einigen Jahren andere. Dann sitzennicht nur wir Deutsche, sondern wir Europäer am Kat-zentisch. Das wollen wir nicht. Deshalb ist es richtig,dass wir uns hier engagieren. Das hat die Bundeskanzle-rin gemacht, weil sie Außenpolitik vom langen Ende herbedenkt. Dieser Besuch war daher richtig und erfolg-reich.Herzlichen Dank.
Für die Linke spricht jetzt der Kollege Dr. Diether
Dehm.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe1972 Plakate geklebt, auf denen stand: Deutsche – Wirkönnen wieder stolz sein auf unser Land! Wir Frankfur-ter Sozialdemokraten hatten eine Fotokopie mit dem vordem Warschauer Mahnmal knieenden Willy Brandt da-rüber geklebt. Da beugte sich ein deutscher Kanzler,turmhoch überlegen den Nationalisten und Rassisten undauch der CDU, die ihn damals verspotteten.Ihre Verbeugungen in Washington, Frau Bundeskanz-lerin, sind ganz anderer Art. Es war nicht nur Ihr Tele-fon, das abgehört wurde, sondern es war und bleibt eineDemütigung aller Deutschen und ist und bleibt ein per-manenter Rechtsbruch. Hatten Sie denn, als Sie das No-Spy-Abkommen beerdigt haben, vergessen, dass Sie Ih-ren Amtseid nicht auf eine Fibel der NSA, sondern aufdas Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland abge-legt haben? Die USA treten unsere Grundrechte mit Fü-ßen, und Sie lassen sich abhandeln, Edward Snowden inDeutschland nicht als Zeugen aussagen zu lassen.
Wenn Sie schon so wenig Selbstrespekt haben, dannsollten Sie zumindest Respekt vor dem deutschen Rechthaben.
Erich Kästner schrieb einst:Nie dürft ihr so tief sinken, von dem Kakao, durchden man euch zieht, auch noch zu trinken.Sie trinken ihn, Frau Bundeskanzlerin.Was haben Sie uns denn aus den USA mitgebracht?Zum Beispiel, dass diese verdammten Atomraketen ausRheinland-Pfalz abgezogen werden? Das wäre einemsouveränen Deutschland angemessen. Die USA wollen
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2761
Dr. Diether Dehm
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ihre Vormachtstellung gegenüber ihren potenziellenKonkurrenten Russland und China absichern und deswe-gen ein Freihandelsabkommen mit der EU. Sie hättenalso mit diesem TTIP ein Druckmittel gehabt; aber Siesind in die Knie gegangen. Können Sie hier klar aus-schließen, dass der US-Konzern Monsanto, wenn eindeutscher Imker oder Landrat gegen dessen Genmaisvorgeht, keine Schadenersatzansprüche gegen die Bun-desrepublik erheben kann wegen entgangener Gewinneoder dass der Mindestlohn zu Klagen führt, noch dazuvor Schiedsrichtern in lächerlichen Hinterzimmern, diegar keine Gerichte mehr sind, sondern einen Sondersta-tus haben? Können Sie das ausschließen? Wenn nicht, istIhr Schweigen auch eine Aussage. Warum dann dieganze Geheimniskrämerei um das Investorenschutzkapi-tel des TTIP? Was soll der jetzt bekannt gewordene „Re-gulierungsrat“ aus Bankern und Konzernlobbyisten, dernationalen Parlamenten Gesetzesvorhaben verbietendarf, wenn sie dem Freihandel schaden?In Wirklichkeit lauern die US-Konzerne darauf, euro-päische Öko- und Sozialstandards zu ruinieren. Und dieDeutsche Bank lauert darauf, in den USA nicht mehr fürihre Betrügereien bestraft zu werden. Denn dort ist dieFinanzaufsicht schärfer als in dem Land, in dem dieBundeskanzlerin den Geburtstag des OberbankstersJosef Ackermann im Kanzleramt feiern ließ.
Viele fragen: Ging es Obama und Ihnen bezüglich derUkraine nur darum, wer näher dran ist, wenn die Splitterfliegen, und wer schneller an Kohle und Stahl oder amSchiefergas ist? Das ist übrigens eine tolle Vorstellung:Überall auf der Welt wird gegen Fracking demonstriert,und in der Ukraine wurde das Fracking von SS-Milizender Swoboda-Partei abgesichert.Heute ist der 8. Mai, den Bundespräsident Weizsäckerden Tag der Befreiung nannte. Uns wird immer gesagt,dass wir den amerikanischen GIs dafür dankbar zu seinhaben. Aber es war der amerikanische Literaturnobel-preisträger Ernest Hemingway, der dies um folgendenSatz ergänzte – ich zitiere –: „Wer den Frieden befür-wortet, wird der Roten Armee so viel danken müssen,wie er in seinem ganzen Leben nicht wird arbeiten kön-nen.“
Ich kenne die richtigen Worte, Deutsche hätten selbst mitberechtigter Kritik an der israelischen Regierung ersteinmal innezuhalten wegen der 6 Millionen Ermordetendes Holocausts. Wer aber von Ihnen bessere Beziehun-gen zur Bild-Zeitung hat als ich, sollte denen einmalsagen: Haltet inne mit eurem pausenlosen „Russen-Ba-shing“ – auch wegen der 27 Millionen mit SS und Wehr-macht ermordeten Sowjetmenschen!
Kann denn bei Springer niemand verstehen, was es fürrussische Familien bedeutet, wenn in der Ukraine diemitregierende Swoboda-Partei – mit Hitlergruß – ihreParteihochschule nach Joseph Goebbels benennt? NachJoseph Goebbels! Kann niemand verstehen, was das fürdiese Menschen bedeutet, nachdem es dort 27 MillionenTote gegeben hat?Die Linke demonstriert heute vom Brandenburger Torzum Sowjetischen Ehrenmal, welches die Bild-Zeitunggerade plattmachen möchte. Wir gedenken auch der vie-len Menschen, die letzte Woche im Gewerkschaftshausvon Odessa bei lebendigem Leibe verbrannt und von Fa-schisten mit Baseballschlägern wie Vieh totgeschlagenwurden. Wir denken auch an die Stockholmer Rede vonWilly Brandt mit dem Kernsatz: „Krieg ist nicht mehrdie Ultima Ratio, sondern die Ultima Irratio.“ WillyBrandt hat auf Knien die deutschen Interessen vertre-ten – Sie nicht, Frau Bundeskanzlerin.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Saskia Esken, SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Das Internetgehört der NSA“, so lautete eine Überschrift von vielen,mit denen die Medien die Enthüllungen von EdwardSnowden kommentierten. Die Ahnung von der Daten-sammelwut von Geheimdiensten, die wir durch dieseEnthüllungen bisher erhalten haben, hat unser Vertrauenin die Chancen von Digitalisierung und weltweiter Ver-netzung nachhaltig erschüttert. Die Verunsicherung derMenschen und der Diskurs, der darüber entstanden ist,betreffen aber nicht nur die Tätigkeit ausländischer Ge-heimdienste. Wir beschäftigen uns in der Folge auch mitdem Umgang der großen und kleineren Netzakteure mitunseren persönlichen Daten, und wir beschäftigen unsmit Fragen der Datensicherheit, so zum Beispiel mit Ver-schlüsselungsverfahren, ihrer Anwendbarkeit und Ver-breitung. Ich meine, das sind gute und notwendige Dis-kussionen. Sie beschränken sich nicht auf die Grenzenunseres Landes, sondern werden weltweit geführt, nichtnur in Europa, sondern auch in den USA und in anderenLändern.Heute Morgen durfte ich an einem Gespräch mit Ver-tretern der Regierung von Ruanda teilnehmen, die dieInternetkonferenz re:publica hier in Berlin besuchen. Ichhabe mich gefreut, zu hören, wie klar und deutlich auchin Ruanda die Chancen des Internets für Bildung undEmanzipation, für die persönliche und für die wirtschaft-liche Entwicklung der Menschen gesehen werden. Inter-net und Digitalisierung werden also durchaus noch alsVerheißung wahrgenommen.Doch diese Verheißung hat durch die bekannt gewor-dene Überwachung einen tiefen Bruch erfahren, der weitüber eine allgemeine Skepsis gegenüber der digitalenKommunikation hinausgeht. Nicht nur auf deutscherSeite ist dabei das Vertrauen in die USA als befreundeteNation nachhaltig beschädigt worden. Unsere Wahrneh-mung wird beherrscht von einer großen Verunsicherungdarüber, welchen Schaden die Überwachung unserer
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2762 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Saskia Esken
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Kommunikation für die Bürgerinnen und Bürger, aberauch für die Wirtschaft bedeutet.Lassen Sie mich das Maß dieser Verunsicherung aneinem Beispiel aus der analogen Welt erläutern. WennMenschen Opfer eines Wohnungseinbruchs werden,dann fühlen sie sich in ihrem Grundvertrauen in unsereGesellschaft nachhaltig verletzt. Dieser Vertrauensver-lust ist durch den Ausgleich des Schadens durch die Ver-sicherung nicht zu beheben. Ebenso gilt – auch im Hin-blick auf die Verletzung unserer Privatsphäre, unsererPersönlichkeits- und Freiheitsrechte –: Nicht alle Wun-den heilt die Zeit. Es darf also keinesfalls der Fehler be-gangen werden, Dinge unter den Teppich zu kehren odergar etwas für beendet zu erklären, das noch lange nichtbeendet ist. Allen Akteuren sollte bewusst sein: Ver-trauen kann man nicht verordnen. VerlorengegangenesVertrauen muss aktiv wiederhergestellt werden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir begrüßen des-halb – und wir bestärken die Bundeskanzlerin darin –,dass sie bei ihrem USA-Besuch mit Präsident Obamavereinbart hat, den notwendigen und vertrauensbilden-den Dialog, den sogenannten Cyber-Dialog, fortzuset-zen und auszubauen. In diesem Dialog muss es um die– vielleicht auch unterschiedliche – Bewertung und dieBalance von Privatsphäre, Freiheit und Sicherheit gehen.Im Ergebnis erwarten wir nicht mehr und nicht weniger,als darin vertrauen zu können, dass amerikanische Ge-heimdienste die Grund- und Freiheitsrechte unserer Bür-gerinnen und Bürger wahren.Natürlich gibt es auch eine eigene, eine deutsche undeine europäische Verpflichtung, uns über unsere Sicher-heit und den Schutz unserer Daten, den Schutz unsererPrivatsphäre im Internet Gedanken zu machen. Da gehtes nicht nur um den Schutz vor Nachrichtendiensten,sondern auch um den Schutz vor Internetkriminalität undWirtschaftsspionage. Wir haben schließlich die Aufgabe,die Menschen und ihre Bürgerrechte in der digitalenWelt genauso zu schützen wie in der analogen.Gestern hat der Ausschuss Digitale Agenda, dem ichangehöre, mit einem Fachgespräch zur IT-Sicherheit ei-nen ersten Beitrag hierzu geleistet. Dass dieses Fachge-spräch öffentlich stattfand, ist ein klares Zeichen für dieBürgerinnen und Bürger: Wir dürfen die Fragen, die diePrivatsphäre der Bevölkerung in diesem hohen Maße be-treffen, nicht hinter verschlossenen Türen diskutieren.Dennoch ist in diesen Fragen ein nationaler Alleingangnicht notwendig und auch ganz bestimmt nicht förder-lich. Vielmehr ist die Zusammenarbeit in der Europäi-schen Union und mit den USA auszubauen, ohne dabeideutsche und europäische Standards von Sicherheit undDatenschutz preiszugeben.Liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Damenund Herren, eine flächendeckende Ausspähung unterFreunden darf es nicht geben. Wir haben die Grundrechteunserer Bürgerinnen und Bürger aktiv zu schützen. Dietiefgreifende Vertrauenskrise, die sich gegenüber dem In-ternet und gegenüber unseren amerikanischen Partnernergeben hat, müssen wir überwinden. Wenn uns dasnicht gelingt, wäre das wirklich ein Schaden für dasStaatswohl. Ich wünsche mir, dass wir in naher Zukunftnicht mehr befürchten müssen, das Internet gehöre derNSA. Wir wollen zu Recht wieder sagen dürfen: Das In-ternet gehört uns.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Für Bündnis 90/Die Grünen erteile ich jetzt das Wortdem Kollegen Hans-Christian Ströbele.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Vor einiger Zeit habe ich von diesem Platz aus die Bun-deskanzlerin – sie saß auf der Regierungsbank – gefragt,ob sie denn Herrn Snowden auch ein bisschen dankbardafür ist, dass er aufgedeckt hat, dass sie abgehört wor-den ist. Als Folge davon hat sie dann mit dem US-Präsi-denten telefoniert, und der hat ihr versichert, jetzt werdesie nicht mehr abgehört. Das hat sie Edward Snowden zuverdanken; insofern ist die Frage nach der Dankbarkeitwohl angebracht.
Jetzt ist die Bundeskanzlerin in die USA gereist, ge-stärkt durch ein Gutachten der Bundesregierung, in demklargestellt worden ist – keine Angst in den USA, keineAngst, Herr Obama! –: Herr Snowden wird nicht imDeutschen Bundestag aussagen; wir haben das geradefestgelegt. – Da hätte man erwartet, dass die Kanzlerin,die – das hat sie ja immer wieder betont – auch in Sa-chen NSA in die USA gefahren ist, dort etwas erreicht,dass ein bisschen etwas abgegolten wird, dass das alsoeine gute Voraussetzung dafür ist, dass sie etwas durch-setzt. Aber schon auf der Pressekonferenz, wo man be-wundern konnte, wie sie neben dem US-Präsidentenstand, kam nichts zur NSA. Sie hat dazu auch nichts mit-gebracht. Sie hat nur eine nebulöse Erklärung abgege-ben, es gebe natürlich auch zwischen Freunden immereinmal Meinungsunterschiede.
Ganz offensichtlich war da nichts. Ich hätte die Bundes-kanzlerin gern gefragt, was sie denn eigentlich inWashington erreicht hat. Hat sie sich wenigstens getraut,zu sagen: „Lieber Herr Obama, liebe Administration, diedeutsche Bundesregierung hat im Juli vergangenen Jah-res einen großen Katalog von Fragen betreffend die NSAgeschickt mit der Bitte, die doch zu beantworten“?Wahrscheinlich hätte sie antworten müssen: Das habeich lieber nicht gemacht. – Jedenfalls gab es da keineReaktion. Es gibt auf diese Fragen, mit denen sich jaauch Minister Friedrich und Minister Pofalla in der Dis-kussion immer wieder beschäftigt haben – die Fragenwürden bald beantwortet: in vier Wochen, in sechs Wo-chen, in zwei Monaten –, bis heute keine Antwort. Ganzoffensichtlich traut sich die Bundesregierung nicht,nachzufragen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2763
Hans-Christian Ströbele
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Hier ist angesprochen worden, dass wir mit den USAeine Wertegemeinschaft haben. Das sehe ich auch so.US-Präsident Obama hat auf dieser PressekonferenzWerte angesprochen. Einen ganz hohen Wert hat er inseiner Rede dreimal erwähnt: Privacy. Wir in Deutsch-land sagen „Privatsphäre“ oder „Privatheit“ dazu. Diemüsse geschützt werden, dies sei ein ganz hoher Wert,den man hochhalte und auch hochhalten wolle.Warum ist die Bundeskanzlerin eigentlich nicht da-rauf eingegangen, als er das gesagt hat? Warum hat sienicht gesagt: „Herr Obama, Sie haben recht“? „Warumgeben Sie uns Deutschen und der Bevölkerung in derganzen Welt“ – zum Beispiel in Brasilien, Mexiko undFrankreich – „dann nicht die Privacy zurück? Warum tunSie nicht etwas in diese Richtung?“
Das wäre doch eine gute Gelegenheit gewesen, in allerFreundschaft danach zu fragen.Nein, die Bundesregierung und ganz speziell die Bun-deskanzlerin versagt bei der Verteidigung der gemeinsa-men Werte. Sie kann sie nur dadurch verteidigen, dasssie das in den USA anspricht und von der US-Adminis-tration verlangt, dass sie hier etwas tut.Man könnte das Ganze jetzt abschließen und sagen:Die Bundesregierung berichtet nicht darüber. Nicht ein-mal in der Fraktion soll ja darüber berichtet worden sein.Die Kanzlerin ist auch nicht hier, weil es ja nichts gibt,was sie berichten könnte. Man könnte jetzt also den Mutverlieren. Ich verliere den Mut aber nicht. Ich habe näm-lich zur Kenntnis genommen, dass gestern der Rechts-ausschuss im amerikanischen Repräsentantenhaus mit32 zu 0 Stimmen einen Gesetzentwurf angenommen hat,durch den die Tätigkeit der NSA ganz drastisch be-schränkt werden soll.
Das ist der richtige Weg: Wenn die Regierungen nichthandeln und nichts tun, dann müssen die Parlamentediese Aufgabe übernehmen. Hier in Deutschland ist dasder Deutsche Bundestag. Deshalb freue ich mich – wirkommen ja gerade aus dem Untersuchungsausschuss –,hier mitteilen zu können, dass der Untersuchungsaus-schuss des Deutschen Bundestages einstimmig, also mitallen Mitgliedern des Ausschusses, beschlossen hat,Edward Snowden zu hören. Das ist erst einmal ein Er-folg. Daneben ist die Frage, wo und wie er gehört wird,zumindest offengeblieben, sodass ich sage: Die halbeTür auf dem Weg, Edward Snowden anzuhören, istschon offen. Das ist der richtige Weg. So müssen wirweitermachen: erst aufklären und dann die Konsequen-zen ziehen.
Für die Unionsfraktion spricht jetzt der Kollege
Jürgen Hardt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dereintägige Arbeitsbesuch der Bundeskanzlerin in denUSA, in Washington, erfolgte zum richtigen Zeitpunkt,und er hatte die richtigen Themen. Er war im Ergebnisein großer Erfolg; denn die Prioritätensetzung der Bun-deskanzlerin entsprach dem, was auf der weltpolitischenund auf der transatlantischen Agenda steht, und es gibthier eine ganze Reihe von klaren Fortschritten zu ver-zeichnen.Ich möchte an erster Stelle sagen, dass angesichts derSituation, in der wir uns in Europa im Augenblick befin-den, die Ukraine-Krise natürlich eine zentrale Rolle ge-spielt hat. Ich glaube, dass es der Bundeskanzleringelungen ist, dem amerikanischen Präsidenten klarzu-machen, dass Europa selbstverständlich bereit ist, gege-benenfalls, wenn es unausweichlich ist, auch einen wei-teren Schritt bei den Sanktionen zu gehen und deneskalierenden Prozess konsequent fortzusetzen. InEuropa gibt es aber natürlich höchst unterschiedliche Si-tuationen in den 28 Mitgliedstaaten der EuropäischenUnion. Es gibt eben Länder, die von bestimmten Formenvon Sanktionen in ganz anderer Art und Weise betroffenwären als andere.Ich glaube, die Erwartungshaltung der Amerikaner andie Bundeskanzlerin ist, dass sie aufgrund ihrer natürli-chen Rolle, aufgrund des Respekts, den sie bei den Kol-legen in der EU genießt, und natürlich auch aufgrund derbesonderen Stellung Deutschlands ein Stück weit dieAufgabe annimmt, hier eine akzeptable Balance zu fin-den. Umgekehrt akzeptieren die Amerikaner, dass das,was wir hier als richtig und möglich vereinbaren, mög-lichst auch im Gleichklang dies- und jenseits des Atlan-tiks umgesetzt wird. Ich glaube, das ist das zentrale Er-gebnis dieses Besuches.Die zentrale Forderung, die wir nun an alle Beteilig-ten stellen – inklusive des russischen Präsidenten –, ist:Wir wollen, dass die Wahlen in der Ukraine am 25. Mai2014 möglichst ungehindert, fair und demokratischdurchgeführt werden können. Danach wird man dieseWahlen bewerten, und dann wird man weitere Schritteeinleiten müssen. Ich glaube, das ist ein ganz konkretesund wichtiges Ergebnis.
Ich finde, es gibt ein solch klares Ergebnis auch beimThema NSA. Selbstverständlich hätten wir uns alle ge-wünscht, dass es vielleicht seitens des Präsidenten in derFrage der Abhöraktion, bei der das Handy der Kanzlerinüberwacht wurde, ein sichtbares Zeichen der Vertrauens-bildung gegeben hätte.
Aber so etwas kann man nicht erzwingen. Im Übrigen istAngela Merkel nicht eine Kanzlerin, die Freunde imZweifel öffentlich vorführt, wenn sie mit dem, was diese
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Jürgen Hardt
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gesagt haben, unzufrieden ist. Sie macht das eher hinterden Kulissen.Aber ein klares Ergebnis ist, dass sich der amerikani-sche Präsident in seiner Pressekonferenz im Rosengartenklar hinter den Cyber-Dialog gestellt hat, dass also nundas Projekt von Außenminister Kerry und Außenminis-ter Steinmeier, Ende Juni in einen Dialog über die Frage:„Was ist die richtige Balance zwischen Schutzinteresseeinerseits und persönlichen Freiheitsrechten anderer-seits?“, einzutreten, die Rückendeckung des amerikani-schen Präsidenten und selbstverständlich auch der Bun-deskanzlerin hat und dass wir deswegen von diesemDialog zu Recht etwas erwarten und abfordern dürfen,wenngleich das natürlich nicht in wenigen Tagen erfol-gen wird.Ein weiterer Punkt ist für mich, dass bei diesem Be-such auch in Sachen des Transatlantischen Freihandels-und Investitionsabkommens ein wichtiger Schritt gemachtwurde, den wir in der Vergangenheit vermisst haben: Eswurde eine offensive Herangehensweise eingeleitet. DieKanzlerin hat vor der amerikanischen Handelskammereine fulminante Rede gehalten, bei der das Thema TTIPeine große Rolle gespielt hat. Sie hat auch die schwarzgekleideten älteren Herren im Saal der Handelskammerzum Lachen gebracht, als sie gesagt hat: Wenn durch dasTTIP dann auch der Export von Bier von Europa nachAmerika einfacher wird, dann werden Sie sehen, was Siein der Vergangenheit verpasst haben.Sie hat damit einen Öffentlichkeitsprozess über TTIPeingeleitet, den wir in Deutschland dringend brauchen.Herr Gabriel hat am vergangenen Montag diesen Prozessmit Forman und De Gucht hier in Berlin fortgesetzt. Ichglaube, wir sollten insgesamt versuchen, dieses Themaintensiv zu beraten; denn TTIP ist tatsächlich eine großeChance, hohe Standards im Umweltschutz, im Arbeit-nehmerschutz, im Verbraucherschutz und bei der Hy-giene durchzusetzen,
die dann möglicherweise zur Referenz für den gesamtenWelthandel werden können. Diese Chance sollten wiruns nicht entgehen lassen.Ich glaube, dass wir nach dem November 2014, wennwir eine neue EU-Kommission haben und dann auch dieMidterm Elections in den USA vorbei sind, mit Blickauf das erste Halbjahr 2015 einen starken Angang mitder Chance bekommen werden, dieses Abkommen tat-sächlich 2015 abzuschließen, was ich mir wünschenwürde. Von daher war es ein ausgesprochen erfolgrei-cher Besuch. Dementsprechend sind wir froh, dass es sogelaufen ist.Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Christian Flisek für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es magZufall sein, dass unsere heutige Debatte genau auf denTag der Beendigung des Zweiten Weltkrieges fällt – da-rauf ist schon hingewiesen worden –, auch wenn mananlässlich eines solchen Tages zu ganz unterschiedlichenSchlussfolgerungen kommen kann.Ein solcher Tag kann Anlass sein, einen kurzen Blickzurückzuwerfen. Die Siegermächte und allen voran dieVereinigten Staaten von Amerika haben Deutschlandnach den nationalsozialistischen Massenmorden inEuropa einen Neuanfang ermöglicht. Die europäischeIntegration und die transatlantische Allianz bilden seit-dem einen Eckpfeiler der deutschen Außenpolitik. DieZusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten als derFührungsmacht des westlichen Bündnisses war von An-fang an eng, und sie hat der Bundesrepublik Deutschlandunter den Bedingungen des Kalten Krieges eine Ent-wicklung in Frieden, Freiheit und Wohlstand ermöglicht.
Nicht zuletzt war die Unterstützung der USA nach derfriedlichen Revolution in der DDR von entscheidenderBedeutung für die Wiedervereinigung unseres Landes.
Unsere europäischen Partner blickten damals noch sehrskeptisch auf ein größeres, wiedervereinigtes Deutsch-land. Dieses Eintreten für ein einiges und freies Europaentsprang dem Geiste der atlantischen Wertegemein-schaft von Demokratie und Freiheit.
Infolge dieser Einheit hat Deutschland seine volle Sou-veränität erreicht.
Unsere Interessen bei außenpolitischen Kontroversenhaben vielleicht nicht immer übereingestimmt. Ichdenke dabei an den Irakkrieg. Auch die Entscheidungzur Intervention in Libyen kann hier genannt werden.Aber die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politi-schen Beziehungen sind so eng und die gemeinsam ge-teilten Werte sind so stark, dass unser Verhältnis bis indie jüngste Zeit von einem tiefen Grundvertrauen derDeutschen zu den USA und ihrer politischen Führunggeprägt war.
Gerade Präsident Obama fand in Deutschland fürseine Außenpolitik immer eine sehr große Zustimmung.Die Zustimmung war hier in Deutschland immer größerals in den USA selber. Noch im Frühjahr 2013 lag dieZustimmung bei knapp 76 Prozent gegenüber knapp50 Prozent in den Vereinigten Staaten. Bis zum Novem-ber 2013 sank allerdings die Zustimmung auf 43 Pro-
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Christian Flisek
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zent, und heute würden 61 Prozent der Deutschen sagen,allgemein könne man den USA nicht mehr vertrauen.Der entscheidende Grund, warum dieses Vertrauender Deutschen in die USA so erschüttert worden ist, sind– das ist bereits angesprochen worden – die Enthüllun-gen über die Überwachungs- und Abhöraktivitäten derNational Security Agency gegenüber deutschen Bürge-rinnen und Bürgern. Ins Rollen gebracht wurden dieseDinge durch die Enthüllungen von Edward Snowden.Dieses umfassende Ausspähen und Sammeln von Infor-mationen aller Bürgerinnen und Bürger bis hin zu unse-rer Regierungschefin widerspricht fundamental unseremVerständnis von grundlegenden Freiheitsrechten, insbe-sondere dem Recht auf informationelle Selbstbestim-mung und dem Schutz der Privatheit.
Hinzu kommt aus meiner Sicht noch eine andere tief-greifende Besorgnis. Unseren US-amerikanischen Part-nern stehen bei uns in Wirtschaft, Gesellschaft und Poli-tik alle Türen offen, auf allen Ebenen. Wenn wir nunjedoch den Eindruck gewinnen müssen, dass man unsmisstraut bzw. eine vorgeblich der Terrorismusbekämp-fung dienende Überwachung auch dazu benutzt wird,uns bei internationalen Verhandlungen auszuspionieren,dann berührt dies den Kern unserer Beziehungen und un-ser Verständnis von Offenheit unter Freunden und gleich-berechtigter Partnerschaft.Präsident Obama hat im Januar bereits einige Verän-derungen der NSA-Praxis im Rahmen eines laufendenReviews angekündigt. Diese Veränderungen betreffenjedoch hauptsächlich die Bürgerinnen und Bürger in denUSA.
Diese Reformen reichen daher nicht aus, um das verlo-ren gegangene Vertrauen wieder zurückzugewinnen. DieBundeskanzlerin hat dies auch bei ihrem jüngsten Be-such in Washington zu Recht angesprochen und betont,dass sie eine grundlegende Diskussion und Verständi-gung über genau diese Balance von Sicherheitsbedürf-nissen und dem Schutz der Privatheit einfordert. Das un-terstütze ich ausdrücklich.
Diese Diskussion kann jedoch nicht alleine auf Regie-rungsebene geführt werden. Sie muss auch von Vertre-tern der Wirtschaft, Wissenschaft und insbesondere derZivilgesellschaft geführt werden. Vor allen Dingen wirals Parlamentarier des Deutschen Bundestages müssenhierzu unseren Beitrag leisten. Wir müssen unsere Auf-fassung einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung im di-gitalen Zeitalter öffentlich vertreten und dafür werben,und dies auch im Dialog mit unseren US-amerikanischenKolleginnen und Kollegen. Der von Bundesaußenminis-ter Steinmeier angeregte Cyber-Dialog bietet hierfürmeiner Ansicht nach ein geeignetes Format, das wir mitLeben füllen müssen. Wir müssen möglichst bald mitdiesem Dialog beginnen. Denn auch in den USA – siesind kein Monolith – gibt es unterschiedlichste Sichtwei-sen auf die nachrichtendienstliche Massenüberwachung.Meine Damen und Herren, der Kollege Ströbele hates bereits angesprochen: Wir haben heute im NSA-Un-tersuchungsausschuss grundlegende Beschlüsse gefasst.Wir haben mit den Stimmen aller Mitglieder diesesUntersuchungsausschusses die Befragung von EdwardSnowden als Zeugen beschlossen, und wir werden in dennächsten Tagen mit seinem Anwalt das weitere Verfah-ren klären. Wir werden erste wesentliche Schritte nochvor der Sommerpause in die Wege leiten können.
Kollege Flisek, achten Sie bitte auf die Zeit.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum
Schluss noch auf eine Herausforderung blicken. Die große
Aufgabe wird sein, die Rahmenbedingungen für das digi-
tale Zeitalter gemeinsam abzustecken. Wir brauchen ge-
meinsame Regularien auf völkerrechtlicher Ebene, weil
wir feststellen: Nationale Regelungen und selbst euro-
päisches Recht reichen in ihrer Wirksamkeit nicht mehr
aus. Ihre Wirksamkeit ist beschränkt. Wir werden diesen
Dialog mit unseren amerikanischen Freunden führen
müssen. Dann werden wir auch dafür eintreten müssen,
dass unsere Grundrechte nicht auf einem digitalen globa-
len Altar geopfert werden.
Ich danke Ihnen.
Die Ergebnisse dieses Dialogs müssen wir in einer
anderen Debatte vertiefen. Ich bitte wirklich, die Zei-
chen, die wir sehr moderat geben, wenn es um die Rede-
zeit geht, ernst zu nehmen.
Das Wort hat der Kollege Dr. Andreas Nick für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ohnedas Bündnis mit den Vereinigten Staaten wären die letz-ten 70 Jahre für unser Land weitaus weniger glücklichverlaufen. Von der Luftbrücke und dem Marshallplanüber die Jahrzehnte des Ost-West-Konflikts bis zur deut-schen Einheit: Die deutsch-amerikanischen Beziehungensind eine Erfolgsgeschichte. Zusammen mit unserenPartnern in der Europäischen Union sind die USA welt-weit unser wichtigster Partner und verlässlichster Ver-bündeter. Dies gilt heute und auch für die Zukunft. Re-gelmäßige Gespräche und Arbeitsbesuche sind daher dienormalste Sache der Welt, aber auch ein Wert an sich. Eswar daher gut und richtig, dass die Bundeskanzlerin am2. Mai in Washington mit Präsident Obama zahlreicheaktuelle Themen offen und ausführlich erörtert hat.
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2766 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Dr. Andreas Nick
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Unstrittig ist: Informationen über tatsächliche odermutmaßliche Geheimdienstaktivitäten haben dasdeutsch-amerikanische Verhältnis belastet und ohneZweifel Vertrauen beschädigt. Aufklärung und Aufarbei-tung sind deshalb notwendig. Wir müssen uns auf beidenSeiten des Atlantiks der Frage stellen, wie wir die Wah-rung der bürgerlichen Privatsphäre auch im digitalenZeitalter sicherstellen können. Wir brauchen dort wiehier immer wieder eine Verständigung über die richtigeBalance von Freiheit und Sicherheit in unseren offenenGesellschaften. Dieser Diskurs ist notwendig. Für ihngilt aber auch, um ein Wort von Heinrich AugustWinkler aufzugreifen:Wenn wir Europäer mit Amerikanern über Fragender politischen Kultur und der Werte streiten, dannüber unterschiedliche Auslegungen gemeinsamerWerte.Die Diskussion hat aber auch unser aller Bewusstseinfür Verwundbarkeiten gestärkt. Kollegin Esken hat be-reits auf das gestrige öffentliche Fachgespräch im Aus-schuss Digitale Agenda zu Fragen der IT-Sicherheit hin-gewiesen. Aber niemand von uns sollte sich täuschenoder täuschen lassen: Die ungleich größeren Bedrohun-gen – nicht nur unserer digitalen Kommunikation – kom-men aus ganz anderen Richtungen und Regionen. Ob esum den Schutz vor internationalem Terrorismus gehtoder die Abwehr von Cyber-Kriminalität: Nachrichten-dienstliche Zusammenarbeit zur Gefahrenabwehr undAufklärung wird auch in Zukunft unverzichtbar sein.Aber auch vermeintliche Gewissheiten der Friedens-ordnung in Europa, wie sie in der Charta von Paris 1990ihren Ausdruck gefunden haben, erscheinen durch dasVerhalten Russlands in der Ukraine plötzlich infrage ge-stellt. Die existenzielle Bedeutung der Sicherheitspart-nerschaft zwischen Europa und Nordamerika in derNATO für Frieden, Freiheit und Sicherheit wird wiederdeutlicher sichtbar. Es ist deshalb entscheidend, dass wirauch in dieser Frage immer in enger Abstimmung mitunseren Partnern in Europa und den USA handeln.Wir wollen aber nicht nur gemeinsame Gefahren ab-wehren. Wir wollen auch Chancen nutzen, und zwarzum gemeinsamen Vorteil. Die Verhandlungen über dasTransatlantische Freihandels- und Investitionsabkom-men, TTIP, stellen eine solche enorme Zukunftschancedar. Es geht um vielfältige Chancen für Wachstum undArbeitsplätze gerade auch in kleinen und mittelständi-schen Unternehmen. Es geht dabei auch um Chancen beiSicherheits- und Gesundheitsstandards zum Schutz vonUmwelt, Verbrauchern und Arbeitnehmern. Es geht abervor allem auch um langfristige globale Wettbewerbsfä-higkeit und die Chance, für die nächste Generation in-dustrieller Produkte gemeinsam weltweite Standards zusetzen. Diese Chancen dürfen nicht verspielt werden,auch nicht durch eine Debatte, die teilweise doch mehrvon Panikmache und irreführenden Parolen geprägt istals von Sachkenntnis.
Wo es im Verhältnis zu den USA unterschiedliche In-teressen und Standpunkte gibt, werden wir diese selbst-verständlich im Dialog und in Verhandlungen mit unse-ren Partnern klar und in angemessener Weise vertreten.Genau das hat die Bundeskanzlerin bei ihrem Besuch inWashington am 2. Mai getan. Aber jeder Versuch – egalob innerhalb oder außerhalb dieses Hauses, egal ob vonlinks außen oder rechts außen –, einen ideologisch moti-vierten Antiamerikanismus zur Grundlage deutscherPolitik zu machen, wird heute wie in Zukunft auf denentschiedenen Widerstand meiner Fraktion stoßen.
Wenn es um die Zukunft und die verantwortliche Gestal-tung der deutsch-amerikanischen Beziehungen geht,kann und darf daher jedermann mit unserer Verlässlich-keit rechnen.Vielen Dank.
Die Kollegin Andrea Lindholz hat für die CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Von dem genialen Deutsch-AmerikanerAlbert Einstein ist das Zitat überliefert: „Vertrauen undLoyalität können nur auf der Basis der Gegenseitigkeitgedeihen.“ Einsteins Vertrauen in Deutschland wurdedurch die Nazis vollständig zerstört. Zeit seines Lebenskonnte er nie wieder Vertrauen und Loyalität zuDeutschland aufbauen, und er hat alle Annäherungsver-suche aus Deutschland rigoros abgelehnt. Menschlich istdiese Haltung sicherlich verständlich.Zu unserem Glück zeigte sich die US-Regierung da-mals nachsichtiger und weitsichtiger als Einstein. Nazi-deutschland hatte jegliche Basis für gegenseitiges Ver-trauen zerstört, und trotzdem ebneten die USADeutschland den Weg in die westliche Staaten- und Wer-tegemeinschaft. Heute ist die transatlantische Partner-schaft in wirtschafts-, gesellschafts- und sicherheitspoli-tischer Hinsicht von überragender Bedeutung, nicht nurfür Deutschland, sondern für die ganze Welt. Das zeigtsich aktuell auch in der Ukraine-Krise ganz deutlich.Wie ich bereits im Februar an dieser Stelle gesagt habe,kommt es auch und gerade in der Ukraine-Krise ent-scheidend darauf an, dass die USA und Europa eine ge-meinsame Haltung zu Russland finden. Dafür mussDeutschland eine wichtige Vermittlerfunktion erfüllen.Mit der Reise nach Washington hat die Bundeskanzlerindiese Aufgabe erfüllt.Zweifellos werden die deutsch-amerikanischen Be-ziehungen gleichzeitig durch das Vorgehen der US-Ge-heimdienste belastet. Die pauschale Überwachung desdeutschen und europäischen Datenverkehrs durch dieNSA beschädigt die Vertrauensbasis, auf der die transat-lantische Partnerschaft ruht. Unsere gemeinsamen de-mokratischen und rechtsstaatlichen Werte werden mitder unkontrollierten Überwachung deutscher Bürgerin-
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Andrea Lindholz
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nen und Bürger durch befreundete Geheimdienste funda-mental infrage gestellt.
Im NSA-Untersuchungsausschuss müssen wir dieseVorwürfe nun sachlich und umfassend aufklären. Wirhaben heute beschlossen, dass zunächst 27 Zeugen be-fragt sowie weitere Sachverständige und Gutachter an-gehört werden. Einer davon ist Edward Snowden. Aberunser Ausschuss ist mehr als ein Edward-Snowden-Un-tersuchungsausschuss.
Die CDU- und CSU-Kollegen haben heute eine klarePosition zur Anhörung von Edward Snowden bezogen.Aufgrund der Stellungnahme der Bundesregierung wol-len wir Edward Snowden nicht in Deutschland anhörenoder befragen, sondern wir überlegen, eine Befragung inMoskau oder per Videokonferenz durchzuführen. DasWeitere wird – Herr Kollege Flisek hat es gesagt – mitdem Anwalt von Herrn Snowden besprochen werden.
Das langfristige Ziel unserer Aufklärungsarbeit musses sein, die Bürgerinnen und Bürger vor der Überwa-chung im digitalen Zeitalter zu schützen. Die entschei-dende Frage dabei ist: Wie erreichen wir dieses Ziel? ImGegensatz zur Opposition glaube ich nicht, dass sicheine tragfähige Lösung ohne die USA finden lässt. Nurgemeinsam mit den USA werden wir das umsetzen kön-nen. Die Dominanz von US-Firmen wie Google, Face-book oder Apple wird sich nicht per Parlamentsbe-schluss relativieren lassen.Die Bundesregierung weigert sich zu Recht, demebenso populistischen wie kurzsichtigen Impuls nachzu-geben und infolge des NSA-Skandals die deutsch-ameri-kanische Freundschaft aufzukündigen oder gar die Ar-beit der Nachrichtendienste infrage zu stellen. SelbstEdward Snowden, der in diesen Tagen so oft genanntwird, hat die Bedeutung unserer Nachrichtendienste fürunsere Sicherheit und die weltweite Terrorabwehr mehr-fach betont.Die Bundeskanzlerin weiß, dass sie auf internationa-ler Ebene nur dann etwas für Deutschland bewegenkann, wenn sie trotz aller Differenzen mit den anderenStaaten im Gespräch bleibt. Das zeigt sich in derUkraine-Krise, und das zeigt sich beim NSA-Skandal.Ihre Fähigkeit zum unaufgeregten und sachlichen Dialogzeichnet unsere Kanzlerin aus. Mit dieser deeskalieren-den Herangehensweise hat sie für unser Land zum Bei-spiel auch in der Euro-Krise gute Ergebnisse erzielt. Ichbin sicher: Wir werden das auch beim NSA-Skandal soerleben.
Bei allem Verständnis für den Schock, unter dem dieUSA nach dem 11. September 2001 gestanden haben,müssen wir die USA konsequent an unsere Vorstellun-gen von Datenschutz erinnern. Wir müssen auch dafürwerben, dass verlorengegangenes Vertrauen zurückge-wonnen wird. Auch wenn ich mir etwas mehr gewünschthätte im Sinne von gemeinsamen Absprachen, im Sinnevon No-Spy-Abkommen, so ist doch zumindest der ver-einbarte Cyber-Dialog eine Möglichkeit, den USA un-sere deutschen Erfahrungen mit der staatlichen Überwa-chung näherzubringen und hier noch mehr von den USAeinzufordern; denn selbst eine alte Demokratie wie dieUSA ist nicht vor staatlicher Willkür gefeit.Oft angesprochen wurde heute auch das Freihandels-abkommen. Ich will auf die Sinnhaftigkeit und den In-halt dieses Freihandelsabkommens an dieser Stelle garnicht eingehen. Wir können die Verhandlungen in die-sem Bereich auch dazu nutzen, dessen Inhalt eng mit derFrage des Datenschutzes aus deutscher Sicht zu koppelnund hier für eine klare deutsche Handschrift zu sorgen.Für mich ist ein Freihandelsabkommen ohne klare Rege-lungen beim Datenschutz nicht denkbar.Vielen Dank.
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:Beratung des Antrags der BundesregierungFortsetzung der Beteiligung bewaffneterdeutscher Streitkräfte an der EU-geführtenOperation Atalanta zur Bekämpfung derPiraterie vor der Küste Somalias auf Grund-lage des Seerechtsübereinkommens der Ver-einten Nationen von 1982 und der Reso-lutionen 1814 vom 15. Mai 2008, 1816
vom 2. Juni 2008, 1838 (2008) vom
7. Oktober 2008, 1846 vom 2. Dezem-ber 2008, 1851 vom 16. Dezember2008, 1897 vom 30. November 2009,1950 vom 23. November 2010, 2020
vom 22. November 2011, 2077 (2012)
vom 21. November 2012, 2125 vom18. November 2013 und nachfolgender Reso-lutionen des Sicherheitsrates der VN in Ver-bindung mit der Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP des Rates der Europäischen Union
vom 10. November 2008, dem Beschluss
2009/907/GASP des Rates der EU vom 8. De-zember 2009, dem Beschluss 2010/437/GASPdes Rates der EU vom 30. Juli 2010, dem Be-schluss 2010/766/GASP des Rates der EU vom7. Dezember 2010 und dem Beschluss 2012/174/GASP des Rates der EU vom 23. März2012Drucksache 18/1282Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
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2768 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Vizepräsidentin Petra Pau
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EntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss gemäß § 96 der GONach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes-ministerin der Verteidigung, Frau Dr. von der Leyen.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin derVerteidigung:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich bin vor zwei Wochen bei unseren Soldatinnen undSoldaten in Dschibuti gewesen. Ich habe mir angesehen,was die Frauen und Männer bei Atalanta leisten, wel-chen Herausforderungen sie sich stellen müssen. Ichhabe ihnen dafür unser aller Dank und unsere Anerken-nung überbracht.Die Operation Atalanta ist ungeheuer erfolgreich. DerErfolg lässt sich an zwei nüchternen Zahlen ablesen:Allein seit 2008 sind 900 000 Tonnen Lebensmitteldurch Schiffe des Welternährungsprogramms nach So-malia gebracht worden, und zwar immer im Geleit durchSchiffe der Mission Atalanta. Das bedeutet, seit 2008sind alle Schiffe des Welternährungsprogramms an demHafen angekommen, für den sie bestimmt gewesen sind.900 000 Tonnen Lebensmittel, die Somalia erreicht ha-ben, sichern Hunderttausenden in Somalia das schiereÜberleben.Auch eine zweite Zahl spricht Bände. In diesem Jahrhaben sich bislang erst vier Zwischenfälle ereignet, dieeindeutig der Piraterie zuzuordnen sind. 2011, in derHochphase, gab es 251 Piratenangriffe. Allein 30 Schiffeund 900 Menschen waren in der Gewalt der Piraten.Heute ist kein einziges Schiff mehr in der Hand der Pira-ten. Ich glaube, auch das spricht für den Erfolg der Mis-sion Atalanta.
Der Kampf gegen die Piraterie ist eigentlich so alt wiedie Schifffahrt selber. Der – fast romantische – Begriff„Piraterie“ täuscht über die damit verbundene Aktualitätund die Brutalität hinweg. Piraterie ist ein Verbrechen.Sie ist organisierte Kriminalität, sie bedeutet Raub, siebedeutet Geiselnahme, Lösegelderpressung, sie bedeutetauch Mord. Noch immer sind etwa 50 Besatzungsmit-glieder gekaperter Schiffe in der Hand von Piraten, ei-nige sind in der Geiselhaft verstorben. Deshalb gilt es,jeden einzelnen Überfall von Piraten auf ein Schiff zuverhindern.Unsere Marine beteiligt sich von Anfang an bei Ata-lanta. Es ist beeindruckend, zu sehen, wie viele Nationenin dieser Region, am Horn von Afrika, an einem Strangziehen und die Operationen begleiten. Ein Soldat inDschibuti an Bord der Fregatte „Brandenburg“ hat mirgesagt – ich zitiere –: „Der Einsatz verändert Afrika.“Ich denke, er hat etwas ganz Zentrales ausgesprochen.Wenn man sich anschaut, wie im Kampf gegen die Pira-terie vor der Küste Somalias am Horn von Afrika Chinaund Japan, Deutschland und Indien, die USA und Russ-land zusammenarbeiten, dann zeigt sich auch, wie hierder gemeinsame Einsatz gegen die Piraterie tatsächlichFrüchte trägt.Erst dann, wenn die Piraterie über einen längerenZeitraum verschwunden ist, das heißt, wenn die finanz-starken Hintermänner der organisierten Kriminalität keinattraktives Geschäftsmodell mehr darin sehen, kann dieRegion um das Horn von Afrika sich wirtschaftlich ent-wickeln. Die Chancen für die Region sind da; denn sieliegt an einem Knoten des Schiffsverkehrs. 20 000 bis25 000 Schiffe passieren jährlich den Golf von Aden.Das ist eine große Chance für die Region, aber dafürbraucht es Sicherheit.
Selbstverständlich müssen auf die Dauer die Staatenselber für die Sicherheit dort aufkommen können. Ichglaube, deshalb ist es auch richtig, dass die EU die ver-schiedenen Maßnahmen dort am Horn von Afrika koor-diniert hat: die Marinemission Atalanta, die Ausbil-dungsmission EUTM Somalia, die Mission zum Aufbaudes regionalen Küstenschutzes und der Seeraumüberwa-chung EUCAP NESTOR und die vielen bilateralen Bei-träge zwischen verschiedenen Nationen und insbeson-dere Dschibuti. Es ist der Mix an Maßnahmen, der denErfolg für diese Region bringt. Deshalb möchte ich Sieim Namen der Bundesregierung darum bitten, dem Man-dat zur Fortsetzung der Beteiligung der Marine an derMission Atalanta zuzustimmen.Vielen Dank.
Die Kollegin Sevim Dağdelen hat für die Fraktion
Die Linke das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Keine Sitzungswoche vergeht, ohne dass wirhier über neue Auslandseinsätze der Bundeswehr ab-stimmen.
„Deutschland will sich stärker auf dem afrikanischenKontinent engagieren“, heißt es. Nun werden die Afrika-pläne der Bundesregierung und der Bundeswehr konkre-ter, wie wir kürzlich über die Presse erfahren haben. Sieplanen eine Kooperation mit dem US-KommandoAFRICOM mit Sitz in Stuttgart. Allein dies zeigt schon,dass die Bundesregierung hier auf militärische Aben-teuer setzt.Jetzt soll zusammen mit dieser Institution, die perDrohnenangriff Menschen in Somalia ermordet, Militär-politik in Afrika gemacht werden. Die Linke wird dieseKooperation mit Drohnenmördern und Militärinterven-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2769
Sevim Dağdelen
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tionisten niemals gutheißen. Statt mit AFRICOM zu ko-operieren, muss man diese Mordeinrichtung auf deut-schem Boden endlich dichtmachen.
Offiziell ist die Mission Atalanta eine Mission zurPirateriebekämpfung. Schauen wir uns das einmal an:Wenn es um Maßnahmen geht, um eine Rückkehr dersomalischen Fischer aus ökonomischen Gründen zurPiraterie zu verhindern, ist bei der Bundesregierungschlicht Fehlanzeige. Im heutigen Korrespondentenbe-richt der dpa zu dieser Frage werden somalische Fischermit der Beschwerde zitiert: „Westliche Schiffe fischenunsere Fischgründe leer.“
Nichts wird gegen diese illegale Plünderung der Fisch-gründe vor Somalia unternommen. Die Fischer fangenimmer weniger Fische, sodass absehbar ist, dass sie,wollen sie ihre Familien nicht erneut Hunger und Elendaussetzen, zur Piraterie zurückkehren werden.
Auch hier wäre es wirklich einfach, etwas zu tun, umeine weitere Ausplünderung der Reichtümer Somalias zuverhindern und damit die Piraterie auch wirklich zu be-kämpfen.
Es fällt zudem auf, dass die Bundesregierung nichts un-ternimmt, um die Finanzströme der Hintermänner derPiraterie lahmzulegen.
Um es deutlich zu machen: Die Linke verurteilt diefortgesetzte Ausplünderung der Reichtümer Somalias.
Sie verurteilt auch den Raubbau an der Natur durch diewestlichen Konzerne, der den Leuten vor Ort die Le-bensgrundlagen, die existenziell wichtig sind, nimmt.Sie verurteilt ebenfalls die Untätigkeit dieser Bundes-regierung. Die Bundesregierung unternimmt nichts, aberauch gar nichts gegen diese Ausplünderung, ja, sie leistetihr sogar Vorschub.
Wenn es Ihnen nicht um die Bekämpfung der Pirateriezu gehen scheint, wie es offensichtlich der Fall ist: Worumgeht es Ihnen dann eigentlich? In Ihrem Antrag findensich einige Hinweise, worum es bei Atalanta wirklichgeht. Atalanta soll eng mit der Militärausbildungsmis-sion für die somalische Regierung – EUTM Somalia –verzahnt werden.
– In der Begründung. Lesen Sie einfach einmal IhrenAntrag! – Kurz gesagt: Atalanta soll eine entscheidendeRolle bei der Unterstützung der verbrecherischen soma-lischen Regierung spielen. Deshalb wurde diese Missionbereits auf Landoperationen ausgeweitet.
Als kenianische Truppen ihre völkerrechtswidrigenAngriffe auf somalischem Boden fortsetzten, wurden siedabei bereits von französischen Atalanta-Verbänden un-terstützt. Da frage ich mich doch: Soll Somalia eigent-lich das neue Afghanistan am Indischen Ozean werden?Wollen Sie nach dem Scheitern der Bundeswehr und derNATO in Afghanistan jetzt ein neues militärischesAbenteuer mit der EU-Militäroperation Atalanta und mitEUTM Somalia am Indischen Ozean beginnen? DieLinke sagt unmissverständlich Nein zu dieser Art vonAußenpolitik.
Wir wollen nicht, dass Deutschland erneut eine Bürger-kriegspartei wird und international bei Bürgerkriegenmitmischt. Denn das ist es, worum es bei diesen Einsät-zen im Kern geht. Alle drei Einsätze der Bundeswehr inSomalia führen dazu, eine Bürgerkriegspartei zu werden.Bei internationalen Bürgerkriegen mitzumischen, warund ist nicht der Auftrag des Grundgesetzes. Deshalblehnt die Linke diesen Einsatz ab.
Eines haben Sie mit Ihrer Mission am IndischenOzean schon geschafft: Sie haben den Bürgerkrieg undauch Ihr eigenes Einsatzgebiet massiv ausgeweitet. Mitt-lerweile droht ganz Ostafrika in einem neuen Bürger-krieg zu versinken. Sie tragen hierfür die Mitschuld,meine Damen und Herren,
weil Sie politischen Lösungen und Verhandlungslösun-gen überhaupt keinen Raum geben. Die Linke setzt aufzivile Alternativen ohne Wenn und Aber. Wir brauchenkein neues Afghanistan am Indischen Ozean, was Siemit diesen Missionen mit befördern.
Das Wort hat der Staatsminister im Auswärtigen Amt,
Michael Roth.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Seit 2008 hält Somalia nunmehr den traurigen Spitzen-platz im Ranking der sogenannten gescheiterten Staaten,erstellt von der renommierten Denkfabrik „The Fund forPeace“. Das führt uns eindrücklich vor Augen: Wir ste-
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hen in Somalia vor einer ausgesprochen schwierigen undkomplexen Aufgabe. Da gibt es nichts zu beschönigen.Trotz aller Probleme und Schwierigkeiten wäre esaber verheerend, das Land einfach verloren zu gebenund seinem Schicksal zu überlassen, wie die Kollegin-nen und Kollegen von der Linken dies offensichtlich be-absichtigen. Es kann nicht unser außenpolitischer An-spruch sein, anderen Staaten bei ihrem Scheitern tatenloszuzuschauen. Vielmehr wird die Bundesregierung auchweiterhin alles daransetzen, Somalia nach Jahren der In-stabilität auf seinem langen und mühseligen Weg zurückin die Gemeinschaft der handlungsfähigen Staaten zu be-gleiten.Nach dem langjährigen Bürgerkrieg und dem weitge-henden Staatszerfall benötigt Somalia unsere Unterstüt-zung vor allem beim Wiederaufbau von Justiz und Ver-waltung sowie des Sicherheitssektors. Darum wollen wiruns ganz besonders kümmern; denn nur wenn Recht undOrdnung wieder Einzug halten, wird die somalische Be-völkerung mittelfristig auch wieder Vertrauen in den ei-genen Staat schöpfen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Mandat für dieFortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscherStreitkräfte an der EU-geführten Operation Atalanta,über das wir heute hier im Bundestag beraten, ist Teildieses umfassenden Ansatzes. Es ist von der Grundüber-zeugung getragen: Unser Engagement am Horn vonAfrika und für Afrika insgesamt ist immer dann erfolg-reich, wenn unser gesamtes außenpolitisches Instrumen-tarium abgestimmt zum Einsatz kommt. Dafür müssensicherheits-, entwicklungs- und wirtschaftspolitische As-pekte stets zusammen gedacht und eng miteinander ver-zahnt werden. Die meisten Kolleginnen und Kollegenhier im Hause sind sich dieser Verantwortung wohl be-wusst.In dieser Frage sind wir uns übrigens mit unseren euro-päischen Partnern einig.Die deutsche Afrikapolitik ist auch mit Blick auf un-ser Engagement am Horn von Afrika fest in den EU-Rahmen eingebettet. Mit ihrem umfassenden Ansatz fürSomalia verfolgt die Europäische Union ebenfalls dieIdee eines integrierten Handelns: politischer Dialog, ent-wicklungspolitische Maßnahmen, humanitäre Hilfe undnotfalls – das fällt niemandem hier im Hause und auchder Bundesregierung nicht leicht – eben auch der Einsatzmilitärischer Kräfte. In ihrer Gesamtheit leisten dieseAktivitäten einen entscheidenden Beitrag zu nachhalti-ger politischer Stabilität und wirtschaftlicher Entwick-lung in der Region.Neben der militärischen Operation Atalanta ist dieEU am Horn von Afrika bislang mit zwei weiterenSchwestermissionen unter deutscher Beteiligung enga-giert, der militärischen Ausbildungsmission EUTM So-malia und der zivilen Mission EUCAP NESTOR zurStärkung regionaler maritimer Fähigkeiten. EUTM So-malia soll die somalischen Sicherheitsorgane durch Aus-bildung und Beratung langfristig in die Lage versetzen,Sicherheit und Stabilität wieder eigenverantwortlich zugewährleisten. Auch die zivile Mission EUCAPNESTOR wird ihren Schwerpunkt zunehmend auf denAufbau von Kapazitäten zur Stärkung rechtsstaatlicherInstitutionen in den somalischen Küstengebieten legen,damit Piratennetzwerke dort nicht mehr ungestraft agie-ren können.Die Operation Atalanta zeigt – es ist ein mühseligerWeg; ich weiß das – mittlerweile erste Erfolge. Seit demBeginn der Operation im Jahr 2008 ist der Golf vonAden, die wichtigste Schifffahrtsroute zwischen Europa,der arabischen Halbinsel und Asien, deutlich sicherergeworden. Die durchgängige Anwesenheit von See-streitkräften zeigt Wirkung. Die Angriffe von Piratensind im Jahr 2013 gegenüber den Vorjahren auf einenhistorischen Tiefstand zurückgegangen. Noch ist die so-malische Übergangsregierung allerdings sehr weit davonentfernt, die Küsten und anliegenden Seegebiete aus ei-gener Kraft kontrollieren zu können. Daher können wirauf den Einsatz im Rahmen der Operation Atalanta vor-erst nicht verzichten und wollen sie zunächst bis EndeMai 2015 fortführen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, das gilt umso mehr,da die Operation Atalanta auch das leider nach wie vordringend benötigte humanitäre Engagement der interna-tionalen Gemeinschaft für die notleidende Bevölkerungin Somalia absichert. Denn noch immer ist Somalia ei-nes der größten humanitären Krisengebiete weltweit.Nach Schätzungen der Vereinten Nationen benötigenderzeit rund 2,7 Millionen Menschen in Somalia akuteNothilfe. Die humanitäre Hilfe durch Lieferungen desWelternährungsprogramms und anderer internationalerHilfsorganisationen erfolgt fast vollständig auf dem See-weg. Vor diesem Hintergrund erfüllt die Operation Ata-lanta auch die wichtige Aufgabe, die Lieferung von Nah-rungsmitteln und weiteren wichtigen Hilfsgütern nachSomalia sicherzustellen. Die an Atalanta beteiligtenSchiffe haben dafür gesorgt, dass alle im Auftrag desWelternährungsprogramms durchgeführten Schiffstrans-porte ihre somalischen Zielhäfen sicher erreichen konn-ten. Auf diese Weise wurden insgesamt mehr als900 000 Tonnen Nahrungsmittel und andere Hilfsgüternach Somalia gebracht. Damit hat die EU-geführte Ope-ration dazu beigetragen, dass in den vergangenen JahrenTausende von Menschenleben in Somalia gerettet wer-den konnten. Vielleicht können Sie diesen Punkt bei Ih-ren Überlegungen ansatzweise einbeziehen, liebe Kolle-ginnen und Kollegen der Linksfraktion.
Als eines der größten Geberländer für humanitäreHilfe – alleine zwischen 2008 und 2013 flossen deutscheHilfsgelder in Höhe von 313 Millionen Euro nach Soma-lia – hat Deutschland ein besonderes Interesse daran,dass die Hilfsgüter auch dort ankommen, wo sie am nö-tigsten gebraucht werden. Darüber hinaus geht es selbst-verständlich aber auch darum, Seewege für einen funk-
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tionierenden Welthandel zu sichern. Auch das ist Teilunseres europäischen Interesses. Auch diesem Zweckdienen unsere Bemühungen zur Durchsetzung des inter-nationalen Rechts vor der Küste Somalias. Wir teilendieses Interesse mit allen am Seehandel teilhabendenNationen. Gerade am Horn von Afrika zeigt sich in deralltäglichen Zusammenarbeit die verbindende Wirkungder Meere. Die Marinen der EU- und NATO-Staaten ko-ordinieren ihre Aktivitäten im Seegebiet mit den Mari-nen Chinas, Russlands, Indiens, Südkoreas und vieleranderer Länder. Die sich daraus ergebenden Kontakteund Arbeitsbeziehungen sind ein weiterer, nicht zu unter-schätzender Nebeneffekt des gemeinsamen internationa-len Engagements am Horn von Afrika. Sie bieten uns dieMöglichkeit, auf einer weiteren Ebene Gesprächskanäleaufzubauen und offenzuhalten.Liebe Kolleginnen und Kollegen – das sage ich inRichtung meiner eigenen Fraktion –, es gab in den ver-gangenen Jahren im Deutschen Bundestag durchauskontroverse Diskussionen über die Operation Atalanta.Meine Fraktion hat sich daran beteiligt. Insbesondereging es um die Ausweitung des Einsatzgebietes auf dassomalische Festland. Viele hatten damals befürchtet,dass die EU-Einheiten in einen Einsatz an Land hinein-gezogen werden könnten. Diese Bedenken haben sich inder Praxis erfreulicherweise nicht bestätigt. Faktisch istdiese Option nur ein einziges Mal gezogen worden, auchweil die Hürden hierfür in den Einsatzregeln bewusstsehr hoch gesetzt worden sind. Deshalb kann ich uns allenur dazu ermuntern, über jeden Militäreinsatz besonderskritisch zu diskutieren, nachzuprüfen, auch die Regie-rung in die Pflicht zu nehmen. Da kann manches nochbesser werden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die da-malige kritische Kontroverse dazu beigetragen hat, dasssich die Bedenken, die von einigen geäußert wurden,eben nicht erfüllt haben. Dafür mein herzliches Danke-schön.Derzeit laufen auf EU-Ebene noch Verhandlungenüber die Anpassung der Einsatzbefugnisse der OperationAtalanta, die bis spätestens August/September 2014 ab-geschlossen sein sollen. Die Bundesregierung wird sichin enger Abstimmung mit ihren europäischen Partnernum eine möglichst restriktive Regelung der Landeinsätzebemühen. Ich bin schon jetzt gespannt, welche Vor-schläge uns die Kolleginnen und Kollegen aus den zu-ständigen Ausschüssen unterbreiten werden.Positiv ist auch, dass mit dem neuen Mandat die per-sonelle Obergrenze von 1 400 auf 1 200 deutsche Solda-tinnen und Soldaten reduziert wird. Auch das ist ein Be-leg für die ersten Erfolge bei der Eindämmung derPiraterie vor der somalischen Küste. Wenn sich diese Er-folge weiter verstetigen, gibt es die klare Perspektive ei-ner weiteren Reduzierung der Truppenstärke.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Opera-tion Atalanta hat in der europäischen Öffentlichkeit, beiunseren internationalen Partnern und im Kreis der see-fahrenden Nationen hohes Ansehen. Sie wird als weithinsichtbarer Leuchtturm einer handlungsfähigen Gemein-samen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspoli-tik wahrgenommen. Mit der Sicherung des Zugangs hu-manitärer Hilfe nach Somalia und dem Schutz deszivilen Schiffsverkehrs vor Piraterie erbringt sie einenwertvollen Dienst im Interesse Somalias und des interna-tionalen Rechts. Ich bitte Sie daher im Namen der Bun-desregierung um Ihre Unterstützung für unsere fortge-setzte Beteiligung an der Mission Atalanta.Kritik ist – das will ich zum Schluss noch einmal aus-drücklich unterstreichen – nicht nur erwünscht, Kritik istzwingend notwendig. Aber, liebe Kollegin, diese krudeMischung aus Halbwahrheiten, Populismus und Ver-schwörungstheorien
wird der Verantwortung, die wir gemeinsam für unsereSoldatinnen und Soldaten, für die Sicherheitskräfte undfür diejenigen, die humanitäre Hilfe leisten und zu tra-gen haben, leider nicht gerecht.Vielen herzlichen Dank.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kol-
lege Omid Nouripour das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ichmuss zugeben: Die bisherige Debatte hat mich ein biss-chen verwirrt; denn alle Rednerinnen und Redner habenvon einem Somalia-Einsatz gesprochen. Wir haben da-mals im Jahr 2008 eine maritime Mission begonnen, diesich natürlich auch auf die Küstenregion vor Somalia er-streckt – ja, viele der Piraten sind aus Somalia –, aberdas Einsatzgebiet insgesamt ist deutlich größer. Ein an-derer Teil der Piraten stammt zum Beispiel aus Jemenund Oman. Deshalb ist es nicht ganz lauter, wenn mansich hier hinstellt und sagt: Somalia ist ein armes Land;wir wollen den Menschen helfen und bekämpfen deshalbdie Piraterie. – Das beschreibt nicht den Einsatz, überden wir heute sprechen.Es geht um Symptombekämpfung – um nicht mehrund nicht weniger. Die Mission als Symptombekämp-fung war seit 2008 extrem erfolgreich; das ist überhauptnicht zu bestreiten. Die Schiffe, die im Auftrag desWorld Food Programmes unterwegs waren, haben diesenSchutz gebraucht. Im Jahr 2013 gab es meines Wissenskeinen erfolgreichen Piratenangriff mehr. Das ist gut undrichtig so. Dafür möchte ich allen, die daran mitgewirkthaben, vor Ort für Sicherheit zu sorgen, im Namen mei-ner Fraktion herzlich danken.Ich stelle noch einmal die Frage, warum die Bundes-regierung nicht einmal bei einer erfolgreichen Missionbereit ist, eine Evaluation zu treffen. Gerade vor demHintergrund der Debatten, die unser Außenminister undunsere Verteidigungsministerin Anfang des Jahres mitangestoßen haben, dass Deutschland mehr Verantwor-tung übernehmen will, wäre es höchste Zeit, eine Eva-luation zu machen. Dass Sie sich bei Afghanistan nichttrauen, weil es seit Beginn des Einsatzes viele Bundesre-
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Omid Nouripour
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gierungen gegeben hat – ich nehme keine aus –, die Feh-ler gemacht haben, kann man verstehen, wenn man will.Dass Sie dies aber auch bei einer erfolgreichen Missionnicht machen, führt nicht unbedingt dazu, dass man ausden bisherigen Einsätzen lernt.
Wir haben seit 2008 mehrheitlich diesem Einsatz immerzugestimmt. 2012 sind bei einer erfolgreichen Mission dieRegeln verändert worden. Es kam eine sogenannte Strand-variante hinzu. Es gab dann die Möglichkeit, an Land zuwirken. Es gab viel Unverständnis darüber, weil der Strandeine Breite von 2 Kilometern hatte. Wir haben damals ge-sagt, dass diese neue Komponente nicht nur unnötig ist,sondern auch unnötige Risiken und Eskalationsgefahrenmit sich bringt. Wir haben damals einen Einsatz und dieMission nicht verdammt, wir haben nicht dagegen ge-stimmt. Wir haben gesagt, dass die Mission erfolgreichist, dass wir uns der Eskalationsgefahr entgegenstellen,und haben uns enthalten. An dieser Eskalationsgefahrhat sich seitdem im Übrigen nichts verändert.
Die Sozialdemokratie hat damals mit Nein gestimmt.Aus den Worten des Herrn Staatsministers habe ich nichtgehört, was sich an der Realität dieser Mission und die-ser zusätzlichen Komponente verändert hat. Das Ein-zige, das sich verändert hat, ist das Mandat, und zwarnicht nur die Mandatsobergrenze. Das, was auch von derSozialdemokratie abgelehnt wurde, steht expressis ver-bis nicht mehr im Mandatstext, sondern in einem Quer-verweis auf das alte Mandat, das die Sozialdemokratieabgelehnt hat. Stimmen Sie jetzt Ihrer alten Ablehnungzu, wenn Sie dem Querverweis auf das alte Mandat zu-stimmen? Stimmen Sie jetzt Ihrer Ablehnung zu, odermüssen Sie ablehnen, um zuzustimmen? Es ist nichtmehr nachvollziehbar, was die Sozialdemokratie macht.Eigentlich ist die Situation viel zu ernst.Wir reden über ein bitterarmes Land, wenn wir überSomalia reden. Die Küste Somalias ist nur ein Teil desProblems. Gestern ist von 22 Hilfsorganisationen einBericht veröffentlicht worden. Sie haben darauf hinge-wiesen, dass es im Jahre 2011 eine Hungerkatastropheungeahnten Ausmaßes gegeben hat. 250 000 Menschensind in Somalia verhungert. Sie sagen, dass eine verhee-rende Trockenheit im Süden des Landes droht, dass sicheine solche Katastrophe wiederholen kann. Es wird von50 000 Kindern gesprochen, die an der Schwelle des To-des seien. Oxfam weist darauf hin, dass es 2011 glas-klare Indizien gegeben hat und dass die Weltgemein-schaft damals zugeschaut hat. Es ist höchste Zeit, dassman die Indizien, die es wieder gibt, zur Kenntnisnimmt. Es ist höchste Zeit, dass wir auch zur Kenntnisnehmen, dass die internationale Gemeinschaft nur12 Prozent der notwendigen Hilfsgelder bisher hat gene-rieren können und dass wir etwas tun müssen. Jenseitsder Debatte um Atalanta, jenseits einer erfolgreichen Be-kämpfung der Symptome müssen wir auf Somalia selbstschauen. Da reichen die Verquickungen, die nicht lautersind, nicht aus. Wenn wir etwas für Somalia tun wollen,dann müssen wir nicht nur auf die politischen Prozesse,die es in Mogadischu gibt, schauen, sondern auf die mas-sive humanitäre Katastrophe, die derzeit im Süden desLandes droht. Wir müssen alles daransetzen, dass sichdie Katastrophe, die es vor drei Jahren gab, nicht wieder-holt.
Der Kollege Philipp Mißfelder erhält für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Sehr verehrte Präsidentin! Kollege Nouripour, ichmöchte unseren sozialdemokratischen Koalitionspartneran dieser Stelle in Schutz nehmen. Als Hinweis für Sie:Das Abstimmungsverhalten der SPD beim letzten Malsteht heute nicht zur Debatte, wenn ich in Ihrer Logikbleiben darf.
Sie haben sich mit Ihren Querverweisen ziemlich verga-loppiert. Sie haben die SPD aufgefordert, zu ihrem vor-herigen Abstimmungsverhalten Stellung zu beziehen.Staatsminister Roth hat ausführlich dargestellt, welchekritische Überprüfung es bei dem Mandat gegeben hat.Ich finde es wirklich kleinkrämerisch, nach den Erklä-rungen der Bundesregierung durch zwei Regierungsver-treter auf dieser Frage herumzureiten und vor allen Din-gen den Kernpunkt außer Acht zu lassen, dass es sich beiAtalanta um eines der erfolgreichsten Mandate der Bun-deswehr
und gleichzeitig um eines der beliebtesten Mandate inder Bevölkerung handelt. Denn selten ist so logisch undso eindeutig zu erkennen, wo die deutschen Interessenliegen, wo unsere politische Verantwortung liegt undworin zugleich der unmittelbare Nutzen liegt.Ich darf daran erinnern – der frühere Verteidigungs-minister Franz Josef Jung hat es mir gerade noch mit aufden Weg gegeben –: 2008 gab es über 200 Attacken vonPiraten. Dieses Mandat ist wirklich eine große Erfolgs-geschichte. Das sollte man an dieser Stelle erst einmalfesthalten.
Deshalb sollten wir dieses Mandat verlängern. Und des-halb danken wir in dieser Debatte zu Recht den 361Frauen und Männern, die gerade für uns im Einsatz sind.
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Philipp Mißfelder
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Ich bin der Meinung, dass sie hervorragende Arbeit leis-ten, übrigens in einem nicht einfachen Einsatzgebiet. Esist vorhin von einer Eskalation gesprochen worden. Ichglaube, dass unsere Antwort auf mögliche Eskalations-szenarien die richtige war: Wir haben Stärke demons-triert. Das Ergebnis ist, dass die Situation nicht weitereskaliert ist. Keiner von uns kann aber sicher sagen, kei-ner kann vorher beurteilen, ob es sich in die eine oder indie andere Richtung entwickelt.Zu dem Vorwurf, wir hätten keine Evaluation durch-geführt, muss ich sagen: Schon der Parlamentsvorbehaltund die Debatte am heutigen Tage zeigen, dass wir unssehr genau überlegen, welche Mandate wir auf den Wegbringen und welche nicht. Ich fände es übrigens nichtgut, wenn es im Parlament gängige Praxis wäre, den Par-lamentsvorbehalt, der sich in den Beratungen hier in ers-ter und zweiter Lesung und in einer Ausschussberatungausdrückt, so wahrzunehmen, dass wir uns vorher vonder Regierung einen Bericht zuschicken lassen, in demsteht, was denn aus Sicht der Regierung an einem Man-dat gelungen oder weniger gelungen ist. Wir haben es imFalle Afghanistans so gemacht, um aus dem Einsatz ins-gesamt Schlüsse ziehen zu können und eine generelleRückschau auf den langjährigen Einsatz in Afghanistanzu ermöglichen.
Ich finde aber, dass hier der richtige Ort ist, darüber zureden, ob ein Mandat erfolgreich war und wir es verlän-gern sollten oder nicht. Ich komme zu dem Ergebnis:Dieses Mandat war erfolgreich und wird hoffentlichauch erfolgreich bleiben. Deshalb plädieren wir dafür,das Mandat zu verlängern.
Was Somalia angeht, so gebe ich Ihnen recht – es istangesprochen worden –: Natürlich können wir mehr tun.Natürlich stimmt es, dass wir insgesamt mehr Engage-ment für Afrika zeigen müssen, politisch, diplomatischund in der Entwicklungszusammenarbeit. Selbstver-ständlich können wir mehr tun, selbstverständlich kannauch die Europäische Union mehr tun. Trotzdem ist dieLage in Somalia natürlich besonders schwierig und ge-fährlich. Deshalb muss man genau hinschauen, wenn esdarum geht, welcher Maßstab der richtige ist, um festzu-stellen, was in der Somalia-Politik bisher gut oderschlecht gelaufen ist. Erinnern Sie sich noch daran? Ver-gangenen Herbst gab es in Brüssel eine Tagung zurFrage eines New Deal Engagement, und es ist dabeinicht zu nennenswerten oder greifbaren Ergebnissen ge-kommen.Wir müssen eines sehen: Atalanta leistet einen stabili-sierenden Beitrag zu einem ganz zentralen humanitärenAkt, nämlich zur Arbeit des World Food Programme.Denn wenn Atalanta nicht wäre, dann wäre die Liefe-rung von Nahrungsmitteln nicht möglich. Damit leistetdie Bundeswehr an dieser Stelle einen humanitären Bei-trag, den wir aufrechterhalten wollen.
Zu den Theorien von Frau Dağdelen ist von Staatsmi-nister Roth vorhin schon ausführlich etwas gesagt wor-den.
Ich höre sie jedes Jahr, wenn wir das Mandat verlängern.
Normalerweise ist auch Herr Ströbele ein Kämpfer fürdie Theorie, dass die Piraterie aus der Überfischung re-sultieren würde. Unabhängig davon, dass die sozialeStruktur in Somalia wirklich katastrophal ist, was eineUrsache der Probleme ist, gibt es überhaupt keinenGrund, sich nicht kriminellen Akten entgegenzustellen.Es ist gerade deshalb wichtig, Präsenz zu zeigen und da-für zu sorgen, dass die Möglichkeit einer Rechtsstaat-lichkeit überhaupt vorhanden ist. Dazu leistet Atalantaaus meiner Sicht den richtigen Beitrag.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Florian Hahn für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die EU-geführte Operation Atalanta soll zumSchutz der internationalen Seeschifffahrt die vor derKüste Somalias operierenden Piraten abschrecken undbekämpfen. Mit der Operation sollen weiterhin Geisel-nahmen und Lösegelderpressungen verhindert, das Völ-kerrecht durchgesetzt und humanitäre Hilfe für die so-malische Bevölkerung, zum Beispiel – das ist schon oftgenannt worden – durch das Welternährungsprogramm,sichergestellt werden.Seit Beginn der Operation Atalanta ist kein Schiff desWelternährungsprogrammes mehr angegriffen worden.Auch die Sicherung der bedeutsamen Handelsroute zwi-schen Europa, der arabischen Halbinsel und Asien ist fürDeutschland als Exportnation und Importeur von Roh-stoffen dauerhaft von besonderem Interesse.In Osnabrück wurde im April dieses Jahres im erstenPiratenprozess seit 400 Jahren ein somalischer Pirat inerster Instanz zu zwölf Jahren Haft verurteilt,
jetzt wird sich noch der Bundesgerichtshof mit diesemFall beschäftigen. Die Umstände dieses Falles machen
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Florian Hahn
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deutlich, warum die EU-geführte Operation Atalantaweiterhin so wichtig ist und warum uns romantische Pi-ratenklischees den Blick auf die grausame Realität nichtverstellen dürfen.Im Mai 2010 wird die „Marida Marguerite“, ein mitFlugbenzin und Speiseöl im Wert von 10 Millionen Eurobeladener brandneuer Tanker einer Reederei aus demEmsland von Piraten vor Somalia gekapert. Für die Be-satzung folgen acht Monate unvorstellbares Leid undgrausame Quälereien. Die Piraten schlagen und folterndie Seeleute. Es gibt Scheinhinrichtungen; ein Schussgeht knapp am Kopf des Kapitäns vorbei. Der Chefinge-nieur wird stundenlang kopfüber an einer Eisenstangeüber die Reling gehängt, die Piraten sperren Kapitän undIngenieur nackt bei minus 17 Grad Celsius in die Kühl-kammer. Kurz vor Weihnachten 2010 werden aus einemFlugzeug 5 Millionen Euro Lösegeld über dem Schiffabgeworfen. Die Kidnapper bestätigen den Empfang perFax, unterschrieben mit: „Merry Christmas“. Am 28.Dezember 2010 geben die Piraten Schiff und Besatzungdann Gott sei Dank endlich frei.Der Fall ist grausam, aber leider kein Einzelfall. Inder Vergangenheit wurden Besatzungen im Durchschnittbis zu fünf Monate lang gefangen gehalten. So etwasdürfen Staaten nicht zulassen. Wenn ein Failed State wieSomalia nicht in der Lage ist, die Piraterie zu unterbin-den, muss die Weltgemeinschaft sich überlegen, was sieunternehmen kann, um solche Verbrechen zu verhindern.Die Mission EU NAVFOR Atalanta, über deren Ver-längerung wir heute wieder einmal beraten, hat maßgeb-lich dazu beigetragen, dass die Piratenangriffe heute aufeinem Tiefstand angekommen sind. 2013 wurden 20 ver-dächtige Ereignisse registriert, aber nur 7 Angriffe, diealle erfolglos blieben. Zum Vergleich: 2011 waren esnoch 176 Angriffe. Das zeigt einmal mehr, wie erfolg-reich und gut dieser Einsatz ist.Das militärische Vorgehen im Rahmen der OperationAtalanta ist aber nur ein Teil eines umfassenden ressort-übergreifenden Ansatzes zur Stabilisierung Somaliasund der gesamten Region. Parallel zu den militärischenBemühungen auf See laufen daher Bemühungen der Ver-einten Nationen, der Europäischen Union und auch bila-teraler Art, Somalia und die Region zu stabilisieren.Deutschland beteiligt sich umfangreich an humanitärerHilfe für Somalia. Wir tragen über den allgemeinen Fi-nanzierungsanteil 20 Prozent der humanitären Hilfe derEU-Kommission; das waren allein zwischen 2008 und2013 313 Millionen Euro. Schon bisher stellten dasBMZ und auch das Auswärtige Amt zusätzlich immerwieder substanzielle Mittel zur Verfügung.Mir scheint, dass das der richtige Ansatz ist: auf dereinen Seite Bekämpfung der akuten, gegenwärtigen Ge-fahren der Piraterie auf See durch Abschreckung der Pi-raten mit militärischen Mittel sowie Bekämpfung desHungers und Elends in den Flüchtlingslagern durch hu-manitäre Hilfe, auf der anderen Seite zugleich zukunfts-gerichtete Investitionen in die Stabilisierung der Regionund in den Aufbau staatlicher Strukturen.In den letzten Debatten und auch heute wurden wie-der Befürchtungen geäußert, die Ergänzung des Mandatsum die Möglichkeit der Bekämpfung der Piraterielogis-tik am Strand aus der Luft führe zu einer Eskalationsge-fahr und berge das Risiko ziviler Opfer.Diese Horrorszenarien haben sich bisher nicht bewahr-heitet. Es ist entgegen diesen unrealistischen Vorstel-lungen bis heute nicht zu Kollateralschäden oderÜbergriffen auf die Zivilbevölkerung gekommen. KeineEskalation, deswegen keine Gefahr. Aus meiner Sichtsollten sich alle nichtdogmatischen Fraktionen in diesemHaus für den Einsatz im Rahmen des Mandats Atalantaeinsetzen.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/1282 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Jürgen Trittin, Agnieszka Brugger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Kündigung bilateraler Kooperationen im Be-
reich der Nutzung atomarer Technologien
Drucksache 18/1336
Über den Antrag werden wir später namentlich ab-
stimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Die Kollegin Sylvia
Kotting-Uhl für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat
als Erste das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Brasilien baut ein AKW. Brasilien tut das auch mit deut-scher Technik; darunter sind auch veraltete Komponen-ten, die nicht mehr dem Stand von Wissenschaft undTechnik entsprechen. Und Brasilien tut das in einemErdbebengebiet.Die von Deutschland für den Export der deutschenKomponenten bereitgestellte Hermesbürgschaft hat inder letzten Legislatur zu heftigen Debatten geführt. DieSPD wollte mit uns zusammen diese Hermesbürgschaftverhindern. Die Hermesbürgschaft ist aber nur der un-vermeidliche Begleiter des Abkommens zwischen
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2775
Sylvia Kotting-Uhl
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Deutschland und Brasilien zur Förderung der sogenann-ten zivilen Atomkraftnutzung, eines Abkommens, ge-schlossen in der atomaren Euphorie der 70er-Jahre. Esgibt mehrere dieser Abkommen, alle geschlossen vorTschernobyl und Fukushima, heute völlig anachronis-tisch und aus der Zeit gefallen.
Das Abkommen mit Brasilien und das Abkommenmit Indien laufen in diesem Jahr aus. Kündigt man dieAbkommen nicht, werden sie automatisch verlängert.Das Abkommen mit Indien läuft heute in einer Wocheaus. Diese Abkommen sind keine Petitessen. Wer es mitdem Atomausstieg im eigenen Land ernst meint, derkann nicht im Ausland den Ausbau von Atomtechnolo-gie mit Mitteln der Außenwirtschaftsförderung unter-stützen.
Die Begründung des Wirtschaftsministerium, die wirauf unsere Anfrage, warum das Abkommen mit Brasi-lien nicht gekündigt wird, bekommen haben, lautet übri-gens wie immer, wenn es um Atomkraft und deren Nut-zung geht: Sicherheit. Die Sicherheit sei erhöht, wenndeutsche Atomtechnik mit dabei sei.
Ich sage Ihnen eines, liebe Kolleginnen und Kollegenvon der Koalition: Mehr Sicherheit für Brasilien gibt esnur, wenn dieses Atomkraftwerk nicht gebaut wird, egalmit welcher Technik.
Deshalb braucht es Kooperationen in den Bereichen er-neuerbare Energien und Energieeffizienz und eben nichtim Bereich der Nukleartechnik.
Die brasilianische Präsidentin macht übrigens keinenHehl daraus, dass es neben der Stromerzeugung durch-aus auch um die Beherrschung des Brennstoffkreislaufsgeht.Schauen wir uns den Atomwaffenstaat Indien an. Erist zwar Mitglied der IAEA, ist bis heute aber nicht demNuklearen Nichtverbreitungsvertrag beigetreten. Indienimportiert also zivile Atomtechnik, ohne die wesentli-chen Kontrollmechanismen für das militärische Atom-programm aufzuweisen. Damit unterstützt das Atomaus-stiegsland Deutschland nicht nur den Ausbau derAtomkraftnutzung, sondern auch das Unterlaufen des in-ternationalen Nichtverbreitungsregimes. Eine solchePolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen, macht Regie-rung und Parlament national und international unglaub-würdig.
Nun stellen sich Enttäuschungen über Verhaltenswei-sen selbstverständlich unterschiedlich dar. Ich will nichtverhehlen, dass ich in diesem Fall besonders von denGenossinnen und Genossen der SPD enttäuscht bin. AlleHäuser, die in der Frage der Abkommen eine Rolle spie-len, sind in SPD-Hand: das Wirtschaftsministerium, dasUmweltministerium und das Auswärtige Amt. In derletzten Legislaturperiode haben Sie noch mit uns die Be-endigung der Förderung der Atomkraft im Ausland ge-fordert. Nichts davon findet sich im Koalitionsvertrag,und Ihre Häuser schweigen.Am 28. März erfuhren wir in der Antwort auf un-sere Kleine Anfrage, dass das Abkommen mit Indienam 15. Mai ausläuft. Am 16. April bekam Umweltminis-terin Hendricks von Jürgen Trittin und mir einen Briefmit der Aufforderung, dieses Abkommen jetzt zu kündi-gen. Keine Reaktion. Deshalb liegt heute unser Antragvor. Es geht in diesem Antrag nicht nur um das Abkom-men mit Indien, sondern es geht um alles, was in diesenGesamtzusammenhang gehört: das Abkommen mit Bra-silien, die Hermesleitlinien, die Kooperationen in denBereichen Erneuerbare und Energieeffizienz.Das alles ist nur ein kleiner Teil dessen, was Sie ver-säumen. Denn wer glaubt, dass sich der Atomausstieg ineinem Abschaltplan erschöpft, der irrt,
obwohl ich zugeben muss, dass mir selbst der Abschalt-plan inzwischen Sorgen macht, wenn ich mir anschaue,was man von Ihnen zur Energiewende vorgelegt be-kommt. Sie kümmern sich nicht um die Risiken grenzna-her AKW. Sie lassen zu, dass mit öffentlichen For-schungsgeldern an atomaren Techniken geforscht wird,zum Teil in Kooperation mit Atomländern wie Frank-reich oder auch China. Sie werben nicht für den interna-tionalen Atomausstieg und für die Energiewende, undSie lassen zu, dass sich das deutsche Gesicht in der EU-Kommission, Energiekommissar Oettinger, als Atom-lobbyist betätigt. Heute haben Sie die Chance, zu zeigen,dass Sie zumindest den Zusammenhang zwischen diesenAbkommen und dem Atomausstieg verstehen.
Wir sind auch in Euratom gefangen. Wir haben hierschon oft darüber diskutiert. Uns wird als Begründungimmer genannt: Wir können nicht aus Euratom ausstei-gen, weil dies ein EU-Vertrag ist. Diese Abkommen sindkeine EU-Verträge. Man kann sie kündigen. Machen Sieim Sinne von Konsequenz und Glaubwürdigkeit denSchritt. Sie haben heute die Chance, das zu zeigen. Stim-men Sie, zumindest die Genossinnen und Genossen vonder SPD, unserem Antrag zu, diese antiquierten Abkom-men 40 Jahre nach ihrem Zustandekommen heute in ei-ner völlig veränderten Welt endlich zu kündigen.Vielen Dank.
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2776 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
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Das Wort hat die Kollegin Elisabeth Motschmann für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Frau Kotting-Uhl, zunächst möchte ich IhrenVorwurf, dass Herr Oettinger ein Atomlobbyist ist, zu-rückweisen.
Das kann man ganz sicher so nicht sagen. Die uns vonIhnen unterstellte Atomeuphorie hat es aus meiner Sichtauch nie gegeben.Alle Jahre wieder kommt ein ähnlicher Antrag vonIhnen zur Kündigung bilateraler Kooperationen im Be-reich der Nutzung atomarer Technologien. Das gehört zuIhren Lieblingsthemen. Wie bereits in der letzten Legis-laturperiode geht es auch heute wieder um die Hermes-bürgschaften – Sie haben es eben gesagt – für ein Atom-kraftwerk in Brasilien. In Ihrem Antrag heißt es – ichzitiere –:Wer zu Hause aus der Atomkraft aussteigt, weil ihreRisiken zu groß und die hochgefährlichen Hinter-lassenschaften nicht verantwortbar sind, kann sieim Ausland nicht durch gezielte Außenwirtschafts-förderung begünstigen.So weit Ihr Antrag.
Das klingt im ersten Moment plausibel und einleuch-tend,
ist es aber nicht. Wer im eigenen Land so etwas be-schließt, kann noch lange nicht fordern, dass alle ande-ren es dann auch tun.
Sie können es fordern, aber Sie können es nicht erzwin-gen.
Bei genauer Betrachtung der Lage in den anderen Län-dern – diese haben Sie viel zu wenig betrachtet – könnenSie eine solche Forderung eben nicht aufrechterhalten.Unsere Regierung hat beschlossen, dass Deutschlandmittelfristig aus der Atomkraft aussteigt. Ich stehe vollund ganz dahinter, meine Fraktion selbstverständlichauch.
Der Fokus liegt auf den erneuerbaren, nachwachsendenund reproduzierbaren Energien. Dennoch ist uns aberauch bewusst, dass wir noch nicht ganz aus der Atom-energie aussteigen und noch nicht völlig auf sie verzich-ten können. Sie bleibt noch für einige Jahre ein Teilunseres Energiemixes. Fossile Energieträger und Kern-energie sind derzeit noch Bestandteil der Brückentech-nologie auf dem Weg in das Zeitalter der erneuerbarenEnergien.Wir haben allerdings – im Gegensatz zu Ihnen – nie,zu keinem Zeitpunkt, eine Politik der Angst im Hinblickauf die Atomenergie betrieben.
– Ja, das haben Sie gemacht. Ich will Ihnen auch ein Bei-spiel nennen, ein Beispiel, das ich in wirklich unguterErinnerung habe: Claudia Roth hat anlässlich des Fuku-shima-Jahrestages die 16 000 Toten der Atomkatastro-phe beklagt.
Das waren aber nicht 16 000 Tote der Atomkatastrophe,sondern des Tsunamis und des Erdbebens. Als die Atom-katastrophe kam, waren diese Menschen bereits tot. Sokann man das nicht machen. Ich finde es einfach nicht inOrdnung, wenn man hier mit den Ängsten der Menschenspielt. Genau das tun Sie beim Thema Atomenergie.
Aber zurück zum Antrag. Sie fordern – wie immer be-lehrend –,
dass wir den anderen Ländern vorschreiben sollen, wiesie zu handeln haben.
Deutschland hat infolge einer Risiko- und Interessenab-wägung für sich entschieden, wie es mit der Kernenergiein Deutschland weitergehen bzw. nicht weitergehen soll.Da sind wir ja auch vorbildlich. Wir sind das einzigeLand auf der Welt, das diesen Sonderweg geht.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2777
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Es liegt aber in der souveränen Entscheidung eines jedenStaates, bei der Ausgestaltung seiner Energiepolitik ei-nen anderen Energiemix zu wählen.
Eine Bevormundung – das ist immer Ihre Schwäche –,
in diesem Fall eine Bevormundung anderer Staaten hin-sichtlich der Energiepolitik, oder eine mittelbare Ein-flussnahme liegen nicht im Interesse deutscher Außen-politik.Wir mögen es ja gewohnt sein, dass der Strom bei unsin Deutschland immer fließt; daran haben wir uns ge-wöhnt. Das ist aber nicht in allen Ländern so.
Zum Beispiel erwähnen Sie in Ihrem Antrag Brasilien,ein Land – ganz nebenbei –, das ich sehr gut kenne.
Ich bin in den Elendsvierteln von Brasilien gewesen undweiß, wie es den Menschen dort geht;
auch darüber müssen wir einmal reden. Zum einen gibtes dort keine flächendeckende Stromversorgung. Zumanderen leidet dieses südamerikanische Land mit seinerrasch wachsenden Wirtschaft immer wieder unter stun-denlangen Stromausfällen.Zwei Beispiele will ich nennen. Im Oktober 2012legte eine Panne den gesamten Norden und Nordostendes Landes lahm. Im November 2009 waren rund60 Millionen Menschen in Brasilien von einem Mega-Blackout betroffen.
Das ist Ihnen völlig egal. Uns ist das nicht egal.Der Weg hin zu einer flächendeckenden und verlässli-chen Stromversorgung ist für viele Länder noch weit.
Nicht nur die ärmsten Länder der Welt, sondern auchLänder wie China oder Indien, die Sie in Ihrem Antragebenfalls nennen, weisen in ländlichen Regionen nocherhebliche Mängel bei der Stromversorgung auf;
das wissen Sie ganz genau, und das brauche ich Ihnennicht zu sagen.
Sie fordern, dass Deutschland den Menschen in diesenLändern seine Hilfe bei der Stromversorgung entziehensoll.
Genau das wollen wir nicht. Deutschland muss aberseine internationale Verantwortung annehmen und dieMenschen in diesen Ländern unterstützen.
– An Ihrer Aufregung sehe ich, dass das, was ich sage,wohl doch ganz richtig ist, und dass Sie es verstandenhaben.
– Das mit den Geheimnissen machen wir dann nach derRede; sonst geht mir meine Redezeit verloren.Ihre Forderung, Ländern wie Indien oder BrasilienBedingungen zur verstärkten Energieeffizienz oder zurMinderung der CO2-Emissionen aufzuzwängen, könnenwir nicht unterstützen. Es geht immer um Freiwilligkeit.
– Ganz einfach: Wenn die Hermesbürgschaften zurück-gezogen werden, dann können diese Länder ihre Strom-versorgung nicht gewährleisten und nicht finanzieren.
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2778 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Elisabeth Motschmann
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Das finden Sie gut
und wir schlecht.Mit Blick auf große Teile dieser Länder gehen solcheDiskussionen an der Realität vorbei, die Sie offenbarnicht kennen; und das tut mir leid.
Die Menschen in diesen Ländern brauchen zuallerersteine flächendeckende Stromversorgung. Die Wirtschaftin diesen Ländern braucht diese Stromversorgung,
um sich überhaupt weiterentwickeln zu können. Mankann die Kraftwerke doch gar nicht von jetzt auf gleichersetzen.Wir können diesen Ländern nicht unsere deutschenMaßstäbe, Vorstellungen und Wünsche aufzwingen,auch wenn Sie von den Grünen es immer wieder sogerne tun.
Angesichts Ihrer sozialen Einstellung, die ich ja sehrschätze und die ich auch immer wieder sehe, wundert esmich etwas, dass Sie gerade das Elend, die Probleme derMenschen in diesen Ländern nicht sehen und solche Vor-schläge machen.
– Genau das ist der Punkt.Ich will am Ende noch auf einen Punkt Ihres Antrageseingehen: Sie behaupten, dass die BundesrepublikDeutschland „ihrer außenpolitischen Mitverantwortungnicht gerecht“ wird und dass unsere Politik „sämtlicheBemühungen im Bereich der Nichtverbreitung von Mas-senvernichtungswaffen“ untergräbt; Sie haben das jaeben auch erwähnt. – Deutschland ist sich der besonde-ren Sensibilität von Nuklearprojekten absolut bewusst.Das zeigt sich schon bei der Besetzung des Interministe-riellen Ausschusses für Exportkreditgarantien. Auch dassollten Sie einmal erwähnen: Allein daran sind vier Bun-desministerien beteiligt: BMWi, BMF, Auswärtiges Amtund BMZ.
– Sie meinen, die irrten alle
und nur Sie hätten immer recht? Nein, haben Sie nicht. –Solche Exporte werden strengstens geprüft, und es wirdabgewogen, inwieweit deutsche Hilfen eventuell zweck-entfremdet und für den Bau von Waffen eingesetzt wer-den können, so wie es sich für einen Rechtsstaat gehört.Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. Am Endesage ich noch einmal: Die Grünen wollen immer allesbestimmen, sie wollen uns den Veggie Day aufzwingen,
um aus Nachhaltigkeitsgründen den Fleischkonsum zuverringern. Jetzt wollen die Grünen diesen Ländern auf-zwingen, dass sie sich aus der Atomenergie verabschie-den – wohl wissend, dass sie das in diesem Moment undvon jetzt auf gleich ganz bestimmt nicht können.
Kollegin Motschmann, ich muss Sie jetzt bitten, die-
sen angeregten Dialog zu beenden.
Ihre Bevormundungspolitik lehnen wir ab.
Vielen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege
Hubertus Zdebel das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Ich finde, dass die Rede, die Frau Motschmann geradegehalten hat, eine sehr lustige Rede war; das trifft insbe-sondere auf den Vorwurf zu, dass wir als Oppositionbeim Thema Atomenergie eine Politik der Angst machenwürden. Wer angesichts von Fukushima und Tscherno-byl weiterhin davon redet, dass mit Atompolitik einePolitik der Angst gemacht werde, der hat überhauptnichts verstanden. Das möchte ich hier an dieser Stellenoch einmal deutlich festhalten.
Atomausstieg in Deutschland und weitere Atomför-derung im Ausland passen nicht zusammen; das ist auchunsere Meinung. Vor diesem Hintergrund sagen wir voll-kommen klar, dass die Abkommen zur Förderung vonAtomenergie – dazu gehören auch die bilateralen Atom-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2779
Hubertus Zdebel
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verträge – gekündigt werden müssen, und zwar drin-gend.
Vor diesem Hintergrund ist es vollkommen richtig,jetzt sofort aktiv zu werden. Ich bin der Fraktion derGrünen auch sehr dankbar für die Kleine Anfrage, diesie gestellt hat, und für den sich daraus ergebenden An-trag, das deutsch-indische Atomabkommen jetzt sofortund in nächster Zeit auch das deutsch-brasilianischeAtomabkommen zu beenden. Deswegen sage ich für dieFraktion der Linken ganz klar: Wir werden den Antragder Grünen unterstützen. Wir setzen uns genau für dieseZiele ein, die in dem Antrag formuliert worden sind.
Ich sage an dieser Stelle auch, dass ich sehr gespanntdarauf bin, wie sich die SPD in der namentlichen Ab-stimmung gleich verhalten wird. Auch ich habe nämlichnicht vergessen, dass sich die SPD in der vergangenenLegislaturperiode dafür stark gemacht hat, dass Hermes-bürgschaften bezüglich des Atomkraftwerks in Brasiliennicht weiter erteilt werden, und dass in dieser Angele-genheit auch Druck aufgebaut worden ist, ein Druck, dernicht ganz erfolglos geblieben ist, weil daraufhin näm-lich eine Ausweichfinanzierung angestrebt worden ist.Auch ich bin sehr enttäuscht darüber, wie sich dieSPD jetzt in der Bundesregierung zu diesen ganzen Fra-gen verhält.
Deswegen bin ich sehr gespannt darauf, wie das in dernamentlichen Abstimmung gleich aussehen wird.
Lassen Sie mich an dieser Stelle noch etwas zumdeutsch-brasilianischen Atomabkommen sagen. Ich warsehr beeindruckt von einem Gespräch, das Anfang April2014 bei einem Treffen mit renommierten Vertreterinnenund Vertretern der brasilianischen Zivilgesellschaft aufEinladung von urgewald hier in Berlin stattfand, an demauch meine Kollegin Bulling-Schröter teilgenommenhat. Dabei war auch Chico Whitaker. Er ist Mitbegrün-der des Weltsozialforums und bis heute Mitglied im In-ternationalen Rat des Weltsozialforums. Im Jahre 2006erhielt er unter anderem auch den Alternativen Nobel-preis.Es war eine sehr angeregte Debatte mit den Vertreternvon urgewald aus Brasilien. Chico Whitaker sagte beider Gelegenheit, dass es keinesfalls ein diplomatischerAffront wäre, wenn die deutsche Bundesregierung denbilateralen Atomvertrag zwischen den beiden Ländernzum Ende des Jahres kündigen würde. Er sagte:Im Gegenteil: Das wäre eine wichtige Unterstüt-zung Deutschlands für Brasilien. …
Außerdem wäre es eine sehr wichtige und mehr alsopportune Maßnahme, jetzt, wo wir des 50. Jahres-tages des Militärputsches in Brasilien gedenken,in dieser Angelegenheit aktiv zu werden. Meine Damenund Herren, Sie sollten nämlich nicht vergessen – fürden Fall, dass Sie es vergessen haben oder nicht wussten,sage ich es Ihnen noch einmal –, dass dieser Vertrag da-mals von den brasilianischen Militärs ausgehandelt wor-den ist. In meinen Augen ist es auch vor diesem Hinter-grund – ich zitiere Chico Whitaker – „höchste Zeit, sichvon diesem Relikt einer unheilvollen Kooperation zuverabschieden.“
Außerdem hat Herr Whitaker bei der Gelegenheit desGesprächs sehr deutlich gesagt – das sollten Sie sichauch als Koalition noch einmal hinter die Ohren schrei-ben –:Wer im eigenen Land aus der Atomkraft „aus-steigt“, sollte keine doppelten moralischen Stan-dards anwenden und deswegen auch nicht weiterden Ausbau der Atomkraft im Ausland unterstüt-zen.Dieser Aussage können wir Linke uns nur anschließen.
Ich komme zum Schluss. Die Bundesrepublik istnicht nur durch die Abkommen mit Indien und Brasilienan der Förderung von Atomenergie beteiligt, sondernDeutschland ist nach wie vor auch Unterzeichnerdes Euratom-Vertrages. Wir Linken sagen schon lange:Euratom verfestigt die Förderung der Atomenergie undmuss aufgelöst werden.
Auch ein anderer Aspekt ist mir persönlich sehr wich-tig. Weil ich aus dem Münsterland komme, möchte ichbei dieser Gelegenheit auch noch einmal daran erinnern,dass es nach wie vor die Urananreicherungsanlage inGronau gibt, die von der Firma Urenco betrieben wird.Diese Firma Urenco gibt es nur auf Basis eines trilatera-len Vertrages, der in den 70er-Jahren zwischen Deutsch-land, den Niederlanden und Großbritannien geschlossenworden ist. Diese Firma soll jetzt privatisiert werden.Meiner Meinung nach gehört auch dieser trilaterale Ver-trag von Almelo – so heißt er nämlich – zwischen diesenStaaten, der die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der ge-fährlichen Gaszentrifugentechnik regelt, auf den Prüf-stand. Es ist nämlich nicht mit einem unverzüglichenAtomausstieg vereinbar, dass in Gronau weiterhin Uranangereichert wird. Sie sollten schleunigst aus dieserTechnologie aussteigen.In diesem Sinne: Herzlichen Dank für Ihre Aufmerk-samkeit.
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2780 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
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Die Kollegin Dr. Nina Scheer hat für die SPD-Frak-
tion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenKolleginnen und Kollegen! Es muss klar sein, dass eskeinen Widerspruch zwischen einer nationalen Atom-ausstiegspolitik und dem internationalen Verhalten be-züglich der sogenannten friedlichen Nutzung von Atom-energie geben darf. Das ist grundsätzlich klar; ich denke,auch allen hier im Raum Befindlichen.
Daraus erschließt sich, dass keine in die Zukunft ge-richteten, auf neue Investitionen zielenden Vereinbarun-gen in diesem Bereich geschlossen werden dürfen. InIhrem Antrag wird erwähnt – das ist ein richtiger Kritik-punkt –, dass Indien dem Nuklearen Nichtverbreitungs-vertrag bis heute nicht beigetreten ist. Insofern ist eswichtig und richtig, dass uns dieser Antrag heute vor-liegt.
Was wir aber brauchen – ich finde, dieser Antragmuss dafür die Tür öffnen –, ist eine öffentliche breiteBewusstwerdung über den Zusammenhang zwischen derzivilen und der kriegerischen Nutzung von Atomenergie.Vor ein paar Monaten gab es auf der europäischen EbeneBemühungen, die Möglichkeiten der zivilen Nutzungvon Atomenergie zu erleichtern. Auch europäische Staa-ten, die selber über Atomwaffen verfügen, haben sichdafür starkgemacht. Das waren insbesondere Großbri-tannien und Frankreich. Aber auch Lettland und andereZulieferstaaten waren darunter.Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen derkriegerischen Nutzung und der friedlichen Nutzung vonAtomenergie. Ein Staat, der Atomenergie nicht zu fried-lichen Zwecken nutzt, ist nicht in der Lage, sich einAtomwaffenarsenal aufzubauen. Das muss uns bewusstsein. Insofern ist es wichtig, darauf zu schauen, was die-ser wichtige Vertrag der Nuklearen Nichtverbreitung vonuns verlangt. Er verlangt, dass die Zahl der Atomwaffenreduziert wird, dass diese Waffen abgeschafft werden.Im Gegenzug versprechen Staaten, die über keine Atom-waffen verfügen, dass sie sich solcher nicht bemächtigenwerden. Aber wir sind heute weit von einer atomwaffen-freien Welt entfernt. Insofern ist es wichtig, auf dieseVerknüpfung hinzuweisen.Ich erwähne das an dieser Stelle, weil diese Verknüp-fung natürlich immer, wenn wir über die zivile Nutzungvon Atomenergie sprechen, mitschwingen muss. Inso-fern ist das an dieser Stelle ein wichtiger und in der Zu-kunft ein ganz wesentlicher Faktor. Wir kommen nichtvon der Atomenergie herunter, wenn wir das Problemmit den Atomwaffen nicht lösen können.Die SPD-Fraktion hat 2012 den Antrag eingebracht,dass die Atomverträge zwischen Deutschland und Brasi-lien sowie zwischen Deutschland und Argentinien ineine Kooperation dahin gehend überführt werden sollen,erneuerbare Energien und Energieeffizienz zu fördernund auszubauen. Einen gleichlautenden Antrag hat dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen gestellt.
Es gab allerdings keinen gleichlautenden Antrag zudem Vertrag mit Indien. Auch das ist ein Fakt. Insofernstelle ich an dieser Stelle fest, dass wir es trotz unsererKehrtwende hierzulande, weg von der zivilen Nutzungder Atomenergie, und zwar nicht erst seit dieser Legisla-turperiode, versäumt haben, diese beiden Abkommen,die seit Jahrzehnten laufen – mit Indien seit 1972 undmit Brasilien etwas später –, kritisch zu untersuchenbzw. deutlich zu machen, dass wir daran nicht festhaltenwollen.Wir haben dabei auch versäumt, genauer hinzu-schauen, ob wir aus sicherheitspolitischen Gründen undaufgrund von Passagen in diesen Verträgen möglicher-weise verpflichtet sind, an diesen Verträgen festzuhalten,und ob es möglich ist, diese Verträge entsprechend wei-terzuentwickeln. Auch dazu kam es nicht. Diesesschwere Versäumnis können und sollten wir im Zugeentsprechender Anträge nachholen.Ich denke, ich brauche nicht extra aus der entspre-chenden Antwort der Bundesregierung auf eine Anfragevon Bündnis 90/Die Grünen vom 1. April 2014 zu zitie-ren, die diese sicherheitspolitischen Fragen aufgreift.Der vorliegende Antrag enthält im Wesentlichen zweiForderungen, nämlich zum einen, die Verträge mit Brasi-lien und Indien aufzukündigen, und zum anderen, in eineFörderung einzusteigen. Bezüglich der Förderung kannman feststellen, dass immerhin schon ein Milliardenpro-gramm für Indien aufgelegt worden ist. 1 Milliarde Euroist dafür vorgesehen.Bezüglich der Kündigung ist zu sagen: Es ist eineernstzunehmende Fragestellung,
welche Bestimmungen in den Verträgen uns veranlassenmüssen, aus den Verträgen auszusteigen. Es ist aber einegenauso ernstzunehmende Herausforderung, darauf zuachten, ob es Passagen gibt, an denen wir festhaltenmüssen, und was uns verleiten müsste, solche Verträgeentsprechend weiterzuentwickeln.
Ich habe im Vorfeld dieser Debatte versucht, zu errei-chen, dass wir den Austausch, den wir dringend brau-chen, im parlamentarischen Prozess hinbekommen. Ichhabe die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gebeten, vonder namentlichen Abstimmung heute abzusehen und dieAbstimmung zu vertagen. Wir haben uns unter den Frak-tionen darüber ausgetauscht. Ich hätte es für richtig be-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2781
Dr. Nina Scheer
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funden, solche Fragen in den Ausschüssen zu debattie-ren.
Kollegin Scheer, ich habe gerade die Uhr angehalten
und muss Sie fragen, ob Sie eine Frage oder Bemerkung
der Kollegin Haßelmann zulassen.
Ja.
Bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin, und vielen Dank auch,
Frau Scheer. – Sie haben darauf hingewiesen, dass Sie
uns gebeten haben, diesen Antrag heute zurückzustellen
und ihn in den Fachausschüssen zu beraten. Ich glaube,
es ist sachlich völlig klar, dass wir das aus einem Grund
nicht tun können. Am 15. Mai steht nämlich die Verlän-
gerung des Atomabkommens zwischen Indien und
Deutschland an. Wenn wir heute Ihrem Anliegen stattge-
geben hätten, dann würde als laufendes Geschäft der
Bundesregierung, der Sie als SPD-Fraktion angehören,
der Atomvertrag mit Indien einfach so verlängert wer-
den.
Da wir als Fraktion wollen, dass dieser Atomvertrag
mit Indien nicht verlängert wird, muss heute über unse-
ren Antrag entschieden werden. Es steht doch der Mög-
lichkeit, über Brasilien oder die Hermesbürgschaften
sehr grundsätzlich zu reden, nichts im Wege, wenn wir
heute diesen Antrag in namentlicher Abstimmung be-
schließen. Dazu kann sich dann jede und jeder Abgeord-
nete entsprechend verhalten.
Sie haben als SPD-Fraktion in der letzten Legislatur-
periode auch zwei Anträge dazu eingebracht. Deshalb
verstehe ich nicht, warum Sie unsere Argumente nicht
nachvollziehen können.
Bezüglich Indien – hier wurde das Abkommen mit
Indien mit der Kündigungsfrist zum 15. Mai angespro-
chen – gab es in den letzten Jahren keine Anträge, in
denen die Kündigung gefordert wurde. Das bezog sich
auf Brasilien.
Mir ist nicht entgangen, dass ein Ablauf der Frist be-
vorsteht. Wenn ich Ihnen sage, Sie hätten den Antrag
auch früher stellen können, dann nur auf Ihre Nachfrage
hin. Denn ich weiß selber, dass wir alle uns früher damit
hätten befassen können.
Nichtsdestotrotz enthält der Antrag mehrere Punkte.
Das Abkommen mit Indien ist nur ein Punkt von vielen.
– Wenn es ein sehr wesentlicher wäre, dann frage ich
mich, warum man das nicht etwas sortierter im Vorfeld
behandelt hat. Warum hat man das nicht trennen kön-
nen? Warum musste man das in einem Paket machen?
Das weckt bei mir den Eindruck – diesen Eindruck tei-
len, glaube ich, auch viele in unserer Fraktion –, dass wir
etwas vorgeführt werden sollen mit einem Abstim-
mungsverhalten, was zwar zu Inkongruenzen mit einem
früheren Verhalten führt, aber nur partiell.
Das ist nicht sachgerecht, und ich finde es auch nicht
fair. Ich finde es nicht sachgerecht im Umgang mit die-
sen ernstzunehmenden Fragestellungen.
Ich finde es zwar richtig, dass Sie das thematisieren.
Aber in dieser Form sind wir nicht dazu in der Lage, uns
damit sachgerecht auseinanderzusetzen, und haben keine
Möglichkeit, uns darüber parlamentarisch auszutau-
schen.
Insofern halte ich meine Kritik aufrecht.
Ich möchte hinzufügen, dass ich einen Blick in die
Verträge geworfen habe. Tatsächlich verlängert sich der
betreffende Vertrag mit Indien automatisch, wenn wir
nicht bis zum 15. Mai gekündigt haben. Aber es gibt je-
derzeit eine Kündigungsmöglichkeit mit einer Frist von
zwölf Monaten. Angesichts der Tatsache, dass der Ver-
trag mit Indien aus dem Jahr 1972 stammt, dass wir Zeit
benötigen, um uns mit den infrage stehenden Punkten
auseinanderzusetzen, und in Anbetracht des Umfangs
der Thematik sind zwölf Monate kein Zeitraum, der
nicht zu verkraften wäre. Wenn ich Ihren Antrag lese,
dann komme ich zu dem Schluss, dass es überwiegend
Ihre Absicht ist, dass wir nicht in der Lage sein sollen,
uns damit sachgerecht auseinanderzusetzen und darüber
zu debattieren. Das finde ich schade. Warum geben Sie
uns mit Ihrem Antrag nicht die Möglichkeit eines parla-
mentarischen Prozesses?
Das wäre des Parlaments würdig. Ich finde es nicht kor-
rekt, dass uns hier keine entsprechende Möglichkeit ge-
geben wurde.
Sie haben nicht zugestimmt, dass das an den Ausschuss
verwiesen und dann dort beraten wird. Wir hatten da-
rüber gesprochen, das mit öffentlichen Anhörungen zu
begleiten. Aber auch dem wurde nicht entsprochen.
Kollegin Scheer, ich habe die Uhr schon wieder ange-halten, da es noch einen Frage- bzw. Bemerkungs-wunsch gibt. Aber bevor wir darüber verhandeln, ob Sieden zulassen, bitte ich erst einmal alle Kolleginnen undKollegen, die erfreulicherweise schon im Plenum des
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2782 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Vizepräsidentin Petra Pau
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Bundestages erschienen sind – wahrscheinlich in froherErwartung der demnächst folgenden namentlichen Ab-stimmung –, sich einen Sitzplatz zu suchen und dieMöglichkeit zu geben, dass wir den Ausführungen derKollegin Scheer und derjenigen, mit denen sie jetzt ge-gebenenfalls in einen direkten Austausch tritt, folgen.Ich bin fest davon überzeugt, dass für jeden gewähltenParlamentarier und jede gewählte Parlamentarierin des18. Deutschen Bundestages ein Sitzplatz existiert. Dasgilt im Übrigen auch für die Mitglieder der Bundesregie-rung.Frau Scheer, gestatten Sie eine Zwischenfrage derKollegin Kotting-Uhl?
Ich bin zwar schon fast fertig, aber gut.
Dann hat die Kollegin Kotting-Uhl das Wort.
Frau Scheer, ich möchte Ihnen zuerst einmal danken
für Ihren wirklich differenzierten Umgang mit unserem
Antrag. Das ist sehr wohltuend; denn es gab heute ja
auch schon andere Beiträge.
Ich will Ihnen erklären, warum wir diesen Antrag
jetzt eingebracht haben. Ich habe das bereits in meiner
Rede angerissen, will es aber noch einmal betonen. Wir
haben am 28. März die Antwort auf unsere Kleine An-
frage bekommen und dann realisiert, dass sich das in-
frage stehende Abkommen verlängert, wenn wir nicht
bis zum 15. Mai – in einer Woche – reagieren. Wir haben
daraufhin sofort einen Brief an die Bundesumweltminis-
terin geschrieben mit der Bitte, dieses Abkommen nun
zu kündigen. Ich habe mir, ehrlich gesagt, reichlich
Hoffnung gemacht – die drei für dieses Abkommen zu-
ständigen Ministerien, Wirtschaftsministerium, Umwelt-
ministerium und Auswärtiges Amt, sind in SPD-Hand,
und wir waren uns in der letzten Legislaturperiode mit
der SPD einig darüber, dass die Fortführung solcher Ab-
kommen mit unserem deutschen Atomausstieg im
Grundsatz nicht kongruent ist –, dass es keine großen
Probleme gibt und dass das in die Hand genommen wird.
Erst als keine Reaktion von Frau Hendricks kam, haben
wir diesen Antrag geschrieben. Deswegen ist die Frist
nun so kurz.
Abgesehen davon möchte ich fragen: Was hindert Sie,
wenn Sie und andere Mitglieder der SPD im Kern mit
uns übereinstimmen, daran, Ihrerseits Frau Hendricks,
Herrn Gabriel und Herrn Steinmeier noch einmal zu bit-
ten, die Frist innerhalb von einer Woche wahrzunehmen
und ein deutliches Zeichen zu setzen?
Ich stimme darin überein – ich denke, das teilen vielemeiner Fraktionskollegen –, dass das eine bedeutsameFrage ist und dass es nicht hinnehmbar ist, dass Teile desAbkommens darauf zielen, an einer friedlichen Koope-ration zur zivilen Nutzung der Kernenergie festzuhalten,als ob es keinen deutschen Atomausstieg gäbe.
Das kann so nicht weiterlaufen. Es gibt aber auch Stim-men, die sagen: Das ist nicht das Maßgebliche des Ab-kommens. Maßgeblich ist, dass wir Teile des Abkom-mens brauchen, um gewisse Sicherheitsanforderungenaufrechtzuerhalten. – Eigentlich sind das Äußerungen,die vor den Doppelpunkt gezogen sind. Wir müssten unsjetzt damit befassen. Aber genau eine solche Befassungkann nicht stattfinden, weil wir heute darüber abstim-men.Wir würden diese Frist, die jetzt ansteht, tatsächlichverpassen. Das denke auch ich. Aber eine sachgerechteAuseinandersetzung erfordert das auch. Wir alle hättenuns früher damit befassen müssen; ich möchte dieSchuld gar nicht bei Ihnen suchen. Da wir das nicht ge-tan haben, sind wir hier und heute an dem Punkt, dassdie Befassung ausgeblieben ist. Uns bleibt nichts ande-res übrig, als heute zu entscheiden, dass wir uns erstnoch damit befassen müssen. Wir können nicht vonheute auf morgen für alle über 600 Abgeordneten spre-chen. Das ist nicht möglich in dieser Zeit.
Insofern kann es an dieser Stelle nur dabei bleiben,dass dieser Antrag in die parlamentarische Beratunghätte gehen müssen. Davon kann ich nach meiner festenÜberzeugung mit Blick auf die vorliegenden Fragestel-lungen nicht abrücken. Insofern bitte ich um Ihr Ver-ständnis, dass ich dem nicht folgen kann.
Eine kurze Bemerkung zu den Äußerungen meinerKoalitionskollegin Frau Motschmann wollte ich nochloswerden. Frau Motschmann, ich sehe es nicht so, dassdie Bemühungen, die Energiewende auch weltweit zu ei-nem Erfolg zu führen, sei es durch Förderprogramme,die wir auflegen, sei es durch Kooperationen, die wirfrüher übrigens auch bei der Atomenergie durchaus ein-gegangen sind, etwas mit Bevormundung zu tun hätten.Ich finde es grundlegend falsch, zu behaupten, dass dieBestrebungen nach einer umweltfreundlichen, klimaneu-tralen und von fossilen Ressourcen unabhängigen Ener-gieversorgung, die wir weltweit in Gang bringen wollen,und zwar aus der Überzeugung heraus, dass das weltweitein Erfordernis ist, etwas mit Bevormundung zu tun ha-ben. Das ist keine Position, der wir zustimmen könnten,und deshalb weise ich das zurück.
Abschließend möchte ich mit Blick auf meine vorigenAusführungen und meine Einschätzung, dass wir dieparlamentarischen Beratungen über die vorliegendenAbkommen dringend bräuchten, nur bitten, zur Kenntniszu nehmen, dass ein eventuell ablehnendes Abstim-mungsverhalten der Mitglieder meiner Fraktion nicht re-präsentativ ist und keinen Aufschluss über die Positio-nierung meiner Fraktion in der Sache geben kann. Dasist jetzt meine Einschätzung. Das heißt nicht, dass wiruns enthalten könnten. Auch Sie wissen, was im Koali-tionsvertrag steht. Ich kann nicht für alle Fraktionskolle-gen sprechen im Hinblick darauf, wie sie mit dieser
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2783
Dr. Nina Scheer
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Frage umgehen. Ich werde den Antrag ablehnen, nichtweil ich viele Teile daraus nicht mittragen könnte, son-dern weil ich es nicht richtig finde, wie an dieser Stellemit den betreffenden Fragestellungen umgegangen wird.Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte ernsthaft,
in allen Fraktionen jetzt dafür zu sorgen, dass wir die
Beratung bis zur namentlichen Abstimmung in geordne-
ter Weise hier fortsetzen können. Ich bin fest davon
überzeugt, dass der Kollege Lengsfeld sehr stolz darauf
ist, dass er fast vor dem gesamten Hause seine erste
Rede halten kann. Aber ich finde, dazu gehört auch, dass
sich sowohl seine Fraktionskollegen als auch die Kolle-
gen der anderen Fraktionen in die Reihen ihrer Fraktio-
nen begeben und die notwendige Aufmerksamkeit her-
stellen. Ich werde die Debatte vorher nicht fortsetzen.
Es ist nicht so, dass wir keine Zeit haben. – Ich ver-
kneife mir jetzt auch alle Bemerkungen über die Vorsit-
zenden der betroffenen Fraktionen.
Ich würde gerne Ihrem Kollegen Lengsfeld das Wort
zur ersten Rede geben, Kollege Kauder.
Dazu versuche ich, die Aufmerksamkeit des gesamten
Hauses auf ihn zu lenken.
Das gilt natürlich auch für alle anderen, die noch kei-
nen Platz gefunden haben.
– Ich hatte eigentlich Hilfe erhofft. Wenn schon meine
Autorität nichts gilt, wird doch wohl die Autorität des
Kollegen Kauder in der Union noch etwas gelten.
Ich gestehe Ihnen, es betrübt mich, dass auch meine
Fraktion meine Mahnung nicht wahrnimmt.
Ich habe mein Möglichstes getan, Kollege Lengsfeld. –
Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege
Dr. Philipp Lengsfeld.
Frau Präsidentin, vielen Dank für die nette Einleitung.Vielen Dank auch für die Unterstützung. – Frau Präsi-dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen,liebe Frau Kotting-Uhl, über den von Ihnen vorgelegtenAntrag kann man sicherlich sagen, dass er konsequentwirkt. Da Deutschland aus der Atomenergie aussteigt,sollen wir auch mit keinem anderen Land auf der Weltim Bereich sichere zivile Nutzung der Atomenergie zu-sammenarbeiten.
In Ihrem konkreten Antrag geht es um Indien undBrasilien – das alles ist dargestellt worden – aufgrundder zur Verlängerung anstehenden Verträge mit diesenLändern. Ja, dies sieht konsequent aus. Aber schauen wireinmal genauer hin. Deutschland besitzt auf dem Feldder Atomenergie nun einmal eine außerordentliche Ex-pertise; das ist so. Es muss doch in unserem Interessesein, dass die brasilianischen und indischen Atomkraft-werke sicher sind.
Deutschland hat übrigens auch einen exzellenten Rufals internationaler Kooperationspartner. Wenn wir alsohelfen können, warum sollen wir dann anderen das Feldüberlassen? Reden wir also über Konsequenz, oder re-den wir eigentlich über Dogmatismus?
Sie fordern, dass wir bilaterale Kooperationen mit In-dien und Brasilien zur Nutzung atomarer Technologieneinseitig aufkündigen. Ein einseitiger, aus meiner Sichtsachlich nicht zu vertretender Ausstieg erzeugt aber ei-nen doppelten Schaden. Den größeren Schaden nimmt– das ist heute hier noch nicht gesagt worden – Deutsch-land, nehmen wir. Auf einen Schlag zerstören wir aufsei-ten unserer Partner zwei Dinge, die für eine erfolgreicheKooperation unerlässlich sind, und zwar zwei Dinge, fürdie Deutschland immer stand und steht: erstens, dass wirein verlässlicher Partner sind, und zweitens, dass wir einPartner sind, der weiß, was er tut. Dass wir das zerstören,kann man einfach nicht wollen.Aber auch für die Kooperationspartner in Indien undBrasilien ist es verheerend, wenn laufende Kooperatio-nen einfach so holterdiepolter gekündigt werden. Dennsie müssen die Arbeit neu beginnen, sie müssen sichneue Partner suchen – ich denke, das ist Ihnen klar –,und diese neuen Partner bekommen aufgrund des unseri-ösen Verhaltens Deutschlands einen unzulässigen Wett-bewerbsvorteil.Werden wir einmal ganz konkret. Wer wäre denn derGewinner einer solchen Politik? Vielleicht die russischeAtombehörde Rosatom? Deren Vertreter sammeln ge-rade Expertise im Aufbau von AKWs in Weißrusslandund Nigeria. Wollen Sie wirklich, dass sie die Gewinnervon dieser Art von Politik sind? Das kann doch wirklichnicht in unserem Interesse sein.
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2784 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Dr. Philipp Lengsfeld
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Wir verärgern damit nicht irgendwelche kleinen Län-der, was – ich will da nicht missverstanden werden –auch schlimm wäre. Vielmehr verärgern wir zwei Länderder BRIC-Staaten, also aufstrebende, wirtschaftlich sehrbedeutende Länder. Mit Indien und Brasilien verärgernwir nun auch noch gerade genau die BRIC-Staaten, dieDemokratien sind, und zwar Demokratien fast genau wiedie unsrige. Das ist der Kollateralschaden von Ihrer Artvon Politik.Aber der Irrsinn geht noch weiter; Sie haben es selberdargestellt. Deutschland hat ja nicht nur mit Indien undBrasilien Kooperationsverträge zur zivilen Nutzung derKernenergie. Sie wollen erst, dass wir die Verträge mitIndien und Brasilien kündigen, und dann geht es in gna-denloser Konsequenz mit unseren europäischen Partnernweiter. Da nenne ich einmal Tschechien, die Slowakei,Finnland, Schweden, Spanien, Ungarn, Bulgarien, Ru-mänien, und das ist nicht einmal die gesamte Liste. Danngeht es natürlich weiter – Konsequenz muss sein! – mitden Verträgen mit der Republik Korea,
mit China, mit Argentinien, mit den Vereinigten Staatenvon Amerika. Ist das wirklich das, was wir verantwortenkönnen? Ich glaube, nicht.Die Atomkraft werden Sie damit global nicht eindäm-men – das sage ich Ihnen –, auf keinen Fall. Was Ihnenaber mit Sicherheit gelingen wird, ist, Deutschlands ex-zellenten Ruf als verlässlicher internationaler Koopera-tionspartner weltweit gründlich zu beschädigen. Daskann nicht in unserem Interesse sein.
Ja, es ist richtig – das zweifelt auch keiner in diesemHause an –, dass nach dem Unfall in Fukushima einLand kollektiv einen längst beschlossenen Atomausstiegplötzlich noch einmal beschleunigt hat, und zwar unserLand, Deutschland; keine Frage. Aber Sie wissen doch,dass wir das einzige Land auf dieser Welt sind, das die-sen Weg in dieser Weise geht.Nehmen Sie doch bitte einmal zur Kenntnis, dass dieAtomkraft für den Energiemix vieler Länder essenziellist, nicht nur für Indien und Brasilien. Das hat übrigensauch mit CO2-Zielen zu tun. Die sollten wir nicht verges-sen; das ist hier auch erwähnt worden. Es ist Deutsch-land, das von allen Ländern dieser Welt immer ambitio-niertere CO2-Reduktionsziele verlangt.Ich weiß, Sie sagen, dass die Anstrengungen derAtomkooperation auf den Bereich der erneuerbarenEnergien übertragen werden sollen. Gegen erneuerbareEnergien in Brasilien oder Indien ist absolut nichts ein-zuwenden; im Gegenteil: Die lokale Energieversorgungkann dort sicherlich sinnvoll mit einem signifikantenBeitrag erneuerbarer Energien ergänzt werden. Aberdiese Projekte laufen längst. Deutschland hat zum Bei-spiel mit Brasilien seit 2008 ein Regierungsabkommenüber die Zusammenarbeit im Energiesektor mit Schwer-punkt auf erneuerbarer Energie und Energieeffizienz.Diese Sachen gibt es längst.Erneuerbare Energien und Energieeffizienz sindwichtig und sollten sich da durchsetzen, wo es sinnvollist, aber aus meiner Sicht mit marktwirtschaftlichen Inst-rumenten. Was wir ganz sicher nicht nach Indien oderBrasilien exportieren sollten, sind deutsche Denkverboteoder eine Energieplanwirtschaft à la EEG; das ist jeden-falls meine persönliche Meinung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland mussein zuverlässiger internationaler Partner bleiben, nichtnur im Energiesektor, selbstverständlich auch für Indienund Brasilien – zum beiderseitigen Vorteil. Das istkonsequente, richtige Politik. Was wir dagegen nichtbrauchen, sind – ich sage das harte Wort noch einmal –grüner Dogmatismus und grüne Denk- und Koopera-tionsverbote.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Kollege Lengsfeld, herzlichen Glückwunsch zur ers-ten Rede im Deutschen Bundestag.
Ich verbinde das mit dem Glückwunsch dazu, dass Sieauch die Redezeit eingehalten haben. Das gelingt denwenigsten bei ihrem ersten Auftritt in diesem Hause.Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1336
mit dem Titel „Kündigung bilateraler Kooperatio-
nen im Bereich der Nutzung atomarer Technologien“.Dazu liegt mit eine Erklärung nach § 31 unserer Ge-schäftsordnung des Kollegen Bülow vor. Entsprechendunseren Regeln nehmen wir sie zu Protokoll.1)Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen verlangt na-mentliche Abstimmung.Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass wirheute noch zwei weitere namentliche Abstimmungendurchführen werden. Die zweite namentliche Abstim-mung werden wir zum nachfolgenden Tagesordnungs-punkt 9 – also in circa 45 Minuten – durchführen. Diedritte namentliche Abstimmung ist zu Tagesordnungs-punkt 11 – „Mehr Transparenz bei Rüstungsexportent-scheidungen sicherstellen“ – vorgesehen. Der Tagesord-nungspunkt 11 soll abweichend von der geplantenReihenfolge vorgezogen und mit Zusatzpunkt 8 ge-tauscht werden. Die dritte namentliche Abstimmung fin-det in gut zwei Stunden statt.Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, dievorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Schriftfüh-rerinnen und Schriftführer an ihrem Platz? – Vornerechts fehlt noch ein Schriftführer. Ich kann nicht erken-nen, ob von der Opposition oder von der Koalition. – Ichfrage noch einmal: Sind alle Schriftführerinnen und1) Anlage 3
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2785
Vizepräsidentin Petra Pau
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Schriftführer an ihrem Platz? – Das scheint der Fall zusein. Ich eröffne die Abstimmung über den Antrag.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? – Wenn das nicht der Fall
ist, dann schließe ich die Abstimmung und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird
Ihnen später bekannt gegeben.1) Schönen Nachmittag!
Ansonsten würde ich Sie aus Respekt vor den Kolle-
ginnen und Kollegen, die jetzt gleich ihre Rede zu einem
sehr wichtigen Thema halten wollen, bitten, die Gesprä-
che außerhalb zu führen, damit wir in der Tagesordnung
fortfahren können. Das gilt auch für den ehemaligen
Schriftführer vorne links, die Kolleginnen und Kollegen
hinten sowie Herrn Kauder und andere.
– Ja, Herr Kauder.
– Sie sind theoretisch der bravste Mensch. Vielleicht
sollte ich eine namentliche Abstimmung darüber abhal-
ten.
Wir wollen jetzt fortfahren in unserer Tagesordnung.
Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 9:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmer-
Entsendegesetzes
Drucksachen 18/910, 18/1283
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Arbeit und Soziales
Drucksache 18/1359
Ich möchte darauf hinweisen, dass zur Annahme des
Gesetzentwurfs, über den wir später namentlich abstim-
men werden, nach Artikel 87 Absatz 3 des Grundgeset-
zes die absolute Mehrheit erforderlich ist. Das sind
316 Stimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinba-
rung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. –
Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so
beschlossen.
Ich gebe das Wort Bernd Rützel für die SPD.
Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehrgeehrte Damen! Sehr geehrte Herren! Liebe Kolleginnen1) Ergebnis Seite 2786 Dund Kollegen! Wir beschließen heute die Aufnahme derBranche „Schlachten und Fleischverarbeitung“ in denKatalog des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes. DieserEntscheidung ging viel voraus. Unerträgliche Zuständemachten unser Eingreifen – denn das ist es – bitter not-wendig.
Viele Arbeitgeber in der Fleischbranche haben ihreinst ehrbares Handwerk durch sittenwidrige Behand-lung der Arbeitskräfte in Verruf gebracht. Für überlangeArbeitstage von 12, manchmal 15 Stunden am Tag erhal-ten die häufig ausländischen Arbeitnehmer Armuts-löhne, die kaum zum Leben ausreichen, selbst in Mas-senunterkünften oder Mehrbettzimmern nicht. DieArbeitgeber haben jahrelang skrupellos daran gefeilt, ih-ren Gewinn auf Kosten der Mitarbeiter immer weiter zusteigern. In diesem Fall kann man sagen: Nicht der Fischstinkt vom Kopfe her, sondern das geschlachtete Tier.Umso erfreuter bin ich heute, dass die Fleischbranchenun die Skandale hinter sich lassen will. Mit der Einwil-ligung in den Mindestlohntarifvertrag zeigen die Arbeit-geber ein Einsehen in die Notwendigkeit einer Kursän-derung.
Sicherlich half dabei neben dem Druck aus der Politikund der Öffentlichkeit auch der von uns angekündigtegesetzliche Mindestlohn. Immerhin gründete diese Bran-che dafür erstmals und endlich einen Arbeitgeberver-band, der – das sage ich dazu – perspektivisch sicherlichnoch mehr leisten kann und auch mehr leisten muss.Mit dem Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie möch-ten wir das Arbeitnehmer-Entsendegesetz zukünftig füralle Branchen öffnen.
Die problembeladenen Zustände in der Fleischbran-che machen es aber notwendig, hier sofort zu reagieren.Angesichts des dringenden Handlungsbedarfs ist es des-halb der richtige Weg, die Branche „Schlachten undFleischverarbeitung“ nun unverzüglich in den Katalogdes Arbeitnehmer-Entsendegesetzes aufzunehmen. Mitdieser Aufnahme ist dann der Weg frei für den Erlass ei-ner Mindestlohnverordnung. Damit gilt der Mindest-lohntarifvertrag für die gesamte Fleischbranche – auchfür nichttarifgebundene Betriebe – und für die zahlrei-chen, meist osteuropäischen Werkvertragsnehmer, dienoch für Niedriglöhne arbeiten. Als letzter Punkt ist mirbesonders wichtig, dass auch die Werkverträge an dieKette genommen werden.
Der nun auf der Grundlage des Arbeitnehmer-Entsen-degesetzes bestehende Mindestlohntarifvertrag hat damitinternational zwingende Wirkung und gilt für alle in-und ausländischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Aufdiese Weise wird es keine Schlupflöcher mehr geben.
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Bernd Rützel
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Ab dem 1. Juli dieses Jahres erhalten die Arbeitneh-mer in der Fleischbranche mindestens 7,75 Euro proStunde. Das ist für viele eine sehr deutliche Lohnerhö-hung. Ich gebe zu, man könnte kritisieren, dass wir inden ersten neun Monaten des Jahres 2015 unter dem ge-setzlichen Mindestlohn bleiben. Aber ab dem 1. Oktober2015 wird in dieser Branche mit einem Stundenlohn von8,60 Euro der Mindestlohn schon überschritten.
Im Jahre 2016 landen wir dann bei 8,75 Euro. Davonwerden viele Tausend Menschen profitieren.
Ganz besonders wichtig ist uns eine sorgfältige Kon-trolle.
Denn wenn die Einhaltung nicht überprüft wird, dann istdas beste Gesetz nichts wert. Die Zuständigkeit für dieÜberwachung der Mindestlohnanforderungen im Be-reich des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes liegt bei denZollbehörden. Natürlich werden diese zusätzlichenÜberprüfungen in der Fleischbranche zu einem höherenPersonal- und Sachaufwand führen.
Wir gehen im Gesetzentwurf von einem zusätzlichenBedarf von 42 Arbeitskräften aus. Dies wird in den kom-menden Haushaltsverhandlungen auch berücksichtigtwerden müssen.
Wir sind sehr optimistisch, dass uns auch dies gelingenwird. Stellen die Zollbehörden bei ihren Kontrollen Ver-stöße gegen die Mindestlohnbestimmungen fest, danndrohen Bußgelder von bis zu 500 000 Euro.Ich will in diesem Zusammenhang noch einen ele-mentaren Punkt ansprechen. Der Generalunternehmerhaftet – auch ohne eigenes Verschulden –, wenn ein Sub-unternehmer oder Subsubunternehmer seinen Arbeitneh-mern nicht den Branchenmindestlohn zahlt. Daher ist esfür die Unternehmer wichtig, sich ihre Subunternehmersorgfältig auszusuchen; denn sie können sich nicht ausihrer Verantwortung stehlen. Das schafft Sicherheit fürdie Beschäftigten.Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, das Lohndumpingin der deutschen Fleischbranche hat zu großer Empörungin unseren Nachbarstaaten geführt. Die Aufnahme in dasArbeitnehmer-Entsendegesetz ist auch ein Beitrag zu ei-nem fairen und funktionsfähigen Wettbewerb innerhalbEuropas. So erreichen wir Arbeitnehmerfreizügigkeit inEuropa zu fairen Bedingungen.Ich bin zuversichtlich, dass wir mit der Aufnahme indas Arbeitnehmer-Entsendegesetz heute eine einigerma-ßen faire Entlohnung für alle Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer in der Fleischbranche erwirken können.Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege.Ich darf Ihnen das von den Schriftführerinnen undSchriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichenAbstimmung über den Antrag „Kündigung bilateralerKooperationen im Bereich der Nutzung atomarer Tech-nologien“ bekannt geben: abgegebene Stimmen 577. MitJa haben gestimmt 110 Kolleginnen und Kollegen, mitNein haben gestimmt 465, Enthaltungen 2. Der Antragist damit abgelehnt.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 577;davonja: 110nein: 465enthalten: 2JaSPDMarco BülowHelga Kühn-MengelDIE LINKEJan van AkenHerbert BehrensMatthias W. BirkwaldEva Bulling-SchröterRoland ClausSevim DağdelenDr. Diether DehmKlaus ErnstDiana GolzeAnnette GrothDr. Gregor GysiDr. André HahnHeike HänselDr. Rosemarie HeinInge HögerAndrej HunkoSigrid HupachUlla JelpkeSusanna KarawanskijKerstin KassnerJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertSabine LeidigRalph LenkertStefan LiebichDr. Gesine LötzschThomas LutzeNiema MovassatDr. Alexander S. NeuPetra PauHarald Petzold
Richard PitterleMartina RennerMichael SchlechtDr. Petra SitteKersten SteinkeDr. Kirsten TackmannAzize TankFrank TempelAlexander UlrichKathrin VoglerHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerBirgit WöllertJörn WunderlichHubertus ZdebelPia ZimmermannBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENLuise AmtsbergKerstin AndreaeAnnalena BaerbockMarieluise Beck
Volker Beck
Dr. Franziska BrantnerAgnieszka Brugger
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Vizepräsidentin Claudia Roth
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Ekin DeligözKatja DörnerKatharina DrögeHarald EbnerDr. Thomas GambkeMatthias GastelKai GehringAnja HajdukBritta HaßelmannBärbel HöhnDieter JanecekUwe KekeritzKatja KeulSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerStephan Kühn
Christian Kühn
Markus KurthMonika LazarSteffi LemkeDr. Tobias LindnerNicole MaischPeter MeiwaldIrene MihalicBeate Müller-GemmekeÖzcan MutluDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffCem ÖzdemirLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Corinna RüfferManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergUlle SchauwsDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtKordula Schulz-AscheDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeMarkus TresselDr. Julia VerlindenDoris WagnerBeate Walter-RosenheimerDr. Valerie WilmsNeinCDU/CSUStephan AlbaniKatrin AlbsteigerArtur AuernhammerDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleJulia BartzGünter BaumannMaik BeermannManfred Behrens
Veronika BellmannSybille BenningDr. André BergheggerDr. Christoph BergnerUte BertramSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexandra Dinges-DierigAlexander DobrindtMichael DonthThomas DörflingerMarie-Luise DöttHansjörg DurzJutta EckenbachDr. Bernd FabritiusHermann FärberUwe FeilerDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid Fischbach
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachThorsten FreiDr. Astrid FreudensteinDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Thomas GebhartAlois GerigEberhard GiengerCemile GiousoufJosef GöppelReinhard GrindelUrsula Groden-KranichHermann GröheKlaus-Dieter GröhlerMichael Grosse-BrömerAstrid GrotelüschenMarkus GrübelManfred GrundOliver GrundmannMonika GrüttersDr. Herlind GundelachFritz GüntzlerOlav GuttingChristian HaaseFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtMatthias HauerMark HauptmannDr. Stefan HeckDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilFrank Heinrich
Mark HelfrichUda HellerJörg HellmuthRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingPeter HintzeChristian HirteDr. Heribert HirteRobert HochbaumAlexander HoffmannKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampDr. Hendrik HoppenstedtMargaret HorbBettina HornhuesCharles M. HuberAnette HübingerHubert HüppeErich IrlstorferThomas JarzombekSylvia JörrißenAndreas JungDr. Franz Josef JungXaver JungDr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KanitzAlois KarlAnja KarliczekBernhard KasterVolker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterDr. Georg KippelsVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenMarkus KoobCarsten KörberKordula KovacMichael KretschmerGunther KrichbaumRüdiger KruseBettina KudlaDr. Roy KühneGünter LachUwe LagoskyDr. Karl A. LamersAndreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeBarbara LanzingerDr. Silke LaunertPaul LehriederDr. Katja LeikertDr. Philipp LengsfeldDr. Andreas LenzPhilipp Graf LerchenfeldDr. Ursula von der LeyenAntje LeziusIngbert LiebingMatthias LietzAndrea LindholzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsWilfried LorenzDr. Claudia Lücking-MichelDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigKarin MaagYvonne MagwasThomas MahlbergDr. Thomas de MaizièreGisela ManderlaMatern von MarschallHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Dr. Michael MeisterJan MetzlerMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtKarsten MöringMarlene MortlerElisabeth MotschmannCarsten Müller
Stefan Müller
Dr. Philipp MurmannDr. Andreas NickMichaela NollHelmut NowakDr. Georg NüßleinWilfried OellersFlorian OßnerDr. Tim OstermannHenning OtteIngrid PahlmannSylvia PantelMartin PatzeltDr. Martin PätzoldUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferRonald PofallaEckhard PolsThomas RachelKerstin RadomskiAlexander RadwanAlois RainerDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche
Lothar RiebsamenJosef RiefDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenErwin RüddelAlbert RupprechtAnita Schäfer
Dr. Wolfgang Schäuble
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2788 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Vizepräsidentin Claudia Roth
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Andreas ScheuerKarl SchiewerlingJana SchimkeNorbert SchindlerTankred SchipanskiHeiko SchmelzleChristian Schmidt
Gabriele Schmidt
Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön
Dr. Ole SchröderDr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-DrüggelteDr. Klaus-Peter SchulzeUwe Schummer
Christina SchwarzerDetlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerTino SorgeJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelDr. Wolfgang StefingerAlbert StegemannPeter SteinErika SteinbachSebastian SteinekeJohannes SteinigerChristian Freiherr von StettenDieter StierRita StockhofeGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerMatthäus StreblKarin StrenzThomas StritzlThomas Strobl
Michael StübgenDr. Sabine Sütterlin-WaackDr. Peter TauberAntje TillmannAstrid Timmermann-FechterDr. Hans-Peter UhlDr. Volker UllrichArnold VaatzOswin VeithThomas ViesehonMichael VietzVolkmar Vogel
Sven VolmeringChristel Voßbeck-KayserKees de VriesDr. Johann WadephulMarco WanderwitzKai WegnerAlbert WeilerMarcus Weinberg
Dr. Anja WeisgerberPeter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannMarian WendtKai WhittakerPeter WichtelAnnette Widmann-MauzHeinz Wiese
Klaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerOliver WittkeDagmar G. WöhrlBarbara WoltmannTobias ZechHeinrich ZertikEmmi ZeulnerDr. Matthias ZimmerGudrun ZollnerSPDNiels AnnenIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeike BaehrensUlrike BahrDr. Katarina BarleyDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelDr. Matthias BartkeSören BartolBärbel BasDirk BeckerUwe BeckmeyerLothar Binding
Burkhard BlienertWilli BraseDr. Karl-Heinz BrunnerEdelgard BulmahnMartin BurkertDr. Lars CastellucciPetra CroneBernhard DaldrupDr. Daniela De RidderDr. Karamba DiabyMartin DörmannElvira Drobinski-WeißSiegmund EhrmannMichaela Engelmeier-HeiteDr. h. c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerSaskia EskenKarin Evers-MeyerDr. Johannes FechnerDr. Fritz FelgentreuElke FernerDr. Ute Finckh-KrämerChristian FlisekGabriele FograscherDr. Edgar FrankeUlrich FreeseDagmar FreitagMichael GerdesMartin GersterIris GleickeUlrike GottschalckKerstin GrieseGabriele GronebergUli GrötschWolfgang GunkelBettina HagedornRita Hagl-KehlMetin HakverdiUlrich HampelSebastian HartmannMichael Hartmann
Dirk HeidenblutHubertus Heil
Gabriela HeinrichWolfgang HellmichHeidtrud HennGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Thomas HitschlerDr. Eva HöglMatthias IlgenChristina JantzJosip JuratovicThomas JurkOliver KaczmarekJohannes KahrsChristina KampmannRalf KapschackGabriele KatzmarekUlrich KelberMarina KermerCansel KiziltepeArno KlareLars KlingbeilDaniela KolbeBirgit KömpelAnette KrammeDr. Hans-Ulrich KrügerChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerKirsten LühmannDr. Birgit Malecha-NissenCaren MarksKatja MastHilde MattheisDr. Matthias MierschSusanne MittagBettina MüllerMichelle MünteferingAndrea NahlesUlli NissenMahmut Özdemir
Markus PaschkeChristian PetryJeannine PflugradtDetlev PilgerSabine PoschmannFlorian PostDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeDr. Simone RaatzMartin RabanusMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannAndreas RimkusSönke RixDennis RohdeRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Susann RüthrichBernd RützelJohann SaathoffAnnette SawadeDr. Nina ScheerMarianne SchiederUdo SchiefnerDr. Dorothee SchlegelUlla Schmidt
Matthias Schmidt
Dagmar Schmidt
Carsten Schneider
Ursula SchulteSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeStefan SchwartzeAndreas SchwarzRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingRainer SpieringNorbert SpinrathSvenja StadlerMartina Stamm-FibichSonja SteffenKerstin TackClaudia TausendMichael ThewsFranz ThönnesWolfgang TiefenseeCarsten TrägerRüdiger VeitUte VogtDirk VöpelGabi WeberBernd WestphalAndrea WickleinDirk WieseWaltraud Wolff
Gülistan YükselDagmar ZieglerStefan ZierkeDr. Jens ZimmermannManfred ZöllmerBrigitte ZypriesEnthaltenSPDDr. Bärbel KoflerDr. Hans-JoachimSchabedoth
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2789
Vizepräsidentin Claudia Roth
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Nächste Rednerin ist jetzt Jutta Krellmann für dieLinken.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Noch nie wurde so viel über die Fleisch-
industrie geredet wie in den letzten Monaten und Jahren.
Beispielsweise stand im April ein Artikel in der Frank-
furter Rundschau mit der bezeichnenden Überschrift
„Im Schweinesystem“. Es ging dabei vor allem um
Arbeitskräfte aus Osteuropa, Bulgarien und Rumänien,
die in deutschen Schlachthöfen arbeiten. 60 Stunden
schwere Arbeit pro Woche waren keine Seltenheit, und
das für einen Hungerlohn von 4,76 Euro pro Stunde.
Davon gehen bis zu 300 Euro für ein Bett in einer über-
füllten Bruchbude weg. Oft müssen noch Zwangsabga-
ben für den Transport zur Arbeit, das Werkzeug und die
Arbeitskleidung gezahlt werden. Das sind nahezu ma-
fiöse Strukturen – und das mitten in Deutschland. Urlaub
gibt es nicht. Dafür gibt es bei Krankheit die Kündigung.
Das ist pure Ausbeutung. Diese Zustände sind ein Skan-
dal.
Sie erinnern an die schlimmen Arbeitsbedingungen in
der Fleischindustrie in Chicago im Jahre 1900, wie sie
Upton Sinclair in seinem Roman Der Dschungel
beschrieben hat. Damals ging es um Einwanderer aus
Litauen. Heute geht es um Menschen aus Osteuropa, die
in Deutschland arbeiten. Damals und heute ist das für die
Arbeitgeber ein sehr lukratives Geschäft. Große Fleisch-
produzenten wie Tönnies in Niedersachsen und NRW
verdienen sich auf dem Rücken der Arbeitnehmer dumm
und dämlich. Sie können sich dadurch sogar teure Bun-
desligaklubs zu Werbezwecken leisten.
Die Verantwortung für diese Ausbeutung tragen dabei
nicht nur die Arbeitgeber, sondern auch der Gesetzgeber.
Politiker aller Regierungsparteien seit Rot-Grün haben
den Arbeitsmarkt dereguliert und dafür gesorgt, dass
Unternehmen heute leicht mit Leiharbeit oder Werkver-
trägen gesetzliche und tarifliche Standards unterlaufen
können. Undurchsichtige Subunternehmerketten und
Werkverträge sind gerade in der Fleischindustrie ein rie-
siges Problem. Es wird höchste Zeit, dass dagegen etwas
unternommen wird.
Ein Mindestlohn ist überfällig und ein Schritt zur
Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Fleischin-
dustrie. Die Linke ist für die Ausweitung des Arbeitneh-
mer-Entsendegesetzes auf alle Branchen, weil damit
leichter Branchenmindestlöhne festgelegt werden kön-
nen. Die Voraussetzung dafür muss aber sein, dass die
Branchenmindestlöhne höher sind als der gesetzliche
Mindestlohn.
Das ist beim Mindestlohn für die Fleischindustrie leider
nicht der Fall. Es ist schon gesagt worden, dass er im
nächsten Jahr für neun Monate niedriger sein wird als
der gesetzliche Mindestlohn, der ab 1. Januar gelten soll.
So geht das nicht.
Ein Tarifvertrag muss bessere Bedingungen enthalten
und nicht gesetzliche Regelungen unterbieten. Die
Arbeitgeber in der Fleischindustrie haben jahrelang
Tarifverträge verhindert und damit wirklich schlimme
Arbeitsbedingungen geschaffen. Sie haben jede Mög-
lichkeit und jedes Schlupfloch genutzt, das der Gesetz-
geber ihnen ermöglicht hat. Die gleichen Arbeitgeber
nutzen jetzt die Möglichkeit, den gesetzlichen Mindest-
lohn per Tarifvertrag bis Ende 2016 zu unterschreiten.
Mir kann keiner erzählen, dass das der Wunsch der
Gewerkschaft NGG war. Es war die Situation, dass sie
einen Tarifvertrag haben mussten und wollten. Am Ende
mussten sie unterschreiben.
Sie tragen die Verantwortung dafür, dass die Beschäf-
tigten in der Fleischindustrie im nächsten Jahr weniger
als den gesetzlichen Mindestlohn erhalten; denn Sie
bieten den Arbeitgebern durch die Regelungen im Ge-
setzentwurf für den Mindestlohn ein neues Schlupfloch.
Damit muss einfach Schluss sein.
Streichen Sie die Ausnahmen im Gesetzentwurf für den
allgemeinen Mindestlohn. Der gesetzliche Mindestlohn
darf kein löchriger Flickenteppich werden. Er muss eine
Schutzfunktion für alle Beschäftigten haben.
Der Tarifvertrag der NGG gilt heute schon. Heute
geht es um die Aufnahme der Fleischbranche in das
Arbeitnehmer-Entsendegesetz. Das ist ein Schritt in die
richtige Richtung. Die Beschäftigten werden ab dem
1. Juli im Verhältnis deutlich mehr Geld bekommen.
Deshalb und damit die Branche überhaupt in das Arbeit-
nehmer-Entsendegesetz aufgenommen wird, wird die
Linke diesem Gesetzentwurf zustimmen; damit wird es
auf den Weg gebracht.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner in der
Debatte ist Wilfried Oellers für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Heute beraten und beschließen wir das Erste Gesetzzur Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes, mit
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2790 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Wilfried Oellers
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dem die Fleischindustrie als weitere und damit 14. Bran-che in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenommenwerden soll.Dieses Änderungsgesetz ist der Beweis dafür, dassder Staat entschlossen gegen Missstände in unseremLand vorgeht. Denn was fanden wir vor? Medien berich-teten über menschenunwürdige Bedingungen für Arbeit-nehmer in der Fleischindustrie. Die Rede war von Dum-pinglöhnen und miserablen Arbeitsbedingungen, die inkeinster Weise zu tolerieren sind. Die Bevölkerung warzu Recht schockiert und empört. Karl Schiewerlingschilderte die Gesamtsituation im Rahmen der ersten Le-sung.Gemäß dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hatman in der letzten Legislaturperiode nicht sofort gesetz-liche Regelungen erlassen. Vielmehr hat man denArbeitgebern die Möglichkeit eröffnet, die Angelegen-heit in Zusammenarbeit mit den Arbeitnehmern zu berei-nigen. Andernfalls wären gesetzliche Regelungen dieFolge gewesen. Die Arbeitgeber gründeten auf diesenDruck hin einen Arbeitgeberverband und traten mit derGewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten in Tarifver-handlungen ein.Die erfreuliche Nachricht erfuhren wir dann am13. Januar 2014: Die Tarifvertragsparteien hatten sichauf einen Tarifvertrag verständigt und einen bundes-einheitlichen Mindestlohn vereinbart. Bei Zustimmungzum hier vorliegenden Gesetzesentwurf gilt für dieFleischindustrie ab dem 1. Juli 2014 ein bundeseinheitli-cher Mindestlohn von 7,75 Euro. Nach einer Anhebungdes Mindestlohns zum 1. Dezember 2014 auf 8 Euro undeiner weiteren Anhebung zum 1. Oktober 2015 auf8,60 Euro erreicht der Mindestlohn zum 1. Dezember2016 einen Betrag von 8,75 Euro. Wohlgemerkt: Das giltauch für die in Rede stehenden Werkverträge, was be-sonders hervorzuheben ist.
Um jedoch eine bundesweite Wirkung des Tarif-vertrages zu erreichen, ist eine Aufnahme des Tarifver-trages in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz zwingenderforderlich. Auch wenn an den geregelten LohnstufenKritik geübt wird, so ist hier jedoch hervorzuheben, dassdiese Mindestlöhne von den Tarifvertragsparteienvereinbart worden sind. Auch wenn der Mindestlohnvon 8,50 Euro, so wie er im Koalitionsvertrag vereinbartist, nicht schon zum 1. Januar 2015 erreicht wird, son-dern erst später, so ist doch hervorzuheben, dass es sichhier um eine tarifvertragliche Vereinbarung handelt.Jeder, der dem hier vorliegenden Gesetzentwurf nichtzustimmt, akzeptiert damit nicht die Vereinbarung derTarifvertragsparteien und missachtet zudem den Grund-satz der Tarifautonomie.Da die Union die Vereinbarung der Tarifvertrags-parteien und ihren Wunsch auf Aufnahme in das Arbeit-nehmer-Entsendegesetz respektiert, werden wir demGesetzentwurf zustimmen. Damit stimmen wir für dieBeseitigung von unwürdigen Arbeitsbedingungen in derFleischindustrie, für die Schaffung eines tarifvertragli-chen Systems und damit für geordnete Arbeitsbedingun-gen in der Fleischbranche.
Die Tarifautonomie wird hierdurch ebenfalls gestärkt.
Schließlich dient dieser Tarifvertrag auch dazu, einenfairen und funktionierenden Wettbewerb zu gewährleis-ten. Denn auch wenn die gesamte Branche und selbst dieLandwirtschaft, die nun gar nichts mit den Missständenzu tun hatte und zu Unrecht damit in Zusammenhanggebracht wurde, unter Generalverdacht gerieten, istfestzuhalten, dass nicht in der gesamten Fleischbrancheunwürdige Arbeitsbedingungen herrschten. Viele Unter-nehmer in dieser Branche zahlten ihren Mitarbeiternschon vorher vernünftige Löhne. Diejenigen, die dasnicht taten, erlangten dadurch zu Unrecht einen Wettbe-werbsvorteil. Das ist jetzt nicht mehr möglich.
Der im Frühjahr 2013 eingeleitete Prozess kommtsomit zu seinem verdienten Erfolg und kann nun weiter-entwickelt werden. Die Union hat sich hierfür massiveingesetzt und damit maßgeblich dafür gesorgt, dass dieMissstände in der Fleischindustrie beseitigt werden.
Wie gesagt: Die Union stimmt dem Antrag daher zu. DerVollständigkeit halber sei erwähnt, dass wir den Ände-rungsanträgen ebenfalls zustimmen, die lediglich berich-tigenden und klarstellenden Charakter haben.Abschließend sei Folgendes erwähnt: Die Stellung-nahme des Bundesrates vom 11. April 2014 zum Gesetz-entwurf ist insoweit interessant, als die Haftungsrege-lung für Unternehmer nach § 14 des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes infrage gestellt wird. Hiernach haftetder Generalunternehmer verschuldensunabhängig für dieZahlung der Löhne des von ihm beauftragten Subunter-nehmers, wenn dieser die Löhne an seine Arbeitnehmernicht gezahlt hat.Der Bundesrat weist nach meiner Auffassung zuRecht darauf hin, dass nach dieser Vorschrift die Gefahrbesteht, dass ein redlicher Generalunternehmer, der sei-nen Zahlungsverpflichtungen gegenüber dem von ihmbeauftragten Subunternehmer nachgekommen ist undden Subunternehmer sorgfältig ausgesucht hat, in dieSituation kommt, zweimal zahlen zu müssen, obwohl ersich vertragstreu und korrekt verhalten hat.Auch wenn die vom Bundesrat vorgeschlageneLösung der Schaffung eines Hilfsfonds zu Recht abzu-lehnen ist, da dies für Missbrauch durch unredlicheUnternehmer gegenüber den redlichen UnternehmernTür und Tor öffnen würde, so ist es nach meiner Auffas-sung geboten, eine Lösung für diese Problemstellung zuerarbeiten.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Das Wort hat für Bünd-nis 90/Die Grünen Friedrich Ostendorff.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das dänische Fleischunternehmen Danish Crown bietetneuerdings Rundgänge in einem gläsernen Schlachthofin Horsens an, für Auszubildende, Studenten, gar fürSchulklassen und Familien. Aus vier Metern Höhe kannjeder wirklich jeden Prozessschritt beobachten: dasEntladen und Treiben der Tiere, die Betäubung, das Ent-bluten, das Zerlegen und schließlich das Verpacken derfertigen Produkte. Alles wirkt sauber und hygienisch,doch selbst durch doppelglasige Fenster dringt oftmalsein unangenehmer warmer fleischiger Geruch zu den In-teressierten.Die Arbeiterinnen und Arbeiter dort, wie auch in allenanderen Schlachthöfen, leisten harte Arbeit. Nicht nurdie Arbeit an sich ist anstrengend und ermüdend. Auchdurch die tägliche Konfrontation mit dem tausendfachenTöten von Tieren unterscheidet sich diese Tätigkeit dochsehr von anderen Berufen und trägt eine hohe emotio-nale Belastung in sich.Endlich ist nun nach langen Mühen auch für Arbeite-rinnen und Arbeiter in deutschen Schlachthöfen einMindestlohn vereinbart worden. Dieser wird nun in dasArbeitnehmer-Entsendegesetz übernommen. Diesererste Schritt ist und war lange überfällig und wird vonuns schon lange gefordert; denn allzu oft ist die Realitätin den Schlachthöfen: 13 Stunden Arbeit bei 4 EuroStundenlohn. Das müssten wir endlich ändern.
Deshalb unterstützten wir Grünen den Gesetzentwurf derBundesregierung.
Doch worauf es nun ankommt, meine Damen undHerren, ist die Umsetzung: Der Mindestlohn muss beiden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ankommen.Entscheidend ist, dass sie ihren Lohn vor Ort auch erhal-ten. Denn in der Realität ist es so – Sie haben daraufhingewiesen –, dass der Subunternehmer den Lohn er-hält, bei dem die bulgarischen und rumänischen Arbeite-rinnen und Arbeiter angestellt sind. Deshalb: Keineprofitorientierte Ausnutzung der Übergangsregelung!Kein Umschiffen des Mindestlohns durch den weiterenMissbrauch von Werkverträgen, Scheinverträgen oderwas es alles gibt! Es kann nicht sein, dass länger ange-stellte Beschäftigte aus Rumänien oder Bulgarien zwarbesser entlohnt werden, dass neu eingestellte Arbeiterin-nen und Arbeiter jedoch wieder mit einem wesentlichgeringeren Stundenlohn ausgebeutet werden, so gesche-hen in meinem Wahlkreis im Münsterland. Das ist men-schenunwürdig und beschämend.
Im Koalitionsvertrag hat die Bundesregierung zuge-sagt, gesetzeswidrige Werkverträge zu verhindern. Sieerklären auch überall: Schluss mit Scheinselbstständig-keiten. Tun Sie endlich etwas, liebe Kolleginnen undKollegen. Der heute vorliegende Gesetzentwurf ist einAnfang, ein guter Anfang sogar, doch er wird nicht aus-reichen, um die Missstände im Niedriglohnsektor gänz-lich zu beseitigen.
Für effektive Kontrollen braucht man mehr Personal.Herr Rützel, Sie haben richtigerweise selbst darauf hin-gewiesen. Sie sagten, dass 42 Stellen gebraucht werden.Ja, ich frage mich nur: Warum stehen sie nicht im Haus-halt? Das bedarf noch viel Anstrengung. Wir fordern Sieausdrücklich auf, nachzubessern und Geld für die ent-sprechenden Stellen im Haushalt bereitzustellen.
Natürlich müssen auch die Kommunen endlich ihrerPflicht nachkommen und den Zustand der Unterkünfteder Beschäftigten überwachen. Hier gibt es eklatanteMissstände, zum Beispiel die Unterbringung in baufälli-gen Baracken. Die Kollegen und ich haben gesehen, dassvier Männer in kleinsten Zimmern mit zwei Betten le-ben. Das sind unwürdige Zustände. Diese Unterbringungist völlig indiskutabel. Die Kommunen sind gefordert,endlich ihrer Pflicht nachzukommen. Wenn wir inEuropa so respektlos mit Menschen umgehen, wie kön-nen wir dann erwarten, dass diese Menschen in denSchlachthöfen respektvoll mit den Tieren umgehen?Profitgier ohne Rücksicht auf Verluste schadet den Men-schen, sie schadet den Tieren, und sie schadet unseremLand, Deutschland, als einem Land, in dem gute Arbeit,wie wir es uns am 1. Mai erzählt haben, gut bezahltwird. Lasst uns das endlich tun!
Das dänische Unternehmen Danish Crown zeigtSelbstvertrauen. Ein gläserner Schlachthof demonstriertdie Überzeugung, dass dort nichts passiert, was nicht ge-sehen werden darf. In Dänemark gibt es für die Schlacht-hofmitarbeiter Tarifverträge. Das erhöht die Schlacht-kosten für Danish Crown um bis zu 100 Prozentgegenüber deutschen Unternehmen; Namen wurden hiergerade genannt. Das führt dazu, dass Danish Crown auchin Deutschland Schlachthöfe betreiben muss, weil inDeutschland eben ein niedrigerer Lohn bezahlt wird.Sind die deutschen Schlachthöfe auch so weit, dass dortnichts passiert, was nicht gesehen werden darf? Ichhoffe, wir kommen dahin. Lasst uns das gemeinsam inAngriff nehmen, damit wir auch unsere Schlachthöfezeigen können, damit wir zeigen können, wie die Men-schen dort arbeiten, damit wir auch die Unterbringungder Menschen, die aus anderen europäischen Ländern zuuns kommen und diese Arbeit verrichten, zeigen könnenund sagen können: Das ist menschenwürdig.
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Friedrich Ostendorff
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Vielen Dank, Kollege Ostendorff. – Das Wort hat für
die SPD-Fraktion Gabriele Groneberg.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Heuteist für mich ein toller Tag; das muss ich sagen. Das Boh-ren dicker Bretter in Berlin hat sich wirklich mal ge-lohnt.
Seit Jahren setze ich mich zusammen mit engagiertenMenschen aus meiner Region und hier im Haus intensivdafür ein, den Missbrauch von Werkverträgen in derFleischindustrie aufzudecken und Maßnahmen zu entwi-ckeln, um diesen menschenunwürdigen Umgang zu be-enden. Lange hat es gedauert, aber heute ist es endlich soweit. Das ist ein guter Tag für die rund 100 000 Beschäf-tigten in der Fleischbranche, von denen allein 20 000 inNiedersachsen arbeiten.Bereits seit 2003 kämpfen wir gegen Lohndumping inder Fleischindustrie. Ich erinnere mich ganz besondersgut an eine Veranstaltung in meinem Wahlkreis 2005, diewir in der Hoffnung durchgeführt haben, eine schnelleLösung dieses Problems hinzubekommen. Doch das warschwieriger, als wir gedacht haben. In der Folgezeitbrachten Razzien und Kontrollen in unserer Region, abernatürlich auch bundesweit – wir stehen mit diesem Pro-blem in dieser Republik ja nicht alleine da – unmenschli-che und illegale Arbeitsbedingungen vor allem osteuro-päischer Billiglöhner zutage.Worum geht es hier eigentlich? In einer wirtschaftlichstarken Region, in unserem wirtschaftlich gut aufgestell-ten Land gibt es Menschen – das ist heute mehrfach er-wähnt worden –, die mindestens 10 bis 15 Stunden täg-lich, sechs Tage die Woche, im Monat mindestens26 Tage in der Fleischindustrie arbeiten. Sie schlachten,sie zerlegen, sie verpacken. Das alles tun sie für einenStundenlohn von 3 bis 6 Euro; in großen Teilen sind esnoch weniger. Krankheitstage und Urlaub werden nichtbezahlt.Die Menschen, die unter diesen Bedingungen arbei-ten, kommen überwiegend aus Ungarn, Bulgarien, Ru-mänien und Litauen. Sie werden mit falschen Verspre-chungen angeworben und in ehemaligen Geschäfts- undWohnhäusern untergebracht, die auf dem normalenMarkt gar nicht mehr vermietet werden können.
Sie leben dort mit vier bis fünf Personen in kleinen Räu-men, es gibt ein Bad auf dem Flur für alle, und die hy-gienischen Verhältnisse sind jenseits aller Diskussionen.Für diese miesen Verhältnisse müssen sie Wuchermietenzahlen.Die Arbeit dieser Menschen wird so billig abgerech-net, dass es sich lohnt, Schweine aus Dänemark zurSchlachtung nach Deutschland zu bringen. Deutschland,ein Billiglohnland? Um es ganz klar zu sagen: Es gehthier um Missbrauch. Es geht um die fragwürdige Aus-nutzung von Rechtsräumen, vor allen Dingen durch Sub-unternehmen mit oder ohne Wissen der Generalunter-nehmer, bis hin zu massiven Bedrohungen derjenigen,die diese Missstände anprangern und in der Vergangen-heit klar benannt haben.Vor rund zwei Jahren ist bei uns in der Region derKnoten geplatzt. Es hat – so möchte ich es beschreiben –einen Aufstand der Anständigen gegeben, und es hatsich einiges getan. Ja, auch einige Unternehmen derFleischbranche haben erkannt, dass diese Missständegleichzeitig große Imageschäden für ihre Unternehmenbedeuten, und sie haben ein großes Interesse an Rege-lungen, die anständigen Unternehmen Wettbewerbs-gleichheit sichern. Leih- und Werkvertragsarbeiter sowieaus dem europäischen Ausland stammende Beschäftigteaus Werkvertragsunternehmen müssen den gleichenLohn wie die festangestellten Arbeitnehmer und Arbeit-nehmerinnen bekommen. Anständige Löhne für hartekörperliche Arbeit!Mein besonderer Dank gilt Andrea Nahles. Sie hat2008 meinen Wahlkreis besucht, und wir haben die Si-tuation mit betroffenen Gewerkschaftern und vielen In-teressierten ausführlich erläutert. Sie ist diejenige, diejetzt als zuständige Ministerin diesen Gesetzentwurfvorlegt. Wir gehen davon aus, dass es jetzt ordentlicheLöhne in der Fleischindustrie und wirksame Sanktio-nen beim Missbrauch geben wird. Richtig, KollegeOstendorff, wir müssen dafür sorgen, dass dieser Lohnin der Tat bei den Beschäftigten ankommt. Das ist ganz,ganz wichtig.
Die SPD war hier treibende Kraft. Das ist sicherlichunstrittig. Wir haben das im Wahlkampf versprochen,und dies ist jetzt – der GroKo sei Dank – in der Umset-zung. Wenn alles nach Plan läuft, wird dieses GesetzEnde Juni in Kraft treten. Lieber Kollege Schiewerling,damit sind wir endlich einmal auf einem gemeinsamenNenner. Das freut mich ganz besonders.
Wir haben weitere Gesetzentwürfe gegen den Miss-brauch auf dem Arbeitsmarkt in der Beratung. HeuteMorgen zum Beispiel hat unser WirtschaftsministerSigmar Gabriel ausdrücklich darauf hingewiesen, dasswir ein weiteres Schlupfloch für Unternehmen stopfenwerden. Es darf nicht sein, dass Unternehmer über den
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Gabriele Groneberg
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Einsatz von Werkvertragsnehmern und Leiharbeitern dieMöglichkeit haben, sich der Zahlung der EEG-Umlagezu entziehen. Wie ist denn das möglich? Letztendlich istes in unserem Interesse, diese Umgehungstatbeständenicht mehr zu ermöglichen.Einige Unternehmer mit entsprechender kriminellerEnergie finden vielleicht trotzdem einen Weg. Holzaugesei wachsam, kann ich da nur sagen. Ich finde, es istnach wie vor eine Schande, dass ein Land wie Deutsch-land, welches wirtschaftlich so gut dasteht, im Vergleichzu Nachbarländern ein Billiglohnland ist. Das müssenwir unbedingt ändern.
Ein wichtiger und richtiger Schritt ist Anfang Januargeschehen, als sich die Tarifvertragsparteien in derFleischindustrie auf einen Tarifvertrag geeinigt haben.Dieser wird den Mindestlohnstandard, den wir hier auchnoch vereinbaren werden, erreichen. Selbst wenn es et-was später ist, ist das ein großer Fortschritt.
Frau Kollegin.
Ja, ich komme zum Schluss. Sehr geehrte Frau Präsi-
dentin, gestatten Sie mir noch ein paar Sätze. Wenn man
so lange an etwas gearbeitet hat, ist die Erleichterung so
groß.
Es tut mir leid, aber das ist kein Argument.
Ich werde mich jetzt auf einen letzten Aspekt be-
schränken. – Strenge und regelmäßige Kontrollen durch
Behörden der Zollverwaltung gehören natürlich dazu.
Auch darauf ist hier schon eingegangen worden.
Ich fasse zusammen: Versprochen und gehalten, das
ist die Handschrift der SPD in dieser Koalition.
Wir wollen keine Dumpinglöhne. Ich bin erleichtert und
bitte alle Kolleginnen und Kollegen, heute gemein-
schaftlich in diesem Haus diesem Gesetzentwurf zuzu-
stimmen.
Danke schön.
Danke, Frau Kollegin. Es gibt Irritationen, ob es jetzt
doch einen gemeinsamen Nenner in der Großen Koali-
tion gibt. Aber das kann ja der nächste Redner erklären.
Ich rufe Albert Stegemann auf.
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen! LiebeKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Einnicht ganz unbedeutender Fraktionsvorsitzender in die-sem Hohen Hause wird immer wieder gerne mit folgen-den Worten zitiert: „Politik beginnt mit dem Betrachtender Wirklichkeit.“
Unter diesem Motto habe ich mich vor etwa drei Wo-chen auf den Weg gemacht und mit den Beamten derFinanzkontrolle Schwarzarbeit des HauptzollamtesOsnabrück an einer Kontrolle der Arbeitsverhältnisse ineinem großen norddeutschen Schlachtunternehmen teil-genommen. Wissen Sie: Die dort gemachten Beobach-tungen sind so zahlreich, dass fünf Minuten Redezeiteinfach nicht ausreichen, um Ihnen diese Eindrücke auchnur ansatzweise zu schildern.
Gestatten Sie mir deshalb das Arbeiten mit folgendemBild: Wie wir alle wissen, hat jede Medaille zwei Seiten,redensartlich eine gute und eine schlechte. Es wirkten inder Vergangenheit unterschiedliche Einflüsse auf dieFleischbranche ein, die, wie bei einer Medaille ebenauch, besagte Seiten mit sich bringen. Auf die einzelnenEinflüsse möchte ich im Folgenden eingehen.Einfluss Nummer eins: der Wert von Lebensmitteln.In kaum einem anderen Land der Welt ist es für Men-schen so günstig, sich mit Lebensmitteln zu versorgen.
Im Vergleich zu vergangenen Jahrzehnten müssen wireinen immer geringeren Anteil des Einkommens für dieWaren des täglichen Bedarfs ausgeben; das ist die guteSeite der Medaille. Auf der anderen Seite sorgen aberauch die preisbewussten Verbraucher für einen knallhar-ten Wettbewerb im Handel, der weltweit ebenfalls sei-nesgleichen sucht.
Discounter befördern die Suche nach immer neuenSchnäppchen, indem sie den Preisdruck an die Produ-zenten weitergeben. Dies hat den Kostendruck in derFleischbranche befeuert.Einfluss Nummer zwei: wirtschaftliche Zwänge in ei-ner globalisierten Welt. Kein Land auf dieser Welt hatvon den offenen Märkten derart profitiert wie die Bun-desrepublik Deutschland. Mit technischen Neuerungensind Unternehmen Vorreiter, verkaufen erfolgreich ihreProdukte, sichern den hiesigen Wohlstand auch durchhohe Exporte. Wettbewerb ist allerdings nie nur einsei-
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Albert Stegemann
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tig. Der Transport spielt für die Warenpreise kaum mehreine Rolle. So steht die Fleischbranche einer harten Kon-kurrenz von günstigen Fleischimporten aus aller Weltgegenüber. Also: Der Druck im Kostenkessel steigt undhat damit folgende Einflüsse voll durchschlagen lassen.
Einfluss Nummer drei: Maßnahmen zur Flexibilisie-rung des Arbeitsmarktes. Kein Land in Europa ist so gutdurch die Krise gekommen wie Deutschland. Das hatviel mit unserem flexiblen Arbeitsmarkt und dem part-nerschaftlichen Verhältnis von Arbeitgebern und Arbeit-nehmern zu tun. Die funktionierende Sozialpartnerschafthat viele Menschen in Arbeit gebracht und gehalten.Nicht umsonst ist das Beschäftigungsniveau so hoch wienie zuvor. Die Kehrseite gilt aber auch hier: Diese Part-nerschaft, diese Erfolgsgeschichte endet dort, wo die fle-xiblen Arbeitsmarktinstrumente bis an die Grenzen desVertretbaren ausgereizt werden. In der fleischverarbei-tenden Industrie ist der Lohnkostenanteil in der Produk-tion sehr hoch. Deshalb hat es hier diese extremen Aus-wüchse gegeben.Vor diesem Hintergrund möchte ich mich herzlich beider ehemaligen Bundesarbeitsministerin Ursula von derLeyen bedanken. Unter ihrer Führung hat es die letzteRegierung geschafft, die Tarifvertragsparteien an einenTisch zu holen. Dies hat sicherlich auch mit dem politi-schen Druck unter anderem der Kirchen zu tun. Auch ih-nen sei an dieser Stelle gedankt.
Hier hat die Gesellschaft ihre Verantwortung wahrge-nommen. Demokratie funktioniert also.Bleibt noch Einfluss Nummer vier, nämlich die Ar-beitnehmerfreizügigkeit in Europa. In der EuropäischenUnion gibt es keine Grenzen mehr. Dies bietet Chancennicht nur für junge Menschen, obwohl gerade sie im Mo-ment das Sinnbild für ein zusammenwachsendes Europamit einem gemeinsamen Arbeitsmarkt sind. Die Suchenach einem Arbeitsplatz fernab von der eigenen Heimatverknüpfen sie mit vielen Hoffnungen. So weit die guteSeite der Medaille.Wir mussten in der Vergangenheit aber feststellen:Solche Hoffnungen wurden ausgenutzt. Einzelne Unter-nehmen sind vom Irrglauben ausgegangen, sich in einemrechtsfreien Raum nach Wildwestmanier bewegen zukönnen. Durch Werkverträge, die mit aus dem europäi-schen Ausland stammenden Vertragsfirmen abgeschlos-sen wurden, haben sie vorhandene Mindestlöhne umgan-gen. Einziges Ziel war es, die Lohnkosten zu senken.Dies war aber definitiv nie die originäre Intention derArbeitnehmerfreizügigkeit.
Das jetzt zu beschließende Gesetz schiebt solchemHandeln einen Riegel vor. Durch die Aufnahme derFleischindustrie in das Arbeitnehmer-Entsendegesetzgilt dann der bereits beschlossene Mindestlohn auch füraus dem Ausland entsandte Arbeitnehmer.Meine Damen, meine Herren, heute ist ein guter Tagfür die Fleischbranche. Dieser Wirtschaftszweig ist vielgescholten. Ein ursprünglicher Grund liegt im knallhar-ten Wettbewerb. Dieser hätte jedoch nie so weit führendürfen, dass die Menschenwürde, wie in der Vergangen-heit viel zu oft geschehen, dem Schlachtermesser zumOpfer fällt. Ich hoffe sehr, dass wir heute einen Beitragdazu leisten, dass die Fleischbranche uns in der Zukunft,ab heute, die gute Seite der Medaille zeigt.Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege.
Jetzt würden wir natürlich alle sehr gern wissen, wer
der nicht ganz unbedeutende Fraktionsvorsitzende ist;
aber vielleicht kann uns Herr Kauder das ja sagen.
Nächster und letzter Redner in dieser Debatte: Tobias
Zech für die CSU/CDU-Fraktion.
Ich möchte die Kolleginnen und Kollegen, die ge-
kommen sind, um sich an der Abstimmung zu beteiligen,
bitten, sich an dieser Debatte zuhörend zu beteiligen. Es
lohnt sich nämlich wirklich sehr.
Bitte, Herr Zech.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Heuteist ein guter Tag …“, so begannen Anfang April fast alleReden, die in der ersten Lesung über die Aufnahme derFleischindustrie in das Arbeitnehmer-Entsendegesetzgehalten wurden. In der Tat: Heute ist ein guter Tag. Esgeht heute für manche Arbeitnehmer in der Fleisch-industrie sprichwörtlich um die Wurscht.Aber es geht nicht nur um heute, es geht auch um dieUmsetzung des Gesetzes, das heute beschlossen werdensoll, es geht darum, dass wir aus einem guten Tag einenoch bessere Zukunft machen. Lassen Sie mich daher ei-nen positiven Blick in die Zukunft richten. Die Erfahrun-gen mit dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz sind gut: DieBranchenmindestlöhne haben nicht nur zu Beschäfti-gungsgewinnen geführt, sondern auch zu mehr Fairnessim Wettbewerb der Unternehmen beigetragen.Diese Vorteile kommen nun auch endlich bei den Ar-beitnehmern in der Fleischindustrie an. Dabei geht eszum einen darum, den Arbeitnehmern einen gerechtenLohn zu garantieren. Ein angemessener Lohn für dieharte körperliche Arbeit ist das absolute Minimum. Esmüssen aber auch alle anderen Umstände gewährleistetwerden, um den Menschen ein Leben und ein Arbeitenin Würde zu ermöglichen. Nur wenn auch die äußeren
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Tobias Zech
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Rahmenbedingungen stimmen, kann man diese körper-lich harte Arbeit bewältigen und hygienische Umständefür Mensch und Tier und für die Produkte garantieren.Daher geht es auch um bezahlte Überstunden, um Ur-laub, Höchstarbeitszeiten und Mindestruhezeiten, Bedin-gungen für die Überlassung von Arbeitskräften, Sicher-heit, Gesundheitsschutz und Hygiene am Arbeitsplatzsowie last, but not least Nichtdiskriminierungsbestim-mungen.Eine Branche mit über 170 000 Arbeitnehmern sollnun davon profitieren dürfen. Für viele Arbeitgeber istdie Gewährleistung solcher Rahmenbedingungen eineSelbstverständlichkeit. Im Hinblick auf diejenigen, fürdie sie es bisher nicht waren, ist es unsere Aufgabe, siezu einer Selbstverständlichkeit zu machen. Dieser Indus-trie wird somit ein Rechtsrahmen gesetzt werden, der füreinen fairen Wettbewerb sorgen kann, national wie inter-national.National, weil wir nicht vergessen dürfen: Wir sindhier das gesetzgebende Organ. Es gab immer wiederRechtsstreite, in denen auf Werkvertragsbasis ausgebeu-tete Beschäftigte erfolgreich eine Festanstellung einge-klagt haben. Sie konnten nachweisen, dass es sich umScheinwerkverträge handelte. Es darf aber nicht Auf-gabe der Gerichte sein, durch Rechtsprechung Gesetzezu schaffen, wo wir keine Ordnung hergestellt haben.Zudem beschreiten zu wenige den Weg der Gerichtsbar-keit und müssen folglich mit den katastrophalen Um-ständen leben, gerade bei den schwarzen Schafen, die eswie in allen Industriezweigen auch in der Fleischindus-trie gibt. Deshalb ist es so wichtig, dass wir diesenSchritt gehen und diesen Menschen nun einen deutlichbesseren Schutz bieten – präventiv und nicht lediglicherst im Vollzug.Aber auch international ist dieser Schritt wichtig, danur bei entsprechendem Schutz aller europäischen Ar-beitnehmer die Vision der Arbeitnehmerfreizügigkeitweiter verfolgt werden kann. Damit garantieren wireinen guten Standard an Arbeitnehmerrechten und er-weitern so die Möglichkeiten für freie Arbeitnehmer-wanderung und -zuwanderung und Wechsel innerhalbder Europäischen Union.
In der Umsetzung bestehen zwei essenzielle Schwer-punkte. Zum einen – das haben wir heute schon mehr-mals diskutiert – geht es um die Kontrolle. Es bringt keinnoch so guter Wille etwas, wenn es an der Umsetzungund an der Kontrolle scheitert.
Mit der Aufnahme der Arbeitnehmer in der Fleisch-industrie ist unsere Arbeit also nicht getan, sondern wirmüssen die Aufsichtsbehörden tatkräftig unterstützenund alle Möglichkeiten der Kontrollen ermöglichen.
Erst wenn diese einen effektiven Druck auf die Arbeitge-ber ausüben können, erfüllt das Arbeitnehmer-Entsende-gesetz auch seine Zwecke.Zum anderen geht es um die Generalunternehmerhaf-tung nach § 14 Arbeitnehmer-Entsendegesetz. Dazu seizunächst gesagt, dass diese nicht neu ist und mit derAufnahme der Fleischindustrie auch nicht geändert wird.Zudem ist diese Regelung verfassungskonform und kon-form mit dem Europarecht.Wir können diese Problematik nicht auf dem Rückender Arbeitnehmer austragen, die wir gerade schützenwollen. Damit würden wir Gefahr laufen, neue Lückenaufzureißen, die zu erneutem Missbrauch führen könn-ten.Es liegt in der Macht des Unternehmens und der Un-ternehmer, sich die Subunternehmen aussuchen zu kön-nen und dabei auf Zuverlässigkeit und entsprechendeMindestmaßstäbe zu achten. Die Unternehmen habendabei mehr Möglichkeiten der Kontrolle als die Arbeit-nehmer, und diese Kontrolle soll gerade genutzt werden,um Subunternehmer genauer unter die Lupe zu nehmen.Nur so können die schwarzen Schafe vom Markt ver-drängt werden, die Arbeitnehmer mit falschen Verspre-chungen locken und ausbeuten.
Dennoch verstehe ich die Bedenken der Unterneh-men, die Doppelzahlungen befürchten, ohne sich voll-ständig absichern zu können. Die Einführung einesHilfsfonds erachte ich jedoch nicht für sinnvoll. Dieserwürde zu einer höheren Belastung für die Gemeinschaftund zu einem erheblichen Verwaltungsaufwand führen.Vor allem aber würden damit auch diejenigen Unterneh-men zur Kasse gebeten werden, die zuverlässige Nach-unternehmer gewissenhaft auswählen und sich somitschützen, und gerade das ist ja auch das Ziel des Geset-zes.Dennoch sollten gerade die Konstellation des Pfän-dungs- und Überweisungsbeschlusses näher beleuchtetund weitere Lösungsvorschläge bedacht werden. DieseThematik werden wir insbesondere auch im Zusammen-hang mit § 13 des Mindestlohngesetzes noch genauerbetrachten müssen.Nichtsdestotrotz ist heute ein guter Tag für die Arbeit-nehmer in der fleischverarbeitenden Industrie. Wir tref-fen heute eine gute und zukunftsfähige Entscheidung.Wir sollten aber auch weiterhin weitere Branchen sensi-bel und aufmerksam im Blick behalten und diesenSchutz gegebenenfalls ausweiten.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Zech.Ich schließe die Aussprache.
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2796 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Vizepräsidentin Claudia Roth
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Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-rung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes.
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt inseiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1359,den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksa-chen 18/910 und 18/1283 in der Ausschussfassung anzu-nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf inder Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung ange-nommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Nach Artikel 87 Absatz 3 desGrundgesetzes ist zur Annahme des Gesetzentwurfes dieabsolute Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Bun-destages – das sind 316 Stimmen – erforderlich.Wir stimmen nun namentlich über den Gesetzentwurfab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, dievorgesehenen Plätze einzunehmen. Kann mir irgendje-mand ein Zeichen geben, ob alle Urnen besetzt sind? –Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung über denGesetzentwurf.Ich frage, ob ein Mitglied des Hauses anwesend ist,das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? – Das istnicht der Fall. Damit schließe ich die Abstimmung undbitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit derAuszählung zu beginnen. Wie immer wird Ihnen das Er-gebnis später bekannt gegeben.1)Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die nicht ander Debatte teilnehmen wollen, sich entweder zu setzenund zuzuhören oder den Raum zu verlassen. Das gilt füralle Seiten des Hauses.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:Beratung des Antrags der AbgeordnetenMatthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann
, Katja Kipping, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion DIE LINKEAbschaffung der Zwangsverrentung vonSGB-II-LeistungsberechtigtenDrucksache 18/589Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzInterfraktionell sind für die Aussprache 38 Minutenvorgesehen. – Es gibt keinen Widerspruch.Ich eröffne die Aussprache. Matthias Birkwald be-ginnt für die Linke die Debatte.
1) Ergebnis Seite 2797 D
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!Hartz IV ist und bleibt Armut per Gesetz. Das gilt füralle Langzeitarbeitslosen, aber ganz besonders für die äl-teren Arbeitslosen, die unbedingt arbeiten wollen, denenaber niemand mehr einen Job gibt. Warum? § 12 a imSozialgesetzbuch II verpflichtet die Jobcenter, Hartz-IV-Beziehende ab ihrem 63. Geburtstag in eine vorgezo-gene Altersrente zu schicken, auch wenn diese mit hor-renden Abschlägen verbunden ist, und zwar gegen denWillen der Betroffenen. Das darf nicht sein. Darum sagtdie Linke: Die Zwangsverrentungen müssen abgeschafftwerden.
Viele Menschen rufen wegen der Zwangsverrentungin meinem Büro an. Sie sind wütend, komplett verunsi-chert oder einfach nur enttäuscht. Ich schildere Ihnen dasBeispiel einer Betroffenen, einer Verkäuferin aus Frank-furt. Sie wurde vor drei Jahren entlassen und ist am Endeihres Erwerbslebens in Hartz IV gerutscht. Im Augustwird sie 63 Jahre alt, und sie hat stolze 44 Beitragsjahrevorzuweisen.Sie sieht im Fernsehen die Berichte über die ab-schlagsfreie Rente ab 63, und sie hört, wie die CDU/CSU und die Arbeitgeber vor Frühverrentungen warnen.Sie will aber arbeiten. Nun hat sie vom Jobcenter einenBrief bekommen. Kein Arbeitsangebot, nein: Sie soll imAugust die vorgezogene Altersrente mit Abschlägen be-antragen. Wenn sie das nicht tut, dann stellt das Jobcen-ter den Rentenantrag für sie, auch gegen ihren Willen.Dem Jobcenter ist es dabei völlig egal, wie hoch oderwie niedrig ihre Rente sein wird.Meine Damen und Herren, versetzen Sie sich bitteeinmal in die Lage der erwerbslosen Verkäuferin ausFrankfurt. Sie versteht die Welt nicht mehr. Sie dachte zuRecht: Ob und wann ich einen Rentenantrag stelle, kannich doch wohl selbst entscheiden. – Von wegen: Das darfsie seit 2008 nach dem Willen von CDU/CSU und SPDnicht. Das ist ein massiver und unverschämter Eingriff indie Freiheitsrechte. Damit muss endlich Schluss sein.Die Zwangsverrentung muss unbedingt abgeschafft wer-den.
Was heißt die Zwangsrente für die arbeitslose Frank-furterin? Das heißt, dass ihre Rente bis zu ihrem Lebens-ende um 8,7 Prozent Abschläge gekürzt werden wird.Bei ihrer Rente von 900 Euro im Monat sind das fast80 Euro jeden Monat. Sie hofft jetzt darauf, wieder einenJob zu finden. Doch das Jobcenter unterstützt sie dabeischon lange nicht mehr und hat sie aus der Arbeitslosen-statistik gestrichen. Das übrigens zum Thema geschönteStatistik.Das alles ist unerträglich. Es hat nichts, aber auch reingar nichts mit der Lebensleistung dieser Frau zu tun.Deshalb sage ich: Die Zwangsverrentung muss beendetwerden.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2797
Matthias W. Birkwald
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Aber es kommt noch schlimmer. Schwarz-Rot sindnämlich 8,7 Prozent Abschläge noch nicht genug. ImGesetz ist nämlich eingebaut, dass die Kürzungen vonJahrgang zu Jahrgang drastischer werden. Wer das Pechhat, 1964 oder später geboren worden zu sein, bekommtdann ab 2027 die Rente um sage und schreibe 14,4 Pro-zent gekürzt. Das wären bei 900 Euro Rentenanspruch130 Euro.Am allerschlimmsten trifft es jene Hartz-IV-Betroffe-nen, die durch die Abschläge nur auf eine Minirentekommen. Sie werden nämlich bis zu ihrem offiziellenRenteneintrittsalter auf Sozialhilfe angewiesen sein. Erstdanach können sie die Grundsicherung im Alter beantra-gen. Sozialhilfe bedeutet im Unterschied zur Grund-sicherung: Es gibt keinen Cent, bis der Spargroschen bisauf 2 600 Euro aufgebraucht ist. Dann gibt es ein biss-chen Geld, und dieses bisschen Geld holt sich der Staatbei den Kindern wieder.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Ko-alition, ich bin sehr gespannt, wie Sie das alles gleich inIhren Reden rechtfertigen werden.
Sie haben die entwürdigende Zwangsverrentung im Jahr2008 eingeführt. Wir Linken haben Sie gefragt, wie vieleMenschen davon aktuell betroffen sind. Die Bundesre-gierung hat uns geantwortet. Was hat sie gesagt? Sie hatgeantwortet: Wir wissen es nicht.Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehenlassen. Sie schicken die Menschen in die Zwangsrenteund wissen nicht einmal, wie viele Horrorbriefe die Job-center jeden Tag verschicken.Das darf doch alles nicht wahr sein!
Nach unseren Schätzungen sind in diesem Jahr circa65 000 ältere Hartz-IV-Betroffene von der Zwangsver-rentung bedroht. Wir empfehlen allen Betroffenen: Le-gen Sie Widerspruch ein, und beantragen Sie gleichzei-tig beim Sozialgericht die aufschiebende Wirkung fürIhren Widerspruch; denn je länger Sie das Verfahren ver-zögern, desto geringer sind später Ihre Abschläge.Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD,einerseits schicken Sie Erwerbslose in die Zwangsrente,und andererseits verwehren Sie diesen Menschen denZugang zu Ihrer neuen abschlagsfreien Rente ab 63 bzw.65; denn für diese soll ja nur der Bezug von Arbeitslo-sengeld I bei der Berechnung der 45 Jahre zählen,Hartz-IV-Zeiten aber nicht. Das ist ungerecht. WennHartz-IV-Zeiten mitzählten, dann könnte unsere Frank-furterin im August abschlagsfrei in Rente gehen. Ichfrage noch einmal hier im Plenum: Was unterscheideteine Verkäuferin, die einmal vier Jahre am Stück arbeits-los war, von einem Gerüstbauer, der viermal ein Jahr ar-beitslos war? Ich sage: Die haben doch dieselbe Lebens-leistung, oder etwa nicht?
Denken Sie an Ihre Redezeit.
Also, liebe Bundesregierung, schaffen Sie die
Zwangsverrentung sofort ab, und zwar ein für alle Mal!
Das fordern alle Erwerbsloseninitiativen. Das fordert die
Linke. Das fordern auch der DGB, die Sozialverbände,
der Deutsche Städte- und Gemeindetag sowie der Deut-
sche Landkreistag.
Und ich fordere Sie auf, zum Ende Ihrer Rede zu
kommen.
Ja, Frau Präsidentin, ich komme sofort zum letzten
Satz. – Hören Sie im Interesse der Betroffenen auf die-
sen guten Ratschlag!
Danke schön.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das passiert nicht sooft, ist aber, glaube ich, ein gutes Signal. Ich gebe dasvon den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelteErgebnis der namentlichen Abstimmung über denEntwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Arbeit-nehmer-Entsendegesetzes bekannt: abgegebene Stim-men 577. Mit Ja haben gestimmt 577 Kolleginnen undKollegen.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 577;davonja: 577JaCDU/CSUStephan AlbaniKatrin AlbsteigerPeter AltmaierArtur AuernhammerDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleJulia BartzGünter BaumannMaik BeermannManfred Behrens
Veronika BellmannSybille BenningDr. André BergheggerDr. Christoph BergnerUte BertramSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael Brand
Metadaten/Kopzeile:
2798 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Vizepräsidentin Claudia Roth
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Dr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexandra Dinges-DierigAlexander DobrindtMichael DonthThomas DörflingerMarie-Luise DöttHansjörg DurzJutta EckenbachDr. Bernd FabritiusHermann FärberUwe FeilerDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid Fischbach
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachThorsten FreiDr. Astrid FreudensteinDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Thomas GebhartAlois GerigEberhard GiengerCemile GiousoufJosef GöppelReinhard GrindelUrsula Groden-KranichHermann GröheKlaus-Dieter GröhlerMichael Grosse-BrömerAstrid GrotelüschenMarkus GrübelManfred GrundOliver GrundmannMonika GrüttersDr. Herlind GundelachFritz GüntzlerOlav GuttingChristian HaaseFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtMatthias HauerMark HauptmannDr. Stefan HeckDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilFrank Heinrich
Mark HelfrichUda HellerJörg HellmuthRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingPeter HintzeChristian HirteDr. Heribert HirteRobert HochbaumAlexander HoffmannKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampDr. Hendrik HoppenstedtMargaret HorbBettina HornhuesCharles M. HuberAnette HübingerHubert HüppeErich IrlstorferThomas JarzombekSylvia JörrißenAndreas JungXaver JungDr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KanitzAlois KarlAnja KarliczekBernhard KasterVolker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterDr. Georg KippelsVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenMarkus KoobCarsten KörberKordula KovacMichael KretschmerGunther KrichbaumRüdiger KruseBettina KudlaDr. Roy KühneGünter LachUwe LagoskyDr. Karl A. LamersAndreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeBarbara LanzingerDr. Silke LaunertPaul LehriederDr. Katja LeikertDr. Philipp LengsfeldDr. Andreas LenzPhilipp Graf LerchenfeldAntje LeziusIngbert LiebingMatthias LietzAndrea LindholzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsWilfried LorenzDr. Claudia Lücking-MichelDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigKarin MaagYvonne MagwasThomas MahlbergDr. Thomas de MaizièreGisela ManderlaMatern von MarschallHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Dr. Michael MeisterJan MetzlerMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtKarsten MöringMarlene MortlerElisabeth MotschmannCarsten Müller
Stefan Müller
Dr. Philipp MurmannDr. Andreas NickMichaela NollHelmut NowakDr. Georg NüßleinWilfried OellersFlorian OßnerDr. Tim OstermannHenning OtteIngrid PahlmannSylvia PantelMartin PatzeltDr. Martin PätzoldUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferRonald PofallaEckhard PolsThomas RachelKerstin RadomskiAlexander RadwanAlois RainerDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche
Lothar RiebsamenJosef RiefDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenErwin RüddelAlbert RupprechtAnita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleAndreas ScheuerKarl SchiewerlingJana SchimkeNorbert SchindlerTankred SchipanskiHeiko SchmelzleChristian Schmidt
Gabriele Schmidt
Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön
Dr. Ole SchröderDr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-DrüggelteDr. Klaus-Peter SchulzeUwe Schummer
Christina SchwarzerDetlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerTino SorgeJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelDr. Wolfgang StefingerAlbert StegemannPeter SteinErika SteinbachSebastian SteinekeJohannes SteinigerChristian Freiherr von StettenDieter StierRita StockhofeGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerMatthäus StreblKarin StrenzThomas StritzlThomas Strobl
Michael StübgenDr. Sabine Sütterlin-WaackDr. Peter TauberAntje TillmannAstrid Timmermann-FechterDr. Hans-Peter UhlDr. Volker UllrichArnold VaatzOswin VeithThomas ViesehonMichael VietzSven VolmeringChristel Voßbeck-KayserKees de VriesDr. Johann WadephulMarco WanderwitzKai WegnerAlbert WeilerMarcus Weinberg
Dr. Anja WeisgerberPeter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannMarian WendtKai WhittakerPeter WichtelAnnette Widmann-MauzHeinz Wiese
Klaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerOliver Wittke
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2799
Vizepräsidentin Claudia Roth
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Dagmar G. WöhrlBarbara WoltmannTobias ZechHeinrich ZertikEmmi ZeulnerDr. Matthias ZimmerGudrun ZollnerSPDNiels AnnenIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeike BaehrensUlrike BahrDr. Katarina BarleyDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelDr. Matthias BartkeSören BartolBärbel BasDirk BeckerUwe BeckmeyerLothar Binding
Burkhard BlienertWilli BraseDr. Karl-Heinz BrunnerEdelgard BulmahnMarco BülowMartin BurkertDr. Lars CastellucciPetra CroneBernhard DaldrupDr. Daniela De RidderDr. Karamba DiabyMartin DörmannElvira Drobinski-WeißSiegmund EhrmannMichaela Engelmeier-HeiteDr. h. c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerSaskia EskenKarin Evers-MeyerDr. Johannes FechnerDr. Fritz FelgentreuElke FernerDr. Ute Finckh-KrämerChristian FlisekGabriele FograscherDr. Edgar FrankeUlrich FreeseDagmar FreitagMichael GerdesMartin GersterIris GleickeUlrike GottschalckKerstin GrieseGabriele GronebergUli GrötschWolfgang GunkelBettina HagedornRita Hagl-KehlMetin HakverdiUlrich HampelSebastian HartmannMichael Hartmann
Dirk HeidenblutHubertus Heil
Gabriela HeinrichWolfgang HellmichHeidtrud HennGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Thomas HitschlerDr. Eva HöglMatthias IlgenChristina JantzJosip JuratovicThomas JurkOliver KaczmarekJohannes KahrsChristina KampmannRalf KapschackGabriele KatzmarekUlrich KelberMarina KermerCansel KiziltepeArno KlareLars KlingbeilDr. Bärbel KoflerDaniela KolbeBirgit KömpelAnette KrammeDr. Hans-Ulrich KrügerHelga Kühn-MengelChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerKirsten LühmannDr. Birgit Malecha-NissenCaren MarksKatja MastDr. Matthias MierschSusanne MittagBettina MüllerMichelle MünteferingAndrea NahlesUlli NissenMahmut Özdemir
Aydan ÖzoğuzMarkus PaschkeChristian PetryJeannine PflugradtDetlev PilgerSabine PoschmannFlorian PostAchim Post
Dr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeDr. Simone RaatzMartin RabanusMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannAndreas RimkusSönke RixDennis RohdeRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Susann RüthrichBernd RützelJohann SaathoffAnnette SawadeDr. Hans-JoachimSchabedothDr. Nina ScheerMarianne SchiederUdo SchiefnerDr. Dorothee SchlegelUlla Schmidt
Matthias Schmidt
Dagmar Schmidt
Carsten Schneider
Ursula SchulteSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeStefan SchwartzeAndreas SchwarzRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingRainer SpieringNorbert SpinrathSvenja StadlerMartina Stamm-FibichSonja SteffenKerstin TackClaudia TausendMichael ThewsFranz ThönnesWolfgang TiefenseeCarsten TrägerRüdiger VeitUte VogtDirk VöpelGabi WeberBernd WestphalAndrea WickleinDirk WieseWaltraud Wolff
Gülistan YükselDagmar ZieglerStefan ZierkeDr. Jens ZimmermannManfred ZöllmerBrigitte ZypriesDIE LINKEJan van AkenMatthias W. BirkwaldEva Bulling-SchröterRoland ClausSevim DağdelenDr. Diether DehmKlaus ErnstDiana GolzeAnnette GrothDr. Gregor GysiDr. André HahnHeike HänselDr. Rosemarie HeinInge HögerAndrej HunkoSigrid HupachUlla JelpkeSusanna KarawanskijKerstin KassnerJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertSabine LeidigRalph LenkertStefan LiebichDr. Gesine LötzschThomas LutzeNiema MovassatDr. Alexander S. NeuThomas NordPetra PauHarald Petzold
Richard PitterleMartina RennerMichael SchlechtDr. Petra SitteKersten SteinkeDr. Kirsten TackmannAzize TankFrank TempelAlexander UlrichKathrin VoglerHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerBirgit WöllertJörn WunderlichHubertus ZdebelPia ZimmermannBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENLuise AmtsbergKerstin AndreaeAnnalena BaerbockMarieluise Beck
Volker Beck
Agnieszka BruggerEkin DeligözKatja DörnerKatharina DrögeHarald EbnerDr. Thomas GambkeMatthias GastelKai GehringAnja HajdukBritta HaßelmannBärbel HöhnDieter JanecekUwe KekeritzKatja KeulSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerStephan Kühn
Christian Kühn
Renate KünastMarkus KurthMonika LazarSteffi LemkeDr. Tobias LindnerNicole MaischPeter Meiwald
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2800 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Vizepräsidentin Claudia Roth
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Irene MihalicBeate Müller-GemmekeÖzcan MutluDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffCem ÖzdemirLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Corinna RüfferManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergUlle SchauwsDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtKordula Schulz-AscheDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeMarkus TresselDr. Julia VerlindenDoris WagnerBeate Walter-RosenheimerDr. Valerie Wilms
Das ist nicht nur ein guter Tag für die Fleischindustrie,wie manche gesagt haben, oder für die Verbraucherinnenund Verbraucher, sondern auch für das Parlament, das indieser Frage eine solche Mehrheit zustande gebracht hat.Vielen Dank.Nächste Rednerin in der laufenden Debatte istChristel Voßbeck-Kayser für die CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Nun darf ich hier und heute zum zweiten Mal zu Ihnensprechen, wieder zu einem Antrag der Fraktion DieLinke.
– Ich auch. – Heute Mittag war es das soziale Europa,das es zu verteidigen galt. Nun ist es das sozialeDeutschland, das es zu retten gilt. Kolleginnen und Kol-legen der Fraktion Die Linke, Ihre Anträge haben einzigund allein ein Ziel: sich hier vor der Europawahl wichtigzu machen.
Eigentlich sind wir uns doch einig darüber, dass inunserem deutschen Sozialstaat das Prinzip der Solidari-tät und der Subsidiarität gilt. Zwei Punkte möchte ichdazu festhalten. Erstens. Unsere Sozialgesetzgebung un-terliegt dem Prinzip des Förderns und des Forderns.Zweitens. Die Grundsicherung für Arbeitsuchende istein nachrangiges Fürsorgesystem.
Die Regelung des SGB II, über die wir nun sprechen,gilt seit dem 1. Januar 2005 und wurde bis heute mehr-fach überarbeitet und angepasst. Kolleginnen und Kolle-gen der Fraktion Die Linke, ich bin neu hier in diesemHause.
Aber ich weiß trotzdem, dass an der Vereinfachung vonRechtsvorschriften im SGB II bereits seit der letzten Le-gislaturperiode eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe arbei-tet.
Die Akteure, die hier neben Bund und Ländern tätigsind, sind die Bundesagentur für Arbeit, die kommuna-len Spitzenverbände sowie der Deutsche Verein für öf-fentliche und private Fürsorge. Zusätzlich gehören Ver-treter des Bundessozialgerichts und weitere Experten ausWissenschaft und Praxis dazu. Diese Arbeitsgruppe ar-beitet auf rein fachlicher Basis. Für mich ist das so, alswenn Sie, Kolleginnen und Kollegen der Fraktion DieLinke, mit Ihrem Antrag die laufende Arbeit dieserBund-Länder-Arbeitsgruppe torpedieren. Sie versagen inmeinen Augen damit den Beteiligten dieser Gruppe An-erkennung und Wertschätzung für ihre Tätigkeit.
Ich glaube, uns allen hier ist bewusst, dass unser Le-ben einem stetigen Prozess gesellschaftlicher Verände-rungen unterliegt. Die demografische Entwicklung unddie Einführung neuer Technologien gehen einher mitVeränderungen in der Arbeitswelt und in unseren Le-benswirklichkeiten.
Deshalb müssen und werden wir darüber nachdenken,wie wir diese Strukturen neu gestalten und anpassen, da-mit sie den zukünftigen Anforderungen gerecht werdenkönnen.
Zum politischen Selbstverständnis meiner Partei ge-hört es, sich für die Belange von sozial Schwachen undsozial Benachteiligten einzusetzen. Deshalb nehmen wirdie Diskussionsbeiträge und die Anregungen dieserBund-Länder-Gruppe sehr ernst. Ich darf Ihnen hier ei-nes versichern: Unser Ansatz ist es, Lösungen zu erar-beiten, die von einer breiten Mehrheit getragen werden.Ich kann Ihnen weiter versichern, dass diese Koalition,CDU, CSU und SPD, stark genug ist, um Sachverhaltewie diesen mit dem richtigen Augenmerk zu klären.
Die CDU gilt – auch das darf ich Ihnen versichern –in ihrer Arbeitsweise als sorgfältig. Wir erlauben uns beieinem so wichtigen Thema keine Schnellschüsse. Wirwägen die verschiedenen Gesichtspunkte sorgfältig ab.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2801
Christel Voßbeck-Kayser
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Deshalb kann ich nur sagen: Diesen Antrag lehnen wirhier und heute ab.
Vielen Dank, Frau Kollegin.
Ich habe vor lauter Freude über die Einstimmigkeit
bei der namentlichen Abstimmung über den Entwurf ei-
nes Ersten Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmer-
Entsendegesetzes einen formalen Akt vergessen. Also:
Zur Annahme des Gesetzentwurfs ist gemäß Artikel 87
Absatz 3 Grundgesetz die absolute Mehrheit – das sind
316 Ja-Stimmen – erforderlich. Der Gesetzentwurf hat
die erforderliche Mehrheit erreicht und ist damit ange-
nommen.
Nächster Redner: Markus Kurth für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Geschichte des Sozialgesetzbuchs II ab 2006, alsoab der vergangenen Großen Koalition bis heute, ist lei-der auch eine Geschichte fortgesetzter Diskriminierung.Es ist eine Geschichte der Diskriminierung von Leis-tungsbeziehenden in verschiedenen Bereichen: So hatSchwarz-Gelb in der vergangenen Legislaturperiodezum Beispiel beim Thema Regelsatz mal eben beschlos-sen, dass Ausgaben von Arbeitslosengeld-II-Beziehen-den für Alkohol nicht vorzukommen haben.
Eine weitere Diskriminierung bedeutet die Einführungdes Bildungs- und Teilhabepakets als Sachleistung we-gen der Unterstellung, dass Eltern das Geld eher vertrin-ken und verrauchen, als es bei ihren Kindern ankommenzu lassen.
Eine Diskriminierung gibt es auch jetzt bei der Einfüh-rung der abschlagsfreien Rente mit 63, bei der Zeiten derLangzeitarbeitslosigkeit nicht angerechnet werden.Eine weitere Diskriminierung erfolgt bei den Renten-ansprüchen. Wir erinnern uns: Im Jahr 2007 hat die da-malige Große Koalition die Rentenansprüche für SGB-II-Beziehende locker um die Hälfte mit der Begründunggekürzt, sie seien ohnehin so niedrig. Dann hat Schwarz-Gelb nachgesetzt und das Ganze auf null gebracht. Dasist der Hintergrund, vor dem wir die ebenfalls 2007 vonder damaligen Großen Koalition eingeführte Zwangs-rente bewerten müssen. Der Bezug von Arbeitslosen-geld II bedeutet mit Blick auf die Rentenanwartschaftenwegen der jetzt gar nicht mehr gezahlten Beiträge ohne-hin schon einen erheblichen Einbruch und in den meis-ten Fällen ein erhebliches Absenken der zu erwartendenRente.In dieser Situation kommt nun zusätzlich die vomKollegen Birkwald zutreffend und mit dem Beispiel, wieich finde, auch eindrucksvoll beschriebene Zwangsver-rentung, die dazu führen kann, dass die Person im Altervon 63 in die Sozialhilfe rutscht. Ich finde, dieser Aspektist in dem vorliegenden Antrag gut herausgearbeitetworden. Es wird gezeigt, was das für die geschütztenVermögenswerte und damit für die Altersvorsorge be-deutet.
Mit der Einführung des Sozialgesetzbuches II wurdenbesondere Schonbeträge für die private Altersvorsorge,für Lebensversicherungen eingeführt, für die Riester-Rente sowieso. Diese Beträge müssen vom 63. bis zum67. Lebensjahr eingesetzt werden. Das heißt, der vomGesetzgeber damit ursprünglich verbundene Sinn wirdhier ad absurdum geführt, und das ist ein Skandal.
Ich kann Sie wirklich nur auffordern, diese 2007 getrof-fene diskriminierende Regelung endlich abzuschaffenund auch die anderen diskriminierenden Punkte im So-zialgesetzbuch II anzugehen.Ich habe eben vergessen, aufzuzählen, dass auch beimRechtsschutz Diskriminierung vorhanden ist. In allenanderen Bereichen der Sozialversicherung gilt, wennBescheide fehlerhaft sind und von einem Gericht aufge-hoben worden sind, eine Rückwirkung von vier Jahren;für vier Jahre müssen die zu Unrecht vorenthaltenenLeistungen nachgezahlt werden. Beim SGB II haben Sie– das war auch Schwarz-Gelb – diese Rückwirkungsfristeinfach mal auf ein Jahr verkürzt. Ich finde in der Ge-samtschau – davon ist die Zwangsverrentung ein Be-standteil –: Hier werden sozialleistungsbeziehende Men-schen von Ihnen tatsächlich zu Menschen zweiter Klassegemacht.
Das sollten Sie jetzt wirklich nicht fortsetzen.
Ich frage mich auch, wie das mit der von Ihnen ge-planten sogenannten abschlagsfreien Rente mit 63 undmit dem zumindest verbal vor sich hergetragenen Credozusammenpasst, dass man die Menschen länger im Ar-beitsleben halten will. Fakt ist doch, dass man noch nichteinmal ab dem 63., sondern schon ab dem 60. Lebens-jahr oder mit Ende 50 vom Jobcenter im Grunde genom-men keine wirklich tragfähigen Angebote mehr erhält,um in den ersten Arbeitsmarkt zurückzufinden.
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2802 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Markus Kurth
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Man darf an dieser Stelle nicht kürzen, sondern manmuss investieren, auch in ältere Beschäftigte, um Akzep-tanz und Vertrauen herzustellen.
Vor diesem Hintergrund ist dieser Antrag, der sich,wie ich finde, im Unterschied zu manchen anderen An-trägen der Fraktion Die Linke argumentativ sehr klar aufdiesen Sachverhalt konzentriert – das ist wohltuend –,einer, den wir im Ausschuss wirklich gründlich erörternsollten. Sie sollten – egal von welcher Fraktion der An-trag nun kommt – wirklich noch einmal in sich gehen,damit wir diese Praxis endlich beenden können.Vielen Dank.
Vielen Dank, Markus Kurth. – Nächster Redner in der
Debatte: Markus Paschke für die SPD.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! DasWesentliche, das, was hängen bleibt, ist bekanntlich derAnfang und das Ende einer Rede. Deswegen lassen Siemich gleich zu Beginn festhalten: Menschen vorzeitig inRente zu schicken, widerspricht klar den Zielen dieserBundesregierung, wie Sie aus vielen Beiträgen der CDU,der CSU und der SPD wissen.
Im Gegenteil: Wir wollen, dass ältere Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer genauso ihre Chance aufdem Arbeitsmarkt haben wie die jüngeren Kolleginnenund Kollegen; das ist das Ziel der Bundesregierung. Da-für ist es notwendig, dass wir in den Betrieben Voraus-setzungen für altersgerechte Arbeitsplätze schaffen. Da-für ist es aber auch notwendig, dass die Arbeitgebernicht nur über den Mangel an Fachkräften reden; viel-mehr müssen sie den erfahrenen Fachkräften auch wirk-lich eine Chance geben,
auch wenn sie Ende 50, Anfang 60 sind.Es ist in den letzten Jahren schon einiges in Bewe-gung geraten; aber die Zahlen zeigen: Da ist noch vielLuft nach oben. Hier sind die Arbeitgeber klar in derVerantwortung. Ältere Arbeitnehmer sind keine Bürdeund auch keine unternehmerische Belastung. Im Gegen-teil, mit ihrer Erfahrung sind sie ein Gewinn für das Un-ternehmen. Wir brauchen endlich ein Umdenken in un-serer Gesellschaft,
ein Umdenken dahin, dass man die Leistungsfähigkeitnicht am Alter festmacht, sondern den Menschen mitseinen individuellen Fähigkeiten in den Mittelpunktstellt.
Die Beschäftigungssituation älterer Menschen istnach wie vor unbefriedigend; denn weniger als ein Drit-tel der 60- bis 65-Jährigen geht einer sozialversiche-rungspflichtigen Beschäftigung nach. An dieser Stellesollten wir uns vielleicht noch einmal klarmachen: Überwen reden wir hier? Wir reden über ganz viele unter-schiedliche Menschen mit unterschiedlichen Lebensläu-fen.Wir reden auf der einen Seite über ältere Arbeitneh-mer, die vielleicht 30 oder 35 Jahre in einem Betrieb ge-arbeitet haben und dann mit Ende 50 durch eine Insol-venz unverschuldet arbeitslos wurden. Häufig sind dasFachkräfte, die allein aufgrund ihres Alters oder weil siein einer Branche gearbeitet haben, die überproportionalstark vom Strukturwandel betroffen war, keine Chancemehr auf dem Arbeitsmarkt erhalten haben. Spätestensnach 24 Monaten erhielten sie dann Arbeitslosengeld II.Viele von ihnen haben sich einen Rentenanspruch erar-beitet, der über der Grundsicherung liegt, wenn sie dieRente ohne Abschläge beziehen können.Es gibt aber auf der anderen Seite auch Menschen, fürdie es keine finanziellen Nachteile bringt, wenn sie vor-zeitig in Rente gehen. Ich kenne mehrere Betroffene, dieaufgrund von Krankheit, Unfällen oder anderen ein-schneidenden Lebensereignissen unregelmäßige Er-werbsbiografien hatten oder die mit niedrigsten Löhnenvorliebnehmen mussten. Deren Rente wird sie niemalsunabhängig von der Grundsicherung im Alter machen.
Viele von ihnen sind froh, wenn sie sich nicht mehr denRegeln der Jobcenter unterwerfen müssen und in Rentegehen können.
Ich habe den Kontakt zu den Menschen, und ich redeständig mit den Menschen. Deswegen kann ich Ihnen sa-gen: Auch das und nicht nur die Variante, die Sie, HerrBirkwald, beschrieben haben, wird an mich herangetra-gen.Aber neben den beiden Beispielen, die ich gebrachthabe, gibt es – dazwischen, rechts und links, oben undunten – ganz viele andere Einzelschicksale. Was wirnicht wollen, ist, eine Ungerechtigkeit zu beseitigen undneue Ungerechtigkeiten zu schaffen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2803
Markus Paschke
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Deshalb ist Eile, wie in Ihrem Antrag gefordert, nachmeiner Ansicht völlig fehl am Platze.Lassen Sie mich an dieser Stelle einige Anmerkungenzu dem vorliegenden Antrag machen. Seit Anfang 2008– das haben Sie richtig festgestellt – können Arbeitslo-sengeld-II-Bezieherinnen und -Bezieher, die das 63. Le-bensjahr erreicht haben, vom Jobcenter aufgefordertwerden, einen Rentenantrag zu stellen. Tun sie dies trotzmehrfacher Aufforderung nicht, so ist das Jobcenter be-rechtigt, den Antrag selbst zu stellen. – Bis hierhin fasstIhr Antrag, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Lin-ken, den Sachstand nach § 12 a SGB II korrekt zusam-men.Allerdings verschweigen Sie in diesem Zusammen-hang auch Maßgebliches. Die Grundsicherung für Ar-beitsuchende ist ein sogenanntes nachrangiges Fürsorge-system. Hilfe bekommt, wer hilfebedürftig ist. Das ist,glaube ich, vom Grundsatz her auch richtig. Hilfebedürf-tig ist, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht aus-reichend selbst sichern kann. Zur Sicherung des Lebens-unterhalts werden daher vorrangig eigenes Einkommenoder Vermögen herangezogen. Das beinhaltet grundsätz-lich natürlich die Verpflichtung, mögliches Einkommenauch zu erzielen. Dazu gehören Versicherungsleistungenwie zum Beispiel die Rente. – Das ist erst einmal derGrundsatz.Meine Damen und Herren, Sie wissen: Von jedemGrundsatz gibt es Ausnahmen. Es gibt auch Ausnahmenvom Grundsatz der Nachrangigkeit dieser Fürsorgeleis-tung. In § 12 a steht noch viel mehr, und das verschwei-gen Sie in Ihrem Antrag leider auch. Die Ausnahmenlauten, erstens, dass niemand vor dem 63. Lebensjahrgezwungen werden kann, vorzeitig Rente zu beantragen,
zweitens, dass auch derjenige, der arbeitet und aufsto-ckende Leistungen bezieht, keine Rente beantragenmuss.
Drittens gilt das auch für diejenigen, die innerhalb dernächsten Monate eine abschlagsfreie Rente beziehenkönnen. Auch die werden nicht aufgefordert, vorzeitigRente zu beantragen.
Viertens. Auch diejenigen, die glaubhaft machen kön-nen, dass sie demnächst ein Beschäftigungsverhältnisaufnehmen, müssen nicht in Rente gehen. Das alles rela-tiviert die Zahl 65 000,
die Sie genannt haben und die ich aus meiner Erfahrung– ich war Mitglied im Beirat eines Jobcenters – auchgrundsätzlich bezweifle; denn so viele Fälle dieser Artgab es da nicht. In den meisten Fällen – so kenne ich dasaus dem Jobcenter, bei dem ich im Beirat war – erfolgtendiese Aufforderungen nach Absprache mit den Betroffe-nen.
Diese Ausnahmen – das sage ich auch – stellen zumTeil sicher, dass keine wahllose und unzumutbare Ver-schiebung von einer Sozialleistung in die andere stattfin-det. Ich sage ganz bewusst: zum Teil. Denn natürlichmuss man an dieser Stelle – da haben Sie recht – genauhinschauen. Derzeit wird bei den Aufforderungen derJobcenter, Rente zu beantragen, zum Beispiel nicht dieHöhe des Rentenanspruchs – die Höhe der Abzüge – be-rücksichtigt, der dadurch entstehen würde. Auch persön-liche Lebenslagen bleiben unberücksichtigt.Das alles kann zur Folge haben, dass Betroffene auf-grund der Rentenabschläge bei vorzeitigem Rentenbe-zug dauerhaft auf Fürsorgeleistungen angewiesen sind.Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, das ist wirklich ein Problem.
Denn es ist weder im Sinne der Betroffenen noch imSinne des Staates, wenn hier eine Bedürftigkeit neu ge-schaffen wird – und diese dann auch noch im wahrstenSinne des Wortes lebenslang. Bis zum Erreichen der Al-tersgrenze – das haben Sie richtig dargestellt – bestündeAnspruch auf Sozialhilfe und danach auf Grundsiche-rung im Alter. Diese Gefahr gilt es zu bannen. Ichglaube, wir sind uns in der Regierungskoalition einig,dass wir da konstruktiv an Lösungen arbeiten werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, hier muss mit Au-genmaß und Präzision gearbeitet werden. Wir wollennicht – ich sagte es bereits – eine Ungerechtigkeit besei-tigen und zehn neue schaffen. Es gibt viele Dinge, die indiesem Zusammenhang abzuwägen sind. Viele unter-schiedliche Lebensverläufe sind zu berücksichtigen.Aber das Ziel ist klar: Wir wollen, dass möglichst we-nige Menschen von Transferleistungen abhängig sind.Das ist im Interesse der betroffenen Menschen, und dasist auch im Interesse der Steuerzahlerinnen und Steuer-zahler.
Deshalb arbeitet diese Bundesregierung auch aktiv anLösungen auf vielen Ebenen. Deshalb haben wir dasRentenpaket mit der Möglichkeit auf den Weg gebracht,ab 63 abschlagsfrei in Rente zu gehen.
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2804 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Markus Paschke
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Das wird nicht allen, aber vielen Betroffenen helfen, Ab-schläge von ihrer Rente zu vermeiden.
Herr Kollege Paschke, erlauben Sie eine Zwischen-
frage oder Bemerkung von Herrn Birkwald?
Aber gerne.
Gut.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Vielen Dank, Herr
Kollege, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie ha-
ben eben die Rente ab 63 und das Rentenpaket angespro-
chen. Ich gehe davon aus, dass Sie die Unbilligkeitsver-
ordnung kennen, in der Situationen benannt werden,
wann der betreffende Paragraf nicht angewandt werden
darf. Inhaltlich haben Sie schon ein paar genannt.
Sie haben eben auch schon erwähnt, dass, wenn je-
mand eine abschlagsfreie Rente in Aussicht hat, die
Zwangsverrentungsregelung nicht gilt. So weit, so gut.
Wenn die Rente ab 63, wie sie im Entwurf des Rentenpa-
kets bisher vorgesehen ist, kommt, wird in Zukunft je-
mand, der 1954 geboren ist – er kann dann nämlich im
Alter von 63 Jahren und vier Monaten abschlagsfrei in
Rente gehen –, wegen eines Monats, den sie oder er
nicht schafft, in die Zwangsverrentung geschickt wer-
den.
Ich weiß nicht, ob Ihnen das bewusst ist. Die Ab-
schläge betragen dann übrigens schon 9,6 Prozent – und
das auch ein ganzes Leben lang. Dieses Beispiel, das ich
jetzt angeführt habe, gilt für den Jahrgang ’54, gleicher-
maßen aber auch für andere Jahrgänge. Deswegen sage
ich: Nehmen Sie den Namen der Unbilligkeitsverord-
nung ernst. Diese Zwangsverrentung ist unbillig.
Schaffen Sie sie einfach ab! Ich kann nicht erkennen,
wo Sie neue Ungerechtigkeiten schaffen, wenn die Er-
werbslosen, die arbeiten wollen, so lange Arbeitslosen-
geld – in dem Fall dann Arbeitslosengeld II – bekommen
statt der Rente, wie sie es für sich entscheiden. Lassen
Sie den Menschen ihr Selbstbestimmungsrecht, damit
sie selber entscheiden können, wann sie in die Rente ge-
hen wollen und wann nicht! Sagen Sie mir einen Grund,
der dagegen spräche!
Danke schön.
Herr Birkwald, ich habe schon in meinem Beitrag
deutlich gemacht, dass wir das Problem durchaus sehen.
Ich hatte gerade angefangen, einige Punkte aufzuzählen
– der erste war die Rente mit 63; ich werde gleich noch
einige mehr erwähnen –, die zeigen sollen, wo wir das
Thema anpacken. Die Rente mit 63 wird für viele der
Betroffenen dazu führen, dass sie keine abschlagsfreie
Rente bekommen. Ich habe in meinem Beitrag gesagt,
dass ich ganz optimistisch bin – das hat Frau Voßbeck-
Kayser ja auch schon gesagt –, dass wir eine gute Rege-
lung finden werden, die alle diese Dinge berücksichtigt.
Ich bin aber nicht dafür, dass wir das so, wie in Ihrem
Antrag, hopplahopp machen, sondern ich glaube, wir
sollten schon präzise und gut arbeiten. Sie können uns
vertrauen. Wir kriegen da schon etwas hin.
Ich hatte gerade angefangen, an einem Beispiel zu
erläutern, was wir tun, um die Situation der Menschen zu
verbessern. Das war die Möglichkeit, mit 63 abschlags-
frei in Rente zu gehen. Aber das ist ja nicht alles. Wir
haben erhebliche Verbesserungen bei der Erwerbsminde-
rungsrente auf den Weg gebracht. Wir führen den Min-
destlohn ein und erleichtern die Allgemeinverbindlich-
keit von Tarifverträgen.
Wir werden den Missbrauch bei Leiharbeit und Werk-
verträgen bekämpfen.
Wir werden ein Gesetz für eine solidarische Lebensleis-
tungsrente auf den Weg bringen. Sie sehen: Wir haben
schon viel auf den Weg gebracht, und wir haben auch
noch vieles vor, viele Schritte zu mehr Gerechtigkeit und
zu einer echten Perspektive für viele Menschen. Deshalb
sage ich: An dieser Stelle ist Eile völlig fehl am Platze.
Um eine verlässliche und nachhaltige Regelung zu erar-
beiten, braucht es Besonnenheit und ein verantwortungs-
volles Vorgehen.
Und das Ende Ihrer Rede.
Ich komme jetzt zum Schluss. Erst denken, dann han-deln und reden, das haben mir meine Eltern beigebracht,ein Satz, der, glaube ich, in allen politischen Zusammen-hängen seine Gültigkeit hat. In diesem Sinne – davon binich überzeugt – werden wir gemeinsam mit unseremKoalitionspartner eine vernünftige Regelung finden, wiewir zukünftig Ungerechtigkeiten vermeiden.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2805
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Danke, Herr Kollege. – Nächste Rednerin ist Jutta
Eckenbach für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Die Beschäftigungssituation älterer Menschenhat sich in den letzten Jahren in der BundesrepublikDeutschland deutlich verbessert. Sowohl der Fachkräfte-mangel als auch die gute Konjunkturlage fördern diegute Entwicklung. All das haben wir auch schon zumJahreswirtschaftsbericht gehört. Ich möchte es an dieserStelle aber gerne noch einmal unterstreichen.Die Arbeitslosigkeit bei den unter 50-Jährigen istgesunken, die Beschäftigungsquote ist gestiegen. DieArbeitslosenquote bei den über 55-Jährigen ist in denletzten zehn Jahren um 10 Prozent zurückgegangen. Dasist gut, wenn auch im Vergleich – das haben die Vorred-ner ja schon ausgeführt – mit dem allgemeinen Rück-gang etwas geringer. Die Erwerbsbeteiligung steigt seitJahren an. Zwischen 2002 und 2012 ist die Quote beiden 55- bis 59-Jährigen um gut die Hälfte gestiegen. Beiden 60- bis 64-Jährigen hat sich die Quote seit 2002 auf49,6 Prozent fast verdoppelt. Besonders möchte ich hierhervorheben, dass der Anteil der Frauen in diesem Fallstetig gestiegen ist. – Das sind für mich gute Entwick-lungen. Aber solange die tatsächliche Beschäftigungs-quote Älterer immer noch deutlich niedriger liegt als dieallgemeine Gesamtquote, können wir natürlich nochnicht zufrieden sein.Noch ist die Lage auf dem Arbeitsmarkt leider nichtso, dass ältere Beschäftigte schnell wieder eine neueBeschäftigung finden. Ältere haben zwar ein geringeresRisiko, arbeitslos zu werden. Aber sie haben auchschlechtere Chancen als Jüngere, wieder in Beschäfti-gung zu kommen. Da es leider immer noch knapp 1 Mil-lion Ältere in Deutschland gibt, die arbeitslos sind, ha-ben wir im Koalitionsvertrag festgehalten:Die Erwerbstätigen- und die Beschäftigungsquoteder über 50-Jährigen steigt seit einem Jahrzehntkontinuierlich an. Deutschland ist bei der Beschäf-tigung Älterer mittlerweile Vizeeuropameisterhinter Schweden. Diese Erfolgsgeschichte dersteigenden Beteiligung Älterer am Erwerbslebenwollen wir fortschreiben. Unser Ziel ist einemoderne und wettbewerbsfähige Gesellschaft deslangen Lebens und Arbeitens.Wir müssen also noch intensiver bei Unternehmen wer-ben – das hat der Kollege Paschke gerade gesagt – undauch weiterhin sinnvolle, öffentlich geförderte Unter-stützung leisten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregie-rung hat dafür bereits 2007 richtige Maßnahmen auf denWeg gebracht. Das Ziel war und ist, die berufliche Wie-dereingliederung und Integration älterer Arbeitnehmerzu verbessern. Das ist uns auch gelungen. Beispielhaftnenne ich hier die Eingliederungszuschüsse im SGB III,also den Zuschuss zum Arbeitsentgelt. Das ist unsererMeinung nach ein wirklich gutes Instrument, das wir mitder Instrumentenreform 2012 noch zielgenauer und ef-fektiver gestaltet haben. Für ältere Arbeitnehmer ab dem50. Lebensjahr haben wir die Förderdauer auf bis zu36 Monate verlängert. Auch für die behinderten Men-schen in diesem Land haben wir deutliche Verbesserun-gen erreicht. Darüber hinaus brauchen wir natürlich auchweiterhin spezielle Förderprogramme. Hier nenne ich alsBeispiel das Programm „Perspektive 50plus“, das imJahre 2015 ausläuft. Damit konnten etliche langzeitar-beitslose Frauen und Männer zwischen 50 und 64 Jahrenwieder in den allgemeinen Arbeitsmarkt zurückfinden.Insgesamt sind wir mit all unseren Maßnahmen, denaktuellen und denjenigen, die wir neu entwickelnwerden, auf dem richtigen Weg. Unser Ziel ist es, ältereArbeitnehmer nicht in die Rente zu führen, sondern inden ersten Arbeitsmarkt zu bringen.
Aus diesem Grund haben wir 2008 die auslaufende 58er-Regelung ersetzt. Ich brauche an dieser Stelle nichtsdazu zu sagen; denn das wurde heute schon in einigenReden erwähnt.Auf einen Punkt möchte ich aber gerne noch einge-hen. Die Linken sprechen immer wieder von Zwangs-verrentung.
Das ist ein vollkommen irreführender Begriff. Sie unter-stellen damit eine absichtliche Benachteiligung.
Das ist es aber nicht.
Man muss unterscheiden zwischen persönlich erworbe-nen Ansprüchen, beispielsweise in der Rentenversiche-rung, und Leistungen der Allgemeinheit bei Hilfebedürf-tigkeit, zum Beispiel nach dem SGB II. Bei derSozialhilfe – damit komme ich zum Schluss –, die einenachrangige Hilfe ist, wird es mit uns keine Veränderunggeben.
Wir müssen an dieser Stelle beachten, dass die beidenSysteme unterschiedlich finanziert werden. Man kannaus ideologischen Gründen eine andere Meinung dazuhaben. Aber unsere Haltung in dieser Frage ist seitvielen Jahren ganz klar.Ich danke Ihnen recht herzlich für Ihre Aufmerksam-keit.
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2806 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
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Danke, Frau Kollegin. – Letzte Rednerin in dieser
Debatte ist Dr. Astrid Freudenstein für die CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei dem
Antrag der Fraktion Die Linke scheint es sich auf den
ersten Blick um eine sozialrechtliche Feinheit zu han-
deln. Doch der Antrag betrifft der Logik nach die Idee
unseres Sozialstaats im Kern; denn das, was hier zur
Debatte steht, ist das Prinzip der Subsidiarität. Dieses
Prinzip setzt auf Selbstbestimmung und die Entfaltung
individueller Fähigkeiten,
und – das ist nicht davon zu trennen – es betont die
Selbstverantwortung. Genau das unterscheidet unseren
freiheitlichen Sozialstaat auch von einem sozialistischen
Staat, der ja nur den Staat kennt.
Während nach Ihren Vorstellungen alle in ein soziales
Netz fallen, werden die Menschen in unserem heutigen
modernen Sozialstaat von vielen kleinen Netzen auf-
gefangen. Das macht unseren Sozialstaat konjunktur-
unabhängiger, stabiler und krisenfester.
Unser Staat hilft, wenn Hilfe nottut, und zwar nach
dem Prinzip „Hilfe zur Selbsthilfe“. Ich sage das, damit
klar wird, warum Ihr Antrag der Logik unseres Sozial-
staates widerspricht und deshalb nicht zu befürworten
ist. Das gerade erklärte Subsidiaritätsprinzip bedeutet
nämlich für Ihr konkretes Anliegen Folgendes – da
müssen Sie durch, Herr Birkwald; Sie waren auf unsere
Antworten gespannt, deswegen hören Sie es jetzt leider
zum wiederholten Mal –:
Die Grundsicherung für Arbeitsuchende, um die es hier
geht, ist ein nachrangiges Fürsorgesystem. Es greift nur,
wenn Menschen hilfebedürftig sind.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
Bemerkung von Herrn Markus Kurth?
Ja, bitte.
Gut.
Frau Dr. Freudenstein, haben Sie schon einmal zur
Kenntnis genommen, dass es auch in einem subsidiären
Sozialhilfesystem durchaus begründete und plausible
Ausnahmen vom Nachrangigkeitsgrundsatz geben kann?
Wenn man zum Beispiel eine Entschädigung aufgrund
einer erlittenen Körperverletzung oder eines Unfalls er-
hält, dann wird das nicht angerechnet. Wenn man zum
Beispiel Blindengeld erhält oder einen Nachteilsaus-
gleich bekommt, gibt es auch eine Ausnahme vom
Nachrangigkeitsgrundsatz.
Es wäre ein Leichtes, für diesen speziellen Fall des
Rentenbezugs ebenfalls eine Ausnahme vom Nach-
rangigkeitsgrundsatz in das Gesetz aufzunehmen, ohne
deswegen den Grundgedanken der Subsidiarität auszu-
höhlen und ohne die Logik des Sozialrechtssystems nach
SGB II zu zerstören. Es ist außerdem nicht ein System
der Sozialhilfe. Das Arbeitslosengeld II dient gerade
dazu, die Menschen wieder in Arbeit zu bringen. Inso-
fern ist es etwas anderes als das SGB XII.
Wollen Sie nicht zugeben, dass es sehr wohl begründete
Ausnahmen vom Nachrangigkeitsgrundsatz geben kann?
Ich nehme das Subsidiaritätsprinzip zur Kenntnis,ziehe aber ganz offensichtlich andere Schlüsse daraus alsSie. Auch bei diesem System, über das wir heute reden,gibt es Ausnahmen. Über die haben wir gerade gespro-chen. Sie sind gut begründet und auch richtig.
Wenn ein Bürger, der als Hilfebedürftiger Leistungennach SGB II bezieht, nun die Möglichkeit hat, eineselbst erworbene Altersrente zu beziehen und sich so denLebensunterhalt durch ein vorrangiges Prinzip der sozia-len Sicherung finanzieren kann, dann ist auch eine Ver-pflichtung dazu richtig und in unserem Sinne.
– In unserem schon.
Diese Verpflichtung zur Altersrente ist jedoch nichtso schlicht konstruiert, wie Sie es darstellen. Es gibtdurchaus Ausnahmen. So sind Leistungsberechtigte, dieeiner Erwerbstätigkeit nachgehen und das Arbeitslosen-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2807
Dr. Astrid Freudenstein
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geld II nur zusätzlich beziehen, die Aufstocker, nicht zudieser vorzeitigen Altersrente verpflichtet. Ausgenom-men sind auch Arbeitslose, die innerhalb der nächstenMonate eine abschlagsfreie Rente beziehen können.Auch die, die in naher Zukunft eine Erwerbstätigkeitaufnehmen werden, fallen nicht unter die Regelungen.Damit stellen wir sicher, dass Erwerbstätige nicht vor-zeitig aus dem Arbeitsmarkt gedrängt werden.Doch zurück zu Ihrem Antrag. Sie packen das Pro-blem nicht an der Wurzel an. Das Problem ist nämlich,dass die Menschen Arbeit brauchen und dies der einzigeAnsatz ist, womit man den Menschen wirklich helfenkann. Genau dort wollen wir ansetzen. Die Bekämpfungder Langzeitarbeitslosigkeit steht ganz oben auf derAgenda der Großen Koalition. Uns liegt daran, dass dieMenschen die Hilfebedürftigkeit aus eigener Kraft hintersich lassen können.
Wir wollen den Menschen wieder eine echte Perspektivegeben.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/589 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Interfraktionell ist vereinbart, wie bereits angekün-
digt, den Tagesordnungspunkt 11 und den Zusatzpunkt 8
zu tauschen. Wir werden jetzt also über Tagesordnungs-
punkt 11 – da geht es um die Transparenz bei Rüstungs-
exportentscheidungen – beraten. Der an dieser Stelle
vorgesehene Zusatzpunkt 8 wird im Anschluss an den
Tagesordnungspunkt 11 aufgerufen. – Auch dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 sowie die Zu-
satzpunkte 9 und 10 auf:
11 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Mehr Transparenz bei Rüstungsexportent-
scheidungen sicherstellen
Drucksache 18/1334
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Wolfgang Gehrcke, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Für ein generelles Verbot des Exports von
Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern
Drucksache 18/1348
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnieszka
Brugger, Katja Keul, Dr. Frithjof Schmidt, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Echte Transparenz und parlamentarische Be-
teiligung bei Rüstungsexportentscheidungen
herstellen
Drucksache 18/1360
Ich kündige an, dass über den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen später namentlich abgestimmt
wird.
Nach interfraktioneller Vereinbarung sind für die
Aussprache 38 Minuten vorgesehen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Klaus-Peter
Willsch für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kollegen! Wir debattieren heute den An-trag der Koalition mit dem Titel „Mehr Transparenz beiRüstungsexportentscheidungen sicherstellen“. Bereits inunserem Koalitionsvertrag haben wir hierzu festgehal-ten:Bei Rüstungsexportentscheidungen in sogenannteDrittstaaten sind die im Jahr 2000 beschlossenenstrengen „Politischen Grundsätze für den Exportvon Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern“für unser Regierungshandeln verbindlich. Über ihreabschließenden Genehmigungsentscheidungen imBundessicherheitsrat wird die Bundesregierung denDeutschen Bundestag unverzüglich unterrichten.Die Entscheidung darüber, wem gegenüber die Un-terrichtung erfolgt, liegt beim Deutschen Bundes-tag. Darüber hinaus werden wir die Transparenzgegenüber Parlament und Öffentlichkeit durch Vor-lage des jährlichen Rüstungsexportberichtes nochvor der Sommerpause des Folgejahres und eines zu-sätzlichen Zwischenberichts verbessern.So weit der Koalitionsvertrag. – Heute liefern wir. Mitunserem Antrag wollen wir genau dies umsetzen. Erstvor einigen Wochen haben wir über den Rüstungsexport-bericht 2012 diskutiert – zugegebenermaßen etwas spät;aber Sie wissen, dass es durch die Bundestagswahl unddie Regierungsbildung zu einer Verzögerung kam. Daswollen wir in Zukunft zügiger machen.Der Rüstungsexportbericht soll zukünftig vor Beginnder parlamentarischen Sommerpause des Folgejahresveröffentlicht werden. Zusätzlich hat die Bundesregie-rung im Herbst eines jeden Jahres einen Zwischenberichtfür das erste Halbjahr des laufenden Jahres zu veröffent-lichen. Das macht die parlamentarische Nachkontrolledichter und erhöht die Transparenz.Darüber hinaus soll der Bundestag über abschlie-ßende Genehmigungsentscheidungen des Bundessicher-heitsrates unverzüglich, spätestens zwei Wochen nach
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2808 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Klaus-Peter Willsch
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Tagung des Bundessicherheitsrates, schriftlich unterrich-tet werden.
In dieser Unterrichtung sollen tabellarisch folgende In-formationen aufgelistet werden: die Art des Exportgutes,die Anzahl der genehmigten Güter und das Endempfän-gerland. Die Unterrichtung geht an den federführendenAusschuss für Wirtschaft und Energie. Dieser wiederumwird die Unterrichtung als Ausschussdrucksache anseine Mitglieder sowie an die mitberatenden Ausschüsseentsprechend der Ressortbesetzung des Bundessicher-heitsrates weiterleiten. Dazu zählen der Auswärtige Aus-schuss, der Innenausschuss, der Ausschuss für Recht undVerbraucherschutz, der Haushalts-, der Finanz- und derVerteidigungsausschuss sowie der Ausschuss für wirt-schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Es sollalso eine sehr breite und sehr frühe Information über einThema, das in der Öffentlichkeit nicht ganz einfach zuhandhaben ist, zur Verfügung gestellt werden, wobei wirimmer darauf achten müssen, dass wir die InteressenDeutschlands und die Firmeninteressen gleichermaßenwahren. Es gilt aber auch, die Interessen von Partnerlän-dern, die Gegenstand von Entscheidungen des Bundessi-cherheitsrates sind, zu wahren.Der gelegentlich genährten Vermutung, dass allesleichtfertig geschehe, will ich entgegnen, dass das ganzund gar nicht der Fall ist. Der Rüstungsexportpolitik lie-gen, wie schon genannt, die Politischen Grundsätze vom19. Januar 2000 zugrunde, damals unter Rot-Grün verab-schiedet. Jede Rüstungsexportentscheidung ist eine Ein-zelfallentscheidung. Gemäß dem Außenwirtschaftsge-setz und der Außenwirtschaftsverordnung ist dieAusfuhr aller Rüstungsgüter genehmigungspflichtig. DiePrüfung und die Genehmigung der Ausfuhr von Kriegs-waffen und sonstigen Rüstungsgütern obliegen demBundessicherheitsrat, dessen Zusammensetzung ich vor-hin schon angesprochen habe.Bei der Erteilung einer Ausfuhrgenehmigung handeltes sich also nicht um einen formellen Akt. Es gibt keinenAnspruch auf Erteilung einer Ausfuhrgenehmigung. Je-der Einzelfall wird im Lichte der zugrunde liegendenGesetze und Vereinbarungen geprüft: zum Ersten desGesetzes über die Kontrolle von Kriegswaffen, zumZweiten des Außenwirtschaftsgesetzes über Exporte vonKriegswaffen und sonstigen Wirtschaftsgütern, zumDritten des Verhaltenskodexes der Europäischen Unionfür Waffenausfuhren und der Prinzipien zur Regelungdes Transfers konventioneller Waffen der OSZE. Wirsind also in ein dichtes Geflecht gegenseitiger Verbind-lichkeiten und Verpflichtungen eingetreten und orientie-ren uns daran.
Eine herausragende Bedeutung für die Genehmigungvon Rüstungsgütern ist die Beachtung der Menschen-rechte im Empfängerland. Rüstungsexporte werdengrundsätzlich nicht genehmigt, wenn der hinreichendeVerdacht besteht, dass damit interne Repressionen odersonstige Menschenrechtsverletzungen ausgeübt werden.
Der Export an Nicht-EU-, Nicht-NATO-Staaten wird äu-ßerst restriktiv gehandhabt. Eine Genehmigung wird nurin Ausnahmefällen erteilt.Im Rahmen dieser restriktiven Genehmigungspraxisfür Drittländer können natürlich – und das ist notwendig –legitime Sicherheitsinteressen solcher Länder im Einzel-fall für die Genehmigung einer Ausfuhr sprechen. Dieskann insbesondere dann der Fall sein, wenn die jeweiligenSicherheitsinteressen auch international von Belang sind,beispielsweise bei der Abwehr terroristischer Bedrohun-gen oder der Bekämpfung des internationalen Drogen-handels. Gerade bei Marinegütern ist vor dem Export inDrittländer zu prüfen, ob ein Interesse der Staatenge-meinschaft an sicheren Seewegen vorliegt und ob eineeffektive Ausübung der jeweiligen Staatsgewalt in denKüstengewässern als wichtiger Aspekt angesehen wer-den kann. Gerade wir als Nation, die auf den Welthandelausgesprochen angewiesen ist und die davon profitiert,haben ein hohes Interesse daran, dass der Welthandelfunktioniert.Es gibt eine ganze Reihe von Waffenembargos; bei-spielsweise sind Waffenlieferungen nach Syrien ausge-schlossen. Aber es gibt auch nicht nachvollziehbare No-Gos. Dass Taiwan von uns keine Waffen bekommenkann, die USA aber gleichwohl dorthin liefern, ist schonfast absurd. Taiwan, der Leuchtturm der Demokratie imasiatischen Bereich, hätte das gleiche Schicksal ereiltwie andere Länder, zum Beispiel Tibet, wenn es nicht inder Lage gewesen wäre, sich zu verteidigen.Unsere Rüstungsexportpolitik hat auch in Betracht zuziehen, dass wir in diesem Bereich eine wettbewerbsfä-hige Industrie haben, die hervorragende Güter hervor-bringt, und dass wir mit unserer reduzierten Bundeswehrselbst nicht mehr für den nötigen Umsatz sorgen können.Auch viele Partnerländer innerhalb der NATO und derEU können nicht mehr die erforderlichen Beiträge fürdie Landesverteidigung aufbringen. Damit sind Märkteweggebrochen. Wir müssen uns auch darüber Gedankenmachen, wie wir unsere technologischen Fähigkeiten er-halten können, um in dieser Kernfunktion des Staatesnicht von Dritten abhängig zu sein.Schauen Sie sich die Lage in der Ukraine an, die wirmomentan alle mit Sorge und gespannter Aufmerksam-keit verfolgen. Sie hat bereits dazu geführt, dass Schwe-den angekündigt hat, seine Verteidigungsausgaben zu er-höhen.
Herr Kollege, ich möchte Sie fragen, ob Sie eine Zwi-schenfrage oder -bemerkung der Kollegin Keul akzeptie-ren?
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Jederzeit gerne.
Echt? – Gut.
Vielen Dank, Herr Kollege Willsch. Sehr großzügig!
– Wenn ich die Gründe rekapituliere, die Ihrer Meinung
nach für Rüstungsexporte sprechen – Sie haben sie ge-
rade aufgezählt: vom Kampf gegen Terrorismus über
Selbstverteidigung bis hin zu wirtschaftlichen Grün-
den –, möchte ich Sie fragen: Fällt Ihnen irgendein Ort
auf dieser Welt ein, an den man nach diesen Kriterien
nicht liefern würde?
Dazu fallen mir natürlich Orte ein, Frau Kollegin.
Wichtig ist, dass sich die Waffen, die wir liefern, nicht
gegen uns selbst oder gegen unsere Verbündeten richten
sollen und dürfen. Wichtig ist, dass wir nicht an Staaten
liefern, die im Verdacht stehen, als Zwischenhändler auf-
zutreten, die Sachen also weiterzuleiten.
Damit ist der Bogen geschlagen. Das macht deutlich,
dass es neben den Ländern, in die wir aus außen- und si-
cherheitspolitischen Gründen nach sorgfältiger Prüfung
liefern, jede Menge Länder gibt, die dafür nicht in Be-
tracht kommen.
Danke für die Frage.
Lassen Sie mich meinen Gedanken zum Thema Rüs-
tungsbereitschaft bzw. Verteidigungsbereitschaft zu
Ende führen. Fogh Rasmussen hat zu Recht gesagt: An-
gesichts des Nichtfunktionierens des Schutzverspre-
chens, das die Ukraine 1994 im Budapester Memoran-
dum erhalten hat, müssen wir uns überlegen, ob die Idee
vom ewigen Frieden vielleicht eine Illusion war. Er hat
gesagt, dass wir die Bereitschaft, das eigene Land zu
verteidigen, mit entsprechender Technologie und ent-
sprechender Ausrüstung unterlegen müssen. Fast alle
Mitgliedstaaten der NATO sind – leider – weit davon
entfernt, die eingegangene Selbstverpflichtung, 2 Pro-
zent des Bruttoinlandsprodukts als Ausgaben für die
Verteidigung bereitzustellen, zu erfüllen. Auch wir ge-
ben dafür zu wenig aus.
Ich denke, wir sollten die krisenhafte Zuspitzung, die wir
in Europa gegenwärtig erleben, zum Anlass nehmen –
auch mit Blick auf Länder, die erst später der NATO bei-
getreten sind und vielleicht darüber nachdenken, ob das
NATO-Schutzversprechen wirklich für alle gleicherma-
ßen gilt –, die notwendigen Mittel in diesem Bereich
aufzuwenden. Es gilt der alte Grundsatz: Jedes Land hat
eine Armee in seinem Land, entweder die eigene oder
eine fremde.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist Jan
van Aken für die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrWillsch, Sie haben echt gar keine Ahnung.
Das, was Sie hier gerade erzählt haben, war richtigschlimm. Gleich am Anfang sagten Sie: Wir müssen dieInteressen der Bundesrepublik und der Industrie glei-chermaßen berücksichtigen. Das ist an sich schon falsch.Sie dürfen das nicht einmal.
Sie haben hier die politischen Grundsätze der Bundesre-gierung zu Rüstungsexporten zitiert. Darin steht aus-drücklich, dass ökonomische Interessen keine Rollespielen dürfen. Sie haben hier aber genau das Gegenteilgesagt. Das heißt: Sie interessieren sich überhaupt nichtfür die Rechtslage. Sie interessieren sich überhaupt nichtdafür, was mit diesen Waffen passiert. Sie interessierensich überhaupt nicht dafür, dass alle 60 Sekunden ir-gendwo auf der Welt ein Mensch durch Waffengewaltstirbt. 500 000 Frauen, Männer und Kinder sterben imJahr durch Waffengewalt, auch durch deutsche Waffen,und das wird weiterhin so sein, weil Sie, Herr Willsch,und Ihre Fraktion hier gleich wieder beschließen wer-den, dass die deutschen Waffenexporte auch künftig einRekordniveau erreichen werden; und das finde ichfalsch.
Sie haben hier einen Antrag vorgelegt – das gilt fürCDU/CSU und SPD gemeinsam –, der nichts, aber auchgar nichts daran ändern wird, dass auch weiterhin überallauf der Welt Menschen mit deutschen Waffen getötet,gefoltert, unterdrückt, verstümmelt werden. Da draußensterben Menschen, jeden Tag, immer wieder, auch durchdeutsche Waffen, weil Sie nicht bereit sind, Waffenex-porte zu verbieten. So einfach ist das, und so brutal istdas. Das wollen wir ändern.
Gerade Sie von der SPD haben hier in den letzten Jah-ren das Maul weit aufgerissen: gegen die Lieferung derLeopard-Panzer nach Saudi-Arabien, gegen Waffenex-
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2810 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Jan van Aken
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porte an Menschenrechtsverletzer. Und jetzt? Was legenSie hier vor? Angesichts dieses Antrags müssten Sie ei-gentlich alle vor Scham im Boden versinken.
Sie unternehmen nicht einmal den Versuch, die Export-genehmigung für Waffen an irgendeiner Stelle einzu-schränken. Das Einzige, was Sie tun wollen, ist, etwasmehr Informationen über Waffenexporte zu geben. Dasist ja gut. Ich finde es in Ordnung, dass Sie jetzt zweimalim Jahr statt nur einmal im Jahr einen Bericht über Ihreganzen Waffenexporte abliefern. Sie wissen aber ge-nauso gut wie ich: Transparenz allein verhindert keineneinzigen Waffenexport. Wer etwas anderes behauptet,der lügt oder träumt.
Wissen Sie: Ich bin jetzt seit vier Jahren hier im Bun-destag im Auswärtigen Ausschuss. In all den vier Jahrenhabe ich eines immer wieder gesehen: Wenn irgendwoauf der Welt geschossen wird, sehen Sie auch deutscheWaffen, manchmal an Orten, da müssen Sie es selbst vorOrt gesehen haben, um es überhaupt glauben zu können.Ich war neulich in Syrien. Was fällt mir da in die Hände?Die Überreste einer deutsch-französischen Panzerab-wehrrakete, einer MILAN-Rakete, die zum Teil inDeutschland produziert worden ist. Deutschland hätteverhindern können, dass sie exportiert wird. Wer hat imsyrischen Bürgerkrieg mit dieser deutsch-französischenMILAN-Rakete gekämpft? Al-Qaida. Das muss mansich einmal vorstellen: Al-Qaida kämpft in Syrien mitdeutschen Waffen, weil irgendwann eine Bundesregie-rung einen solchen Waffenexport genehmigt hat. Ichfinde das schändlich.
Sie, Herr Willsch – das ist der genialste Satz des Ta-ges –, haben gerade gesagt: Na ja, das darf nicht an Län-der oder an Personen geliefert werden, die diese Waffengegen uns richten. – Wissen Sie gar nicht, dass die Tali-ban in Afghanistan mit deutschen Waffen kämpfen, dassdie mit deutschen Waffen auf deutsche Soldaten und aufdie afghanische Bevölkerung schießen? Das ist die Rea-lität Ihrer Waffenexportpolitik.
Nehmen Sie den Südsudan. Sie alle haben doch heuteden Bericht von Amnesty International über die furcht-baren Verbrechen, die gerade im Südsudan stattfinden,gelesen. Ich habe dabei die ganze Zeit ein Bild im Kopf,und zwar ein Foto von Kindersoldaten im Sudan, kleineJungs in Reih und Glied aufgestellt, und alle haben eindeutsches Sturmgewehr in der Hand. Dieses deutscheSturmgewehr wird jetzt im Sudan dafür benutzt, um Zi-vilisten zu töten, zu foltern, zu vergewaltigen, weil ir-gendwann einmal eine Bundesregierung einen entspre-chenden Waffenexport genehmigt hat. Das mussaufhören.
Jetzt zur SPD. Das, was ich in den letzten Wochenund Monaten von Ihrem Herrn Gabriel hinsichtlich Waf-fenexporten gehört habe, war alles nur heiße Luft. In derUkraine-Krise – das war das Härteste, was Sie getan ha-ben – verkündete Herr Gabriel plötzlich einen Stopp derWaffenexporte nach Russland.
Was machte er konkret? Es gab ein großes Projekt vonRüstungsexporten nach Russland. Dazu sagte er: Daswird gestoppt, das geht nicht weiter. Zwei Tage späterkommt heraus: Das ganze Projekt wurde schon fast voll-ständig geliefert. Da konnte überhaupt nichts mehr ge-stoppt werden. Dann haben wir nachgefragt, und HerrGabriel musste uns schriftlich geben: Na ja, wir habennur das eine Projekt gestoppt, alle anderen Waffenliefe-rungen nach Russland gehen im Moment weiter. – Esgab 297 Waffenlieferungen allein in den ersten drei Mo-naten dieses Jahres. Das ist doch Schaumschlägerei, wasSie da machen. Sie stoppen überhaupt keine Waffenex-porte, sondern Sie exportieren wohin Sie wollen, was Siewollen und wann Sie wollen.
Wenn Sie verhindern wollen, dass irgendwann einmalwieder irgendwo auf der Welt Menschen mit deutschenWaffen unterdrückt und getötet werden, gibt es nur eineLösung, und diese heißt, den Waffenexport komplett zuverbieten. Da trauen Sie sich nicht heran, aber das ist un-sere Forderung.
Ich mache mir gar keine Illusionen – das möchte ichzum Schluss sagen –, dass ich mit Leuten wie HerrnWillsch oder auch Herrn Gabriel in allzu naher Zukunftein komplettes Verbot von Waffenexporten erreiche.Aber das Erste, was Sie tun müssen, ist, den Export vonKleinwaffen zu verhindern. Kofi Annan nannte Klein-waffen einmal die Massenvernichtungswaffen dieserZeit. Damit werden 70, 80, 90 Prozent der Menschen inden Kriegen dieser Welt umgebracht. Dies können Sieverhindern. Ökonomisch – das wissen Sie genauso gutwie ich – spielen die 100 Millionen Euro kaum eineRolle.
Herr Kollege.
Ich bin gleich fertig.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2811
Jan van Aken
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Diese 100 Millionen Euro im Jahr an Kleinwaffenex-porten in alle Welt sind angesichts der riesigen deut-schen Exportwirtschaft ein Witz. Das ist relativ wenigGeld, aber ganz viel Tod, und den wollen wir stoppen.Ich danke Ihnen.
Bernd Westphal ist der nächste Redner für die SPD-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Das, was Herr van Aken hier ebenvorgeführt hat, war schon sehr polemisch.
Ich denke, das entbehrt jeder sachlichen Debatte bei die-sem wichtigen und für alle Abgeordneten, für jede Re-gierung schwierigen Thema. So kann man eine solcheDebatte nicht führen.
Bei Rüstungsexportentscheidungen in sogenannteDrittstaaten sind die im Jahr 2000 beschlossenen Rüs-tungsexportrichtlinien immer noch Grundlage für dasHandeln der Regierung. Darüber hinaus bekennt sich dieBundesregierung ebenso zu dem 2008 beschlossenenGemeinsamen Standpunkt der EU betreffend gemein-same Regeln für die Kontrolle der Ausfuhr von Militär-technologie und Militärgütern.Auf dieser Grundlage betreibt die Bundesregierungeine restriktive Politik bei Exporten von Rüstungsgütern,und diese Politik ist auch gut so.Die Beachtung der Menschenrechte ist für die Ent-scheidung über Rüstungsexporte von herausragenderBedeutung, damit ausgeschlossen werden kann, dassWaffen an Länder geliefert werden, in denen Menschen-rechtsverletzungen existieren oder Bürgerkrieg herrscht.Im Koalitionsvertrag haben wir die Neuregelung derRüstungsexportentscheidungen verankert. Dabei geht esuns nicht um die Vermischung von Exekutive und Legis-lative. Die Entscheidung über Genehmigungen für Rüs-tungsgüter ist nach Artikel 26 des Grundgesetzes derBundesregierung zugewiesen, und sie soll auch weiter-hin im Kernbereich der Exekutive bleiben.Wir als Koalition sehen allerdings, wie auch die ande-ren Fraktionen – man sieht ja die Anträge, die gestelltworden sind –, im Bereich der Transparenz von Rüs-tungsexportentscheidungen Handlungsbedarf. Eine Neu-regelung ist überfällig, weil der Rüstungskontrollberichtin der Vergangenheit viel zu spät vorgelegt wurde, teil-weise erst anderthalb Jahre nach dem Berichtsjahr. Wirsind uns einig, dass es politisch wenig Sinn macht, überRüstungsexporte zu reden, die weit in der Vergangenheitliegen, während in der Öffentlichkeit über aktuelle Ent-scheidungen oder Lieferungen diskutiert wird.
Die Grünen haben sich für eine Klage vor dem Bun-desverfassungsgericht entschieden, um auf diesem Wegmehr Transparenz bei Rüstungsexporten einzufordern.Wir haben uns gegen ein Abwarten des Urteils ausKarlsruhe entschieden. Wir haben stattdessen konstruk-tiv gehandelt und einen gemeinsamen Antrag der Koali-tionsfraktionen erarbeitet. Mit der Umsetzung des vorge-legten Antrages können wir eine wirkliche Verbesserunggegenüber der heutigen Situation erreichen.So wird der Rüstungsexportbericht künftig noch vorBeginn der parlamentarischen Sommerpause des Folge-jahres veröffentlicht werden. Zusätzlich ist im Herbst je-des Jahres ein Zwischenbericht über das erste Halbjahrdes laufenden Jahres geplant. Des Weiteren wird derDeutsche Bundestag über die abschließenden Genehmi-gungen des Bundessicherheitsrates unverzüglich, dasheißt innerhalb von zwei Wochen nach Tagung des Bun-dessicherheitsrates, informiert. Was dann dort berichtetwird, hat der Kollege Willsch schon erwähnt.Damit setzen wir nicht nur einen weiteren Punkt ausdem Koalitionsvertrag um. Nein, wir gehen sogar nochdarüber hinaus. Der Bundestag wird zukünftig auch überdie anschließenden Entscheidungen des VorbereitendenAusschusses der Staatssekretäre informiert werden. DieUnterrichtung durch die Bundesregierung erfolgt im fürRüstungsexporte federführenden Ausschuss für Wirt-schaft und Energie. Die Weitergabe erfolgt dann vondort aus als Ausschussdrucksache an die mitberatendenAusschüsse.In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden,dass wir damit keine weiteren Geheimgremien schaffen,sondern im Vorfeld sicherlich auch dem Rechnung tra-gen, was in der Öffentlichkeit verlangt wird. Wir werdenalso künftig eine Debatte darüber führen und diese The-men offen und transparent in den Fachausschüssen bera-ten können. Ich bin mir sicher, diese Maßnahmen wer-den die Transparenz von Rüstungsexportentscheidungenzweifelsfrei erhöhen. Ich denke im Gegensatz zu mei-nem Vorredner, diese Transparenz wird auch dazu füh-ren, dass man sich bei Rüstungsexportentscheidungendementsprechend Gedanken macht. Im Ergebnis wirddie restriktive Exportpolitik, wie in der Vergangenheit,weiter fortgeführt. Sie können sich darauf verlassen: Mitder SPD wird es keine Waffenlieferungen in Spannungs-gebiete geben.Vielen Dank.
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2812 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
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Das Wort erhält nun die Kollegin Agnieszka Bruggerfür die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die un-kontrollierte Verbreitung von Waffen ist eine Bedrohungfür den Frieden und die Sicherheit weltweit. Denn sieverschärft Konflikte, sie macht sie blutiger, und sie kos-tet am Ende mehr Menschenleben. Die Entscheidung da-rüber, ob Rüstungsexporte aus Deutschland genehmigtwerden oder nicht, ist deshalb keine politische Entschei-dung wie jede andere auch; denn sie kann katastrophaleFolgen haben, und sie kann eben noch mehr Menschen-leben kosten.
Deshalb verdient sie besondere Aufmerksamkeit, beson-dere Sorgfalt und besondere Kontrolle.Meine Damen und Herren, machen wir uns noch ein-mal klar, wie die bisherige Praxis an dieser Stelle aus-sieht: Der Bundessicherheitsrat – im Wesentlichen eineReihe von Ministern der Bundesregierung – entscheidethinter verschlossenen Türen, im Geheimen, über Voran-fragen der Rüstungsindustrie, und weder das Parlamentnoch die Öffentlichkeit werden darüber informiert. DieRegierung muss nicht einmal begründen, warum sie ei-nen konkreten Export genehmigt oder ihm die Genehmi-gung versagt.Ich finde, in einer Demokratie, in einem Rechtsstaatist das ein unhaltbarer Zustand, gerade in dem hochsen-siblen und kritischen Bereich der Waffengeschäfte.
Diese Kritik, die wir Grüne schon sehr lange äußern,wurde auch von den Kolleginnen und Kollegen von derSPD geteilt. Wir haben in den letzten Jahren, in der Op-positionszeit, an dieser Stelle immer wieder sehr kon-krete gemeinsame Vorschläge gemacht, wie wir diesenUmstand und diese Praxis verändern und verbessernwollen und wirkliche Transparenz und Kontrolle ermög-lichen können. Wir haben darüber diskutiert, im Bundes-tag ein Gremium einzurichten, das sich speziell mit die-sen Fragen auseinandersetzt, das extra unterrichtet wird,das auch bei besonders kritischen Waffengeschäftenvorab informiert wird und auch die Möglichkeit zur Stel-lungnahme erhält. Wir haben immer wieder darüber ge-sprochen, dass die Rüstungsexportberichte lückenhaftsind, dass dort viele wichtige Informationen fehlen.In unserem heutigen Antrag bekräftigen wir noch ein-mal diese Forderungen. Wir sind sehr gespannt, wie Sievon der SPD sich bei der namentlichen Abstimmungverhalten werden; denn eigentlich haben Sie all dieseForderungen gemeinsam mit uns in den letzten Jahrenerhoben.
Zu den Änderungen, die die Koalitionsfraktionen pla-nen und mit ihrem Antrag vorlegen – dass der Rüstungs-exportbericht zeitnah kommen soll, dass es zusätzlich ei-nen Zwischenbericht geben soll, vor allem aber dieUnterrichtung des Bundestages über rechtskräftig ge-wordene Entscheidungen des Bundessicherheitsrates –,kann ich nur sagen: Es ist doch eine Selbstverständlich-keit in einer Demokratie, dass eine Regierung erklärt,was sie überhaupt entschieden hat.
Das sind nur kleine Korrekturen. Nach wie vor ist eseben nicht möglich, ausreichend zu kontrollieren. IhreVorschläge sind unzureichend und vor dem Hintergrunddessen, was Sie versprochen haben, wirklich eine herbeEnttäuschung.Meine Damen und Herren, die SPD konnte sich andieser Stelle nicht durchsetzen. Das ist ja auch klar. Sounengagiert wie Herr Willsch hier den Antrag der Koali-tionsfraktionen vorgelesen hat, wird deutlich: Die Unionhätte hier lieber alles im Dunkeln gelassen.
Sie machen auch in vielen Plenardebatten gar keinenHehl daraus, dass Sie überhaupt keine Probleme damithaben, dass es einen immer größeren Trend gibt, Waffenin Staaten zu liefern, die eine sehr problematische Men-schenrechtslage haben.
Auch an dieser Stelle gibt es Versprechungen der SPDaus dem Wahlkampf und aus der Oppositionszeit: Ganzkonkret haben Sie zum Beispiel sehr massiv und sehrstark die Panzerlieferungen nach Saudi-Arabien kriti-siert. Wenn man den Presseäußerungen glauben darf,dann hat auch Minister Gabriel – als Minister, der fürRüstungsexporte federführend ist – diese Kritik nocheinmal bekräftigt und angekündigt, dass er an dieserStelle intervenieren will. Liebe Kolleginnen und Kolle-gen von der SPD, insbesondere natürlich die Regie-rungsmitglieder der SPD, wenn Sie schon bei den Ver-besserungen im Bereich der Transparenz und derKontrolle von Rüstungsexporten gescheitert sind, dannlassen Sie hier an dieser Stelle Ihren Worten Taten folgenund stoppen Sie die Panzerlieferungen nach Saudi-Ara-bien!
Meine Damen und Herren, in den letzten Stundengeisterten Gerüchte über die Flure des Bundestages, diebesagen – ich kann Ihnen das nicht bestätigen, es ist jaleider geheim; das würden wir Grüne gerne ändern –,dass gestern die erste Sitzung des Bundessicherheitsratesseit Amtsantritt von Schwarz-Rot stattgefunden habe.Meine Damen und Herren, wir sind an dieser Stellewirklich sehr gespannt, wie und ob der Bundestag überdie Ergebnisse dieser Sitzung des Bundessicherheitsratesinformiert wird. Wir sind natürlich auch sehr gespannt,zu erfahren, wie sich diese schwarz-rote Koalition zu
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Agnieszka Brugger
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den Leopard-Panzern, die nach Saudi-Arabien geliefertwerden sollen, positioniert. Sagen Sie Nein zu den Pan-zerlieferungen und damit Ja zu den Menschenrechten?
Wir Grüne sind an dieser Stelle ganz klar: Wir wolleneinen radikalen Kurswechsel für echte Kontrolle, wirkli-che Transparenz. Bei uns gibt es ein klares Nein zu Waf-fenlieferungen an Staaten, die in Krisenregionen liegen,und ein klares Nein zu Waffenlieferungen an Staaten, woMenschenrechte mit Füßen getreten werden.Vielen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält nun der Kollege
Andreas Lämmel das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Es ist gute Tradition hier in diesem Hause, über dasThema Rüstungskontrolle zu diskutieren. Ich weiß garnicht genau, wie viele Diskussionen wir zu diesemThema alleine in der letzten Legislaturperiode geführthaben, und es ist ja auch richtig, dass man immer wiederdarüber diskutiert, welche Politik in Deutschland betrie-ben wird.Allerdings muss man noch einmal feststellen: Herrvan Aken, mit dem, was Sie hier immer tun, verkleisternSie im Prinzip die Augen der Öffentlichkeit in Bezug aufdas, was Sie wirklich wollen. Wenn man Ihrer Logik fol-gen würde, dann müsste die deutsche Rüstungsindustrieeigentlich geschlossen werden, und wenn wir nichts ver-kaufen könnten, dann müssten wir natürlich auch nichtsmehr produzieren, sodass wir das Gerät beispielsweiseaus Russland kaufen müssten,
was sich in der jetzigen Situation sehr gut machenwürde.Ich muss hier nur einmal an Ihre Vorgängerpartei er-innern. Sie sind ja Mitglied in einer Partei, deren Vor-gängerin in der ehemaligen DDR lange Zeit regiert hat.Mit den Waffen, die in dieser Zeit in die Welt expor-tiert worden sind, wird in Afrika heute noch gekämpft,
mit diesen Waffen wird weiterhin in Südamerika ge-kämpft. Ich schlage also vor: Bevor man sich hier hin-stellt und immer wieder beschwört, dass man der Frie-densengel der Welt ist, würde ich zumindest einmal einWort darüber verlieren, dass das, was früher war, auchfalsch gewesen ist.
Das habe ich von Ihnen aber noch nie gehört – und vondenen, die früher in der SED waren, schon gar nicht.
Jetzt komme ich zu den Grünen. Man muss es nocheinmal ganz deutlich und laut sagen: An den Grundsät-zen, nach denen Rüstungsexporte in Deutschland erfol-gen, haben Sie mitgeschrieben.
Daran war keine CDU/CSU-Fraktion beteiligt,
sondern Sie waren es. Gemäß diesen Kriterien wird nochheute exportiert.Sie sagen: Die Kriterien sind falsch.
Deshalb müssten Sie zumindest einmal selbstkritisch äu-ßern, dass Sie das, was Sie heute fordern, selbst hättendurchsetzen können.
Ich frage mich nur: Warum haben Sie das damals dennnicht getan?Wenn man sich die Rüstungsexporte Deutschlandsanschaut, dann muss man als Erstes feststellen: Die Rüs-tungsexporte sind rückläufig.
– Die Rüstungsexporte sind rückläufig. Sie können sichja einmal den Rüstungsexportbericht anschauen.Man muss auch feststellen: Die deutsche Rüstungs-industrie ist in Zeiten des Kalten Krieges entstanden.Wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Bundesrepu-blik Deutschland einmal über 4 000 Panzer hatte – hinzukamen die Panzer, die im Osten Deutschlands standen –,während wir heute noch über einen Bestand von unge-fähr 240 Panzern verfügen, dann kann man sehen, wiesehr sich die Nachfrage nach Rüstungsgütern in Deutsch-land reduziert hat. Das Gleiche ist natürlich auch bei un-seren NATO-Partnern der Fall. Damit sind natürlichauch die Industriekapazitäten insgesamt geringer gewor-den.
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Andreas G. Lämmel
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Wenn wir unsere eigene Truppe, unsere eigenen Sol-daten, bei Einsätzen aller Art schützen wollen, müssenwir ihnen aber das modernste und beste Gerät zur Verfü-gung stellen.
Das ist der Grund dafür, dass Deutschland überhauptüber eine Rüstungsindustrie verfügt, die modernstes Ge-rät herstellt. Dass die Welt es letztendlich akzeptiert,dass Deutschland modernstes Gerät herstellt, zeigt sichnatürlich auch an der entsprechenden Exportnachfrage.Wenn Sie sich die Struktur der Rüstungsexporte ein-mal genau angucken – Herr van Aken, das wissen Sieganz genau –, dann sehen Sie, dass die Klassifizierungder Rüstungsgüter durchaus fragwürdig ist. Verschie-dene Dinge, die als Rüstungsgüter bezeichnet werden,muss man eigentlich nicht unbedingt den Rüstungsgü-tern zurechnen. Es gibt zum Beispiel die sogenanntenDual-Use-Güter, die man für beide Zwecke einsetzenkann.
– Das verfälscht die Zahlen natürlich völlig. Sie operie-ren ja immer mit den großen Zahlen, die durch die Reali-tät aber überhaupt nicht gedeckt werden.
Wir wollen nun die Transparenz der Entscheidungenverbessern. Diese Forderung höre ich hier im Hause seitJahren. Das passt Ihnen auch wieder nicht.
Man muss einmal fragen: Was wollen Sie denn wirklich?Wollen Sie nun Transparenz oder nicht? Wenn Sie siewollen, dann müssen Sie unserem Antrag heute zustim-men.
Meine Damen und Herren, wo werden denn in derWelt Geschäfte gemacht, bei denen man über Voranfra-gen in der Zeitung schreibt und veröffentlicht, dass dieNATO-Partner XY angefragt haben, ob sie dieses oderjenes Gut kaufen können? Sie glauben doch in Ihrer grü-nen Welt nicht ernsthaft, dass so etwas überhaupt funk-tionieren kann.
Da Sie Deutschland in den nächsten 50 Jahren nicht re-gieren werden, kommt diese Regelung zum Glück nicht.Aber ich wünsche uns dieses Experiment auch nicht.Aber wenn Sie Voranfragen öffentlich machen, dannwäre das doch ein Witz; das wissen Sie ganz genau. Des-wegen sollten Sie mit solch abenteuerlichen Forderun-gen eigentlich überhaupt nicht mehr im Deutschen Bun-destag erscheinen.
Der Kollege Willsch und der Kollege Westphal habenschon deutlich gemacht, was die Grundlagen unseresAntrags sind, die die Transparenz der Entscheidungendeutlich verbessern werden. Ich garantiere Ihnen Fol-gendes, liebe Kollegen von den Grünen: Jedes Mal,wenn der Rüstungskontrollbericht veröffentlicht wird,wird es dazu eine Debatte im Deutschen Bundestag ge-ben. Das heißt, über jeden dieser Berichte wird es – min-destens zweimal im Jahr – eine Debatte geben und damitÖffentlichkeit hergestellt. Ich garantiere, Herr van Aken:Sie werden nach jeder Entscheidung, die im Wirtschafts-ausschuss publik wird, eine Debatte im Deutschen Bun-destag anzetteln, um hier jede einzelne Entscheidung zudebattieren.Ich weiß überhaupt gar nicht, woher Sie Ihr Miss-trauen nehmen. Dass die Regierung Verantwortung fürEntscheidungen übernehmen muss – dafür wird sieschließlich bezahlt, und dafür ist sie im Amt –, ist dasNormalste in der Welt. Ich kann nicht nachvollziehen,wie Sie sich heute hier aufgeführt haben. Mit unseremAntrag werden wir die Transparenz herstellen, die fürRüstungsgeschäfte notwendig ist. Ich kann Ihnen nurempfehlen: Folgen Sie diesem Antrag. Dann tun Sie et-was für die
Öffentlichmachung der Rüstungsexporte deutscher Fir-men.Vielen Dank.
Die Kollegin Finckh-Krämer ist die letzte Rednerin
zu diesem Tagesordnungspunkt für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer oben aufden Tribünen! Wie schon von meinen Vorrednern ausge-führt, diskutieren wir heute über die Verbesserung derTransparenz bei deutschen Rüstungsexporten. KollegeWestphal hat diese Verbesserungen bereits detailliert be-schrieben. Ich möchte noch hinzufügen: Mit der Be-schlussvorlage erfüllen wir auch einige Forderungen derOppositionsparteien der letzten Legislaturperiode.Mit dem Beschluss, die zuständigen Ausschüsse überRüstungsexporte zu informieren, bewegen wir uns indieselbe Richtung wie zum Beispiel Großbritannien, wosogar ein eigener Parlamentsausschuss eingerichtetwurde, um über von der Regierung entschiedene Rüs-tungsexporte zu diskutieren und diese zu bewerten. Dort
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Dr. Ute Finckh-Krämer
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hat sich gezeigt, dass die zeitnahe Debatte über Regie-rungsentscheidungen in Parlamentsausschüssen durch-aus disziplinierende Wirkung haben kann.Als Außenpolitikerin beschäftigen mich vor allem dieaußenpolitischen Folgen von Rüstungsexporten. Rüs-tungsexporte haben eine außenpolitische Wirkung, obwir das wollen oder nicht. Nicht nur die Regierung, son-dern auch wir als Abgeordnete sollten diese Wirkungenbedenken und diskutieren. Ich freue mich auf die Dis-kussion mit allen Fraktionen in den im Antrag genanntenAusschüssen.Im Fall von Exporten in Drittländer haben wir einebesondere Verantwortung.
Einen Augenblick, bitte, Frau Kollegin. – Herr Kol-
lege Ströbele, könnten Sie mir vielleicht behilflich sein,
die stehenden Kolleginnen und Kollegen auf die weni-
gen noch verfügbaren Plätze zu verteilen?
Das ist sehr liebenswürdig. Ich bedanke mich. – So, bitte
schön.
Gut. – Hier spielen neben den außenpolitischen auch
entwicklungspolitische und menschenrechtliche Aspekte
eine wichtige Rolle. Deswegen begrüße ich als Mitglied
des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre
Hilfe besonders, dass auch dieser Ausschuss über Rüs-
tungsexporte informiert wird.
Die Diskussion über Rüstungsexporte und Rüstungs-
exportkontrolle ist mit dem heute vorliegenden Antrag
aber nicht beendet. Es gibt auch, wie schon erwähnt, in-
ternationale Entscheidungsrahmen wie – neben den schon
genannten Regelungen der Europäischen Union – den
internationalen Waffenhandelsvertrag ATT. Deutsch-
land hat sich während der Verhandlungen um den ATT
besonders für das Vertragswerk eingesetzt. Wir haben es
am 2. April, dem Jahrestag des Beschlusses in der Gene-
ralversammlung der Vereinten Nationen, ratifiziert und
setzen den Vertrag bereits vor Inkrafttreten um. Wir hof-
fen, dass bis Ende des Jahres die für das Inkrafttreten
notwendige Zahl von 50 Ratifizierungen erreicht wird.
Wenn wir in internationalen Gremien glaubwürdig
auftreten wollen, müssen wir uns in der Tat auch selbst
beschränken. In diesem Zusammenhang unterstütze ich
es daher ausdrücklich, wenn sich unser Wirtschafts-
minister, wie er gerade öffentlich angekündigt hat, bei
rüstungsexportpolitischen Entscheidungen die dafür ge-
botene Zeit nimmt. Das ist ein weiterer Schritt in die
richtige Richtung.
Lieber Herr van Aken, natürlich kann sich erst im
Laufe der Zeit zeigen, welche Wirkungen die neuen
Maßnahmen entfalten und ob wir gegebenenfalls nach-
steuern müssen. Wir können die Rüstungsexporte der
Vergangenheit, auf die Sie sich beziehen, aber nicht un-
geschehen machen und bestehende Exportgenehmigun-
gen nicht ohne Weiteres widerrufen. Aber wir können
zukünftige Exportgenehmigungen besser kontrollieren.
Auch darauf kommt es an.
Die Botschaft der Ökumenischen Versammlung, die
vom 30. April bis 4. Mai in Mainz stattgefunden hat,
weist deutlich auf die ethischen Probleme von Rüstungs-
exporten hin und zeigt damit die Richtung auf, in die wir
uns bewegen sollten. Auch wenn wir mit den genannten
Schritten die sehr weitgehenden Forderungen der Öku-
menischen Versammlung und der Oppositionsanträge
nicht erfüllen: Ich hoffe, dass wir uns mit den jetzt zu be-
schließenden Maßnahmen in die Richtung eines guten
Zusammenlebens aller Menschen bewegen, das die Öku-
menische Versammlung erreichen möchte – ein Ziel, das
wir sicherlich alle teilen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktionen der CDU/CSU und SPD auf der Drucksa-che 18/1334 mit dem Titel „Mehr Transparenz bei Rüs-tungsexportentscheidungen sicherstellen“. Wer stimmtfür diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen? – Der Antrag ist mit der Mehrheit der Koalitions-fraktionen angenommen.Unter dem Zusatzpunkt 9 geht es um die Abstimmungüber den Antrag der Fraktion Die Linke auf der Drucksa-che 18/1348 mit dem Titel „Für ein generelles Verbotdes Exports von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungs-gütern“. Wer stimmt diesem Antrag zu? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit breiterMehrheit gegen die Stimmen der Antragsteller abge-lehnt.Unter Zusatzpunkt 10 stimmen wir ab über den An-trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Druck-sache 18/1360 mit dem Titel „Echte Transparenzund parlamentarische Beteiligung bei Rüstungsexport-entscheidungen herstellen“. Über diesen Antrag stim-men wir auf Verlangen der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen namentlich ab. Ich darf die Schriftführerinnenund Schriftführer bitten, die vorgesehenen Plätze einzu-nehmen und mir zu signalisieren, ob jeweils Mehrheitund Minderheit dieses Hauses angemessen vertretensind. – Das ist offensichtlich der Fall. Dann eröffne ichhiermit die Abstimmung über diesen Antrag.Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seineStimmkarte nicht abgegeben hat? – Das ist offensichtlichnicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit derAuszählung zu beginnen. Wir geben das Ergebnis derAbstimmung später bekannt.1)Ich rufe nun den Zusatzpunkt 8 auf:Vereinbarte Debattezum Europäischen Tag zur Gleichstellung vonMenschen mit BehinderungNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Dazu gibt eskeinen Widerspruch. Also können wir so verfahren.Dann darf ich diejenigen, die an dieser Debatte teil-nehmen, bitten, Platz zu nehmen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort demKollegen Oliver Kaczmarek für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der An-lass für diese Debatte heute ist der Europäische Tag zurGleichstellung von Menschen mit Behinderung. Zahl-lose Ehrenamtliche haben diesen Tag in Deutschland zueinem Protesttag gemacht. Allein 1 500 Menschen ha-ben am Montag am Brandenburger Tor demonstriert.Deswegen steht am Beginn der Debatte mein Dank analle Ehrenamtlichen, die mit ihren Aktivitäten, mit ihrenAnregungen, aber auch mit ihren Ermahnungen diesenProtesttag gestaltet haben. Vielen Dank für dieses Enga-gement.
Ich freue mich, wenn ich das sagen darf, Herr Präsi-dent, dass die Ansprechpartnerin für diese Aktivitäten,nämlich die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung,Frau Verena Bentele, heute hier der Debatte beiwohnt. Ichdarf Ihnen sagen, dass Sie sicherlich die Unterstützungdes gesamten Hauses bei Ihrer Amtsausübung hinter sichwissen dürfen.
Gestern gab es noch einen weiteren Aktionstag. Vordem Bundestag hat die Globale Bildungskampagne unseingeladen, symbolisch mit Schülern aus Berlin eineMauer niederzureißen, eine Mauer, die dafür steht, Hin-dernisse zur inklusiven Gesellschaft zu überwinden. Ver-bunden damit war die Mahnung, dass 42 Millionen Kin-der und Jugendliche mit Behinderung weltweit vomBesuch des Schulunterrichts ausgeschlossen sind. Dasist für uns Mahnung und Auftrag, nicht bei der Symbolikzu bleiben, sondern uns der Herausforderung zu stellenund daran zu arbeiten, das Menschenrecht auf inklusiveBildung weltweit zu verwirklichen.1) Ergebnis Seite 2818 D
Die Kampagne fordert aber auch: Deutschland mussmit einem nationalen Beispiel vorangehen und Vorbildsein. In der Tat ist Deutschland bei der inklusiven Bil-dung immer noch am Anfang. Der Anteil der Schülerin-nen und Schüler mit Förderbedarf steigt. Derzeit liegt erbei 6,6 Prozent. Gut 28 Prozent aller Schüler mit Förder-bedarf sind an allgemeinbildenden Schulen im gemein-samen Unterricht. Das ist gut. Schlecht ist, dass fast72 Prozent es eben nicht sind. Nur ein Viertel aller För-derschüler macht überhaupt einen Schulabschluss. Des-halb: Der allgemeine und gleiche Zugang für Menschenmit Behinderung ist ein zentrales Versprechen der UN-Behindertenrechtskonvention. Das umzusetzen, ist aucheine nationale Aufgabe für die gesamte Politik inDeutschland.
Ich würde gerne drei Anmerkungen zu ganz konkre-ten Herausforderungen der inklusiven Bildung machen:Erstens. Wenn uns inklusive Bildung gelingen soll,dann brauchen wir die Menschen, die das mit Leiden-schaft, mit Überzeugung und mit Begeisterung umset-zen, die Profis für Inklusion. Vor Ort gibt es viele Ängsteund auch Sorgen: Was passiert mit mir? Was passiert mitmeiner Bildungseinrichtung? Was passiert mit meinemKind? Diese Sorgen müssen wir ernst nehmen. Wir brau-chen am Ende alle diese Akteure: Eltern, Schüler, Stu-dierende, Lehrer, Auszubildende, Erzieher, Hochschul-lehrer, Sozialarbeiter – all diese Menschen sind Profisfür Inklusion. Auf ihre Erfahrungen, ob im allgemeinbil-denden System oder in den Sondersystemen, können wirnicht verzichten. Das ist das Herzstück einer gelungeneninklusiven Bildung: Menschen unterstützen.
Wir haben – der Staatssekretär aus dem Bildungsmi-nisterium ist auch da – das Instrument der Qualitäts-offensive, das Hinweise darauf liefern soll, wie wir dieLehrerausbildung weiter gestalten können. Wir müssenalle gemeinsam dafür sorgen, dass die Finanzierung übereine Laufzeit von zehn Jahren gesichert ist.
Zweite Anmerkung. Menschen mit Behinderungbrauchen eine gute Arbeit, und zwar eine Arbeit, die ihreTalente und Fähigkeiten einbezieht, ihnen Sinn und Zu-friedenheit gibt. Deshalb müssen wir am Übergang vonder Schule in den Beruf arbeiten. Wir müssen diesenÜbergang glätten. Im Koalitionsvertrag sind die richti-gen Stichworte wie ausbildungsbegleitende Hilfen undassistierte Ausbildung aufgeführt. Wir brauchen an die-ser Stelle auch die Werkstätten für Menschen mit Behin-derung, und zwar nicht mehr als einzigen Arbeitsplatz– diese Einbahnstraße müssen wir aufheben –, sondernwir brauchen sie für die Berufsorientierung und für dengeglätteten Übergang von der Schule in den Beruf. Das
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Oliver Kaczmarek
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gilt auch für Menschen mit psychischer Erkrankung.Auch auf diese Erfahrung können wir nicht verzichten.
Drittens. Wir müssen auch Studierende mit Behinde-rung unterstützen und diese Unterstützung, wo es not-wendig ist, auch modernisieren. Die Eingliederungshilfegewährt schon heute „Hilfen zur schulischen Ausbildungfür einen angemessenen Beruf einschließlich des Be-suchs einer Hochschule“. Wir müssen jetzt darauf ach-ten, wenn wir an das Teilhabegesetz herangehen, dassdie Standards gesichert und sie gegebenenfalls an einmodernes Studium angepasst werden. Bundeseinheitli-che Regelungen wären für die freie Studienplatzwahlwünschenswert. Die Unterstützung für mehr als einenAusbildungsabschnitt für beruflich Qualifizierte, die bei-spielsweise an die Hochschule gehen wollen, wäre sinn-voll. Das sind die Ziele, die wir uns für die Menschenmit Behinderung setzen müssen, die sich an den Hoch-schulen befinden.Zum Schluss. Inklusive Bildung ist ein Kernbereichder UN-Behindertenrechtskonvention, ein Kernbereichder politischen Herausforderung, der sich alle staatlichenEbenen stellen müssen. Das sollten wir als Bundestagsehr ernst nehmen.Vielen Dank.
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Katrin Werner
für die Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Sehr geehrte Frau Bentele! Mehr als1 500 Menschen mit Behinderung, ihre Freundinnen,ihre Freunde sowie Familien haben uns Abgeordnetenhier in Berlin öffentlich ihre Unterstützung bei der Um-setzung ihrer Interessen angeboten. Das sollten wir ernstnehmen.Am Protesttag für die Gleichstellung von Menschenmit Behinderung am 5. Mai 2014 zeigte sich zweierlei:Die Erwartungen der Menschen sind klar, und ihre Un-zufriedenheit wächst. Alle Rednerinnen und Redner amBrandenburger Tor sprachen sich einhellig für bedarfs-gerechte Leistungen unabhängig von Einkommen undVermögen aus. Vor dem Rathaus in Berlin-Neuköllnwurden diese Erwartungen am selben Tag noch drasti-scher geäußert: als Protest gegen amtliche Willkür. DasNeuköllner Sozialamt hat in den letzten Monaten assis-tenzbedürftige Menschen, die die Weiterbewilligung ih-rer Hilfen beantragten, aufgefordert, einen Teil der Leis-tungen bei der bisherigen Stelle als Hilfe zur Pflege zubeantragen, und den Rest bei der Stelle, der die Einglie-derungshilfe obliegt. Viel Vertrauen ist verloren gegan-gen; denn zu viel Zeit ist leer verstrichen, und der Re-formstau ist riesig.
Die Menschen haben reale Ängste. In Bürgerbriefenund Internetportalen häufen sich kritische Anfragen. Daist die Mutter eines mehrfach schwerstbehinderten Soh-nes. Seit Monaten fragt sie öffentlich, ob das Kindergeldoder andere Leistungen gegen neue Teilhabeleistungenangerechnet werden. Da kritisiert ein Betreuer, dass derBarbetrag zur persönlichen Verfügung für einen Werk-stattbeschäftigten so nebenbei in einem Rundschreibenum 7 Euro im Monat gekürzt wird. Da wartet ein Berli-ner Behindertenverband als Arbeitgeber sechs Monateauf einen Entscheid über eine beantragte Arbeitsassis-tenz. Da erhalten Eltern zwar Schulassistenz, aber nichtfür die Zeit im Hort. Da fragen schwerbehinderte Men-schen, warum sie nicht mit 63 Jahren abschlagsfrei inRente gehen dürfen.Deshalb war der Beifall am 5. Mai 2014 stark, als aufder Kundgebung gefordert wurde, schnell ein Teilhabe-gesetz vorzulegen, das man öffentlich breit diskutierenmuss.
Zumindest ihre Gesetzeseckpunkte könnte die Bundesre-gierung doch schon im Sommer vorlegen. Ich wieder-hole unseren Vorschlag, dies bis zum 3. Dezember 2014,also bis zum Welttag von Menschen mit Behinderungen,zu tun, zumal am 10. Dezember der Internationale Tagder Menschenrechte begangen wird und Anfang 2015der elfte Menschenrechtsbericht der Bundesregierungvorgelegt werden muss.Die Menschen brauchen endlich ein Leistungsgesetz,ja, aber auch zivilrechtliche Stärkung. Die Linke unter-stützt deshalb gesetzliche Zwischenschritte, um sofortkrasse Diskriminierung zu beseitigen, allerdings nur alsWeichenstellung in Richtung einer vollen Teilhabe undnicht als Ersatzlösung. Die Bundesregierung muss einSignal setzen: Es geht nicht um Haushaltssanierung,sondern um freiheitliche Lebenschancen.Lassen Sie uns erstens sofort den Wahlrechtsaus-schluss für Menschen unter sogenannter Vollbetreuungund in psychiatrischen Einrichtungen aufheben.
Lassen Sie uns zweitens sofort den Behinderungs-begriff an die UN-Konvention anpassen, und zwar imBehindertengleichstellungsgesetz, im Allgemeinen Gleich-behandlungsgesetz, im SGB IX und auch in der Pflege-versicherung.Lassen Sie uns drittens sofort den Kostenvorbehalt in§ 13 Absatz 1 im Zwölften Buch Sozialgesetzbuch strei-chen.
Denn noch immer werden Menschen mit Behinderunggegen ihren Willen gezwungen, in einem Heim zu leben.
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Katrin Werner
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Nur ohne Kostenvorbehalt wird der Anspruch „ambulantvor stationär“ Wirklichkeit.Lassen Sie uns viertens endlich dafür sorgen, dass re-gulär beschäftigte Menschen mit Behinderung ihr selbst-verdientes Geld auch selbstbestimmt für sich und ihreFamilien ausgeben oder sparen dürfen.
Wir teilen die Forderung von Frau Bentele, die Einkom-mens- und Vermögensgrenzen komplett zu streichen.
Lassen Sie uns fünftens umgehend die Ausgleichsab-gabe anheben sowie die Beschäftigungspflichtquote wie-der auf 6 Prozent erhöhen.
Was spricht sechstens dagegen, den Anspruch auf As-sistenz sofort auszuweiten, für Kinder mit Behinderungauch im Hort, für alle, die sich ehrenamtlich engagieren,für Behindertensportler außerhalb ihres Trainings oderim Krankenhaus für jede und jeden Erkrankten?Lassen Sie uns siebentens das Allgemeine Gleichbe-handlungsgesetz sofort überarbeiten.Ein Antrag unserer Fraktion für ein Sofortprogrammzur Beseitigung bestehender Barrieren liegt bereits aufdem Tisch. Es wäre schön, wenn die fraktionsübergreifen-den Gemeinsamkeiten der behindertenpolitischen Spre-cherinnen und Sprecher dazu führen, diese wichtigen Fra-gen aufzugreifen.Vielen Dank.
Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schrift-führern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim-mung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen zum Thema „Echte Transparenz und parlamen-tarische Beteiligung bei Rüstungsexportentscheidungen“bekannt: abgegebene Stimmen 557. Mit Ja haben ge-stimmt 104, mit Nein haben gestimmt 452 Kolleginnenund Kollegen, eine Enthaltung. Damit ist der Antrag ab-gelehnt.
Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 556;davonja: 104nein: 451enthalten: 1JaDIE LINKEJan van AkenDr. Dietmar BartschMatthias W. BirkwaldChristine BuchholzEva Bulling-SchröterRoland ClausSevim DağdelenDr. Diether DehmKlaus ErnstWolfgang GehrckeDiana GolzeAnnette GrothDr. Gregor GysiDr. André HahnHeike HänselDr. Rosemarie HeinInge HögerAndrej HunkoSigrid HupachUlla JelpkeSusanna KarawanskijKerstin KassnerJan KorteJutta KrellmannSabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichDr. Gesine LötzschThomas LutzeNiema MovassatDr. Alexander S. NeuThomas NordHarald Petzold
Richard PitterleMartina RennerDr. Petra SitteKersten SteinkeDr. Kirsten TackmannAzize TankFrank TempelAlexander UlrichKathrin VoglerHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerBirgit WöllertJörn WunderlichHubertus ZdebelPia ZimmermannBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENLuise AmtsbergKerstin AndreaeAnnalena BaerbockVolker Beck
Dr. Franziska BrantnerAgnieszka BruggerEkin DeligözKatja DörnerKatharina DrögeHarald EbnerDr. Thomas GambkeMatthias GastelKai GehringAnja HajdukBritta HaßelmannBärbel HöhnDieter JanecekKatja KeulSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerStephan Kühn
Christian Kühn
Markus KurthMonika LazarSteffi LemkeDr. Tobias LindnerPeter MeiwaldIrene MihalicBeate Müller-GemmekeÖzcan MutluDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Corinna RüfferManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergUlle SchauwsDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtKordula Schulz-AscheDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeMarkus TresselDoris WagnerBeate Walter-RosenheimerDr. Valerie WilmsNeinCDU/CSUStephan AlbaniKatrin AlbsteigerArtur AuernhammerDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleJulia BartzGünter BaumannMaik BeermannManfred Behrens
Veronika BellmannSybille BenningDr. André BergheggerDr. Christoph BergnerUte BertramSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserWolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard Brandl
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2819
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Helmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexandra Dinges-DierigAlexander DobrindtMichael DonthThomas DörflingerMarie-Luise DöttHansjörg DurzJutta EckenbachDr. Bernd FabritiusHermann FärberUwe FeilerDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid Fischbach
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachThorsten FreiDr. Astrid FreudensteinDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Thomas GebhartAlois GerigEberhard GiengerCemile GiousoufJosef GöppelReinhard GrindelUrsula Groden-KranichHermann GröheKlaus-Dieter GröhlerMichael Grosse-BrömerAstrid GrotelüschenMarkus GrübelManfred GrundOliver GrundmannMonika GrüttersDr. Herlind GundelachFritz GüntzlerOlav GuttingChristian HaaseFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtMatthias HauerMark HauptmannDr. Stefan HeckDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilFrank Heinrich
Mark HelfrichUda HellerJörg HellmuthRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingPeter HintzeChristian HirteDr. Heribert HirteRobert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampDr. Hendrik HoppenstedtMargaret HorbBettina HornhuesCharles M. HuberAnette HübingerHubert HüppeErich IrlstorferThomas JarzombekSylvia JörrißenAndreas JungDr. Franz Josef JungXaver JungDr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KanitzAlois KarlAnja KarliczekBernhard KasterVolker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterDr. Georg KippelsVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenMarkus KoobCarsten KörberKordula KovacMichael KretschmerRüdiger KruseBettina KudlaDr. Roy KühneUwe LagoskyDr. Karl A. LamersAndreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeBarbara LanzingerDr. Silke LaunertPaul LehriederDr. Katja LeikertDr. Philipp LengsfeldDr. Andreas LenzPhilipp Graf LerchenfeldAntje LeziusIngbert LiebingMatthias LietzAndrea LindholzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsWilfried LorenzDr. Claudia Lücking-MichelDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigKarin MaagYvonne MagwasThomas MahlbergDr. Thomas de MaizièreGisela ManderlaMatern von MarschallHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Dr. Michael MeisterJan MetzlerMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtKarsten MöringMarlene MortlerElisabeth MotschmannCarsten Müller
Dr. Philipp MurmannDr. Andreas NickMichaela NollHelmut NowakDr. Georg NüßleinWilfried OellersFlorian OßnerDr. Tim OstermannHenning OtteIngrid PahlmannSylvia PantelMartin PatzeltDr. Martin PätzoldUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferRonald PofallaEckhard PolsThomas RachelKerstin RadomskiAlexander RadwanAlois RainerDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche
Lothar RiebsamenJosef RiefDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenErwin RüddelAlbert RupprechtAnita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleAndreas ScheuerKarl SchiewerlingJana SchimkeNorbert SchindlerTankred SchipanskiHeiko SchmelzleChristian Schmidt
Gabriele Schmidt
Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön
Dr. Ole SchröderBernhard Schulte-DrüggelteDr. Klaus-Peter SchulzeUwe Schummer
Christina SchwarzerDetlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerTino SorgeJens SpahnCarola StaucheDr. Wolfgang StefingerAlbert StegemannPeter SteinErika SteinbachSebastian SteinekeJohannes SteinigerChristian Freiherr von StettenDieter StierRita StockhofeGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerMatthäus StreblKarin StrenzThomas StritzlThomas Strobl
Michael StübgenDr. Sabine Sütterlin-WaackAntje TillmannAstrid Timmermann-FechterDr. Hans-Peter UhlDr. Volker UllrichArnold VaatzOswin VeithThomas ViesehonMichael VietzVolkmar Vogel
Sven VolmeringChristel Voßbeck-KayserKees de VriesDr. Johann WadephulMarco WanderwitzKai WegnerAlbert WeilerMarcus Weinberg
Dr. Anja WeisgerberPeter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannMarian WendtKai WhittakerPeter WichtelAnnette Widmann-MauzHeinz Wiese
Klaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerOliver WittkeDagmar G. WöhrlBarbara WoltmannTobias ZechHeinrich ZertikEmmi ZeulnerDr. Matthias ZimmerGudrun Zollner
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2820 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Präsident Dr. Norbert Lammert
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SPDNiels AnnenIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeike BaehrensUlrike BahrDr. Katarina BarleyDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelDr. Matthias BartkeSören BartolBärbel BasUwe BeckmeyerBurkhard BlienertWilli BraseDr. Karl-Heinz BrunnerEdelgard BulmahnMartin BurkertDr. Lars CastellucciPetra CroneBernhard DaldrupDr. Daniela De RidderDr. Karamba DiabyMartin DörmannElvira Drobinski-WeißSiegmund EhrmannMichaela Engelmeier-HeitePetra ErnstbergerSaskia EskenKarin Evers-MeyerDr. Johannes FechnerDr. Fritz FelgentreuElke FernerDr. Ute Finckh-KrämerChristian FlisekGabriele FograscherDr. Edgar FrankeUlrich FreeseDagmar FreitagMichael GerdesMartin GersterUlrike GottschalckKerstin GrieseGabriele GronebergUli GrötschWolfgang GunkelBettina HagedornRita Hagl-KehlMetin HakverdiUlrich HampelSebastian HartmannMichael Hartmann
Dirk HeidenblutHubertus Heil
Gabriela HeinrichWolfgang HellmichHeidtrud HennGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Thomas HitschlerMatthias IlgenChristina JantzJosip JuratovicThomas JurkOliver KaczmarekJohannes KahrsChristina KampmannRalf KapschackGabriele KatzmarekUlrich KelberMarina KermerCansel KiziltepeArno KlareLars KlingbeilDr. Bärbel KoflerDaniela KolbeBirgit KömpelAnette KrammeDr. Hans-Ulrich KrügerHelga Kühn-MengelChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerKirsten LühmannDr. Birgit Malecha-NissenCaren MarksKatja MastHilde MattheisDr. Matthias MierschSusanne MittagBettina MüllerMichelle MünteferingAndrea NahlesThomas OppermannMahmut Özdemir
Markus PaschkeChristian PetryJeannine PflugradtDetlev PilgerSabine PoschmannFlorian PostAchim Post
Dr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeDr. Simone RaatzMartin RabanusMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannAndreas RimkusSönke RixDennis RohdeRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannJohann SaathoffAnnette SawadeDr. Hans-JoachimSchabedothDr. Nina ScheerMarianne SchiederUdo SchiefnerDr. Dorothee SchlegelUlla Schmidt
Matthias Schmidt
Dagmar Schmidt
Carsten Schneider
Ursula SchulteSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeStefan SchwartzeAndreas SchwarzRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingRainer SpieringNorbert SpinrathSvenja StadlerSonja SteffenKerstin TackClaudia TausendMichael ThewsFranz ThönnesWolfgang TiefenseeCarsten TrägerRüdiger VeitUte VogtDirk VöpelGabi WeberBernd WestphalAndrea WickleinDirk WieseWaltraud Wolff
Gülistan YükselDagmar ZieglerStefan ZierkeDr. Jens ZimmermannManfred ZöllmerEnthaltenSPDMarco BülowWir setzen die Debatte fort. Nächster Redner ist derKollege Uwe Schummer für die CDU/CSU-Fraktion.
Verehrtes Präsidium! Geschätzte Frau Bentele! LiebeDamen und Herren hier im Plenum! Es ist eine Wocheder Inklusion, die wir hier in Berlin miteinander erleben.Am Montag demonstrierten in einer großen Kundgebungvor dem Brandenburger Tor fast 1 000 Menschen dafür,dass die Gleichstellung der behinderten Menschen in derArbeitswelt, in der Freizeit, in der Familie, im Lebeninsgesamt durchgesetzt wird. Es war ein europäischerAktionstag, und es gab ein Motto, nämlich „Schon vielerreicht. Noch viel mehr vor.“, das ermuntert, abergleichzeitig zeigt: Es ist noch ein weiter Weg, den wirmiteinander zurückzulegen haben.Am Mittwoch bauten Schüler vor dem Paul-Löbe-Haus und vor dem Reichstagsgebäude eine Wand auf,die sie dann gemeinsam wieder abbauten und niederris-sen, um zu zeigen, dass Barrieren nicht nur baulicher Artsind, sondern auch mental in den Köpfen vorhandensind, die man aber miteinander überwinden kann, wennman sich kennenlernt, wenn man sich bemüht, wennman ein Leben miteinander entwickelt, indem man zu-sammenfindet, sich nicht separiert, nicht gegeneinander-steht und nicht nebeneinanderher lebt. Das war eineKampagne, die in 80 Ländern, also global, stattfand, inderen Rahmen Barrieren in einem Happening modellhaftniedergerissen wurden, um damit die Forderung „Inklu-sive Bildung für alle und besonders für alle Kinder“durchzusetzen.Weltweit sind 1 Milliarde Menschen von Behinde-rung betroffen. 80 Prozent von ihnen leben auf der südli-chen Erdhalbkugel. Laut der UNESCO erhält weltweit
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2821
Uwe Schummer
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nur jedes zehnte behinderte Kind überhaupt eine Schul-bildung. Die meisten dieser Kinder werden wegge-schlossen. Man schämt sich für sie. Sie erhalten keinerleiChance.Es ging am Montag bei dem europäischen Aktionstagvor dem Brandenburger Tor um ein Bundesteilhabege-setz in Deutschland. Ein solches Gesetz werden wir indieser Legislaturperiode durchsetzen und verabschieden.Es ging am Mittwoch um das globale Grundrecht einesjeden Kindes auf eine inklusive Bildung und Teilhabe inder Gesellschaft.Der Koalitionsvertrag der Unionsparteien und derSPD umfasst 20 Handlungsaufträge, mit denen wir inden nächsten Wochen und Monaten das Thema „Inklu-sion, Beteiligungsrechte“ vorantreiben werden. Es gehtum Barrierefreiheit beim Städte- und Wohnungsbau so-wie bei Verkehrstechnologien. Es geht aber auch umBarrieren in der Kommunikation, im Netz sowie in denKöpfen, die beseitigt werden müssen, wenn wir mitei-nander leben und uns miteinander verständigen wollen.Es geht weiter darum, dass wir auch in der Entwick-lungszusammenarbeit das Thema der behinderten Men-schen verstärkt aufgreifen. Zu denken ist daran, was inRuanda durch Kriegsteufeleien passiert ist, wie vieleMenschen dort versehrt sind und nach wie vor Hilfe be-nötigen. Auch das ist ein Thema der globalen Verant-wortung, die wir miteinander haben.
– Immer dann, wenn Frau Noll „Jetzt!“ sagt, müsst ihrklatschen.
Ich danke sehr für diese Ermunterung.Ich finde, dass wir bei allen diesen Themen die glo-bale Sichtweise, die uns am Mittwoch dargestellt wurde,weiterhin im Blick behalten müssen. Deshalb bin ichdankbar dafür, dass wir das Thema in der Debatte, diewir heute miteinander führen, noch einmal nach vornebringen. Wir hatten heute – SPD und Union gemeinsam,Kerstin Tack war dabei –, was die Teilhabe in der Ar-beitswelt angeht, eine sehr intensive Anhörung bzw. einFachgespräch zum Thema Schwerbehindertenvertretun-gen. Im Oktober dieses Jahres werden in den Betriebenund Verwaltungen die Schwerbehindertenvertretungengewählt. Sie sind wichtige Ratgeber, um Inklusion in derArbeitswelt umzusetzen. Wie können wir die Schwerbe-hindertenvertretungen auch in Bezug auf ihre Rolle auf-werten und stärken, die sie im Zusammenhang mit demBetriebsrat und den Arbeitgebern spielen? Das gilt aberauch für die betriebliche Gesundheitsprävention, damitdie Behinderten, wenn sie länger arbeiten, durch Ge-sundheitsförderung ihre Arbeitspotenziale einbringenbzw. nutzen können. Wie können sie Komanager in Un-ternehmen werden, um, gesundheitlich gesehen, in derArbeitswelt ihrer Rolle möglichst gerecht zu werden?Das war ein sehr intensives, sehr ausführliches Ge-spräch mit vielen Praktikern aus den Unternehmen undden Verwaltungen. Ich bin sicher, dass wir bei demThema der Beteiligungs- bzw. der Mitwirkungsrechteauch im Bereich der Schwerbehindertenvertretungen ei-nige Positionen miteinander politisch diskutieren unddann auch durchsetzen bzw. verabschieden werden.Wir müssen, was das Bundesteilhabegesetz angeht,aus der Armutsfalle heraus. Es ist richtig, dass bei einerHeirat der Partner oder die Partnerin sofort mit seinembzw. ihrem Vermögen bzw. mit seinen oder ihren Ein-künften mit herangezogen wird, sodass Liebe im Grundegleichzeitig in Armut führt. Das darf es nicht geben. Esist auch ein Verstoß gegen die Verfassung, nach der Eheund Familie in besonderer Weise zu fördern sind.
Es darf keine Armutsfalle geben, wenn eine solche Part-nerschaft zu einer Familiengründung führt. Deshalbmüssen wir miteinander überlegen, wie wir in einemBundesteilhabegesetz ein Bundesteilhabegeld entwi-ckeln. Mit dem sollen auf der einen Seite die Kommunenentlastet werden. Dies wäre ein Weg, ihnen mehr Gelderzur Verfügung zu stellen. Die Nutznießer eines solchenBundesteilhabegesetzes müssen aber die betroffenenMenschen sein. Da müssen wir dann ein Stück weit auchdie Beteiligungsrechte insgesamt im Blick haben undsolche Armutsfallen beseitigen.Wir sehen das Schicksal der Menschen in den betreu-ten Werkstätten. Es ist gut, dass es sie gibt. Die Zahl derMitarbeiter in den betreuten Werkstätten hat sich in denletzten 15 Jahren auf 300 000 verdoppelt. Ich habe nichtden Eindruck, dass sie den Auftrag, den sie auch haben,erfüllen, nämlich immer darauf zu schauen, ob nichtnoch inklusive Arbeitsplätze im Außenbereich – in Inte-grationsunternehmen oder auf dem ersten Arbeits-markt – entwickelt werden können. Das kann mit Assis-tenz bei der Arbeit geschehen. Es muss aber auch eineRückkehrmöglichkeit geben, wenn das nicht gelingensollte. Auch das Scheitern muss natürlich im Blick be-halten werden.Die Werkstätten müssen sich in dieser Frage flexiblerund stärker am Menschen orientiert organisieren. EineVermittlungsquote von unter 1 Prozent in den betreutenWerkstätten kann nicht die Auftragserfüllung sein, diewir von ihnen erwarten. Wir wollen betreute Werkstät-ten, aber sie müssen aus großen Tankern zu Schnellboo-ten werden, die auch auf dem ersten Arbeitsmarkt inklu-sive Arbeit mit entwickeln und mit fördern.
Vielfalt ist die Voraussetzung für Wahlfreiheit. Ichdenke, es war eine wichtige Woche, die wir miteinandererlebt haben. Wir werden gemeinsam über alle Frak-tionsgrenzen hinweg dafür sorgen, dass dies nicht nureine „Woche der Inklusion“ war, sondern dass wir einLeben mit Inklusion vor uns haben.
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2822 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
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Das Wort hat nun die Kollegin Corinna Rüffer für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Ben-tele! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Montag warder Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Be-hinderung. Schon am Dienstag danach ist Ihnen, liebeKolleginnen und Kollegen von Union und SPD, aufge-fallen, dass Sie gerne hier heute im Plenum darüber re-den wollen. Sie mussten dann ganz schnell von uns wis-sen, ob wir einverstanden sind.Ich sage: Besser spät als nie. Persönlich unterhalte ichmich auch gerne über das Thema, erst recht hier im Bun-destag. Aber ganz ehrlich: Von einer Bundesregierungerwarte ich mehr als nur schöne Worte auf den letztenDrücker. Ich erwarte, dass Sie auch etwas vorlegen.Meine Fraktion hat schon vor einem Monat einen An-trag eingebracht, über den wir hier auch debattiert haben.Sie haben damals beklagt, unser Antrag sei enttäu-schend. Die Fachwelt sieht das anders. Sie haben davongesprochen, dass Sie selbst sich da etwas mehr vorge-nommen hätten. Das mag ja sein. Mir ist aber wichtig,was Sie tun. Bisher beschränkt sich Ihr Tun darauf, Ver-sprechen abzugeben. Davon profitieren Sie selbst ammeisten. In Reden und auf Podien schwingen Sie sehrgroße Worte: Wir werden Teilhabeleistungen anrech-nungsfrei gestalten und den Ausschluss vom Wahlrechtabschaffen. – Aber wenn man mit Ihnen kleine, konkreteVorschläge diskutieren will, dann wehren Sie ab und sa-gen: Nein, das geht nicht. Jetzt noch nicht. Wir wollennämlich mehr. Aber das dauert noch. Wir sind in Gesprä-chen. Wir sind uns noch nicht einig.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Gesprä-che über eine Weiterentwicklung des Leistungsrechtesführen wir schon eine ganze Weile. Es gäbe eine Reihevon Verbesserungen, die Sie ohne Weiteres direkt ange-hen könnten. Ein paar Vorschläge haben wir in unseremAntrag vor einem Monat gemacht. Sie könnten zügigsehr viel zum Abbau von Barrieren und gegen Diskrimi-nierung tun. Ich bin gespannt auf die Diskussion, die wirim Ausschuss über unseren Antrag führen werden. Viel-leicht können Sie sich ja durchringen, ihm am Ende zu-zustimmen.
Ich hätte aber auch nichts dagegen, wenn Sie jetztselbst initiativ werden würden. Wenn Sie zeigen möch-ten, dass Sie es wirklich ernst meinen, dann legen Siedoch noch vor der Sommerpause etwas vor. Es könntenja einfach kleinere und überschaubare Projekte sein. InDeutschland ist zum Beispiel noch nicht systematisch si-chergestellt, dass alle neuen Gesetze und Verordnungenauf Bundesebene den Anforderungen der Behinderten-rechtskonvention genügen. Darum könnten Sie sichdoch kümmern. Nehmen wir einen anderen Bereich: InDeutschland dürfen medizinische Experimente an behin-derten Kindern auch dann vorgenommen werden, wennsie selbst nicht davon profitieren. Machen Sie Schlussdamit, jetzt und nicht erst später, irgendwann.
Ich kann Ihnen versichern, dass meine Fraktion im-mer gerne zustimmen wird, wenn Sie etwas dafür tun,dass sich die Situation der behinderten Menschen ver-bessert. Ihnen würde das auch bei behinderten Menschenund ihren Verbänden mehr Anerkennung bringen als dieabenteuerlichen Vorschläge, mit denen der stellvertre-tende Vorsitzende der Unionsfraktion, Michael Fuchs,kürzlich zitiert wurde. Er forderte, bei der Eingliede-rungshilfe zu sparen, um den Abbau der kalten Progres-sion zu finanzieren. Das ist ein kalter Vorschlag. Ichhabe selten einen schlechteren gehört.
Solche Äußerungen machen aber die Problematikdeutlich. Es gibt selbstverständlich auch bei Ihnen in derUnion und in der SPD Abgeordnete, die sich behinder-tenpolitisch engagieren und wirklich etwas bewegenmöchten, unbestritten. In der Debatte vor einem Monathaben sich einige von Ihnen sehr engagiert geäußert undzum Beispiel kritisiert, dass sowohl behinderte Men-schen selbst als auch ihre Ehepartner finanziell für ihreAssistenz aufkommen müssen. Das sei ein Skandal, hießes. Das wurde heute mehrfach wiederholt. In ihrer Ant-wort auf eine Kleine Anfrage meiner Fraktion äußertesich die Bundesregierung aber ganz anders:Die Auffassung, dass die Eheschließung bzw. Part-nerschaft– gut aufpassen –von behinderten Menschen bei Sozialhilfegewäh-rung unerträglich belastet würde, kann nicht über-zeugen. Bei einer Partnerschaft spielen in unsererGesellschaft primär persönliche Aspekte eine Rolle.Liebe zum Beispiel; das stimmt. Aber wir können vonLiebenden nicht erwarten, dass sie deshalb arm werden.Das ist zu viel verlangt. Die Anfrage ist ein paar Wochenalt. Da widerspricht sich irgendetwas.
Liebe Frau Nahles oder wer auch immer mir das be-antworten will, was ist denn da los? Wem soll ich dennglauben? Ihnen, wenn Sie von hier aus reden, oder derRegierung, wenn sie schriftlich Fragen beantwortet?Wenn ich mich dann an die Debatte zur finanziellenLage der Kommunen erinnere – das ist auch noch nichtlange her; die haben wir kürzlich geführt –, schwant mirwirklich nichts Gutes. Da wurde mir etwas zu häufigüber Finanzen und Einsparpotenziale geredet und etwaszu wenig über die Rechte von Behinderten. Manchmalmuss man hinschauen, in welcher Debatte man sich ge-rade befindet, um zu erkennen, was denn wirklich dahin-tersteckt. Das ist ein großes Problem. Wenn das Teilha-begesetz für Sie, liebe Große Koalition, in erster Linieeine Möglichkeit sein sollte, Kosten zu sparen, bieten
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2823
Corinna Rüffer
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wir denjenigen von Ihnen, die ernsthaft an einer men-schenrechtsorientierten Behindertenpolitik interessiertsind, gern Asyl – garantiert und ohne Abschiebung.Danke.
Für die SPD-Fraktion hat nun Kerstin Tack das Wort.
Herr Präsident! Liebe Verena Bentele! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und
Herren! Auf dem Protesttag am Montag haben wir mit
Blick auf die politischen Herausforderungen beim
Thema Menschen mit Behinderung festgestellt – ich
glaube auch, dass diese gemeinsame Klarstellung wich-
tig ist –, dass wir uns diesem Anliegen partei- und frak-
tionsübergreifend gleichermaßen in wertschätzender und
sachlicher Weise widmen müssen.
Jetzt erleben wir aber, dass das, was der Community
als wertvolle Unterstützung zugesagt wurde, in der
parlamentarischen Debatte zu einer relativ armseligen
Veranstaltung verkommt. Denn ohne selbst nur einen
einzigen inhaltlich-fachlichen Vorschlag zu machen, hält
man den anderen vor, dass sie nicht schon selbst längst
Vorschläge auf den Tisch gelegt haben.
Damit verabschiedet man sich auch noch von dem
Grundsatz „Nicht ohne uns über uns“.
Die Grünen fordern von uns – auch jetzt wieder –, in
vier Wochen eine umfängliche Sozialrechtsreform vor-
zulegen.
– Aber selbstverständlich, Frau Rüffer. Das haben Sie
vorhin wieder getan. – Sie ignorieren dabei die Tatsache,
dass Deutschland sich mit der Ratifikation der UN-
Behindertenrechtskonvention verpflichtet hat, ein Ge-
setzgebungsverfahren nur unter Beteiligung der Betrof-
fenen durchzuführen. Wer aber gleichzeitig fordert, das
Vorhaben in vier Wochen abzuschließen, der verabschie-
det sich von dem Anspruch, genau dieser Verpflichtung
nachzukommen.
Ihnen muss klar sein, dass Sie mit diesen von Ihnen
immer wieder vorgebrachten Aussagen gegen den
Anspruch verstoßen, den Sie außerhalb des Parlaments
erheben.
Frau Kollegin Tack, darf die Kollegin Rüffer Ihnen
eine Zwischenfrage stellen?
Ja, darf sie.
Sehr schön. – Frau Kollegin Rüffer.
Liebe Frau Tack, ich finde es wunderbar, dass Sie so
engagiert über dieses Thema diskutieren. Das eint Men-
schen, die sich mit Behindertenpolitik beschäftigen.
Sie haben uns nun unterstellt, dass wir von Ihnen er-
warten würden, ohne Beteiligung Behinderter in vier
Wochen ein Bundesteilhabegesetz vorzulegen. Dem ist
aber mitnichten so. Wir haben nur gesagt, dass Sie nicht
alles in das Bundesteilhabegesetz schieben können. In
unserem Antrag und in den heutigen Reden haben wir
viele Punkte, die man außerhalb dieses Gesetzes regeln
muss, aufgezählt.
Ich möchte von Ihnen wissen, ob Sie der Meinung
sind, dass man all diese Punkte in ein Gesetz schieben
muss, oder ob man nicht die vielen Punkte, über die in
der Vergangenheit unter Beteiligung Behinderter aus-
führlich diskutiert worden ist, schon jetzt umsetzen
kann.
Nein, das kann man nicht. Ich will Ihnen auch sagen,warum. Wir streben gemeinschaftlich eine Gesamt-lösung an, was verbietet, Einzelaspekte herauszupicken.Vier oder fünf Sozialgesetzbücher, die etwas miteinan-der zu tun haben, sollen angefasst werden. Jetzt bei-spielsweise § 13 aus dem SGB XII herauszupicken odereinen Teilaspekt aus einem Paragrafen im SGB IX an-ders zu fassen, bringt uns nicht weiter. Wir müssten esnämlich ansonsten ein zweites Mal anfassen, nämlichdann, wenn wir mit einer großen Reform eine Wirkungauch auf andere Gesetzbücher entfalten wollen.Wir sagen deshalb: Wir wollen kein Klein-Klein, son-dern wir wollen eine große Reform, die Regelungen ausverschiedenen Sozialgesetzbüchern in eine neue Dimen-sion überführt. Wenn man eine Gesamtlösung anstrebt,verbietet es sich, vorher einzelne Rosinen herauspicken.Wenn wir das tun würden, würden wir die Verwirkli-chung der angestrebten großen Reform gefährden.
Das möchten wir ausdrücklich nicht.Im Gegensatz zu Ihrer Fraktion haben wir hier übri-gens mehrfach gesagt, welche Erwartungshaltung wirpolitisch bezüglich eines Bundesteilhabegesetzes haben.Ich kann es gerne wiederholen: Uns geht es natürlich umein Wunsch- und Wahlrecht, um Personenzentriertheit,um ein Raus aus der Sozialhilfe, um eine Überprüfung
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2824 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Kerstin Tack
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der Einkommens- und Vermögensanrechnung, selbst-verständlich auch um eine Lösung der Schnittstellen-problematik SGB VIII, SGB IX, SGB XII und SGB V.All diese Thematiken spielen für uns eine Rolle. Ichwarne dringend davor, ständig zu fordern, wir mögenmit Schnellschüssen in den Bundestag kommen.
Aber unsere politische Erwartungshaltung können wirmiteinander diskutieren. Das tun wir auch.Im Übrigen führen wir viele Gespräche mit den Ver-bänden von Menschen mit Behinderung.
Ich sage Ihnen: Die Erwartungshaltung ist immens, dasswir uns hinreichend miteinander verständigen, wie wireine solche Reform ausgestalten. Richtigerweise habenalle Vorschläge gemacht. Ja, das stimmt. Das sind abermitnichten Vorschläge, die wir alle einfach so zusam-menpacken könnten, dass dann ein Exemplar heraus-kommt, über das Einigkeit besteht. Ich möchte nicht deneinen gegen den anderen Verband ausspielen, indem wirsagen: Eure Meinung ist uns mehr wert als die Meinungeines anderen Verbandes. – Deshalb freue ich mich, dasswir einen Zeitplan vereinbart haben, der es erlaubt, indieser Legislaturperiode ein entsprechendes Gesetz zuerarbeiten und so rechtzeitig zu verabschieden, dass esauch noch seine Wirkung entfalten kann. Ich glaube, ge-nau das haben wir zeitlich richtig konzipiert.
Obwohl wir bis 2016 ein Bundesteilhabegesetz vor-bereiten, haben wir natürlich vor, diverse weitere Zielevorab miteinander zu verhandeln und umzusetzen. DerKollege Schummer hat berichtet, dass wir vorhaben, diegesetzlichen Mitwirkungsrechte der Schwerbehinderten-vertretungen noch in diesem Jahr zu überarbeiten. Wirwerden auch über die Mitwirkungsmöglichkeiten vonWerkstatträten noch in diesem Jahr miteinander insGespräch kommen. Wir werden den ThemenbereichBudget für Arbeit und Inklusion auf dem Arbeitsmarktmiteinander beraten und in ein Konzept gießen. Wirhaben eine Menge vor; das haben wir immer wiedergesagt. Wir haben es übrigens erstmals seit Existenz derBundesrepublik geschafft, dass in einen Koalitions-vertrag die Herausforderungen für Menschen mit Behin-derungen in allen Bereichen – sei es Verkehr, Bau,Innenpolitik, Tourismus, Außenpolitik oder Menschen-rechte – als Querschnittsthema aufgenommen wurden.Ich sage Ihnen: Wir sind verdammt stolz darauf.
Das, was wir als Koalition an dieser Stelle vereinbart ha-ben, ist für die Bundesregierung neu. Es ist aber richtigund wichtig, weil eine inklusive Gesellschaft mit all ih-ren Facetten gebraucht wird und als Querschnittsthemawichtig ist. Selbstverständlich werden wir diese Themennicht erst 2016 behandeln, sondern wir gehen sie jetztsukzessive an. Das ist auch richtig so.Ich wünsche mir – wenn ich das zum Schluss nochsagen darf –, dass wir ein bisschen qualifizierter über einBundesteilhabegesetz reden und uns nicht nur über dieFrage des Zeitpunktes, sondern auch fachlich und inhalt-lich darüber austauschen. Ich glaube, das Thema ist esallemal wert.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Jutta Eckenbach,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! FrauRüffer, lassen Sie mich zu Beginn meiner Rede undmeiner Ausführungen einige Klarstellungen vorneh-men, die mir an dieser Stelle wichtig sind. Sie wissenund es ist gemeinsam vereinbart worden, dass es indieser Woche eine Aktuelle Stunde zu genau der jetzt zubehandelnden Fragestellung hier im Bundestag gebensollte. Es ist dann, und das auch gemeinsam, mit allenvereinbart worden,
dass diese vorgesehene Aktuelle Stunde zugunsten einerüber die Lage in der Ukraine – ich fand diese Debattesehr wichtig, denn es ging um die momentan wichtigsteFrage, die wir neben der in dieser Debatte anstehendenangehen müssen – abgesetzt wurde. Wir legen also sehrgroßen Wert darauf, dass hier im Bundestag Wahrheitenzur Sprache kommen; aber Sie werfen hier einfachFloskeln in den Raum und stellen die Dinge nicht richtigdar. Es gab jedoch eine Vereinbarung aller Fraktionen, esgenau so zu machen.
Und das geschah nicht erst nach diesem Montag, son-dern es war bereits im Vorfeld klar, dass diese AktuelleStunde durchgeführt werden sollte.
Also stellen Sie hier bitte nicht all die Dinge, die wir ge-meinsam vereinbart haben, auf den Kopf!Ich glaube aber, es gibt am heutigen Tag Wichtigeres,als sich mit dem auseinanderzusetzen, was Frau Rüfferhier nicht sachgemäß vorgetragen hat. Wir haben hier imDeutschen Bundestag bereits am 4. April eine sehr inte-ressante Debatte geführt und haben kontrovers disku-tiert. Zugleich konnten wir feststellen, dass wir uns ei-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2825
Jutta Eckenbach
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gentlich darüber einig sind, wie wir vorgehen wollen:Wir wollen nämlich alles Menschenmögliche tun undvor allen Dingen entsprechende gesetzliche Regelungenfinden, damit den Menschen mit Behinderungen mehrTeilhabe zugestanden wird. Das hat dieses Haus am4. April in aller Gemeinsamkeit festgestellt. Ich denke,es ist wichtig, das zu wiederholen.Die Frage, die wir heute wieder diskutieren, ist: Wiegehen wir dabei vor? An dieser Stelle haben Sie, FrauTack, vollkommen recht: Es geht nicht scheibchen-weise. – Aber die Veranstaltung am Montag, an der ichleider nicht sehr lange teilnehmen konnte, aber lange ge-nug, um einerseits Frau Bentele kennenzulernen und mirandererseits einen Rap anzuhören, den ich übrigens aufmeiner Facebook-Seite eingestellt habe, hat uns gezeigt:Auch die Kultur bietet eine Möglichkeit, viele Menschenzu erreichen. Was wir da gehört haben, ist natürlich einetolle Geschichte. Ich empfehle jedem, sich das anzuhö-ren, um zu erkennen, was zwischen Menschen mitHandicap und Menschen, die nichts haben, die normalsind – wobei das falsch ausgedrückt ist, denn wer weißschon, wer normal ist! –, möglich ist.Etwas Weiteres, was mich bei dieser Veranstaltungsehr beeindruckt hat, waren die fünf Ziele, die FrauBentele benannt hat. Lassen Sie mich an dieser Stelle einZiel herausnehmen – es war heute schon einmal Gegen-stand der Debatte –: Es geht um die Frage, wie maneigentlich damit umgeht, wenn jemand wie zum Beispieldie Richterin Frau Poser, über die jetzt im MDR zumzweiten Mal ein Bericht lief, einem ganz normalen Berufnachgeht, aber bei der Arbeit auf eine Assistenz ange-wiesen ist. Sie kann von dem, was sie verdient, nur2 600 Euro ansparen; höher darf ihr Vermögen nichtsein. Wenn es uns wichtig ist, die Teilhabe von Men-schen mit Behinderung am Arbeitsleben zu gewährleis-ten, müssen wir hier dringend etwas ändern. Ich finde,das ist eine der ersten Forderungen, die wir hier aufstel-len müssen.
Mich hat auch beeindruckt, was Frau Bentele bei derVeranstaltung am Montag unter dem Bild des buntenAdlers ausgeführt hat. Sie hat sich des Symbols des Bun-desadlers angenommen und gefragt, was das Bild vombunten Adler bedeutet. In ihren Ausführungen hat siedann deutlich gemacht, wie wichtig es ist, sich vorAugen zu führen, dass so bunt und einzigartig wie wiralle als Einzelne sind, uns symbolisch doch der Bundes-adler eint, der ein Zeichen für Stärke, Freiheit undUnabhängigkeit ist. Unsere Aufgabe in diesem Hause istes, diese Stärke, Freiheit und Unabhängigkeit für einenjeden in unserer Gesellschaft zu gewährleisten.Insofern werden wir Frau Bentele bei ihrer Arbeitunterstützen, so wie wir Herrn Hüppe unterstützt haben.Wir sagen den vielen Menschen mit Handicap: Kommtzu uns! Wir sind alle gleich, und wir wollen alle dasGleiche erreichen, nämlich die Teilhabe am Leben.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Herzlichen Dank. – Letzte Rednerin in dieser Debatte
ist Dr. Astrid Freudenstein, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Frau Bentele! Meine Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe ein-mal nachgeschaut, wie der Begriff der Inklusion eigent-lich in Leichter Sprache umschrieben wird. LeichteSprache ist übrigens auch für Menschen ohne Behinde-rung etwas ganz Hilfreiches und Gutes.
Inklusion bedeutet:– so steht es auf einer Internetseite der Aktion Mensch –Alle Menschen sollen überall dabei sein.Alle Menschen haben die gleichen Rechte.Alle Menschen können selbst bestimmen, was siewollen.Niemand wird ausgeschlossen.Das klingt alles selbstverständlich und auch ziemlicheinfach, und das nicht nur, weil es einfache Sprache ist.Und doch wissen wir, wie schwierig das im Alltag oft istund welche Fragen und Probleme sich da auftun.Bauliche Barrierefreiheit kostet oft zusätzliches Geld,und es ist nachvollziehbar, wenn das einem GemeinderatKopfzerbrechen bereitet. Es ist selbstverständlich, dasseine Belegschaft erst einmal unsicher ist, wenn zum ers-ten Mal ein Kollege im Rollstuhl zur Arbeit kommt. Füreine Grundschullehrerin ist es nicht banal, wenn sieplötzlich auch mit einem Kind mit Downsyndrom arbei-ten soll und das vorher noch nie gemacht hat.Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich meine,wir sollten den Europäischen Protesttag zur Gleichstel-lung von Menschen mit Behinderung auch dazu nutzen,zum offenen Dialog zu ermuntern. Die Grundschullehre-rin, der Gemeinderat – sie alle müssen ihre Ängste, Vor-behalte und Unsicherheiten auch formulieren dürfen,weil wir nur dann vorankommen. Es brauchen nämlichbeim großen Gemeinschaftsvorhaben der Inklusion nichtnur die Menschen mit Behinderungen Hilfe und Unter-stützung. Jeder Einzelne, auch die Nichtbehinderten,brauchen, mal mehr, mal weniger, Hilfestellung beimGroßprojekt der inklusiven Gesellschaft.Für den politischen, für den gesetzgeberischen Teilder Inklusion sind natürlich wir hier zuständig. Die ge-setzlichen Grundlagen für die Gleichstellung von Men-schen mit Behinderung sind im Grundgesetz verankert.Speziell das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz unddas Behindertengleichstellungsgesetz bekräftigen dieGleichheit und verbieten die Diskriminierung und Be-nachteiligung behinderter Menschen. Aber damit habenwir unseren Teil zur Gleichstellung noch nicht getan.
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2826 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Dr. Astrid Freudenstein
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Wenn wir heute in Deutschland von der Gleichstel-lung behinderter Menschen sprechen, dann meinen wirin erster Linie die Chancengleichheit bei der Teilhabe ander Gemeinschaft, und die verlangt ganz konkrete Maß-nahmen.Eine dieser Maßnahmen – sie wurde eben schon an-gesprochen – ist die Entwicklung der Eingliederungs-hilfe zu einem modernen, zeitgemäßen Teilhaberecht,mit dem eine größere Chancengleichheit erreicht werdensoll. Die Neuausrichtung von einer überwiegend einrich-tungsbezogenen zu einer individuellen, personenzen-trierten Teilhabeleistung ist unser Ziel. Menschen mitBehinderung müssen mit ihren spezifischen Bedürfnis-sen im Mittelpunkt stehen. Es muss eine Wahlfreiheitgeben, wenn es darum geht, wie und wo die Menschenarbeiten und wohnen wollen. Es gilt auch, ein Verfahrenzu etablieren, bei dem alle Leistungsberechtigten inDeutschland gleichermaßen an den Leistungen partizi-pieren können. Das Verfahren muss die Bedarfsermitt-lung vereinheitlichen.Bei dieser Reform wird die Perspektive und die Er-fahrung von Menschen mit Behinderung von Anfang anmit einbezogen. Dass das nicht von heute auf morgengeht, das haben wir eben schon diskutiert. Wir wollendie Eingliederungshilfe nicht wegen eines abstraktenKonzepts reformieren, sondern wir wollen sie für dieMenschen reformieren.
Wir wollen die Teilhabe, die dem Einzelnen möglich ist,auch möglich machen. Das ist ein Gebot der Gerechtig-keit und Nächstenliebe. Dabei wird es nicht reichen,möglichst viel Geld zu verlangen. Inklusion ist vielschwieriger. Auf einer anderen Internetseite der AktionMensch steht ebenfalls in Leichter Sprache:Es gibt schon viele Gesetze und Regeln für Inklu-sion. …Diese Gesetze und Regeln sind wichtig. Aber Vieles steht nur auf dem Papier. Es muss sich viel mehr in den Köpfen von denMenschen verändern.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Beate Walter-Rosenheimer, Özcan
Mutlu, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Hochschulpakt fortsetzen und aufstocken
Drucksache 18/1337
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Erster Redner der Debatte ist der Kollege Kai
Gehring, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ein 6-plus-3-Milliarden-Euro-Paket für Bildung undForschung hat die Große Koalition in ihrem Koalitions-vertrag versprochen. Dazu muss ich zwei Dinge sagen:Erstens. Diese Mittel sind viel zu gering, um die Un-terfinanzierung von Krippen, Kitas, Schulen, Hochschu-len, Forschungs- und Weiterbildungseinrichtungen zuüberwinden. Das sind geradezu Peanuts im Vergleichzum Rentenpaket.Zweitens. Bisher handelt es sich bei diesem 6-plus-3-Milliarden-Euro-Paket um eine reine Luftnummer; denndie Koalition streitet seit einem halben Jahr, ob, wie undwohin das Geld überhaupt fließen soll. Währenddessenlandet bei Schülern, Studierenden, Lehrkräften und Wis-senschaftlern kein Cent.Damit riskiert diese Koalition die sichere Finanzie-rungsbasis des Bildungs- und Wissenschaftssystems.Das ist zukunftsvergessen, das ist innovationsfeindlich,und das ist nicht generationengerecht.
Bildung und Wissenschaft brauchen erheblich höhereInvestitionen, und das am besten durch fachlich gebun-dene zusätzliche Mittel des Bundes, die erstens wirklichdort landen, wo sie hingehören – das müssen echteInvestitionen in die Bildungschancen unserer Kindersein –, und zweitens nicht zur Folge haben, dass einzelneLänder ihre Etats für Schulen und Hochschulen absen-ken. Um all das nachzuverhandeln, was in den Koali-tionsgesprächen nicht ausgehandelt wurde, haben Minis-terin Wanka und die Koalitionsfraktionen das jetzt in dieHände von Merkel, Gabriel und Seehofer gelegt. Ange-sichts dessen kann man doch sagen: Nicht der dringendeInvestitionsbedarf bei Bildung und Wissenschaft wirddas Entscheidende sein, sondern der Machtpoker dergroßen drei. Das ist die traurige und trostlose bildungs-und forschungspolitische Realität dieser Großen Koali-tion. Mit diesem Stillstand muss Schluss sein.
Es gibt viele dringend anzugehende Projekte. Wirstellen heute diesen Antrag,
damit die Koalition die Zukunft der Wissenschaftspaktenicht vergisst,
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2827
Kai Gehring
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allen voran die Fortsetzung und Stärkung des Hoch-schulpakts 2020. Wir haben einen fortdauernden Studie-rendenboom. In jedem Jahr seit 2007 war die Nachfragenach Studienplätzen höher als geplant und der Hoch-schulpakt stets unterdimensioniert. Das gilt übrigensauch für die laufende zweite Paktphase. Wir wissen, dass2012 und 2013 ungefähr 20 000 Studienanfänger mehrals ursprünglich berechnet gekommen sind.
Heute hat die Kultusministerkonferenz ihre neue Studi-enanfängerprognose vorgelegt. Sie rechnet für 2014 und2015 mit rund 62 000 Anfängern mehr als bisher pro-gnostiziert und geplant.
Wenn der Bund jetzt seine Zusicherung, dass derHochschulpakt ein atmendes System ist,
ernst nimmt, dann muss der Pakt folglich um 1 Mil-liarde Euro aufgestockt werden. Also, halten Sie sich anIhr Versprechen eines atmenden Systems. Die Mehrbe-darfe sind da. Die Hörsäle sind überfüllt, und sie werdennoch voller.
Wir sagen deswegen in unserem Antrag, dass Sie dieFinanzierungslücke im laufenden Hochschulpakt schlie-ßen müssen und dass Sie in diesem Jahr die Verhandlun-gen über die 2016 startende Paktphase führen undabschließen müssen. Wir als Grüne wollen den Hoch-schulpakt stärken, damit Studierende und Hochschulenwirklich Planungssicherheit haben. Das heißt, dass wirdafür sorgen müssen, dass der Finanzdeckel automatischangepasst wird. Es bringt den Studis und den Wissen-schaftlern nichts, wenn zwischen Bund und Ländernständig nachverhandelt werden muss. Wir wollen mehrunbefristete Beschäftigungsmöglichkeiten für den wis-senschaftlichen Nachwuchs schaffen. Auch dazu sind imHochschulpakt klarere Verabredungen zu treffen. Des-halb bedarf es einer Planbarkeit und Verlässlichkeit derMittel. Wir wollen auch, dass die Programmpauschalenicht infrage gestellt wird, sondern bestehen bleibt, weilder Bund über die DFG Mittel direkt in die Hochschulengeben kann. So kann die Programmpauschale bei Bedarfschrittweise erhöht werden.All das sind Beiträge, um die mangelnde Grundfinan-zierung der Hochschulen und die schlechten Perspekti-ven des wissenschaftlichen Nachwuchses ein Stück weitzu verbessern. Anstatt weiter Eiertänze um das möglicheMilliardenpaket aufzuführen, muss die Große Koalitionendlich das Notwendige für die junge Generation anpa-cken. Kommen Sie aus Ihrer Selbstblockade heraus. Ge-hen Sie ganz wichtige Projekte wie den Hochschulpaktjetzt endlich an.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Frau Dr. Claudia
Lücking-Michel, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Wir führen heute Abend zuspäter Stunde eine kurze Debatte zu einem Thema mitsehr langfristigen Konsequenzen. Der Antrag greiftwichtige Fragen auf, und in manchen Punkten haben wirauch ganz ähnliche Anliegen. Die richtigen Lösungenmüssen wir jedoch noch finden. Zur Bilanz gehört, nichtnur zu sagen, was alles fehlt und dass das Glas nur halb-voll ist, sondern auch zu sagen, was alles passiert ist.
Denn seitdem die CDU/CSU regiert, wissen die Hoch-schulen und die Studierenden: Auf diese Bundesregie-rung ist Verlass. Die Ausgaben für Bildung und For-schung sind kontinuierlich erhöht worden,
und zwar – ich möchte das noch einmal festhalten – seit2005 um 84,3 Prozent. Insgesamt hat der Bund für denHochschulpakt bisher allein 7 Milliarden Euro bereitge-stellt.
Damit ist etwas passiert.
Das Deutsche Zentrum für Hochschul- und Wissen-schaftsforschung sagt nicht nur, dass es so viele Studie-rende gibt wie nie zuvor, sondern auch, dass die jungenMenschen mit dem Lehrangebot, das sie an den Hoch-schulen vorfinden, und mit ihrer Studiensituation zufrie-den sind. Dazu hat der Bund beigetragen. Sie haben esselbst gesagt: Der Hochschulpakt hat zur steigendenZahl an Studienplätzen einen großen Beitrag geleistet.Der Qualitätspakt Lehre hat die Qualität verbessert.Darin, dass jetzt weitere Herausforderungen anstehen,stimmen wir alle, die wir heute Abend hier sind, glaubeich, überein. Weiterhin werden viel mehr junge Men-schen studieren als je zuvor, und das ist gut so. UnsereAufgabe ist es natürlich, weiterhin ausreichende Studi-enkapazitäten zu garantieren. Deutsche Hochschulenwerden für internationale Studierende immer attraktiver.Unser Wissenschaftssystem wird nur so leistungsfähigund innovativ bleiben, wenn viele internationale Talentezuwandern können und auch zuwandern.
Es stimmt: Wir müssen die Perspektiven verbessern, diewir jungen Nachwuchswissenschaftlern bieten. Die
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2828 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Dr. Claudia Lücking-Michel
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Hochschulen brauchen mehr Planungssicherheit, um indiesem Bereich wirkliche Perspektiven aufzubauen.Den Hochschulpakt fortzusetzen, ist – da stimme ichzu – wirklich im Bundesinteresse. Das ist eine nationaleAufgabe. Das, was wir bisher erreicht haben, dürfen wirnicht gefährden. Wir müssen an die Erfolge anknüpfen,sie für die Zukunft sichern und das System inhaltlichfortentwickeln.Es stimmt: Den Hochschulpakt wird es weiterhin nurso oder in einem ähnlichen Zuschnitt geben, wenn dievorgesehenen Haushaltsmittel auch wirklich vom Bundim Bereich Bildung und Forschung ausgegeben werdenkönnen.
Wenn von den 6 Milliarden Euro ein Großteil, womög-lich auch noch unkonditioniert, ohne Zweckbindung andie Länder verteilt wird,
sind sämtliche Vorschläge des Bundes zur Fortführungaller Wissenschaftspakte zur Disposition gestellt.
Das kann nicht in unserem Sinne sein. Dieses Geld ge-hört nicht in die Haushaltslöcher der Länder.
Aber selbst damit haben wir nicht wirklich alle Pro-bleme gelöst. Schließlich will ich deutlich machen:Auch die Fortführung der Pakte bleibt ein Hilfskon-strukt, mit dem wir uns zwar hier und jetzt in die Lageversetzen können, zu handeln, mit dem wir auch viel er-reicht haben, aber bei dem wir jetzt nicht stehen bleibendürfen. Wir brauchen keine weiteren neuen kurzfristigenProjektzyklen, sondern in dieser Legislaturperiode müs-sen wir tatsächlich gemeinsam an den großen Strukturenarbeiten, innerhalb derer der Bund seine Verantwortungfür den Ausbau der Bildungsrepublik wahrnehmen soll.Wer, wenn nicht jetzt wir, soll denn die Kraft aufbringen,die Verfassung in diesem einen wichtigen Punkt zu än-dern? Wenn der Bund nicht jetzt seine Mitzuständigkeitfür das Herzstück des Wissenschaftssystems, die Hoch-schulen, bekommt, wann dann?Insofern bin ich dankbar, dass durch diesen Antragdie Debatte über die weitere Ausgestaltung von Artikel91 b des Grundgesetzes wieder eröffnet ist. Wir müssendieses Thema aus der letzten Legislaturperiode dringendaufgreifen und weiterführen.
Denn ich bin mir sicher: Erst dann, wenn wir hier für Be-wegung sorgen und Veränderungen herbeiführen, wer-den wir das Geld auf Dauer sehr viel besser im Sinnenachhaltiger Hochschulförderung einsetzen können.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Lücking-Michel. – Das
war Ihre erste Rede. Ganz herzlichen Glückwusch dazu!
Frau Dr. Rosemarie Hein redet jetzt für die Linke.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hatmit dem vorliegenden Antrag zwar kein neues, aber einwichtiges Thema aufgegriffen; da sind wir uns alle einig.Denn seit Jahren ist die Hochschullandschaft in der Bun-desrepublik unterfinanziert. Mit der immer stärkerenBindung der Hochschulfinanzierung an die Einwerbungvon Drittmitteln und an einen auf den Markt orientiertenWettbewerb hat sich die Situation an den Hochschulennicht verbessert, sondern verschlechtert. Das gilt für dieLehre, für die Bedingungen für Studierende und für daswissenschaftliche Arbeiten. So hat sich die Betreuungs-qualität an den Hochschulen in den letzten Jahren enormverschlechtert. Vor einigen Jahren betreute ein Professornoch circa 40 Studierende, heute muss eine Professorinfür etwa 57 Studierende da sein.Die Pakte, die die Bundesregierung in den letzten Jah-ren mit den Ländern für eine bessere Finanzierung derHochschulen abgeschlossen hat, konnten diesen Grund-mangel nicht beseitigen. Der Pakt für die Exzellenz-initiative hat diesen Trend sogar verstärkt. Dabei wurdenzwar wenige Leuchttürme der Wissenschaft besserfinanziert. Aber die Hoffnung, durch mehr Wettbewerbund Spitzenförderung auch in der Breite der Hochschul-landschaft Verbesserungen zu erreichen, hat sich nichterfüllt.
Das hat die Linke stets kritisiert, und wir haben leiderRecht behalten.
Es ist nämlich wie im Sport: Man braucht eine solidefinanzierte Breite, damit auch Spitzenleistungen entste-hen. Umgekehrt geht das eben nicht.
Darum sind wir dafür, die Mittel aus der Exzellenzinitia-tive für die Grundfinanzierung der Hochschulen zur Ver-fügung zu stellen.Mit dem Hochschulpakt sollten nun all diese Defizitebehoben werden; alle drei Säulen – die Finanzierung derStudienplätze, der Qualitätspakt Lehre und auch die Pro-grammpauschalen – sind so ausgerichtet. Doch schonlängst ist klar, dass er in allen Bestandteilen hinter denErfordernissen zurückbleibt; mein Kollege Kai Gehring
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2829
Dr. Rosemarie Hein
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hat die Zahlen vorhin genannt. Allein bei den Studien-plätzen musste schon mehrmals aufgestockt werden. Indem Haushalt, der uns vorliegt, ist die erhöhte Zahl nochnicht einmal vermerkt. Wenn man den entsprechendenFAZ-Artikel von heute gelesen hat,
der die Streitereien und Abwägungen innerhalb der Ko-alition ein bisschen auseinandernimmt, dann muss mansich fragen: Was passiert hier? Wird die Kitafinanzie-rung gegen die Hochschulfinanzierung aufgewogen bzw.ausgespielt?
Ich hielte das für fatal. Wir dürfen das nicht zulassen.
Indes sinnen nämlich viele Bundesländer angesichtsvon Schuldenbremse und Haushaltsnot trotz dieses Pak-tes auf Streichungsmöglichkeiten im Hochschulbereich.So sollen in Sachsen-Anhalt in den Jahren von 2015 bis2019 jeweils 5 Millionen Euro gespart werden. Danachsoll erneut verhandelt werden; dann wird es nochschlimmer. Der Rektor der Martin-Luther-Universität inHalle konstatierte ganz nüchtern: Das kostet Studien-plätze.Die Hochschulrektorenkonferenz geht davon aus,dass wir längerfristig mit steigenden oder gleichbleibendhohen Studierendenzahlen zu rechnen haben. Aber derHochschulpakt kann nicht zum Dauerinstrument wer-den. Er muss immer neu ausgehandelt werden. Das gibtdoch keine Sicherheit für die Finanzierung.
Es besteht also akuter Handlungsbedarf. Ich bin sehrdafür, die Länder nicht aus ihrer Verantwortung zu ent-lassen.
Darum ist es höchste Zeit, mit den Ländern über dieFortsetzung des Hochschulpaktes zu verhandeln. – Siemüssen mir öfter aufmerksam zuhören; ich sage das öf-ter.
Der Antrag der Grünen greift nun wichtige Punkteauf, die wir unterstützen können. Es muss allerdingsauch Wert darauf gelegt werden, dass zur Finanzierungvon Studienplätzen auch die Absicherung der sozialen In-frastruktur – des studentischen Wohnens beispielsweiseund der Studienfinanzierung – gehört. Man kann sichauch nicht nur auf die Studienanfängerinnen und -anfän-ger konzentrieren, sondern man muss es bis zum Masterdurchdenken. Ich denke, da bleibt der Antrag der Grünendeutlich zu zahm.Ich glaube, dass der Ansatz, das Kooperationsverbotaufzuheben, auch mit diesem Antrag bzw. mit diesemFakt neue Nahrung bekommt.
Ich hoffe allerdings sehr, dass die Grünen sich nicht da-mit zufrieden geben, es – wir haben die Avancen ebengehört – nur bei den Hochschulen aufzuheben.
Wir meinen: Das Kooperationsverbot muss im gesamtenBildungsbereich aufgehoben werden, damit gemeinsamfinanziert werden kann, was gemeinsam verantwortetwird.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist
Oliver Kaczmarek, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Vorab: Der Hochschulpaktist ein gutes Beispiel für die Zusammenarbeit von Bundund Ländern in der Bildungspolitik. Ich bin weit davonentfernt, zu behaupten, das sei alles perfekt und es habekeine zähen Verhandlungen gegeben; aber insgesamt– das muss man doch festhalten – ist der Hochschulpaktder Versuch einer Antwort auf gestiegene Studienanfän-gerzahlen; es geht um die Entwicklung von mehr Quali-tät an den Hochschulen und um eine gemeinsame Über-nahme der Verantwortung durch Bund und Länder.Diejenigen, die behauptet haben, das gehe gar nicht,und die auch heute anklingen lassen, Bund und Länderkönnten sich da gar nicht verständigen, sind widerlegt.Der Hochschulpakt muss fortgesetzt werden, und zu die-sem politischen Ziel hat sich die Koalition auch eindeu-tig bekannt.
Die hohe Studierneigung – das ist hier schon richtigfestgestellt worden – bleibt ja als Herausforderung beste-hen. Es ist erfreulich, dass sich so viele junge Menschenwie noch nie für ein Hochschulstudium entschieden ha-ben.
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2830 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Oliver Kaczmarek
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Viele von ihnen – das ist auch schon gesagt worden –kommen aus anderen Ländern hierher, um zu studieren.Das ist ein Erfolg, und das ist eine bildungspolitischeKonstante, mit der wir uns beschäftigen müssen.Die Koalition hat darauf auch reagiert. Natürlich hätteich mir persönlich auch noch mehr vorstellen können;aber wir stellen in dieser Wahlperiode 6 plus 3 Milliar-den Euro zusätzlich für Bildung und Forschung zur Ver-fügung.
Noch in diesem Jahr werden 500 Millionen Euro fließen.Wir wissen noch nicht genau, durch welchen Kanal; abersie werden fließen. Das ist ein ganz wichtiges Zeichendafür, dass Bildung und Forschung auch in den nächstenvier Jahren Priorität haben.
Ich will an dieser Stelle noch sagen: Dieses Geld ge-hört nicht irgendwelchen staatlichen Ebenen, die darüberstreiten müssen, dieses Geld gehört der Bildung. Ich binder Meinung, dass keine staatliche Ebene sich über eineandere erheben sollte nach dem Motto „Nur wir wissen,wie man mit diesem Geld umgehen kann“. Nein, Bundund Länder müssen sich darauf einigen, wie dieses Geldin die Bildungseinrichtungen kommt.
Ich vertraue dem Bund und den Ländern, dass es auchdort ankommt, so wie wir es uns im Koalitionsvertragvorgenommen haben.
Wir verzeichnen einerseits so viele Studienanfängerwie noch nie, andererseits bleibt die Tür zur Hochschulefür viele junge Menschen immer noch verschlossen. Von100 Kindern aus Akademikerfamilien – also wo beideEltern einen Hochschulabschluss haben – erhalten 77 dieHochschulzugangsberechtigung. Von 100 Kindern ausNichtakademikerfamilien sind es nur 23. Das zeigt docheines: Die Debatte über Überakademisierung oder Aka-demisierungswahn spiegelt nicht die soziale Wirklich-keit wider. Die Zugänge zur Hochschule müssen weiter-hin für alle offen sein und einigen erst noch eröffnetwerden. Darin dürfen wir nicht nachlassen, und da dür-fen wir auch nichts gegeneinander ausspielen.
Berufliche und allgemeine – in diesem Fall akademi-sche – Bildung dürfen bildungspolitisch nicht als Gegen-sätze begriffen werden. Im Gegenteil, zu Recht betonenwir die Notwendigkeit der Stabilisierung der Wertschät-zung der beruflichen Bildung. Arbeitsfelder differenzie-ren sich aber immer weiter aus. Unternehmen fragenheute auch immer mehr nach einem Mix aus betriebli-cher Praxis und akademischer Weiterbildung oder aka-demischer Ausbildung. Junge Menschen entscheidensich auch deshalb immer öfter für Ausbildung und Stu-dium, manchmal nacheinander, manchmal auch parallel.Das erreicht im Übrigen auch junge Menschen aus densogenannten bildungsfernen Schichten. Die Sozialerhe-bung des Deutschen Studentenwerks liefert dazu interes-sante Zahlen. Gerade im dualen Studium sind vielejunge Menschen aus den sogenannten bildungsfernenSchichten. Deshalb müssen wir Lösungen für beides fin-den. Wir dürfen nicht akademische und berufliche Bil-dung als Gegensätze darstellen, wie das öffentlich teil-weise geschieht, sondern wir müssen sie miteinanderkombinieren, miteinander verschränken. Deshalb ist esrichtig – die Koalition hat das vereinbart –, dass wir denZugang weiterer beruflich Qualifizierter zu einem Ver-handlungskriterium bei den Verhandlungen über denHochschulpakt machen werden. Das ist eine Zukunfts-aufgabe, und das muss im Hochschulpakt auch seinenNiederschlag finden.
Es ist auch richtig – das wurde im Antrag auch ange-sprochen –, dass der Hochschulpakt natürlich zügig wei-terentwickelt und verhandelt werden muss, damit dieHochschulen Planungssicherheit behalten. Einen Punktaus dem Antrag, bei dem wir nicht einer Meinung sind– es stehen sicherlich auch Dinge drin, bei denen wir ei-ner Meinung sind –, will ich aber noch herausgreifen. Esgeht um die Frage: Wer übernimmt eigentlich die Ver-antwortung für einen erfolgreichen Studienabschluss,und wie kann man das politisch mitsteuern?Es ist richtig: Wir wollen die Autonomie von Hoch-schulen. Sie sollen über ihr wissenschaftliches Profil undihre regionale Einbindung entscheiden, und sie sollenauch die Mittelverausgabung selbst steuern können. ZurAutonomie gehören aber eben auch Rechenschaftsle-gung, Verantwortung und die Transparenz des Wissen-schaftssystems.
Deswegen möchten wir eben nicht nur betrachten,wie viel Geld man oben hineinsteckt, sondern es mussauch Outputvariablen geben, die über den Studienerfolgbzw. den erfolgreichen Studienabschluss Auskunft ge-ben. Darüber, wie man sie bemisst – Zielvereinbarungen,Abschlussboni usw. –, kann man länger diskutieren.Deshalb haben wir in der Koalition vereinbart und imKoalitionsvertrag fixiert, dass wir Angebote fördernwollen, die mehr Studierende qualitätsgesichert zu ei-nem erfolgreichen Abschluss führen. Das halte ich auchfür richtig;
denn zur Qualität einer Hochschule gehört eben untrenn-bar, dass sie möglichst viele Studierende zum Abschlussführt.
Deswegen gehört das auch in den Hochschulpakt.Besonders merkwürdig fand ich die Unterstellung,Abschlussboni wären mit Fehlanreizen verbunden, diedann auch die Qualität senken würden.
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Oliver Kaczmarek
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Ich bin hier anderer Meinung; denn wir müssen docheher umgekehrt fragen: Welche Anreize liefert das jet-zige Finanzierungssystem? Das jetzige System liefertden Anreiz, viele Studienanfänger aufzunehmen. Wir ha-ben aber keine formal nachprüfbaren Kriterien für Stu-dienabbrüche und für Studienabschlüsse.Gerade diese Punkte sind für eine gemeinsame Ver-einbarung und übrigens auch für die demokratische Le-gitimation in Bezug auf den Hochschulpakt aber wich-tig. Wir wollen wissen, wie viele Studierende dasStudium auch abgeschlossen haben. Das wollen wirauch mit in die Verhandlungen einbeziehen. Darüber, inwelcher Form das geschehen wird, muss man reden, aberwir müssen die Anreize an dieser Stelle eben auch rich-tig setzen, und dabei muss es auch um Outputvariablengehen.
Der Zeitplan der GWK ist ambitioniert.
Herr Kollege Kaczmarek, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Gehring?
Gerne, ja.
Ich wollte einfach einmal fragen, ob Sie inzwischen
ein wirklich schlüssiges Modell für diese Absolventen-
boni haben und wie das genau aussieht. Wir haben am
Mittwoch im Ausschuss ja gelernt, dass die Hochschul-
statistik noch nicht einmal eine klare Aussage darüber
treffen kann, wie viele tatsächliche Studienabbrecherin-
nen und -abbrecher wir in der Bundesrepublik Deutsch-
land haben. Sie müssen erst einmal die statistischen
Grundlagen dafür schaffen, bevor Sie die Finanzierungs-
systematik des Hochschulpaktes komplett auf den Kopf
stellen. Das leuchtet mir überhaupt nicht ein. Es gibt
nämlich Fachrichtungswechsler, es gibt Studienort-
wechsler, und es gibt reale Abbrecher.
Wie wollen Sie unter diesen Voraussetzungen die Ab-
solventenprämie bzw. die Absolventenboni, die Sie im-
mer fordern und wofür ich noch kein überzeugendes
Konzept gesehen habe, in den Hochschulpakt implemen-
tieren? Hier müssen Sie als Regierungsfraktion auch ein-
mal Antworten liefern.
Ich will gerne darauf antworten. Ich habe ja gerade
schon gesagt: Wie man das bemisst, wird man sehen.
Der Abschlussbonus ist ein Modell, das genannt wird;
Zielvereinbarungen und eine vernünftige Dokumenta-
tion von Absolventenzahlen wären sicherlich ein ande-
res.
Ich wende mich nur dagegen, dass Sie sagen, dass Sie
das überhaupt nicht in Augenschein nehmen – das
schreiben Sie ja in Ihrem Antrag –, weil das angeblich zu
einem Qualitätsnachlass führt. Nein, im Gegenteil: Qua-
lität in einer Hochschule bedeutet auch, möglichst viele
der Studienanfänger zu einem geordneten und qualitäts-
gesicherten Abschluss zu führen. Das haben wir in den
Koalitionsvertrag geschrieben, und das wollen wir auch
realisieren.
Die GWK wird noch in diesem Jahr Vorschläge für
die Weiterentwicklung des Hochschulpaktes vorlegen.
Das wird dann auch Grundlage für unsere weiteren Ge-
spräche sein, und ich bin schon sehr gespannt darauf.
Es ist in dem Antrag richtigerweise aber auch ange-
sprochen worden, dass die Phase des Auslaufens der
Pakte auch zur Weiterentwicklung anregt. Wir haben in
der Koalition vereinbart, über die Zukunft des Wissen-
schaftssystems zu debattieren und sie zu justieren. Wir
haben fest vor, dass der Bund stärker Verantwortung
übernimmt, indem er in die Grundfinanzierung der
Hochschulen mit einsteigt. In diesem Sinn wollen wir
die Pakte weiterentwickeln.
Es geht aber um mehr als nur um Finanzfragen. Es
geht um die Gesamtarchitektur des Wissenschaftssys-
tems: gemeinsame Verantwortung, Arbeitsbedingungen,
Karrierewege. All das wird diese Debatte bestimmen.
Zum Schluss. Ich würde sagen, Sie sollten den Hoch-
schulpakt nicht schlechtreden. Wir sollten genau hinse-
hen, welche Ziele wir damit verbinden. Wir sollten Zu-
gänge zum Studium erhalten und neue eröffnen. Wir
müssen das Wissenschaftssystem in der Mitte der Ge-
sellschaft entwickeln. Das sind wirklich große Heraus-
forderungen für die nächsten dreieinhalb Jahre.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt
das Wort Dr. Philipp Lengsfeld.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bünd-nis 90/Die Grünen, lieber Kai Gehring, Ihr Antrag be-handelt ein wichtiges Thema – das ist heute Abendschon mehrfach gesagt worden –: die auskömmliche Fi-nanzierung unserer Hochschulen. Ich war positiv über-rascht – das sage ich –; denn ich hatte eigentlich erwar-tet, dass Sie gemäß Ihrem Wahlprogramm einfach nur
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2832 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Dr. Philipp Lengsfeld
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eine Aufstockung um 1 Milliarde Euro pro Jahr für denHochschulpakt fordern. Ihr Antrag, jedenfalls so wie ichihn lese, ist da deutlich moderater.
Ich hoffe, dass Sie damit endlich das Signal des 22. Sep-tember 2013 akzeptiert haben.
Die Wählerinnen und Wähler haben eine klare Richtungvorgegeben. Die Union hat die Wahl gewonnen, undzwar mit der Forderung nach solidem Wirtschaften ohneSteuererhöhungen, verbunden mit dem klaren Bekennt-nis, einen Schwerpunkt auf Bildung, Forschung undInnovation zu legen.
Man kann diesem Koalitionsvertrag vielleicht daseine oder andere vorwerfen, aber sicherlich nicht, dasswir einen zu geringen Fokus auf den BildungsstandortDeutschland legen. Hier können Sie uns unterstützen,liebe Bildungspolitiker von Bündnis 90/Die Grünen;denn wir haben, zumindest was die Fortsetzung desHochschulpakts angeht, gar keinen Dissens; das ist dar-gestellt worden. Hier droht von ganz anderer Seite Un-gemach.
Es gibt offenbar die Vorstellung mancher Länder, dassdie 6 Milliarden Euro für Kita, Schule und Hochschule,die im Koalitionsvertrag vereinbart sind, einfach blankoüberwiesen werden und der Bund weiter keine Rollespielen soll. Das halten wir für falsch.
Zu den Details Ihres Antrags ist hier schon viel Wich-tiges und viel Richtiges gesagt worden. Ich möchte überzwei grundsätzliche Dinge reden. Eines dieser Dinge istnoch gar nicht angesprochen worden. Ich halte zweiGrundprämissen Ihrer Argumentationslinie für nichtganz korrekt.Die erste Grundprämisse ist: Je mehr Studienanfän-ger, desto besser. Aber hat Deutschland eine so geringeJugendarbeitslosigkeit und haben wir eine so gute Posi-tion in Europa, weil wir einfach viel mehr Studienanfän-ger haben als unsere europäischen Nachbarn? Nein.
– Nein, so einfach ist es nicht. Wir sind so gut aufge-stellt, weil – das ist auch gesagt worden – unsere Fach-kräfteausbildung auf zwei Säulen ruht. Wir müssen ebendafür sorgen, dass beide Säulen gestärkt werden und er-folgreich sind. Hier darf es keine Einseitigkeit geben.
Wir müssen dafür sorgen, dass es Chancengerechtig-keit gibt. Aber – auch das sage ich ganz deutlich – wirmüssen auch dafür sorgen, dass möglichst viele Schüle-rinnen und Schüler den Ausbildungsweg einschlagen,der für ihre Begabung und für die aktuellen Verhältnisseder beste ist. Dafür brauchen wir an unseren Schulen einLeistungs- und Differenzierungssystem. Deshalb vertei-digt die Union das Gymnasium. Das ist eine ganz klarePolitik, die wir da fahren.
Die zweite Grundprämisse Ihres Antrags impliziert– da will ich hier ein ganz heißes Thema ansprechen –,dass es gerecht sei, dass die Steuerzahler die Gesamtkos-ten für das Studium aller Studierenden tragen. Ich per-sönlich halte dies für falsch. Ja, natürlich: Sie haben denKampf um Studiengebühren politisch gewonnen; das istüberhaupt keine Frage.
Aber eben nur politisch, nicht fachlich. Fachlich habenSie unrecht. Die Daten haben gezeigt, dass Studienge-bühren eben keinen relevanten negativen Einfluss haben,weder auf die Studienanfängerquote noch auf die sozialeZusammensetzung der Studierendenschaft. Das sind dieDaten.
Sie fordern eine Aufstockung des Hochschulpakts;dafür haben Sie schon viel Unterstützung erfahren. ImWahlprogramm hatten Sie dafür 1 Milliarde Euro proJahr mehr veranschlagt; das haben Sie in Ihrer Rede sel-ber gesagt, Herr Gehring. Darf ich daran erinnern, wieviel Geld im Jahr 2008, also der Hochzeit der Studienge-bühren, jährlich in Deutschland über Studiengebühreneingenommen wurde? Es waren 1,2 Milliarden Euro.
Sie wollen also die Probleme lösen, die Sie durch dievehemente Diffamierung von Studiengebühren ein Stückweit selbst mit geschaffen haben. So sieht es aus. So ein-fach ist es eben nicht.
– Das ist ein ganz klarer Vergleich von zwei Summen:1 Milliarde Euro Einnahmen, die angeblich fehlen, und1,2 Milliarden Euro, die wir eingenommen hatten.
So einfach ist es nicht. Wir müssen darüber reden, wiewir die von Ihnen formulierten Ziele, die ja nicht völligfalsch sind, gemäß unserem Wählerauftrag erreichenkönnen, und diese Diskussion läuft bereits.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2833
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Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/1337 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Gesetzes zur Fortentwicklung des
Meldewesens
Drucksache 18/1284
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Interfraktionell sind für die Aussprache 25 Minuten
vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.
Erster Redner in der Debatte ist Dr. André
Berghegger, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Wir beraten heutezum ersten Mal den Gesetzentwurf zur Änderung desGesetzes zur Fortentwicklung des Meldewesens, ein zu-gegebenermaßen sehr technisch klingender Titel. Aberdas Thema hat in der Vergangenheit zu lebhaften öffent-lichen Diskussionen geführt.In der letzten Legislaturperiode stand nämlich diegrundlegende Reform des Meldewesens an. Grund hier-für war, dass im Rahmen der Föderalismusreform I dieZuständigkeit für das Meldewesen von den Ländern aufden Bund gewechselt ist. Ein inhaltlicher Schwerpunktder damaligen Debatte war sicherlich die Fragestellung:Unter welchen Voraussetzungen dürfen Meldeämter Da-ten an gewerbliche Anbieter, also an Adresshändler undandere Firmen, weitergeben?Der Bundestag hat nach Abschluss des Vermittlungs-verfahrens aus meiner Sicht ein modernes Meldegesetzbeschlossen. Datenschutz, Verbraucherschutz und dasGrundrecht auf informelle Selbstbestimmung warenThemen, die in der Debatte eine Rolle spielten. Ein in-haltlicher Schwerpunkt wurde auch auf die Einbezie-hung der Betroffenen gelegt. Die Bandbreite reichte vonder Zustimmungslösung über die Widerspruchslösungbis im Wesentlichen wieder hin zur Zustimmungslösungnach dem Vermittlungsausschuss. Wichtig ist, dass vorbestimmten Datenübermittlungen das Einverständnis derBürger erforderlich ist.Aus meiner Sicht zeigt diese Diskussion erneut: Fürdie öffentliche Hand ist der sensible Umgang mit Datenäußerst wichtig. Warum entstand eigentlich im Verfahrenerst vor der Anrufung des Vermittlungsausschusses einelebhafte öffentliche Diskussion?
Das Gesetz war lange vorbereitet. Jeder – auch jedeFraktion – hätte alle Bedenken auch öffentlich vortragenkönnen. Aber es geschah relativ wenig. Vielleicht war esdie Zeit vor Bekanntwerden der Überwachungspraktikender NSA. Vielleicht war die Öffentlichkeit noch nicht sosensibilisiert wie heute.Aber der eigentliche Auslöser war ein ganz anderer,nämlich der Zeitpunkt der Debatte. Zum Zeitpunkt derDebatte fand die Fußballeuropameisterschaft statt, mitdem Halbfinale Deutschland gegen Italien, das Deutsch-land – aus meiner Sicht leider 1 : 2 – verloren hat, unddie Ränge, einschließlich der Ränge der Presse, warenäußerst dürftig besetzt. Teile der Presse monierten dievermeintlich schnelle Beratung mit wenigen Mitgliederndes Bundestages zu dieser späten Stunde. Das Verfahrenwurde etwas in Zweifel gezogen.Deswegen, denke ich, besteht heute die gute Möglich-keit, die Bedeutung dieses modernen Melderechts aufder einen Seite und den sensiblen Umgang mit Daten aufder anderen Seite zu betonen und herauszustellen. Wirwerden verschiedene redaktionelle Änderungen vorneh-men und Anregungen aus dem Bundesrat aufnehmen.Insbesondere wird eine einheitliche Geltung des Mel-derechts im gesamten Bundesgebiet ermöglicht werden.Vor allem aber soll die Entscheidung des Bundesverfas-sungsgerichts zur steuerlichen Gleichstellung von Eheund Lebenspartnerschaft im Einkommensteuerrechtauch im Melderecht umgesetzt werden.Details sind hier noch offen. Aus meiner Sicht müs-sen wir jedoch noch einen Aspekt beachten, und zwarden, dass keine unverhältnismäßigen Schwierigkeitenfür Beschäftigte bei Kirchen entstehen, die eine Le-benspartnerschaft führen oder deren Ehe geschiedenworden ist. Der Prälat im Kommissariat der deutschenBischöfe hat schriftlich mitgeteilt, dass Meldedaten, dieder Kirche von den Meldebehörden übermittelt werden,nicht für arbeitsrechtliche Zwecke genutzt werden.
Aus meiner Sicht ist das ein wichtiges Signal für die Ar-beitnehmer. Dennoch werden wir vor der abschließen-den Lesung Prälat Dr. Jüsten ein Berichterstatterge-spräch anbieten; da sind die Kollegin Frau Fograscherund ich einer Meinung. Wir werden nach einem gemein-samen Termin Ausschau halten, um über diese Thematikzu debattieren.
Aber letztendlich sage ich deutlich: Die Entscheidungdes Bundesverfassungsgerichts zur Gleichbehandlungvon Ehe und Lebenspartnerschaft ist eindeutig auch im
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2834 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Dr. André Berghegger
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Melderecht umzusetzen. Sonst läuft diese Entscheidungins Leere.Bleibt also aus meiner Sicht nur zu hoffen, dass diezweite und dritte Lesung nicht wieder zur Zeit eines„Straßenfegers“ bei der anstehenden Fußballweltmeis-terschaft durchgeführt wird, um eine ordnungsgemäßeDebatte zu führen. Aber ich kann Sie beruhigen: Daserste Spiel der deutschen Mannschaft findet erst zehnTage später statt.Vielen Dank für das freundliche Zuhören.
Vielen Dank. – Für die Fraktion Die Linke hat jetzt
das Wort Frank Tempel.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Zu später Stunde sitzen wir wieder; aberansonsten ist zu Ihrer Ablaufschilderung einiges hinzu-zufügen. Dass die Linke traditionell nicht mit jederRegelung im Meldewesen einverstanden ist und hier er-hebliche Gefahren für den verantwortungsvollen Daten-schutz sieht, ist allgemein bekannt. Der vorliegende Ge-setzentwurf macht den Weg für das vor zwei Jahrenverabschiedete Meldegesetz frei. Das Meldegesetz soll,wie es im Entwurf heißt, aktualisiert und optimiert wer-den, „damit eine reibungslose Implementierung gewähr-leistet ist“. Das klingt gut, nett, formal und wie schonbeim letzten Mal völlig unproblematisch.Die lange und heftige öffentliche Debatte hatte abereinen guten Grund; denn die schlimmsten Entgleisungendes Ausgangsgesetzes mussten verhindert werden. Ichmöchte Sie daran erinnern, dass der Bürger nicht mehrgefragt werden sollte, wann seine Daten weitergegebenwerden. Er sollte nach der alten Regelung selbst aktivwerden und Widerspruch einlegen, um die Weitergabeseiner persönlichen Daten zu verhindern. Dem wurdedeutlich widersprochen. Ich möchte auch daran erinnern:Erst kurz zuvor, zwei Tage vor der Sitzung des Innenaus-schusses, kam es durch einen Änderungsantrag zu dieserÄnderung.
Deswegen gab es eine verspätete Diskussion darüber.Das hatte nichts mit irgendeinem Fußballspiel zu tun,sondern das war ein ganz gezielter strategischer Schach-zug Ihrer Fraktion.
Die Widerspruchslösung ist nun durch eine Einwilli-gungsregelung ersetzt. Das ist erst einmal in Ordnung,wenn auch nicht ganz unproblematisch; denn die Einwil-ligung muss nun bei dem betreffenden Unternehmenselbst hinterlegt werden. Das heißt auf Deutsch: Das Un-ternehmen muss bei mir als Bürger anrufen, muss sichdie Einwilligung holen und diese dann den Meldestellenvorlegen. Ich möchte die Unternehmen nicht unter Ge-neralverdacht stellen. Aber ich weiß nicht, ob jede Ein-willigung, die bei einer Meldestelle vorgelegt wird, tat-sächlich echt ist. Deswegen wäre es wesentlichsinnvoller, dass die Meldebehörde sich selbst darumkümmert, ob eine Einwilligung vorliegt, also mich alsBürger fragt und das nicht über Dritte, über Unterneh-men, macht. Dann ist diese Regelung für den Bürgerwirklich sauber nachvollziehbar.
Für verzichtbar halten wir aus verschiedenen Grün-den weiterhin die Wiedereinführung der Hotelmel-depflicht und die Vermieterbescheinigung beimWohnungseinzug, aber auch die grundsätzliche Daten-übermittlung an Religionsgemeinschaften.Es ist nicht meine Art, alles pauschal zu kritisieren.Der Gesetzentwurf enthält auch vernünftige Regelun-gen. Neben einigen redaktionellen Änderungen – das ha-ben Sie schon angesprochen – gibt es zum Beispiel in§ 49 eine Ergänzung, die aus meiner Sicht sehr sinnvollist. Die Erweiterung der Protokollierungspflicht, die sichauf alle automatisierten Melderegisterauskünfte bezieht,ist eine sehr sinnvolle Regelung, die das Recht des vonder Datenerfassung Betroffenen auf Selbstauskunftdurchaus stärkt. Das begrüßen wir, und das sagen wirauch so.
Es gibt aber auch – das haben Sie richtigerweise an-gesprochen; da es noch die zweite und dritte Lesunggibt, kann man noch etwas machen – ein Problem, des-sen Lösung uns der Bundesrat sozusagen als Hausauf-gabe aufgegeben hat. Das ist § 42. Er sieht nämlich vor,dass der Familienstand bei Kirchensteuerpflichtigen,zum Beispiel ob sie geschieden sind oder in einer Le-benspartnerschaft leben, übermittelt werden muss.Darauf sollte zumindest bei Beschäftigten von Reli-gionsgemeinschaften verzichtet werden. Es geht hieralso um eine bereichsspezifische Übermittlungssperre.Warum? Die Übermittlung dieser Daten kann schutz-würdigen Interessen des betroffenen Personenkreises zu-widerlaufen und ihnen erheblichen Schaden zufügen,zum Beispiel eine Kündigung. Das ist ein guter Hinweis.Wenn die Mehrheit hier im Haus schon nicht unseremVorschlag folgt, generell keine Datenübermittlung anReligionsgemeinschaften zu erlauben – es finden sichnun einmal Unterschiede in unseren Positionen –, dannkann man wenigstens in diesem Punkt eine Einigung er-zielen. Auch daran werden wir mitarbeiten.Die Schadensbegrenzung im Hinblick auf den altenEntwurf ist also noch nicht abgeschlossen. Es sind nochgenug Hausaufgaben zu machen. Dazu wird sich dieLinke in den Ausschusssitzungen entsprechend einbrin-gen. Wir bitten nur darum, dass Änderungsanträge nichtwieder erst zwei Tage vor der Innenausschusssitzungvorgelegt werden.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2835
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Gabriele
Fograscher, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Mit dem Bundesmeldegesetz, das in der vergange-nen Legislaturperiode beschlossen wurde, ist einBeschluss der Föderalismuskommission I umgesetztworden. Damit wurde die alleinige Gesetzgebungskom-petenz für das Meldewesen auf den Bund übertragen.Bisher existieren in den Bundesländern noch 16 unter-schiedliche Formen von Melderegistern, die unter-schiedliche Standards haben und untereinander auchnicht vernetzt sind. Den Zeitraum bis zum Inkrafttretenam 1. Mai 2015 brauchen die Meldebehörden zur Um-setzung und Umstellung auf das neue System. Dannwird das Meldewesen den Ansprüchen an eine moderneVerwaltung gerecht werden.Das Melderecht verpflichtet jeden Bürger und jedeBürgerin, bestimmte Daten an die Meldebehörden zuübermitteln. Dazu gehören der Familienname, frühereNamen, Vornamen, Geburtsdatum, Geburtsort, Staatsan-gehörigkeit, Adresse, Familienstand und andere Daten.Die Bürgerinnen und Bürger müssen darum sicher sein,dass ihre Daten bei den Meldebehörden gut und sicheraufgehoben sind und nicht unbegründet an Dritte weiter-gegeben, dort gespeichert, gegebenenfalls weiterverwen-det oder zu Werbezwecken missbraucht werden. Essollte daher der Regelfall sein, dass es für die Weitergabevon Daten der Einwilligung des oder der Betroffenen be-darf.Viele von Ihnen können sich noch daran erinnern,dass die Verabschiedung des Bundesmeldegesetzes 2012hohe Wellen geschlagen hat; denn kurzfristig – esstimmt: zwei Tage vor der Innenausschusssitzung – hatdie damalige schwarz-gelbe Koalition einen Änderungs-antrag eingebracht und mit ihrer Mehrheit beschlossen.Dieser Änderungsantrag hatte zum Inhalt, dass die Wei-tergabe der Daten zum Regelfall geworden wäre; nurwenn der Bürger oder die Bürgerin ausdrücklich bei derBehörde widerspricht, sollte das unterbleiben. Diesedeutliche Verschlechterung des Datenschutzniveaus ha-ben wir als SPD nicht mitgetragen, und nach einer öf-fentlichen Protestwelle – es wurden sowohl der Inhaltdes Gesetzes als auch das Zustandekommen des Geset-zes kritisiert – wurde die ursprüngliche Regelung mit-hilfe des Bundesrates im Vermittlungsausschuss wiederdurchgesetzt. Jetzt ist die Weitergabe von Daten anstrenge Kriterien gebunden.Das Gesetz zur Fortentwicklung des Meldewesensmuss noch vor Inkrafttreten in Einzelfragen aktualisiertwerden. So sollen unter anderem Ermächtigungsgrund-lagen für notwendige Folgeregelungen in Bund und Län-dern früher in Kraft treten. Zudem müssen noch weitereRichtigstellungen vollzogen werden, sodass sich Melde-pflichten in anderen Gesetzen nicht mehr aus den Lan-desmeldegesetzen oder dem Melderechtsrahmengesetzherleiten, sondern aus dem Bundesmeldegesetz.Das Bundesverfassungsgericht entschied am 7. Mai2013, dass die Ungleichbehandlung von Ehen und einge-tragenen Lebenspartnerschaften verfassungswidrig ist.Die entsprechenden Vorschriften des Einkommensteuer-gesetzes verstoßen gegen den allgemeinen Gleichheits-satz. Dieses Urteil hat auch Auswirkungen auf das Mel-derecht. So muss zum Beispiel bei der Bildung undAnwendung der elektronischen Steuerabzugsmerkmaledas Datum der Begründung oder Auflösung einer Eheübermittelt werden. Aufgrund des Urteils des Bundes-verfassungsgerichts muss nun auch das Datum der Be-gründung oder Auflösung einer Lebenspartnerschaftübermittelt werden. Mit dem heute vorliegenden Gesetz-entwurf sollen diese notwendigen Änderungen nachvoll-zogen werden.Der Bundesrat spricht in seiner Stellungnahme einProblem an – darauf ist schon hingewiesen worden –,das wir in den anstehenden Ausschussberatungen lösenmüssen. § 42 Bundesmeldegesetz regelt die Datenüber-mittlung an öffentlich-rechtliche Religionsgemeinschaf-ten, zum Beispiel zur Erhebung der Kirchensteuer. Auchhier wird das Urteil des Bundesverfassungsgerichtsnachvollzogen, also die Vorschrift wird um die eingetra-genen Lebenspartnerschaften ergänzt. Da die Meldebe-hörden auch den Familienstand an die öffentlich-rechtli-chen Religionsgemeinschaften übermitteln, können dieKirchen so erfahren, ob ihre Mitarbeiter verheiratet odergeschieden sind oder in einer eingetragenen Lebenspart-nerschaft leben. Da aber zum Beispiel die katholischeKirche die eingetragene Lebenspartnerschaft als „Ver-stoß gegen Loyalitätsobliegenheiten“ ablehnt, könnte dieÜbermittlung dieser Daten negative Auswirkungen fürdie Kirchenmitarbeiter bis hin zur Kündigung haben.Hier wollen wir eine Lösung finden. Der Bundesratschlägt die Einführung einer Widerspruchsmöglichkeitfür die betroffenen Personen vor. Diesen Vorschlag halteich nicht für zielführend. In einem aktuellen Schreibendes Kommissariats der deutschen Bischöfe wird einesolche Regelung auch abgelehnt.Wir müssen versuchen, eine andere Lösung zu finden,und die kann es nur zusammen mit der katholischen Kir-che geben. In einem Schreiben vom 6. Mai dieses Jahresvom Kommissariat der deutschen Bischöfe wird klarge-stellt – ich zitiere –:Wir möchten in diesem Zusammenhang darauf hin-weisen, dass die Meldedaten, die der Kirche vonden Meldebehörden übermittelt werden, nicht fürarbeitsrechtliche Zwecke genutzt werden.Und weiter:Ein gegenseitiger Abgleich zwischen Beschäftig-tendaten, die vom kirchlichen Arbeitgeber erhobenwerden, und den Meldedaten, die die Kirchen vonden staatlichen Meldebehörden erhalten, findetnicht statt.
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2836 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Gabriele Fograscher
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Wir werden das Gespräch mit der Opposition suchen.Ich hoffe, dass wir hier zu einem guten Ergebnis kom-men werden.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege
Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nochein Wort zur Legendenbildung des Kollegen von derCDU. Das Problem war in der Tat – Sie waren damalsnoch nicht dabei – der kurzfristige Antrag der schwarz-gelben Koalition, dem wir im Ausschuss widersprochenhaben. Es spricht für die Beratungsintensität in IhrerFraktion und in der ausgeschiedenen Fraktion der FDP,dass die Koalition hinterher den Bundesrat gebeten hat,man möge das Gesetz, das man hier mit Koalitionsmehr-heit – wahrscheinlich irgendwie mit Überzeugung –durchgewunken hat, doch bitte in den Vermittlungsaus-schuss schicken, um das Schlimmste zu korrigieren. Dashaben wir gemacht. Da hat Rot-Grün gerne geholfen.Aber für die Zukunft sollten wir uns merken: Nicht mitTischvorlagen arbeiten und sorgfältige Beratungendurchführen, das hilft manchmal weiter.
Sorgfältige Beratungen rate ich uns auch bei demPunkt, den alle Kollegen jetzt angesprochen haben: Wiegehen wir mit der Übermittlung von Familienstandsda-ten an Religionsgemeinschaften um? Die erste Frage, dieich dazu stellen möchte, ist: Warum müssen diese Datenüberhaupt an die Religionsgemeinschaften übermitteltwerden? Ich habe mir gerade die EKD-Homepage ange-schaut, um herauszufinden: Wie läuft das eigentlich mitder Kirchensteuer? Die Kirchensteuer wird von denFinanzämtern berechnet und erhoben. Die EKD schreibt:Die Verwaltung der Kirchensteuer durch dieFinanzämter ist nahezu umfassend. Sie reicht vonder Festsetzung und Erhebung bis zur Beitreibungund zum Einzug der von den Arbeitgebern abzufüh-renden Kirchenlohnsteuer.Es gab ein Problem mit den Banken; das ist aber be-hoben. Das berührt nicht die Frage des Melderechts.Deshalb stellt sich zunächst die Frage: Brauchen wir dasüberhaupt?Solange die katholische Kirche sagt, dass das Heira-ten einer geschiedenen katholischen Person, die bei derkatholischen Kirche, etwa bei der Caritas, beschäftigt ist,ein Kündigungsgrund ist, solange die katholische Kirchesagt, dass die Begründung einer Lebenspartnerschaftdurch eine katholische Person, die bei der katholischenKirche beschäftigt ist, eine Loyalitätsverletzung gegen-über der katholischen Kirche ist und zur Kündigungführt, so lange, meine ich, können wir als Gesetzgebernicht regeln, dass ein solches Datum bei kirchlichen Be-schäftigten an die Religionsgemeinschaften gemeldetwird. Das würde ich gern auch mit Prälat Jüsten in einerBerichterstatterrunde klären; telefonisch habe ich dasschon getan. Die beste Lösung wäre: Die katholischeKirche versichert uns, dass sie in Zukunft weder wieder-verheiratet Geschiedenen noch eingetragenen homo-sexuellen Lebenspartnern kündigen wird. – Dann wäreich auch ganz sicher.
Ansonsten glaube ich die Intention des Briefes derDeutschen Bischofskonferenz an uns, aber ich glaubenicht, dass diese Argumentation lebenstauglich ist. Dawird ja gesagt: Wir wollen diese Daten für die Feststel-lung des Mitgliederbestandes, die Führung der Kirchen-bücher, die Gewährleistung des kirchlichen Wahlrechtssowie für pastorale und seelsorgerische Zwecke haben.Das heißt, der Priester und der Gemeindevorstand erfah-ren für diese Zwecke, wer wiederverheiratet geschiedenist, wer in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft lebt.Da nützt es nichts, dass man sagt: Es wird nicht an dieArbeitgeber übermittelt. – Die Menschen sind doch nichtgespalten in ihrem Bewusstsein.In vielen Caritas-Vorständen sitzt der Priester, dervorher als Seelsorger nach der Schließung der Le-benspartnerschaft oder der neuen Ehe, zum Jubiläumoder zum 60. Geburtstag mit einem Blumenstrauß oderzum Gespräch bei den Leuten war. Soweit es sich umBeschäftigte der Kirche gehandelt hat und er ihnen dannals Caritas-Vorstand begegnet, hat er das natürlich totalvergessen. – Das ist, glaube ich, nicht realitätstauglich.Deshalb müssen wir da eine Regelung finden, die ver-hindert, dass das, was unser geltendes Recht den Men-schen als Freiheit an familienrechtlichen Instituten an-bietet – mit dem Schutz der Verfassung! –, dazu führt,dass diese Menschen ihre Lebensgrundlage und ihrenArbeitsplatz bei kirchlichen Arbeitgebern aufgrund derDatenübermittlung verlieren können. Da müssen wir ei-nen vernünftigen Ausgleich finden. Wir sollten das baldmachen – im Dialog des Bundestages mit den Vertreternder katholischen Kirche und mit den Vertretern des Les-ben- und Schwulenverbands; denn wir sollten in diesemZusammenhang auch mit den Betroffenen reden, damitklar wird: Was sind die Ängste? Was sind die Befürch-tungen? Wie können wir eine Lösung finden, die für dieKirchen und die Betroffenen akzeptabel ist?Ich hatte schon gesagt: Das Beste wäre, die katholi-sche Kirche würde ihr kirchliches Arbeitsrecht etwas an-ders praktizieren. Prälat Jüsten sagte mir, darüber werdeinzwischen geredet. Ich hoffe, es wird nicht nur geredet,sondern es kommt auch zu einem guten Abschluss – mitGottes Segen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2837
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Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Dr. Tim
Ostermann, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem
schon beschlossenen Bundesmeldegesetz straffen und
vereinheitlichen wir das Melderecht in Deutschland. Aus
meiner Sicht ist es ein sinnvolles Ergebnis der Föderalis-
musreform, dass der Bund für diesen Bereich die Ge-
setzgebungskompetenz erhalten hat.
Das neue Melderecht wird die Bürokratiekosten ab
dem kommenden Jahr deutlich reduzieren. Man denke
etwa nur an die Einsparpotenziale durch IT-Standards,
die der Verwaltung eine weitgehende Vereinfachung des
Meldewesens ermöglichen. Darüber hinaus wird die
Meldepflicht in Krankenhäusern abgeschafft und die
Hotelmeldepflicht vereinfacht. Die Wirtschaft kann da-
durch jährlich Kosten im dreistelligen Millionenbereich
einsparen.
Mit dem Bundesmeldegesetz tun wir auch etwas ge-
gen die sogenannten Scheinanmeldungen. Bei diesen
melden sich Menschen für eine bestimmte Wohnung
beim Amt an, ohne dass sie dort tatsächlich wohnen und
ohne das Wissen des Vermieters. Viele Ordnungswidrig-
keiten, aber auch Straftaten gehen von dieser Praxis aus,
wie etwa die Erschleichung von Plätzen an Schulen oder
Kreditkartenbetrug. Die Bekämpfung von Scheinanmel-
dungen ist ebenfalls wichtig im Kontext der Armutsmi-
gration aus östlichen EU-Ländern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das neue Melde-
recht wird ab Mai 2015 greifen. Allerdings müssen
schon vorher einige Anpassungen am Bundesmeldege-
setz vorgenommen werden, damit es reibungslos in
Kraft treten und funktionieren kann. Das entsprechende
Änderungsgesetz, das wir heute in erster Lesung debat-
tieren, ist weitgehend unstrittig.
Zum reibungslosen Funktionieren zählt etwa, dass der
Bund und die Länder zur Vorbereitung der Umsetzung
Rechtsverordnungen erlassen können. Dafür müssen die
entsprechenden Ermächtigungsgrundlagen im Bundes-
meldegesetz früher in Kraft treten als das übrige Gesetz.
Das wollen wir mit diesem Änderungsgesetz ermögli-
chen.
Außerdem müssen wir das Bundesmeldegesetz auf
den neuesten verfassungsrechtlichen Stand bringen. Be-
kanntlich – das ist auch schon zur Sprache gekommen –
hat das Bundesverfassungsgericht im Mai 2013 entschie-
den, dass einkommensteuerrechtliche Vorschriften zu
Ehegatten und Ehen auch auf Lebenspartner und Le-
benspartnerschaften angewendet werden müssen. Mit
dem Änderungsgesetz vollziehen wir diese Gerichtsent-
scheidung nach, indem wir die relevanten Meldepflich-
ten und -regeln auch auf Lebenspartner ausdehnen, sie
nicht lediglich auf Ehegatten beschränkt lassen.
Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme zum Ent-
wurf angemerkt, dass es zu Problemen bei der Daten-
übermittlung an Religionsgemeinschaften kommen
könnte. Er befürchtet, dass bei der Kirche beschäftigten
Personen, die eine Lebenspartnerschaft führen oder de-
ren Ehe geschieden ist, durch das neue Melderecht ein
Nachteil entsteht.
Das Kommissariat der deutschen Bischöfe hat zu die-
ser Thematik bereits eine Äußerung abgegeben und klar-
gestellt, dass die kirchlichen Einrichtungen die gemelde-
ten Daten nicht in einem arbeitsrechtlichen Kontext
verwenden und dies aus datenschutzrechtlichen Gründen
auch gar nicht dürfen. Ich bin davon überzeugt, dass wir
im Dialog mit den Religionsgemeinschaften für diesen
konkreten Personenkreis eine angemessene Regelung
finden werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin mir sicher:
Wir werden die Beratungen zu diesem Gesetz effektiv
und zügig abschließen – so, wie wir die heutige Debatte
effektiv und zügig geführt haben. Schön, dass trotz der
fortgeschrittenen Stunde doch die eine oder andere
Freundin oder der eine oder andere Freund des Melde-
wesens den Weg ins Plenum gefunden hat.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 18/1284 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esdazu anderweitige Vorschläge? – Ich sehe, das ist nichtder Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe auf Tagesordnungspunkt 14:Beratung des Antrags der Abgeordneten JörnWunderlich, Halina Wawzyniak, Diana Golze,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEAlleinerziehende entlasten – Unterhaltsvor-schuss ausbauenDrucksache 18/983Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzFinanzausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Erster Redner ist Jörn Wunderlich, Fraktion DieLinke.
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2838 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
(C)
(B)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nun zu vorgerückter Stunde noch etwas Altbekanntes
zum Unterhaltsrecht bzw. zum vorliegenden Antrag. Seit
2006 versucht die Linke, alleinerziehenden Elternteilen
bei den finanziellen Sorgen um ihre Kinder zu helfen.
Rechtspolitisch wird über das Ganze schon seit über
zehn Jahren diskutiert. Es gibt dazu schon Beschluss-
empfehlungen des Rechts- und des Familienausschusses
aus den Jahren 2000 und 2002. Es gab sogar einmal ei-
nen Referentenentwurf der Regierung zur Änderung des
Unterhaltsrechtes – auch des Unterhaltsvorschusses –,
den ich noch in meiner Eigenschaft als aktiver Familien-
richter damals auf den Schreibtisch bekommen habe.
Dass die bisherigen Regelungen des Unterhaltsvor-
schussgesetzes nicht ausreichen, ist seit Jahren fraktions-
übergreifend – auch bei den damit befassten Juristen –
wohl unstreitig. Das ist auch in der Praxis einhellige
Meinung. Dass die Altersgrenze auf 18 Jahre angehoben
werden soll, ist eine Lösung, die endlich umgesetzt wer-
den muss.
Niemand konnte bislang erklären, warum ein Kind
mit 13 keinen Unterhalt mehr braucht oder wie es sich
gefälligst selbst darum kümmern soll. Wie gesagt, es
geht nicht um den Unterhalt für einen Elternteil, sondern
um den für ein minderjähriges Kind. Die Beschränkung
auf 72 Monate muss ebenfalls fallen. Die Zahl der Ein-
stellung der Zahlungen infolge des Erreichens der
Höchstbezugsdauer ist in den vergangenen Jahren konti-
nuierlich – von 39 000 auf knapp 44 500 – gestiegen.
Es muss immer wieder wiederholt werden: Der Un-
terhaltsvorschuss soll die finanzielle Situation von Al-
leinerziehenden und ihren Kindern verbessern, wenn der
unterhaltspflichtige Elternteil seinen Unterhaltsver-
pflichtungen nicht oder nicht ausreichend nachkommen
kann. Der Unterhaltsvorschuss kommt damit unmittelbar
den Kindern von Alleinerziehenden zugute. Damit wer-
den alleinerziehende Elternteile vorübergehend unter-
stützt.
Aber auch nach dem Sinn des Unterhaltsvorschussge-
setzes – der Unterhaltsvorschuss soll vorübergehend
Hilfe leisten in einer Situation, in der kein Unterhalt er-
halten werden kann – muss doch die gegenwärtige ge-
sellschaftliche Situation berücksichtigt werden. Die
Dauer der Armutsphasen wird immer länger und ihre
Zahl immer häufiger. Die Armutsgefahr steigt, und die
Zahl derer, die armutsgefährdet leben, wird größer. Nach
der letzten Statistik betrifft das fast 40 Prozent aller Kin-
der hier in Berlin.
Außerdem ist nicht nachzuvollziehen, warum das
Kindergeld in voller Höhe angerechnet wird, während es
bei regulärer Zahlung nur zur Hälfte angerechnet werden
kann. Hier dürfen Eltern und Kinder doch nicht schlech-
tergestellt werden. Schon 2006 wurde im Ausschuss zu
einem inhaltsgleichen Antrag der Linken gesagt: Pro-
bleme richtig dargestellt, Lösungen aufgezeigt, leider
falsche Partei. – Die Probleme sind immer noch die glei-
chen, die Lösungsansätze nach wie vor gut, und ich bin
immer noch in der richtigen Partei.
Letztlich sind Kinder und Jugendliche die Leidtragen-
den, wenn die Eltern aufgrund einer verfehlten Arbeits-
marktpolitik und der damit einhergehenden Arbeitslosig-
keit keinen Unterhalt zahlen können. Denn wie erklären
sich sonst die Zahlen aus der Antwort der Bundesregie-
rung vom 5. Mai 2014 – also noch druckfrisch –, nach
denen die Quote der unterhaltsvorschussberechtigten
Kinder in den neuen Bundesländern zum Teil viermal so
hoch ist wie in den alten Bundesländern? Hier soll sich
der Staat wieder aus der Verantwortung ziehen können?
Mehrausgaben würden zum Teil zu Minderausgaben im
Haushalt des Bundesarbeitsministeriums führen, da
manch alleinerziehender Elternteil nicht mehr aufsto-
cken müsste. Im Übrigen könnte der finanzielle Mehr-
aufwand durch Einsparungen beim Betreuungsgeld fi-
nanziert werden. Heute hat der Bundesfinanzminister
verkündet, dass nach Angaben des Arbeitskreises Steu-
erschätzung Steuermehreinnahmen von 19,3 Milliarden
Euro erwartet werden. Das Geld ist also da. Änderungen
sind allerdings nach Auskunft der Bundesregierung nicht
geplant – aus Kostengründen.
Seit Jahren kann hier jeder zusehen, wie Milliarden
für marode Banken verpulvert werden und Rüstungskon-
zerne Gelder bekommen, weil weniger Kriegsgerät ab-
genommen wird. Der Bundesrechnungshof und der
Bund der Steuerzahler monieren immer wieder den Um-
gang mit Steuermitteln. Aber hier, wo es um die geht, die
es am nötigsten brauchen und die unsere Zukunft sind,
da heißt es, es sei insbesondere aus haushälterischen
Gründen nicht vorgesehen.
Schade, dass Frau Schwesig nicht da ist. Frau Ferner,
bestellen Sie ihr einen schönen Gruß. Sie soll sich einen
Ruck geben. Sie ist in der Situation, das zu ändern. Sie
soll es machen. Sie ist hier nach eigenem Bekunden auch
angetreten, um den Alleinerziehenden zu helfen. Sie soll
es endlich machen, und zwar wirksam, damit man ihr
nicht in drei Jahren möglicherweise die Frage stellen
muss: Frau Schwesig, warum sind Sie Familienministe-
rin geworden? Floristin wäre doch auch etwas Schönes
gewesen.
Jetzt sagen wir nichts zu den Floristen. – Nächste
Rednerin ist Gudrun Zollner, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnenund Kollegen! Sehr geehrter Herr Wunderlich, wir wer-den, auch wenn das Betreuungsgeld nach wie vor bleibt,
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2839
Gudrun Zollner
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Lösungen für unsere Alleinerziehenden finden. GlaubenSie mir das.
Ich glaube, wir sind uns grundsätzlich alle einig, dassAlleinerziehende Enormes leisten und unsere volle Un-terstützung brauchen.
Im Koalitionsvertrag ist deshalb auch fixiert, dass nochin dieser Legislaturperiode der steuerliche Entlastungs-betrag für Alleinerziehende angehoben wird und nachder Anzahl der Kinder gestaffelt werden soll. Weiter willdie Bundesregierung mit rund 8 Milliarden Euro die Fa-milien, Senioren, Frauen und Jugendlichen unterstützen.Der Ansatz der Ausgaben nach dem Unterhaltsvor-schussgesetz wurde bedarfsgerecht auf 295 MillionenEuro angepasst. Mit Nachdruck werden wir auf derGrundlage solider Finanzen lösungsorientiert und zielge-richtet die Alleinerziehenden auch künftig nachhaltigunterstützen.
Natürlich – hier sind wir uns interfraktionell sicherauch einig – nimmt der Unterhaltsvorschuss seit seinerEinführung im Jahr 1980 eine besondere Stellung inner-halb der familienpolitischen Leistungen ein. Im Jahre2012 haben rund eine halbe Million Kinder Unterhalts-vorschussleistungen bezogen. Bei bundesweit 2,2 Mil-lionen minderjährigen Kindern in Einelternhaushalten istdas ein enorm hoher Anteil. Kann oder will ein Elternteilseiner Unterhaltspflicht nicht nachkommen, so springtder Staat ein und geht sozusagen in Vorleistung, ohneden unterhaltspflichtigen Elternteil aus seiner Verant-wortung zu entlassen.Uns muss aber auch klar sein: Der Unterhaltsvor-schuss ist keine auf Dauer angelegte zusätzliche Leis-tung durch den Staat. Ein Drittel der Ausgaben für denUnterhaltsvorschuss trägt der Bund, zwei Drittel über-nehmen jeweils die Länder. Im gleichen Verhältnis wer-den auch die Rückeinnahmen aufgeteilt. Aufgabe derLänder ist es, sich diese Auslagen vom Unterhaltspflich-tigen zurückzuholen. Bayern ist hier mit über 34 Prozentim Länderranking absoluter Spitzenreiter und stellt dasSchlusslicht Berlin mit knapp 14 Prozent klar in denSchatten.
Durchschnittlich in vier von fünf Fällen gelingt esaber nicht, den Unterhaltsvorschuss vom unterhalts-pflichtigen Elternteil zurückzuholen. Hier muss nach-träglich noch viel getan werden, um dem wahren Cha-rakter dieses Gesetzes gerecht zu werden.Sie stellen heute einen Antrag, werte Kolleginnen undKollegen der Fraktion Die Linke, der uns 500 Millio-nen Euro mehr kostet, als im Haushaltsplan vorgesehensind. Aber Sie erläutern mit keinem einzigen Satz in Ih-rem Antrag, wie Sie das finanzieren wollen.
Als verantwortungsvolle Parlamentarier ist es unserePflicht, gut zu wirtschaften und mit den uns zur Verfü-gung stehenden Geldern auszukommen.
Dies ist bei Ihrem Antrag nicht der Fall. Wir müssen Lö-sungen erarbeiten und dürfen nicht nur Forderungen auf-stellen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Das Wort hat Dr. Franziska Brantner,Bündnis 90/Die Grünen.
Herzlichen Dank. – Schönen guten Abend! Vorkurzem wurde das Ergebnis einer neuen Studie derBertelsmann-Stiftung veröffentlicht, die eigentlich keineneuen Erkenntnisse erbracht hat. Es wurde zum wieder-holten Male dargelegt, dass nach wie vor alleinerzie-hende Familien am meisten von Armut bedroht sind.39 Prozent der Alleinerziehenden beziehen staatlicheGrundsicherung. Jedes zweite von insgesamt rund 2 Mil-lionen Kindern, die von staatlicher Grundsicherung le-ben, wächst in einer Einelternfamilie auf. Kinderarmutwirksam zu bekämpfen, heißt also: Alleinerziehendenhelfen.
Das 2008 reformierte Unterhaltsrecht zwingt de factoalleinerziehende Elternteile, Vollzeit zu arbeiten. Nur fürjedes zweite Kind ist die Unterhaltszahlung regelmäßigund vollständig. Dann brauchen Eltern eben den An-spruch auf Unterhaltsvorschuss.Ich will jetzt näher auf Ihren Antrag eingehen. Siefordern die Abschaffung der Altersgrenze von 12 Jahrenund der Bezugsgrenze von 6 Jahren. Es stimmt: Es istnicht verständlich, warum ein 14-Jähriger keinen An-spruch mehr haben soll. Es ist ja der 14-Jährige, der denAnspruch nicht mehr hat, und nicht die Elternteile. Ein7-Jähriger hat dem Alter nach diesen Anspruch, abernur, wenn sich seine Eltern nicht schon getrennt haben,als er ein Jahr alt war. Wo ist da die Logik? Warum sol-len Teenager oder Kinder eines Alters nicht dieselbeLeistung bekommen? Alles andere ist willkürlich unddient nicht dem Schutz dieser Kinder. Aber um sie musses uns doch gehen.
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2840 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Dr. Franziska Brantner
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Es ist absolut richtig, das zu ändern. Die Krux dabeiist – Sie alle haben dies betont –, das notwendige Geldaufzubringen und es auch für diesen Zweck auszugeben.Da haben wir das große Problem, dass nicht genug zu-rückgeholt wird. Das muss man hier sagen. Ich glaube,bei den Berlinern liegt es nicht nur daran, dass sie nichtgenug Stellen haben, sondern auch daran, dass der Le-bensunterhalt in Berlin durchschnittlich geringer ist alsder bayerische. Es gibt Studien innerhalb der Länder, dieaufzeigen, dass auch in reichen Städten der Einzug derForderungen nicht besser ist als in ärmeren. Das hängtleider nicht immer zusammen. Häufig hängt es vor Ortdavon ab, wie viel für das Eintreiben des Unterhalts in-vestiert wird. Wenn die Bundesregierung sagt, sie habedafür nicht das Geld, wünschte ich mir, dass man Strate-gien entwickelt, wie man das Eintreiben des Unterhalts-vorschusses verbessern kann. Ich glaube, das ist einePflicht. Wir wissen, dass es dort nicht gut genug läuft. Inden Ländern und Kommunen gibt es Herausforderun-gen. Gehen Sie diese Herausforderungen an. Wenn Siejetzt sagen, dass Sie die Gelder nicht wollen, so sagenwir Ihnen: Wir hätten die Gelder gerne. Hier erwarte ichVorschläge der Bundesregierung. Die Alleinerziehendenleisten einfach Unglaubliches.
Es ist so schwierig für sie. Sie dort allein zu lassen, istnicht im Interesse unserer Gesellschaft.Lassen Sie mich noch erwähnen, dass neun von zehnAlleinerziehenden Frauen sind. Sie sind häufig doppeltdiskriminiert, auch auf dem Arbeitsmarkt: erstens alsFrau und zweitens als Mutter. Sie kämpfen hart. Wenndas Kind 13 Jahre alt wird, dann fällt der Unterhaltsvor-schuss weg. Das kann man diesen Müttern kaum vermit-teln. Hier tragen wir Verantwortung, und dieser müssenwir uns stellen.Ich danke Ihnen.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Fritz
Felgentreu, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Kollegin Zollner, ich gebe Ihnen absolut recht:Gerade die Alleinerziehenden leisten besonders viel. Ge-rade deswegen haben die Alleinerziehenden einen An-spruch auf unsere besondere Solidarität und Unterstüt-zung dabei, gemeinsam mit ihren Kindern ihren Alltagzu meistern. Deswegen machen wir eine ganze Menge.Die Große Koalition hat – angetrieben von den Forde-rungen der SPD – etliche Vorhaben geplant oder auf denWeg gebracht, von denen gerade Alleinerziehende profi-tieren werden. Dabei geht es um den Ausbau und dieQualitätsverbesserung der Betreuungs- und Bildungsin-frastruktur, um die Möglichkeiten der Wiederaufsto-ckung auf Vollerwerbstätigkeit, um die Einführung desElterngeldPlus, um die Arbeit am Konzept der Familien-arbeitszeit, um die Einführung des Mindestlohns und umdie Initiativen zur Beseitigung von Lohnunterschiedenzwischen Frauen und Männern. Damit werden wir Al-leinerziehende besser als bislang in ihrem Wunsch unter-stützen, berufstätig zu sein.
Darüber hinaus müssen wir gerade die Instrumente inden Blick nehmen, die auf die besondere Situation vonAlleinerziehenden zugeschnitten sind. Dazu zählt nebendem Entlastungsbetrag der Unterhaltsvorschuss. Grund-sätzlich sind wir uns in diesem Haus alle einig, dass derUnterhaltsvorschuss eine wichtige Leistung für Alleiner-ziehende ist und sinnvoll weiterentwickelt werden muss.Mit Ausnahme der Linken sind wir uns darin einig, dassnicht alles Wünschenswerte auch finanzierbar ist. Umsomehr gilt es, Reformvorschläge genau zu durchdenkenund abzuwägen. Die Vorschläge der Linksfraktion sindAntworten auf reale Lücken in der Ausgestaltung desUnterhaltsvorschusses. Sie liefern aber noch kein durch-dachtes Konzept, und Sie unterschlagen ein besonderswichtiges Detail; denn Sie erwähnen bei Ihren Forderun-gen nicht – auch in Ihrer Rede habe ich es nicht gehört,Herr Kollege Wunderlich –, dass eine enge Abstimmungmit den Ländern erforderlich ist, die schließlich zweiDrittel der Kosten tragen. Ihr Anspruch ist es, dass künf-tig mehr Familien länger vom Unterhaltsvorschuss profi-tieren sollen. Das macht auch Sinn. Der Unterhaltsvor-schuss soll in die Versorgungslücke treten, die entsteht,wenn das getrennt lebende Elternteil seiner Unterhalts-verpflichtung nicht nachkommt oder nicht nachkommenkann. Wenn das stimmt, dann erschließt sich wiederumnicht, warum Sie die Anhebung des Bezugsalters nur biszur Vollendung des 18. Lebensjahres fordern. Warumsind Sie dann nicht so konsequent und orientieren sicham Unterhaltsrecht, das besagt, dass Eltern dem Kind biszum Abschluss einer Berufsausbildung Unterhalt zahlenmüssen?
– Mir geht es nur darum, dass wir nicht mit willkürlichenZahlen arbeiten. Frau Brantner hat kritisiert, dass dieZahl 12 willkürlich sei. Es gab dazu unterschiedlicheBeschlusslagen: Die SPD-Fraktion hat in der letzten Le-gislaturperiode beschlossen, dass sie die Bezugsdauergerne bis zum 14. Lebensjahr ausdehnen würde.Das Gleiche hatte die schwarz-gelbe Koalition in ih-ren Koalitionsvertrag geschrieben. Aus unterschiedli-chen Gründen ist das bisher nicht umgesetzt worden.Das Problem ist ja erkannt. Aber lassen Sie uns dochnicht mit willkürlich gegriffenen Zahlen arbeiten, son-dern lassen Sie uns überlegen, wie wir das Ganze in einstimmiges Konzept überführen können, das dann auchfinanzierbar ist.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2841
Dr. Fritz Felgentreu
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Herr Kollege Felgentreu, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage des Abgeordneten Wunderlich?
Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Die Zahl 18 ist keine
willkürliche Zahl; es ist zufällig die Altersgrenze zur
Volljährigkeit. Sie argumentieren jetzt, man könne sich
bei der Zahlung des Unterhaltsvorschusses an der Be-
rufsausbildung bzw. am Unterhaltsrecht orientieren, also
möglicherweise bis zum Abschluss der ersten Berufsaus-
bildung oder des 27. Lebensjahres zahlen. Das ist dann
ja noch teurer. So weit wollten wir gar nicht gehen. Wir
wollten so weit gehen, dass Kinder unterstützt werden,
solange sie minderjährig sind. Wenn sie volljährig sind,
können sie sich selbst um diese Sachen kümmern und ei-
genständig ihre Ansprüche geltend machen.
Die geringe Rückholquote – das haben wir vorhin
schon mal bilateral besprochen – ist ein echtes Problem.
Aber Sie wissen genauso gut wie ich: Teilweise kann das
Geld nicht zurückgeholt werden, weil die Väter – Sie
sagten, einem nackten Mann könne man nicht in die Ta-
sche greifen – gar nicht in der Lage sind, Unterhalt zu
zahlen, sodass der Unterhaltsvorschuss als Ersatzleis-
tung gezahlt wird.
Dass das Ganze finanzierbar ist, habe ich dargelegt.
Insofern haben wir schon ein stimmiges Konzept. Der
Antrag ist schon vor acht Jahren – ich wiederhole: vor
acht Jahren – von der damaligen Großen Koalition als
guter Lösungsansatz deklariert worden. Es hieß nur, der
Antrag komme leider aus den falschen Reihen. Ich habe
es gesagt: Die Lösungsansätze sind genau die gleichen,
die Probleme sind dieselben, die Lösung ist da – es muss
nur umgesetzt werden.
Verehrter Herr Kollege Wunderlich, ich wundere
mich trotzdem ein bisschen,
dass Sie mich dafür kritisieren, dass ich das Nachdenken
über den Unterhaltsvorschuss mit dem Unterhaltsrecht in
Verbindung bringe. Ich finde das konsequent.
Dass Sie an dem Punkt auf einmal fiskalische Aspekte
entdecken, die Ihnen in Ihrem eigenen Antrag völlig un-
wichtig waren, erschließt sich mir auch nicht.
Lassen Sie mich meinen Gedankengang zu Ende brin-
gen. Ich bin gerne bereit, mich auf Ihre Argumentation
und Ihre Forderungen einzulassen, die SPD-Fraktion ist
es auch. Wir müssen nur überlegen, wie man sinnvoll
vorgehen kann, und wir müssen das vor allen Dingen ge-
meinsam tun.
Sie nehmen einige Probleme, die mit dem Unterhalts-
vorschuss verbunden sind, nur in der Debatte in den
Blick, nicht aber in Ihrem Antrag. Dazu gehört die
Schwierigkeit, ausstehende Zahlungen einzutreiben. Ich
denke, um da wirklich zu vernünftigen Ergebnissen zu
kommen, brauchen wir genauere Erkenntnisse darüber,
woran es eigentlich liegt, dass jemand nicht zahlt.
Die ursprüngliche Idee war, dass der Unterhaltsvor-
schuss eine nicht auf Dauer angelegte Leistung des Staa-
tes ist. Dieser Anspruch scheint den Lebensverhältnissen
heute aus vielen Gründen nicht mehr gerecht zu werden.
Es gibt beim Unterhaltsvorschuss noch eine ganze Reihe
offener Fragen. Auch wenn es im Koalitionsvertrag
keine Erwähnung findet, halte ich es für richtig, dass wir
uns des Themas weiterhin annehmen.
Wir müssen auch darauf reagieren, dass es sich bei
Alleinerziehenden nicht mehr um eine gesellschaftliche
Randerscheinung handelt, sondern um eine Familien-
form, die häufig ist und immer häufiger wird. Laut der
kürzlich erschienen Bertelsmann-Studie ist das Armuts-
risiko von Kindern, die mit nur einem Elternteil auf-
wachsen, statistisch betrachtet fünfmal höher als bei an-
deren Kindern. Nach meiner festen Überzeugung helfen
wir diesen Familien am besten, indem wir die Infrastruk-
tur im Bereich der zuverlässigen, ganztägigen Betreuung
und Bildung konsequent ausbauen.
Aber wir müssen – –
– Ja, bitte schön.
Herr Kollege, ich gestatte das jetzt. – Bitte schön.
Das nehme ich gerne hin, Frau Präsidentin.
Herr Kollege Felgentreu, da Sie wie ich die Situationin Berlin gut kennen, ist Ihnen doch sicherlich genau wiemir bekannt, dass der DGB Bezirk Berlin-Brandenburgdieses Thema, speziell die Berliner Situation, einmal un-tersucht hat: Woran liegt es, dass die Kinderarmut inBerlin so hoch ist und die Alleinerziehenden in Berlin fi-nanziell so schlecht dastehen? Dann wird Ihnen dochwie mir bekannt sein, dass es eben nicht so sehr an denKitas und Schulen liegt. Da können wir in Berlin nochbesser werden, aber wir sind da im Bundesvergleich re-lativ gut: Die Kitaabdeckung ist sehr gut; auch im Ganz-tagsschulbereich gibt es inzwischen einiges. Das zen-trale Problem ist vielmehr die sonstige finanzielleSituation der Alleinerziehenden, die dazu führt, dass
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2842 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Lisa Paus
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Kinder in Armut sind. Das liegt wiederum daran, dassdie Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Alleinerzie-hende in Berlin so schwierig ist, weil sie hier nicht aufeinen entsprechenden Arbeitsmarkt und auf entspre-chende Arbeitgeber treffen.Zu meiner Frage. Es ist richtig, dass wir Infrastrukturbrauchen, aber wie können Sie gerade aufgrund IhrerBerliner Erfahrung behaupten: Wenn die Infrastruktur daist, dann ist alles gut? Wir wissen doch beide, dass esnicht so ist, dass es anders ist. Deswegen bitte ich darum,noch einmal über den vorliegenden Antrag nachzuden-ken.
Liebe Kollegin Paus, erstens bin nicht ich, sondern
sind die Linken der Antragsteller, und zweitens habe ich
nicht behauptet, dass bereits mit dem Ausbau der Bil-
dungsinfrastruktur alle Probleme gelöst werden. Ich
halte das aber dennoch für den allerbesten Weg. Das ist
der Punkt, an dem wir als Familienpolitiker ansetzen
müssen. Das ist ein neuer Weg, den wir beschreiten müs-
sen, weil wir als Familienpolitiker in der Vergangenheit
gar nicht über die Verbindung von Bildungspolitik und
Familienpolitik und die kommunizierenden Röhren, die
es in diesem Zusammenhang gibt, hinreichend nachge-
dacht haben. Das ist ein Weg, der sicherlich in die Zu-
kunft führt. An diesem Punkt müssen wir weiterarbeiten.
Zu glauben, dass wir mit einem einzigen Instrument alle
Probleme lösen werden, so naiv ist in diesem Hause kei-
ner.
Nein, wir müssen eben nicht nur über den einen Weg,
den ich für den besten halte, nachdenken und diesen wei-
terentwickeln, sondern wir müssen auch die Instrumente
der individuellen Armutsvermeidung weiterentwickeln.
Dazu gehört neben dem Kinderzuschlag natürlich auch
der Unterhaltsvorschuss. Insofern besteht Anlass, den
Kolleginnen und Kollegen der Linken für ihren inhaltli-
chen Vorstoß zu danken, mit dem sie das Thema erneut
auf die Tagesordnung setzen. Aber zugleich bitte ich
auch um Verständnis, dass eine Regierungskoalition nur
auf der Grundlage einer soliden Finanzierung und eines
Gesamtkonzepts arbeiten kann.
Zu einem solchen Gesamtkonzept gehört im Falle des
Unterhaltsvorschusses in jedem Fall das, was die Länder
dazu zu sagen haben, die den Löwenanteil an den Kosten
tragen. Zu einem solchen Gesamtkonzept gehört auch,
dass wir die unterschiedlichen Instrumente der Familien-
förderung, die wir einsetzen, aufeinander abstimmen und
gemeinsam an ihnen weiterarbeiten. Das ist der Weg,
den die SPD-Fraktion an dieser Stelle für richtig hält.
Wir sind aber gerne bereit, ihn mit allen Fraktionen die-
ses Hauses intensiv zu diskutieren.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Markus
Koob, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Alleinerziehende müssen sich jeden Tag allein um vieleDinge kümmern: die Organisation des Haushalts der Fa-milie, die Erziehung sowie die Sicherung des Einkom-mens. Diese Herausforderungen lösen Alleinerziehendeoft mit einer bemerkenswerten Kreativität, aber sie füh-ren oft auch zu handfesten Schwierigkeiten. Verschärftwird die Lage der Alleinerziehenden, wenn das Kind denUnterhalt vom anderen Elternteil nicht regelmäßig be-kommt, nicht rechtzeitig oder überhaupt nicht. In dieserbesonderen Lebenssituation unterstützt der Staat die Al-leinerziehenden mit dem Unterhaltsvorschuss. Er ist einenotwendige und wichtige Unterstützungsleistung, aberbei weitem nicht die einzige.Diese Koalition setzt nämlich darüber hinaus auf ei-nen ganzheitlichen, umfassenden und differenziertenAnsatz, um Alleinerziehende und deren Kinder best-möglich zu unterstützen und ihrer individuellen Lage ge-recht zu werden. Unsere Maßnahmen sind vielfältig. Esgibt drei große Säulen: erstens die finanzielle Entlastungder Alleinerziehenden, zweitens eine an den besonderenBedürfnissen von Alleinerziehenden orientierte Betreu-ungsinfrastruktur und drittens eine Verbesserung beimWiedereinstieg in den Arbeitsmarkt.Bei der ersten Säule hält es die Koalition für wichtig,dass Alleinerziehende finanziell entlastet und besserge-stellt werden. Hier kommen nicht nur der Unterhaltsvor-schuss sowie der Steuerentlastungsbetrag für Alleiner-ziehende zur Geltung. Hierzu zählen auch dieLeistungen des Bildungs- und Teilhabepaketes sowie diebreite Palette an familienpolitischen Leistungen. FürEinelternfamilien trägt all das dazu bei, eine Verbesse-rung des Nettohaushaltseinkommens zu erzielen.Wir beobachten, dass seit 2009 die Zahl der arbeitslo-sen Alleinerziehenden, die Leistungen der Grundsiche-rung beziehen, kontinuierlich sinkt, und das wesentlichstärker als der Durchschnitt der Arbeitsuchenden, die aufGrundsicherung angewiesen sind. Die Quote der Einel-ternfamilien, die auf staatliche Grundsicherung angewie-sen sind, beträgt derzeit dennoch 39 Prozent. Daher wer-den wir unsere Bemühungen fortsetzen, diese Quote zusenken.
Aus diesem Grund halten wir es für wichtig, zweiweitere miteinander verknüpfte Bereiche in den Fokuszu stellen: erstens die verstärkte Einbindung von Allein-erziehenden in den Arbeitsmarkt und zweitens die ver-besserte Vereinbarkeit der Erwerbstätigkeit mit dem Fa-milienleben. Die wichtigste Aufgabe in der zweitenSäule ist daher die dauerhafte existenzsichernde Arbeits-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2843
Markus Koob
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marktintegration von Alleinerziehenden. Die Statistikenoffenbaren, dass bei alleinerziehenden Frauen mit Kin-dern unter drei Jahren die Erwerbstätigenquote bislangam niedrigsten ist. Auch Arbeitgeber und Personalver-antwortliche sind gefragt, wenn sich die Vereinbarkeitvon Familie und Erwerbstätigkeit verbessern soll. Wirwerben daher für eine Kultur der familienbewussten Ar-beitszeitgestaltung.
Dafür hat sich insbesondere die Kollegin KristinaSchröder schon in der vorherigen Bundesregierung ein-gesetzt. Auch diese Koalition liefert praxistaugliche,konkrete Impulse, etwa mit dem Antrag für mehrZeitsouveränität, den wir auf den Weg gebracht haben.Die dritte Säule bilden Bereiche, die ebenso zu denwichtigen Voraussetzungen zählen, um wieder in denBeruf einzusteigen: Kitas, Tagesmütter, Horte und an-dere Möglichkeiten der Kinderbetreuung. Ganz in die-sem Sinne hat die unionsgeführte Bundesregierung inder vergangenen Legislaturperiode gehandelt, als sieumfassende betreuungspolitische Maßnahmen angesto-ßen hat. Für den Ausbau der Betreuungsinfrastrukturwurden 5,4 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Dasund die Einführung eines Rechtsanspruchs auf einen Be-treuungsplatz für Kinder ab dem ersten Lebensjahr wa-ren wichtige Grundsteine, auf denen wir jetzt aufbauenkönnen.Ich bin zuversichtlich, dass diese betreuungspoliti-sche Offensive für die Alleinerziehenden positive Si-gnale aussenden wird. Natürlich wird es sich die Unionauch weiterhin zur Aufgabe machen, für flexiblere Öff-nungszeiten von Betreuungseinrichtungen und mehrGanztagsbetreuungsplätze einzutreten.
Um dies voranzutreiben, ist weiterhin die enge Zusam-menarbeit von Ländern, Kommunen und Bund erforder-lich.Unser familienpolitischer Kompass ist klar: vielfäl-tige Familienpolitik statt nur eindimensionaler Maßnah-men. Daher werden wir sorgfältig überprüfen, wie wirunser bestehendes Konzept der Vielfalt besonnen, effi-zient und innovativ weiterentwickeln können.Ganz in diesem Zeichen steht auch die Einführungdes ElterngeldPlus. Damit wird erstmals eine Möglich-keit geschaffen, während des Elterngeldbezugs eine Teil-zeitbeschäftigung aufzunehmen. Das ist vor allem fürdie Alleinerziehenden ein Fortschritt.
Die Mischung aus finanzieller Förderung und Stär-kung von familienfreundlichen Rahmenbedingungenprägt unser Engagement für Alleinerziehende. Wir ste-hen für eine Familienpolitik, die den vielfältigen Le-bensrealitäten der Menschen in unserem Land ent-spricht.Auch wenn ich selbst noch keine Kinder habe, so er-lebe ich doch in meinem Freundeskreis hautnah, welchesGlück Kinder bedeuten, aber auch welche Anforderun-gen im Alltag für die Eltern. In nur wenigen Themenbe-reichen bekomme ich so lebensnah Wünsche und Hin-weise von jungen Eltern und Alleinerziehenden mit aufden Weg wie bei diesem Thema. Ich freue mich, dieseintensiven Diskussionen und Erfahrungen in meine Ar-beit hier im Parlament einzubringen und mit Ihnen ge-meinsam an Konzepten zu arbeiten. Allein die Tatsache,dass ich zu diesem Thema meine erste Rede gehaltenhabe, wird es mir eine Herzensangelegenheit werden las-sen, hier ein besonderes Engagement zu entfalten.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege, und herzlichen Glück-
wunsch zu Ihrer ersten Rede.
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/983 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das
ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpas-
sung von Gesetzen auf dem Gebiet des Fi-
nanzmarktes
Drucksache 18/1305
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Der Kollege Fritz
Güntzler hat jetzt für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Vor etwas weniger als einem Jahr wurde hierim Bundestag nach langen und sehr intensiven Beratun-gen das Kapitalanlagegesetzbuch verabschiedet. Damitwurde ein weiterer Schritt auf dem Weg der Finanz-marktregulierung gemacht und die europäische AIFM-Richtlinie umgesetzt. Das KAGB hat eine ganz neueRechtsgrundlage für das gesamte Investmentwesen inDeutschland geschaffen. Es ist ein geschlossenes Regel-werk und schafft einen einheitlichen Rechtsrahmen füralle offenen und geschlossenen Fonds und ihre Manager.Ziel all dieser Regulierungsmaßnahmen ist: Kein Fi-nanzmarktakteur, kein Finanzprodukt und kein Marktsoll in Zukunft ohne angemessene Regulierung bleiben.Es geht um die Begrenzung systemischer Risiken im Fi-nanzsektor und des grauen Kapitalmarktes, die Verbes-
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2844 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Fritz Güntzler
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serung des Anlegerschutzes und um einen reguliertenBinnenmarkt für den Investmentfondsbereich.Es ist festzuhalten, dass gerade auch alternative In-vestmentvehikel volkswirtschaftlich gewollt und wichtigfür unsere Wirtschaft sind. Sie dienen der Finanzierungvon Schiffen und Flugzeugen, Immobilien und Infra-struktur, helfen aber auch bei Existenzgründungen undbieten Unternehmen Wachstumsmöglichkeiten. Sie sindwichtige Instrumente zur Altersvorsorge, die auch vonVersicherungen und Pensionskassen genutzt werden.Das gesamte Fondsvermögen in Deutschland beträgtderzeit 1,7 Billionen Euro. Es hat sich in den letztenzehn Jahren fast verdoppelt.Das Kapitalanlagegesetzbuch hat seinen Praxistestbestanden. Auch wenn es hier und da noch offenePunkte gibt und einzelne Auslegungsfragen noch geklärtwerden müssen, kann man feststellen: Die Umsetzungder AIFM-Richtlinie durch den Gesetzgeber erfolgte mitAugenmaß und ist insgesamt als Erfolg zu sehen.
Die Erfahrungen mit diesem Gesetz sind grundsätz-lich positiv. So ist es gelungen, die geschlossenen Fondsaus dem grauen Kapitalmarkt herauszuholen und ein-heitlich zu regulieren. Seit März dieses Jahres liegt nunauch der erste Erfahrungsbericht des BMF zur Anwen-dung dieses Gesetzes vor. Es lässt sich feststellen: DieBaFin hat ihre Grundsatzarbeiten zeitgerecht abgeschlos-sen. Die Bearbeitungsfristen für Anträge zur Umstellungauf das KAGB werden eingehalten, und mittlerweile – dasist erfreulich – steigt auch die Bearbeitungsgeschwindig-keit bei der BaFin. Die Branche hat das zweite Halbjahr2013 aktiv genutzt und sich auf die Anwendung des neuengesetzlichen Rahmens eingestellt.Wir stehen erst am Anfang der Umsetzung dieserkomplexen Regelung, und wir müssen feststellen, dasseine belastbare Evaluierung des Gesetzes erst noch erfol-gen muss. Wir werden dann sehen, ob wir als Gesetzge-ber in einigen Punkten vielleicht noch nachjustierenmüssen, wenn es weiterhin Rechtsunsicherheiten undAuslegungsfragen gibt, zum Beispiel die Frage: Was isttatsächlich eine operative Tätigkeit außerhalb des Fi-nanzsektors? Wir hören aus der Praxis immer wieder,dass nicht klar ist, was das nun eigentlich sein soll, auchwenn schon damals in den Gesetzesberatungen deutlichgesagt wurde, was sich der Gesetzgeber darunter vor-stellt.Der Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung von Ge-setzen auf dem Gebiet des Finanzmarktes, den wir heutein erster Lesung beraten, beinhaltet bezogen auf dasKAGB im Wesentlichen nur redaktionelle Änderungenund Anpassungen. Materiell geändert wird die Defini-tion von offenen und geschlossenen Investmentfonds.Sie folgt einer Delegierten Verordnung der EuropäischenKommission, die voraussichtlich im Juli dieses Jahres inKraft treten wird.Diese Änderung, die wir nun nachvollziehen, hätte er-heblich negative Auswirkungen auf die zahlreichenEnergiegenossenschaften gehabt, sofern sie denn über-haupt in den Anwendungsbereich des KAGB fallen. Ge-rade für diese war noch in den letzten Zügen der damali-gen Ausschussberatungen eine Ausnahmeregelung imKAGB geschaffen worden, um diese zumeist Bürger-energieprojekte nicht durch zu große Regulierung zu ge-fährden. Wir haben in Deutschland mittlerweile 800Energiegenossenschaften, die ungefähr 1,2 MilliardenEuro in Bürgerkraftwerke investiert haben. Die Ausnah-meregelung für diese Genossenschaften wäre aufgrundder im Genossenschaftsgesetz stehenden Kündigungs-möglichkeiten durch die neue Definition ausgehebeltworden. Auch darauf reagiert der vorliegende Entwurfdes Finanzmarktanpassungsgesetzes und schafft einepraktikable Lösung für diese Genossenschaften.
Diese Genossenschaften leisten einen erheblichenBeitrag zur Energiewende und tragen zu ihrer Akzeptanzbei. Bürgerliches Engagement sollte unterstützt undnicht durch bürokratische Regulierungen unterbundenwerden. Darum sollten wir noch einmal prüfen, inwie-fern man bei diesen Bürgerprojekten zu einer verträgli-chen Lösung im Hinblick auf die fachliche Eignung derGeschäftsleiter kommt. Hier scheint es in der Auseinan-dersetzung bzw. den Gesprächen mit der BaFin in derPraxis größere Probleme zu geben,
weil die Anforderungen im Einzelfall anscheinend dochetwas hoch angesetzt werden. Von daher müssen wir unsdas, glaube ich, noch einmal ansehen.Meine Damen und Herren, man kann schon heute sa-gen, ohne ein Hellseher sein zu müssen: Das Kapitalan-lagegesetzbuch wird uns hier im Hohen Hause auch wei-terhin beschäftigen. Wir haben uns gerade erst auf denWeg gemacht. Die erste Wegstrecke haben wir erfolg-reich genommen. Ich bin mir aber sicher, dass auch dasFinanzmarktanpassungsgesetz nicht die letzte Etappe ge-wesen sein wird. Es werden weitere folgen.Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss unddanke für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ers-
ten Rede hier im Hause!
Nächste Rednerin ist die Kollegin Susanna
Karawanskij, Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Liebe Gäste! Der vorliegende Gesetz-entwurf nimmt tatsächlich vor allen Dingen Korrekturenund Anpassungen im Nachgang zu EU-Regelungen vor.Auch wenn sich in diesem Gesetzentwurf im Großenund Ganzen vor allen Dingen redaktionelle Änderungenfinden, so möchte ich dennoch ein paar kritische Punktezu bedenken geben.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2845
Susanna Karawanskij
(C)
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Zum Ersten hat mich verwundert, dass es einen sostarken Ansturm der Interessenverbände gab. Es scheint,als habe man ein bisschen Lunte gerochen und als wolleman uns en passant doch wieder ein paar Deregulierun-gen zu eigenen Gunsten unterjubeln. Um es an dieserStelle gleich ganz klar zu sagen: Wir stellen uns dem ent-gegen. Wir kritisieren den Gesetzentwurf vor allen Din-gen in den grundlegenden Zielen; denn es gilt, Regulie-rungslücken zu schließen und die Finanzmärkte auf ihreder Realwirtschaft und der Gesellschaft dienende Funk-tion zurückzuführen.
Zum Zweiten kam es zur Neuregelung der Mitglied-schaft in Verwaltungs- und Aufsichtsorganen. Zukünftigsind auch Aufsichtsmandate bei Unternehmen zu be-rücksichtigen, die nicht der Aufsicht der BaFin unterlie-gen. Hier ist Vorsicht geboten – gerade bei den Sparkas-sen-Finanzgruppen als Verbundunternehmen –, weil beider Wahrnehmung solcher Mandate in Unternehmen ei-ner Verbundgruppe und den sachlich angrenzenden Un-ternehmen die Höchstgrenze für Aufsichtsmandate sehrschnell erreicht wird. Mehrere konzerninterne Aufsichts-posten werden im Hinblick auf das Erreichen derHöchstgrenze bislang allerdings nicht angerechnet. Dasführte und führt zu Ämterhäufung, zu Vermachtung undoftmals zu Überlastung.Nach dem Prinzip „Sechs Augen sehen mehr alszwei“ sollten unseres Erachtens generell auch konzern-interne Aufsichtsposten mitgezählt werden, und die Auf-sicht sollte auf mehrere Personen verteilt werden.
Denn solange Bankgeschäfte so komplex sind, wie siebisher sind, und solange sie an die Aufsicht hohe Anfor-derungen stellen, ist es sehr legitim, zu fragen, ob dieMitglieder, die mehrere Mandate wahrnehmen, ihrerAufgabe überhaupt gerecht werden können. Auch hierist unseres Erachtens ein gesundes Maß notwendig.Damit zum dritten Punkt, und zwar zu den Regelun-gen im Kapitalanlagegesetzbuch. Es ist schade, dass derGesetzentwurf nicht dazu beiträgt, bestehende Lückenzu schließen, sondern tatsächlich vor allem redaktionelleFragen behandelt. Positiv hervorzuheben ist, dass zu-künftig nur solche Fonds als geschlossene Fonds bzw.alternative Investmentfonds gelten sollen, bei denen eineRücknahme der Anteile vor Beginn der Auslaufphasenicht möglich ist. Doch es ist nicht klar bzw. schlicht undergreifend nicht schlüssig, warum den ständig neuenUmgehungsstrategien und Ausweichkonzepten vonEmittenten nicht ein breiterer Riegel vorgeschoben wird.Nachrangdarlehen beispielsweise werden nicht regu-liert, weder im Kapitalanlagegesetzbuch noch im Ver-mögensanlagengesetz. Genussrechte – das hat uns dasBeispiel Prokon vor Augen geführt – werden zum Leidder Verbraucherinnen und Verbraucher ebenfalls nichterfasst.Umgehungsmöglichkeiten bestehen auch darin – dashaben Sie selber gerade ausgeführt –, dass sogenannteoperativ tätige Unternehmen außerhalb des Finanz-sektors durch Splitting des Anlagevermögens unterhalbder 100-Millionen-Euro-Grenze bleiben können, ab derdie Regulierung beginnt, und damit eben nicht als In-vestmentfonds oder als Investmentvermögen gelten. Dasverwischt schlicht und ergreifend die Tatsache, dass ope-rativ tätige Unternehmen außerhalb des Finanzsektorsdurch massives Geldsammeln auch zu einem Invest-mentvermögen werden und damit im Prinzip auch unterdie Regulierung des Kapitalanlagegesetzbuches fallenmüssen.Unseres Erachtens sind Nachbesserungen notwendig,auch um dem grauen Kapitalmarkt das Wasser abzugra-ben, ihn tatsächlich zu regulieren. Die redaktionellenÄnderungen dürfen uns nicht blenden: Es bleibt viel zutun, um die Aufsicht von Unternehmen effektiver zu ge-stalten und vor allen Dingen um schlussendlich dieSchlupflöcher zu schließen, damit kein Hintertürchenweiter offen bleibt.In diesem Sinne vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Christian Petry, SPD,
dem ich hiermit das Wort erteile.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir behandeln heute Anpassungen von Finanz-marktregelungen. Das machen wir öfters; denn da istauch sehr viel zu tun seit der Finanzkrise. Mit diesemArtikelgesetz regeln wir gleich in elf Gesetzen Vor-schriften neu. Darunter sind viele Anpassungen und re-daktionelle Änderungen.Herr Dr. Meister, vielleicht eine kleine Anregung:Das Gesetz an und für sich ist schon schwer zu lesen.Die Begründung ist auch schwer zu lesen, sie sollte eherauf den Punkt kommen. Das kann man etwas klarer for-mulieren; gesetzestechnisch sollte das auch so sein. Viel-leicht den kleinen Hinweis – den Sie bitte mitnehmen –,dass das in Zukunft auch berücksichtigt wird.
– Wir verlangen verständliche Gesetze: dass auch derje-nige, der nicht hundertprozentig in der Materie steckt,über die Begründung zumindest ziemlich schnell auf denPunkt kommt und weiß, um was es geht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, auf zwei in-haltliche Änderungen möchte ich näher eingehen: Dieerste ist die Änderung im Kapitalanlagegesetzbuch, daszweite sind die Änderungen im Kreditwesengesetz. Mitdiesen Änderungen werden weitere Antworten auf die
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Christian Petry
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weltweite Finanzkrise gegeben; denn zunächst mussman feststellen, dass es notwendig war, für die Überwa-chung von Liquiditätsrisiken international oder zumin-dest EU-weit geltende Regelungen in Kraft treten zu las-sen; Basel III bzw. CRD IV sind hier zu nennen. Mitstärkeren Eigenkapitalanforderungen an die Akteurewollten wir für stabilere Märkte sorgen und auch fürmehr Transparenz auf diesen Märkten, um damit auchVertrauen zurückzugewinnen. In diesem Kontext sinddie Regelungen CRD IV und CRR zu nennen, die letzt-lich die Ursache sind, dass wir in den entsprechendengesetzlichen Regelungsgehalten neue Maßstäbe setzenmüssen. Daraus resultieren unter anderem die Anpassun-gen im Kreditwesengesetz, welche zu einer Begrenzungder Zahl von Aufsichtsratsmandaten von Geschäftsfüh-rern und Vorständen führen sollen, die ihrer Aufsichts-funktion damit tatsächlich besser nachkommen können.Es ist ja ein Zeitfaktor, wenn man sich intensiv derKontrolle widmen will. In der jetzigen Fassung sindaber nicht nur die sogenannten großen konzerninternenbzw. -übergreifenden Mandatsausübungen erfasst, son-dern auch nationale Akteure sind davon betroffen, ins-besondere unsere öffentlichen Banken; hier sind zumBeispiel die Sparkassen zu nennen.Lassen Sie mich zunächst mit Blick auf die Gesetzezur Umsetzung von CRD IV sagen, dass wir in der SPD-Fraktion die Kritik an der geforderten Beschränkung derZahl von Aufsichtsratsmandaten kennen und sie in denweiteren Beratungen entsprechend würdigen werden.Das ist bei uns angekommen.Etwas ausführlicher möchte ich nun auf die zweitewichtige Änderung im Finanzmarktbereich eingehen:Das ist die Änderung, die im Kapitalanlagegesetzbuchvorgenommen wird aufgrund der eben auch schon ge-nannten Notwendigkeit der Umsetzung der entsprechen-den Richtlinie auf EU-Ebene.Durch diesen Schritt wird der Bereich der Invest-mentfonds transparenter, besser reguliert und unter Auf-sicht gestellt. Außerdem führt dieser Schritt insbeson-dere dazu, dass der graue Kapitalmarkt in Deutschlandeingedämmt – auch das ist schon mehrfach genannt wor-den – und unter die Finanzaufsicht gestellt wird.Das KAGB ist ein wichtiger Aufsichts- und Regulie-rungsrahmen. Ein besonderes Augenmerk legen wir hiernatürlich auch – das haben alle anderen Redner auchschon gesagt – auf die Energiegenossenschaften und dieBürgergenossenschaften. Wir wollen das Engagementmit diesen Regelungen natürlich nicht eindämmen.Von daher wurden bereits im vergangenen Juli auchauf Anträge der SPD hin Ausnahmen für nicht operativtätige Genossenschaften eingeführt. Diese Genossen-schaften würden sonst wie jeder andere Investmentfondsstrengen Regelungen unterliegen. Hier handelt es sich jainsbesondere um lokale Akteure, Bürgergenossenschaf-ten, die sich zusammenschließen und mit ehrenamtli-chem Engagement arbeiten. Das wollten wir durch dieAusnahmen natürlich auch weiterhin möglich machen.
Es ist daher richtig und wichtig, dass wir nochmalsanpassen und nachsteuern, weil die EU auch nachgesteu-ert hat. Dadurch wurde dies eben notwendig. Von daherbin ich froh, dass wir mit diesem Gesetzentwurf tatsäch-lich das Ziel erreichen werden, dass das volkswirtschaft-lich, gesellschaftlich und auch umweltpolitisch wichtigeEngagement unserer Bürgerinnen und Bürger auch wei-terhin möglich ist – ja, sogar gestärkt wird.Die Energiegenossenschaften sind natürlich nichtgänzlich ohne staatliche Aufsicht. Auch das ist EU-einheitlich und mit Blick auf den Anlegerschutz sinn-voll. Diese Aufsichtspflicht verbleibt weiterhin bei derBaFin. Die Registrierungspflicht sowie die Verwaltungs-und Berichtspflichten sind zu erfüllen. Das ist auch inOrdnung und leistbar.Es gibt natürlich das von Ihnen genannte Problem,Frau Karawanskij: die Eignung des Vorstandes bzw. desGeschäftsführers. Hier müssen wir natürlich berücksich-tigen, dass wir es in diesem Bereich unter Umständenmit Ehrenamtlichen zu tun haben, die mit viel Herzblutund Engagement tätig sind. In den Anhörungen und Be-ratungen werden wir darauf eingehen müssen; denn eswürde mir nicht sachgerecht erscheinen, hier die glei-chen Maßstäbe wie bei einem Weltkonzern anzulegen.Ich glaube, in den Ausschussdiskussionen können wirhierfür eine Lösung finden.Die bestehenden und die noch anzupassenden Aus-nahmeregelungen werden eine aktive Beteiligung derBürgerinnen und Bürger in den Energiegenossenschaftenermöglichen. Diese Forderung haben wir als SPD mit indie Verhandlungen eingebracht, und wir freuen unsnatürlich darüber, dass dies parteiübergreifend – in derGroßen Koalition, aber auch darüber hinaus – so gese-hen wird. Ich denke, das ist wiederum ein großer Schritthin zur Erhöhung der Transparenz auf dem Kapitalmarktund einer Stärkung des Verbraucherschutzes.Mehr Vertrauen auf dem Kapitalmarkt ist unser Ziel,und ich freue mich ganz besonders darauf, dass wir inden Beratungen mit Sicherheit noch den einen oderanderen Änderungsbeschluss fassen werden, um diesesZiel zu erreichen, sodass der Gesetzentwurf dann in al-len Bereichen der Gesellschaft stärker akzeptiert werdenkann.Ich glaube, mit diesem Entwurf machen wir einenweiteren wichtigen Schritt im Hinblick auf die Regulie-rung, die Transparenz und das Vertrauen in unsereFinanzmärkte.Herzlichen Dank.
Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der KollegeDr. Thomas Gambke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja,wir beraten heute eigentlich einen unproblematischenGesetzentwurf; denn ausweislich der Begründung geht
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Dr. Thomas Gambke
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es nur um redaktionelle Änderungen. Man könnte ja ein-mal kritisch fragen, warum es gerade bei Finanzmarkt-gesetzen so viele redaktionelle Änderungen gibt, aberich will das gar nicht thematisieren. Es ist aber richtig,dass wir uns das skeptisch anschauen und überprüfen, obes wirklich nur redaktionelle Änderungen sind.Im materiellen Bereich – das ist angesprochenworden, und ich will das auch kommentieren – mussnatürlich das Thema Energiegenossenschaften angefasstwerden, weil die Energiegenossenschaften als geschlos-sene Fonds anders reguliert werden müssen, als wir dasvorgesehen haben.Ich finde es wirklich gut, dass wir uns das ThemaEnergiegenossenschaften noch einmal gemeinsam – sowar meine Wahrnehmung im Finanzausschuss – sehrpräzise angucken, um sicherzustellen, dass sie auch imRahmen der neuen Regulierung so betrieben werdenkönnen, wie wir das geplant haben.Ein bisschen zynisch muss ich bemerken: Wenn Sievon der Union sich jetzt für die Energiegenossenschafteneinsetzen und heute Morgen bei der Debatte über die Re-form des EEG herausgekommen ist, dass Sie den Ener-giegenossenschaften das Wasser abgraben, indem Sienämlich Photovoltaik, Windenergie und Biogas prak-tisch nicht mehr zulassen,
dann frage ich mich schon, wo da Ihr Engagement seinsoll.
– Das ist nicht daneben. Sie haben ja darauf hingewie-sen, wie viel Geld dort in die Hand genommen wurde.Ich bin Mitglied in einer Energiegenossenschaft.
Wir gucken uns die Regelungen genau an. HerrBrinkhaus, kommen Sie einmal zu uns nach Niederbay-ern, ich lade Sie hiermit ein. Dann gehen wir zu den fünfEnergiegenossenschaften und fragen dort, was wir ange-sichts der Gesetzgebung, die Sie heute Morgen angedeu-tet haben, noch machen können. Das ist nicht sehr viel.
Bei den Energiegenossenschaften müssen wir nachre-gulieren; das ist richtig. Aber ich möchte hier auf einenPunkt aus der Praxis zu sprechen kommen: Wir könnenden Mitgliedern der Energiegenossenschaften nichtmehr, wie es das Genossenschaftsgesetz vorsieht, dieRückzahlung der Genossenschaftsanteile zu einem belie-bigen Zeitpunkt erlauben. In der Diskussion ist einZeitraum von fünf Jahren. Ich möchte anregen, diesensehr langen Zeitraum dadurch abzukürzen, dass wir eineEigenkapitallimitierung vorsehen.Wir haben uns das zusammen mit den Genossen-schaftsverbänden sehr sorgfältig überlegt. Das wäre eineMethode, die nach den Anforderungen des Gesetzesnotwendige Einengung zu erreichen, aber gleichzeitigpraxisorientiert vorzugehen. Meine Bitte ist, sich dasThema wirklich genau anzusehen; denn wir haben jetztdie Chance, hier nachzujustieren.Ein weiterer Punkt, den ich ansprechen möchte – dieKollegin von der Linken hat es schon angedeutet –, ist,dass Sie im Rahmen der redaktionellen Änderungen demDruck der Verbände hinsichtlich einer Limitierung derAufsichtsratsmandate nicht nachgeben. Ich hielte das fürfalsch. Sie haben sich in der schwarz-gelben Koalition– das fand ich richtig – dem erklärten Willen vieler Ver-bände und Lobbyorganisationen widersetzt und eine sehrstarke Limitierung in das Gesetz hineingeschrieben.Wir werden im weiteren Verlauf darauf achten, dassSie diese starke Limitierung weiter aufrechterhalten;denn wir müssen – die Kollegin hat es schon gesagt, ichkann das nur aus eigener Anschauung unterstützen; wirwissen aus den Finanzmarktdebatten, was schiefgelau-fen ist – dafür Sorge tragen, dass diejenigen, die in denAufsichtsräten sitzen, wirklich Verantwortung überneh-men und ausüben können. In diesem Sinne bitte ich Sie– das hoffe ich auch –, dass Sie sich den Verbänden nachwie vor widersetzen und die harten Kontrollen, die imGesetz festgeschrieben sind, weiterhin Bestand haben,weil nur dann in den einzelnen Aufsichtsräten verant-wortlich gehandelt werden kann.Vielen Dank.
Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungs-
punkt ist der Kollege Dr. Philipp Murmann, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Besuchersind nur noch wenige da an diesem wunderschönenAbend.
– Aber die sind immer wichtig, genau. – Bevor ich aufden heute vorliegenden Gesetzentwurf, über den schonmeine Vorredner viel gesagt haben, zu sprechen komme,möchte ich eine These in den Raum stellen. Sie lautet:Gute Finanzpolitik ist die Politik einer soliden Balance.Darauf, warum ich das sage, komme ich noch zu spre-chen.Es wurde schon gesagt: Wir haben Korrekturen vor-zunehmen. Ich denke, es ist immer sinnvoll und richtig,dass wir unsere Gesetze von Zeit zu Zeit kritisch be-trachten und Verbesserungen da, wo es sinnvoll ist, vor-nehmen. Ebenso wichtig wäre es sicherlich auch, daseine oder andere Gesetz zu entschlacken. Das gelingtuns nach meiner Wahrnehmung im Moment im Finanz-und Steuerbereich noch nicht ausreichend. Das sollte im-mer unser Ansporn bleiben.Neben den rein technischen Fragen, von denen Sieschon gesprochen haben, möchte ich auf einige grundle-
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Dr. Philipp Murmann
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gende Aspekte unserer Balance in der Finanzpolitik ein-gehen. Was bedeutet für uns in der Großen Koalition ei-gentlich nachhaltige Finanzpolitik? Welche besonderenHerausforderungen ergeben sich insbesondere auch ak-tuell, wenn wir auf die europäische Regulierung und aufdie Bankenregulierung schauen, und welche Konsequen-zen müssen wir daraus ziehen?Zu Beginn noch einmal ganz kurz zu dem Teil, fürden ich verantwortlich bin: die sogenannte CRD-IV-Re-gulierung, die Capital Requirements Directive, und dieCapital Requirements Regulation. Bei Letzterer, derCRR, handelt es sich um eine Verordnung, die sich aufdie Institute bezieht und Eigenmittel, Risikovorschriftenund auch die Vorschriften für Großkredite und Liquiditätregelt. Die CRD IV hingegen richtet sich an die Mit-gliedstaaten und regelt die Beaufsichtigung von Kredit-instituten und Wertpapierfirmen. Sie formuliert Anforde-rungen an die unterschiedlichen Kapitalpuffer,Sanktionen bei Verstößen und ähnliche Regulierungen.Das ist der technische Teil.Seit dem 1. Januar gelten neue Regulierungen. Daswurde schon gesagt. Ich denke, wir haben einen gutenSchritt in die richtige Richtung gemacht, um bei zukünf-tigen Finanzkrisen angemessen reagieren zu können.Es ist natürlich richtig: Wir müssen weiter daran ar-beiten, dass wir ein qualitativ besseres System bekom-men. Aber es gibt auch Probleme in diesem Bereich, dieich ebenfalls ansprechen möchte.Was die Frage angeht, was in Zukunft auf unsere Ban-ken zukommt, so sind einerseits Regulierung, erhöhteEigenkapitalanforderungen, die absolut sinnvoll undrichtig sind, und die Bankenabgabe, die europaweit ein-geführt werden soll, im Gespräch. Hinzu kommen dieFinanztransaktionsteuer und Ähnliches.Es ist ein ziemliches Gewicht, das wir unserem Fi-nanzsystem aufbürden. Wir müssen darauf achten, dasswir in der Balance bleiben. Insofern müssen wir, denkeich, dafür sorgen, dass kein negativer Nebeneffekt ein-tritt und plötzlich die Kreditversorgung in der Wirtschaftin Not gerät. Denn wir wollen schließlich, dass die Ban-ken investieren, auch in Wagniskapital, die Gründungvon Unternehmen fördern und unsere Unternehmen mitKapital ausstatten. Wir müssen immer aufpassen, dassdie solide Balance nicht gefährdet wird.Es wurde schon gesagt: Ein Teil betrifft die Beauf-sichtigung von Tochtergesellschaften bzw. Aufsichts-mandate. Mit Blick auf unser Sparkassensystem – wirhaben damit in Deutschland ein ganz besonderes System –müssen wir auch immer differenzieren: Handelt es sichum eine echte Aufsicht, oder handelt es sich nicht ei-gentlich um eine Art von Geschäftsführung in einemVerbund? Damit muss man sich sicherlich noch genauerbeschäftigen, um zu erreichen, dass wir auf der einenSeite eine klare Regelung haben, auf der anderen Seiteaber auch diesen Strukturen, die lange gewachsen sind,gerecht werden. Auch dabei kommt es wieder auf einegute Balance an.Als Finanzpolitiker – das möchte ich zum Schluss sa-gen – sind wir für eine nachhaltige Finanzpolitik verant-wortlich. Das beginnt mit dem stabilen Bundeshaushalt,den wir jetzt in erster Lesung eingebracht haben und imnächsten Jahr zum ersten Mal ausgeglichen haben wer-den.Wichtiger Bestandteil sind aber auch nachhaltige Ein-nahmen. Nachhaltige Einnahmen kommen letztendlichvon Unternehmen, die Geld verdienen, investieren, Risi-ken eingehen, Mitarbeiter ausbilden und beschäftigen,Forschung und Entwicklung betreiben und neue Ge-schäftsfelder eröffnen. All diese Bereiche müssen wirweiter fördern. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht miteiner zu starken Regulierung eingreifen.
Wir haben uns in der Großen Koalition darauf ver-ständigt, dass wir unser Steuertableau stabil halten wol-len, auch um die Balance, die sich jetzt eingespielt hat,und unsere gute Perspektive nicht zu gefährden. Mittel-fristig werden wir aber auch Reserven aufbauen müssen.Das ist nicht nur im Bankenbereich der Fall, sondern eswird auch in anderen Bereichen notwendig sein. Dennwir müssen in der Zukunft nicht nur in der Infrastrukturund in dem Bereich Bildung und Forschung Investitio-nen tätigen.Wir haben eine ganze Menge Themen vor uns. Nach-haltige Finanzpolitik hat auch damit zu tun, Reservenaufzubauen.Deswegen bitte ich Sie: Achten Sie bei allen zukünfti-gen Finanzplänen und bei allen guten Ideen immer da-rauf, dass die solide Balance gewährleistet bleibt! Wir inder Großen Koalition haben uns das vorgenommen, undwir freuen uns auf Ihre Unterstützung.Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Murmann. – Damitschließe ich die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 18/1305 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich seheniemanden hier im Hohen Hause, der einen anderen Vor-schlag hätte. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe jetzt die Zusatzpunkte 11 und 12 auf:ZP 11 Beratung des Antrags der AbgeordnetenFriedrich Ostendorff, Harald Ebner, PeterMeiwald, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDen Umgang mit Nährstoffen an die UmweltanpassenDrucksache 18/1338Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheit
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Vizepräsident Johannes Singhammer
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ZP 12 Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Kirsten Tackmann, Caren Lay, Dr. DietmarBartsch, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKEWasserqualität für die Zukunft sichern –Düngerecht novellierenDrucksache 18/1332Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Dazu sehe ichkeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner das Wort dem Kollegen Friedrich Ostendorff, Bünd-nis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! „Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; al-lein die Dosis macht’s …“ So sprach Paracelsus vor lan-ger Zeit. Auf die Dosis kommt es an, wie die Wirkungausfällt. Wer aber wie diese Bundesregierung aufFleischexport und auf weiteren Zubau von Großmastan-lagen für Schweine und Geflügel ohne ausreichende Flä-che setzt, der hat ein Problem mit explodierenden Nitrat-und Phosphatwerten.
An den Orten, wo zu viele Tiere sind, wird wertvollerDünger zum problematischen Abfall, und die Düngungwird zur Entsorgung. Manche reden auch von Verklap-pung. Das hat mit ordnungsgemäßer Landwirtschaftnichts mehr zu tun.
Über die Feststellung des Deutschen Bauernverbands:„Die bisherige deutsche Düngeverordnung hat sich be-währt“ kann man nur den Kopf schütteln. Tatsache ist:Die Europäische Kommission will ein Vertragsverlet-zungsverfahren wegen unzureichender Einhaltung derNitratrichtlinie einleiten. Der von der Bundesregierungbeauftragte Sachverständigenrat für Umweltfragen sagt:Das muss sofort geändert werden. – Das Ziel von 2010,den Stickstoffüberschuss auf 80 Kilogramm Stickstoffpro Hektar zu begrenzen, wurde nicht erreicht. Deutsch-land und Malta haben nach der letzten Erhebung der EUvor wenigen Wochen im Wasser die höchsten Nitrat-werte Europas. Während Malta nur über 800 Hektarlandwirtschaftliche Nutzfläche verfügt, haben wir deut-lich mehr, nämlich viele Millionen Hektar.Die Wasserverbände haben in der Vergangenheit vielGeld investiert, um die hohen Nitratwerte im Wasser ab-zusenken. Das führte zu deutlichen Verbesserungen, hataber den Wasserpreis in die Höhe getrieben, den dieKunden zu zahlen haben, nicht aber die Verursacher.Meine Damen und Herren, ist es nicht nach wie vor so,dass Wasser Allgemeingut ist und damit uns allen zurVerfügung stehen muss und dass keiner das Recht hat,Wasser in seiner Qualität zu beeinträchtigen?
Seit kurzem steigen die Nitratbelastungen wiederdeutlich an. Wasser ist das Gewissen, das uns anzeigt,was vor 10 bis 15 Jahren falsch gelaufen ist. Die Werte,von denen wir reden – bis zu 250 Milligramm pro Literin manchen Brunnen und Messstellen –, wurden vor vie-len Jahren verursacht. Was glauben Sie, wie diese Brun-nen in weiteren zehn Jahren angesichts der heutigenTierzuwächse aussehen werden? In einigen LandesteilenNordrhein-Westfalens ist das erste Grundwasserstock-werk für die Trinkwasserversorgung bereits ungeeignet.Diese Regionen sind gezwungen, tiefere Grundwasser-vorkommen zu nutzen. Wenn wir nichts ändern, werdenbald auch diese deutlich über dem Grenzwert von50 Milligramm Nitrat pro Liter liegen.Es sind nicht nur die Düngemittel, die das Fass zumÜberlaufen bringen. Auch Gärsubstrate aus Biogasanla-gen und Ammoniakgase aus Tierställen sowie Gase, diebeim Ausbringen der Gülle entstehen, kommen als Am-moniumsalze irgendwo wieder herunter und gelangen inden Naturkreislauf. Das zerstört die Artenvielfalt, unsereLandschaft und unsere Umwelt. 95 Prozent des Ammo-niaks stammen aus der deutschen Landwirtschaft.Sie von der Regierung, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, sind gefordert, endlich zu handeln. Wo bleibt denndie schon länger angekündigte Novelle des Düngegeset-zes? Bleibt sie nach wie vor in der Schublade, oder wirdsie doch nach den Wahlen das Licht der Öffentlichkeiterblicken?Unsere Forderungen sind: Erstens. Die Gärsubstrateund Bioabfälle sollen zukünftig miterfasst werden, unddie Ausbringungsobergrenze von 170 Kilogramm Stick-stoff pro Hektar muss endlich gelten.
Zweitens. Es müssen endlich alle Düngemittel perHoftorbilanz wie in den Trinkwasserschutzgebieten ge-nau erfasst und die Stickstoffüberschüsse am besten auf50 Kilogramm pro Hektar und Jahr begrenzt werden.Drittens. Die Ausbringungssperrfristen müssen ver-längert und EU-weit vereinheitlicht werden.Viertens. Die Lagermöglichkeit vor allem für gewerb-liche Betriebe ohne ausreichende Fläche muss auf neunMonate erhöht werden.Fünftens. Die Ausbringungstechnik muss verbessertwerden.Sechstens. Die Kontrollen der Landwirtschaftsämterund -kammern müssen endlich greifen.Aber vor allem muss die Tierhaltung endlich an dieFläche angepasst werden.
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Friedrich Ostendorff
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, unterstützen Sie un-seren Antrag, um die dramatische Wassersituation inDeutschland endlich zu entschärfen. Das ist unser Auf-trag.
Als nächster Redner spricht der Kollege Josef Rief,
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Sie sind zwar mit allen Wassern gewaschen,liebe Kolleginnen und Kollegen von der Links- und derGrünenfraktion, doch Ihre Anträge sind echte Schlägeins Wasser.
Natürlich steckt die Bundesregierung in schwierigenVerhandlungen mit der EU über die Novellierung unse-rer Düngeverordnung. Uns geht es dabei darum, für un-sere Bauern eine gute fachliche Praxis festzulegen, diedie EU-Nitratrichtlinie einhält und unser Wasser alswichtigstes Lebensmittel schützt sowie für unsere Land-wirte in der täglichen Arbeit auch praktikabel ist.Die Opposition versucht mit umfangreichen Forde-rungen in den vorliegenden Anträgen, diese Verhandlun-gen noch zu verkomplizieren; die Anträge gehen in derSumme in die falsche Richtung. Dem können wir nichtzustimmen.
Sie wissen alle: Das Auslaufen der Derogation hat dieLandwirte verunsichert. Deshalb wollen wir die Zulas-sung der Derogation für nächstes Jahr wieder erreichen.
Dabei handelt es sich um die Möglichkeit, unter be-stimmten Voraussetzungen und auf bestimmten Flächenpro Hektar bis zu 230 Kilogramm Stickstoff in Form vontierischem Wirtschaftsdünger, also Gülle und Mist, aus-zubringen, wenn es sich in der Nährstoffbilanz darstellenlässt.Es ist ein Merkmal einer modernen und nachhaltigenLandwirtschaft, dass nach Entzug und Ertrag gedüngtwird.
„Viel hilft viel“, wie viele Zeitgenossen unterstellen –das ist falsch. Es ist das Motto einer längst vergangenenSteinzeitökonomie. Lassen Sie uns am bisherigen Sys-tem der Düngeverordnung festhalten. Sie muss praxisge-recht sein, den nötigen Umweltschutz berücksichtigenund darf auch für kleine Betriebe keinen weiteren Büro-kratieaufwand bedeuten.
Es gehört aber auch ein besseres Grundwassermess-stellennetz dazu, das nicht als Belastungsnetz funktio-niert. Jeder, der sich informiert hat, weiß, dass wir vorallem aufgrund dieser fehlerhaften Meldungen inSchwierigkeiten geraten sind.
Wir brauchen ein Messstellennetz, das Vergleichbarkeitin Europa ermöglicht und uns sagt, wo etwas getan wer-den muss und wo nicht.
Meine Damen und Herren von der Opposition, esnützt niemandem, die Nährstoffausbringung dort zu re-duzieren, wo das Wasser in Ordnung ist. Laut Statistikhaben wir bei 73 Prozent der Wassermessstellen keinenerhöhten Nitratgehalt. Davon lese ich in Ihren Anträgennichts.
Die Forderungen der Opposition sind unverständlich.Eine Entscheidung des Bundestages für Ihre Anträgewäre bei den Verhandlungen mit der EU nicht zielfüh-rend. Die ordentlich wirtschaftenden Landwirte würdennur weiter belastet. Ich habe den Eindruck: Es geht hiernicht um die Sache. Es geht wieder einmal um Ideologie.So fordern etwa die Grünen in ihrem Antrag eineMindestlagerkapazität für organischen Flüssigdüngervon neun Monaten statt bisher sechs. Das würde fürKleinbetriebe eine erhebliche Mehrbelastung bedeutenund würde den Strukturwandel weiter vorantreiben.
In Ihren Reden, vor allem in Sonntagsreden, wollen Sie,die Grünen, diesen Strukturwandel ja auch nicht.
Sie fordern weiter eine feste Obergrenze von 170 Ki-logramm Stickstoff pro Hektar und Jahr für die Ausbrin-gung,
also einen permanenten Verzicht auf die Derogationslö-sung. Das ist einfach nicht praxisgerecht.
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Dazu kommen noch viele andere Punkte: von Verschär-fungen vieler Vorschriften oder unpraktikablen Ausbrin-gungstechniken bis hin zur kostenpflichtigen Zwangsbe-ratung mit Androhung von Bußgeld für die Bauern.
Hier soll der ganze Berufsstand unter Generalverdachtgestellt werden.Unsere Landwirte in Deutschland sind bestens ausge-bildet und bedürfen nicht bei jeder Gelegenheit der Be-lehrung durch Leute, die wenig Kompetenz haben.
In Sonntagsreden will die Opposition immer das Bestefür die Bauern. Werktags arbeitet die Koalition für sach-gerechte Lösungen. Das ist der Unterschied, meine Da-men und Herren.
Die Menschen verstehen das sehr gut, vor allem unsereBauern.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Als nächste Rednerin spricht die Kollegin Dr. Kirsten
Tackmann, die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Gäste! Kommen wir einmal von der Bauernver-bandspolemik zurück zur Realität. Ich finde schon, dassdie heutige Debatte zum Düngerecht überfällig ist. Es istja kein erfundenes Problem, sondern ein real existieren-des. Nicht umsonst gibt es das Vertragsverletzungsver-fahren der EU-Kommission gegen Deutschland wegennicht ausreichender Umsetzung der Nitratrichtlinie.
Der Bundesrat beschäftigt sich gerade mit zwei Geset-zesinitiativen zum Düngerecht.Drei wissenschaftliche Gremien zur Politikberatungder Bundesregierung
haben sich im August 2013 gemeinsam geäußert undhaben uns zum Handeln aufgefordert. Dies waren derWissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, der Wissen-schaftliche Beirat für Düngungsfragen und der Sachver-ständigenrat für Umweltfragen. Ich zitiere einmal ausder Presseerklärung dieser drei Gremien zu ihrem Kurz-gutachten:Trotz deutlicher Verbesserungen in den letzten20 Jahren führen hohe Stickstoff- und Phosphataus-träge aus der Landwirtschaft nach wie vor dazu,dass zentrale Umweltziele der Bundesregierung,wie auch der EU, nicht erreicht werden.Wir können es doch nicht ignorieren, wenn uns drei Be-ratungsgremien sagen, wir müssten etwas ändern.
Ich zitiere weiter aus dieser Presseerklärung:Die Räte empfehlen nachdrücklich, die anstehendeNovellierung der Düngeverordnung für umfassendeReformen zu nutzen.Auch aus der Praxis erreichen zumindest mich sehr wohlForderungen nach einer Änderung.Ich bin relativ häufig in Betrieben unterwegs. Neulichfragte mich ein Landwirt, mit dem ich über das aktuelleDüngerecht reden wollte: Geht es jetzt um Entsorgungoder um Düngung? Ich finde, das ist zwar eine polemi-sche Frage, aber es ist eigentlich die Grundfrage, die wirals Gesetzgeber beantworten müssen.
Gleichzeitig ist es ein Zielkonflikt. Denn natürlich gehtes auch um Entsorgung von Gülle und Mist aus der Tier-haltung; das ist keine Frage. Deshalb sagt die Linke: Soviel Düngung wie notwendig für eine gute Ernte und sowenig Düngung wie möglich, um die Umwelt nicht zuschädigen.
Dabei geht es natürlich um Grundwasser und unsere Ge-wässer. Ich fände es schön, wenn der Verweis auf diegute fachliche Praxis ausreichen würde. Aber wenn eseben nicht so ist, dann müssen wir als Gesetzgeber han-deln,
und das eben nicht erst Ende des Jahres. So viel Zeit willsich nämlich die Bundesregierung lassen, wie aus ihrerAntwort auf eine Kleine Anfrage der Linken hervorgeht.In Deutschland lag immerhin bei jeder zweiten Wasser-gütemessstelle die mittlere Nitratkonzentration oberhalbdes Grenzwertes. In manchen Regionen wurde er sogardeutlich überschritten. Natürlich ist es richtig, histori-sche Belastungen von den Belastungen zu unterschei-den, die aktuell entstanden sind. Natürlich ist es auchrichtig, dass Durchschnittswerte über die reale Situationin bestimmten Regionen nicht viel sagen. Aber Tatsachebleibt doch, dass in vielen Regionen die Nitratausträgedeutlich zu hoch sind.
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Dr. Kirsten Tackmann
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Zu den Ursachen möchte ich noch einmal aus derPresseerklärung der Räte der Bundesregierung zitieren:Insbesondere in vielen Regionen intensiver Tierhal-tung und Bioenergieproduktion sowie in Regionenmit einem hohen Anteil von Sonderkulturen neh-men die Nährstoffausträge sogar zu.In solchen Regionen überschreitet die Nitratbelastungdes Grundwassers teilweise das Siebenfache des fürSäuglinge geltenden Grenzwertes. Auch das ist ein Ar-gument, für die Linke zumindest, ernsthaft darüber nach-zudenken, dass Dichte und Größe von Tierhaltungen inden Regionen tatsächlich gedeckelt werden. Also nichtGülle verteilen, sondern Tierhaltung verteilen!
Es wird geschätzt, dass knapp 1,9 Millionen TonnenStickstoff mehr ausgebracht werden, als Boden undTiere überhaupt verwenden können. Das heißt: Jährlichwerden 1,8 Milliarden Euro sinnlos für Stickstoffdüngerausgegeben. Das ist kein betriebswirtschaftliches Pro-blem, das sich am Markt quasi von allein erledigt; denndiese Nährstoffüberschüsse geraten in unser Trinkwasserund in die Gewässer, zuletzt in die Meere. Das heißt wie-derum, dass wir alle die Kosten für die Umweltschädenund für die Trinkwasseraufbereitung tragen müssen.Auch deshalb will die Linke das dringend ändern.
Unsere Forderungen, Herr Rief, lehnen sich übrigensganz stark an die Empfehlungen der WissenschaftlichenRäte an; sie sind nicht irgendwie ausgedacht. Dabei istuns die Durchsetzung des Verursacherprinzips besonderswichtig. Wir wollen keine pauschalen Maßnahmen ge-gen die Landwirtschaft insgesamt, aber wir wollen, dassdie Probleme schneller erkannt werden und konsequentgelöst werden. Die konkrete Situation vor Ort soll schonberücksichtigt werden, aber das darf nicht dazu führen,dass das Ziel aufgeweicht wird, die Nährstoffüber-schüsse zu reduzieren. Deswegen freue ich mich sehr aufdie Diskussion darüber, wie wir so etwas erreichen kön-nen.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Für die Sozialdemokraten spricht jetzt die Kollegin
Rita Hagl-Kehl.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Der Schutz unserer natürlichen Lebensgrund-lagen für heutige und künftige Generationen ist einKernanliegen sozialdemokratischer Politik. Dies findetsich auch im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPDwieder. Sie wissen, dass wir uns in der Großen Koalitionfür den Schutz der Umwelt, insbesondere der landwirt-schaftlich genutzten Böden, und für den Gewässerschutzeinsetzen.Ich möchte an dieser Stelle unterstreichen, dass derSchutz von Gewässern nicht nur den Schutz der Oberflä-chengewässer, sondern ausdrücklich auch den desGrundwassers mit einschließt.
Wir müssen alles dafür tun, dass Wasser beste Trinkwas-sereigenschaften behält und nicht erst nach teuren Auf-bereitungsverfahren als Trinkwasser aus der Leitungkommen kann. Denn das würde bedeuten, dass Gewinnedurch Düngung auf Kosten der Allgemeinheit und zulas-ten der Umwelt erzielt würden. Im Koalitionsvertragheißt es dazu – ich zitiere –:Der Schutz der Gewässer vor Nährstoffeinträgensowie Schadstoffen soll verstärkt und rechtlich sogestaltet werden, dass Fehlentwicklungen korrigiertwerden. Wir werden die Klärschlammausbringungzu Düngezwecken beenden und Phosphor und an-dere Nährstoffe zurückgewinnen.
Mit der Düngeverordnung wird die EU-Nitratrichtli-nie umgesetzt. Erklärtes Ziel der Nitratrichtlinie ist es,Grund- und Oberflächengewässer vor Nitratverunreini-gungen aus der Landwirtschaft zu schützen und für einegute Wasserqualität zu sorgen. Damit verbunden sind dieZiele der Wasserrahmenrichtlinie: guter Gewässerzu-stand europaweit. Trotz Fortschritten in den letzten Jahr-zenten sind die Umweltziele der genannten Richtlinienin Deutschland noch nicht erreicht. Es ist uns allen be-wusst, dass – nicht zuletzt aus EU-rechtlichen Gründen –Handlungsbedarf für eine Novelle zur Düngeverordnungin Deutschland besteht. Eine Novelle hätte schon in derletzten Legislaturperiode beschlossen werden müssen.
Als Koalition werden wir unseren Teil der Verantwor-tung mit der bevorstehenden Neuregelung vollumfäng-lich wahrnehmen.Die beiden Anträge von Bündnis 90/Die Grünen undder Linken lesen sich wie eine Zusammenfassung ak-tueller wissenschaftlicher Gutachten. Diese Gutachtensind den mit den Themen „Umweltschutz“, „Gewässer-schutz“ und „Novelle zur Düngeverordnung“ befasstenAbgeordneten aller Parteien dieses Hauses bestensbekannt. Die wissenschaftlichen Ergebnisse und Emp-fehlungen der einschlägigen Gutachten werden dieGrundlage für die bevorstehende Novelle zur Düngever-ordnung bilden. Am 25. Mai sind Europawahlen. Daswar sicher auch ein Grund für die eilends eingebrachtenAnträge der Opposition. Sie wollten sich in diesem Feldnoch vor der Wahl positionieren, obwohl Sie natürlichwissen, dass wir als Koalition bereits intensiv an der No-velle im Düngemittelrecht arbeiten.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2853
Rita Hagl-Kehl
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Ich freue mich, dass Sie mir heute durch Ihre Anträgedie Gelegenheit geben, die Position der Sozialdemokra-tischen Partei Deutschlands noch einmal darzustellen.Das ist gut so; denn Transparenz ist gut für die Demo-kratie.Zur Position der SPD. Die Neuregelung der Dünge-verordnung muss im Kern mindestens folgende Punkteenthalten:Erstens. Schulungs- und Beratungsprogramme müs-sen weiterentwickelt und intensiviert werden, um denStand der Technik schneller in die Praxis umsetzen zukönnen und dadurch das betriebliche Nährstoffmanage-ment zu optimieren. Ziel ist es, Düngeverluste zu mini-mieren.Zweitens. Die Düngeverordnung ist dahin gehend zuverschärfen, dass a) die Stickstoffüberschüsse auf 50 Ki-logramm pro Hektar und Jahr begrenzt werden, b) dieStickstoff- und Phosphatbilanz mittels einer Hoftorbi-lanz erhoben wird, die alle relevanten Nährstoffströme– auch Gärreste und Futtermittel – einschließt,
c) die Ausbringung von Gärresten aus Biogasanlagen indie Stickstoffbilanz eingeht sowie d) eine zielgenaue,bedarfsgerechte und standortangepasste Düngung defi-niert und ermöglicht wird.Drittens. Es muss der rechtliche Rahmen geschaffenwerden, der die Kontrolle einer konsequenten Einhal-tung der Düngeverordnung ermöglicht und bei Bedarfwirksame Sanktionsmaßnahmen sicherstellt. Damit mei-nen wir nicht Bußgelder, sondern kostenpflichtige Nach-schulungen. Dann hat der Bauer auch etwas davon, weiler etwas lernt.
Viertens. Die Belange des Biodiversitäts- und Klima-schutzes müssen berücksichtigt werden.
Über diese Kernforderungen hinaus sind natürlichweitere Regelungen im Detail erforderlich, zum Beispieldie strikte Einhaltung von Abstandsregelungen. 1 MeterAbstand zu Oberflächengewässer bei der Düngemittel-ausbringung ist deutlich zu wenig;
ich fordere mindestens 5 Meter Abstand. Wir benötigenkostenfreie EDV-Tools für die Landwirte zur Düngebe-darfsermittlung, die Erweiterung von Sperrfristen aufdem Ackerland und zudem die Verlängerung der Min-destlagerdauer für Wirtschaftsdünger. In diesem Zusam-menhang muss über eine finanzielle Unterstützung derLandwirte beim Bau von Güllebehältern nachgedachtwerden.
Ich bin der Überzeugung, dass die „gute fachliche Pra-xis“ genauer definiert werden muss. Das gilt insbeson-dere für die Anforderungen an die Ausbringungs- undEinarbeitungstechniken.Die Novelle zum Düngerecht ist ein wichtiges Anlie-gen für mehr Umweltschutz über alle Parteigrenzen hin-weg. Ich bin sicher, dass wir nach der Europawahl auchin den Ausschüssen gute und konstruktive Gesprächeführen können.
Zur Reduzierung der Stickstoff- und Phosphoreinträgebrauchen wir sinnvolle und zugleich praktikable Lösun-gen. Ich bin zuversichtlich, dass wir bis Ende 2014 dieNovelle zur Düngemittelverordnung beschlossen haben.Herzlichen Dank.
Abschließender Redner zu diesem Debattenpunkt
– und vermutlich auch im Rahmen dieses langen Debat-
tentages – ist der Kollege Artur Auernhammer, CDU/
CSU.
Verehrter Herr Präsident, da ich der letzte Redner die-
ses Abends bin, obliegt es mir wahrscheinlich, so lange
zu reden, bis wir in Ihren Geburtstag hinein debattieren.
Deshalb bitte ich, die Redezeit dementsprechend einzu-
stellen.
Das wäre doch eine sehr großzügige Bemessung der
Redezeit.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben inDeutschland nicht nur ein Problem mit einem Vertrags-verletzungsverfahren bzw. einer drohenden Klage, son-dern auch mit der Nitratbelastung in deutschen Gewäs-sern. Ich glaube, da sind wir uns einig, so einig, dass wirheute über Gülle und Mist im Deutschen Bundestagsprechen.Als praktizierender Landwirt ist es mir wichtig, dasswir die Düngeverordnung überarbeiten, und zwar mit
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2854 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014
Artur Auernhammer
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dem Ziel, die Nitratwerte zu senken, die Gewässerquali-tät nachhaltig zu verbessern und – das ist mir besonderswichtig – Landwirtschaft und das Düngen unserer Felderweiterhin bedarfsgerecht zu ermöglichen. An einersolchen substanziellen Verbesserung der Verordnungarbeitet das Bundeslandwirtschaftsministerium – unddas ohne diese Anträge. Die Kompetenz des Bundes-landwirtschaftsministeriums, an der Spitze der Ministersowie seine ganze Mann- und Frauschaft, ist groß genug,um diese Herausforderungen anzunehmen und hier einegute Lösung herbeizuführen. Das ist doch selbstver-ständlich.
Dass die Novellierung der Düngeverordnung unterdem Gesichtspunkt des Gewässerschutzes, beispiels-weise in Form einer Senkung der Nitratbelastung, seinmuss, ist uns klar. Wir wissen: Zu hohe Gewässerbelas-tungen gefährden nicht zuletzt die Volksgesundheit. EineNovelle muss daher so weitreichend wie möglich erfol-gen, zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger. Doch wasist nötig, und was ist erforderlich?Beim Lesen Ihrer Anträge, meine Kolleginnen undKollegen von den Linken und von den Grünen, fühltman sich gezwungen, darauf hinzuweisen, dass es auchin Deutschland noch möglich sein muss, Landwirtschaftzu betreiben.
Ich habe langsam den Eindruck, Sie wollen die deutscheLandwirtschaft abschaffen.
– Ja. – Düngen muss weiterhin möglich sein. Der Land-wirt muss weiterhin seine Erfahrungen und Kenntnisseaus Ausbildung und Praxis einbringen dürfen, um nichtallein Landwirtschaft stur nach richtlinienkonformemHandlungsmuster praktizieren zu dürfen. Landwirtschaftist nachhaltige, lebendige Nahrungsmittelproduktionund ist auf Nährstoffausbringung angewiesen.In der gesamten Nitratdebatte kommt aus meinerSicht aber ein Punkt zu kurz. Es sind nicht nur die Vieh-halter, die Düngemittel ausbringen. Das geschieht auchbei der in den letzten Jahren stark angewachsenen Bio-gasproduktion. Gerade heute Morgen haben sich vielebei der Demonstration der Biogasanlagenbetreiber inrichtigen Sonntagsreden zur Biogasproduktion bekannt,auch die Vertreter der Linken und der Grünen.
Jetzt heißt es aber auch, hier Farbe zu bekennen und zusagen: Wir müssen handeln. Das habe ich heute Morgenda draußen vermisst.
Wir wissen, dass wir mit einer zunehmenden Aufla-genpolitik unter unseren Landwirten die Flächenkonkur-renz noch weiter anheizen und die Flächen nicht mehrausreichen werden. Das müssen wir auch im Rahmender Gemeinsamen Agrarpolitik berücksichtigen.Verantwortungsbewusste Gülleausbringung geschiehtbereits vielfach vor Ort. Ich bin selbst Vorsitzender einesMaschinenringes. Seit 20 Jahren haben wir eine soge-nannte Güllegemeinschaft bei uns im Ring im Einsatz,mit 19 Fässern, mit der entsprechenden Bereifung und ei-ner umweltfreundlichen bodennahen Ausbringtechnik.165 Landwirte im Landkreis nutzen dieses Angebot undbringen bis zu 400 000 Kubikmeter Gülle umweltfreund-lich aus. Das ist ein Beitrag für die Umwelt, den unsereBauern freiwillig leisten und der über den Maschinen-ring organisiert wird.Um die Klage der EU-Kommission abzuwenden undeine Neugenehmigung der Derogationsregelung fürWirtschaftsdünger tierischer Herkunft für die deutscheLandwirtschaft zu bewirken, müssen wir handeln. Ichhabe das eben am Beispiel unseres Maschinenrings an-geführt.Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, IhrForderungssammelsurium enthält viele Punkte, die ichnicht mittragen kann. Ich nenne nur die neunmonatigeGüllelagerkapazität. Das würde in vielen kleinen bäuer-lichen Betrieben dazu führen,
dass über 50-jährige Landwirte nicht mehr die notwendi-gen Investitionen tätigen, sondern ihren Betrieb und da-mit die Viehhaltung einstellen.
Auch dies will ich einmal deutlich sagen: Ich habe indieser Legislaturperiode schon viele Anträge der Grünenzur Agrarpolitik gelesen. Aus den meisten dieser An-träge ziehe ich die Schlussfolgerung, dass die Grünendie bäuerliche Landwirtschaft in Deutschland abschaffenwollen. Das lasse ich Ihnen aber nicht durchgehen.
Ein Blick auf die Lebenswirklichkeit offenbart, dassdie von Ihnen angedachten Investitionshilfen das Risikonicht kompensieren können. In diesem Zusammenhangwill ich den Hinweis geben, dass die Schweinehaltungs-verordnung dazu geführt hat, dass kleinere Schweinehal-tungsbetriebe bei uns aufgehört haben. Wir dürfen keineDüngeauflagen formulieren, die zu Betriebsaufgabenführen. Schon wegen dieser Forderungen sehe ich IhreAnträge mehr als kritisch. Im Ganzen sind sie nicht zu-stimmungsfähig und müssen abgelehnt werden.Herr Präsident, ich danke Ihnen für Ihre Nachsicht beimeiner Redezeit. Ich glaube aber, wir können nicht mehrso lange warten, um Ihren Geburtstag zu feiern.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2855
Artur Auernhammer
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Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Auernhammer, dass Sie
die von Ihnen angekündigte Redezeit nicht vollständig
ausgeschöpft haben.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/1338 und 18/1332 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –
Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpas-
sung steuerlicher Regelungen an die Recht-
sprechung des Bundesverfassungsgerichts
Drucksache 18/1306
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Die Reden dazu sollen zu Protokoll gegeben wer-
den.1) – Ich sehe niemanden, der dagegen Einwände er-
hebt.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/1306 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dazu
gibt es keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Niema Movassat, Wolfgang Gehrcke,
1) Anlage 5
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Nachhaltige Entwicklungsziele der Vereinten
Nationen – Soziale Ungleichheit weltweit
überwinden
Drucksache 18/1328
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auch hierzu sollen die Reden zu Protokoll gegeben
werden.2) – Ich sehe niemanden, der dagegen Einspruch
erhebt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/1328 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dagegen erhebt
sich kein Widerspruch. Damit ist die Überweisung so
beschlossen.
Wir sind damit nach annähernd 14 Stunden Debatten-
zeit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung ange-
langt.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen
Bundestages auf morgen, Freitag, den 9. Mai 2014,
9 Uhr, ein.
Ich danke allen, die sich heute an den Debatten betei-
ligt haben, und wünsche Ihnen einen schönen Restabend.
Kommen Sie morgen frisch und ausgeschlafen um 9 Uhr
wieder ins Plenum.
Die Sitzung ist geschlossen.