Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz, liebeKolleginnen und Kollegen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:Befragung der BundesregierungDie Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-binettssitzung mitgeteilt: Fortschrittsbericht 2013 zumFachkräftekonzept der Bundesregierung.Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Berichthat die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, FrauAndrea Nahles. Bitte.Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit undSoziales:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das Kabinett hat heute den Fortschrittsbericht 2013 zumFachkräftekonzept der Bundesregierung beschlossen.Der Kampf gegen den Fachkräftemangel ist, das ist si-cherlich unstrittig, eines der wichtigsten Zukunftsthe-men unseres Landes.Ich halte fest, dass wir keinen flächendeckendenFachkräftemangel haben. Allerdings gibt es Engpässe ineinzelnen Berufszweigen, Tendenz leicht steigend. Imletzten Fortschrittsbericht wurden 15 Berufe benannt, indenen es Engpässe gab. Diese Zahl hat sich auf 20 er-höht.Ich will einige Beispiele nennen: Ärzte, Ingenieure,Informatiker, aber eben auch Lokführerinnen und Lok-führer, Pflegekräfte, Energietechniker. An diesem Spek-trum kann man sehr schön erkennen, worum es geht: Esgibt auf allen Qualifikationsniveaus Engpässe; es fehlensowohl Facharbeiter als auch Akademiker.Schon in der letzten Großen Koalition haben wir unsdeswegen drei große Bereiche vorgenommen, auf diesich unsere Maßnahmen konzentrieren: die Erwerbsbe-teiligung von Älteren, die bessere Nutzung des Poten-zials von Frauen und die Verbesserung der Bildung undQualifizierung sowohl der Jungen als auch derer, dieschon im Job sind. Der Fortschrittsbericht, den wir heutebesprechen, zeigt, dass wir hier deutliche Fortschritte er-zielt haben; es sind also erfolgreiche Entwicklungen zuvermelden.Ich nenne das Stichwort „junge Menschen“: Wir ha-ben den Anteil der jungen Erwachsenen ohne Berufsab-schluss von 17,8 Prozent im Jahr 2005 auf 14,5 Prozentim Jahr 2012 senken können. Das ist zwar sehr gut, aberes kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass immer noch1,4 Millionen junge Menschen ohne Abschluss sind. Dasist entschieden zu viel, und deswegen müssen wir auchweiterhin alle unsere Kräfte bündeln, um dafür zu sor-gen, dass 25- bis 34-Jährige ohne Berufsabschluss nach-qualifiziert werden, um eine Ausbildung zu vollenden.Wichtig ist in diesem Zusammenhang unser Pro-gramm „Schulverweigerung – Die 2. Chance“. Für100 000 jüngere Arbeitslose ohne Berufsabschluss ste-hen dadurch Ausbildungsplätze zur Verfügung. Circa einDrittel davon wurde bisher in Anspruch genommen. Wirwerden dieses Programm weiter bewerben, es nutzenund im Zweifel da, wo es notwendig ist, auch optimie-ren. Ich möchte hinzufügen: Um zukünftig zu verhin-dern, dass junge Leute ohne Abschluss ins Erwerbslebentreten, sollten wir meiner Auffassung nach immer häufi-ger bereits in der Schule ansetzen und die vorhandenenHilfeleistungen besser verzahnen.Ich war in der letzten Woche in Hamburg und habemir dort die Jugendberufsagentur angeguckt. Dort wer-den die Schnittstellen von Schule und Beruf sehr schönzusammengeführt, und es wird Hilfe aus einer Hand an-geboten. Das finde ich sehr vorbildlich. Das HamburgerModell werden wir vielleicht nicht eins zu eins überall inDeutschland umsetzen können, aber wir können dieSchnittstellenproblematik überall angehen. Deswegenwill ich diese Grundidee deutschlandweit verankern.Stichwort „Frauen“: Hier können wir eine sehr guteEntwicklung vermelden. Für das Jahr 2020 haben wiruns eine Erwerbstätigenquote von Frauen von 73 Pro-zent vorgenommen. Wir haben im dritten Quartal 2013bereits eine Quote von 72,7 Prozent erreicht. Aber: DerAnteil der Frauen, die in Teilzeit arbeiten, ist mit fast derHälfte zu hoch. Die Frauen selber sagen, sie würden gernmehr Stunden arbeiten wollen, als sie derzeit können.
Metadaten/Kopzeile:
1448 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014
Bundesministerin Andrea Nahles
(C)
(B)
Offensichtlich brauchen wir für die höhere Erwerbsbe-teiligung von Frauen, in Stunden gerechnet, mehr Hilfs-angebote. Wir sind überzeugt, dass ein weiterer Ausbauvon Ganztagsangeboten für die Kinderbetreuung einwichtiger Weg ist. Dazu werden den Ländern gemäß Ko-alitionsvertrag zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt,damit sie weiter investieren können. Viele Frauen wollenzeitweise in Teilzeit arbeiten, aber sie beklagen, dass dieRückkehr zur Vollzeit in Deutschland ein Problem ist.Deswegen haben wir uns vorgenommen, eine gesetzlichbefristete Teilzeit vorzusehen und das Recht auf dieRückkehr zur Vollzeit einzuführen. Das werden wir an-packen, sobald andere Gesetzesvorhaben abgeschlossensind.Dritter und letzter Schwerpunkt, den ich benennenwill, ist die Beschäftigungsquote Älterer. Auch hier gibtes eine sehr erfreuliche Entwicklung. Das hat sicherlichdamit zu tun, dass wir keine Möglichkeiten der Frühver-rentung wie die 58er-Regelung mehr haben, dass die ge-förderte Altersteilzeit ausläuft. Wir haben also umge-steuert. Über diesen Weg ist es gelungen, dass wir beiden über 55 Jahre alten Menschen die Erwerbsquote von37,4 Prozent im Jahr 2000 auf 64 Prozent steigern konn-ten. In der Altersgruppe der 55- bis 59-Jährigen ist eineenorm gute Quote erreicht: Drei Viertel der Menschensind in Beschäftigung. Wir streben mindestens 90 Pro-zent an. Aber das ist schon eine sehr gute Entwicklung.Anders sieht es bei den 60- bis 64-Jährigen aus. Hierfällt die Quote deutlich ab. Aus dieser Altersgruppe ar-beitet nur jeder Zweite. Es ist an dieser Stelle wichtig, zusagen, dass wir noch einiges tun können – ich bin mirhier einig mit den Wirtschaftsverbänden –: Über Alters-zeitmodelle, über altersgerechte Arbeitsplätze, über Ge-sundheitsmanagement und anderes können wir anstre-ben, auch die über 60-Jährigen fit im Job zu halten.Dieses Ziel unterstützen wir vonseiten der BA mit Pro-grammen wie WeGebAU und anderen.Wir haben also einiges erreicht. Im Übrigen hat unsder positive Zuwanderungssaldo geholfen. Die Bundes-regierung hätte heute mehr Berufe als Engpassberufeausweisen müssen, wenn es uns nicht gelungen wäre– wir haben immer gesagt, wie wichtig das ist –, einenpositiven Zuwanderungssaldo zu erreichen. Den brauchenwir auch für die Zukunft. Ich füge hinzu: Zuwanderungalleine kann die Fachkräftesicherung nicht gewährleisten.Wir müssen auch auf das eigene Erwerbspersonenpoten-zial setzen und Ältere, Frauen und vor allem die jungenMenschen ansprechen.In diesem Sinne hoffe ich, beim nächsten Fortschritts-bericht weitere Fortschritte vermelden zu können.Vielen Dank.
Danke, Frau Ministerin. – Liebe Kolleginnen und
Kollegen, ich bitte, zunächst Fragen zu dem Themenbe-
reich zu stellen, über den soeben berichtet wurde. Zur
ersten Frage hat die Kollegin Schimke das Wort.
Sehr geehrte Frau Ministerin, das Fachkräftekonzept
der Bundesregierung spricht für die gute Zusammenar-
beit zwischen der Bundesregierung und der deutschen
Wirtschaft bei der Sicherung unseres Fachkräftebedarfs.
Wie schätzen Sie die Aktivitäten, insbesondere der Wirt-
schaft, ein, ältere Arbeitnehmer und Frauen in Erwerbs-
tätigkeit zu bringen?
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und
Soziales:
Danke, dass Sie fragen. Im Ticker wurde ein Satz aus
dem Berichtszusammenhang gerissen. Natürlich kann
man immer noch mehr machen. Aber ich muss ganz ehr-
lich sagen: Es passiert hier sehr viel. Das hat auch damit
zu tun, dass über die Hälfte der Mittelständler schon jetzt
Umsatzeinbußen haben, weil sie nicht über genügend
Fachkräfte verfügen. Gerade der Mittelstand arbeitet
sehr intensiv auf der Baustelle „Aus- und Weiterbil-
dung“. Da ist er, ehrlich gesagt, besser als andere Teile
der Wirtschaft. Das ist sehr gut.
Allerdings sehe ich noch an anderer Stelle Potenzial:
Nur ein Drittel der Unternehmen macht Angebote zur
besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf. In Groß-
betrieben ist das schon häufiger ein Thema als im Mittel-
stand. Das ist ja auch typisch und normal, weil die Mit-
telständler oft nicht über die nötigen Strukturen
verfügen; sie haben keine eigene Personalabteilung und
anderes. Diese Unternehmen müssen da durch die Kam-
mern, durch den Deutschen Industrie- und Handelskam-
mertag und die Handwerkskammern vor Ort unterstützt
werden.
Ich kann aber wirklich von einem klaren Bewusst-
seinswandel sprechen. Hier wird heute sehr viel mehr
gemacht. Wir als BMAS haben gute Kooperationspart-
ner. Wir koordinieren die Fachkräfteinitiative der Bun-
desregierung, und wir haben in den letzten Jahren über-
all offene Ohren und offene Türen angetroffen. Ich kann
also nur sagen: Weiter so! Denn diejenigen, die das jetzt
angehen, sind schlau. Ich kann sie nur beglückwün-
schen, weil sie für die Zukunft ihres eigenen Unterneh-
mens genau das Richtige tun.
Bevor wir jetzt fortfahren, gestatten Sie mir den Hin-
weis, dass sich die Fragen und Antworten in der Befra-
gung der Bundesregierung auf jeweils eine Minute be-
schränken sollen. Das wird durch ein optisches Zeichen
unterstützt. Das heißt, wenn die Farbe Rot aufleuchtet,
ist die Minute definitiv zu Ende. Da ich hier eine große
Anzahl an Wortmeldungen habe, bitte ich, die Zeit aus
Rücksicht auf die Kolleginnen und Kollegen einzuhal-
ten, sodass wir hier möglichst alle zu Wort kommen las-
sen können.
Die nächste Frage stellt die Kollegin Pothmer.
Frau Ministerin, Sie haben darauf hingewiesen, dasssich der Beschäftigungsanteil Älterer am Arbeitsmarktdeutlich erhöht hat. Jetzt müssen wir aber zur Kenntnis
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014 1449
Brigitte Pothmer
(C)
(B)
nehmen, dass Ihre Pläne in Sachen Rente dieser positi-ven Entwicklung eindeutig entgegenwirken. Ich will Ih-nen nur ein Beispiel nennen: Der Hauptgeschäftsführerdes Verbands der Metallindustriellen Niedersachsensgibt zu bedenken, dass Ihre Rentenpläne allein in seinemBereich, in Niedersachsen, dazu führen würden, dassmindestens 6 000 Arbeitskräfte fehlen. Er selber nenntdas – wie ich finde, zu Recht – eine „Katastrophe“, undzwar auch deswegen, weil in der Elektro- und Metall-industrie in Niedersachsen derzeitig schon 18 000 Ar-beitsplätze unbesetzt sind. Er braucht diese Leute also injeder Hinsicht dringend. Sehen Sie nicht das Problem,dass Sie mit der Rentenpolitik, die Sie angekündigt ha-ben, Ihrem eigenen Ziel, den Anteil Älterer am Arbeits-markt zu erhöhen, entgegenwirken?Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit undSoziales:Nein, das sehe ich nicht. Sollte es aber die Gefahr ge-ben – das habe ich schon mehrfach öffentlich gesagt –,dass es im Einzelfall ausgenutzt wird, bin ich bereit, imLaufe der parlamentarischen Beratungen wirksame Ge-genmaßnahmen zu verankern. Das wird sehr bald mög-lich sein: Der Bundesrat befasst sich jetzt mit dem Ren-tenpaket, danach kommt es hier ins Parlament; dannkönnen wir uns gerne intensiver darüber austauschen.Generell möchte ich Ihnen aber klar sagen, dass essehr viel Mühe gekostet hat, ein Umdenken zu erwirkenin der Richtung, dass Ältere nicht zum alten Eisen ge-zählt werden. Wenn wir heute hören, dass 50 Prozent derüber 60-Jährigen in Arbeit sind, dann erkennen wir, dassnoch deutlich Luft nach oben ist. Da würde ich mich na-türlich sehr freuen, wenn sich auch der Verband der Me-tallindustrie Niedersachsens weiter für altersgerechteArbeitsplätze einsetzen würde, sodass die Quote gestei-gert werden kann.Insbesondere ist es so, dass die Erwerbsbeteiligungbei den 62- und 63-Jährigen schon jetzt deutlich nachunten geht. Das bedeutet: Die Verantwortung jetzt aufein Gesetz zu schieben, das die zu erwartende Ent-wicklung berücksichtigt, dass die Erwerbsbeteiligungder 63- bis 65-Jährigen langsam aufwächst, es also zu ei-ner Steigerung der Erwerbsbeteiligung von Älterenkommt, das ist für mich ein Delegieren von Verantwor-tung. Das halte ich nicht für angemessen, und deswegenweise ich diesen Vorwurf zurück.
Das Wort hat die Kollegin Krellmann.
Vielen Dank. – Frau Ministerin, Sie haben richtiger-
weise festgestellt, dass man nicht in allen Bereichen von
Fachkräftemangel sprechen kann. Ich sage aber: Die Be-
reiche der Altenpflege und der Gastronomie gehören
ausdrücklich dazu. Das sind in der Regel auch die Berei-
che, in denen es die niedrigsten Löhne gibt. Das Thema
Mindestlohn ist eine Sache. Die Frage ist aber: Was wol-
len Sie tun, um die Arbeitsbedingungen einschließlich
der Löhne so zu stabilisieren, dass es interessant ist, in
diesen Bereichen zu arbeiten?
Das Gleiche gilt im Grunde auch für die Pflegeberufe.
Denn im Bereich der sozialen Dienstleistungen gibt es so
etwas wie eine chronische Unterfinanzierung. Die Ge-
werkschaft Verdi fordert einen einheitlichen Pflegemin-
destlohn von mindestens 12,50 Euro für die dort Be-
schäftigten. Auf diese Weise soll es attraktiv werden, in
dieser Branche zu arbeiten und nicht darauf zu verzich-
ten, weil man dort nicht genügend verdienen kann.
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und
Soziales:
Wie Sie wissen, sind wir auf dem Weg, einen gesetzli-
chen flächendeckenden Mindestlohn zu verankern. Das
wird sicherlich insbesondere dazu beitragen, dass Berufe
in der Gastronomie attraktiver werden.
Auch im Bereich der Pflege hat es in der Vergangen-
heit schon Bemühungen gegeben. Es gibt bereits eine
entsprechende Mindestlinie in der Vergütung. Ich gebe
aber gerne zu, dass der Wettbewerb die Arbeitsbedin-
gungen in der Pflege für viele verschlechtert hat. Ich
sehe einen weiteren Ansatzpunkt. Wir wollen wenigs-
tens erreichen, dass die Auszubildenden nicht selbst für
ihre Ausbildung zahlen müssen. Diese noch immer be-
stehende Hürde zu beseitigen, ist neben der Einführung
des Mindestlohns eines unserer Ziele. Dies kann ich
nicht alleine anschieben. Das ist ein Punkt, der dringend
reformiert werden muss. Wenn wir einen Pflegenotstand
haben, muss der Zugang zum Pflegeberuf möglichst
ohne Hürden sein. Das ist ein Punkt, bei dem wir anset-
zen wollen.
Kollegin Wolff, Sie haben das Wort.
Sehr geehrte Frau Ministerin, vielen Dank für dieDarstellung der aktuellen Situation. Ich würde von Ihnengerne wissen, um welche Engpässe es sich handelt. Wirhaben eben gehört, dass der Bereich der Pflege dazuge-hört. Gibt es aus Ihrer Sicht weitere Engpässe und viel-leicht sogar einen Arbeitskräftemangel in Deutschland?Meine zweite Frage lautet: Wenn dem so ist, wie geden-ken Sie, das Programm zur Fachkräftesicherung inhalt-lich auszugestalten?Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit undSoziales:Es gibt diese Engpässe in den Bereichen, die ich ebenschon genannt habe. Das Auffällige ist: Es gibt sie aufallen Qualifikationsniveaus. Es gibt aber vor allem eineTendenz: Wenn wir zum Beispiel bei den Pflegekräfteneinen Engpass haben, dann ist dies nicht nur in Mecklen-burg-Vorpommern oder in Rheinland-Pfalz, sondernüberall der Fall. Wenn es beim Beruf des Mechatronikersund im gesamten Bereich des Maschinenbaus einen Eng-pass gibt, dann gibt es diesen bundesweit. Wir könnendas nicht innerhalb Deutschlands ausgleichen.
Metadaten/Kopzeile:
1450 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014
Bundesministerin Andrea Nahles
(C)
(B)
Wir machen zwei auffällige Beobachtungen:Erstens. Es gibt diese Engpässe zunehmend. Siewachsen von Bericht zu Bericht an – wenn auch leicht.Sie werden ein bisschen durch die Zuwanderung und dieErhöhung des Erwerbspersonenpotenzials abgemildert.Die Tendenz bleibt aber.Zweitens. Diese Tendenz ist flächendeckend und trittnicht nur in einzelnen Bundesländern auf.Wir können also nicht nur kurzfristige und punktuelleMaßnahmen ergreifen, sondern müssen das Erwerbsper-sonenpotenzial langfristig steigern. Wir müssen die, dienicht qualifiziert sind, nachqualifizieren. Wir müssen beider Zuwanderung weiter auf verbesserte Integration set-zen. Das ist ein ganzes Maßnahmenbündel. Mit einerpunktuellen Maßnahme können wir dieses Problem nichtkurzfristig lösen.
Die nächste Frage stellt der Kollege Oellers.
Vielen Dank. – Frau Ministerin, meine Frage zielt auf
die flexible Beschäftigung ab. Wie wirkt sich nach Ihren
Erkenntnissen die starke Nachfrage nach Fachkräften
auf die Struktur des Arbeitsmarktes, insbesondere auf
die flexible Beschäftigung aus?
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und
Soziales:
Das ist ein interessanter Punkt. Der Fachkräftemangel
wirkt sich tatsächlich – wenn auch zunächst nur leicht;
ich will das noch nicht zu einem großen Trend erklären –
insoweit positiv aus, als die atypische, die prekäre Be-
schäftigung zurückgeht.
Ich habe mir die Zahlen angeguckt. Die Zahl der aty-
pischen Arbeitsverhältnisse ist im Zeitraum von 2011 bis
2012 gesunken. Ich prognostiziere, dass sich der Trend
in den Jahren 2013 und 2014 möglicherweise fortsetzt.
Die Gründe für den leichten Rückgang liegen unter
anderem in der gesunkenen geringfügigen Beschäfti-
gung, aber auch in der rückläufigen Befristung von Be-
schäftigungsverhältnissen. Es ist interessant, dass den
Unternehmen offensichtlich mittlerweile klar ist: Wer
langfristig Beschäftigung sichern will, der muss darauf
setzen, die Arbeitskräfte an sich zu binden.
Es gibt also eine positive Entwicklung, allerdings in
einem geringen Umfang. Ich würde zwar noch nicht von
einem starken Trend sprechen, aber wir haben eine posi-
tive Entwicklung beobachten können.
Kollege Lenkert, Sie haben das Wort.
Frau Ministerin, Fachkräftesicherung bedeutet für die
Linke, dass Unternehmen und öffentliche Arbeitgeber
ausbilden und dass man vor allen Dingen nach der Aus-
bildung die Chance hat, in seinem erlernten Beruf zu ar-
beiten. So kann die Sicherung des Fachkräftebedarfs
langfristig vorbereitet werden.
Jetzt haben wir in Thüringen und in vielen anderen
Bundesländern das Problem, dass die Lehrkörper an den
Schulen überaltert sind. Die Schule meines Sohnes hat
einen jungen Lehrkörper – mit einem Durchschnittsalter
von 55 Jahren.
Das zeigt, dass in absehbarer Zeit ein Problem auf uns
zurollt.
Nun ist die Situation so: Die Stellenpläne im öffentli-
chen Dienst sind ausgeschöpft, aber die Kassen sind leer.
Das Problem ist, dass keine Chance besteht, schon jetzt
Lehrerinnen und Lehrer einzustellen. Meine Frage ist:
Arbeiten Sie an einer Lösung für dieses Problem, damit
wir in fünf oder zehn Jahren nicht mit einem Schlag
ganze Lehrkörper verlieren? Welche Unterstützung kann
die Bundesregierung den entsprechenden Bundesländern
gewähren, um eine solche Entwicklung zu verhindern?
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und
Soziales:
Es ist immer wieder unangenehm, gerade wenn junge
Leute hier auf der Tribüne zuhören, darauf hinzuweisen,
dass es schlicht nicht die Aufgabe des Bundes ist, für
ausreichend Lehrer in den Ländern zu sorgen. Trotzdem
nehme ich Ihren Hinweis mit, weil wir beim Thema
Fachkräftesicherung interministeriell zusammenarbei-
ten.
In Thüringen gibt es einen interessanten Ansatz in
Bezug auf Nachqualifizierung. Es geht darum, passge-
naue Lösungen zu finden. Das wiederum ist die Bau-
stelle der Arbeitsministerin. Gerade in Thüringen sind
wir da sehr aktiv.
Ich weise darauf hin, dass wir zusätzliche Mittel für
Bildung und Hochschulbildung in die Länderhaushalte
geben. Die Länder haben sich aber in der Frage, wie sie
diese Mittel einsetzen, jede Einmischung von Bundes-
seite ausdrücklich verbeten.
Ich verspreche, dass wir darüber im Einzelfall noch
einmal diskutieren werden. Aber tatsächlich müssten Sie
Ihre Frage an eine andere Ebene adressieren.
Kollege Gehring, Sie haben das Wort.
Vielen Dank für Ihre Ausführungen, gerade auch weilviele junge Menschen auf der Besuchertribüne sitzenund die Befragung verfolgen.Ein ehemaliger SPD-Kulturstaatsminister warnt voreinem – Zitat – „Akademisierungswahn“. Mitglieder desBundestages mit CSU-Parteibuch fordern „Meister stattMaster“, wenn es um den künftigen Bildungsabschluss
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014 1451
Kai Gehring
(C)
(B)
geht. Die Konsequenz wäre ja, dass der Zugang zuHochschulen massiv verengt bzw. sogar verbaut wird.Ich wüsste gerne von Ihnen: Finden Sie den Ansatzrichtig, berufliche und akademische Bildung gegenein-ander auszuspielen? Oder finden Sie es in einer freiheit-lichen Gesellschaft wie der unseren nicht besser, die jun-gen Leute selber entscheiden zu lassen, ob sie eineAusbildung oder ein Studium aufnehmen?Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit undSoziales:Ich freue mich über jeden, der in Deutschland einenakademischen Abschluss macht. Wir haben jahrelangdarum gekämpft, dass die Quote steigt. Insoweit ist daserst einmal eine gute Nachricht. Ich glaube auch nicht,dass das der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands scha-det. Allerdings will ich auch sagen, dass ich in der dua-len Ausbildung, die noch vor zehn Jahren als altmodischund überholt dargestellt wurde – es wurde gesagt,Deutschland sei hinten dran und wir brauchten eine stär-kere Akademisierung; das haben wir teilweise auch ge-schafft –, eine wesentliche Stütze unserer gesamtenWirtschaft sehe. Ich bin der Auffassung, dass die dualeAusbildung sogar ein Exportschlager ist. Am Montag inBrüssel habe ich wieder einmal gemerkt, dass andereLänder sich das zurzeit bei uns abschauen und sich einsolches System wünschen.Insoweit würde ich die beiden Bereiche ungern ge-geneinander ausspielen. Wir müssen beides machen: DieLeute, die das Talent dazu haben und das gerne wollen,sollen eine akademische Ausbildung machen. Wir sollenauf der anderen Seite aber auch die duale Ausbildungwieder stärker in den Blick nehmen. Aus meiner Sichtmüssen wir hierauf in den nächsten Jahren einenSchwerpunkt legen. Ich glaube, dass die duale Ausbil-dung zurzeit ein Imageproblem hat. Ich würde gerne hel-fen, das Image der dualen Ausbildung zum Positiven hinzu verändern.
Die Kollegin Mast stellt die nächste Frage.
Frau Ministerin, Sie haben in Ihrem aktuellen Fort-
schrittsbericht zwei Zielgruppen für die Zukunft be-
nannt: Geringqualifizierte und Mütter mit Migrations-
hintergrund. Meine Frage ist: Warum haben Sie sich auf
diese Zielgruppen fokussiert, und welche Potenziale se-
hen Sie darin?
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und
Soziales:
Mütter mit Migrationshintergrund fallen in der Statis-
tik dadurch auf, dass sie eine besonders niedrige Er-
werbsbeteiligung haben. Das wird teilweise wie ein Na-
turgesetz hingenommen. Ich bin deswegen dankbar, dass
das Bundesfamilienministerium vor zwei Jahren die Ini-
tiative ergriffen und sich mit Modellprojekten um genau
diese Gruppe gekümmert hat. Die Ergebnisse dieser Mo-
dellprojekte, die im Fortschrittsbericht ausgewiesen
wurden, sind sehr ermutigend. Ein Teil dieser Frauen hat
auf diese Ansprache geradezu gewartet. Sie freuen sich.
Die Abbrecherquote ist im Verhältnis zu anderen Projek-
ten sehr gering. Deswegen werden wir mit ESF-Mitteln,
die wir jetzt bekommen, für genau diese Zielgruppe bun-
desweit Angebote vorhalten. Das ist Ergebnis der positi-
ven Erfahrung mit diesen Modellprojekten.
Zu den Geringqualifizierten kann ich ganz simpel sa-
gen: Sie sind für den Rest ihres Lebens schlichtweg häu-
figer von Arbeitslosigkeit bedroht. Wer es versäumt, am
Anfang seines Berufslebens eine Ausbildung zu machen,
muss damit rechnen, auf Dauer Kunde der Bundesagen-
tur für Arbeit zu bleiben oder zumindest immer wieder
deren Kunde zu werden. Das muss nicht so sein. Deswe-
gen darf eigentlich kein junger Mensch ohne Ausbildung
in das Erwerbsleben geschickt werden. Das muss bei uns
oberste Priorität haben. Deswegen haben wir auch die
Initiative „Spätstarter“ für 100 000 junge Erwachsene
ohne Berufsabschluss aufgelegt. Wir haben auch andere
Maßnahmen, um das zu verhindern. Früher anzufangen,
schon in den Schulen, ist auch ein Erfolgsrezept. Mein
Eindruck ist, dass das angekommen ist, auch in den Län-
dern, die auf diesem Gebiet sehr aktiv sind und koope-
rieren. Spätestens in der achten Klasse werden junge
Leute motiviert, eine Ausbildung zu machen, auch wenn
sie keine guten Noten haben. Am Ende zahlt es sich aus.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe vor, alle
bis jetzt gemeldeten Fragen zum Gegenstand des Be-
richts der Frau Ministerin zuzulassen. Das setzt aber vo-
raus, dass wir uns an die selbstgegebenen Regeln halten
und die Zeit von einer Minute für jede Frage und jede
Antwort einhalten. Das heißt, ich verlängere die Regie-
rungsbefragung und kürze die danach folgende Frage-
stunde. Ich bitte Sie aber, auch Rücksicht auf die nach-
folgenden fragenden Kolleginnen und Kollegen zu
nehmen.
Die nächste Frage stellt die Kollegin Eckenbach.
Frau Ministerin, vieles wurde heute Morgen schongefragt. Wenn es um Fachkräfte geht, geht es immer umdie wichtigen Fragen des demografischen Wandels, desZeitmanagements, das heißt um die Frage der Vereinbar-keit von Familie und Beruf. Nun sagt dieser Bericht eineMenge dazu, was es bereits gibt. Trotzdem würde ichgerne von Ihnen hören, worauf Sie Ihre Schwerpunktehinsichtlich des Zeitmanagements, also der Vereinbar-keit von Familie und Beruf legen. Meiner Ansicht nachgeht es dabei nicht nur um die Erziehung von Kindern,sondern auch um die Pflege alter Menschen. Das ist ganzwichtig, um Fachkräfte länger im Betrieb zu halten, aberauch, um Mütter dazu zu bewegen, früher wieder in denBeruf einzusteigen.
Metadaten/Kopzeile:
1452 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014
(C)
(B)
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit undSoziales:Vielen Dank. – Es gibt nicht immer die glückliche Si-tuation, dass die Wünsche der Betroffenen mit den Be-dürfnissen der Wirtschaft übereinstimmen. In diesemFall ist das aber so. Die Arbeitszeitwünsche der Frauenzeigen, dass sie länger arbeiten wollen. 45 Prozent arbei-ten Teilzeit; das ist eine sehr hohe Quote. Sie wollennicht unbedingt 38,5 Stunden in der Woche arbeiten,aber mehr als 18,6 Stunden, welches der Durchschnittist.Umgekehrt handelt es sich bei diesen Frauen um einPotenzial von gut ausgebildeten und qualifizierten Er-werbspersonen, die freiwillig und aus guten Gründen füreine bestimmte Zeit Teilzeit arbeiten – das finde ich ab-solut in Ordnung – und dann sagen: Wir wollen jetztlangsam wieder ein Stück weit zurück. – Wir müssenMöglichkeiten schaffen, befristet Teilzeit zu arbeiten,und die Chancen verbessern, nach einigen Jahren auchwieder voll berufstätig sein zu können. Dafür ist eine ge-setzliche Leitplanke notwendig. Die Schaffung dieserMöglichkeiten haben wir im Koalitionsvertrag verabre-det. Das werden wir, sobald es geht, anpacken.Das ist einer der Punkte, wo es eine Deckungsgleich-heit gibt: Wettbewerbsfähigkeit steigern und Arbeitszeit-wünsche der betroffenen Frauen realisieren. Das kommthier sehr gut zusammen.
Die nächste Frage stellt die Kollegin Tack.
Frau Ministerin, Sie hatten als Potenzial für die künf-
tige Sicherung von Fachkräften Frauen, junge Menschen
und ältere Menschen in den Fokus genommen. Wir mei-
nen aber auch, dass wir noch ein immenses Potenzial an
Fachkräften unter den Menschen mit Behinderungen ha-
ben, insbesondere auch den schwerbehinderten Akade-
mikerinnen und Akademikern. Wir sehen, dass es nach
wie vor eine große Anzahl von Betrieben gibt, die zwar
eine Verpflichtung zur Einstellung hätten, sich ihrer Ver-
pflichtung aber zunehmend durch das Freikaufen, durch
die Abgabe entziehen. Ich glaube, wir haben hier ein
Potenzial, das wir nicht vernachlässigen dürfen.
Meine Frage ist: Sehen Sie seitens der Bundesregie-
rung Möglichkeiten, für eine stärkere Beteiligung von
Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt zu sor-
gen, indem auch die Firmen, die ihrer Verpflichtung im
Moment nicht nachkommen, eingebunden werden?
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und
Soziales:
Zunächst, Frau Tack, weist der Bericht klar aus: Das
Qualifikationsniveau der Menschen mit Behinderungen
ist überdurchschnittlich hoch und wird unterdurch-
schnittlich genutzt. Der Befund ist eindeutig. Ich finde
das sehr bedauerlich. Wir werden in dieser Legislaturpe-
riode im Zusammenhang mit dem Teilhabegesetz noch
intensiv über Inklusion reden. Für mich gehört dieser
Punkt der stärkeren Erwerbsbeteiligung von behinderten
Menschen sowohl zum Thema Fachkräftepotenzial – das
Potenzial wird hier nicht ausgeschöpft – als auch zum
Thema Inklusion und Teilhabe. Deswegen werden wir
uns dem widmen.
Ich will heute keine Ankündigungen machen, was im
Einzelnen erfolgen wird, aber ich kann Ihnen verspre-
chen, dass wir das anpacken werden. Auch mir ist beim
Lesen des Berichtes aufgefallen, dass es hier offensicht-
lich immer noch zu große Hemmnisse gibt und zu große
Zurückhaltung besteht. Das darf in einem Land wie
Deutschland nicht so sein.
Das Wort hat der Kollege Markus Kurth.
Frau Ministerin, Sie haben davon gesprochen, dass
Sie bei der Rente mit 63, wenn sie als Möglichkeit zur
Frühverrentung ausgenutzt würde, nachsteuern würden.
Darum geht es aber gar nicht. Die Rente mit 63 ist ja
schon an sich ein Frühverrentungsprogramm. Die Ar-
beitgeber in der Metallbranche haben gar nicht vor, die
Personen mit 61 zu entlassen und sie bis zum 63. Le-
bensjahr arbeitslos sein zu lassen, sondern sie fürchten,
dass sehr viele die Rente mit 63 in Anspruch nehmen
werden.
Auf meine Frage zu diesem Thema hat die Bundesre-
gierung geantwortet, dass von den 200 000 Personen, die
im Einführungsjahr von der neuen Reglung profitieren,
rund 50 000 ohne die Neuregelung nicht mit 63 in Rente
gehen würden. Das heißt, Sie entziehen dem Arbeits-
markt bis zu 50 000 Fachkräfte. Glauben Sie nicht, dass
damit die Anstrengungen, die die Unternehmen jetzt un-
ternommen haben, um Bedingungen für ältere Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer zu schaffen, konterka-
riert werden, weil diese Unternehmen nicht mehr davon
ausgehen können, dass sie dann auch davon profitieren,
dass sie die Arbeitsbedingungen für Ältere verbessern?
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und
Soziales:
Nein, das sehe ich nicht so. Wir führen die Debatte
dann in den nächsten Wochen weiter.
Die nächste Frage stellt der Kollege Paschke.
Frau Ministerin, Sie haben vorhin das HamburgerModell und in dem Zusammenhang die Schnittstellen-problematik, die da gelöst wird, angesprochen. Ichglaube, ein wesentlicher Bestandteil des Hamburger Mo-dells ist auch der Perspektivwechsel, der stattgefundenhat, dass nämlich die Bedürfnisse der Jugendlichen imMittelpunkt stehen und mit einer hohen positiven Moti-vation nach Lösungen gesucht wird und weniger mit ei-ner negativen, wie wir es ansonsten im Bereich desSGB II kennen. Halten Sie das Hamburger Modell ins-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014 1453
Markus Paschke
(C)
(B)
besondere auch hinsichtlich dieser positiven Motiva-tionsvorlage für übertragbar?Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit undSoziales:In meiner Tätigkeit als Abgeordnete habe ich nichtselten mitbekommen, dass junge Leute, die es nicht ge-schafft haben, eine Ausbildung zu beenden, fünf, sechsBetreuer hatten: Drogenberater, Jugendamt, berufsbe-gleitende Hilfen, alles Mögliche; von der Jugendge-richtshilfe will ich gar nicht erst anfangen. Das ist dannaber nebeneinander gelaufen, und es ist oft nicht ver-zahnt worden. Und nicht nur das: Auf dem Weg von ei-ner Behörde zur anderen, bei der man Hilfe bekommt,verschwand der eine oder andere Jugendliche auchschon mal vom Radar, weil er zum Beispiel den Auf-wand gescheut hat.Was jetzt in Hamburg und auch an anderen Orten ge-macht wird, ist: Es wird sichergestellt, dass die Beratungaus einer Hand und an einem Ort erfolgt. Die jungenLeute merken gar nicht, ob sie auf einmal in der Zustän-digkeit der Kommune gelandet sind, wenn sie beispiels-weise von der Bundesagentur zum Jugendamt hinüber-gehen; sie gehen nur von einem Büro ins andere. Das isteine optimale Situation. Im ländlichen Raum ist das inder Form, wie es rein räumlich gelöst wurde, so viel-leicht nicht umsetzbar. Trotzdem ist das für alle Regio-nen in Deutschland der richtige Ansatz. Positiv ist diesesVorgehen, weil man mit der Betreuung bereits in derSchule beginnt und die jungen Leute auf dem Weg ineine Ausbildung dann nicht mehr verliert. Der großeVorteil ist, dass die jungen Leute eine positive Anspra-che bekommen und dann begleitet werden, bis sie ihreAusbildung abgeschlossen haben. Ich habe mir das sel-ber vor Ort angeguckt. Ich empfehle diesen Ansatz undwerde ihn als Botschafterin in dieser Sache weiter voran-treiben.
Die Kollegin Kolbe fragt nun.
Sehr geehrte Frau Ministerin, vielen Dank, dass Sie
sich für dieses wichtige Thema so viel Zeit nehmen. –
Meine Wahrnehmung ist, dass wir es, wenn es um das
Thema Fachkräftesicherung geht, zunehmend auch mit
einer Konkurrenz unter den Regionen zu tun haben. Da-
bei gibt es insbesondere eine Konkurrenz um qualifi-
zierte Zuwanderer. Viele ostdeutsche Unternehmer, ge-
rade aus dem Handwerk, beklagen mir gegenüber, dass
sie schon jetzt kaum mehr ausreichend Fachkräfte fin-
den. Aus meiner Sicht geht es deswegen auch um den Si-
cherungspfad der Lohnpolitik und der Tarifpolitik, zum
Beispiel um Demografietarifverträge. Die Bundesregie-
rung plant ja die Einführung eines gesetzlichen Mindest-
lohnes. Mich würde Ihre Einschätzung interessieren,
inwiefern dieser positive Auswirkungen auf die Tarifbin-
dung haben kann, auch und gerade in Ostdeutschland.
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und
Soziales:
Ich glaube, wir sind hier an einem Wendepunkt. Es ist
über viele Jahrzehnte die Philosophie verfolgt worden:
Es ist richtig, dass die Löhne in Ostdeutschland niedriger
sind; denn auch die Lebenshaltungskosten sind dort
niedriger. – Man muss sehen, dass dies mittlerweile zu
einer wirklichen Abwanderung geführt hat, innerhalb
Deutschlands, aber auch nach Österreich und in die
Schweiz. Was die Schweiz betrifft, wissen wir ja nicht,
wie lange das noch geht.
Aber die Abwanderung nach Österreich ist sehr klar zu
erkennen.
Vor diesem Hintergrund kann ich nur sagen: Man
muss überlegen, ob man hier nicht einen Strategiewech-
sel braucht. Der Mindestlohn kann dazu einen Beitrag
leisten. Das kann man natürlich nicht von heute auf mor-
gen machen. Man kann nicht einfach per Verordnung sa-
gen: Jetzt gehen wir einen anderen Weg, nämlich den der
moderaten Anhebung der Löhne. – Das würde dann
möglicherweise zu einer Steigerung der Lebenshaltungs-
kosten in vielen Bereichen führen. Das wird man Stufe
für Stufe machen. Aber der Mindestlohn hilft mit Sicher-
heit dabei, es attraktiver zu machen, seine Perspektive
auch in Ostdeutschland vor Ort zu suchen; da bin ich mir
sicher.
Die nächste Frage stellt die Kollegin Pothmer.
Frau Ministerin, der Fortschrittsbericht weist ja aus,was wir schon längst wussten, nämlich dass der Anteilvon Frauen an der Zahl der Erwerbstätigen deutlich an-gestiegen ist. Gleichzeitig müssen wir aber zur Kenntnisnehmen, dass das Erwerbsvolumen, das Frauen für sichin Anspruch nehmen, bei weitem nicht genauso stark an-gestiegen ist. Das führt dazu, dass sich immer mehrFrauen das mehr oder weniger gleiche Erwerbsvolumenteilen. Die durchschnittliche Dauer der Erwerbstätigkeitvon Frauen beläuft sich auf 18,6 Stunden pro Woche.Deutschland liegt damit nur kurz vor Portugal. Ich be-haupte: Das ist kein Zufall, sondern wir haben inDeutschland Anreizsysteme, die verhindern, dass Frauenüber dieses Stundendeputat deutlich hinauskommen. Ichspreche damit insbesondere die Kopplung von Ehegat-tensplitting und Minijobs an.Hinzu kommt noch das Betreuungsgeld, das auchnicht gerade dafür Sorge trägt, dass Frauen auf den Er-werbsarbeitsmarkt drängen. Die OECD hat das ja in derVergangenheit immer wieder kritisiert und hat Deutsch-land aufgefordert, genau diese Anreizsysteme zu korri-gieren.Ich frage Sie als zuständige Ministerin: Was habenwir da von Ihnen zu erwarten, um die Erwerbsbeteili-gung von Frauen zu erleichtern?
Metadaten/Kopzeile:
1454 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014
(C)
(B)
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit undSoziales:Einer der Hauptgründe ist sicherlich immer noch einemangelhafte Betreuungssituation. Hier in Berlin kannman sich das kaum noch vorstellen. Kommen Sie einmalzu mir in die Eifel: Die Kita, die meine Tochter besucht,macht um halb zwei zu. Da ist es, wenn man pendelt– was für meine Region ebenfalls typisch ist –, fast nichtmöglich, erwerbstätig zu sein. Selbst ein Halbtagsjobwird da schwierig. Das heißt, aus meiner Sicht ist dasimmer noch ein Kernproblem, bei dem wir noch nicht inder notwendigen Weise vorangekommen sind. Deswe-gen ist es wichtig, dass wir zusätzliche Mittel für denAusbau von Ganztagsangeboten und Kitas in das 6-Mil-liarden-Paket, das an die Länder geht, integriert haben.Der zweite Punkt ist aus meiner Sicht ganz klar dieTeilzeitfalle als solche. Da sind auch die Unternehmerimmer noch nicht an dem Punkt, an dem ich sie gernehätte. Da muss ein Umdenken stattfinden. Sicherlichwerden auch zu viele Frauen auf Minijobs verwiesen.Das ist aber ein Problem, bei dem wir uns auch in derKoalition nicht einig geworden sind, was wir konkret da-gegen unternehmen. Bei den anderen Punkten allerdingshaben wir eine Grundlage. Da werde ich auch Entspre-chendes in die Wege leiten.
Kurz und knapp.
Dann frage ich noch einmal nach, Frau Ministerin.
Ich habe ja ausdrücklich auf das Anreizsystem Ehegat-
tensplitting in Kombination mit Minijobs abgehoben,
also das, was die OECD massiv kritisiert. Teilen Sie
diese Kritik, und werden Sie dem, was dem zugrunde
liegt, entgegenwirken?
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und
Soziales:
Ich teile die Ansicht, dass es, insbesondere in
Deutschland, eine ungünstige Konstellation von ver-
schiedenen Faktoren gibt. Ich teile aber nicht unbedingt
die Priorisierung dieser beiden Punkte. Ich hab Ihnen ja
eben klar gesagt, dass ich immer noch die Betreuungs-
frage für den entscheidenden Punkt halte.
Zu den anderen Punkten – Sie haben mich ja danach
gefragt, was ich unternehmen werde –, nämlich bei der
Rückkehr von Teilzeit in Vollzeit und auch beim Ausbau
von Betreuung, haben wir im Koalitionsvertrag konkrete
Verabredungen, die die Situation für Frauen am deut-
schen Arbeitsmarkt verbessern. Bei dem Punkt Ehegat-
tensplitting in Verbindung mit Minijobs haben wir sol-
che Verabredungen nicht. Deswegen wird es in dieser
Legislaturperiode schwierig sein, diesen Punkt anzupa-
cken.
Die nächste Frage stellt der Kollege Dr. Rosemann.
Frau Ministerin, Sie haben ja mehrfach die Bedeutung
der Zuwanderung für die Fachkräftesicherung in
Deutschland angesprochen. Ich würde daher zum einen
gerne wissen, wie Sie im Rückblick die Zunahme der
Zuwanderung in den letzten Jahren im Hinblick auf die
Fachkräftesicherung bewerten, und vor allem, aus wel-
chen Ländern die qualifizierten Fachkräfte zu uns ge-
kommen sind, und zum anderen, wie Sie im Blick nach
vorne die Bedeutung von Zuwanderung und auch das
vorhandene Potenzial durch bereits in Deutschland le-
bende Migranten im Hinblick darauf einschätzen, dass
es laut einer Studie des IAB eine Fachkräftelücke vor al-
lem im Bereich der Lehrberufe geben wird?
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und
Soziales:
Deutschland konnte im Jahr 2012 den höchsten Wan-
derungsüberschuss seit 1995 verzeichnen. Das ist gut.
Das entspannt die Lage beim Thema Fachkräfte. Das ist
erst einmal der Befund. Ich kann – auch schon zu Beginn
dieses Jahres – erkennen: Dieser Trend hält weiter an.
Ich will hinzufügen, welches die Länder sind, aus de-
nen vor allem die Zuwanderer in 2012 – die Daten liegen
uns jetzt vor – kamen. Die Hälfte des Wanderungssaldos
von 369 000 entfällt auf die acht in 2004 der EU beige-
tretenen Staaten, insbesondere Polen und Ungarn, sowie
die in 2007 beigetretenen Staaten Bulgarien und Rumä-
nien. Ich möchte ausdrücklich sagen: Es handelt sich in
der Mehrzahl um qualifizierte Zuwanderung. Daneben
hat in den letzten Jahren die Zuwanderung aus den von
der Wirtschaftskrise betroffenen Ländern entsprechend
zugenommen, wie zum Beispiel Griechenland, Italien,
Portugal und Spanien.
Ich will hinzufügen, dass wir uns über diese Zuwan-
derung insgesamt nur freuen können. Wir brauchen sie
auch für die Zukunft. Wir müssen schauen, dass die Inte-
gration gelingt und dass allen hier in Deutschland be-
wusst wird, wie stark wir darauf angewiesen sind. Natür-
lich muss man auch schauen, dass kein Missbrauch
passiert an einigen Stellen; diese Debatte haben wir ja
auch. Wir brauchen vor allem, damit Zuwanderung ins-
gesamt weiter akzeptiert wird, gute Lösungen. Ich jeden-
falls möchte Ihnen sagen: Wenn wir nicht dieses hohe
Niveau an Zuwanderung halten, würde es angesichts un-
serer demografischen Entwicklung sehr schwierig wer-
den.
Die nächste Nachfrage stellt die Kollegin Krellmann.
Sehr geehrte Frau Ministerin, die Klage vieler Arbeit-geber über den Fachkräftemangel drückt sich nicht auto-matisch, dem Prinzip „Angebot und Nachfrage“ entspre-chend, darin aus, dass man auch bereit wäre, höhereLöhne zu zahlen. Würden Sie mir recht geben, dass sich
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014 1455
Jutta Krellmann
(C)
(B)
sachgrundlose Befristung, Leiharbeit und Werkverträgein diesem Zusammenhang als Lohnbremsen herausstel-len?Herr Kurth, ich kenne niemanden in der Metall- undElektroindustrie in Niedersachsen, der in der Produktionist und dort noch bis 63 arbeitet.
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit undSoziales:Also, ich bin wirklich dafür, dass wir nicht alle The-men, die wir für wichtig erklären und wo wir Hand-lungsbedarf sehen, jetzt – Entschuldigung! – vermud-deln mit dem Thema Fachkräftesicherung. Das wäremein Kommentar zu Ihrer Frage.
Die Kollegin Lezius stellt die nächste Frage.
Sehr geehrte Frau Ministerin, ich komme aus einem
kleinen mittelständischen Unternehmen. Sie haben
schon angesprochen, dass diese Unternehmen eben nicht
genügend Ressourcen haben, um sich entsprechend um
die Gewinnung von Fachkräften zu kümmern. Meine
Frage wäre: Welche Hilfestellungen gibt die Bundesre-
gierung diesen Unternehmen, um Fachkräfte zu gewin-
nen und auch zu sichern, und welche Maßnahmen sind
von Ihrer Seite her geplant?
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und
Soziales:
Ich habe mir einmal aufgeschrieben, was wir alles
machen – das ist eine ganze Menge –: Da gibt es die Ini-
tiative Neue Qualität der Arbeit, das Kompetenzzentrum
Fachkräftesicherung, die Qualifizierungsberatung durch
den Arbeitgeber-Service der BA – der in diesem Bereich
übrigens sehr viel mehr macht als noch vor einigen Jah-
ren –, das ESF-Modellprogramm „unternehmensWert:
Mensch“ und das Programm „Erfolgsfaktor Familie“ mit
dem entsprechenden Netzwerkbüro. Was ich hier aufge-
zählt habe, liegt keinesfalls nur in der Zuständigkeit des
BMAS, sondern geht quer durch alle Ressorts.
Der DIHK hat in Hamburg ein Welcome-Center er-
öffnet, demnächst wird eines in Berlin folgen. Er geht
aktiv vor und bietet auch Beratung an. Nicht nur vonsei-
ten der Politik, sondern auch von den Unternehmen sel-
ber geht ein Impuls aus. Vieles ist da in Bewegung ge-
kommen. Wir haben mittlerweile eine sehr gute,
vielfältige Förderlandschaft.
– Was ich gerade aufgezählt habe, sind flächendeckende
Angebote. Ich komme selber aus dem ländlichen Raum.
Die letzte Nachfrage zu diesem Bericht stellt der Kol-
lege Gehring.
Vielen Dank. – Frau Ministerin, als ich Sie vorhin
nach dem Verhältnis von beruflicher und akademischer
Bildung gefragt habe, haben Sie im Kern geantwortet,
das Image des dualen Systems müsse verbessert werden.
Das fand ich ein bisschen unterkomplex. Könnten Sie
vielleicht noch einmal sagen, welche konkreten Maß-
nahmen zur Steigerung der Attraktivität der beruflichen
Bildung Sie vorsehen, aber auch im Bereich des Stu-
diums? Ist heute im Kabinett auch über die Zukunft des
Hochschulpaktes von Bund und Ländern geredet wor-
den? Laut den Zahlen des Statistischen Bundesamtes
sind an den Hochschulen 33 000 Studienanfänger mehr
gestartet als im laufenden Hochschulpakt verabredet.
Das heißt, bundesseitig ist dieser Pakt mit 430 Millionen
Euro unterfinanziert. Das ist etwas, was zwischen Bund
und Ländern austariert werden muss. Die Zukunft, die
Schaffung von Studienplätzen, war das ein Thema, auch
im Rahmen des Beschlusses der Eckwerte für den Haus-
halt?
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und
Soziales:
Um zunächst zu Ihrer letzten Frage zu kommen: Nein,
das war heute nicht Thema; es wird aber sicherlich Ge-
genstand der Erörterungen in den nächsten Wochen sein.
Darüber hinaus weiten wir die Veranstaltungen und
Maßnahmen zur Berufsorientierung in den Schulen, die
insbesondere das Ziel hat, noch einmal deutlich zu ma-
chen, wo die Chancen und Potenziale einer dualen Aus-
bildung liegen, sehr stark aus. Wir haben wesentlich flä-
chendeckender als noch vor wenigen Jahren, als das
einzelne Modellprojekte waren – zum Beispiel ESF-Pro-
gramme –, versucht, diese Berufsorientierungsmaßnah-
men über Mittel der BA, aber auch über Mittel, die die
Bildungsministerin vorhält, auszuweiten.
Das ist ein Schlüssel, um in der Phase, in der sich
junge Leute noch nicht festgelegt haben und sich orien-
tieren, deren Interesse zu wecken. An dieser Stelle set-
zen wir an, um die Attraktivität der dualen Ausbildung
zu stärken und den Weg dahin aufzuzeigen.
Ich werde Ihnen aber gerne noch einmal schriftlich
alle möglichen Maßnahmen, die wir in diesem Bereich
auf den Weg gebracht haben und noch zusätzlich anpa-
cken, zukommen lassen, die dann auch nicht der Ein-Mi-
nuten-Grenze zum Opfer fallen müssen, damit ich mir
nicht Unterkomplexheit – das ist ein schöner Begriff –
vorhalten lassen muss, wenn wir uns das nächste Mal
wiedersehen.
So geht die Befragung versöhnlich und mit einer Ver-abredung zu Ende.
Metadaten/Kopzeile:
1456 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014
Vizepräsidentin Petra Pau
(C)
(B)
Mir liegen keine weiteren Wortmeldungen vor – auchnicht zu anderen Themen der heutigen Kabinettssitzung.Ich beende die Regierungsbefragung und danke derFrau Ministerin.Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit undSoziales:Danke.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
Drucksache 18/728
Ein Hinweis sei mir gestattet: Die Fragen 15, 16, 17
und 18 der Kolleginnen und Kollegen Kathrin Vogler,
Birgit Wöllert und Harald Weinberg wurden nachträg-
lich durch die Bundesregierung dem Geschäftsbereich
des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie zu-
geordnet und werden nach Frage 34 aufgerufen.
Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Zur Be-
antwortung der Fragen steht die Parlamentarische Staats-
sekretärin Dr. Maria Flachsbarth zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 1 der Kollegin Karin Binder auf:
Bedeutet die gegenseitige Anerkennung von geltenden
Verbraucherschutzstandards, die derzeit Maßstab für den Ab-
bau von nichttarifären Handelshemmnissen bei den TTIP-Ver-
handlungen sind, dass die US-Unternehmen zum Beispiel ihre
mit Chlor behandelten Hühnchen zukünftig ohne Einschrän-
kung in Europa verkaufen dürfen?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
D
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Kollegin
Binder, ich beantworte Ihre Frage wie folgt: Die pau-
schale gegenseitige Anerkennung von Verbraucher-
schutzstandards ist keinesfalls Maßstab für den Abbau
von nichttarifären Handelshemmnissen bei den TTIP-
Verhandlungen. Vielmehr kommt eine solche Anerken-
nung nur im Einzelfall und nur nach gründlicher Prüfung
der Gleichwertigkeit der Standards infrage. Hierfür kann
die TTIP durch eine bessere Information über den Inhalt
der jeweiligen Regelungen beider Seiten die Vorausset-
zung schaffen.
Hinsichtlich der Oberflächenbehandlung von Fleisch
mit desinfizierenden Mitteln hat das BML stets die Posi-
tion vertreten, dass die Hygienestandards bei der Flei-
scherzeugung in jedem Produktionsschritt gewahrt
werden müssen. Keinesfalls dürfen chemische Oberflä-
chenbehandlungen dazu dienen, anderweitige Hygiene-
mängel zu kaschieren. Im Übrigen gilt, dass Stoffe nur
dann zugelassen werden, wenn sie in vollem Umfang ge-
sundheitlich und auch unter Umweltschutzgesichtspunk-
ten unbedenklich sind. Daran wird sich auch durch die
TTIP nichts ändern.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Vielen Dank. – Frau Staatssekretärin, wie kann die
Anwendung oder die Nichtanwendung von Chlor zur
Nachbehandlung und Keimabtötung bei Geflügel aner-
kannt oder harmonisiert werden? Es gibt hier ein Entwe-
der-oder. Wo treffen Sie sich da tatsächlich mit den Ver-
handlungspartnern der USA?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
D
Frau Kollegin Binder, wir werden uns da überhaupt
nicht treffen. Die Anwendung von Chlor zur Oberflä-
chenbehandlung von Schlachtkörpern ist bei uns nicht
erlaubt, und von daher wird auch der Import von solchen
Produkten nicht erlaubt sein.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Vielen Dank. – Ich muss jetzt trotzdem noch einmal
nachfragen: Führt das Prinzip der gegenseitigen Aner-
kennung von Standards nicht zwangsläufig zu einer Ab-
senkung des Schutzniveaus und der Verbraucherschutz-
standards auf beiden Seiten des Atlantiks? Ich kann mir
ganz schlecht vorstellen, dass sich die bestmöglichen
und höchsten Standards in beiden Fällen tatsächlich
durchsetzen können.
D
Frau Kollegin, es geht bei diesen Verhandlungen nicht
um die Anerkennung einzelner Standards oder gar einer
pauschalen Genehmigung von Standards oder Verfah-
renstechniken. Vielmehr ist ja Gegenstand der Gesprä-
che, zu versuchen, Verfahren zu vereinbaren, wie beide
Seiten besser über die Regelungsvorhaben der anderen
Seite informiert werden können und wie man dann mög-
licherweise eine gemeinsame Ebene finden kann. Das ist
letztendlich Sinn und Zweck.
Zu einer Nachfrage hat der Kollege Lenkert das Wort.
Frau Staatssekretärin, Sie sagten eben, dass die Stan-dards nicht abgesenkt werden. Ich fragte die Bundesre-gierung im Herbst letzten Jahres, ob es irgendwelcheSektoren und Bereiche, unter anderem eben auch im Le-bensmittelbereich, gibt, in denen keine Schiedsgerichts-verfahren möglich sind, also Investor-Staat-Schiedsge-richtsverfahren.Wenn Sie jetzt die europäischen Standards hochhaltenund gleichzeitig in allen Sektoren Schiedsgerichtsver-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014 1457
Ralph Lenkert
(C)
(B)
fahren zulassen, dann könnte ja ein amerikanischer In-vestor wegen Nichtzulassung seiner Behandlungsmetho-den, zum Beispiel für Geflügel, auf Schadenersatzklagen, so wie das Vattenfall bei uns macht. Ich fragenSie: Können Sie sicher ausschließen, dass es nicht zusolchen Klagen kommen wird und über diesen Umwegdie europäischen Standards ausgehebelt werden?Ich wiederhole: Die Antwort der Bundesregierung aufeine entsprechende Frage von mir war, dass bei denSchiedsgerichtsverfahren kein Sektor ausgenommen ist.Vielen Dank.D
Herr Kollege Lenkert, dazu, zu welchen Klagen es in
der Zukunft von wem auch immer kommen möge, kann
ich mich jetzt selbstverständlich nicht äußern, weil ich
genauso wenig wie Sie in die Zukunft sehen kann. Was
ich sagen kann, ist, dass die Verhandlungen längst noch
nicht zu einem Abschluss gekommen sind und wir auch
über besonders sensible Produkte verhandeln. Diese be-
sonders sensiblen Produkte umfassen unter anderem Le-
bensmittel und Produkte aus dem Agrarbereich. Was ich
Ihnen noch versichern kann, ist, dass unsere Standards
nicht abgesenkt werden.
Wir kommen damit zur Frage 2 der Kollegin Binder:
Welche Unterschiede zwischen der EU und den USA be-
stehen nach Kenntnis der Bundesregierung bezüglich des Vor-
sorgeprinzips bei Verbraucherschutz- und Umweltstandards,
der Kennzeichnung und der Zulassung von Produkten, Le-
bensmitteln und Chemikalien?
Sie haben das Wort, Frau Staatssekretärin.
D
Die Unterschiede zwischen den Regelungen der EU
und der USA in den Bereichen Verbraucherschutz- und
Umweltstandards hinsichtlich der Kennzeichnung und
Zulassung von Produkten, Lebensmitteln und Chemika-
lien sind vielfältig und lassen sich deshalb nicht in einer
kurzen Antwort zusammenfassen. Darüber hinaus sind
beim Vergleich der Regelungen auch noch das regulato-
rische Umfeld, die Umsetzung und die praktischen Aus-
wirkungen zu berücksichtigen. Dadurch verbietet sich
eine pauschale Gegenüberstellung. Ein sinnvoller Ver-
gleich kann daher nur im Einzelfall und unter Berück-
sichtigung aller Umstände erfolgen.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Es geht mir in diesem Fall tatsächlich um die Frage
des Vorsorgeprinzips. Müssen wir damit rechnen, dass
künftig das Vorsorgeprinzip außer Kraft gesetzt wird,
das für uns im gesamten Verbraucherschutz und in der
Produktsicherheit eine wesentliche Rolle spielt?
D
Frau Kollegin Binder, aus Sicht der Bundesregierung
müssen wir selbstverständlich nicht darauf verzichten.
Wir können es auch geradezu nicht, weil ja das Vorsor-
geprinzip die gesetzlichen Regeln auf nationaler, aber
auch auf EU-Ebene durchzieht und eben der starke Un-
terbau ist, auf dem unsere gesetzlichen Regulierungen
stehen. Diesen werden wir nicht aufgeben.
Sie haben die Möglichkeit zu einer zweiten Nach-
frage.
Diese nutze ich gern. – Mir geht es zum Beispiel um
neuartige Lebensmittel. Wird es künftig erforderlich
sein, dass die nationale oder auch die europäische Zulas-
sungsbehörde wissenschaftlich nachweist, dass die Pro-
dukte schädlich sind, um die Nichtzulassung zu begrün-
den, oder reicht auch künftig ein Verdacht bzw.
gesundheitliche Bedenken aus, um ein neues Produkt ab-
zulehnen?
D
Frau Kollegin Binder, es ist schon heute so, dass die
EFSA als europäische Kontrollbehörde umfangreiche
wissenschaftliche Untersuchungen vor der Neuzulas-
sung von neuartigen Lebensmitteln, unter anderem auch
im Bereich der gentechnisch veränderten Futter- oder
Lebensmittel, durchführen muss.
Dann kommen wir zur Frage 3 der Kollegin
Dr. Kirsten Tackmann:
Wenn die Bundesregierung die EU-Lebensmittelstandards
insbesondere hinsichtlich des Prinzips des vorbeugenden Ver-
braucherschutzes als im TTIP nicht verhandelbar ansieht, in-
wieweit setzt sie sich dann im Rat dafür ein, das Agrarkapitel
aus dem Verhandlungsmandat auszuschließen?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
D
Frau Kollegin Tackmann, die Bundesregierung setzt
sich für ein umfassendes Abkommen unter Einschluss
des Agrarsektors ein. Dies ergibt sich schon aus WTO-
rechtlichen Vorgaben und ist darüber hinaus auch im In-
teresse der deutschen Agrar- und Ernährungswirtschaft,
für die freier Handel neue Exportchancen sowie Zugang
zu benötigten Rohstoffen eröffnet. Die Wahrung der eu-
ropäischen Lebensmittelstandards steht dazu nicht im
Widerspruch. Auch die USA haben in gleicher Weise ein
Interesse an freiem Handel bei Wahrung ihrer eigenen
Lebensmittelstandards.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Metadaten/Kopzeile:
1458 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014
(C)
(B)
Vielen Dank. – Frau Staatssekretärin, wir haben diese
Frage auch mit dem EU-Kommissar erörtert, und er sagte,
dass, wenn es in Deutschland bezüglich der Sicherung des
Vorsorgeprinzips und anderer Prinzipien der Lebensmit-
telsicherheit Bedenken gibt, der Agrarbereich sehr wohl
aus dem Verhandlungsmandat herausgenommen werden
kann. Es gibt – das haben Sie vielleicht heute im Aus-
schuss bemerkt – auch überfraktionell Bedenken gegen
die Art und Weise, wie die Verhandlungen jetzt laufen,
und ziemliche Übereinstimmung bezüglich der Gefahren,
die wir darin sehen. Deswegen ist meine Frage: Wären Sie
bereit, eine entsprechende Beschlussfassung des Agrar-
ausschusses zur Kenntnis zu nehmen und sich gegebenen-
falls, wenn sich die Risiken bewahrheiten, dafür einzuset-
zen, das vom Mandat auszunehmen?
D
Frau Kollegin Tackmann, selbstverständlich wird die
Bundesregierung mit großem Interesse jedwede Beschluss-
fassung eines Ausschusses zur Kenntnis nehmen und in
ihre politische Meinungsbildung mit einbeziehen. Dennoch
ist es aus der Sicht meines Hauses aufgrund von WTO-Be-
stimmungen ausgeschlossen, einen gesamten Bereich wie
zum Beispiel den Agrarsektor aus diesem Verfahren bzw.
aus den Verhandlungen zum TTIP auszunehmen.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Vielen Dank. – Ein Problem ist, dass wir im Moment
mit Vermutungen arbeiten. Sie vermuten, dass alles gut
wird. Wir vermuten, dass das nicht der Fall sein wird.
Deswegen frage ich Sie, ob es die Bereitschaft der Bun-
desregierung gibt, dafür zu sorgen, dass eine öffentliche
Konsultation zum Fortgang der Verhandlungen insbe-
sondere im Lebensmittelbereich bzw. im Agrarbereich
eingeleitet wird.
D
Frau Kollegin Tackmann, die Bundesregierung hat
dem Deutschen Bundestag längst umfangreiche Unterla-
gen zur Verfügung gestellt, damit der Deutsche Bundes-
tag über den Stand der Verhandlungen auf dem Laufen-
den gehalten wird.
Das müssen Sie an anderer Stelle miteinander weiter
debattieren.
Wir kommen zur Frage 4 der Kollegin Tackmann:
Welche konkreten Verhandlungsangebote sind im EU-
Verhandlungsmandat im Agrar- und Lebensmittelkapitel ent-
halten, und welche positiven oder negativen Auswirkungen
erwartet die Bundesregierung für die EU-Agrar- und -Lebens-
mittelwirtschaft aus den Verhandlungen?
D
Frau Kollegin, nach dem Verhandlungsmandat strebt
die EU danach, sämtliche Zölle im bilateralen Handel
schrittweise zu beseitigen, wobei für die sensibelsten
Produkte Ausnahmen vorgesehen werden können. Dies
gilt für alle Produkte einschließlich der Agrargüter und
Lebensmittel. Der Text des Verhandlungsmandats ist
– ich sagte es bereits – den Mitgliedern des Deutschen
Bundestags zur Verfügung gestellt worden.
Bezüglich der positiven bzw. negativen Auswirkun-
gen lässt sich sagen, dass hierzu Berechnungen des Thü-
nen-Institutes aus dem Jahr 2012 vorliegen, basierend
auf dem allgemeinen Gleichgewichtsmodell GTAP, mit
dem eine vollständige Liberalisierung des Handels, das
heißt der Abbau aller Zölle, zwischen der EU und den
USA modelliert wurde. Auf dieser Basis werden für die
Land- und Ernährungswirtschaft in der EU-27 aufgrund
geringer Produktionswertänderungen im Modellfehler-
bereich für primäre Agrarprodukte und für verarbeitete
Nahrungsmittel – einmal minus 0,9 Prozent und einmal
plus 0,3 Prozent – keine nennenswerten wirtschaftlichen
Auswirkungen erwartet.
Die Produktionsmengen für ausgewählte Pro-
duktgruppen primärer Agrarprodukte ändern sich bei der
Simulation des vTI für die EU-27 wie folgt: Weizen mi-
nus 1,5 Prozent, andere Getreide minus 0,1 Prozent, Öl-
saaten plus 0,6 Prozent, Zuckerrüben, Zucker, Obst und
Gemüse sowie pflanzliche Fette 0 Prozent, andere Feld-
früchte minus 0,6 Prozent, Rindfleisch minus 0,2 Pro-
zent, andere tierische Produkte wie Schweine und Ge-
flügel minus 0,2 Prozent, Milch plus 0,2 Prozent,
Milchprodukte plus 0,4 Prozent und weitere verarbeitete
Nahrungsmittel minus 0,2 Prozent.
Ihre erste Nachfrage, bitte.
Nun unterscheidet sich das Rechtsprinzip der USA
von dem der EU an zwei entscheidenden Stellen: auf der
einen Seite beim Vorsorgeprinzip und auf der anderen
Seite bei der Haftungsregelung. Deswegen lautet meine
Frage: Wie wollen Sie verhindern, dass es, wenn hier be-
stimmte Standards gehalten werden, Schadensersatzkla-
gen von den Konzernen gibt, die aus einem anderen
Rechtssystem kommen?
D
Frau Kollegin Tackmann, die Verhandlungen sind tat-sächlich noch nicht an ihr Ende gekommen. Wir befin-den uns sozusagen mittendrin. Wir werden die Verhand-lungen auch hier im Deutschen Bundestag nicht imDetail führen können.Ihnen als Kolleginnen und Kollegen des DeutschenBundestages ist ja der Text des Verhandlungsmandateszur Verfügung gestellt worden. Auf dieser Grundlagewerden wir weiter miteinander diskutieren können. DieBundesregierung hat ein Interesse daran, dass das Ver-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014 1459
Parl. Staatssekretärin Dr. Maria Flachsbarth
(C)
(B)
fahren transparent ist und dass selbstverständlich auchdas Parlament immer wieder über den Stand der Ver-handlungen in Kenntnis gesetzt wird.
Sie haben das Wort zu einer zweiten Nachfrage.
Nun bedeutet Verhandlungsmandat ja, dass man ein
Angebot machen muss. Deswegen lautet meine konkrete
Nachfrage: Wie sieht zu gentechnisch veränderten Pflan-
zen und möglicherweise gentechnisch veränderten Tie-
ren das Angebot der EU aus? An irgendeiner Stelle müs-
sen Sie ja auch Ihre Standards in den Verhandlungen zur
Disposition stellen. Sie können nicht einfach sagen: Wir
machen all das so weiter, wie es die EU bisher gehand-
habt hat, während sich die Amerikaner ändern müssen. –
Beide Seiten müssen doch aufeinander zugehen. Also
konkret: Welches Verhandlungsangebot würden Sie bei
der Agrogentechnik machen?
D
Frau Kollegin Tackmann, weder die Bundesregierung
noch die EU-Kommission werden für das Inverkehr-
bringen auf dem europäischen Markt von den Standards
bezüglich Anbau und Zulassung von gentechnisch ver-
änderten Organismen abweichen. Wir werden diese
Standards halten. Aber es ist eine andere Frage, wie man
miteinander sozusagen zu einem verbesserten Dialog
und zu einer verbesserten Zusammenarbeit zum Beispiel
im Bereich der sanitären und phytosanitären Vorsorge-
maßnahmen kommen kann. Neben dem Bereich Zölle
– diesen habe ich bereits angesprochen – gibt es viele
Bereiche, wo eine vertiefte Zusammenarbeit tatsächlich
möglich ist und wo nichttarifäre Handelshemmnisse ab-
gebaut werden können.
Zu einer weiteren Nachfrage hat die Kollegin Vogler
das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Staatssekretä-
rin, Sie haben gerade in Ihrer Antwort an die Kollegin
erwähnt, dass es die Möglichkeit geben soll, sensibelste
Güter zu definieren, welche dann von den Vereinbarun-
gen ausgeschlossen würden. Was sind nach Auffassung
der Bundesregierung Beispiele für solche sensibelsten
Güter, und nach welchen Kriterien legen die Bundes-
regierung bzw. die EU-Staaten gemeinsam fest, was sen-
sible Güter in diesem Sinne sind?
D
Frau Kollegin Vogler, ich kann Ihnen Beispiele nen-
nen. Das betrifft Tee, Milchprodukte und Fleisch. Über
eine allgemeine Definition sensibler Güter verfüge ich
im Moment leider nicht. Das kann ich Ihnen aber gerne
nachreichen.
Ich sehe, dass dieses Angebot angenommen wird.
Die Fragen 5 und 6 der Kollegin Höhn sollen schrift-
lich beantwortet werden.
Wir sind damit am Ende dieses Geschäftsbereichs.
Herzlichen Dank, Frau Staatssekretärin.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums der Verteidigung. Zur Beantwortung steht
der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
zur Verfügung.
Wir kommen zu Frage 7 der Kollegin Katja Keul:
Inwiefern wurde zum Zeitpunkt des Munitionsdiebstahls
in der Bundeswehrkaserne in Seedorf am 7. Februar 2014 zur
Sicherung der Liegenschaften der Kaserne privates Sicher-
heitspersonal eingesetzt, oder oblag die Sicherung der Anla-
gen allein Bundeswehrpersonal?
Bitte, Herr Staatssekretär.
D
Vielen Dank. – Frau Kollegin, ich antworte Ihnen wie
folgt: Die Kaserne Seedorf wurde im Jahr 2005 von den
niederländischen Streitkräften übernommen und Ende
2006 durch Truppen der Luftlandebrigade 31 bezogen.
Seit dem 2. Januar 2007 wird die Kaserne durch Solda-
tinnen und Soldaten der Luftlandebrigade 31 militärisch
bewacht. Die Bewachung der Fallschirmjägerkaserne
Seedorf unterlag auch am 7. Februar 2014 ausschließlich
militärischem Personal.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Dieser Diebstahl
ist ja relativ spektakulär. Es wurden nach Ihren Auskünf-
ten insgesamt 32 981 Patronen Handwaffenmunition
verschiedener Kaliber gestohlen. Ein Munitionsdiebstahl
in vergleichbarer Größenordnung kam bisher in der Bun-
deswehr nicht vor. Gibt es seit der Beantwortung vom
5. März neue Erkenntnisse?
Sie wollten außerdem prüfen, ob sich die Sicherheit
der Munitionslager erhöhen lässt. Gibt es irgendwelche
Erkenntnisse aus diesem Prüfungsauftrag?
D
Frau Kollegin, die Ermittlungen dauern an. Ich kann
Ihnen in Aktualisierung der von Ihnen genannten Zahlen
mitteilen, dass nach bisherigen Erkenntnissen insgesamt
34 881 Patronen Handwaffenmunition verschiedener
Kaliber aus zehn Munitionsbehältern innerhalb der Ka-
serne gestohlen wurden.
Sie haben das Wort zu einer zweiten Nachfrage.
Metadaten/Kopzeile:
1460 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014
(C)
(B)
Da Sie nun beruhigenderweise mitgeteilt haben, dass
es sich nicht um private Sicherheitskräfte handelt, frage
ich mich dennoch: Wie konnte es sein, dass bei militäri-
scher Bewachung morgens um 7 Uhr der Verlust einer
Menge festgestellt wurde, die immerhin den Abtransport
mindestens durch Lkws – es geht um Tonnen von Muni-
tion – erforderlich gemacht hätte? Gibt es dafür irgend-
eine Erklärung?
D
Frau Kollegin, ich kann nur wiederholen, dass dies
Gegenstand laufender Ermittlungen ist. Uns ist gestern
der folgende Vorfall gemeldet worden: Zwei Soldaten
hatten am 7. Februar zwischen 2 Uhr und 6 Uhr ihren
befohlenen Streifenweg verlassen und ihren Streifenauf-
trag nicht weisungsgemäß wahrgenommen.
Damit kommen wir zur Frage 8 der Kollegin Inge
Höger:
Welche Informationen liegen der Bundesregierung über
den „besonderen Auftrag“ und das „besondere Waffensystem“
des Flottendienstbootes „Alster“ vor, den bzw. das das Boot
nach Aussagen des stellvertretenden Kommandeurs Frederic
Mittelmeer aufgebrochen ist?
D
Frau Kollegin, ich antworte Ihnen wie folgt: Mit den
Aussagen „besonderer Auftrag“ und „besonderes Waf-
fensystem“ wollte der stellvertretende Kommandeur den
generell gegenüber anderen Schiffen der Marine einzig-
artigen Auftrag und somit die Charakteristik dieses Flot-
tendienstbootes hervorheben. Es handelt sich um eine
nationale Aufklärungsfahrt ins Mittelmeer, die der übli-
chen Routine entspricht, die in der vergangenen Legisla-
turperiode ausführlich im Verteidigungsausschuss erör-
tert wurde.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Vielen Dank. – Es ist aber so gewesen, dass der Flot-
tendienstbootkommandeur beim Auslaufen des Schiffes
wirklich damit geprahlt hat, dass er einen besonderen
Auftrag habe und sich auch ein besonderes Waffensys-
tem an Bord befinde. Von daher befriedigt mich Ihre
Frage nicht vollständig. Fährt dieses Schiff ins Mittel-
meer? Fährt es weiter ins Schwarze Meer? Wir haben da
im Moment eine ziemliche Konfliktsituation. Wenn vor
diesem Hintergrund ein Spionageboot ausläuft, müssen
Sie schon ein bisschen mehr dazu sagen.
D
Frau Kollegin, ich habe Ihnen keine Frage gestellt,
sondern eine Antwort gegeben. Von daher konnte Sie
meine Frage natürlich nicht befriedigen, weil ich Ihnen
gar keine gestellt habe.
Zur Sache will ich auf Folgendes hinweisen: Diese
Äußerung ist anlässlich einer Verabschiedung von Sol-
datinnen und Soldaten für einen monatelangen Einsatz
erfolgt, und zwar nicht nur vor den Soldatinnen und Sol-
daten, sondern auch vor deren Angehörigen. Dass da
auch deutlich gemacht wird, dass dies ein sinnvoller und
wichtiger Einsatz ist, halte ich für verständlich.
Ich kann Ihnen ansonsten sagen: Die Entwicklungen
in Nordafrika und im Nahen und Mittleren Osten sind
aufgrund ihrer Nähe zu Europa und ihren möglichen
Auswirkungen auch auf die Bundesrepublik Deutsch-
land weiter von hoher Bedeutung. Die Flottendienst-
boote tragen mit ihren Aufklärungsergebnissen wie in
den vergangenen Jahren zu einem unabhängigen natio-
nalen Gesamtlagebild bei. Es geht darum, dass die „Als-
ter“ in entsprechende internationale Gewässer ins Mittel-
meer fährt. Das ist ihr Auftrag.
Sie haben das Wort zu einer zweiten Nachfrage.
Dieses Flottendienstboot sammelt ja in großem Aus-
maß Daten. Sie haben gesagt, es gehe darum, ein Lage-
bild zu schaffen. Das heißt also, es werden Daten gesam-
melt. An wen werden diese Daten übermittelt?
D
Frau Kollegin, ich habe bereits gesagt, dass es um ei-
nen nationalen Auftrag geht. Es ist eine nationale Auf-
klärungsfahrt ins Mittelmeer. Das heißt, wir sammeln
Daten, die für uns aus unserer Sicht wichtig sind, in in-
ternationalen Gewässern, außerhalb der Hoheitsgewäs-
ser von Anrainerstaaten.
Damit kommen wir zur Frage 9 der Kollegin Höger:
Welche Informationen hat die Bundesregierung bezüglich
eines Luftangriffs der Internationalen Sicherheitsunterstüt-
zungstruppe in Afghanistan, ISAF, bei dem nach Angaben der
afghanischen Regierung am 6. März 2014 in der Provinz
Logar fünf afghanische Soldaten im Verlauf eines US-Droh-
regierung infolge dieses Vorfalls und ähnlicher Vorfälle, die
Forderung nach einem Ende des Einsatzes von Kampfdrohnen
zu unterstützen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
D
Frau Kollegin, ich antworte Ihnen wie folgt: Verschie-denen Pressemitteilungen zufolge sind am 6. März 2014bei einem ISAF-Luftangriff im Regionalkommando Ostfünf afghanische Soldaten gefallen und zehn weitere ver-wundet worden. ISAF bestätigte den Vorfall und drückteihr Bedauern aus. Nach Kenntnis der Bundesregierungdauern die Untersuchungen zu diesem tragischen Vorfallnoch an.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014 1461
Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
(B)
Erste Pressemitteilungen, wonach dieser Beschussdurch ein unbemanntes US-amerikanisches Luftfahrzeugerfolgte, sind nicht zutreffend. Nach hier vorliegendenbisherigen Informationen fand in den frühen Morgen-stunden des 6. März 2014 eine Spezialkräfteoperationder afghanischen Armee mit Unterstützung durch US-amerikanische Kräfte und Hubschrauber in der ProvinzLogar statt. Dabei wurde eine Gruppe von bewaffnetenPersonen auf einem Bergrücken aufgeklärt. MehrereNachfragen der US-amerikanischen Hubschrauberbesat-zungen, ob sich eigene Kräfte auf dieser Position befin-den, wurden auch von der afghanischen Seite verneint.Daraufhin eröffnete der Pilot eines US-amerikanischenHubschraubers das Feuer gemäß den Einsatzvorschriftengegen die zu diesem Zeitpunkt vermeintlich regierungs-feindlichen Kräfte.Die afghanische Armee gab kurz darauf an, dass eineigener Posten bzw. eigene Kräfte durch den Hubschrau-ber beschossen wurden. Einer späteren Meldung zufolgesind dabei fünf afghanische Soldaten gefallen und zehnweitere verwundet worden. Nach gemeinsamem Ver-ständnis der afghanischen Armeeführung und von ISAFwurden die afghanischen Soldaten bedauerlicherweiseversehentlich beschossen.Den Gefallenen und Verwundeten sowie ihren Ange-hörigen gilt unser Mitgefühl.
Frau Höger, Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Sie können also wirklich ausschließen, dass es sich
um einen Drohnenangriff gehandelt hat? Die Medienbe-
richte lauten ja anders.
D
Ja.
Zweite Nachfrage.
Haben Sie einen Überblick darüber, wie viele Todes-
opfer es unter Zivilisten, afghanischen Soldaten und af-
ghanischen Polizisten bei Auseinandersetzungen in Af-
ghanistan in diesem Jahr gab?
D
Frau Kollegin, ich weiß jetzt nicht, ob sich Ihre Frage
auf sogenannte Drohnenangriffe bezieht. Ich beziehe sie
jetzt einmal darauf. Ich denke, Sie wissen, dass die Bun-
deswehr nicht über bewaffnete Drohnen verfügt. Inso-
fern hat eine unmittelbare Beteiligung der Bundeswehr
an deren Einsätzen im Rahmen von ISAF nicht stattge-
funden.
Wie bereits in der Unterrichtung des Parlaments über
die Auslandseinsätze der Bundeswehr 11/12 vom
14. März 2012 mitgeteilt, liegen den deutschen Stellen
unverändert keine Informationen über Anzahl oder Ziele
von Drohneneinsätzen anderer Nationen in Afghanistan
vor. Diese werden zentral für den gesamten ISAF-Ein-
satz durch das ISAF Joint Command gesteuert.
Wir bleiben beim Thema. Ich rufe die Frage 10 des
Kollegen Hans-Christian Ströbele auf:
Angesichts der Meldung über zahlreiche durch einen US-
Drohneneinsatz der ISAF-Streitkräfte in Afghanistan getötete
regierung oder ihr nachgeordnete Behörden für die Zeit seit
Anfang 2013 über Drohnen- und Kommandoeinsätze mit Ge-
töteten oder Verwundeten und über eine deutsche Beteiligung
daran, insbesondere im Norden des Landes, wo die Bundes-
die Operation ISAF mit vielen afghanischen Opfern im Jahr
des Abzuges der NATO aus Afghanistan fortgesetzt, obwohl
dadurch vor Ende dieses NATO-Einsatzes zusätzlich Gewalt
und Hass in der Bevölkerung geschürt werden und die Regie-
rung von Hamid Karzai immer wieder dagegen protestiert
hat?
Bitte, Herr Staatssekretär.
D
Herr Kollege Ströbele, ich antworte Ihnen zum glei-chen Sachverhalt wie folgt: Zu dem in der Fragestellungaufgeführten Luftschlag im Regionalkommando Ost mitfünf gefallenen und zehn verwundeten afghanischen Sol-daten sind erste Pressemeldungen, wonach der Beschussdurch ein unbemanntes US-amerikanisches Luftfahrzeugerfolgte, nicht zutreffend.Im Rahmen einer Spezialkräfteoperation der afghani-schen Armee mit Unterstützung durch US-amerikani-sche Kräfte und Hubschrauber in der Provinz Logar kames zu einem tragischen Zwischenfall, bei dem durch denEinsatz eines US-amerikanischen Hubschraubers fünfafghanische Soldaten fielen und zehn verwundet wur-den.Nach gemeinsamem Verständnis der afghanischenArmeeführung und von ISAF wurden die afghanischenSoldaten bedauerlicherweise versehentlich beschossen.Nach Kenntnis der Bundesregierung dauern die Untersu-chungen zu diesem tragischen Vorfall noch an.Den Gefallenen und Verwundeten sowie ihren Ange-hörigen gilt unser Mitgefühl.Auf die Frage nach Anzahl, Ort und Opferzahlen beisogenannten Drohnen- und Kommandoeinsätzen insbe-sondere im Norden Afghanistans nehme ich wie folgtStellung: Die Bundeswehr verfügt nicht über bewaffneteDrohnen. Insofern hat eine unmittelbare Beteiligung derBundeswehr an deren Einsätzen im Rahmen von ISAFnicht stattgefunden.Wie bereits in der Unterrichtung des Parlamentes überdie Auslandseinsätze der Bundeswehr 11/12 vom14. März 2012 mitgeteilt, liegen den deutschen Stellenunverändert keine Informationen über Anzahl oder Ziele
Metadaten/Kopzeile:
1462 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014
Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
(C)
(B)
von Drohneneinsätzen anderer Nationen in Afghanistanvor. Diese werden zentral für den gesamten ISAF-Ein-satz durch das ISAF Joint Command gesteuert.Zum Einsatz der Spezialkräfte der Bundeswehr wirdauf die regelmäßig durchgeführten Unterrichtungen derVorsitzenden und stellvertretenden Vorsitzenden sowieder Obleute des Verteidigungsausschusses und des Aus-wärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages ver-wiesen. Letztmals erfolgte diese am 14. Februar 2014.ISAF basiert auf den entsprechenden Resolutionendes Sicherheitsrates der Vereinten Nationen.Die Menschen in Afghanistan und die internationaleGemeinschaft in Afghanistan haben bereits viel Positi-ves erreicht. Wie aber auch der jüngste Fortschrittsbe-richt der Bundesregierung zu Afghanistan vom Januar2014 aufzeigt, stellen die landesweiten Bedrohungs-potenziale unverändert eine ernstzunehmende Heraus-forderung für die afghanischen Sicherheitskräfte dar.Es darf deshalb nicht verkannt werden, dass die ge-meinschaftlichen Anstrengungen bis zum Abschluss derÜbernahme der Sicherheitsverantwortung durch die af-ghanischen Sicherheitskräfte fortgesetzt werden müssen,um das bisher Erreichte zu verstetigen.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Herr Staatssekretär, ich bin über Ihre Antwort doch
sehr enttäuscht. Zuerst haben Sie nur das vorgelesen,
was Sie der Kollegin schon vorgelesen haben. Dann ha-
ben Sie allgemeine Ausführungen gemacht und auf Un-
terrichtungen an anderer Stelle hingewiesen. Ich habe
Sie doch klar gefragt, wie viele Drohnen- bzw. Kom-
mandoeinsätze mit wie vielen Toten und Verletzten es im
Verantwortungsbereich der Bundeswehr und nicht allge-
mein in Afghanistan im Jahr 2013 und in den ersten Mo-
naten des Jahres 2014 gab. Das war eine klare Frage. Wo
steht – ob Sie es schon woanders mitgeteilt haben, kann
ich ja nicht wissen –, dass Sie mir die Frage nicht beant-
worten wollen und dürfen?
D
Herr Kollege, ich will und darf Ihre Frage beantwor-
ten. Ich habe sie beantwortet. Ich bitte um Verständnis,
wenn Sie mit der Antwort nicht zufrieden sind. Ich bitte
auch um Verständnis dafür, dass, wenn zwei nahezu glei-
che Fragen gestellt werden, die Antworten naheliegen-
derweise ziemlich ähnlich sind.
Ich wiederhole gerne auch ein drittes Mal, dass den
deutschen Stellen unverändert keine Informationen da-
rüber vorliegen, wonach Sie im Zusammenhang mit
Drohneneinsätzen fragen. Und ich wiederhole noch ein-
mal, dass die Bundeswehr nicht über bewaffnete Droh-
nen verfügt und dementsprechend auch nicht an solchen
Einsätzen beteiligt ist.
Da Sie in Ihrer Frage auch angesprochen haben, dass
die afghanische Regierung immer wieder gegen das, was
dort geschieht, protestiert, füge ich noch einmal sehr
deutlich hinzu und weise Sie darauf hin, dass die Sicher-
heitsverantwortung für diese Einsätze in fünf Tranchen
an die afghanischen Streitkräfte übergegangen ist; die
letzte Tranche im letzten Sommer. Das heißt, Einsätze
wie diese, über die wir hier reden und nach denen Sie ge-
fragt haben, erfolgen inzwischen unter afghanischer
Führung und Verantwortung, nicht unter Protest der af-
ghanischen Regierung, sondern unter ihrer Führung und
Verantwortung. Lediglich im Osten und Süden des Lan-
des erfolgen sie aufgrund der besonderen Sicherheitslage
mit US-Unterstützung.
Sie haben das Wort zu einer zweiten Nachfrage.
Zu dem zweiten Teil meiner Frage haben Sie nur ganz
allgemeine Ausführungen gemacht. Ich frage Sie ganz
konkret, wieso bei einem Abzugsmandat nun weiterhin
gezielte Tötungen, sei es durch Kommandoeinheiten
oder durch Drohnen, stattfinden. Wie wird dies gerecht-
fertigt? Steht dahinter der Gedanke, noch möglichst
viele Taliban oder andere Aufständische zu töten, bevor
man abzieht? Oder warum wird das weiter so gehand-
habt wie bisher, trotz der Ankündigung, dass man abzie-
hen möchte?
D
Herr Kollege Ströbele, mein Amt verbietet mir, diese
Frage zu kommentieren. Dies verkneife ich mir jetzt mit
Mühe.
Ich sage Ihnen ausdrücklich: Das ISAF-Mandat ist
verlängert worden bis zum Ende dieses Jahres. Es ist
vollumfänglich gültig bis zum Ende dieses Jahres. Es ist
das gemeinsame Ziel derer, die dort entsprechend man-
datiert ihre Arbeit tun, zumindest eine ausreichend kon-
trollierbare Sicherheitslage in Afghanistan herzustellen.
Dies erfordert in ganz besonderen Situationen und in
ganz bestimmten Regionen auch diese Einsätze, die un-
ter afghanischer Verantwortung stattgefunden haben und
gegebenenfalls auch in Zukunft stattfinden.
Die Unterstellung, dass irgendwer, der dort mit ent-
sprechendem Mandat tätig ist, die verbleibende Zeit die-
ses Mandates nutzen will, um möglichst viele Menschen
zu töten, weise ich in aller Entschiedenheit zurück.
Zu einer Nachfrage hat die Kollegin Höger das Wort.
Im Koalitionsvertrag haben Sie niedergeschrieben,dass Sie extralegale, völkerrechtswidrige Tötungen mit
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014 1463
Inge Höger
(C)
(B)
bewaffneten Drohnen kategorisch ablehnen. Bedeutetdas auch, dass Sie den USA in Zukunft keine Informa-tionen mehr über Drohnenziele liefern werden?D
Frau Kollegin Höger, selbst der Kollege Ströbele hat
eingeräumt, dass es hier ein völkerrechtliches Mandat
gibt. Er hat in diesem Zusammenhang von einem „Ab-
zugsmandat“ gesprochen. Ich habe davon gesprochen,
dass das ISAF-Mandat fortgesetzt wird.
Es geht hier nicht um extralegale Tötungen, sondern
um einen Einsatz, der unter afghanischer Führung und
Verantwortung aus gegebenem Anlass zu diesem Zeit-
punkt in dieser Region stattgefunden hat. Dies ist eine
Region mit einer – zumindest umgangssprachlich ge-
sprochen – sehr schwierigen Sicherheitslage. Es sind
dort entsprechende Kräfte aufgeklärt worden, bei denen
man zum Zeitpunkt dieses Einsatzes davon ausging, dass
es regierungsfeindliche Kräfte sind. Das heißt nicht, dass
es sich hier um eine extralegale Tötung handelt.
Insofern geht Ihre Frage von falschen Voraussetzungen
aus.
Zu einer weiteren Nachfrage hat die Kollegin Keul
das Wort.
Vielen Dank. – Herr Staatssekretär, ich war jetzt doch
etwas überrascht: Bei der Beantwortung der Frage des
Kollegen Ströbele haben Sie gesagt: Die Drohnen-
angriffe – darum ging es ja in der Frage – finden aus-
schließlich unter Kommando und in Verantwortung der
Afghanen statt. Jetzt habe ich, wenn ich bedenke, wie
die Abläufe bei Drohnenangriffen sind, doch etwas
Schwierigkeiten, mir vorzustellen, dass die Amerikaner
den afghanischen Streitkräften ihre Drohnen überlassen,
zumal der Einsatz von Drohnen zu Angriffszwecken
zentral und, wie wir wissen, teilweise aus Washington
von höchster Stelle abgesegnet wird. Können Sie mir er-
klären, wie die afghanischen Sicherheitskräfte die volle
Verantwortung und das Kommando über amerikanische
Drohneneinsätze haben sollen?
D
Frau Kollegin, ich wiederhole noch einmal, dass der
Prozess der Übernahme der Sicherheitsverantwortung
durch die afghanischen Sicherheitskräfte seit Mitte 2010
in fünf Phasen erfolgte und dass im Rahmen der letzten
Übernahmephase, der fünften Tranche, im Sommer 2013
insbesondere Räume in den traditionellen Hochburgen
der regierungsfeindlichen Kräfte im Osten und Süden
des Landes berücksichtigt wurden.
Ich bin davon ausgegangen, dass bekannt ist, dass das
Ziel des ISAF-Mandates darin besteht, dass es zu einer
Übertragung der entsprechenden Verantwortung auf die
afghanischen Sicherheitskräfte kommt. Das bezieht sich
nicht nur, aber auch auf Einsätze wie diejenigen, über
die wir hier sprechen.
Die Fragen 11 und 12 der Kollegin Buchholz sollen
schriftlich beantwortet werden.
Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereich des
Bundesministeriums der Verteidigung. Danke, Herr
Staatssekretär.
Die Fragen 13 und 14 der Kollegin Möhring zum Ge-
schäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Se-
nioren, Frauen und Jugend werden schriftlich beantwor-
tet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Gesundheit. Zur Beantwortung der Fra-
gen steht die Parlamentarische Staatssekretärin Annette
Widmann-Mauz zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 19 der Kollegin Maria Klein-
Schmeink auf:
Wie schätzt die Bundesregierung die Entwicklung der
Ausgaben- und Einnahmesituation sowie die Zusatzbeitrags-
satzentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung je-
weils in den Jahren 2014 bis 2017 vor dem Hintergrund der
geplanten Kürzung des Bundeszuschusses ein, und wann wird
nach Schätzung der Bundesregierung die Liquiditätsreserve
aufgebraucht sein?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
A
Frau Kollegin Klein-Schmeink, die gesetzliche Kran-kenversicherung steht auf einem soliden finanziellenFundament. Zum Ende des Jahres 2013 verfügte die ge-setzliche Krankenversicherung über Finanzreserven inHöhe von insgesamt rund 30 Milliarden Euro, davonrund 16,7 Milliarden Euro bei den Krankenkassen undrund 13,6 Milliarden Euro beim Gesundheitsfonds.Auch im Jahr 2014 werden die Zuweisungen aus demGesundheitsfonds an die Krankenkassen ausreichen, umdie voraussichtlichen Ausgaben zu decken. Eine aktuali-sierte Schätzung der Einnahmen und Ausgaben des Jah-res 2014 und eine erstmalige Schätzung der Finanzent-
Metadaten/Kopzeile:
1464 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014
Parl. Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz
(C)
(B)
wicklung sowie des durchschnittlichen Zusatzbeitragsauf der Basis der für das Jahr 2015 vorgesehenen GKV-Finanzierungsstruktur wird der GKV-Schätzerkreis imOktober 2014 vornehmen.Die im Haushaltsentwurf und im Haushaltsbegleitge-setz vorgesehenen Kürzungen des Bundeszuschusses ha-ben in den Jahren 2014 und 2015 keine Auswirkungenauf die Zusatzbeiträge der Krankenkassen, da entspre-chende Entnahmen aus der Liquiditätsreserve vorgese-hen sind.Ab dem Jahr 2017 wird der Bundeszuschuss auf14,5 Milliarden Euro erhöht. Damit stehen dem Gesund-heitsfonds und den Kassen höhere Einnahmen zur Verfü-gung. Dies kann sich positiv auf die Zusatzbeiträge derKrankenversicherten auswirken. Es gibt darüber hinausauch keinen Grund zu der Annahme, dass die Liquidi-tätsreserve des Gesundheitsfonds aufgebraucht wird.Vielmehr bleibt die gesetzliche Mindestreserve von20 Prozent einer Monatsausgabe bestehen.
Sie haben das Wort zur Nachfrage.
Vor dem Hintergrund Ihrer Antwort habe ich eine
Nachfrage: Ab wann rechnet die Bundesregierung mit
Zusatzbeitragssätzen über der bisherigen Mehrbelastung
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von 0,9 Pro-
zent?
A
Frau Kollegin Klein-Schmeink, ich habe gerade aus-
geführt, dass die Schätzungen zur künftigen Beitrags-
satzentwicklung im Oktober dieses Jahres vom Schätzer-
kreis vorgenommen werden, insbesondere was die
Einnahme- und die Ausgabenentwicklung und damit
auch den Finanzbedarf, der über den allgemeinen Bei-
tragssatz hinausgeht, anbelangt.
Frau Klein-Schmeink, bitte.
Ich habe eine weitere Nachfrage: Es gibt sehr viele
Experten, die davon sprechen, dass es bis 2017 zu einem
Zusatzbeitragssatz von mindestens 0,9 bis 1,5 Prozent
kommen wird. Wie schätzen Sie diese Zahlen ein?
A
Wir gehen zunächst einmal davon aus, dass durch die
Umstellung der GKV-Finanzierungsstruktur ab dem
nächsten Jahr viele Versicherte von dem neuen Zusatz-
beitrag profitieren können und geringere Kosten haben
werden. Wir gehen davon aus, dass 20 Millionen Versi-
cherte davon profitieren können. Wir gehen außerdem
davon aus, dass eine größere Anzahl von Kassen unter
dem Zusatzbeitragssatz von 0,9 Prozent liegen wird.
Die Kollegin Vogler hat eine Zusatzfrage.
Vielen Dank. – Frau Staatssekretärin, ich muss einmal
nachfragen: Sie haben vor, ein Gesetz auf den Weg zu
bringen, das die Finanzierung neu regelt. Dies soll zum
1. Januar 2015 in Kraft treten, wenn ich das richtig in Er-
innerung habe. Sie erklären uns hier nun aber, dass Sie
die Datenbasis, die notwendig ist, um die Auswirkungen
wirklich beurteilen zu können, eigentlich erst im Okto-
ber dieses Jahres bekommen. Gleichzeitig versprechen
Sie den Menschen hier, dass bis zu 20 Millionen Versi-
cherte demnächst niedrigere Kassenbeiträge bezahlen
müssen. Wie geht das zusammen? Das scheint mir hö-
here Mathematik zu sein. Das ist ein bisschen wie Sto-
chern im Nebel. Sie scheinen sich das herauszusuchen,
was zu Ihren Plänen am besten passt. So richtig Hand
und Fuß hat das nicht.
A
Frau Kollegin Vogler, ich möchte Sie darauf hinwei-
sen, dass wir derzeit die vorläufigen Finanzergebnisse
des Jahres 2013 vorliegen haben. Die entsprechenden
Zahlen habe ich bei der Beantwortung der ersten Frage
von Kollegin Klein-Schmeink genannt. Wenn wir uns
die Finanzergebnisse der Krankenkassen für das letzte
Jahr anschauen, dann können wir daraus schließen, dass
entsprechende Rücklagen bei den Krankenkassen vor-
handen sind; dabei stützen wir uns auch auf die Abschät-
zungen der Kassen selbst. Deshalb können wir auch da-
von ausgehen, dass bei einem Volumen von über
16,7 Milliarden Euro – das habe ich bereits erwähnt –
eine erhebliche Anzahl der Krankenkassen eine derart
gute Finanzausstattung hat, dass sie nicht nur wie im
Moment in der Lage sind, zum Teil erhebliche Prämien-
ausschüttungen zu leisten, sondern im kommenden Jahr
auch in der Lage sein werden, einen niedrigeren kassen-
individuellen Zusatzbeitrag als den derzeitigen Arbeit-
nehmersonderbeitrag in Höhe von 0,9 Prozent zu verlan-
gen.
Zu einer weiteren Nachfrage hat der Kollege
Weinberg das Wort.
Vielen Dank. – Frau Staatssekretärin, ich möchte andieser Stelle nachfragen: Trifft es zu, dass im Referen-tenentwurf, der zum GKV-Finanzierungsgesetz vorliegt,durch den Wegfall von 0,9 Prozent bei den Einnahmenzumindest rechnerisch eine Unterdeckung von 11 Mil-liarden Euro angenommen wird?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014 1465
(C)
(B)
A
Durch die Einführung eines Zusatzbeitrags und die
Absenkung des allgemeinen durchschnittlichen Beitrags
auf 14,6 Beitragspunkte fehlt der gesetzlichen Kranken-
versicherung ein Volumen in Höhe von entsprechend
0,9 Beitragssatzpunkten. Das muss ausgeglichen wer-
den. Das ist die Umstellung auf das neue System. Die
genauen Beträge kann ich Ihnen, solange die konkreten
Schätzungen nicht vorliegen, nicht bestätigen. Aber wir
gehen von einer entsprechenden Größenordnung aus.
Ich rufe die Frage 20 der Kollegin Klein-Schmeink
auf:
Wird die Bundesregierung im Rahmen des Entwurfs eines
GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgeset-
zes festlegen, dass die 6 Milliarden Euro, die beim Bundeszu-
schuss zur Sanierung des Bundeshaushalts gekürzt werden,
den Einnahmen des Gesundheitsfonds aus der Liquiditätsre-
serve zugeführt werden, wie dies bei der Abschaffung der Pra-
xisgebühr auch verbindlich geregelt wurde, oder wie will sie
sonst sicherstellen, dass der gesetzlichen Krankenversiche-
rung, wie vom Bundesminister für Gesundheit, Hermann
Gröhe, zugesagt, auch in den Jahren 2014 und 2015 14 Mil-
liarden Euro aus den Fondsreserven zur Verfügung stehen?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
A
Frau Kollegin, die Entwicklung und die konkrete
Höhe des Bundeszuschusses werden mit dem Haushalts-
begleitgesetz 2014 und nicht mit dem GKV-Finanzstruk-
tur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz geregelt.
Im Entwurf des Haushaltsbegleitgesetzes 2014, der
heute vom Kabinett beschlossen worden ist, ist vorgese-
hen, dass der Bund zur pauschalen Abgeltung der Auf-
wendungen der Krankenkassen für versicherungsfremde
Leistungen 10,5 Milliarden Euro für das Jahr 2014,
11,5 Milliarden Euro für das Jahr 2015, 14 Milliarden
Euro für das Jahr 2016 und ab dem Jahr 2017 jährlich
14,5 Milliarden Euro in monatlich zum ersten Bankar-
beitstag zu überweisenden Teilbeträgen an den Gesund-
heitsfonds leistet.
Die vorübergehende Absenkung des Bundeszuschus-
ses in den Jahren 2014 und 2015 ist aufgrund der weiter-
hin positiven Finanzentwicklung der gesetzlichen Kran-
kenversicherung und der bis Ende 2013 aufgebauten
Liquiditätsreserve möglich. Dadurch wird abermals ein
erheblicher Beitrag zur Konsolidierung des Bundeshaus-
haltes geleistet.
Die Mindereinnahmen können in beiden Jahren durch
entsprechende Entnahmen aus der Liquiditätsreserve
ausgeglichen werden. Diese Entnahme aus der Liquidi-
tätsreserve ist auch im Haushaltsbegleitgesetz geregelt.
Die Zuweisungen an die Krankenkassen und die Versor-
gung der Versicherten in der gesetzlichen Krankenversi-
cherung werden dadurch nicht berührt.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, stimmen Sie mit mir überein,
dass im Rahmen der Kürzungen insgesamt 6 Milliarden
Euro entnommen werden und diese eben nicht wieder
vollständig, also im gesamten Umfang, bereitgestellt
werden und es damit eher als zuvor dazu kommt, dass
die Rücklagen aufgebraucht sein werden und wir eine
Erhöhung der Zusatzbeitragssätze zu verzeichnen haben
werden?
A
Frau Kollegin Klein-Schmeink, ich stimme Ihrer Aus-
sage so nicht zu. Sie haben heute Vormittag im Rahmen
der Ausschusssitzung die Erhöhung der Zuführung von
Bundesmitteln an den Gesundheitsfonds ab dem Jahr
2017, also den Ausgleich auf der zeitlichen Schiene, so-
gar als einen löblichen Akt bezeichnet, wenn ich mich
recht entsinne.
Ich kann mich der Einschätzung in Ihrer Frage nicht
anschließen. Im Gegenteil: Die Entnahmen gehen nicht
zulasten der Versicherten, sondern sie werden den Kran-
kenkassen aus der Finanzreserve wiederum zur Verfü-
gung gestellt. Dieser Betrag wird ab dem Jahr 2015 wie-
der schrittweise ausgeglichen.
Dies haben wir gesetzgeberisch zum ersten Mal im
Haushaltsbegleitgesetz festgelegt. Das ist eine gute Pra-
xis, die im Hinblick auf den Gesundheitsfonds Schule
machen sollte. Das heißt, wenn etwas entnommen
wurde, dann wird es auch wieder zurückgeführt. Ich er-
innere mich an Zeiten, in denen der Gesundheitsfonds
aufgrund einer Konjunkturkrise Zuschüsse aus Bundes-
mitteln zur Abfederung entsprechender Risiken erhalten
hat.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Ich möchte noch einmal nachfragen: Handelt es sich
um eine vollständige Kompensation oder nur um eine
teilweise erfolgende Kompensation? Das habe ich in der
Tat heute Morgen als einen ersten kleinen Schritt positiv
vermerkt. Aber es handelt sich, wie gesagt, nur um einen
kleinen Schritt und eben nicht um eine vollständige
Kompensation.
A
Frau Kollegin Klein-Schmeink, die Bundesregierungund insbesondere auch der Bundesgesundheitsministerstreben sicherlich gerne eine längere Amtszeit als dieseLegislaturperiode an. Da wir aber nur für diese Legisla-turperiode Gesetze planen können, ist der jetzt vorgese-hene Einstieg in diesem Bereich sicherlich sehr hilfreichund, wie Sie selbst gesagt haben, sehr löblich.
Metadaten/Kopzeile:
1466 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014
(C)
(B)
Zu einer weiteren Nachfrage hat der Kollege
Weinberg das Wort.
Frau Staatssekretärin, Bundeszuschussmittel sind
Steuermittel. Sie sollten eigentlich dazu dienen, versi-
cherungsfremde Leistungen zu finanzieren, zum Bei-
spiel die Mitversicherung von Familienangehörigen und
Ähnliches. Jetzt wird der Bundeszuschuss um den Be-
trag, den Sie genannt haben, gesenkt. Der Ausgleich er-
folgt aus der Liquiditätsreserve. Trifft meine Einschät-
zung zu, dass etwas, was eigentlich aus Steuermitteln zu
finanzieren wäre, in Zukunft de facto aus Versicherungs-
beiträgen finanziert wird?
A
Sehr geehrter Herr Kollege Weinberg, zunächst ein-
mal will ich noch einmal deutlich machen, dass es ein
Bundeszuschuss und keine Spitzabrechnung für versi-
cherungsfremde Leistungen ist. Sie erinnern sich sicher-
lich gerne mit mir an das Jahr 2008, als der Bundeszu-
schuss gerade einmal 2,5 Milliarden Euro betragen hat.
Deshalb ist die Perspektive – 14,5 Milliarden Euro ab
dem Jahr 2017 – sehr positiv. Das zeugt von einer guten
Entwicklung, die wir in Angriff genommen haben. Noch
einmal weise ich darauf hin, dass die Zuführung aus der
Liquiditätsreserve eine Maßnahme ist, die nicht zulasten
der Versicherten geht; denn dies ist ein Mittelzufluss, der
zur Deckung der Ausgaben benötigt wird. Damit wird
der Zufluss an den Bundeshaushalt komplett kompen-
siert.
Danke, Frau Staatssekretärin. Wir sind damit am
Ende Ihres Geschäftsbereichs.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministe-
riums für Verkehr und digitale Infrastruktur auf. Zur Be-
antwortung der Fragen steht der Parlamentarische
Staatssekretär Enak Ferlemann zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 21 der Kollegin Dr. Valerie Wilms
auf:
Welche Schlüsse zieht die Bundesregierung aus dem am
28. Februar 2014 vorgelegten Untersuchungsbericht 255/12
der Bundesstelle für Seeunfalluntersuchung zum sehr schwe-
ren Seeunfall des Containerschiffes „MSC Flaminia“, und
welche bestehenden bzw. zu schließenden Lücken sieht sie in
der europäischen Gesetzgebung?
Bitte, Herr Staatssekretär.
E
Frau Präsidentin! Liebe Frau Kollegin, ich beantworte
Ihre Frage gerne wie folgt: Die Bundesregierung wird
den 181-seitigen Untersuchungsbericht sorgfältig aus-
werten und sodann dem Ausschuss für Verkehr und digi-
tale Infrastruktur des Deutschen Bundestages berichten,
welche Folgerungen aus dem Bericht zu ziehen sind.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Das ist interessant, Herr Kollege Staatssekretär: Sie
wollen das also irgendwann einmal auswerten. Ich
glaube, eine etwas präzisere Antwort auf meine Frage
wäre schon heute möglich gewesen. Insofern die Nach-
frage: Inwieweit wird die Bundesregierung auf die Euro-
päische Kommission einwirken, das EU-Nothafenkon-
zept in dem Sinne anzupassen, dass havarierte Schiffe
grundsätzlich vom nächstgelegenen Nothafen aufge-
nommen werden?
E
Frau Kollegin, ich weise darauf hin, dass uns der Be-
richt erst am 28. Februar 2014 zugegangen ist. Daher
konnte der Bericht nicht in allen Einzelheiten ausge-
wertet und umgesetzt werden. Es geht dabei um kompli-
zierteste Vorgänge im Rahmen des EU-Rechts, aber
natürlich auch der IMO und anderer mehr. Die Schluss-
folgerung, die Sie erwarten, kann eine mögliche Konse-
quenz des Berichts sein, muss es aber nicht.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich würde die Mög-
lichkeit zur zweiten Nachfrage gerne nutzen: Welche eu-
ropäische oder nationale Institution wäre denn nach An-
sicht der Bundesregierung geeignet, zukünftig einen
Nothafen zuzuweisen? Können Sie sich vorstellen, dass
das eine Aufgabe für die EMSA ist?
E
Frau Kollegin, man kann sicherlich an die EMSA
denken. Man kann sich auch vieles andere denken. Das,
was wir vorschlagen, werden Sie unserem Bericht ent-
nehmen können.
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs.Ich komme zum Geschäftsbereich des Bundesminis-teriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-sicherheit. Die Fragen 22 und 23 des Kollegen PeterMeiwald, die Fragen 24 und 25 des Kollegen ChristianKühn und die Fragen 26 und 27 der Kollegin AnnalenaBaerbock werden schriftlich beantwortet.Ebenso wird die Frage 28 des Kollegen NiemaMovassat zum Geschäftsbereich des Bundesministe-riums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lung schriftlich beantwortet.Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums für Wirtschaft und Energie. Zur Beantwor-tung steht die Parlamentarische Staatssekretärin BrigitteZypries zur Verfügung.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014 1467
Vizepräsidentin Petra Pau
(C)
(B)
Die Frage 29 des Kollegen Dr. André Hahn wirdschriftlich beantwortet.Ich rufe die Frage 30 des Kollegen Manfred Grundauf:Besitzt die Bundesregierung Kenntnis darüber, dass dasBundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, BAFA,künftig Kunststoffrecyclingunternehmen von der Befreiung
und wenn ja, wie bewertet sie die Folgen für die deutschenRecyclingunternehmen mit ihren mehr als 100 000 Beschäf-tigten?Bitte, Frau Staatssekretärin.B
Herr Kollege Grund, mit der EEG-Novelle 2012, die
erstmals im Antragsjahr 2012 für die Begrenzung der
EEG-Umlage in 2013 galt, wurde die Antragsbefugnis
von Unternehmen des produzierenden Gewerbes bei der
besonderen Ausgleichsregelung eingeschränkt. Nach
geltender Rechtslage können nur Unternehmen privile-
giert werden, die in entsprechender Anwendung den Ab-
schnitten B und C angehören. Das ist einmal „Bergbau,
Gewinnung von Steinen und Erden“ und zum anderen
„Verarbeitendes Gewerbe“. Recyclingunternehmen,
nach denen Sie fragen, sind in Abschnitt E „Sammlung,
Behandlung und Beseitigung von Abfällen; Rückgewin-
nung“ eingestuft und somit grundsätzlich nicht an-
spruchsberechtigt.
Trotz dieser Neuregelung hatte das BAFA die bean-
tragte Begrenzung für das Jahr 2013 einigen Recycling-
unternehmen erteilt, die ihre Umsätze hauptsächlich aus
dem Verkauf der hergestellten Recyclingprodukte erziel-
ten, die auf dem Markt wie aus Primärrohstoffen herge-
stellte Produkte vertrieben wurden. Das Bundesamt für
Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle hat somit diese Unter-
nehmen dem verarbeitenden Gewerbe im Verwaltungs-
vollzug gleichgestellt. Für das Jahr 2014 hat das BAFA
seine Verwaltungspraxis geändert. Grund dafür ist, dass
nicht die Umsätze des Unternehmens entscheidend für
die Einstufung sind, sondern die ausgeübte Tätigkeit. In
der Folge wurden Anträge von Recyclingunternehmen
abgelehnt, die aufgrund dessen nicht Unternehmen des
verarbeitenden Gewerbes gleichgestellt werden können.
Die Bescheide für 2013 bleiben davon unberührt.
Aufgrund des laufenden Beihilfeverfahrens der EU-
Kommission gegen das Erneuerbare-Energien-Gesetz
und die besondere Ausgleichsregelung darf das BAFA
jedoch ohnehin zurzeit keine positiven Bescheide für das
Begrenzungsjahr 2014 erlassen. Die insgesamt zu erwar-
tenden Mehrkosten können insbesondere kleine und
mittlere Recyclingunternehmen finanziell belasten. Die
Bundesregierung wird diese Auswirkung im Rahmen der
anstehenden EEG-Novelle prüfen.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Vielen Dank. – Das bedeutet ja, dass sich die Verwal-
tungspraxis grundlegend geändert hat und dass Unter-
nehmen, die bisher dem produzierenden Bereich zuge-
ordnet waren, aus diesem Bereich herausgenommen
worden sind, und zwar Unternehmen in der Branche
Kunststoffrecycling, in der Kreislaufwirtschaft; Stich-
wort CO2-Reduktion. Ich finde es äußerst problematisch,
diese Branche, die auch in einem internationalen Wettbe-
werb steht, derart zu belasten. Sie sagen, dass Sie die da-
raus resultierenden Belastungen im Auge behalten wer-
den. Ich weise darauf hin, dass Zahlen vorliegen, die
zeigen, dass erstens 100 000 Arbeitnehmer davon betrof-
fen sind und dass zweitens gerade kleine und mittlere
Unternehmen mit bis zu 100 Beschäftigten in einer
Weise belastet werden könnten, die über den Gewinn hi-
nausgeht, sodass es an die Substanz der Unternehmen
geht und damit Betriebe und Arbeitsplätze massiv ge-
fährdet werden. Hat die Bundesregierung diesen Ge-
sichtspunkt ausreichend im Blick?
B
Herr Kollege, ich denke, nicht zuletzt Ihre Frage wird
dazu führen, dass wir das ausreichend im Blick haben.
Wir sind im Moment dabei, mit der EU-Kommission da-
rüber zu verhandeln, dass die Kunststoffrecycler zukünf-
tig von der besonderen Ausgleichsregelung profitieren
können. Wir sehen das. Wenn Sie noch Material haben,
das unsere gemeinsame Position stützen kann, wäre ich
Ihnen dankbar, wenn Sie es dem Hause überlassen wür-
den.
Sie verzichten auf die zweite Frage? – Ja. Aber der
Kollege Meiwald hat eine Nachfrage.
Vielen Dank für diese Möglichkeit. – Wir als Grüne
sind nicht verdächtig, einer Ausweitung der Befreiung
von der EEG-Umlage das Wort zu reden. In der Tat führt
die Situation, die jetzt durch diese Veränderung der Ver-
waltungsarbeit eingetreten ist, zu einer Wettbewerbsver-
zerrung, die den Vorstellungen eines Ausbaus der Kreis-
laufwirtschaft mit all ihren ökologischen Vorzügen
eindeutig entgegensteht. Deswegen konkret die Frage:
Welche Maßnahmen plant die Bundesregierung, um die-
ser Fehlsteuerung entgegenzuwirken, sowohl im ökono-
mischen als auch im ökologischen Bereich? Das Thema
Arbeitsplätze hat der Kollege gerade schon angespro-
chen.
Vielen Dank.
B
Herr Kollege, ich hatte gerade schon gesagt, dass dasBundesministerium für Wirtschaft und Energie in Ver-handlungen mit der Europäischen Kommission ist mit
Metadaten/Kopzeile:
1468 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014
Parl. Staatssekretärin Brigitte Zypries
(C)
(B)
dem Ziel, dass die Kunststoffrecycler zukünftig von denbesonderen Ausgleichsregelungen profitieren können.Wir haben diese Unternehmen bei der Überarbeitung desErneuerbare-Energien-Gesetzes im Blick. Wenn Sienoch weitere Gesichtspunkte haben, sind auch diese sehrwillkommen.
Danke, Frau Staatssekretärin. – Die Fragen 31 und 32
des Kollegen Krischer sollen schriftlich beantwortet
werden.
Ich rufe die Frage 33 des Kollegen Ralph Lenkert auf:
Wie hoch belaufen sich die bereits angefallenen Verfah-
renskosten im ICSID-Schiedsgerichtsverfahren Vattenfall ge-
ten rechnet die Bundesregierung (bitte nach Jahren aufschlüs-
seln)?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
B
Herr Kollege Lenkert, im Zusammenhang mit dem
anhängigen ICSID-Schiedsverfahren von Vattenfall ge-
gen die Bundesrepublik Deutschland wurden bisher, bis
zum 7. März 2014, Mittel in Höhe von 695 796,89 Euro
für Prozess- und Mandatskosten verausgabt. Im ersten
Regierungsentwurf zum Bundeshaushaltsplan 2014 ist
ein Titelansatz in Höhe von 2,2 Millionen Euro vorgese-
hen. Für die Folgejahre sind in der geltenden Finanzpla-
nung Mittel in Höhe von 2 Millionen Euro für 2015 bzw.
1,6 Millionen Euro für 2016 veranschlagt.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, die Klage von Vattenfall bezog
sich ja bisher auf 3,7 Milliarden Euro; das war in der
Presse zu lesen. Ich frage Sie: Hat sich da zwischenzeit-
lich eine Erhöhung der Klagesumme ergeben? Wenn ja,
würde sich dies auf die Höhe der Verfahrenskosten aus-
wirken?
B
Herr Kollege Lenkert, diese Frage kann ich Ihnen
nicht beantworten. Ich muss sie Ihnen schriftlich beant-
worten. Das weiß ich schlicht nicht.
Dann ist das so verabredet. – Haben Sie noch eine
zweite Nachfrage?
Frau
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wie schützt sich die Bundesregierung da-
vor, dass durch eine Ausweitung der Klagemöglichkei-
ten das Risiko steigt, verklagt zu werden? Ein normales
Unternehmen muss Risikovorsorge betreiben; das heißt,
es muss Rückstellungen bilden. Dies wirkt sich dann im
Allgemeinen auf den Aktienkurs bzw. auf das Zinsni-
veau bei Krediten aus. Ist die Bundesregierung der Mei-
nung, dass dadurch das Zinsniveau für den Bund und die
öffentliche Hand höher wird, und was möchte sie dage-
gen unternehmen?
B
Herr Kollege Lenkert, die Frage nach den konkreten
Auswirkungen der Zahl der Schiedsverfahren auf das
Zinsniveau kann ich Ihnen, ehrlich gesagt, nicht beant-
worten. Ich glaube, dass wir eher ansetzen sollten. Wir
sollten sehen, dass wir so wenige Schiedsverfahren wie
möglich bekommen. Ich bin dankbar dafür, dass die
Europäische Kommission die derzeitigen Verhandlungen
zu TTIP gerade wegen der Frage der Schiedsverfahren
für drei Monate ausgesetzt hat und eine öffentliche An-
hörung durchführen wird, an der auch Sie sich hoffent-
lich beteiligen werden. Die Anhörung fängt ja erst
nächste oder übernächste Woche an und dauert dann drei
Monate. Jeder Mann und jede Frau ist aufgerufen, sich
daran zu beteiligen. Selbstverständlich gilt das auch für
jeden Abgeordneten und jede Abgeordnete des Deut-
schen Bundestages.
Zu einer Nachfrage hat die Kollegin Höhn das Wort.
Frau Staatssekretärin, Sie haben eben zu Recht die Ri-
siken durch private Schiedsverfahren ins Spiel gebracht.
Insbesondere geht es ja darum, dass die Gerichtsbarkeit,
die wir haben, ausgehebelt und durch – ich sage es ein-
mal so – fast willkürlich zusammengesetzte private
Schiedsgerichte ersetzt wird, gegen deren Entscheidun-
gen man noch nicht einmal Revision einlegen kann. Das
wäre ein dramatischer, massiver Nachteil auch für den
Staat Deutschland.
Sie haben eben gesagt: Wir können uns als Abgeord-
nete einbringen. – Inwieweit bringt sich die Bundes-
regierung ein, um genau diese Fälle, die ja vermehrt
auftreten würden, wenn man das in einem Freihandels-
abkommen, zum Beispiel mit Kanada oder den USA,
festschreibt, zu verhindern? Was tut die Bundesregie-
rung, um diese Bereiche aus Freihandelsabkommen aus-
zuklammern?
B
Im Rahmen der Verhandlungen auf der europäischenEbene setzt sich die Bundesregierung natürlich dafürein, dass so weit wie möglich eine Begrenzung der Zahlder Schiedsgerichtsverfahren erfolgt. Wir wollen alsomöglichst wenige davon. Sie sehen in mir als ehemaligerJustizministerin auch eine Person, die sich sieben Jahrelang auf internationaler Ebene dafür eingesetzt hat, dassunsere deutsche Gerichtsbarkeit stark und gut bleibt undauch von den Ländern finanziell hinreichend unterstützt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014 1469
Parl. Staatssekretärin Brigitte Zypries
(C)
(B)
wird, damit sie schnell und sachgerecht entscheidenkann.In vielen Fällen ist das, was von manchen Unterneh-men immer wieder behauptet wird, auch gar nicht rich-tig: dass solche Verfahren schneller verlaufen alsGerichtsverfahren. So haben wir in Deutschland bei-spielsweise im Bereich des Patentrechts einen Stand er-reicht, angesichts dessen wir sagen können: Deutschlandist international vorbildlich. Viele Firmen aus anderenLändern kommen nach Deutschland, um ihre Verfahrenhier durchzuführen. Von daher denke ich, gerade wir inDeutschland stehen gut da. Das werden wir selbstver-ständlich auch auf der europäischen Ebene deutlich ma-chen.
Zu einer weiteren Nachfrage hat die Kollegin Dröge
das Wort.
Vielen Dank für die Möglichkeit, noch eine Nach-
frage zu stellen. – Sie haben gerade gesagt, Sie wollen
möglichst wenig Schiedsgerichtsverfahren haben. Da
wäre die konkrete Frage an Sie: Wie wollen Sie das denn
technisch machen, dass es bei uns möglichst wenig
Schiedsgerichtsverfahren gibt? Wenn man sich die Ana-
lysen zu den Urteilen anschaut, die es vor Schiedsgerich-
ten schon gibt, dann fällt auf, dass Unternehmen beson-
ders die Klausel im Investitionsschutzabkommen zum
Fair and Equal Treatment nutzen, um gegen Länderbe-
stimmungen zu klagen. Da wäre die Frage an Sie: Hat
die Bundesregierung schon eine Position, eine Rechts-
auffassung, wie so etwas in bestehenden Investitions-
schutzabkommen verbessert oder sogar gestrichen wer-
den kann, damit solche Verfahren, wie wir sie hier
gerade diskutieren, in Zukunft nicht mehr passieren?
B
Frau Kollegin Dröge, wir sind ja im Moment in dem
Stadium, dass wir uns überhaupt fragen, inwieweit
Schiedgerichtsbarkeitsvereinbarungen in das Abkom-
men aufgenommen werden. Deswegen haben wir jetzt
selbstverständlich noch kein abgestuftes Programm. Wie
gesagt, das Verfahren ist ausgesetzt. Es gibt eine dreimo-
natige Konsultationsfrist. Die Bundesregierung wird
sich daran beteiligen, wie hoffentlich auch viele Kolle-
ginnen und Kollegen des Parlaments, die ihre Meinung
sagen werden. Dann wird man sehen, wie sich das auf
europäischer Ebene insgesamt entwickelt. Da ist die
Bundesregierung natürlich auch nur einer von 28 Mit-
spielern.
Ich habe zwei weitere Meldungen für Nachfragen zur
Frage 33. Zuerst hat der Kollege Klaus Ernst das Wort.
Frau Staatssekretärin, wenn ich Ihre Aussage richtig
verstanden habe, dann stellen Sie solche Schieds-
gerichtsverfahren eigentlich infrage und wollen mög-
lichst wenig davon. Heißt das, dass die Bundesregierung
keiner Vereinbarung zustimmen wird, die dazu führt,
dass es eine Ausweitung von Verfahren oder Verfahren
auf einem ähnlichen Stand wie heute geben wird?
B
Nein, Herr Kollege, das heißt es natürlich nicht;
denn ein solcher Umkehrschluss ist nicht zulässig. Viel-
mehr – ich wiederhole gerne, was ich eben schon einmal
gesagt habe – sind wir im Moment dabei, zu verhandeln,
inwieweit Schiedsgerichtsverfahren überhaupt in dieses
konkrete Abkommen, dieses TTIP-Abkommen, von dem
wir gerade reden, aufgenommen werden. Da gilt: Wir
wollen deutlich machen, dass Schiedsgerichtsverfahren
nicht der Weisheit letzter Schluss sind, sondern dass man
diese Dinge auch sehr gut anders regeln kann. Wir haben
als deutscher Staat ja auch ein Interesse daran, einen gu-
ten deutschen Rechtsstandort zu vertreten; das ist doch
völlig klar. Nichts anderes habe ich gesagt. Das werden
wir deutlich machen.
Aber selbstverständlich geht es bei den Verhandlun-
gen zu TTIP um Verhandlungen der Europäischen Kom-
mission. Deutschland ist, wie Sie wissen, ein Land in der
Europäischen Union. Selbstverständlich bedarf die
Kommission einer abgestimmten Verhandlungsstrategie
aller Mitglieder der Europäischen Union. Deswegen
kann man keine endgültige Aussage treffen.
Die Kollegin Vogler hat das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Staatssekretä-
rin, Sie werden mir doch sicherlich zustimmen, dass die
Bundesrepublik Deutschland ein gewichtiges Wort mit-
zureden hat und dass wir hier im Deutschen Bundestag
natürlich ein berechtigtes Interesse daran haben, zu er-
fahren und auch den Wählerinnen und Wählern mitzutei-
len, welche konkrete Position die Bundesregierung in
dieser wichtigen Frage einnimmt. Denn schließlich geht
es ja um nichts Geringeres als um eine Einschränkung
der Rechtsstaatlichkeit und unter Umständen auch um
eine Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten der
parlamentarischen Demokratie. Denn wenn das, was wir
hier an Gesetzen beschließen, sozusagen immer vor der
Folie diskutiert werden muss, dass uns da unter Umstän-
den umfangreiche Klageverfahren drohen, dann sind wir
auch als Abgeordnete nicht mehr frei, unserer Gesetzge-
bungstätigkeit nachzukommen. Insofern frage ich Sie
jetzt noch einmal: Welche Position nimmt die Bundes-
regierung in der Auseinandersetzung um die Frage der
Schiedsgerichte denn konkret ein?
B
Frau Kollegin, Ihre Nachfrage gibt mir die Gelegen-heit und vor allen Dingen auch den Anlass, einige grund-
Metadaten/Kopzeile:
1470 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014
Parl. Staatssekretärin Brigitte Zypries
(C)
(B)
sätzliche Ausführungen zu den Verhandlungen zu TTIPzu machen. Wenn ich es richtig sehe, ist das jetzt aucheiner der ersten Momente, in dem das hier im Parlamentin offener Runde behandelt wird.Wir sind derzeit in der vierten Verhandlungsrunde. Esist aber die erste Verhandlungsrunde, die sich mit kon-kreten Themen befasst. Die drei Verhandlungsrundenzuvor waren ein allgemeiner Austausch von Positionenüber mögliche Gebiete, über die man dann verhandelnwill.Im Moment findet, wie gesagt, die erste konkrete Ver-handlungsrunde statt; dabei geht es um die Themenfel-der Marktzugang, regulatorische Fragen und Handelsre-geln. Es gab am 10. Februar schon einen Austausch vonAngeboten zum Abbau von Zöllen auf Industrie- undAgrargüter; das Thema Zölle ist aber nicht Gegenstandder jetzigen Verhandlungsrunde, sondern wird späterwieder aufgerufen.Ich habe eben schon gesagt, dass Kommissar DeGucht zu der Frage der Schiedsgerichtsbarkeit eindreimonatiges Konsultationsverfahren angestoßen hat.Die Kommission wird dazu einen Vertragstext vorlegen,der durch Erläuterungen oder Annotationen für die All-gemeinheit verständlich gemacht werden soll. Die Bun-desregierung begrüßt diesen Schritt ausdrücklich und er-wartet eine breite Beteiligung an den Konsultationen.Wir wollen die Transparenz und die Einbindung derÖffentlichkeit insgesamt verbessern. Ich würde Ihnengern kurz sagen, was wir dazu schon getan haben: Wirvertreten auf europäischer Ebene die Auffassung, dassdie Verhandlungen auf der Basis von vertraulichen Un-terlagen natürlich vertraulich geführt werden müssen;aber wir wollen nichtsdestotrotz, dass die EU-Mitglied-staaten in die Lage versetzt werden – das gilt vor allenDingen für die nationalen Parlamente, aber auch für dieBürger –, Auskunft über den jeweils aktuellen Stand derVerhandlungen zu erhalten. Wir wollen, dass den Mit-gliedstaaten zu diesem Zweck der Zugang zu US-Doku-menten ermöglicht wird. Dafür setzt sich das Bundes-wirtschaftsministerium ein.Mit Blick auf die Information von Bundestag undBundesrat sind wir im europäischen Vergleich sicherlichführend, aber auch im Vergleich zum Europäischen Par-lament. Der Bundestag hat alle Dokumente erhalten, diees bis jetzt gibt: alle Drahtberichte, alle EU-Positionspa-piere, alle Berichte der Bundesregierung zu den Ver-handlungen. Wir haben zu TTIP bislang 220 parlamenta-rische Fragen beantwortet, weitere 125 Fragen sindzurzeit in Bearbeitung.Die Beteiligung des Deutschen Bundestages richtetsich nach dem EUZBBG. Das Bundeswirtschaftsminis-terium hat neben diesen umfassenden Informationen desParlaments jetzt auch angefangen, einen Austausch zuTTIP zu führen, unter anderem mit allen Ressorts, mitden Bundesländern, mit den Bundestagsausschüssen – ebenwurde ja deutlich, dass TTIP schon Gegenstand vonAusschussberatungen war –, mit Verbänden, mit NGOs,mit Gewerkschaften. Wir richten Veranstaltungen dazuaus und haben auch schon einige durchgeführt. Für den5. Mai ist eine große TTIP-Konferenz im Ministeriumgeplant. Die EU-Kommission hat in Aussicht gestellt,nach der vierten Verhandlungsrunde weitere EU-Posi-tionspapiere auf ihrer Website für die Öffentlichkeit zu-gänglich zu machen.
– Die Antwort auf Ihre Frage ergibt sich doch aus mei-nen Darlegungen, verehrte Frau Kollegin: Wenn wir imMoment in der ersten Verhandlungsrunde sind, wo dasSchiedsgerichtsverfahren überhaupt noch keine Rollespielt, dann kann ich Ihnen auch noch nicht sagen, wel-che fünfte Auffangposition die Bundesregierung in denVerhandlungen vertreten wird – wie sollte es anderssein?
Schönen Dank, Frau Staatssekretärin. – Die nächste
Zusatzfrage hat Frau Kollegin Paus, Bündnis 90/Die
Grünen, danach die Kollegin Leidig von der Fraktion
Die Linke.
Aber, Frau Zypries, vielleicht können Sie mir trotz-
dem sagen, ob es die Position der Bundesregierung ist,
dass private Schiedsgerichtsverfahren nicht Bestandteil
eines entsprechenden Freihandelsabkommens mit den
USA sein sollten.
B
Wir wollen die Schiedsgerichtsverfahren, wenn es
möglich ist, aus dem Verfahren heraushalten; aber wir
wissen nicht – das habe ich schon gesagt –, ob wir das
mit allen Staaten endgültig werden durchsetzen können.
Deswegen ist es wichtig, dass es jetzt Konsultationen
gibt und wir hören, was insgesamt darüber gedacht wird.
Noch einmal: Deutschland ist ein Mitgliedstaat der Eu-
ropäischen Union und bestimmt den Verhandlungsgang
nicht allein.
Die nächste Frage stellt Frau Kollegin Leidig. Bitte.
Frau Staatssekretärin Zypries, ich möchte an diesemPunkt weiterfragen, weil ich glaube, dass es sich hier umeine sehr entscheidende Verhandlungsposition handelt,die die Bundesregierung einnimmt oder eben nicht ein-nimmt. Deshalb noch einmal ganz konkret die Frage:Wird die Bundesregierung diesem Abkommen zustimmen,wenn ein solches Schiedsgerichtsverfahren mehrheitlichbeschlossen wird, oder wird die Bundesregierung einemsolchen Freihandelsabkommen die Zustimmung verwei-gern, wenn die Rechtsstaatlichkeit sozusagen an Schieds-gerichte abgegeben werden soll?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014 1471
(C)
(B)
B
Die Bundesregierung setzt im Moment alles daran,
dass es erst gar nicht so weit kommt. Wir sind zurzeit im
Konsultationsverfahren und setzen uns dafür ein, dass
die Schiedsgerichtsverfahren nicht in den Vertrag aufge-
nommen werden. Dafür arbeiten wir, und wir wären für
Unterstützung dankbar.
Die nächste Zusatzfrage hat der Kollege Hunko, die
Linke. Bitte.
Vielen Dank. – Frau Kollegin, wenn ich Sie richtig
verstanden habe, dann sehen Sie die Schiedsgerichte im
Rahmen der TTIP mit den USA durchaus kritisch. Bei
den Verhandlungen über das Freihandelsabkommen mit
Kanada, dem CETA, befinden wir uns ja bereits im
Endstadium. Hier ist meine Frage: Wie haben Sie sich da
bezüglich der Schiedsgerichte positioniert? Sehen Sie,
dass es dort eine Ausweitung von Schiedsgerichtsverfah-
ren geben kann, und wie haben Sie darauf hingewirkt,
dass es eben nicht zu einer solchen Ausweitung kommt?
Vielen Dank.
B
Die Antwort muss ich Ihnen schriftlich nachreichen.
Ich weiß es nicht genau.
Schönen Dank. – Kollegin Klein-Schmeink von
Bündnis 90/Die Grünen, bitte.
Frau Staatssekretärin, Sie haben gerade gesagt, dass
Sie als Bundesregierung darauf hinwirken wollen, dass
es gar nicht erst so weit kommt, dass es diese Schieds-
verfahren gibt. Haben Sie denn auf europäischer Ebene
ernsthafte Verbündete in dieser Frage, oder müssen wir
damit rechnen, dass die Bundesregierung hier eher al-
leine auf weiter Flur steht? Wie wahrscheinlich ist es,
sich damit durchsetzen zu können?
B
Nach meinem Kenntnisstand gibt es einige andere
Staaten, die auch der Auffassung sind, wir sollten das
nicht machen. Das hat ja oft auch etwas mit den jeweili-
gen Rechtssystemen zu tun. In der Europäischen Union
haben wir zwei unterschiedliche Rechtssysteme, näm-
lich das kontinentaleuropäische und das angloamerikani-
sche. Die Vertreter des kontinentaleuropäischen sind in
der Regel der Auffassung, dass man Schiedsverfahren
nicht umfänglich durchführen sollte.
Schönen Dank. – Wir kommen zur Frage 34 des Kol-
legen Ralph Lenkert, die Linke:
Wie viele Streitverfahren vor internationalen Schiedsge-
richten wurden nach Kenntnis der Bundesregierung in den
letzten fünf Jahren auf welche Art und mit welchen Zahlun-
Frau Staatssekretärin, bitte.
B
Die Bundesregierung hat keine Informationen da-
rüber, wie viele Verfahren insgesamt von deutschen oder
ausländischen Unternehmen gegen Drittländer ange-
strengt wurden. Deutsche Unternehmen sind nämlich
nicht verpflichtet, der Bundesregierung ihre Klagen ge-
gen andere Staaten mitzuteilen.
Der Bundesregierung sind allerdings die Schiedsver-
fahren von deutschen Unternehmen gegen andere Staa-
ten bekannt, bei denen die Investitionen durch Investi-
tionsgarantien des Bundes gegen politische Risiken
abgesichert waren und bei denen die Unternehmen nach
der Entschädigung durch den Bund in Abstimmung mit
dem Bund Schiedsverfahren eingeleitet haben. Das ist
zum einen die Klage der Hochtief AG gegen Argenti-
nien und zum anderen die Klage der Fraport AG gegen
die Philippinen, und aus der Presse ist auch die Klage
von Walter Bau gegen Thailand bekannt.
Frühere Klagen ausländischer Unternehmen gegen
Deutschland gibt es nur zwei: In den 90er-Jahren klagte
ein indischer Unternehmer, dessen Klage aber schon
nicht angenommen wurde, weil er die Prozesskosten
nicht bezahlte, und 2009 klagte Vattenfall wegen des
Steinkohlekraftwerkes in Hamburg-Moorburg. Dieses
Verfahren wurde durch einen Vergleich beendet – ohne
Entschädigungszahlung seitens der öffentlichen Hand.
Mögen Sie eine Zusatzfrage stellen, Herr Kollege
Lenkert?
Frau Staatssekretärin, es verwundert mich, dass es derBundesregierung nicht möglich ist, die Ergebnisse vonSchiedsgerichtsverfahren zu ermitteln, obwohl sie vomInternationalen Schiedsgerichtshof veröffentlicht wer-den.Ich komme jetzt zu der Frage, die ich nachschiebenmöchte: Im letzten Jahr sind 70 Prozent der Klagen miteiner Zahlung an Investoren ausgegangen, 30 Prozentder Klagen wurden abgewiesen. Sie sagten eben im Zu-sammenhang mit dem TTIP, dass Sie in den Konsultatio-nen zum Thema Schiedsgerichtsbarkeit Transparenz her-stellen wollen. Die Verhandlungen mit Kanada zumCETA befinden sich de facto in der Endphase; sie sindfast abgeschlossen. Die Schiedsgerichtsverfahren sinddort integriert, das heißt, jedes Unternehmen, das eine
Metadaten/Kopzeile:
1472 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014
Ralph Lenkert
(C)
(B)
Zweigniederlassung in Kanada hat, kann die Rechte inAnspruch nehmen, die wir jetzt vielleicht aus dem TTIPheraushalten können. Das heißt, die Schiedsgerichtsbar-keit würde sozusagen durch die Hintertür eingeführt.Ich frage Sie jetzt als Vertreterin des Wirtschafts-ministeriums – noch ist das Abkommen mit Kanadanicht unterzeichnet –: Werden Sie darauf drängen, dassdie Schiedsgerichtsbarkeit ähnlich wie im TTIP auf denPrüfstand kommt? Ich sage noch einmal: Wir als Linkelehnen Vereinbarungen und Verträge mit internationalerSchiedsgerichtsbarkeit komplett ab. Denn wir sind derMeinung: Das Rechtssystem in der BundesrepublikDeutschland ist zur Sicherung der Rechte von Investorenund von Staaten ausreichend.B
Ja, das haben wir verstanden. Ich habe Ihnen vorhin
schon einmal gesagt, dass ich Ihre Meinung im Grund-
satz teile. Ich kann Ihnen aber im Moment zu dem Stand
der Verhandlungen mit Kanada keine Auskünfte geben.
Ich habe eben schon gesagt, dass ich Ihnen das nachrei-
chen muss; es tut mir leid. Ich bin da nicht im Stoff; da-
für bitte ich um Nachsicht. Das ist nicht Gegenstand die-
ser Fragen gewesen.
Keine Frage mehr? – Gut, dann gibt es eine erste
Frage aus dem übrigen Kollegenkreis.
– Entschuldigung. Sie machten so einen resignierten
Eindruck.
Ich war von der Antwort enttäuscht; denn die Position
der Bundesregierung sollte bei solchen Abkommen ei-
gentlich dieselbe sein. Wenn man bei den Verhandlungen
mit den USA hinsichtlich eines Schiedsgerichtsverfah-
rens kritisch ist, dann sollte das bei Verhandlungen mit
Kanada genauso sein.
B
Nein, Sie haben mich doch gerade gefragt, ob ich da-
für sorgen werde, dass die Verhandlungen mit Kanada
ausgesetzt werden und ein entsprechendes Verfahren
vereinbart wird. Ich kann Ihnen aber nicht genau sagen,
wie der Verhandlungsstand ist und ob so etwas über-
haupt geht. Sie müssen bitte meine Antworten auf Ihre
Fragen beziehen.
Jetzt habe ich eine weitere Nachfrage.
Eine haben Sie noch, ja.
Es besteht bei Verträgen, die zwischen der EU und
Drittstaaten abgeschlossen werden, die Möglichkeit,
dass diese Verträge, wenn es gemischte Abkommen sind
– das bedeutet ja, dass auch die Länderparlamente zu-
stimmen müssen –, vorläufig in Kraft gesetzt werden.
Jetzt frage ich Sie: Wäre es möglich, dass Investoren auf
Investitionsschutz klagen können, wenn zum Beispiel
der Vertrag der EU mit Kanada vorläufig in Kraft gesetzt
würde, bevor der Bundestag überhaupt ratifiziert hat?
B
Ich verstehe Ihre Frage nicht.
Ich versuche es noch einmal.
B
Bitte.
Die EU ist in der Lage, Verträge bei gemischten Ab-
kommen – sprich: bei Abkommen, die vom EU-Parla-
ment und von den nationalen Parlamenten ratifiziert
werden müssen – vorläufig in Kraft zu setzen, bevor die
zeitaufwendigen Prozesse der nationalen Ratifizierungen
abgeschlossen sind. Das wäre auch bei CETA oder TTIP
möglich. Wenn dieser Fall eintritt: Kann es dann aus Ih-
rer Kenntnis heraus möglich sein, dass noch vor einer
Ratifizierung durch den Deutschen Bundestag Investi-
tionsschutzklagen gegen die Bundesrepublik eingereicht
werden, weil diese Verträge durch die EU vorläufig in
Kraft gesetzt werden?
B
Herr Kollege, wir sind im Moment bei dem Verfah-
rensstand, dass es Konsultationen dazu gibt, ob über-
haupt Schiedsgerichtsverfahren in das TTIP aufgenom-
men werden sollen. Ich kann Ihnen deshalb keine
Antwort auf die Frage geben, was sein würde, wenn in
mehreren Jahren vielleicht die Verhandlungen zu einem
Abkommen abgeschlossen sein sollten, das dann wo-
möglich auch noch vorzeitig in Kraft gesetzt werden
würde.
Herzlichen Dank. – Die nächste Frage kommt von
Frau Höhn, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Staatssekretärin, für Sie ist die Schiedsgerichts-barkeit ein ganz wichtiger Punkt; das haben wir festge-stellt. Gleichzeitig ist es in der Tat so, dass durch diesesCETA-Abkommen mit Kanada die Frage, Schiedsge-richtsverfahren ja oder nein, vorentschieden wird; dennes wird schwer sein, bei TTIP Schiedsgerichtsverfahren
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014 1473
Bärbel Höhn
(C)
(B)
zu verweigern, wenn sie im Rahmen des Abkommensmit Kanada möglich sind.Erstens. Habe ich es richtig verstanden, dass dieStaatssekretärin über den Stand des CETA-Verfahrensmomentan keine Auskunft geben kann? Zweitens.Drängt die Bundesregierung darauf, dass es überhauptein Mischverfahren wird? Es könnte theoretisch sogarsein, dass die EU das Abkommen allein abschließt, ohnedass der Bundestag zustimmen muss. Können Sie hierbestätigen, dass es sich um ein Mischverfahren handeltund der Bundestag zustimmen muss, oder wissen Sie dasnicht genau?B
Nach meiner Kenntnis muss der Bundestag zustim-
men. Die Frage war doch eben: Wie geht das mit dem
Verfahren ganz genau weiter?
Nein, die Frage ist eine andere. Ist das ein Mischver-
fahren, ja oder nein? Wenn das nämlich kein Mischver-
fahren ist, müsste der Bundestag gar nicht zustimmen.
B
Nach meiner Kenntnis, Frau Abgeordnete, muss der
Bundestag zustimmen. Aber ich bin gerne bereit, in mei-
nem Hause nachzufragen und Ihnen dazu eine schriftli-
che Stellungnahme zu geben. Sie werden es mir nachse-
hen, dass ich hier nicht jede Frage hundertprozentig
beantworten kann.
Die nächste Frage stellt die Frau Kollegin Dröge von
den Grünen. Danach folgt der Kollege Ernst von der
Fraktion Die Linke. – Frau Kollegin Dröge, bitte schön.
Frau Zypries, Sie haben mehrfach gesagt, Ihr erstes
Ziel sei, dass Investitionsschutzabkommen nicht in TTIP
aufgenommen werden. Gleichzeitig haben Sie gesagt,
dass Sie nicht sicher sein können, dass das der Fall sein
wird.
Ich möchte nur darauf hinweisen, dass die TTIP-Ver-
handlungen, zumindest wenn es nach den Wünschen der
USA geht, nicht in ferner Zukunft beendet werden sol-
len, sondern schon 2015 zu einem Abschluss gebracht
werden sollen. Das heißt, wenn Sie Ihre Position nicht
durchsetzen können und wir doch mit einem Investi-
tionsschutzkapitel in TTIP rechnen müssen, muss man
sich damit auseinandersetzen, welche Position die Bun-
desregierung einnimmt. Sie haben nicht mehr viel Zeit,
um in einer rechtlich schwierigen Frage zu einer Ant-
wort zu kommen. Deswegen ist die Frage des Kollegen
von den Linken nach den vorhandenen Kenntnissen ab-
solut richtig.
Zum Beispiel ist vor zwei Tagen eine Studie des Cor-
porate Europe Observatory herausgekommen, der zu-
folge es Unternehmen gibt, die in Europa Krisenländer
wie Griechenland und Spanien beispielsweise auf ent-
gangene Fördermittel verklagen, die diese Krisenländer
nicht mehr zahlen können, weil die Troika dort Spar-
maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung durchgesetzt
hat.
Ich finde, es sind relevante Erkenntnisse für die Bun-
desregierung, da sie zeigen, welcher Missbrauch schon
mit bestehenden Investitionsschutzklauseln getrieben
wird. Es gibt auch eine UN-Studie, die sich damit ausei-
nandersetzt, welche Schiedsgerichtsverfahren es gibt.
Ich frage mich, wie die Bundesregierung zu einer Posi-
tion kommen will, wenn sie bestehende Investitions-
schutzklauseln nicht analysiert.
B
Sie können sicher sein: Die Bundesregierung analy-
siert bestehende Investitionsschutzklauseln, und die
Bundesregierung informiert sich auch umfassend. Ich
bin dankbar für Ihren Hinweis auf diese neuen Studien,
die von meinem Haus selbstverständlich auch in die
Überlegungen mit einbezogen werden. Wir gehen nicht
davon aus, dass das TTIP 2015 abgeschlossen wird.
Danke schön. – Kollege Ernst.
Frau Staatssekretärin, würden Sie mir zustimmen,
dass dann, wenn in dem CETA-Abkommen ein solches
Schiedsverfahren mit Zustimmung der Bundesregierung
vereinbart wird, Ihre Haltung, in einem Abkommen mit
den USA ein solches Verfahren nicht aufzunehmen,
deutlich geschwächt würde? Können Sie mir die Frage
beantworten, ob Ihre Ablehnung eines solchen Schieds-
verfahrens in den Verträgen – die uns freut – auch die
einhellige Meinung der Bundesregierung ist?
B
Herr Abgeordneter, ich habe jetzt schon mehrfach da-rauf hingewiesen, dass es im Moment darum geht, dieHaltung Deutschlands, aber auch aller anderen EU-Staa-ten zu diesem Schiedsverfahren zu bestimmen und dieEuropäische Kommission als Verhandlungsführerin beidiesen Verhandlungen mit zu beeinflussen. Deswegen istes im Moment an der Zeit, zu sagen: Alle diejenigen nichtnur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischenStaaten, die meinen, wir brauchen keine Schiedsgerichts-barkeit, sollten sich an dieser Anhörung beteiligen. Einesolche Beteiligung, die das Verhalten der EU-Kommis-sion beeinflussen kann, wird immer massiv eingefordert.Es geht sehr vielen Menschen darum, darauf hinzu-weisen, dass es auf europäischer Ebene mangelndeTransparenz gibt und dass man stattdessen die europäi-
Metadaten/Kopzeile:
1474 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014
Parl. Staatssekretärin Brigitte Zypries
(C)
(B)
schen Bürgerinnen und Bürger stärker beteiligen sollte.Hier ergibt sich jetzt die wirklich gute Möglichkeit, soetwas zu tun. Ich finde, unser aller Sinnen und Trachten– auch das Ihrer Partei und Fraktion – sollte darauf ge-richtet sein, Unterstützung dafür zu mobilisieren. Wirhaben auch ein positives Beispiel auf europäischerEbene, wo das sehr gut funktioniert hat.Ich denke, das sollten wir jetzt tun. Wir sollten unsnicht darauf beschränken, zu überlegen: Was passiert ei-gentlich, wenn es uns nicht gelingt? Denn wenn man et-was bewegen will, aber nicht ins Gelingen verliebt ist,dann kommt es auch nicht dazu, dass man etwas erreicht.Deswegen kann ich Ihnen auf Ihre Frage „Was passiert,wenn …?“ leider keine Antwort geben.
Eine weitere Frage der Frau Kollegin Leidig, Fraktion
Die Linke.
Frau Staatssekretärin Zypries, ich habe eine Nach-
frage zu dem Konsultationsprozess. Mein Eindruck ist,
dass die Bundesregierung, wenn es stimmt, dass sie in
einem bereits sehr weit fortgeschrittenen Freihandelsab-
kommen kein Veto gegen ein solches Schiedsverfahren
eingelegt hat, im jetzigen, noch relativ am Anfang ste-
henden Konsultationsverfahren zu TTIP sehr wenig
Glaubwürdigkeit hat. Deshalb finde ich es unumgäng-
lich, zu erfahren, wie sich die Bundesregierung in dem
weit fortgeschrittenen Verfahren eigentlich positioniert
hat und wie der Verhandlungsstand aussieht.
B
Frau Kollegin Leidig, es ist wirklich schade, dass wir
hier im Deutschen Bundestag ständig aneinander vorbei-
reden. Ich hatte Ihnen schon hinlänglich dargelegt, dass
wir keineswegs in einem weit fortgeschrittenen Verhand-
lungsverfahren zu TTIP sind.
– Entschuldigung, es geht Ihnen offenbar um das Verfah-
ren mit Kanada. Dann habe ich Ihre Frage nicht verstan-
den.
Ich versuche, Ihnen die Frage verständlich zu ma-
chen. Die Frage lautet: Wie steht es nach Ihrer Meinung
um die Glaubwürdigkeit der Bundesregierung, wenn auf
der einen Seite im CETA-Verfahren bereits im Grunde
ein Schiedsverfahren akzeptiert ist und auf der anderen
Seite nun im TTIP-Verfahren so getan wird, als sei die
Bundesregierung offen im Konsultationsprozess.
B
Wir tun nicht so, als sei die Bundesregierung offen im
Konsultationsprozess. Dieser Konsultationsprozess ist
von der Europäischen Kommission angestoßen worden,
und zwar im Einvernehmen mit der Bundesregierung.
Wir finden, dass das ein sehr gutes Verfahren ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Fraktion Die
Linke beantragt, Minister Gabriel herbeizuzitieren.
Möchte jemand das Wort zu diesem Geschäftsordnungs-
antrag ergreifen? – Kollege Grund, CDU/CSU-Fraktion.
Es gab hinreichend Gelegenheit, Fragen zu stellen
und darauf zu antworten. Ich sehe überhaupt keinen Be-
darf, neben der Staatssekretärin Frau Zypries, die die
Fragen hervorragend beantwortet hat,
den Minister herbeizuzitieren. Wir lehnen diesen Antrag
daher ab.
Frau Ziegler von der SPD möchte das Wort ergreifen.
Bitte.
Ich kann meinen Kollegen von der CDU/CSU-Frak-
tion nur unterstützen. Wir haben mehrfach die gleichen
Fragen und die gleichen Antworten gehört. Im Aus-
schuss kann man ausreichend und intensiv darüber dis-
kutieren, welches der Sachstand zu diesen Fragen und
Themen ist. Die Staatssekretärin hat wirklich jede Frage
ordentlich beantwortet und klargemacht, wie sich der
Sachstand zum heutigen Zeitpunkt darstellt. Aus diesem
Grunde sehen wir keine Notwendigkeit, außerhalb des
Ausschusses dies im Plenum weiterzuverfolgen und da-
rüber zu diskutieren.
Danke.
Gibt es weitere Wortmeldungen?
– Das ist nicht der Fall. Dann lasse ich abstimmen. Werdafür ist, dass Bundesminister Gabriel in das Plenum zi-tiert wird, den bitte ich um das Handzeichen. – Wer istdagegen?
– Bedauerlicherweise nicht, Herr Kollege Grund. Dahermüssen wir einen Hammelsprung durchführen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014 1475
Vizepräsident Peter Hintze
(C)
(B)
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, den Plenar-saal zu verlassen, damit die Abstimmung durchgeführtwerden kann. Das führt zur Verschiebung der AktuellenStunde. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich verstehe,dass das Plenum ein angenehmer Ort ist, auch wenn esSchwieriges zu besprechen gibt.
– Das ist sehr nett. Die beiden Schriftführer machen dassolidarisch auch so. Aber ich darf Sie bitten, jetzt denPlenarsaal zu verlassen, damit wir die Regeln einhalten.Ich gehe davon aus, dass die Türen besetzt sind undwir jetzt mit der Abstimmung beginnen können. Die Ab-stimmung ist eröffnet.Darf ich fragen, ob alle Kolleginnen und Kollegen,die vor der Tür standen, den Plenarsaal betreten haben?Können mir die Schriftführer das bitte mal signalisieren? –Von denen, die im Gang stehen, wäre es nett, wenn siejetzt zumindest die Sitzplätze einnähmen.Die Abstimmung ist geschlossen. Ich bitte die Stimm-zähler, mir das Stimmergebnis zu übermitteln. Ich bitteauch, die Türen zu schließen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, sicheinen Moment hinzusetzen und die Kommunikation un-tereinander einzustellen. Der erste Hammelsprung in der18. Wahlperiode ist erfolgreich abgeschlossen.
Für den Antrag, also mit Ja, haben gestimmt 77 Kol-leginnen und Kollegen.
Enthalten hat sich kein Kollege und keine Kollegin. MitNein haben gestimmt 350 Kolleginnen und Kollegen.
Damit ist der Antrag abgelehnt.Wir treten wieder in die Fragestunde ein, für die wirnoch – das sage ich informell – 14 Minuten und 34 Se-kunden haben. Danach haben wir die Aktuelle Stundeauf Antrag der Grünen.
Die Fragestunde ist sehr interessant.
Es dürfen alle im Plenum bleiben; so ist das nicht.Die Fragen 15, 16, 17 und 18 der AbgeordnetenKathrin Vogler, Birgit Wöllert und Harald Weinberg sindnachträglich durch die Bundesregierung dem Geschäfts-bereich des Bundesministeriums für Wirtschaft undEnergie zugeordnet wurden. Zur Beantwortung stehtauch hier die Parlamentarische Staatssekretärin BrigitteZypries zur Verfügung.Ich rufe die Frage 15 der Abgeordneten KathrinVogler, Fraktion Die Linke, auf:Welche Konsequenzen könnte das FreihandelsabkommenTTIP nach derzeitigem Kenntnisstand der Bundesregierungauf die Zulassung von Arzneimitteln innerhalb der EU haben,und welche Auswirkungen könnte das Freihandelsabkommennach Einschätzung der Bundesregierung für die Hersteller vonpatentgeschützten Präparaten haben, was sowohl die Laufzeitder Patente als auch Art und Umfang von Patent- und Unterla-genschutz anbelangt?Frau Staatssekretärin, bitte.B
Vielen Dank, Herr Präsident.
Einen kleinen Moment mal.
Es ist eine Frage der Fairness und der Disziplin, dass
die, die jetzt nicht zuhören wollen, ganz ruhig herausge-
hen und sich nicht hier im Saal unterhalten.
B
Frau Kollegin Vogler, nach dem derzeitigen Kenntnis-
stand wird im Arzneimittelbereich keine gegenseitige
Anerkennung von Zulassungsentscheidungen vorge-
schlagen. Über die Auswirkungen von TTIP auf Patent-
recht oder gar auf Änderungen des Patentrechts liegen
der Bundesregierung keinerlei Informationen vor.
Haben Sie eine Zusatzfrage, Frau Kollegin? – Bitte
schön.
Frau Staatssekretärin, wenn Ihnen über mögliche
Auswirkungen auf das Patentrecht oder auf die Patentie-
rung von Arzneimitteln keine Erkenntnisse vorliegen,
dann würde mich interessieren, auf welche Art und
Weise die Bundesregierung denn gedenkt, sich diese Er-
kenntnisse zu verschaffen, und in welchem Zeitrahmen
Sie sich in der Lage sehen, diese Erkenntnisse dem
Deutschen Bundestag zuzuleiten?
B
Im Rahmen der anstehenden Verhandlungen der Eu-ropäischen Kommission wird sich die Bundesregierungsukzessive Meinungen bilden und im Rahmen der Euro-päischen Kommission abstimmen.Ich hatte Ihnen das Verfahren bereits erklärt: Wir be-finden uns derzeit in der ersten Beratungsrunde, in derdie angesprochenen Themen gar nicht Gegenstand sind.
Metadaten/Kopzeile:
1476 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014
Parl. Staatssekretärin Brigitte Zypries
(C)
(B)
Es läuft so ab, dass alle Mitgliedstaaten der Europäi-schen Union zu regelmäßigen Konsultationsverfahrenmit der Kommission in Brüssel zusammenkommen undman gemeinsam diskutiert, wie man weiter vorgeht.Wenn es so weit ist, werden Sie hinreichend rechtzeitiginformiert – genauso, wie der Deutsche Bundestag bisjetzt alle Veröffentlichungen zu den Verhandlungen überTTIP zugänglich gemacht bekommen hat.
Eine zweite Zusatzfrage. Bitte schön.
Danke. – Frau Staatssekretärin, würde eine eventuelle
Unterzeichnung von TTIP nach Einschätzung der Bun-
desregierung möglicherweise auch Auswirkungen auf
die in Deutschland geltenden Regelungen zur Nutzenbe-
wertung von Arzneimitteln und anderen Therapieverfah-
ren insgesamt haben, und wie würden diese unter Um-
ständen aussehen?
B
Frau Abgeordnete, das kann ich mir nicht vorstellen.
Nach derzeitigem Kenntnisstand ist für den Arzneimit-
telbereich keinerlei gegenseitige Anerkennung von Zu-
lassungsentscheidungen oder sonstigen Bewertungen
vorgesehen.
Herzlichen Dank. – Ich rufe die Frage 16 der Abge-
ordneten Birgit Wöllert, Fraktion Die Linke, auf:
Kann die Bundesregierung ausschließen, dass durch das
Freihandelsabkommen TTIP im Bereich der Palliativversor-
gung bzw. der Sterbebegleitung eine stärkere Markt- bzw.
Wettbewerbsorientierung zum Tragen kommt und auf diese
Weise bisher aktive, gemeinnützige Träger von privaten, ge-
winnorientierten Anbietern verdrängt werden?
Frau Staatssekretärin, bitte.
B
Frau Kollegin Wöllert, aus Sicht der Bundesregierung
gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass durch TTIP im
Bereich der Palliativversorgung und Sterbebegleitung
eine stärkere Markt- bzw. Wettbewerbsorientierung zum
Tragen kommen könnte oder gemeinnützige Träger von
privaten Trägern verdrängt werden könnten.
Eine Zusatzfrage, Frau Kollegin? – Bitte schön.
Sie sagen: keine Erkenntnisse. – Heißt das, Sie kön-
nen es ausschließen?
B
Wir gehen wenigstens nicht davon aus, dass dieser
Bereich überhaupt von TTIP betroffen sein wird.
Schönen Dank. – Ich rufe die Frage 17 des Kollegen
Harald Weinberg auf:
Kann die Bundesregierung ausschließen, dass sie ein
TTIP-Abkommen ratifizieren wird, das die Möglichkeit be-
inhaltet, dass Krankenhausleistungen zukünftig ausgeschrie-
ben werden müssen oder multinationale Unternehmen sich ei-
nen Zugang in die derzeit noch öffentlich und gemeinnützig
dominierte Krankenhauslandschaft einklagen können?
Frau Staatssekretärin, bitte.
B
Herr Abgeordneter Weinberg, es bestehen aus der
Sicht der Bundesregierung keine Anhaltspunkte dafür,
dass TTIP Auswirkungen auf die Ausschreibungspflicht
von Krankenhausleistungen haben könnte oder die Kla-
gemöglichkeiten multinationaler Unternehmen im Kran-
kenhausbereich erweitern könnte.
Haben Sie eine Zusatzfrage, Herr Kollege? – Bitte
schön.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Das interpre-
tiere ich jetzt so, dass dieses Thema nicht Gegenstand
der Verhandlungen ist und auch in Zukunft nicht sein
wird.
B
Davon gehen wir aus, ja.
Haben Sie noch eine Zusatzfrage dazu? – Nicht.
Ich rufe die Frage 18 des Kollegen Harald Weinberg
auf:
Kann die Bundesregierung ausschließen, dass sie ein
TTIP-Abkommen ratifizieren wird, das die Möglichkeit be-
inhaltet, dass Versicherungsunternehmen Zugang in das Sys-
tem der gesetzlichen Krankenkassen erhalten, oder das die
Möglichkeit beinhaltet, dass gesetzliche Krankenkassen Pri-
vatisierungstendenzen ausgesetzt werden?
B
Es bestehen aus Sicht der Bundesregierung am Ende
keine Anhaltspunkte dafür, dass TTIP Auswirkungen auf
den Zugang von Versicherungsunternehmen zum System
der gesetzlichen Krankenversicherung haben wird oder
eventuelle Privatisierungstendenzen gesetzlicher Kran-
kenkassen zur Folge haben könnte.
Zusatzfrage, Herr Kollege? – Bitte.
Frau Staatssekretärin, auch das interpretiere ich so,dass dieses Thema überhaupt nicht Gegenstand der Ver-handlungen sein wird. Es wird also auszuschließen sein,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014 1477
Harald Weinberg
(C)
(B)
dass internationale Versicherungsunternehmen, für dieder deutsche Krankenversicherungsmarkt durchaus einattraktiver Markt wäre, sich über den Weg von TTIP ei-nen Zugang verschaffen.B
Nur über diesen Weg – ja, das interpretieren Sie rich-
tig.
Wir kommen nun zu weiteren ursprünglich im Ge-
schäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft
und Energie gestellten Fragen.
Ich rufe die Frage 35 der Kollegin Susanna
Karawanskij der Fraktion Die Linke auf:
Wie positioniert sich die Bundesregierung in den Verhand-
lungen zur Transatlantischen Handels- und Investitionspart-
nerschaft, TTIP, zu der potenziellen Problematik, dass in
Deutschland über die Bundesanstalt für Finanzdienstleis-
tungsaufsicht, BaFin, ein Finanzinstrument, das für volkswirt-
schaftlich und verbraucherschutzpolitisch schädlich gehalten
wird – beispielsweise bestimmte Genussrechte –, zukünftig
möglicherweise vom Markt genommen werden kann, darauf-
hin jedoch der betroffene Finanzdienstleister, der diese Ge-
nussrechte emittiert, gemäß der TTIP eine Schadenersatzfor-
derung erheben könnte, weil durch das Verbot durch die
BaFin seine Gewinnerwartungen deutlich zurückgehen?
Frau Staatssekretärin, bitte.
B
Über die Einbeziehung des Investitionsschutzes in
TTIP haben wir ja nun hinreichend gesprochen. Laut
Verhandlungsmandat wird erst nach Vorlage des Ver-
handlungsergebnisses überhaupt darüber entschieden.
Haben Sie eine Zusatzfrage, Frau Kollegin? – Bitte
schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Bei TTIP geht es ja
nicht nur um eventuell geschmälerte Gewinnerwartun-
gen oder vermeintliche Handelsbarrieren, sondern auch
darum, dass Regulierungsanstrengungen blockiert wer-
den könnten.
Nun zu meiner Frage: Wie will die Bundesregierung
zukünftig sicherstellen, dass das Thema Finanzmarkt-
regulierung in den Verhandlungen nicht von vornherein
außen vor gelassen wird oder Finanzmarktregulierungen
nur auf einem niedrigen Niveau erfolgen, weil sie als
Handelshemmnis bzw. als Handelsbarriere aufgefasst
werden könnten?
B
Frau Abgeordnete, ich verstehe Ihre Frage so, dass
Sie wissen wollen, wie das mit dem Investitionsschutz
ist. Dann gilt dieselbe Antwort: Darüber wird erst nach
vollständigem Abschluss der Verhandlungen entschie-
den. Gerade Deutschland hatte sich ja sehr dafür einge-
setzt, dass über den Investitionsschutz erst am Ende aller
Verhandlungen entschieden wird. Das ist auf der Ver-
handlungslinie also ganz nach hinten gerutscht, und wir
befinden uns in dieser Woche ja auch erst in der ersten
Verhandlungsrunde.
Eine zweite Nachfrage? – Bitte.
Meine Frage ist: Welche Möglichkeiten gibt es im
Rahmen der TTIP-Verhandlungen, Finanzinstrumente
einzuschränken, die volkswirtschaftlich bzw. für die Ver-
braucherinnen und Verbraucher für schädlich gehalten
werden? Wie wird in den Verhandlungen darauf re-
agiert?
B
Noch einmal: Das steht ganz am Ende der Verhand-
lungen. Wir gehen davon aus, dass man über solche
Finanzinstrumente zunächst einmal dort verhandelt, wo
schon im Moment darüber verhandelt wird. Das ist ja
Gegenstand anderer internationaler Verhandlungsrun-
den.
Frau Kollegin Leidig hat dazu eine Frage.
Frau Staatssekretärin Zypries, ich möchte fragen, was
der Grund dafür ist, dass über das Investitionsschutzab-
kommen erst am Ende des gesamten Verhandlungspro-
zesses gesprochen werden soll, da es doch laut Bundes-
regierung eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dem
gesamten Paket zuzustimmen, dass ein solcher Investo-
renschutz nicht verankert wird. Um es umgekehrt zu sa-
gen: Wäre es nicht richtiger, die Bundesregierung würde
von vornherein klären, dass es keinen Investorenschutz
mit ausgelagertem Schiedsverfahren gibt, und dann erst
Verabredungen zu den einzelnen Bereichen treffen, die
in einem solchen Handelsabkommen verhandelt wer-
den?
B
Frau Kollegin Leidig, wir haben in dieser Fragestundeja schon über zahlreiche Gebiete gesprochen, bei denensich die Frage stellt: Werden sie mit aufgenommen, inwelchem Umfang werden sie mit aufgenommen? Usw.,usf. Unsere Auffassung war, dass wir zunächst einmaldie Verhandlungen angehen sollten. Über das Thema In-vestitionsschutz wollten wir ganz am Ende sprechen.Dabei wird es bleiben. Dafür haben wir uns eingesetzt.Wir glauben, dass das der richtige Weg ist.
Metadaten/Kopzeile:
1478 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014
(C)
(B)
Eine Zusatznachfrage ist nicht zulässig. – Jetzt hat der
Kollege Dr. Troost das Wort.
– Darf ich darauf hinweisen: Die Bundesregierung ent-
scheidet nach gängiger Parlamentspraxis, wie sie ant-
wortet, und die Kollegen entscheiden, wie sie fragen. –
Kollege Dr. Troost, bitte.
Ich ergreife die Chance, weil ich befürchte, dass
meine Fragen 43 und 44 nicht mehr aufgerufen werden.
Wir waren gerade bei Finanzdienstleistungen. Sie haben
gesagt, die würden nicht erfasst. Der von mir sonst nicht
sonderlich geschätzte Kollege Markus Söder hat im
Spiegel jetzt noch einmal gesagt, dass er durchaus ge-
wisse Befürchtungen hat, dass über TTIP Fragen wie
Finanztransaktionsteuer, Sekundenhandel und anderes
mehr möglicherweise doch Gegenstand werden könnten.
Habe ich Ihre Antwort so richtig verstanden, dass Sie sa-
gen, das wird nicht Gegenstand werden?
B
Genau. Ich habe nicht gesagt, dass das kein Gegen-
stand wird, sondern ich habe gesagt, dass wir der Auffas-
sung sind, dass das in den dafür zuständigen Gremien
geklärt werden sollte. Die Frage der Finanzdienstleistun-
gen wird ja beispielsweise in den G-20-Gremien geklärt.
Wir sind der Auffassung, dort sollte das zunächst gere-
gelt werden.
Schönen Dank. – Wir kommen zur Frage 36 der Ab-
geordneten Karawanskij:
In welchem Umfang möchte die Bundesregierung im Rah-
men der TTIP-Verhandlungen die Schutzrechte für öffentliche
Sparkassen bewahren, wenn zukünftig die Regel greift, dass
kein ausländischer Dienstleistungsanbieter schlechter behan-
delt werden darf als ein inländischer Anbieter – Inländerbe-
handlung – und in der Folge ausländische Dienstleistungs-
anbieter zum Beispiel aus dem Bankensektor genau diese
Schutzrechte ebenfalls einfordern?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
B
Die Bundesregierung möchte Sonderregelungen, wel-
che für die Sparkassen in den Gesetzen des Bundes und
der Länder bestehen, nicht in den Verhandlungen über
TTIP preisgeben.
Schönen Dank. – Haben Sie eine Zusatzfrage? – Das
ist nicht der Fall.
Ich kündige hiermit an, dass wir um 16.05 Uhr mit
der Aktuellen Stunde beginnen, es sei denn, dass wir ge-
rade mitten in einer Antwort sind. Also haben wir noch
knapp fünf Minuten in der Fragestunde.
Als Nächstes rufe ich die Frage 37 der Abgeordneten
Birgit Wöllert auf:
Kann die Bundesregierung ausschließen, dass durch das
Freihandelsabkommen TTIP im Bereich des Rettungsdienstes
Privatisierungen eingeleitet werden könnten und auf diese
Weise bisherige kommunale Träger von privaten, gewinnori-
entierten Anbietern verdrängt werden?
Frau Staatssekretärin.
B
Diese Antwort ist genauso wie die Antwort auf die
anderen Fragen in dem vergleichbaren Sachzusammen-
hang zuvor: Es bestehen aus der Sicht der Bundesregie-
rung keine Anhaltspunkte, dass durch TTIP im Bereich
der Rettungsdienste Privatisierungen eingeleitet oder auf
andere Weise befördert werden können.
Haben Sie eine Zusatzfrage, Frau Kollegin?
Ja.
Bitte.
Vielen Dank. – Frau Staatssekretärin, Ihre Antworten
hier zum Bereich der gesundheitlichen Daseinsvorsorge
könnten uns ja ein bisschen beruhigen. Deshalb meine
Nachfrage: Würden Sie mir bestätigen, dass der gesamte
Bereich des Gesundheitswesens als öffentliche Daseins-
vorsorge aus dem TTIP-Abkommen ausgenommen ist?
B
In dem Verhandlungsmandat der Europäischen Kom-
mission für das Freihandelsabkommen mit den USA ist
verankert, dass die hohe Qualität der öffentlichen Da-
seinsvorsorge in der Europäischen Union erhalten blei-
ben soll. Sie, Frau Abgeordnete, haben das Verhand-
lungsmandat genauso wie alle anderen Informationen
dazu vorliegen. Sie können sich gerne noch weiter da-
rüber informieren.
Nach Einschätzung der Bundesregierung wird das ge-
plante Freihandelsabkommen auch die Entscheidungs-
freiheit der regionalen Körperschaften über die Organi-
sation der Daseinsvorsorge vor Ort unberührt lassen.
Deswegen gibt es auch keine Anhaltspunkte dafür, dass
durch das TTIP-Abkommen im Bereich der Vergabe von
Rettungsdienstleistungen Privatisierungen befördert
werden könnten.
Noch eine Zusatzfrage?
Ja, eine Nachfrage hätte ich noch.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014 1479
(C)
(B)
Bitte.
Frau Staatssekretärin, Sie sagten ja, dass Sie jetzt
noch nicht über alle Regelungsbereiche verhandeln.
Schließen Sie das dann auch bereits für den Regelungs-
bereich Marktzugänge aus?
B
Das habe ich jetzt nicht ganz verstanden. Ich hatte ge-
sagt, dass die Verhandlungen gestuft sind, dass die erste
Verhandlungsrunde diese Woche stattfindet und dass der
Bereich Marktzugänge dort noch nicht thematisiert wird.
Die nächste Nachfrage hat der Kollege Lenkert. Bitte.
Frau Staatssekretärin, ich wiederhole die Aussage von
vorhin. Die Antwort auf meine Frage an die Bundesre-
gierung, ob es für die Schiedsgerichtsverfahren irgend-
welche Sektoreneingrenzungen gibt, lautete eindeutig:
Nein, es gibt keine Beschränkung. – Das heißt, auch all
die Bereiche, zu denen eben Fragen gestellt wurden,
ehrenamtliche Tätigkeiten, Daseinsvorsorge, Medizin,
wurden von der Bundesregierung in der Antwort an
mich bezüglich des Investitionsschutzabkommens expli-
zit nicht als ausgeklammert bezeichnet. Ich frage Sie
jetzt, wie Sie, wenn Sie im Vorfeld in allen anderen Ver-
handlungen diese Bereiche ausklammern, aber dann In-
vestitionsschutzklagen in diesen Bereichen zulassen, si-
cherstellen wollen, dass diese Wirkungen nicht doch
durch die Hintertür eintreten. Ich möchte auch gerne von
Ihnen wissen, wie Sie dann diese Sektoren schützen wol-
len.
Ich habe anschließend eine weitere Frage zu diesem
Bereich insgesamt.
Geschätzter Kollege, eine Frage bitte.
Ja, okay.
B
Herr Abgeordneter, wir haben vorhin nicht über ein-
zelne Bereiche gesprochen, die von irgendwelchen
Schutzabkommen ausgenommen sind, sondern ich habe
Ihnen immer gesagt, dass es eine Aussetzung der Ver-
handlungen gibt, dass wir eine Konsultation haben und
dass jeder, jede, jedes Parlament, jedes Mitglied eines
Parlaments, jede NGO und jeder andere Interessierte der
Europäischen Kommission seine Auffassung innerhalb
von drei Monaten mitteilen kann. Die Frage, welche ein-
zelnen Bereiche davon gegebenenfalls ausgeschlossen
sein könnten, war vorhin nicht Gegenstand der Debatte.
Als Nächste hat eine Nachfrage – das ist dann auch
die letzte in dieser Fragestunde – die Frau Kollegin
Vogler, Fraktion Die Linke.
Frau Staatssekretärin, wenn das bisher nicht Gegen-
stand der Debatte war, dann frage ich Sie hier und jetzt
– ich frage Sie nicht nach der Meinung von NGOs oder
der allgemeinen Öffentlichkeit, sondern nach der Mei-
nung der Bundesregierung –, welche Bereiche des öf-
fentlichen Lebens, des Wirtschaftslebens und der Da-
seinsvorsorge nach Auffassung der Bundesregierung
– womit geht sie in die Verhandlungen? – von einem sol-
chen Handelsabkommen und dem damit möglicherweise
verbundenen Investitionsschutz ausgeschlossen sein sol-
len. Ich frage hier ganz konkret auch nach den Bereichen
Arzneimittel, Medizinprodukte, Gesundheitsdienstleis-
tungen und Krankenhäuser, die hier schon angesprochen
worden sind. Können Sie das alles verbindlich ausschlie-
ßen oder nicht?
B
Frau Kollegin, in dem Verhandlungsmandat, das Ih-
nen bekannt sein müsste, ist verankert, dass die hohe
Qualität der öffentlichen Daseinsvorsorge in der Euro-
päischen Union erhalten bleiben soll.
– Ja, ich kann es nicht ändern; das ist nun einmal so. Das
kann ich Ihnen nur so mitteilen.
Natürlich betrifft das geplante Freihandelsabkommen
auch die Entscheidungsfreiheit der regionalen Körper-
schaften, in die ja ganz viele Zuständigkeiten für den Be-
reich, den Sie gerade angesprochen haben, fallen. Ich
denke, genau das wird nicht Gegenstand der Verhand-
lungen sein. Insofern kann man Sie, glaube ich, in wei-
ten Teilen beruhigen.
Herzlichen Dank, Frau Staatssekretärin. – Wir sinddamit am Ende der Fragestunde. Mit den übrigen Fragenwird gemäß der Geschäftsordnung verfahren.Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENHaltung der Bundesregierung zur Abschaf-fung des Optionszwangs im Staatsangehörig-keitsrechtAls erstem Redner erteile ich dem Kollegen VolkerBeck das Wort.
Metadaten/Kopzeile:
1480 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014
(C)
(B)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutsch-land tut sich mit dem Staatsangehörigkeitsrecht seit jeherschwer. Bis 1999 hat es gedauert, dass wir neben dasBlutsrecht, das Ausdruck einer spät gekommenen Nationim Staatsangehörigkeitsrecht war, endlich auch das Ge-burtsrecht gestellt haben. Dies geschah wegen des Bun-desrates damals allerdings zu dem Preis, dass wir diedoppelte Staatsangehörigkeit weitgehend vermieden unddie Optionspflicht für hier geborene junge Deutsche, dieausländische Eltern haben, eingeführt haben.Noch in der letzten Wahlperiode hat die Bundesregie-rung das Dogma betont, die Vermeidung von Mehrstaa-tigkeit sei „eines der prägenden Elemente des deutschenStaatsangehörigkeitsrechtes“ – so in einer Antwort aufeine Kleine Anfrage meiner Fraktion. Dagegen habender andere Teil des Hauses und die nicht mehr existenteFDP seit Jahren argumentiert und gesagt: Wir müssenbei der Einbürgerung liberalisieren. Wir müssen die Op-tionspflicht überwinden. – Die SPD hat in ihrem Regie-rungsprogramm geschrieben:Deshalb wollen wir die doppelte Staatsbürgerschaftvon Bürgerinnen und Bürgern akzeptieren.
Als Sie sich dann für die Verhandlungen zur GroßenKoalition zusammengesetzt haben, hat Ihr Parteivorsit-zender den Mund ganz schön voll genommen:Ich werde der SPD keinen Koalitionsvertrag vorle-gen, in dem die doppelte Staatsbürgerschaft nichtdrin ist.Na ja, ich habe auch schon Koalitionsverhandlungen ge-führt. Man kommt nicht immer eins zu eins mit dem ansZiel, was man sich vorgenommen hat.
Dann hieß es: Die Optionspflicht wird fallen. – HerrGabriel sah sich wenigstens in diesem Punkt bestätigt.Ehrlich gesagt, auch ich habe, wie die Sozialdemokra-ten, den Text Ihres Vertrages so verstanden, dass dieOptionspflicht nun ein für alle Mal Geschichte ist. Daheißt es:Für in Deutschland geborene und aufgewachseneKinder ausländischer Eltern entfällt in Zukunft derOptionszwang und die Mehrstaatigkeit wird akzep-tiert.Das ist eigentlich eine klare Ansage. Klar war sie bis zudem Tag, als der Referentenentwurf aus dem Bundesin-nenministerium kam, der nicht ein Optionspflichtab-schaffungsgesetz ist, sondern ein Optionspflichtverlän-gerungs- und -komplizierungsgesetz.
Wer mindestens zwölf Jahre in Deutschland lebt, da-von vier Jahre im Alter zwischen 10 und 16, der darfDeutscher bleiben, wer hier im Inland einen Schulab-schluss gemacht hat, auch, wer ihn in Paris gemacht hat,weil seine Eltern umgezogen sind, natürlich nicht. Wer13 Jahre in Deutschland war, davon in den letzten Jahrenaber nur drei Jahre hier war, verliert den deutschen Passauch. Wer ein Melderechtsvergehen begangen hat bzw.wessen Eltern ein Melderechtsvergehen begangen ha-ben, der verliert auch in Zukunft weiterhin die deutscheStaatsangehörigkeit. Das ist wirklich grober Unfug,
ein bürokratisches Monstrum und integrationspolitischverfehlt, weil es den jungen Deutschen sagt: Ihr seidDeutsche auf Probe. – Das darf nicht sein. Wer hier ge-boren ist und hier aufwächst, der gehört zu uns, und zwarmit allen Rechten und Pflichten, den müssen wir nichtwillkommen heißen, weil er schon da ist und Teil unse-rer Gesellschaft ist.
Im Bundesrat hat es Widerstand dagegen gegeben.Man hat gesagt: Wir wollen einen eigenen Vorschlagmachen; denn wir als Länder müssen diesen Bürokratis-mus am Ende ausbaden. Es sind die Ausländerämter derKommunen, also Behörden der Länder, die am Ende je-den einzelnen Fall der 40 000 Optionsfälle pro Jahr ab2018 in die Hand nehmen und nach diesen absurden Kri-terien durchprüfen müssen. – Die Länder haben daher zuRecht gesagt: Das wollen wir nicht machen. Wir brau-chen die Verwaltungskapazitäten für eine bessere Ein-bürgerung und andere Fragen.So etwas darf aber offensichtlich im Zeitalter der Gro-ßen Koalition auf Länderseite nicht diskutiert werden.
Herr Strobl, der gleich nach mir reden wird, sagt, dasgehe nicht. Wenn der Bundesrat an dieser Initiative fest-halte, dann – das sei klar – werde hier in Berlin über dasStaatsangehörigkeitsrecht überhaupt nicht geredet. HerrStrobl wirft der SPD vor, sich durch solche Geisterfahr-ten Koalitionsoptionen auch mit der Linkspartei warm-halten zu wollen, und sagt, das werde auf Dauer nichtgut gehen.Meine Damen und Herren, was auf Dauer nicht gutgeht, ist, wenn Sie meinen, der Bundesrat und die Lan-desregierungen seien bloße Erfüllungsgehilfen der Gro-ßen Koalition und da werde an die Vasallen in den Län-dern durchgestellt, was hier in Berlin im Kanzleramtoder im Koalitionsausschuss behandelt wird.
Nein, die Länder haben im föderalen Staat eine eigeneAufgabe, und sie haben Landesregierungen mit ver-schiedenen politischen Prioritäten.
Das ist gut so, und das muss auch so bleiben.Sie müssen Schluss damit machen – ich glaube, dieMenschen draußen im Lande sind es satt, sich das anzu-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014 1481
Volker Beck
(C)
(B)
hören –, dass darunter, dass Herr Friedrich geplapperthat und sich wie ein Minister in einer Bananenrepublikbenommen hat und Herr Oppermann ausgeplaudert hat,dass er sich wie in einer Bananenrepublik benommenhat,
das Ausländerrecht, die Migranten und die Qualität derPolitik für unser Land leiden müssen. Machen Sie Poli-tik für unser Land! Machen Sie es länderfreundlich! Ma-chen Sie es integrationsfreundlich und bürokratiearm!Dann können Sie unseren Gesetzentwurf oder den desBundesrates zur Grundlage für die Abschaffung derOptionspflicht nehmen. Das wäre angemessen. HörenSie auf mit den Kindereien zwischen den Koalitionspart-nern, bei denen es nur um die Demütigung des Partnersgeht! Es geht um Respekt vor den Rechten der Länder,und es geht um den Respekt vor den Menschen in unse-rem Land.
Als Nächstem erteile ich dem Kollegen Thomas
Strobl, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident Hintze! Werte Kolleginnen und Kolle-gen! Selin ist in Deutschland, in der Nähe von Stuttgart,geboren. Ihre Mutter ist Türkin. Auch der Vater ist türki-scher Staatsangehöriger. Sie ist nicht nur hier geboren.Als sie in die Schule gekommen ist, konnte sie schon einbisschen rechnen. Sie ist zweisprachig aufgewachsen.Selin ist ein intelligentes, fleißiges Mädchen, gut voran-kommend in der Schule. Deswegen geht sie auf ein ba-den-württembergisches Gymnasium. Dort macht sieAbitur. Sie möchte in Deutschland bleiben und Physikstudieren. Wir haben mit den Sozialdemokraten verein-bart, dass wir sie nicht vor die Frage stellen wollen, obsie sich für die türkische – weil natürlich ihre Eltern ausder Türkei kommen und ihre Großeltern dort noch le-ben – oder für die deutsche Staatsbürgerschaft entschei-den will, sondern wir haben gesagt: In diesem Fallakzeptieren wir die deutsche Staatsbürgerschaft als Dop-pelstaatsbürgerschaft, damit Selin in Deutschland auchwählen kann und möglicherweise eines Tages Bundes-kanzlerin wird.
Das ist unsere Vereinbarung.Jetzt gibt es aber leider nicht nur Selin, sondern esgibt auch Abida. Über diesen Fall sind von türkischenFrauen ganze Bücher geschrieben worden. Es ist näm-lich so, dass Abida in Deutschland geboren wird undkurz nach ihrer Geburt in die Türkei verbracht wird;denn der Vater möchte nicht, dass sie in dieser dekaden-ten verweltlichten Republik aufwächst. Sie kommt ganzbewusst zu den Großeltern nach Anatolien, geht dort aufeine Koranschule. Mit 15 Jahren heiratet sie einenMann, den sie vorher noch nie gesehen hat. Sie sprichtkein Deutsch, sie hat Deutschland nie gesehen, sie hatmit Deutschland null Komma null Identifikation. Dasmöchte ihre Familie so.
Ich möchte das gar nicht bewerten; aber klar ist – jeden-falls für die Unionsfraktion –: Das ist nicht das, was wiruns unter einer gelungenen Integration vorstellen.
Jedenfalls wollen wir solche Fälle nicht auch noch miteiner deutschen Staatsbürgerschaft honorieren.
Was wollen wir, und was haben wir mit den Sozialde-mokraten in den Koalitionsverhandlungen vereinbart?Wir haben gesagt: Wenn jemand mit ausländischen El-tern hier geboren und aufgewachsen ist, akzeptieren wirdie Doppelstaatsbürgerschaft. – Der Kollege Beck hathier auf die Länderinteressen verwiesen. Ich habe auchvonseiten der Länder den Vorwurf gehört, dass da eineungeheure Bürokratie aufgebaut werde.
Zum Ersten möchte ich fragen: Wo waren eigentlich dieLändervertreter bei den Koalitionsverhandlungen? Ichhabe keinen Einzigen bemerkt, der dieses Argument inden Koalitionsverhandlungen auch nur eine Sekundelang vorgetragen hätte. Zum Zweiten, Herr KollegeBeck, wissen Sie ganz genau: Das Ganze ist doch einepolitische Frage. Ich respektiere Ihre Meinung; aber einZeugnis vorzulegen, um einen Schulbesuch nachzuwei-sen, das ist doch kein Bürokratiemonstrum. Zeugnissehat jeder, der eine Schule besucht hat.
Diesen minimalen bürokratischen Aufwand dürfen wir,glaube ich, schon verlangen.
Verstehen Sie: Es geht um die deutsche Staatsbürger-schaft. Ein Zeugnis vorzulegen, um einen Schulbesuchnachzuweisen, ist, glaube ich, nicht zu viel verlangt.
Metadaten/Kopzeile:
1482 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014
Thomas Strobl
(C)
(B)
Wir reden hier nicht über die Verlängerung einer Park-zonenerlaubnis. Es geht um die deutsche Staatsbürger-schaft. Es geht um die Frage: Wie definieren wir unserStaatsvolk? Es geht um die Frage: Wer ist hier Bürgerin,wer ist hier Bürger? Es geht um die Frage: Wer ist die-sem Land lebenslang mit Rechten und Pflichten verbun-den? Es geht nicht zuletzt um die Frage: Wer ist hierwahlberechtigt? Wer kann hier Bundeskanzlerin oderBundeskanzler wählen?
Das ist keine triviale Frage. Wir werden diese Frage,Herr Kollege Beck, auch nicht nach dem entscheiden,was jetzt drei Länder aus einem Wahlprogramm vomSeptember 2013 abgeschrieben haben, sondern wir wer-den das, wie es diese wichtige Thematik verlangt, in al-ler Gründlichkeit mit den Sozialdemokraten beraten aufder Basis dessen, was wir im Koalitionsvertrag gemein-sam ausgehandelt haben. Ich bin ganz sicher, dass wir zueinem guten Ergebnis kommen werden.Danke fürs Zuhören.
Als Nächster erteile ich das Wort der Kollegin Petra
Pau, Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beider Optionspflicht geht es um eine Bestimmung desStaatsbürgerschaftsrechts, die seinerzeit unter der rot-grünen Bundesregierung eingeführt wurde und nun wie-der abgeschafft werden soll. Ich darf hier daran erinnern,dass die Linke schon damals gegen die Optionspflichtund für eine generelle Hinnahme von doppelten Staats-bürgerschaften gestimmt hat.
Kollege Strobl, in Ihrer Rede wurde ganz deutlich,worum es im Kern geht. Im Kern geht es darum, dassjunge Deutsche mit türkischen Wurzeln zwei Jahrzehntelang die deutsche und die türkische Staatsbürgerschafthaben, sich dann aber entscheiden müssen, entweder fürdie deutsche und gegen die türkische Staatsbürgerschaftoder andersherum. Übersetzt müssen die jungen Leutezwischen Wir und Ihr entscheiden, ohne Not und würde-los. Das findet die Linke falsch.
Der politische Konflikt ist übersichtlich: Die CDU/CSU spiegelt den einen Pol wider, die Linke den ande-ren. Die CDU/CSU will eigentlich gar keine doppelteStaatsbürgerschaft und wenn doch, dann mit möglichsthohen Hürden. Die Linke will grundsätzlich doppelteStaatsbürgerschaften, im Übrigen nicht nur deutsch-tür-kische.
Die Grundlagen des deutschen Staatsbürgerschaftsrechtsstammen übrigens aus einer Zeit, die nicht im Ansatzverlängert werden sollte. Wir wollen ein offenes Staats-bürgerschaftsrecht und kein ausgrenzendes.
Der anhaltende Streit dreht sich um Pässe und dazu-gehörige Rechte. Infrage steht aber zugleich das gesell-schaftliche Klima hierzulande. Ein Beispiel möge dashier illustrieren. Es ist drastisch und hat Bezug zurMordserie der NSU-Nazibande. Wir sollten gemeinsamdarüber nachdenken.Im Jahr 2001 wurde in Hamburg Süleyman Tasköprühingerichtet. Aysen Tasköprü ist seine Schwester. 2013schrieb sie an Bundespräsident Joachim Gauck dieseZeilen:Noch im März 2011 konnte ich darüber lachen, alseine Sachbearbeiterin im Rathaus zu meinem Sohnsagte, er sei kein Deutscher. Der Kleine war ganzerstaunt und erklärte ihr sehr ernsthaft, dass er sehrwohl Deutscher sei, er habe schließlich einen deut-schen Pass. …Heute kann ich darüber gar nicht mehr lachen. Ichhatte mal ein Leben und eine Heimat. Ich habe keinLeben mehr. …Ich habe auch keine Heimat mehr, denn Heimat be-deutet Sicherheit. Seitdem wir wissen, dass meinBruder ermordet wurde, nur weil er Türke war, ha-ben wir Angst. Was ist das für eine Heimat, in derdu erschossen wirst, weil deine Wurzeln woanderswaren?Nun reden wir heute nicht über das NSU-Desasterund natürlich auch nicht über Mord, wohl aber über Hei-mat, in der man sich wohl und auch sicher fühlen soll,auch mit fremden Wurzeln. Ein Doppelpass wäre hierhilfreich.
CDU/CSU und SPD haben eine Lösung versprochen.Wir warten auf Vorlage derselben, aber stattdessen gibtes Zoff. Aktueller Stein des Anstoßes ist eine Bundes-ratsinitiative zu diesem Thema, die von drei Bundeslän-dern getragen wird, in denen die SPD mitregiert. Daswäre Wortbruch und wider die Große Koalition imBund, schimpfen Unionspolitiker und drohen mit Boy-kott in der Sache. Ich empfehle Ihnen: Nehmen Sie dieBundesratsvorlage, und machen Sie sie bei allen Män-geln zum Bundesgesetz. Die Linke wäre dabei.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014 1483
Petra Pau
(C)
(B)
Abschließend sei noch gesagt: Wenn sich Teile derGroßen Koalition im Bund so groß wähnen, dass sieLandesregierungen und Landesparlamenten vorschrei-ben wollen, was diese im Bundesrat dürfen und wasnicht, dann streichen Sie den Föderalismus doch gleichaus dem Grundgesetz – und die Demokratie ebenso. Daswäre zwar grundfalsch, aber konsequent. Ich denke, vondieser Seite des Hauses sollten noch immer die wohlver-standenen Interessen der Bundesländer vertreten wer-den.
Als Nächste hat die Kollegin Dr. Eva Högl, SPD-
Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich möchte es zu Beginn einmal ganz deutlichsagen: Diese Große Koalition wird den Optionszwangabschaffen.
Das werden wir als eine der ersten Maßnahmen dieserGroßen Koalition tun.Wir haben eine Formulierung im Koalitionsvertrag,die schon zitiert worden ist
– Sie müssen gar nicht so aufgeregt sein; wir können dasruhig miteinander diskutieren –:
Für in Deutschland geborene und aufgewachseneKinder ausländischer Eltern entfällt in Zukunft derOptionszwang und die Mehrstaatigkeit wird akzep-tiert.Das ist so weit klipp und klar; ich komme gleich zuden Schwierigkeiten. Wir bringen damit ganz deutlichzum Ausdruck, dass der Optionszwang abgeschafft wird.Ich sage es ganz deutlich: Die Optionspflicht schadetder Integration. Das stellen wir immer wieder fest. Siebelastet die Verwaltung, und sie passt nicht zu einemmodernen Land wie Deutschland.
Deswegen schaffen wir sie für viele Menschen, die da-von betroffen sind, ab.
Natürlich ist das in der Koalition ein umstrittenesThema; das leugnet hier doch niemand. Das war eineschwere Entscheidungsfindung in der allerletzten Nachtder Koalitionsverhandlungen. Das wissen alle, die indiesem Haus sind, und das wissen alle, die diese Debatteverfolgen.
Das ist nicht unumstritten, und es ist auch richtig so,weil es nämlich ein wichtiges Thema ist, weil es um eineganz grundsätzliche Frage geht, die viele Menschen inunserem Land betrifft.
Wir als SPD nehmen für uns in Anspruch, dass wir un-sere Position bei den Koalitionsverhandlungen durchge-setzt haben. Das ist für uns ein Erfolg. Auch das möchteich hier sehr deutlich sagen.
Natürlich ist es kein Geheimnis – es ist ein offenesGeheimnis –, dass die beiden Wörter „und aufgewach-sen“ nicht einfach zu definieren sind. Wir ringen darum,eine vernünftige Formulierung zu finden, was wir mit„und aufgewachsen“ meinen.
Unsere generelle Linie ist: Wir schaffen die Options-pflicht ab, und wir erleichtern die Möglichkeit, die dop-pelte Staatsangehörigkeit zu behalten, für viele Men-schen in unserem Land.
Für uns soll es nicht länger Deutsche auf Probe geben.Wir wollen diejenigen nicht schlechterstellen, die bisherschon ein Recht darauf haben, eine deutsche Staatsange-hörigkeit zu bekommen und eine andere zu behalten.Wir wollen nicht zu viel Bürokratie schaffen und selbst-verständlich internationale Lebensläufe und die europäi-sche Freizügigkeit berücksichtigen. Trotzdem – das be-sagt die Formulierung „und aufgewachsen“ – wollen wirsicherstellen, dass die betroffenen Personen einen Bezugzu Deutschland haben. Es ist gut, dass wir versuchen,
Metadaten/Kopzeile:
1484 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014
Dr. Eva Högl
(C)
(B)
das sicherzustellen. Das ist der Kompromiss, den wir inder Großen Koalition gefunden haben.
Deshalb rate ich zu ein bisschen weniger Aufregung undzu mehr sachlicher Diskussion.
Es gibt einen ersten Vorschlag des Bundesinnenminis-ters – das ist eine ganz normale Verfahrensweise –, unddarüber gibt es eine Abstimmung innerhalb der Bundes-regierung. Für uns als SPD ist ganz klar, dass dieser Ent-wurf nicht das letzte Wort ist. Ich zitiere einmal einenfrüheren Fraktionsvorsitzenden von uns; auch das ist ge-übte Praxis im Deutschen Bundestag. Nach demStruck’schen Gesetz verlässt ein Gesetzentwurf denBundestag nicht so, wie er hineingekommen ist. Daswird vermutlich auch für diesen Gesetzentwurf gelten.
Für die SPD ist ganz klar – ich sage das noch einmalsehr deutlich –: Wir wollen selbstverständlich nicht, dassalle betroffenen Personen einzeln den Nachweis erbrin-gen müssen, dass sie nicht optionspflichtig sind. Viel-mehr sagen wir: Das ist ein falsches Signal. Wir wollendas Verfahren erleichtern. Wir wollen den Entschei-dungszwang abschaffen. Wir werden – seien Sie dessenversichert, Kolleginnen und Kollegen von der Opposi-tion – eine vernünftige Lösung für genau diese Frage fin-den, eine gute und praktikable Lösung.
Jetzt noch etwas zu der Initiative der Bundesländer.Die Bundesländer haben das gute Recht, eine Initiativein den Bundesrat einzubringen. Das spricht ihnen über-haupt niemand ab; das ist ihr gutes Recht.
– Jetzt rede ich und nicht Herr Strobl.
Das drückt doch etwas aus, Herr Beck; das wissen Sieganz genau, das wissen alle Beteiligten hier. Die SPDwollte mehr. Die SPD möchte die doppelte Staatsange-hörigkeit für einen viel größeren Personenkreis, auch fürPersonen, die hier schon länger leben. Wir können denBundesländern, in denen die SPD mitregiert, eine solcheBundesratsinitiative selbstverständlich nicht verwehren.Aber ich rate auch hier zu ein bisschen weniger Aufre-gung; denn für die gesamte SPD, im Bund und in denLändern, gilt der geschlossene Koalitionsvertrag. Dassage ich hier unmissverständlich.
Deswegen werden wir hier gemeinsam partnerschaftlichund sachorientiert daran arbeiten, eine gute Lösung zufinden.
Wir ignorieren die Störungen von außen. Wir freuen unsüber kluge Hinweise von Ihnen, Herr Beck, wie wir dieWörter „und aufgewachsen“ gut definieren können. Ichverspreche Ihnen, Herr Beck: Bei der nächsten Debattezum Thema Optionszwang werden wir eine gute Rege-lung vorgelegt haben.Ich freue mich auf die Beratungen zu dem Gesetzent-wurf der Bundesregierung und auf Ihre Unterstützungbei der Abschaffung des Optionszwangs; denn darumgeht es.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Özcan Mutlu, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bisher ha-ben wir von den Vertreterinnen und Vertretern der Regie-rungskoalition leider weder etwas Neues noch etwasKonkretes gehört.
Frau Eva Högl hat deutlich gemacht, dass sie auf dieEinlösung ihrer Versprechen im Wahlkampf noch längstnicht verzichtet hat. Herrn Strobl ist das Thema so wich-tig, dass er nach seinen Tiraden den Saal verlassen hat.
Eines ist aber erneut klar geworden: Sie von der GroßenKoalition haben weder eine gemeinsame Haltung in die-ser wichtigen Frage, noch wissen Sie überhaupt, wohindie Reise geht. Das ist ein Problem. Die Wahrheit istdoch: Die SPD konnte sich und kann sich nach wie vor
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014 1485
Özcan Mutlu
(C)
(B)
nicht durchsetzen, und die CDU hat ihre weltoffeneMaske schnell abgelegt.Das, was Sie als Entwurf vorlegen oder demnächstzur Diskussion stellen wollen, ist nicht die Abschaffungdes Optionszwangs. Im Gegenteil: Sie perfektionierenihn, indem Sie ihn zum einen mit Attributen versehen,die mehr Bürokratie bedeuten, und zum anderen den be-troffenen Jugendlichen sagen: Wir wollen euch schonhaben, aber wir wollen auch Hürden. – Genau das ist dasProblem, und das machen wir nicht mit.
Anders sind der Hickhack in der GroKo und Ihre Hin-haltetaktik nicht zu verstehen. Sie ziehen sich auf die In-terpretation von Nebensätzen im Koalitionsvertrag zu-rück; Sie versteigen sich und betreiben Wortklauberei.Für all die betroffenen jungen Menschen, die jetzt viel-leicht unsere Debatte im Parlamentsfernsehen sehen, istdas keine Botschaft, die wir aus diesem Hohen Hausesenden wollen.Es ist ein Skandal, wie Sie seit Monaten mit diesemgesellschaftlich wichtigen Thema umgehen. Ich findeIhre Spielchen in dieser Auseinandersetzung einfach be-schämend, weil Sie verkennen, dass diese jungen Men-schen sich sehr wohl zu diesem Land bekennen können,auch wenn sie die Staatsbürgerschaft der Eltern oderGroßeltern beibehalten.Wir reden inzwischen von hybriden Identitäten, undSie bestehen darauf und verlangen, dass diese jungenMenschen ein einseitiges und alleiniges Bekenntnis zuDeutschland abgeben, im Wissen, wie schwierig das invielen Fällen ist. Genau das ist das Problem in dieser De-batte.Es ist auch beschämend, weil Sie diese Auseinander-setzung auf dem Rücken dieser jungen Menschen austra-gen, die tagtäglich zwangsweise ausgebürgert werden.
Inzwischen sind schon 400 Menschen per Gesetz ausge-bürgert worden. Es geht um 8 500 – das sind im ÜbrigenZahlen aus den Statistiken des Bundesinnenministeriums –,die sich in den nächsten zwei Jahren entscheiden müs-sen. Wir Grünen sagen: Damit muss Schluss sein.Schluss mit diesem Optionszwang, ohne Wenn undAber!
Sie reden von Integration – das hat auch KollegeStrobl gemacht –, wollen aber dieses integrationsfeindli-che Instrument fortführen und ausbauen. Wir schaffendamit, wenn es – gegen unsere Stimmen – durchkommt,ein Bürokratiemonster, das Geld und Zeit kostet und un-nötigen Ärger verursacht.Oliver Welke von der heute-show – er ist Ihnen allenbekannt – brauchte nur den Vorschlag von Bundesinnen-minister de Maizière vorzulesen und hatte schon die La-cher auf seiner Seite. Aber das Schlimme an dieser De-batte ist, dass es keine Satire ist. Der Innenministermeint es ernst. Er will die Optionspflicht abschaffen,heißt es. Ich meine, er will sie nur neu interpretieren.Hier geboren und aufgewachsen muss man dann sein.Aber die Frage, was „aufgewachsen sein“ bedeutet, hatuns auch heute niemand beantwortet.Wie viele Jahre muss man Luft in Deutschland geat-met haben, damit man tatsächlich deutsch genug ist?Kann man nicht im Ausland aufwachsen und trotzdemwertvoller Teil dieser Gesellschaft sein, vor allem in ei-nem immer stärker zusammenwachsenden Europa?Wie lässt sich der Entwurf des Innenministers mit derFreizügigkeit in Europa vereinbaren? Kollege Beck hates bereits gesagt. Was ist denn, wenn meine Tochter tat-sächlich nach Paris geht, dort ihren AbiBac macht undzurückkommt? Dann hat sie keinen deutschen Schulab-schluss, und sie darf nicht die doppelte Staatsbürger-schaft behalten. Das ist ein Problem.Ein Problem ist es, dass Sie optionspflichtigen Kin-dern oder Jugendlichen, die einen ausländischen Ab-schluss machen, dies zum Verhängnis machen. Das passtweder hinten noch vorne zusammen, liebe Kolleginnenund Kollegen. Deshalb werden wir Ihren Entwurf ableh-nen.
Seien Sie vernünftig! Beenden Sie diese Interpreta-tionsschlacht! Wir sagen: Chancengerechtigkeit für alle.Hören Sie auf, die Andersartigkeit mit irgendwelchenInterpretationen zu manifestieren und der Integration zuschaden!Aus diesem Grunde sagen wir, dass die Vorschlägeaus den Ländern bzw. die Bundesratsinitiative der Län-der Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Schles-wig-Holstein richtig sind. Begreifen Sie das als eine Un-terstützung, liebe Kollegen von der SPD! Nehmen Siedas an, und setzen Sie sich endlich durch! Lassen Sienicht zu, dass sich ein Herr Strobl und Gleichgesinnte indieser für unsere Gesellschaft wichtigen Frage durchset-zen.Zuletzt möchte ich Herrn Gabriel und Frau Özoğuz anihre Versprechen wenige Tage vor dem Mitgliederent-scheid der SPD erinnern. Da stand es nämlich klar unddeutlich: Der Optionszwang wird abgeschafft. – Dastand nicht: Wir interpretieren das neu.In diesem Sinne hoffe ich auf Ihre Vernunft. Auf Un-terstützung von der rechten Seite brauche ich nicht zuhoffen. Aber Sie, meine Damen und Herren von derSPD, haben die Gelegenheit, ein gutes Gesetz zu ma-chen.Ich danke Ihnen.
Ich darf das Haus informieren, dass sich der KollegeStrobl entschuldigt hat – und zwar meiner Ansicht nachbei allen Fraktionen –, weil er als stellvertretender Frak-tionsvorsitzender nun in verantwortlicher Funktion einer
Metadaten/Kopzeile:
1486 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014
Vizepräsident Peter Hintze
(C)
(B)
Anhörung beizuwohnen hat. Deswegen hat er seine Ab-wesenheit beim weiteren Fortgang der Debatte entschul-digt.Als Nächstem erteile ich dem Kollegen HeinrichZertik von der CDU/CSU-Fraktion das Wort zu seinerersten Rede im Deutschen Bundestag. Herr Zertik, bitte.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir spre-chen heute über die Staatsangehörigkeit. Ich selber binin Kasachstan geboren und mit meiner Familie Ende der80er-Jahre nach Deutschland gekommen. Wir haben da-rum gekämpft, hierherzukommen. Es war schwierig undmühselig, die nötigen Papiere für zahlreiche Anträge zu-sammenzustellen und unsere Ausreise voranzutreiben.Warum haben wir es getan? Weil wir aus voller Über-zeugung in Deutschland leben wollten. Für uns war eskeine Frage, ob wir unsere alte Staatsbürgerschaft behal-ten oder nicht. Uns war klar, dass wir die deutscheStaatsbürgerschaft haben wollten, nicht nur um alleRechte zu erlangen, sondern auch bewusst Pflichten alsdeutsche Staatsbürger zu übernehmen.
Es war nicht immer einfach, hier heimisch zu werden.Zu Hause haben wir Deutsch gesprochen, Alltags-deutsch.
– Ich komme gleich darauf zurück. – In Deutschlandstellten wir dann fest, dass wir nicht immer verstandenwurden. Aber wir hatten und haben den festen Willen,uns hier zu beheimaten. Inzwischen sind viele meinerLandsleute in Deutschland angekommen. Unter ihnensind viele Beispiele für eine gelungene Integration.Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklunghat 2009 einen Index zur Messung von Integration vor-gestellt. Demnach liegt der Anteil der Personen zwi-schen 20 und 64 Jahren, die weder einen schulischennoch einen beruflichen Abschluss erreicht haben, beiAussiedlern unter 3 Prozent. Warum erzähle ich Ihnendas? Ein Bildungsabschluss ist ein Zeichen für eine ge-lungene Integration. Das lässt sich auch anhand der Zah-len für berufliche Bildungsabschlüsse belegen. 12 Pro-zent der Spätaussiedler haben einen Abschluss alsMeistertechniker erworben bzw. eine Berufs- oder Fach-hochschule abgeschlossen. Bei Personen ohne Migra-tionshintergrund liegt der Wert bei 14 Prozent, alsogeringfügig darüber. Bei Personen mit Migrationshinter-grund liegt der Wert bei 9 Prozent. Das müssen wir nochverbessern. Ein Abschluss ist der Zugang zu einem Ar-beitsplatz und damit zur Sicherung des Lebensunter-halts. Es geht also darum, Integrationsbemühungen zufördern und Potenziale zu nutzen. Die Anerkennung aus-ländischer Bildungsabschlüsse, die 2011 beschlossenund in Gesetzesform gegossen wurde, ist dafür ein wich-tiger Schritt. Leider haben einige SPD-regierte Länderdies noch immer nicht umgesetzt.Angela Merkel, unsere Bundeskanzlerin, hat von ei-ner Willkommenskultur gesprochen. So steht es auch imKoalitionsvertrag. Da gibt es noch Defizite und einigeszu tun. Keiner oder keine soll benachteiligt sein, weil eroder sie aus einem anderen Kulturkreis stammt. UnsereAufgabe als Parlamentarier ist es, diese Willkommens-kultur zu fördern und zu stärken. Wir müssen dafürSorge tragen, dass sich alle Menschen, die sich bewusstentscheiden, hier zu leben, unsere Werte zu akzeptierenund hier ihren Lebensunterhalt zu verdienen, gut aufge-nommen fühlen. Da helfen mehrere Staatsbürgerschaftenwenig. Es hilft aber, wenn sie den Eindruck gewinnen,dass sie gewollt sind, dass ihre Person geschätzt wird,weil sie sich in die Gesellschaft einbringen. Wenn dasder Fall ist, dann verspreche ich Ihnen: Diese Menschenwerden nicht den Wunsch haben, mehrere Staatsbürger-schaften zu behalten, sondern sie werden sich aus vollemHerzen und aus voller Überzeugung für die deutscheStaatsbürgerschaft entscheiden.
Trotzdem werden sie ihre kulturellen Wurzeln nichtvergessen, trotzdem sprechen sie noch ihre Mutterspra-che. Das ist für Deutschland eine große Bereicherung;denn diese Menschen sind Kulturbotschafter ihrer Län-der. Es ist notwendig, die deutsche Sprache zu beherr-schen, um hier die Ausbildung zu absolvieren und sichin das Arbeitsleben produktiv einzubringen. Um einezweite Sprache zu sprechen, um sich im Land ihrer Vor-fahren zurechtzufinden, verwandtschaftliche Beziehun-gen zu pflegen und die dortige Kultur zu erleben und zuerfahren, dafür nutzen mehrere Staatsbürgerschaften aufdem Papier nichts. Es geht um die Identifikation, um dieIdentifikation mit Deutschland, mit unserer Kultur undunserer Geschichte. Es geht um die Identifikation mitunseren Grundwerten Demokratie und Freiheit.Vielen ausländischen Mitbürgern ist das bewusst. Dasbelegen auch Zahlen einer Einbürgerungsstudie, die dasBundesamt für Migration und Flüchtlinge zur Optionsre-gelung im Jahr 2011 erstellt hat. Demnach schaffen so-ziale und berufliche Einbettung starke alltagspraktischeBindungen. Dies gilt auch für die privaten und berufli-chen Zukunftsplanungen, die sich bei den befragtenOptionspflichtigen überwiegend auf Deutschland rich-ten. Knapp 90 Prozent der Optionspflichtigen, die be-fragt wurden, haben sich für den deutschen Pass ausge-sprochen, weil sie hier ihren Lebensmittelpunkt haben,weil sie die Rechte eines deutschen Staatsbürgers behal-ten wollen, weil sie auch die Vorteile nutzen möchten,als EU-Bürger zu reisen, zu leben und zu arbeiten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Optionszwang hinoder her – das ist eine Formalität. In Deutschland kannjeder, der sich mit diesem Land und seinen Werten iden-tifiziert, der die Sprache spricht und für seinen Lebens-unterhalt sorgen kann, hier eingebürgert werden und ei-nen deutschen Pass erhalten.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014 1487
Heinrich Zertik
(C)
(B)
Er oder sie kann deutscher Staatsbürger werden, ohneWenn und Aber, mit allen Rechten und Pflichten. Daswollen wir fördern und unterstützen. Das verstehe ichunter Willkommenskultur. Das deutsche Staatsbürger-recht ist nicht so schlecht, wie manche denken oder sa-gen. Wir sollten daran festhalten, dass der, der sich zurdeutschen Staatsbürgerschaft bekennt, sich mit Deutsch-land identifiziert. Das sind die Menschen, die wir brau-chen. Sie sind es, die Deutschland bereichern.Danke schön.
Wir gratulieren dem Kollegen Heinrich Zertik herz-
lich zu seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag zu
diesem spannenden und herausfordernden Thema.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Kolle-
gin Christine Buchholz, Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir fin-den es gut, dass drei rot-grüne Bundesländer die Bundes-ratsinitiative gestartet haben, das Recht auf doppelteStaatsbürgerschaft für Kinder, die hier geboren sind, zugewähren; denn damit würde der diskriminierende Op-tionszwang, nach dem sich diese Kinder zwischen zweiStaatsbürgerschaften entscheiden müssen, endlich bedin-gungslos abgeschafft.
Denn was bedeutet Optionszwang praktisch? Im Re-gierungsbezirk Darmstadt, in dem mein Wahlkreis liegt,haben bereits im ersten Halbjahr 2013 28 Jugendlichedie deutsche Staatsangehörigkeit automatisch verloren,fast alle Kinder türkischer Eltern. Diese jungen Men-schen besitzen jetzt nur noch die Staatsangehörigkeit ih-rer Eltern. In Hanau verlor eine 23-Jährige ihren deut-schen Pass, weil sie nicht rechtzeitig zwischen deutscherund türkischer Staatsangehörigkeit gewählt hat. Dabeihätte sie lieber den deutschen Pass behalten. Sie hatkeine Chance, das Versäumnis zu heilen; die Behördesieht keinen Spielraum.248 jungen Menschen wurde 2013 durch den Op-tionszwang bundesweit die deutsche Staatsbürgerschaftentzogen, der überwiegenden Mehrheit, weil sie Fristenversäumt hat. Was bedeutet das für diese jungen Men-schen, die bereits 23 Jahre lang Deutsche waren? Wiefühlt sich das für sie an?Was bedeutet das für diese jungen Menschen, die inDeutschland eine Wohnung, eine Arbeit, einen Ausbil-dungsplatz oder einen Studienplatz finden wollen, dadoch klar ist, dass es Diskriminierung gibt und das ohneeine deutsche Staatsbürgerschaft schwieriger ist?Union und SPD haben im Koalitionsvertrag verein-bart, Kindern von Zuwanderern die doppelte Staatsange-hörigkeit zu gewähren, sofern sie in Deutschland gebo-ren und aufgewachsen sind. Man könnte es so verstehen,als ob der Optionszwang damit abgeschafft würde. Aberich sage Ihnen: Ihr angeblicher Doppelpasskompromissist faul. Die Optionspflicht bleibt, und sie wird noch bü-rokratischer. Sogenannte Optionskinder müssen unterBeweis stellen, dass sie „richtige Deutsche“ sind. AlsNachweis sollten dafür die Betroffenen die Geburtsur-kunde, eine deutsche Meldebescheinigung und ein deut-sches Schulabschlusszeugnis vorlegen. Wenn Sie, HerrKollege Strobl, sagen: „Das sollen sie doch machen“,dann ignorieren Sie bewusst und wissentlich, dass eseine Diskriminierung von Migranten im deutschen Bil-dungssystem gibt. Herr Strobl, damit erschweren Sie ge-rade diesen Jugendlichen die Erlangung der deutschenStaatsbürgerschaft und damit des Doppelpasses.
Warum wollen CDU und CSU diese Optionspflichtunbedingt beibehalten, dieses bürokratische Monster,wie es der Kollege Veit in der vergangenen Legislaturrichtigerweise bezeichnet hat? Eine Überprüfung vonHunderttausenden Lebensläufen wird damit verewigt.Selbst nach Angabe von Innenminister de Maizière wer-den 90 Prozent aller sogenannten Optionskinder beideStaatsangehörigkeiten behalten können. Warum danndiese Schikane? Ich sage es Ihnen: Die Optionspflichtgilt nicht für Kinder von EU-Bürgern oder Schweizern.Im Wesentlichen ist die Optionspflicht eine Diskriminie-rung von Kindern türkischer Eltern in Deutschland.
Sie ist in Gesetz gegossener Rassismus. Auch deshalbmuss der Optionszwang dringend weg.Es ist eine Schande, dass die Bundestagsfraktion derSPD, die SPD-geführten Länder und auch die Grünen inHessen nun dem Gesetzesantrag der drei rot-grün ge-führten Bundesländer in den Rücken fallen.
Selbst die Initiatoren dieses Antrags dieser drei Ländersind weichgekocht worden. Der Gesetzentwurf soll nunnach Aussage der rheinland-pfälzischen Ministerpräsi-dentin Malu Dreyer nicht einmal im Plenum des Bundes-rates diskutiert werden – eine Beerdigung erster Klasse.Es ist schade, dass die Grünen dazu nichts gesagt haben.Die hessischen Grünen lassen sich von der CDU am Na-senring durch die Manege führen.
Metadaten/Kopzeile:
1488 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014
Christine Buchholz
(C)
(B)
Im Koalitionsvertrag von Schwarz-Grün steht:Auf bundespolitischer Ebene werden wir die Auf-hebung der Optionspflicht und die Akzeptanz vonMehrstaatigkeit im Staatsangehörigkeitsrecht für inDeutschland geborene und aufgewachsene Kinderausländischer Eltern unterstützen.Selbstverständlich haben die Wählerinnen und Wäh-ler und auch viele Betroffene gehofft, dass damit aufBundesebene klare Kante gezeigt wird. Jetzt wollen siesich enthalten. Gerade das macht die Entscheidung fürdie Betroffenen so bitter.
Außerdem zeigt es, dass die Geister, die Roland Koch1999 im Hessen-Wahlkampf mit seiner Unterschriften-kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft rief,immer noch spuken und wirksam sind. Leider ist derfaule Kompromiss nicht der einzige, den die Große Ko-alition fabriziert hat. Die Große Koalition hat ausdrück-lich vereinbart, dass es zu keiner Erleichterung der Ein-bürgerung kommt und dass es für Migranten auchweiterhin keine doppelte Staatsbürgerschaft und auchnicht die notwendige Reform des auf dem Blutsprinzipberuhenden Staatsbürgerschaftsrechtes geben wird.Die Linke fordert, Einbürgerungen endlich zu erleich-tern, das Wahlrecht für alle, die mehr als fünf Jahre hierleben, einzuführen und die doppelte Staatsbürgerschaftfür alle Migranten zu ermöglichen. Ich sage Ihnen: DieIntegrationsverweigerer sitzen hier auf der Regierungs-bank. Zeigen Sie den jungen Menschen aus Migrations-familien endlich, dass sie hier willkommen sind – ohneWenn und Aber.
Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt der Kollege Uli
Grötsch, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! FrauKollegin Buchholz, ich weiß nicht, ob es Ihnen zusteht,die SPD-Bundestagsfraktion mit Schimpf und Schandezu überziehen. Ich weiß schon gar nicht, ob es Ihnen zu-steht, unsere Integrationsministerin als Integrationsver-weigerin zu bezeichnen.
Sie wissen ja, wer die Akteure sind, die sich um Integra-tion in unserem Land verdient machen. Bevor Sie solcheWorte benutzen, sollten Sie kurz einmal schauen, werauf der Regierungsbank sitzt und wer nicht.Natürlich ist Deutschland ein Einwanderungsland,und das ist auch gut so. Natürlich braucht unser Landkünftig ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht. Daranzweifeln nur die, die man da, woher ich komme, Hinter-wäldler nennt. Auch ich meine, dass es gut ist, dass sichalle politischen Akteure in Deutschland auch außerhalbdes Deutschen Bundestages und ausdrücklich auf allenEbenen Gedanken darüber machen, wie dieses Recht inZukunft aussehen soll. Niemand hier will doch den Län-dern das Recht absprechen, ihre in der Verfassung veran-kerten Rechte zu nutzen und sich am politischen Diskursaktiv zu beteiligen. Die Kollegin Högl hat schon daraufhingewiesen. Es ist natürlich auch kein Geheimnis, dassdie Fraktionen der SPD und der CDU/CSU bei der Hal-tung zur Abschaffung des Optionszwangs und darüber,wie ein künftiges Staatsangehörigkeitsrecht in Deutsch-land ausgestaltet wird, unterschiedlicher Meinung sind.Wir wissen, dass es schon lange gesellschaftliche Reali-tät ist, dass das bis dahin geltende Staatsangehörigkeits-recht überaltert ist und es einer Neuregelung bedarf. Esist peinlich genug, dass wir mehr als 20 Jahre brauchen,um gesellschaftliche Realitäten mit Mehrheiten im Deut-schen Bundestag abzubilden.Ich möchte ganz kurz auf den Kollegen Strobl zusprechen kommen. Schade, dass er nicht mehr im Saalist. Seine beiden Geschichten, die er vorgetragen hat,waren mit Pathos durchsetzt, so will ich es einmal sagen.Ich glaube ganz und gar nicht, dass man Deutscher wer-den kann. Ich glaube, dass das Deutschsein etwas ist, dasman in sich spürt und weitertragen will. Ich glaube aus-drücklich ganz und gar nicht, dass es etwas damit zu tunhat, ob die Wurzeln der betreffenden Person in Deutsch-land oder einem anderen Land der Welt liegen.Mit dem aktuell geltenden Koalitionsvertrag ist derSPD wieder ein Schritt hin zum großen Ziel gelungen– ganz ohne Frage –; mehr nicht als ein weiterer Schritt,aber doch immerhin. Wir stehen kurz vor der Ziellinie,und glauben Sie mir, wir freuen uns darauf, dass wir die-ses für uns so wichtige Projekt gemeinsam über die Ziel-linie tragen können. Dahin geht die Reise, hin zu diesemgroßen Ziel, Herr Kollege Mutlu. Natürlich ist dieseReise kein Kurztrip, sondern eine ziemlich lange Reise,aber es lohnt sich auch, diese lange Reise zu machen,weil es zu dem wirklich erstrebenswerten Ziel führt. Füruns wird es eine große Errungenschaft sein, wenn wirdas Ziel erreicht haben, weil wir mit der Abschaffungder Optionspflicht eines der ganz großen gesellschafts-politischen Ziele erreicht haben.
– Dann scheinen Sie die Formulierungen des Koalitions-vertrages noch nicht ausführlich gelesen zu haben. –Wenn wir sie abgeschafft haben, haben wir etwas umge-setzt, was längst Realität und eigentlich längst überfälligist.Lassen Sie mich noch einmal an die Adresse derUnionsfraktion sagen: Wir sind vertragstreu, auch wennes nicht immer Spaß macht. Für die SPD-Bundestags-fraktion ist der Koalitionsvertrag in all seinen Bereichenbindend. Diese Bindung erwarten wir als SPD mit Fugund Recht von unserem Koalitionspartner. Trotzdem willich gegen Ende dieser Debatte nochmals betonen, dasses den Fraktionen im Bundestag nicht obliegt, darüberzu urteilen, ob sich die Bundesländer richtig oder falschverhalten. Auch die Landesregierungen haben natürlich
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014 1489
Uli Grötsch
(C)
(B)
ihre Koalitionsverträge und sind daran gebunden. Vondaher meine ich, dass man es gar nicht negativ bewertensollte, wenn die Länder ihre Rolle wahrnehmen. Es be-darf schon gar nicht eines Sturms der Entrüstung im gan-zen Land, um die SPD-Bundestagsfraktion auf ihre ver-traglichen Verpflichtungen aufmerksam zu machen undhinzuweisen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Unionsfrak-tion, Sie wissen, dass es uns mit dem Koalitionsvertragernst ist. Sie wissen, dass wir den Vertrag bis 2017 soumsetzen wollen, wie er beschlossen und geschlossenwurde. Sie wissen, dass auf die Sozialdemokratie Verlassist.Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Opposi-tionsparteien, Sie wissen das auch. Sie wissen außerdem,dass wir noch weit über die Legislaturperiode hinaus dieAbschaffung der Optionspflicht im Staatsangehörig-keitsrecht als Topthema haben werden. Rufen Sie dochnicht in den Saal, dass Sie den Entwurf ablehnen wer-den, bevor Sie ihn überhaupt kennen.
Ich komme zurück auf das Thema der AktuellenStunde: Die Position der SPD-Bundestagsfraktion istschlichtweg unverändert.Vielen Dank.
– Unverändert.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin in der Debatte ist
die Kollegin Andrea Lindholz, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Ein Zitat des dänisch-deutsch-amerikani-schen Psychoanalytikers Erik Erikson lautet:Identität, das ist der Schnittpunkt zwischen dem,was eine Person sein will, und dem, was die Weltihr zu sein gestattet.In Deutschland liegt dieser Schnittpunkt nah bei der ein-zelnen Person. Bei uns kann man sich weitgehend freientscheiden, womit man sich identifiziert und wovonman sich abgrenzen möchte. Das ist ein Aspekt unseresfreiheitlich-demokratischen Rechtsstaates, auf den wirstolz sein können.Die offizielle Staatsangehörigkeit kann kaum beein-flussen, wie der Einzelne innerhalb einer Gesellschaftwahrgenommen wird. An dem sozialen Phänomen, dasszum Beispiel ein Deutsch-Türke in der Türkei eher alsDeutscher und in Deutschland eher als Türke wahrge-nommen wird, wird auch die doppelte Staatsbürgerschaftwenig ändern. Für die Integration des Einzelnen sindAspekte wie Sprache, Sozialisation, Familie und Wohn-ort weitaus entscheidender als der Pass. Letztendlichläuft es also auf die eigene, individuelle Entscheidunghinaus, wo jemand seine Heimat und seinen Lebensmit-telpunkt sucht und finden möchte.Das bisherige Optionsmodell ermöglicht jungen Mi-granten, genau diese Entscheidung im Alter zwischen18 und 23 Jahren bewusst zu treffen. Die BAMF-Einbür-gerungsstudie 2011 zeigt, dass diese Regelung vernünf-tig ist: 87 Prozent der Eingebürgerten sehen es als Vor-teil, dass sie sich ihre Staatsbürgerschaft aussuchendurften. 76 Prozent sagen, dass diese Entscheidung sie inihrer Lebensplanung nicht verunsichert hat. Rund90 Prozent entscheiden sich für die deutsche Staatsbür-gerschaft. – Angesichts solcher Werte ist der Vorwurf, esmüssten hier unzumutbare Gewissensentscheidungengetroffen werden, nicht nachvollziehbar.
Die Union wollte daher an den bestehenden Regelun-gen festhalten, und ein großer Teil der Wählerinnen undWähler – das zeigt das überzeugende Ergebnis – hat unsdas Vertrauen geschenkt.
Allerdings sind wir uns bewusst – das muss nicht immerSpaß machen –, was Regierungsverantwortung in einerKoalition bedeutet. Wir haben nun mit der SPD im Ko-alitionsvertrag einen Kompromiss bei der doppeltenStaatsbürgerschaft geschlossen, und diesen Kompromisssollten wir auch umsetzen.
– Das mag Ihr fauler Kompromiss sein; es ist unserKompromiss. –
Im Koalitionsvertrag heißt es wörtlich:Für in Deutschland geborene und aufgewachseneKinder ausländischer Eltern entfällt in Zukunft derOptionszwang und die Mehrstaatigkeit wird akzep-tiert.
– Sie können es nachlesen. –
Im Übrigen bleibt es beim geltenden Staatsangehö-rigkeitsrecht.Der Bundesinnenminister hat nun mit dem Refe-rentenentwurf eine gute, praktikable und wortgetreueUmsetzung, so wie man es von ihm erwarten kann, vor-
Metadaten/Kopzeile:
1490 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014
Andrea Lindholz
(C)
(B)
geschlagen. Er befindet sich noch in der Ressortabstim-mung. Es bleibt jedem überlassen, daran mitzuarbeiten.
Wer in Deutschland einen Schulabschluss erworben hatoder bis zum 23. Lebensjahr mindestens zwölf Jahre inDeutschland gelebt hat, davon vier Jahre im Alter zwi-schen 10 und 16, soll von der Optionspflicht befreit wer-den. Über 90 Prozent der heute Optionspflichtigen wür-den diese Kriterien erfüllen, und sie bekämen somit diedoppelte Staatsbürgerschaft.
Wenn es Ihnen, meine sehr geehrten Damen und Her-ren, also wirklich um die jungen Migranten und nichtnur um polemische Diskussionen geht, dann helfen Siedoch mit, Herr Beck, diesen vernünftigen und vertrag-lich vereinbarten Kompromiss umzusetzen.
Es liegt nämlich nicht an unserem ehemaligen MinisterFriedrich, dass wir dieses Vorhaben nicht weiter betrei-ben. Wir haben es im Übrigen mit einer Affäre Edathy,nicht mit einer Affäre Friedrich zu tun.
Diese Affäre kennt bisher nur ein einziges Opfer, unddas ist das politische Opfer, Herr Friedrich. Es liegt anuns, an den Mitgliedern dieses Parlaments, die Regelun-gen, die im Koalitionsvertrag vereinbart sind, auch um-zusetzen.Die Frankfurter Rundschau hat heute berichtet, dassauch die SPD-Fraktion keine Bundesratsmehrheit mehrfür die rot-grüne Initiative sieht. Ich schließe daraus,dass man sich in der SPD nun bewusst ist, dass solcheInitiativen schlicht und einfach keine vertrauensbilden-den Maßnahmen darstellen.
– Das mag sein, Herr Beck.
Trotzdem: Die SPD ist – davon gehe ich aus – eine insich geschlossene Truppe, und das gilt auch für die SPDin den Bundesländern. Auch wenn es den Ländern unbe-nommen bleibt, sich dagegen zu positionieren, stellt diesnach unserer Auffassung keine vertrauensbildende Maß-nahme dar.Ich hoffe daher, Frau Högl, liebe Kolleginnen undKollegen der SPD, dass wir uns jetzt an die Umsetzungder Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag machen unddamit für die jungen Migranten – das müsste auch beiden Grünen ankommen – eine Verbesserung herbeifüh-ren.Vielen Dank.
Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege
Rüdiger Veit, SPD-Fraktion.
Liebe Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damenund Herren! Meine Parlamentarische Geschäftsführerinhat mir eben noch mit auf den Weg gegeben: Denk dran,das sind jetzt Freunde!
Gemeint waren die Kollegen von der CDU/CSU. – Ichbitte um Verzeihung, Herr Kollege Strobl, wenn ich indieser Hinsicht noch ein bisschen üben muss.
Trotzdem muss ich mich Ihnen in mindestens einemPunkt zuwenden.Ich verstehe die ganze Aufregung nicht. Drei rot-grüngeführte Bundesländer haben nichts anderes gemacht, alsdas in einen Gesetzentwurf zu kleiden, was seit 20 undmehr Jahren die Position der Sozialdemokraten ist.
Was ist denn daran sensationell? Was ist daran neu? Neuund sensationell wäre es, wenn das Gegenteil von demgeschehen wäre. Aber in diesem Fall handelt es sich umein selbstverständliches Bekenntnis zu unseren Grund-satzpositionen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014 1491
Rüdiger Veit
(C)
(B)
Ich höre gerade den berechtigten Zwischenruf: So istdas jetzt nun einmal in einer Koalition. – Ich bin einervon denjenigen, die diese Formulierung des Koalitions-vertrages nicht gerade mit großem Entzücken gelesenhaben, sondern mit großer Sorge.
Ich bin mir auch nicht hundertprozentig sicher, dass alle,die daran beteiligt waren, so genau wussten, was dasmöglicherweise in der gesetzestechnischen Umsetzungbedeutet. Das ist in Koalitionen nun einmal so, sowohlauf Bundesebene als auch auf Länderebene.Da ich gerade auf die Länderebene zu sprechenkomme, lieber Volker Beck: Die gleiche Formulierungfindet sich in Zeile 2 695 des schwarz-grünen Koali-tionsvertrages in Hessen.
Ich hätte mir vorher nicht vorstellen können, dass ausge-rechnet Tarek Al-Wazir diese Formulierung akzeptiert.
Wenn man – wie ich – gehört hat, lieber Volker, wieTarek die Diskussion in seiner eigenen Familie be-schreibt – da geht es um die Frage: Wer ist Jemenit, werist Jemenit und Deutscher, wer ist vielleicht nur Deut-scher? –, dann kann man sich nur sehr schwer vorstellen,dass er eine solche Vereinbarung tatsächlich akzeptiert.
Die Formulierung finde ich mindestens so bedauerlichwie das, was wir in der Großen Koalition auf Bundes-ebene vereinbaren mussten. Aber wir werden nicht müdewerden, das noch zu ändern.Auf ein paar Aspekte muss man immer wieder hin-weisen, weil sie doch die Sichtweise verstellen. HerrKollege Strobl, jetzt komme ich doch noch einmal zumeinen neuen Freunden; ich bitte um Nachsicht. Sie ha-ben vorhin im Zusammenhang mit dem Beispiel vonAbida so getan, als sei es ein besonderes Geschenk, dassjemand die deutsche Staatsbürgerschaft hat, obwohl erüberwiegend in der Türkei gelebt hat.
Dabei übersehen Sie – wie so viele, die darüber diskutie-ren –, dass Abida selbstverständlich die deutsche Staats-bürgerschaft behalten
und weiterhin in Istanbul, Ankara oder in Anatolien le-ben könnte.
Es wird nämlich immer übersehen: Es ist keine Beloh-nung, die man jemandem sozusagen hinterherwirft,
sondern die betreffende Person hat kraft Geburt die deut-sche Staatsbürgerschaft und muss sich bis zum 23. Le-bensjahr entscheiden, ob sie sie behalten möchte. Siekann leben, wo immer sie will; wenn sie sagt: „Ichmöchte die deutsche Staatsbürgerschaft behalten“, dannkann sie sich trotzdem weiterhin in dem Land, in dem sieaufgewachsen ist, oder in einem beliebigen anderenLand, in dem sie bisher gelebt hat, aufhalten.
Es geht deshalb nicht um Privilegierungen oder um Be-lohnungen, sondern es geht um die Frage vernünftigerRegelungen.Im Übrigen: Das Merkmal „aufgewachsen“ ist derRegelung aus dem Jahr 1999 immanent. Der heutigePräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, HerrDr. Hans-Georg Maaßen, hat damals in der Abteilung Mdes Innenministeriums an der Gesetzgebung mitgewirkt.Er hat in der Kommentierung von Hailbronner, die jeder,der sich mit Ausländerrecht beschäftigt, kennt, niederge-schrieben, dass man davon ausgeht, dass die hier inDeutschland in zweiter und dritter Generation geborenenKinder ausländischer Mitbürgerinnen und Mitbürger ei-nen verfestigten Aufenthalt haben, also bereits per se inDeutschland integriert sind. Das ist sozusagen system-immanent; das folgt der Logik des Gesetzes. Das istdurch die Optionspflicht im Prinzip auch nicht geändertworden. Vor dem Hintergrund bitte ich sehr um Ver-ständnis, dass wir mit Ihnen und selbstverständlich auchmit dem Ministerium versuchen werden, einen vernünf-tigen Weg zu finden.Wenn es um die Frage geht, ob das jemanden provo-ziert hat, kann ich nur sagen: Ach, nun seid doch nicht soempfindlich. Dass Bundesländer, egal welcher Couleur,im Bundesrat etwas anderes machen als die jeweils imBund regierende Koalition, das ist doch nichts Neues;das ist Tagesgeschäft.
Wer das anders sieht, der hat dieses System nicht rechtverstanden.
Metadaten/Kopzeile:
1492 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014
Rüdiger Veit
(C)
(B)
Im Übrigen ist es – jetzt muss ich doch noch aus derRolle, die mir Dagmar Ziegler empfohlen hat, fallen;aber nur ganz kurz – kein freundlicher Akt, einen Refe-rentenentwurf auf den Weg zu bringen, ohne dem Koali-tionspartner zuvor eine Lektüremöglichkeit eingeräumtzu haben.
Diese milde Rüge ist aber akzeptiert worden. Deswegenskandalisiere ich das nicht zu einem großen koalitions-politischen Problem. Wir sind jetzt verpflichtet, nachbzw. in der Ressortabstimmung miteinander eine prakti-kable Regelung zu finden.
Daran werden wir mitwirken. Dass die Regelung mög-lichst verwaltungsfreundlich sein soll, darf ich bei derGelegenheit ebenfalls betonen.
– Auf der Basis des Koalitionsvertrages.
Herr Kollege.
Ich bitte um Nachsicht, Frau Präsidentin. – Da kann
man aber auch die Lesart von Volker Beck vertreten und
sagen: Die Formulierung „und aufgewachsen“ passt
ganz gut in die Kategorie derer – auf die § 40 b des
Staatsangehörigkeitsgesetzes zielt –, die zum Zeitpunkt
des Inkrafttretens unseres Gesetzes noch keine zehn
Jahre waren.
Da kann man vielleicht noch sagen: Es ist sinnvoll, an
„und aufgewachsen“ anzuknüpfen. Bei anderen gilt das
vielleicht weniger.
– Gleich geraten wir in ein Koalitionsgespräch. Es ist
vielleicht nicht so günstig, das öffentlich zu führen.
Herr Kollege Veit, meine Nachsicht ist jetzt zu Ende.
Frau Präsidentin, ich schließe meinen Beitrag und be-
danke mich für die Geduld.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin in der Debatte ist
die Kollegin Cemile Giousouf, CDU/CSU-Fraktion.
Ja, das stimmt, lieber Özcan Mutlu. – Sehr geehrteFrau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Er-lauben Sie mir bitte eine Bemerkung: Von den Grünenund den Linken brauchen wir uns die Integrationspolitikund die Einbürgerungs- oder Staatsbürgerschaftspolitikwirklich nicht erklären zu lassen.
Auch wenn Sie sich das gerne auf die Fahne schreiben,ist es so: Die CDU hat sich stets für die Einbürgerungund Integration starkgemacht.
Unter der Regierungsverantwortung von Helmut Kohl inden Jahren 1991 und 1993 wurden fortwährend die Vo-raussetzungen für die Einbürgerung erleichtert. Erstmalskonnten sogenannte Gastarbeiter deutsche Staatsbürgerwerden.
Lieber Herr Beck, im Jahr 2000 wurde das Staatsbür-gerschaftsrecht grundsätzlich weiterentwickelt.
Das neue Recht verkürzte die notwendige Aufenthalts-dauer von 15 auf 8 Jahre. Das Geburtsortsprinzip wurdeeingeführt, und das Optionsmodell wurde geschaffen.
Wir wissen alle, dass das ein schwieriger politischerKompromiss war. Das geben wir auch gerne zu.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014 1493
Cemile Giousouf
(C)
(B)
Für die Schwierigkeiten, die mit dem Optionsmodellverbunden sind, müssen wir in der neuen Regierung eineLösung finden.Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für In-tegration und Migration hat zur Zeit der Koalitionsver-handlungen zur Staatsbürgerschaft folgende Positioneingenommen: Das Gremium plädiert für die Abschaf-fung der Optionspflicht, weil sie junge Menschenzwingt, zwischen Staatsbürgerschaften zu entscheiden.Herr Beck, jetzt sollten Sie gut zuhören: Der Sachver-ständigenrat sah jedoch auch ein, dass ein Mechanismuserforderlich ist – ich zitiere –,der eine unbegrenzte Weitergabe der Staatsangehö-rigkeit über das … Abstammungsprinzip und damiteine Anhäufung von Mehrfachstaatsangehörigkei-ten verhindert.
Letzteres wirft nicht nur rechtstechnische, sondernauch demokratietheoretische Probleme auf, wennetwa in großer Zahl Personen in Staaten wählenkönnen, von deren Gesetzgebung sie kaum oder garnicht betroffen sind …
Deshalb schlägt der Sachverständigenrat vor, für dieVergabe der Staatsangehörigkeit zusätzlich das Prinzipdes Lebensmittelpunktes einzuführen. Lieber Herr Beck,unabhängige Experten schlagen einen Bezug zum Ge-burtsland vor!
Genau das, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass diejungen Zuwandererkinder ihren Lebensmittelpunkt inDeutschland haben, war uns wichtig, als wir im Herbst2013 die Optionsregelung verhandelten.
Beide Parteien haben vor dem Hintergrund unterschied-licher Integrationskonzepte eine Annäherung geschafft.
Beiden Parteien war klar, dass man Kindern, die bislangoptieren mussten, eine Tür öffnen wollte. Das haben wirmit einem unkomplizierten Nachweis des Geboren- undAufgewachsenseins im neuen Gesetz etabliert.
Zukünftig werden junge Menschen nicht mehr in dieschwierige Situation gebracht, sich zwischen zweiStaatsbürgerschaften entscheiden zu müssen, wenn siehier geboren und aufgewachsen sind. Auch Sie, liebeKolleginnen und Kollegen der Opposition, können nichtleugnen, dass das eine deutliche Verbesserung der Situa-tion dieser Kinder ist. Es ist eine klare Botschaft, dasssie mit den Wurzeln und der Herkunft ihrer Eltern zuDeutschland gehören.
Durch eine Geburtsurkunde, einen Schulabschlussoder eine Meldebescheinigung können sie ihren deut-schen Pass beibehalten. Ich möchte gerne wissen, was daunüberwindbare Kriterien sind, Herr Beck.
Jedes Kind, das in Deutschland geboren ist, bekommteine Geburtsurkunde. Wir haben in Deutschland eineSchulpflicht und eine Meldepflicht. Wenn Sie heute eineEhe schließen wollen, müssen Sie mehr Dokumente ein-reichen als dann, wenn Sie die deutsche Staatsbürger-schaft beibehalten wollen.
Liebe Frau Buchholz, ich möchte noch eine Bemer-kung an Sie richten. Innenminister de Maizière hat be-reits gesagt, dass die Optionskinder, die bislang durchGesetz den deutschen Pass verloren haben, diesen wie-dererlangen können. In diesem Kontext von Rassismuszu sprechen, finde ich, mit Verlaub, wirklich ungeheuer-lich.
Insgesamt würde ich Ihnen raten: Warten Sie erst einmalden Gesetzentwurf ab! Warten Sie einmal ab, was dieFachleute und die Ressorts zu dem Gesetzentwurf sagen!Sie zerreden einen Gesetzentwurf und führen eineScheindebatte.
Meine Kolleginnen und Kollegen haben es bereits ge-sagt: Über 90 Prozent der betroffenen jungen Menschenerfüllen die Kriterien.
– Wir wollen uns an den Koalitionsvertrag halten, lieberÖzcan Mutlu. Das ist der Unterschied. – Sie sind inDeutschland geboren und aufgewachsen und/oder habeneinen Schulabschluss. Von knapp 5 000 jungen Men-schen, die sich 2013 zwischen der deutschen und eineranderen Staatsangehörigkeit entscheiden mussten, sindlediglich 140 im Ausland gemeldet. Wollen wir jetzt fürdiese 3 Prozent eine Vereinbarung im Koalitionsvertraginfrage stellen? Soll man für die 3 Prozent der Kinder,
Metadaten/Kopzeile:
1494 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014
Cemile Giousouf
(C)
(B)
die nämlich diese Kriterien nicht erfüllen, 97 Prozent derKinder in Ungewissheit lassen?
In einem Punkt gebe ich Ihnen recht: Mit jedem Tagwächst die Zahl der Optionskinder. Derzeit sind nicht dieaufgestellten Kriterien für die jungen Betroffenen einHindernis, sondern das Hindernis besteht darin, dass eskeine zügige Umsetzung gibt. Im Jahr 2014 gibt es über5 000 Optionskinder, und in den nächsten drei Jahrenwerden es knapp 20 000 junge Menschen sein.
Sie haben ein Anrecht darauf, dass ihre Situation geklärtwird.
Frau Kollegin Giousouf, denken Sie an die Redezeit?
Ich beende meine Rede sofort. – Sie in der Opposition
reden von einem bürokratischen Monstrum, aber die Op-
position schafft hier ein parlamentarisches Monstrum,
das nirgendwohin führt.
Das haben die Migrantinnen und Migranten wirklich
nicht verdient. Sie verdienen eine zügige Umsetzung des
Koalitionsvertrages.
Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der
Kollege Alexander Hoffmann, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kollegin-nen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen undHerren von den Grünen, nach 55 Minuten dieser Aktuel-len Stunde darf ich Ihnen vor allem eines sagen: Ihnenist es wieder einmal gelungen, mit dieser Debatte diesesHaus von seiner eigentlichen Arbeit abzuhalten.
Das liegt im Wesentlichen an Folgendem: Wenn wir unsheute, Herr Mutlu, ganz ruhig und unaufgeregt die Si-tuation anschauen, dann sehen wir: Die Fakten und dieTatsachen liegen auf dem Tisch. Wir haben eine Ver-einbarung im Koalitionsvertrag, die eindeutig ist. DieKoalitionspartner werden sie umsetzen. Ich habe vollesVertrauen in unseren Koalitionspartner, dass wir hier zueinem guten Ergebnis kommen.Parallel dazu gibt es eine Initiative im Bundesrat; dasist vollkommen legitim. Niemand will den Bundeslän-dern durch die Koalitionsvereinbarung das verfassungs-mäßig verbriefte Recht nehmen, im Bundesrat Initiati-ven einzubringen.
Lassen Sie uns doch – das sage ich ganz unaufgeregt –die Entscheidung abwarten. Dann werden wir weiterse-hen.Allerdings werden Sie sich heute von mir sagen las-sen müssen, dass ich der Meinung bin, dass Sie mit De-batten, wie wir sie heute wieder führen, mit Ihrer Aufge-regtheit, Ihrer Unsachlichkeit und Ihrer Hitzigkeit, ein sowichtiges Thema in meinen Augen eher nachhaltig be-schädigen. Denn wenn wir über solche Themen diskutie-ren, dann wird das Bild eines Landes skizziert, in dem esDiskriminierung gibt, in dem Menschen mit Migrations-hintergrund nicht willkommen sind.
Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Ich erlebe diesesLand so nicht.Sie skizzieren auch immer wieder falsche Realitäten.
Es wird suggeriert, dass jemand, der das Optionsrechtentsprechend ausgeübt hat, nie wieder deutscher Staats-bürger werden kann. Das ist nicht richtig. Es wird immerwieder suggeriert, dass jemand, der die Frist beim Op-tionszwang verstreichen lässt, gleich abgeschoben wird.Auch das geht vollkommen an der Realität vorbei. Alsgute Demokraten tun wir alle gut daran, auch überschwierige Themen sachlich, vor allem aber auch diffe-renziert zu diskutieren.
– Genau, Herr Mutlu, das wird gleich passieren.Der Gesichtspunkt, der doch inmitten dieser ganzenDiskussion steht, ist die Rechtssicherheit; jetzt hören Siebitte gut zu. Die Staatsangehörigkeit zieht in allen Län-dern der Erde vor allem die Entscheidung nach sich:
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. März 2014 1495
Alexander Hoffmann
(C)
(B)
Welches nationale Recht, welches Erbrecht, welches Fa-milienrecht, welches Strafrecht kommt danach zur An-wendung?
Es geht also um Rechtssicherheit.Jetzt folgender Fall: Es gibt eine Ehe. Die Frau istdeutsche Staatsangehörige, und der Mann hat die dop-pelte Staatsbürgerschaft, so wie Sie es wollen. Aus derEhe sind zwei Kinder hervorgegangen. Die beiden lebengetrennt, und es geht um die Scheidung. Es geht konkretum die Frage: Wer bekommt die Kinder? Der Mann er-kennt, dass er nach dem deutschen Recht relativ wenigeChancen hat, die Kinder zu behalten.
Er weiß aber auch, dass er nach dem Familienrecht sei-nes Heimatlandes, weil dort ein anderer kultureller Hin-tergrund herrscht, die Kinder ohne Probleme bekäme.Also packt er die zwei Kinder ein, entzieht sie der Mut-ter und reist in sein Heimatland.
Meine Damen, meine Herren, Sie werden nicht mitpolitischen Mitteln, nicht mit juristischen Mitteln undauch nicht mit Mitteln der Diplomatie in der Lage sein,jemals wieder an diese Kinder heranzukommen. Natür-lich können Sie jetzt sagen: Ja, aber wenn dort ihr Rechtgewählt wird und der Vater seine ursprüngliche Staatsan-gehörigkeit behält, dann kann er die Kinder auch entzie-hen. – Das mag sein. Aber mit der doppelten Staatsbür-gerschaft schafft man ja überhaupt keine Grundlage, umim Interesse aller Beteiligten ein für alle Mal Rechts-sicherheit herzustellen.
Rechtssicherheit wird geschaffen, indem sich der Vaterzur deutschen Staatsbürgerschaft bekennt und damit füralle Beteiligten eindeutig und klar ist, welches Familien-recht zur Anwendung kommt.
– Kollege Beck, wir wollten ganz sachlich und unaufge-regt diskutieren; das war doch die Idee.
Gestatten Sie mir abschließend ein paar persönlicheSätze. Kollege Mutlu, ich habe Ihnen vor Weihnachtengut zugehört, als Sie über dieses Thema in Bezug aufIhre eigene Person gesprochen und Begriffe wie „Hei-mat“ und „Wurzeln“ verwendet haben. Ich persönlichbin der Mann einer türkischen Frau. Ich bin stolz, Mit-glied einer türkischen Großfamilie zu sein. Diese Groß-familie ist bunt zusammengewürfelt.
– Herr Mutlu, hören Sie mir zu! Vielleicht ist das ja auchfür Sie ganz spannend. – Alle Familienangehörigen sindMuslime. Die einen haben sich entschieden, deutscheStaatsangehörige zu werden, und die anderen sind Tür-ken geblieben. Da gibt es, Frau Pau, eben nicht dieseUnterscheidung zwischen „wir“ und „ihr“, wenn wir beieiner Familienfeier zusammensitzen. Wenn wir da zu-sammensitzen und über das Modell der doppelten Staats-angehörigkeit reden, dann wundern die sich. MeinSchwiegervater sagt mir: Wo meine Wurzeln sind, womeine Heimat ist, lese ich doch nicht in meinem Perso-nalausweis. Das verbriefe ich doch nicht schwarz aufweiß auf einem Blatt Papier. Das ist schon gar nicht ineinem Aktenvorgang bei der Staatsangehörigkeitsbe-hörde dokumentiert. Wo meine Wurzeln und meine Hei-mat sind, das behalte ich im Herzen.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Donnerstag, den 13. März 2014,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.