Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbegrüße Sie alle herzlich. Die Sitzung ist eröffnet. Neh-men Sie bitte Platz.Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, haben wirheute noch einige Wahlen durchzuführen.Die CDU/CSU-Fraktion schlägt vor, dass im Stif-tungsrat der Bundesstiftung Baukultur für den ausge-schiedenen Kollegen Peter Götz als Nachfolger der Kol-lege Volkmar Vogel als Mitglied gewählt wird. DieSPD-Fraktion schlägt für dieses Gremium als Nachfol-ger der Kollegin Petra Müller den Kollegen Hampel,Ulrich vor. Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstan-den? – Das ist offenkundig der Fall. Dann sind die Kol-legen Vogel und Hampel als Mitglieder des Stiftungsra-tes gewählt.Die Fraktion der SPD schlägt vor, im Stiftungsrat derStiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung für den aus-geschiedenen Kollegen Wolfgang Thierse als Nachfol-ger den Kollegen Dietmar Nietan als ordentliches Mit-glied und als dessen Nachfolger als stellvertretendesMitglied den Kollegen Dr. Lars Castellucci zu wählen.Als weiteres ordentliches Mitglied soll die KolleginHiltrud Lotze für den ausgeschiedenen Kollegen LarsLindemann und als weiteres stellvertretendes Mitglieddie Kollegin Christina Kampmann für den ausgeschie-denen Kollegen Patrick Kurth gewählt werden. Darf ichauch hierzu Ihr Einvernehmen feststellen? – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann sind die genannten Kollegin-nen und Kollegen als Mitglieder und stellvertretendeMitglieder des Stiftungsrates gewählt.Schließlich schlägt die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen vor, für den Beirat bei der Bundesnetzagentur fürElektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisen-bahnen die Kollegin Tabea Rößner als persönlichesstellvertretendes Mitglied der Kollegin Katharina Drögeund die Kollegin Dr. Julia Verlinden als persönlichesstellvertretendes Mitglied des Kollegen Oliver Krischerzu wählen. – Auch hierzu kann ich keinen Widersprucherkennen. Dann sind die beiden Kolleginnen als persön-liche stellvertretende Mitglieder des Beirats gewählt.Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die ver-bundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktlisteaufgeführten Punkte zu erweitern:ZP 1 Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU undSPDUmgang in der Bundesregierung und imDeutschen Bundestag mit den Vorwürfen ge-gen Sebastian Edathy
ZP 2 Eidesleistung des Bundesministers für Ernäh-rung und LandwirtschaftZP 3 Vereinbarte Debattezur Lage in der UkraineZP 4 Wahl der Mitglieder des Beirats für die grafi-sche Gestaltung von Sonderpostwertzeichenbeim Bundesministerium der Finanzen
Drucksache 18/567ZP 5 Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENHaltung der Bundesregierung bei der Zulas-sung der Genmaislinie 1507 und zur Sicher-stellung der Wahlfreiheit in Bezug auf gen-technikfreie LebensmittelDabei soll wie immer, soweit erforderlich, von derFrist für den Beginn der Beratungen abgewichen wer-den. Die als Zusatzpunkt 3 vorgesehene vereinbarte De-batte zur Lage in der Ukraine soll vor dem Tagesord-nungspunkt 2 aufgerufen werden und eine Stundedauern. Außerdem wird der Tagesordnungspunkt 16 cabgesetzt. Sind Sie auch damit einverstanden? – Das istder Fall. Dann ist das so beschlossen.Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:Eidesleistung des Bundesministers für Ernäh-rung und Landwirtschaft
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1204 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Der Herr Bundespräsident hat mir mitgeteilt, dass eram 17. Februar 2014 gemäß Art. 64 Abs. 1 des Grund-gesetzes für die Bundesrepublik Deutschland auf Vor-schlag der Frau Bundeskanzlerin den Bundesminister fürErnährung und Landwirtschaft, Herrn Dr. Hans-PeterFriedrich, aus seinem Amt als Bundesminister entlassenund Herrn Christian Schmidt zum Bundesminister fürErnährung und Landwirtschaft ernannt hat.Nach Art. 64 Abs. 2 des Grundgesetzes leistet einBundesminister bei der Amtsübernahme den in Art. 56vorgesehenen Eid.Herr Schmidt, ich darf Sie zur Eidesleistung zu mirbitten.
Herr Minister, ich bitte Sie, den im Grundgesetz vor-gesehenen Eid zu leisten.Christian Schmidt, Bundesminister für Ernährungund Landwirtschaft:Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle desdeutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Scha-den von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetzedes Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten ge-wissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermannüben werde, so wahr mir Gott helfe.
Sie haben den im Grundgesetz vorgesehenen Eid ge-
leistet. Ich darf Ihnen im Namen des ganzen Hauses und
persönlich alle guten Wünsche für Ihr neues Amt aus-
sprechen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte bei die-
ser Gelegenheit dem Kollegen Dr. Hans-Peter Friedrich
im Namen des Hauses für seine Tätigkeit in der Bundes-
regierung herzlich danken.
Lieber Kollege Friedrich, auch und gerade die gestrige
Debatte hat deutlich gemacht, dass unbeschadet mancher
kritischer und selbstkritischer Hinweise Sie sich im gan-
zen Hause einer großen persönlichen Wertschätzung er-
freuen. Deswegen freuen wir uns auf die weitere Zusam-
menarbeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Nachrichten
und Bilder aus Kiew und anderen Orten der Ukraine in
den letzten Tagen haben uns alle schockiert. Wochen-
lange friedliche Proteste Hunderttausender Bürger sind
umgeschlagen in blutige Gewalt mit brennenden Stra-
ßenzügen und Barrikaden, mit zahlreichen Verletzten
und inzwischen auch mindestens zwei Dutzend Toten
aufseiten der Demonstranten wie auch der Sicherheits-
kräfte.
Der Deutsche Bundestag hat nicht zu entscheiden,
welchen Weg die Ukraine gehen will und in welche
Richtung. Aber wir haben das Recht und die Pflicht, für
das Grundrecht der Menschen in diesem Land wie über-
all auf der Welt einzutreten, selbst darüber zu entschei-
den, wie sie leben und von wem sie regiert werden wol-
len.
Wir bewundern den Mut und die Entschlossenheit von
immer mehr Menschen, von immer mehr Frauen und
Männern, auch gegen Drohungen und Repressionen ihr
eigenes Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Ihnen
gelten unsere Unterstützung und unsere Solidarität.
Alle Beteiligten, in den Behörden wie auf den Stra-
ßen, auf beiden Seiten der Barrikaden, müssen einsehen,
dass sich weder gewünschte Veränderungen durch Ge-
walt erzwingen noch notwendige Veränderungen dauer-
haft mit Gewalt verhindern lassen. Deshalb fordern wir
alle auf, auf Gewalt zu verzichten. Wir unterstützen die
Bemühungen der Europäischen Union, insbesondere
auch die Mission der Außenminister, die sich in diesen
Stunden darum bemühen, zur Deeskalation der Lage bei-
zutragen, und appellieren an die Verantwortlichen,
schnellstmöglich zur friedlichen Beilegung des Kon-
flikts auf dem Verhandlungswege zurückzukehren.
Die ukrainische Regierung steht in einer besonderen
Verpflichtung, die sie nicht länger verweigern darf. Un-
sere Erwartung an den Staatspräsidenten ist klar und un-
missverständlich: Werden Sie Ihrer Verantwortung ge-
recht! Halten Sie weiteren Schaden vom eigenen Land
und von Ihren Bürgern ab! Vor allem: Lassen Sie endlich
eine offene Debatte über die seit langem geforderte Ver-
fassungsreform zu!
Unser Respekt gilt allen aufrechten Demokraten. Un-
ser tief empfundenes Mitgefühl gilt allen Opfern der Ge-
walt und ihren Angehörigen.
Ich rufe unseren Zusatzpunkt 3 auf:
Vereinbarte Debatte
zur Lage in der Ukraine
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung, die wir
vorhin bestätigt haben, sind für die Aussprache 60 Minu-
ten vorgesehen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem
Kollegen Niels Annen für die SPD-Fraktion das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Wenn wir die Nachrichten über dieToten, die Verletzten, die Verwundeten in der Ukrainebetrachten, dann dürfen wir eines nicht vergessen: Diese
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1205
Niels Annen
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Tragödie betrifft auch uns, weil das, was dort passiert, inunserer unmittelbaren Nachbarschaft stattfindet. Des-halb ist es gut, dass während dieser Debatte die Außen-minister Polens, Frankreichs und Deutschlands in Kiewbei Präsident Janukowitsch sind und dort den erneutenVersuch unternehmen, zu einer politischen Lösung desKonfliktes beizutragen und für eine Atempause zu sor-gen. Ich danke Außenminister Steinmeier für diese Ini-tiative; denn es ist vielleicht der vorerst letzte Versuch,eine weitere Eskalation zu verhindern.Die Nachricht von einem Gewaltverzicht, die uns ges-tern am späten Abend erreicht hat, gibt Hoffnung, dassder heutige Besuch tatsächlich etwas bewirken kann.Aber Sie alle haben in den letzten Stunden und Minutenvielleicht die Nachrichten von weiteren Schusswechselnauf dem Maidan gehört. Es ist wirklich eine angespannteSituation, und die Lage steht auf der Kippe. Es ist völligklar: Bei einem weiteren Rückschlag werden die EU-Außenminister in Brüssel gar nicht umhinkommen,Sanktionen zu beschließen.Ich bin mir sehr bewusst darüber, dass Sanktionen na-türlich nicht die Lösung des Problems darstellen. UnserePolitik der Östlichen Partnerschaft steht am Scheideweg.Wir dürfen in der Ukraine nicht wieder den Eindruck er-wecken, das Land müsse sich quasi zwischen Russlandund Europa entscheiden. Diese Nullsummenlogik müs-sen wir überwinden. Aber damit gar kein Missverständ-nis aufkommt: Die Hauptverantwortung für die Eskala-tion tragen Präsident Janukowitsch und seine Entourage.
Er hat es seit Wochen in der Hand, den Weg für umfas-sende Reformen freizumachen. Die Vorschläge dafür lie-gen seit langem auf dem Tisch. Seiner Hinhaltetaktik ha-ben wir es letztlich zu verdanken – das ist auch ein Teilder Wahrheit –, dass die extremistischen Kräfte inner-halb der Opposition immer mehr Zulauf bekommen ha-ben.Die Gewalt der letzten Tage ist ganz besonders bitter,weil wir doch ein wenig Anlass zur Hoffnung hatten.Nach Vermittlung durch die OSZE haben die Demon-stranten das Kiewer Rathaus geräumt. Die Voraussetzun-gen für eine Amnestie sind geschaffen worden. Viel-leicht ist es auch die Furcht vor einer in Sichtweitekommenden politischen Lösung, die extremistischeKräfte auf beiden Seiten angestachelt hat, jetzt eine Lö-sung zu verhindern. Wir kennen das von anderen Kon-flikten. Auch die gewaltbereiten extremistischen Kräfteinnerhalb der Opposition tragen somit Verantwortung fürdie Lage.Die Leidtragenden dieser Eskalation sind wieder ein-mal die Menschen, junge Menschen, alte Menschen,zum Teil ganze Familien – wir alle haben die Bildernoch im Kopf –, die seit Wochen und Monaten auf derStraße für etwas kämpfen, das wir für selbstverständlichhalten. Sie wollen Teil dieses Europas sein, und das istauch ihr gutes Recht. Deshalb müssen wir hier im HohenHause unterstreichen: Wir stehen an ihrer Seite.
Wenn es jetzt keine Lösung gibt, werden sie zerriebenzwischen dem brutalen, rücksichtslosen Vorgehen derukrainischen Sicherheitskräfte auf der einen Seite unddem martialisch auftretenden sogenannten RechtenBlock auf der anderen Seite. Präsident Janukowitsch hates in der Hand, die Gewaltspirale zu stoppen. Aber dafürmuss er Schluss machen mit seiner Politik des Hinhal-tens und Täuschens und endlich wie der Präsident desganzen Landes handeln.
Dem Gewaltverzicht müssen eine Rückkehr zur Verfas-sung von 2004 und vorgezogene Neuwahlen noch in die-sem Jahr folgen.Mein Appell richtet sich an Präsident Janukowitsch:Nutzen Sie die Atempause der gestrigen Vereinbarung!Setzen Sie eine Verfassungskommission ein, und bildenSie unverzüglich eine repräsentative Übergangsregie-rung! Ziehen Sie Ihre Sicherheitskräfte zurück, und stop-pen Sie die Offensive Ihres Geheimdienstes!
Herr Präsident, schaffen Sie endlich die Voraussetzungfür eine Wiederaufnahme des politischen Prozesses.Ich danke Ihnen.
Nächster Redner ist der Kollege Stefan Liebich für
die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!Brennende Barrikaden und Zelte, brennende Verwal-tungsgebäude, Soldaten, die in die Menge schießen, De-monstranten, die Molotowcocktails auf Soldaten undPolizisten werfen – das sind die Bilder, die uns aller-dings nicht mehr nur aus der Hauptstadt Kiew erreichen.In Lwiw haben Demonstranten einen Panzerwagen inBrand gesteckt, in Ternopil stürmten sie das Büro derStaatsanwaltschaft. Verletzte und Tote sind zu beklagen.Die Nacht von Dienstag zu Mittwoch war die blutigste,die die Ukraine seit langer Zeit erlebt hat, und man mussbefürchten, nachdem der Gewaltverzicht offenkundignicht eingehalten wird, dass sich die Situation kurzfristignicht verbessern wird.Wer das Schwert nimmt, wird durchs Schwert um-kommen. Wer die Kalaschnikow nimmt, hat mit ei-nem Kopfschuss zu rechnen. … Wer andere will-kürlich der Freiheit beraubt, hat bald selbst keineFluchtwege mehr. … Deshalb müssen wir, die wirhier versammelt sind, strikt das Prinzip der Gewalt-losigkeit vertreten. Das gilt auch gegenüber vonProvokateuren, die in unseren Reihen sind.
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1206 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Stefan Liebich
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Diese Worte sprach am 25. September 1989 beim Frie-densgebet in der Leipziger Nikolaikirche der PfarrerChristoph Wonneberger. Viele, vor allem jene, die in derDDR gelebt haben, denken angesichts der Bilder aus derUkraine an diese Zeit zurück. Wir sind dankbar, dass unsdas 1989 erspart blieb. Wir wissen, dass auch friedlicherProtest Veränderungen erzwingen kann. Unser Appell analle Beteiligten des Konflikts in der Ukraine lautet da-her: Keine Gewalt!
Dabei kommt der Regierung eine herausgehobeneVerantwortung zu. Präsident Janukowitschs Auffassung,Demokratie sei es nur, wenn man das Wahlergebnis ak-zeptiere, ist falsch. Es kommt erstens darauf an, was manaus seinen Wahlergebnissen macht, und zweitens gehö-ren Meinungsfreiheit und friedliche Proteste dazu. RosaLuxemburg hat 1918 in ihrem Text zur Russischen Re-volution formuliert:Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nurfür Mitglieder einer Partei – mögen sie noch sozahlreich sein – ist keine Freiheit.
Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden.Aber auch die Opposition trägt Verantwortung. Einekleine Gruppe zum Teil rechtsradikaler und neofaschisti-scher Hooligans darf nicht das Bild von den Protestenprägen. Ihr Mittel, die Gewalt, wird von der Mehrheitder Demonstranten abgelehnt. Wer Gewalt ausübt, vonwelcher Seite auch immer, muss strafrechtlich belangtwerden.Aber allgemeine Sanktionen – da habe ich eine an-dere Meinung als Niels Annen –, die im schlimmstenFall den Teil der Menschen treffen, die mit demokrati-schen Mitteln für ihre Meinung streiten, lehnen wir ab.
Wer Sanktionen fordert, der scheidet als Vermittler in ei-nem Konfliktlösungsprozess aus. So hat es Staatssekre-tär Dr. Ederer gestern früh im Auswärtigen Ausschussgesagt. Da muss ich ihm recht geben.
Statt größerer Abgrenzung müssen wir unsere Türenendlich für die Ukrainerinnen und Ukrainer öffnen. Visa-freiheit für die Europäische Union, das wäre eine sinn-volle Botschaft an die Demonstrantinnen und Demon-stranten auf dem Maidan.
Auch wenn einer der Schlüssel für die Lösung desKonflikts in Moskau liegt: Gerade wir Deutschen dürfenmit Blick auf unsere Geschichte gegenüber der Ukraineim letzten Jahrhundert nicht einfach über die Köpfe derUkrainerinnen und Ukrainer hinweg nach vermeintli-chen Lösungen suchen. Die OSZE oder der Europarat,wo Russland, die Ukraine, Deutschland und die anderenEU-Mitgliedstaaten gleichberechtigte Mitglieder sind,können und müssen eine aktive Vermittlerrolle einneh-men. Die Bundesregierung sollte sie dabei aktiv unter-stützen. Am Ende des Prozesses kann ein politischerNeuanfang stehen. Hier gilt es zuallererst, eine Lösungfür den Konflikt um die Verfassung zu finden.Noch viel wichtiger als all dies ist aber: Das Landbraucht endlich eine Regierung und eine Opposition, dienicht zuerst an sich oder an die Gunst schwerreicher Oli-garchen denken, sondern an ihre Bürgerinnen und Bür-ger, die in großer Zahl in bitterer Armut leben.
Und die Ukraine braucht Nachbarn, die nicht zuerst aufEinflusssphären und Absatzmärkte schauen, sondern aneiner wirklichen Partnerschaft arbeiten.Vielen Dank.
Andreas Schockenhoff ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirsind zutiefst erschüttert über die Eskalation der Gewaltin der Ukraine. Wir trauern um die Opfer der blutigenZusammenstöße. Wir sprechen dem ukrainischen Volkunsere Anteilnahme aus und sichern ihm unsere volleSolidarität zu. Wir sind froh, dass es jetzt die Chance füreinen Waffenstillstand gibt. Wir fordern alle Verantwort-lichen auf, das Ihre dazu beizutragen, dass dieser Waf-fenstillstand hält.
Zur Stunde ist Außenminister Steinmeier mit seinemfranzösischen und seinem polnischen Kollegen in Kiew.Damit sind zwei Botschaften verbunden: Erstens. DieEuropäische Union ist bereit, zu vermitteln, um das Landaus dieser existenziellen Krise herauszuführen. Zwei-tens. Die Europäische Union muss bereit sein, über dieÖstliche Partnerschaft hinaus der Ukraine in einemschwierigen Transformationsprozess zu helfen.Die Vermittlung ist notwendig, weil die Konfliktpar-teien selbst nicht aus der Sackgasse herausfinden, zumalPräsident Janukowitsch in den letzten Tagen zu einemechten Dialog nicht wirklich willens war. Wir brauchendeswegen einen fortgesetzten, anhaltenden Vermitt-lungsbeitrag. Dazu kann, wie gerade gesagt wurde, dieOSZE beitragen. Dazu kann auch ein Hoher Vertreterder Europäischen Union einen Beitrag leisten.Wenn es in diesem Zusammenhang die Aufforderungaus Moskau gibt, sich nicht von außen in Angelegenhei-ten der Ukraine einzumischen, dann müssen wir das alseine zynische Unterstellung zurückweisen, zumal da ge-rade Moskau vor Unterzeichnung des Assoziierungsab-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1207
Dr. Andreas Schockenhoff
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kommens durch offene Erpressung zur Eskalation derpolitischen Krise in der Ukraine mit beigetragen hat.
Ich will nachdrücklich unterstützen, was der KollegeAnnen gesagt hat: Wir dürfen uns keine Nullsummenlo-gik aufzwingen lassen. Russland gewinnt nicht, wenndie Ukraine die Zusammenarbeit mit der EuropäischenUnion aufkündigt. Wir gewinnen nicht, wenn dieUkraine nicht mit Russland zusammenarbeitet. Wir ge-winnen entweder alle durch zunehmende Kooperationund Integration in Europa, oder wir verlieren alle durchInstabilität und Unsicherheit in Europa.Wahr ist auch, dass es in der Ukraine inzwischen umeinen echten Systemkonflikt geht. Zur Wahrheit gehört,dass Moskau für die Menschen auf dem Maidan und füreinen großen Teil der Zivilbevölkerung in der Ukrainefür den Status quo steht. Aber die Menschen wollen an-ders leben. Die Menschen wollen in Freiheit leben. DieMenschen wollen in einem Rechtsstaat mit freien undfairen Wahlen, mit unabhängigen Gerichten, mit Mei-nungsfreiheit und unabhängigen Medien leben. DieMenschen sind nicht länger bereit, eine systemischeKorruption hinzunehmen, mit der sich die Machthaberexzessiv bereichern.Wenn Präsident Putin die Ukraine als ein Brudervolkbezeichnet, dann muss es uns zu denken geben, dassRussland für viele Menschen in der Ukraine an Anzie-hungskraft verloren hat. Das ist für uns kein Grund zurGenugtuung, im Gegenteil. Wir haben in der Europäi-schen Union mit der Finanzkrise, mit der Überwindungder Ungleichgewichte und mit unseren inneren struktu-rellen Problemen genügend Probleme zu lösen. Aberdass die Menschen in der Ukraine eine europäische Per-spektive brauchen, dass das, was wir an Hilfen anbieten,eben nicht wertneutral ist, sondern mit einem Leben inFreiheit nach den Idealen der sozialen Marktwirtschaft,mit Gerechtigkeit verbunden ist, zeigt sich in diesen Ta-gen ganz besonders.Diese europäische Perspektive muss über eine kurz-fristige Lösung hinaus für die Menschen spürbar blei-ben. Zu einer kurzfristigen Lösung gehören erstens einanhaltender Waffenstillstand, zweitens eine sofortigeUmsetzung der Amnestie, drittens die Bildung einer na-tionalen Übergangsregierung und viertens die Rückkehrzur Verfassung von 2004 mit echten Parlamentsrechten.Dazu gehört, dass wir für die Menschen Europa erlebbarmachen, etwa durch Studienprogramme und durch Sti-pendienprogramme vergleichbar zu ERASMUS. Dazugehört auch, dass wir – wie für die Republik Moldau –den Menschen in der Ukraine durch eine Perspektive aufVisafreiheit zeigen, dass Europa spürbar und erlebbarbleibt.Nur das ukrainische Volk selbst kann aus dieser Kriseherausfinden. Es gibt im Europa der souveränen Staatenkein Zurück zu privilegierten Einflusszonen. Dabeibraucht die Ukraine die Hilfe der Europäischen Union.Wir sind bereit, darüber mit anderen zu reden. EineRückkehr zum Status quo ante gibt es nicht. Wir sind vorallem bereit, darüber auch mit Russland zu reden.Vielen Dank.
Das Wort erhält nun die Kollegin Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eu-ropa ist unser Schicksal. – Das hat vor zwei Wochen ei-ner der Protestierenden auf dem Maidan zwischen denBarrikaden in der Kälte mitten in der Nacht zu mir ge-sagt. Vor zwei Wochen bestand noch viel Hoffnung, dassdie Beharrlichkeit helfen würde, eine Ukraine zu schaf-fen, die offen ist, demokratisch und europäisch. Seit vor-gestern Abend ist diese Hoffnung schwer erschüttert.Manche sagen auch: Sie ist völlig versiegt. Wir alle sindbetroffen von den Bildern. Wir denken an die Toten, wirtrauern mit den Angehörigen. Wir denken an die Verletz-ten, an die Verfolgten und auch an die Helferinnen undHelfer, die sich selbst in Gefahr bringen.Kirchen sind zu Lazaretten geworden. Der evangeli-sche Pfarrer der deutschen Auslandsgemeinde sagte ineinem Interview: „Ich halte die Steinwürfe für eine ge-zielte Provokation.“ Es falle schon auf, dass die Polizeidarauf sofort mit massiver Gewalt geantwortet hat. Auchin seiner Kirche in der Mitte von Kiew ist ein Lazaretteingerichtet.Meine Damen und Herren, das Regime Janukowitschhat verhindert, dass im Parlament überhaupt noch übereine Verfassungsänderung, über mehr demokratischeRechte, über die Möglichkeit des Machtwechsels debat-tiert wird. Genau das war der Auslöser für die Eskala-tion. Gleichzeitig hat die Regierung Janukowitsch dieZugeständnisse der Opposition, nämlich beispielsweisedie Räumung des Rathauses, als Schwäche deklassiert.Dann kam die Räumung des Maidan, und dann wurdedie Eskalation auf die Spitze getrieben.Gestern Abend gab es wieder einen Funken Hoffnungauf einen Waffenstillstand. Er ist heute Morgen, soscheint es jedenfalls, vorbei, und eine Lösung ist nicht inSicht. Angesichts von Toten und Verletzten und ange-sichts ausufernder Gewalt hoffe ich sehr, dass das Signalder EU-Außenminister heute so deutlich ausfällt, wie esdie Lage gebietet.
Dazu gehört auch, dass die kriminellen Geldflüsse derVerantwortlichen gestoppt werden, meine Damen undHerren.
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1208 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Katrin Göring-Eckardt
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Dazu gehört, dass Auslandskonten gesperrt und Visa-sperren für einzelne Beteiligte ausgesprochen werden.Die Vereinigten Staaten haben hier einen ersten Schrittgetan.Freilich, Frau Merkel: Man ist hinterher immerschlauer. Ich maße mir nicht an, anders gehandelt zu ha-ben. Aber was wäre passiert, wenn der Druck in dieserWoche auch aus Deutschland schon stärker gewesenwäre, als Vitali Klitschko und Arsenij Jazenjuk hier ge-wesen sind, und wir deutlicher gemacht hätten, dassSanktionen auch sehr bald ausgesprochen werden kön-nen? Ich glaube, wir haben tatsächlich eine Verantwor-tung. Nicht nur auf europäischer Ebene müssen wir Posi-tion beziehen. Ich finde, Deutschland kann in diesemKonflikt keine neutrale Position einnehmen, meine Da-men und Herren,
und zwar, weil es um Europa geht, weil es um Freiheits-rechte geht, nach denen die Menschen streben, für die siekämpfen und für die sie so viel aufs Spiel setzen. Es gehtnicht darum, naiv zu sein. Es geht nicht darum, so zutun, als ob es nicht auch nationalistische Kräfte auf demMaidan gebe. Natürlich gibt es die. Trotzdem müssenwir in aller Klarheit auf der Seite der europäischen Werteund der Freiheitsrechte stehen und stehen bleiben.
Wenn ich mir anschaue, wie viele klare Worte dazugefallen sind – aus der Europäischen Union, aus denVereinigten Staaten –, dann hoffe ich sehr, dass auch wiruns zu solch klaren Worten durchringen können. FrauMerkel, es war vorhin eigentlich sehr schön, dass Sie beidem Satz des Präsidenten, dass die Ukraine frei entschei-den können muss, aus Versehen – weil Sie das auf derRegierungsbank nicht dürfen – geklatscht haben. Ja, ge-nau darum geht es.
Frau Kollegin Göring-Eckardt, gestatten Sie eine
Zwischenfrage der Kollegin Hänsel?
Sehr gerne.
Danke schön. – Frau Göring-Eckardt, Sie sagten ge-rade: Wir können keine neutrale Position einnehmen. –Ich möchte bezweifeln, dass Deutschland bereits eineneutrale Position eingenommen hat. Wir wissen doch,dass die Opposition, zum Beispiel Klitschko, beste Kon-takte pflegt und seine Partei, die UDAR, seit Jahren vonder Konrad-Adenauer-Stiftung finanziert und unter-stützt wird. Das heißt doch nicht, dass wir eine neutralePosition hätten.Was die Eskalation angeht, wurde hier von mehrerenRednern und Rednerinnen festgestellt, dass die Gewaltauch von den Demonstranten und Demonstrantinnenausging. Ich möchte Sie fragen: Wie würden Sie reagie-ren, wenn es von Parteien Aufrufe gibt, dass alle, die re-gistrierte Waffen haben, auf den Maidan kommen sol-len? Ich möchte von Ihnen gerne wissen: Wie würdenSie darauf reagieren? Wollen Sie verhindern, dass dergewalttätige Teil der Demonstrantinnen und Demon-stranten weiter ermuntert wird, indem Sie einseitigSanktionen aussprechen? Was haben Sie denn für eineVorstellung von Politik, wenn Sie nur gegen einen TeilSanktionen aussprechen wollen?
Frau Hänsel, sorry, aber wenn wir über Sanktionenwie Geldflüsse-Stoppen reden, wenn wir über Sank-tionen im Hinblick auf Konten reden, mit denenJanukowitsch, seine Familie, sein ganzer Clan auch Gel-der für Unterstützung ins Ausland geschafft haben,
dann trifft das genau die Richtigen; da bin ich mir ganzsicher.
Natürlich brauchen auch die Regierungsleute einen ir-gendwie geordneten Rückzug; aber damit sie sich nichtaus dem Staub machen können, um sich in Westeuropaein schönes Leben zu machen, finde ich es richtig, dassman hier Visasperren verhängt, meine Damen und Her-ren und Frau Hänsel.
Die Opposition auf dem Maidan, in Lemberg und invielen anderen Orten der Ukraine ist zum großen Teilfriedlich
und hat sich von den nationalistischen Kräften distan-ziert. Diese Opposition auf Twitter zu diffamieren mitden Worten „Faschos in Militärkleidung“, wie es eine Ih-rer Kolleginnen gemacht hat, das geht nicht, FrauHänsel. Das sind Leute, die für die Freiheit kämpfen unddie alles riskieren dafür.
Meine Damen und Herren, wenn wir über Klarheit re-den, dann heißt das auch, dass wir klare Worte in Rich-tung Russland, in Richtung Putin sagen müssen. Mankann nicht in Sotschi den weltgewandten Gastgeberspielen und gleichzeitig Janukowitsch decken, stützen
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1209
Katrin Göring-Eckardt
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und unterstützen, während er den Protest niederwalzt.Meine Damen und Herren, auch hier ist von unsererSeite und vonseiten der EU Klarheit gefragt.
Meine Damen und Herren, Europa ist unser Schick-sal. Wir denken bei Europa manchmal zuerst an Büro-kratie, Glühbirnenverbot, Hilfspakete, Lobbyismus oderich weiß nicht was. Die meisten Menschen, die auf demMaidan stehen, und diejenigen, die sie unterstützen, fin-den: Europa ist eine Verheißung von Frieden, Rechts-staatlichkeit und Demokratie. Wir dürfen nicht versagen,wenn es um die Freiheit geht. Dazu brauchen wir eineklare Haltung, den nötigen Druck und konsequentesHandeln. Das sind wir den Menschen auf dem Maidangenauso wie der europäischen Idee schuldig.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Franz Thönnes
für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichwar am Sonntag und am Montag in Kiew, um politischeGespräche mit Vertretern der Parteien und der Zivilge-sellschaft zu führen. Auf dem Weg zum Maidan amSonntagabend kam ich am Rathaus vorbei, das entspre-chend den Verabredungen gerade geräumt wurde, damitam Tag darauf das Amnestiegesetz umgesetzt werdenkonnte. Wir alle kennen die Bilder vom Maidan, diedurch die Medien gegangen sind. Die Atmosphäre, dieich vorgefunden habe, war einerseits ruhig und offen,andererseits aber auch von Anspannung und Bereitschaftgeprägt. Es macht betroffen, wenn man an der von Ker-zen beleuchteten Gedenkstätte für die – zu diesem Zeit-punkt noch vier – Toten steht und sieht, welche Opfergebracht worden sind und welche Folgen die gewalttäti-gen Auseinandersetzungen hatten.Neben dem freundlichen und friedlichen Erschei-nungsbild habe ich leider auch sehr wehrbereite Erschei-nungsformen gesehen von radikalen Gruppen, die zurGewalt bereit sind. Das ist nicht die Mehrheit – man darfes auch nicht so hinstellen –; aber man darf auch nichtverschweigen, dass es so etwas gibt. Wir müssen allenProvokateuren, egal auf welcher Seite sie stehen, dieStirn bieten; denn sie stehen einem fairen Verhandlungs-prozess im Wege.
Ich habe bei den Menschen Müdigkeit, Anspannungund Sorge gesehen; aber ich habe auch Hoffnung gese-hen: die Hoffnung auf eine freiheitliche, auf eine rechts-staatliche Zukunft, auf eine Zukunft in Europa, in derman einen guten Platz hat, in der man auch ein Stückweit Hoffnung auf ein wenig Wohlstand haben kann.Um Hoffnung ging es auch in den Gesprächen, diesich angeschlossen haben: Hoffnung auf Rückkehr zurVerfassung von 2004, Hoffnung darauf, im Parlament,am Verhandlungstisch zu einer friedlichen Lösung zukommen, Hoffnung auf Unterstützung durch die Euro-päische Union und auch Hoffnung auf Sanktionen, durchdie die andere Seite dazu bewegt wird, Interesse an einerEinigung zu zeigen, aber auch Hoffnung auf Verhinde-rung des angesichts der angespannten wirtschaftlichenSituation drohenden ökonomischen Zusammenbruchs.Diese Hoffnungen habe ich mitgenommen, als ich weg-gefahren bin, aber auch das Bewusstsein, dass das ge-genseitige Vertrauen dort gering ausgeprägt ist. Dort istnur ein Funke notwendig, um eine Explosion auszulö-sen.Das alles haben wir seit Dienstag leider erlebt: dasAbgehen vom Kurs des Verhandelns, das Verlassen desVerhandlungstischs, die Provokation, die Verfassungsde-batte im Parlament, die verabredet war, von der Tages-ordnung abzusetzen. Wir haben eine unverhältnismäßigeReaktion der Sicherheitskräfte erlebt, als die Demon-stranten zum Parlament zogen, und wir haben Provoka-tionen auf beiden Seiten gesehen, die an dieser Stellekeinen Platz haben. Scharfschützen auf den Dächernhaben genauso wenig etwas in einem vernünftigen Ver-handlungsprozess zu suchen wie Menschen, die mitBenzinkanistern in Parteizentralen hineingehen.
Deutlich wurde auch die Hoffnung, dass man einenguten Weg für die Ukraine findet. Doch die Brutalität,mit der die Sicherheitskräfte vorgegangen sind, hat die-sen Funken Hoffnung am Ende zerstört. Wir müssendeutlich sagen: Diese Brutalität ist für uns inakzeptabel;sie ist intolerabel. Verantwortlich dafür sind der Staats-präsident Janukowitsch und die Verantwortlichen in denSicherheitskräften.
Über 1 000 Verletzte und inzwischen 30 Tote: Dassind die Folgen. Unsere Gedanken sind bei ihren Famili-enangehörigen.Ich glaube, es war notwendig und wichtig, dass ges-tern sehr intensiv versucht worden ist, über alle mögli-chen Kanäle einzuwirken: über die deutsch-französi-schen Regierungskonsultationen, über Telefonate, überGespräche, über Kontakte und auch über die klare Aus-sprache von Sanktionen. Ich denke, dass das Telefonatder Bundeskanzlerin ebenso wie die Gespräche, die derBundesaußenminister am vergangenen Donnerstag undFreitag in Moskau geführt hat, dazu beigetragen haben,dass über Nacht der Hauch einer Chance für einen Waf-fenstillstand entstanden ist.
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1210 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Franz Thönnes
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Dass heute Morgen festzustellen ist, dass das Funda-ment, auf dem diese Hoffnung beruht, sehr dünn ist,sollte uns nicht entmutigen, sondern wir sollten jetztauch einen Funken Hoffnung in die Mission der drei EU-Außenminister setzen. Vielleicht ist es ein ermutigendesZeichen, dass sich hier genau die Länder darum bemü-hen, weiter eine friedliche Entwicklung in Europa zu er-möglichen, die am stärksten von den Folgen des ZweitenWeltkrieges betroffen worden sind.Bei der Ukraine haben wir es mit dem zweitgrößtenFlächenstaat in Europa zu tun; dort leben über 45 Millio-nen Menschen. Es gilt daher, eine Perspektive zu entwi-ckeln, die nicht „entweder-oder“ lautet, sondern die derUkraine ihren Platz in Europa, inmitten der Europäi-schen Union und mit Russland, ermöglicht. Es mussFreiraum dafür geschaffen werden, dass die Menschen inder Ukraine unter freiheitlichen und rechtsstaatlichenBedingungen selbst bestimmen können, welchen Wegsie gehen. Das heißt, sie müssen zur Verfassung von2004 zurückkehren und freie Wahlen durchführen kön-nen, in der sie über ihre Volksvertretung und ihren Präsi-denten entscheiden.Wir haben als Mitgliedsland der Europäischen Uniondie Aufgabe, gemeinsam mit Russland dafür zu sorgen,dass es gelingt, die Ukraine in die Europäische Gemein-schaft, in diese Staatengemeinschaft, aufzunehmen,wenn sie es will, und Formen zu finden, mit denen einfriedliches Zusammenleben in Europa, auf unseremKontinent, möglich ist.
Nächster Redner ist der Kollege Andrej Hunko für die
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
glaube, es gibt niemanden, dem die Bilder der letzten
Tage aus der Ukraine und die Eskalation der Gewalt
nicht nahegehen und der die Opfer auf allen Seiten nicht
bedauert. Das geht auch mir so als jemandem, dessen Fa-
milie in der Ukraine dem Bürgerkrieg in den 20er-Jah-
ren, dem Massenhunger in den 30er-Jahren und den
Zwangsumsiedlungen in den 40er-Jahren weitgehend
zum Opfer gefallen ist.
Ich wünsche mir sehr, dass das 21. Jahrhundert für die
Ukraine besser wird, als es das 20. Jahrhundert war.
Voraussetzung dafür ist aber, dass die Spirale der Eskala-
tion durchbrochen wird und dass die Ukraine nicht in ei-
nen Bürgerkrieg abgleitet. Wir müssen alles tun, um
diese Eskalationsspirale zu durchbrechen.
Ich glaube nicht, dass es zielführend ist, wenn die
komplexe Situation in der Ukraine einseitig dem Präsi-
denten Janukowitsch angelastet wird und dabei verharm-
lost und verschwiegen wird, welche Kräfte zum Teil
auch auf dem Maidan aktiv sind.
Ich glaube auch nicht, dass es zielführend ist, wenn, wie
heute, der französische, der polnische und der deutsche
Außenminister mit der Androhung von Sanktionen nach
Kiew fahren.
Ich war im Herbst 2012 Wahlbeobachter des Europa-
rates in Kiew. Mein Eindruck der Situation ist, dass die-
ses Land sozial zutiefst gespalten ist, dass sich in den
letzten 20 Jahren eine kleine Schicht unglaublich berei-
chert hat und dass diese kleine Schicht extremen Ein-
fluss auf die Politik nimmt. Das ist – wir haben es in die
Erklärung des Europarates aufgenommen – eine Oligar-
chisierung der Politik in der Ukraine. Sie betrifft alle
geostrategischen Orientierungen. Sie betrifft sowohl die
sogenannten prowestlichen Parteien als auch die pro-
russischen Parteien. Ich sage ganz klar, dass wir an der
Seite der Ukrainer und Ukrainerinnen stehen, wenn es
darum geht, diese Oligarchisierung der Politik und diese
soziale Spaltung in der Ukraine zu überwinden.
Leider ist es so, dass die Entwicklung in der Ukraine
nach dem Scheitern des Assoziierungsabkommens sehr
stark von geostrategischen Interessen überlagert wird,
und zwar sowohl von der russischen Seite als auch von
europäischer und US-amerikanischer Seite. Es ist leider
so, dass von beiden Seiten massiver Druck dahin gehend
ausgeübt wird, die Ukrainer in die eigene Einflusssphäre
zu ziehen und sie aus der anderen Einflusssphäre heraus-
zuholen.
Herr Kollege Hunko, darf Ihnen der Kollege Sarrazin
eine Zwischenfrage stellen?
Ja, bitte schön.
Verehrter Herr Kollege Hunko, ich möchte Ihnen eine
ganz simple Frage stellen. Glauben Sie eigentlich, dass
Herr Präsident Putin – Sie haben gerade vom Einfluss
der Vereinigten Staaten von Amerika und der Russischen
Föderation geredet –, als er vor drei Tagen die ersten
Tranchen für das Regime, die Regierung in der Ukraine
freigegeben hat, die Möglichkeit gehabt hätte, Einfluss
auf Herrn Janukowitsch dahin gehend zu nehmen, eine
Räumung des Maidan zu unterbinden? Glauben Sie, dass
Herr Putin die Möglichkeit gehabt hätte, auf Herrn
Janukowitsch Einfluss zu nehmen, um zu verhindern,
dass der Maidan geräumt wird, was der entscheidende
Schritt zur Eskalation war?
Ich sage deutlich: Ja, es gibt eine Einflussnahme vonrussischer Seite auf Präsident Janukowitsch. Es gibt aberebenso eine Einflussnahme von europäischer und vonUS-amerikanischer Seite auf die Opposition. Da fordere
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1211
Andrej Hunko
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ich ganz eindrücklich, dass die Kooperation mit faschis-tischen Kräften auf dem Maidan beendet wird.
Ich will verdeutlichen, was damit gemeint ist. DiePartei Swoboda, die leider gegenwärtig zusammen mitdem rechten Block die organisatorisch und ideologischdominante Kraft auf dem Maidan ist, wird vom Jüdi-schen Weltkongress als neonazistisch eingestuft. Die eu-ropäischen Bündnispartner dieser Partei sind die Jobbikin Ungarn, die British National Party in Großbritannienoder in Deutschland – Vertreter von Swoboda waren ein-mal hier gewesen – die NPD in Sachsen. Das ist die poli-tische Ausrichtung dieser Partei. Wir fordern ganz klar,dass die Kooperation mit solchen Kräften beendet wird.
Nun möchte Ihnen die Kollegin Haßelmann eine
Frage stellen.
Gerne.
Vielen Dank, Herr Hunko. Vielen Dank, Herr Präsi-
dent, dass Sie die Frage zulassen. – Herr Hunko, ich
möchte Sie aus aktuellem Anlass bitten, uns Ihre Posi-
tion zu folgendem Sachverhalt zu erläutern. Ich will Sie
fragen, ob Sie sich von dem Tweet Ihrer Kollegin Sevim
Dağdelen, die die aktuelle Debatte anscheinend nicht im
Plenum, sondern vielleicht aus ihrem Bundestagsbüro
verfolgt und kommentiert, an die Grünen distanzieren.
Ich lese Ihnen den Tweet einmal vor und bitte Sie, sich
dazu zu positionieren und davon zu distanzieren:
Unerträglich diese verwelkten Grünen, die die Fa-
schisten in der #Ukraine verharmlosen, die antise-
mitische Übergriffe begehen. Ein Tabubruch!
Ich finde es unerträglich, in dieser Art und Weise unsere
Debatte zu kommentieren.
Davon gehört es sich zu distanzieren, wenn man als
Sprecher der Linken hier redet.
Frau Kollegin, ich kann mich schlecht zu Tweets äu-
ßern, die ich nicht kenne.
– Nun hören Sie einmal zu! – Aber ich will schon sagen,
dass ich es tatsächlich problematisch finde – das habe ich
eben auch ausgeführt –, dass Kräfte wie die Swoboda-
Partei als Teil des Oppositionsbündnisses in der Ukraine
akzeptiert und toleriert werden.
– Ich habe die Debatte so wahrgenommen. Mir geht die
hier stattgefundene Distanzierung von diesen Kräften
nicht weit genug. Seit den Parlamentswahlen im Oktober
2012, die ich beobachtet habe und bei denen ich das
auch schon gesagt habe, sind die Vaterlandspartei, die
Klitschko- oder UDAR-Partei und die Swoboda-Partei
in einem gemeinsamen Oppositionsbündnis.
Ich kritisiere das, und ich fordere eine Distanzierung von
solchen Parteien.
– Mag sein, dass Sie das anders wahrnehmen. Ich sehe
das so, und ich will jetzt mit meiner Rede fortfahren.
Ich glaube, wir brauchen gegenüber der Ukraine und
gegenüber Osteuropa eine andere Ostpolitik. Die
Ukraine ist nach wie vor ungefähr hälftig an Russland
und hälftig an der Europäischen Union orientiert. Wenn
die Spannungen zwischen der EU und Russland weiter
verschärft werden, dann wird das auf dem Rücken der
Ukraine und der Menschen dort ausgetragen, und das
Land wird in einen Bürgerkrieg getrieben.
Ich fordere eine neue Ostpolitik, die vor allen Dingen
auf Kooperation mit Russland setzt. Ich fordere auch
eine Wirtschaftspolitik, die vor allen Dingen auf die so-
ziale Entwicklung in der Ukraine setzt statt auf die Öff-
nung der Märkte für europäische Konzerne. Vor allen
Dingen fordere ich – das hat mein Kollege Liebich vor-
hin schon gesagt; dazu werden wir auch eine Initiative
einbringen –, dass endlich das restriktive Visaregime ge-
genüber den Menschen in der Ukraine aufgehoben wird
und dass es eine Visaliberalisierung gibt,
damit sich die Zivilgesellschaft in der Ukraine mit der
europäischen Zivilgesellschaft austauschen kann.
Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mir zudem gerade stattgefundenen Vorgang eine knappe Be-merkung erlauben. Nach meinem Stilempfinden sollte essich von selbst verbieten, dass jemand, der an einer De-batte nicht teilnimmt, aus welchem Grund auch immer,
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1212 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Präsident Dr. Norbert Lammert
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gleichzeitig über welches Medium auch immer diese De-batte kommentiert.
Das Wort erhält nun der Kollege Norbert Röttgen fürdie CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Auch ich möchte nach diesem Beitrag in der De-
batte als Mitglied der CDU/CSU-Fraktion ausdrücklich
mein Bedauern darüber ausdrücken, dass die Fraktion
der Linken diese Debatte nicht dazu genutzt hat, sich
von der Methode zu distanzieren und sie zurückzuwei-
sen. Dass einzelne Stimmen, die es in dieser Opposition
gibt, dazu benutzt werden, die Opposition und ihr Eintre-
ten für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte insge-
samt zu diffamieren, lehnt das Haus ab.
Sie haben die Chance verpasst, sich davon zu distanzie-
ren.
Ich bedaure das auch deshalb – ich möchte bewusst
damit beginnen –, weil die politische Situation in der
Ukraine auch in der politischen Debatte, die wir heute
führen, zunächst und zuallererst eine zutiefst menschli-
che Dimension und menschliche Seite hat. Wenn Todes-
opfer zu beklagen sind, dann gehört unser Mitgefühl den
Opfern von Gewalt und deren Angehörigen, und zwar
den Opfern jeglicher Gewalt. Wir differenzieren nicht.
Gewaltanwendung jeglicher Art muss unterbunden wer-
den. Das ist unsere erste Forderung.
Damit wird sichtbar, dass das, was die menschliche Seite
betrifft, auch zutiefst politisch ist. Das Eintreten für Frei-
heit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie hat den Sinn,
den Menschen in seiner Freiheit und Unversehrtheit zu
schützen. Deshalb ist von allen erneut die Forderung zu
erheben – das geschieht auch –: ein Ende der Gewalt,
unbedingt, sofort und auf allen Seiten!
Wie verfahren die Situation aber ist, wird schon da-
durch deutlich, dass man, wenn man sie genauer analy-
siert, wahrscheinlich zu dem Urteil kommen muss, dass
ein weitgehender Kontrollverlust auf den unterschiedli-
chen Seiten eingetreten ist. Es gibt wahrscheinlich nicht
mehr die Instanz, die allein entscheiden kann. Es ist na-
türlich nicht die Opposition. Es ist nicht die EU, aber es
sind auch nicht Moskau und die Regierung Janukowitsch
allein. Unter anderem das macht die Lage so verfahren
und kompliziert. Als Ergebnis der Eskalation haben wir
es mit einem weitgehenden Kontrollverlust der Lage zu
tun. Dennoch haben Präsident Janukowitsch und seine
Regierung die entscheidende Verantwortung und die
Möglichkeit, Macht auszuüben. Sie müssen ihre Macht
endlich einsetzen, Gewalt zu unterbinden und Gewalt-
anwendung wirksam zu verbieten. Janukowitsch muss
alles tun, was noch in seiner Macht steht, um Gewalt zu
unterbinden.
Das Ende der Gewalt ist die Voraussetzung dafür,
dass das zur Geltung kommt, was die unverhandelbare
Grundlage einer Konfliktlösung ist, nämlich die Aus-
übung des Selbstbestimmungsrechts des ukrainischen
Volks; darum geht es. Man muss wieder zu einem politi-
schen Prozess zurückkehren, der Verfassungsreformen
beinhaltet und an dessen Ende die Ausübung des Selbst-
bestimmungsrechts durch Neuwahlen zum Präsidenten-
amt und zum Parlament steht.
Damit bin ich beim Parlament angekommen. Da wir
hier eine Debatte im Parlament führen, fordere ich die
Mitglieder des ukrainischen Parlaments, die Mehrheit,
die darüber entscheidet, auf: Stehen Sie nicht länger ei-
ner Debatte über eine Verfassungsreform im ukraini-
schen Parlament im Wege! Die Verweigerung einer De-
batte über eine Verfassungsreform im ukrainischen
Parlament war der Auslöser der Gewalteskalation. Als
Kolleginnen und Kollegen des ukrainischen Parlaments
sollten sie endlich wieder bereit sein, eine Debatte über
Verfassungsreformen zu führen.
Was können wir tun? Diese Frage wird immer kriti-
scher an uns gestellt. Was müssen wir tun? Was muss der
Westen tun? Diese Fragen sind gar nicht so einfach zu
beantworten. Ich glaube, auch das ist ein Teil der Wahr-
heit, die wir aussprechen müssen. Auf der einen Seite
haben wir – das ist sehr lobenswert und zu begrüßen –
Entschlossenheit, Geschlossenheit und Klarheit gezeigt.
Es muss klar sein – das ist es auch –, wo wir stehen.
Wenn in der Mitte Europas Menschen für europäische
Werte demonstrieren und ihr Leben einsetzen, dann
muss die europäische Politik klarmachen – das tut sie
auch –, auf welcher Seite wir stehen, nämlich auf der
Seite europäischer Werte und der Menschen, die für sie
eintreten. Das ist die Klarheit unserer Position.
Herr Kollege Röttgen, darf der Kollege Alexander
Neu Ihnen eine Zwischenfrage stellen?
Ja, bitte.
Herr Kollege, Ihnen ist bekannt, dass es bereits 2004eine Verfassungsreform im Sinne der heutigen Opposi-tion gegeben hat. Wollen Sie dementsprechend immer,wenn die Opposition, die gerade dem Westen genehmist, eine Verfassungsreform fordert, auch eine Verfas-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1213
Dr. Alexander S. Neu
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sungsreform einfordern? Sie selber haben das Selbstbe-stimmungsrecht angesprochen. Das Selbstbestimmungs-recht erfordert auch, dass sich die Bundesregierung unddie Konrad-Adenauer-Stiftung bei der Parteinahme zu-rückhalten und den politischen Kampf den Menschen inder Ukraine überlassen und nicht von außen steuern.Auch das ist ein Teil des Selbstbestimmungsrechts. Tei-len Sie diese Auffassung, ja oder nein?
Genau weil wir diese Auffassung teilen, treten wir da-
für ein und kämpfen die Menschen dort dafür, dass das
Selbstbestimmungsrecht, die Möglichkeit, politische
Freiheiten wahrzunehmen, friedlich zu demonstrieren,
seine Meinung frei zu äußern und frei zu wählen, auch
Ausdruck und Absicherung in einer Verfassung findet.
Eine solche Verfassung gibt es aber im Moment nicht.
Die Rückkehr zur Verfassung von 2004 ist das Mindeste,
um in einem ersten Schritt zu einem politischen Neuan-
fang in der Ukraine zu kommen. Dafür sollen sich auch
die Machthaber einsetzen. Es geht darum, Herr Kollege,
dass es zu einer Verfassung kommt, die Freiheit und De-
mokratie gewährleistet.
Und auf dieser Seite stehen auch wir.
– Ich glaube, es wird nicht besser, auch wenn Sie es per-
manent wiederholen.
Ich frage mich die ganze Zeit, warum Sie als Parla-
mentarier so reden. Wir sind hier als Parlamentarier, weil
wir Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie haben.
Sie sind Teilnehmer der Demokratie, Sie sind Parlamen-
tarier. Ich frage mich, warum Sie das alles in Zweifel
ziehen, warum es Ihnen so schwerfällt, den Wunsch
nach Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in einem euro-
päischen Land zu akzeptieren. Welche Probleme haben
Sie eigentlich damit, dass auch andere Demokratie und
Freiheit haben wollen? Ich verstehe Ihre Position an die-
ser Stelle nicht, diese Ignoranz.
– Vielleicht gehen Sie einmal in sich und denken über
Ihre Position nach, anstatt hier zu reden.
Ich will einen letzten Punkt ansprechen, weil ich
glaube, dass die Klarheit unserer Position durch Ge-
sprächsinitiative und Gesprächsbereitschaft auch mit
Russland ergänzt werden muss. Auf der Basis des
Selbstbestimmungsrechts müssen wir ins Gespräch mit
der russischen Regierung kommen. Ich sage auch durch-
aus selbstkritisch aus europäischer Perspektive: Wir
müssen die fatale Psychologie des Entweder-oder durch-
brechen und durch eine Ratio von Gespräch, Diplomatie
und Kooperation ersetzen. Wir machen uns nicht altes,
überkommenes Einflusssphärendenken zu eigen, aber
wir wissen und respektieren sehr wohl, dass es in der
Ukraine einen beachtlichen Bevölkerungsteil gibt, der
sich Russland kulturell und traditionell verbunden fühlt.
Darum müssen wir auch mit Russland darüber reden,
weil keiner ein Interesse daran hat, wenn die Ukraine
brennt. Darum müssen wir darüber reden, weil gute
Nachbarschaft im Interesse von beiden ist, des Nachbarn
EU und des Nachbarn Russland. Diese Gesprächsinitia-
tive, diese diplomatische Initiative muss stärker werden.
Entweder-oder ist eine Sackgasse sowohl für die
Ukraine selber, wenn sie gezwungen wäre, einer Alter-
native den Vorzug zu geben, als auch für die außen- und
europapolitische Situation. Diese fatale Situation, die in
der Perzeption in Russland und der Ukraine vorherrscht,
müssen wir überwinden. Wir müssen zu einem koopera-
tiven Verhältnis kommen. Es gibt, wenn wir den Weg
des Entweder-oder und der Gewalt fortsetzen, nur Ver-
lierer, keine Gewinner.
Wenn wir von der westlichen Seite und der östlichen
Seite zu einer partnerschaftlichen und guten Nachbar-
schaft mit der Ukraine kommen, wird das für alle ein
Gewinn sein. Ich glaube, für diesen neuen, auch diplo-
matischen Ansatz müssen wir uns einsetzen. Klarheit
müssen wir einbringen; gleichzeitig darf uns nichts zu
schade sein. Es muss alles eingesetzt werden, was wir an
diplomatischen und außenpolitischen Möglichkeiten und
Potenzialen haben. Es geht um Friede, Freiheit, Men-
schenwürde und Demokratie, und sie verlangen jeden
Einsatz von uns.
Vielen Dank.
Norbert Spinrath ist der nächste Redner für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Die dramatische Ent-
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1214 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Norbert Spinrath
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wicklung der letzten Tage in Kiew hat uns sehr deutlichgemacht, wie wichtig es ist, jetzt zu handeln. Die Welthat seit Wochen aufmerksam nach Kiew geschaut undsich mit diplomatischen Initiativen bemüht, ihren Bei-trag zu leisten, um den Konflikt zu beenden. Ich denke,das hat alle demokratischen Kräfte miteinander vereint.Dies heute als fehlgeleitet zu geißeln, bezeugt Ihre Auf-fassung von Demokratie, aber auch von Menschenrech-ten.
Die ukrainische Regierung hat sich dagegen auf un-verantwortliche Weise ins Abseits manövriert. Sie ver-sucht mit unverhältnismäßigen und brutalen Mitteln, denMaidan zu räumen. Dabei wird sie immer dreister. Nacheiner blutigen Nacht vorgestern voller Gewalt mit 26 To-ten und mehr als 1 000 Verletzten wollte sie gestern eineAntiterroraktion starten. Die Sicherheitskräfte seien vonden Oppositionellen zum Eingreifen provoziert worden,behauptet die Regierung.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin gelernterPolizist. In meinem anschließenden Studium befähigteman mich unter anderem auch zur Bewältigung polizeili-cher Großlagen. Mehrere Jahre war ich als Einsatzleiterbei kleinen und großen Lagen unterwegs.Daher weiß ich, dass es in einer Demokratie nicht hin-nehmbar wäre, auf eine Provokation durch Demonstran-ten in der in Kiew gesehenen Weise zu reagieren.
Daher weiß ich auch, dass es nicht möglich ist, innerhalbvon Minuten nach einer Provokation durch Demonstran-ten spontan in dem Umfang zu reagieren, wie wir ihn inKiew gesehen haben. Daher weiß ich auch, dass es einerpräzisen Einsatzplanung und umfangreicher logistischerVorbereitungen bedarf, um einen verbarrikadierten Platzwie den Maidan zu räumen und um, wie vorgestern undgestern geschehen, die gesamte Stadt Kiew abzuriegelnund damit den Zustrom weiterer Demonstranten zu un-terbinden.Das lässt für mich eben nur einen Schluss zu – ich bittedie ganz linke Seite hier, einmal genau zuzuhören –: DieEskalation war keine Reaktion auf Provokationen; daswar eine geplante und gut vorbereitete Aktion der Si-cherheitskräfte im Auftrag der Regierung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die EuropäischeUnion stützt sich insgesamt in ihrem Bestand wesentlichauf ihre friedensstiftende und friedensbewahrende Wir-kung. Sie hat mit ihrem Europäischen AuswärtigenDienst von Beginn der Auseinandersetzungen in derUkraine an deutliche Bemühungen unternommen, diesenKonflikt positiv zu beeinflussen. Allerdings wurde dasnicht hinreichend öffentlich.Gestern hat sich die Europäische Union, gestern habensich aber auch die USA zur Androhung von Sanktionenentschlossen. Heute werden die Außenminister des soge-nannten Weimarer Dreiecks auf dieser Grundlage inKiew verhandeln. Viele Menschen tun sich damit schwer,mit Sanktionen zu operieren, weil deren Wirksamkeit oftsehr begrenzt ist, wie die Erfahrungen der letzten Jahr-zehnte zeigen. Aber auch die Diplomatie – das haben wirin den letzten Wochen ebenfalls erlebt – kann eine sehreng begrenzte Wirkung haben. Zumindest die Abläufedes gestrigen Tages zeigen auf, dass die Androhung vonSanktionen ein Mittel zum Einlenken sein kann. Dennjetzt und sofort gilt es deutliche Signale zu setzen.In der letzten Nacht erreichte uns dann die Eilmel-dung, dass sich Präsident und Opposition auf eine Aus-setzung der Gewalt geeinigt hätten. Dies könnte Hoff-nung für die Menschen in der Ukraine bringen. Dochschon die Bilder von heute Morgen zeigen, dass die Aus-einandersetzungen wieder begonnen haben, als sei ges-tern Abend nichts geschehen. Ich denke, das zeigt unsauf, wie wichtig es ist, unsere Bemühungen um die Her-beiführung einer friedlichen Lösung fortzusetzen und beidiesen eben nicht nachzulassen.Neben Sanktionen muss aber unabdingbar die Diplo-matie weitergehen. Sie muss die Wirkung von Wortenverstärken. Sie muss stärker auf diplomatische Floskelnverzichten, um mit der notwendigen Schärfe den Druckauf Janukowitsch aufzubauen. Es gilt, den Staatspräsi-denten an der Herbeiführung eines blutigen Bürgerkriegszu hindern. Es gilt aber auch, die letzte Chance zu nut-zen, bevor extremistische Kräfte endgültig die Oberhandüber die anfangs so vorbildlich friedliche Opposition aufdem Maidan gewinnen.Die Europäische Union muss nun entschlossen auftre-ten. Da geht es gar nicht darum, wer Sieger wird. Wiemein Kollege Niels Annen eben schon gesagt hat, darf esnicht darum gehen, dass sich die Ukraine entscheidenmuss zwischen Russland und der EU. Die Ukraine istTeil Europas. Sie braucht aber gleichermaßen verlässli-che Handelsbeziehungen zu Russland.Jenseits von Szenarien zu Machtordnungen in Ost-europa müssen alle Anstrengungen darauf gerichtet sein,eine Regierung, die sich ins Abseits manövriert hat, da-von abzuhalten, die Lösung des Konflikts in brutaler Ge-walt zum Nachteil ihrer Gesellschaft zu suchen und da-bei einen Bürgerkrieg herbeizuführen. Im Vordergrundmüssen Deeskalation und Befriedung stehen. ZwecksRückkehr zu von allen Seiten getragenen demokrati-schen Lösungen muss aber auch – dazu fordere ich dieAußenminister auf, die heute in Kiew sind – in Moskaudeutlich gemacht werden, dass die Ukraine kein Spiel-feld für Machtinteressen und Machtoptionen sein darf.Liebe Kolleginnen und Kollegen, meinen Dank fürdie Aufmerksamkeit verbinde ich mit meinem letztenGedanken: Russland und die EU müssen ab sofort an ei-nem Strang ziehen: zur Verhinderung eines Bürgerkriegsin der Ukraine – im Interesse der demokratischen Kräfte,im Interesse der Menschen in der Ukraine.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1215
Norbert Spinrath
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Das Wort hat nun der Kollege Florian Hahn für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Waffenstillstand, der gestern ausgehandelt wurde und
uns noch Hoffnung gegeben hat, wurde offensichtlich
nicht eingehalten. Reuters meldet aktuell zehn weitere
Tote. Das Treffen mit den Außenministern des Weimarer
Dreiecks, das hoffnungsvoll anvisiert war, hat nicht statt-
gefunden; auch das läuft gerade über Reuters. Da ange-
sichts dieser Entwicklungen die Fraktion Die Linke mit
gerade einmal elf Kolleginnen und Kollegen in diesem
Haus diesen Zirkus hier veranstaltet und offensichtlich
diese Debatte nicht ernst nimmt, frage ich: Wo ist Herr
Gysi? Wo ist Frau Wagenknecht? Wo ist Frau Kipping?
Wo ist die Führung der Fraktion Die Linke? Ich finde
das unglaublich!
Es ist keine zwei Jahre her, da haben Menschen auf
dem Maidan und in der ganzen Ukraine die Fußballeuro-
pameisterschaft gefeiert. Seit Wochen erreichen uns nun
erschütternde Bilder von den gleichen Stellen. Der trau-
rige Höhepunkt war in der Nacht von Dienstag auf Mitt-
woch mit etwa 30 Toten auf allen Seiten. Wir müssen
befürchten, dass dieses Land in den Bürgerkrieg hinein-
rutscht.
Mit der Erstürmung des Maidan durch die Polizei mit
Wasserwerfern, mit Blendgranaten, mit unglaublicher
Brutalität hat die ukrainische Regierung die Gewalteska-
lation ganz bewusst in Kauf genommen. Circa 30 Men-
schen sind getötet worden, jetzt noch einmal 10. Das
dürfte eine der blutigsten Nächte in Osteuropa seit dem
Zusammenbruch der Sowjetunion gewesen sein. Die
Verantwortung dafür trägt in der Hauptsache das Regime
Janukowitsch.
Die Rede Janukowitschs anlässlich dieser Krawalle
muss sich für die Opfer und für die Familien der Opfer
wie Hohn und Spott anhören. Er nennt sich selbst einen
Feind der Gewaltanwendung. Wir wissen aus vielen
Quellen, dass Oppositionelle geschlagen, gefoltert wer-
den oder gar einfach verschwinden. Er wirft der Opposi-
tion vor, sie würde die Grundsätze der Demokratie miss-
achten. Es ist sein Regime, das die Versammlungs- und
Meinungsfreiheit der Bürger in der Ukraine einschränkt.
Es ist sein Regime, das eine Debatte im Parlament nicht
zulässt, in der die Opposition mögliche Verfassungs-
änderungen diskutieren will.
Der Präsident macht nur eines deutlich: Er will seine
Macht nicht abgeben. Das ist bitter; denn in den letzten
Wochen ist es den gemäßigten Oppositionsführern wie
Klitschko gelungen, die Gewaltbereiten in ihren eigenen
Reihen immer wieder zu beruhigen. Jetzt gibt es Brand-
anschläge gegen Büros der Opposition im ganzen Land.
Offensichtlich wollen Kräfte Gewalt erzeugen – regie-
rungsnahe Kräfte. Wenn das so weitergeht, kommt es
zum Bürgerkrieg. Deshalb müssen wir alle Beteiligten
an den Verhandlungstisch zurückbringen, und diese
müssen ernsthaft verhandeln. Um das zu erreichen, müs-
sen wir den Druck auf das Regime weiter erhöhen. Sank-
tionen, vor allem gegen die Oligarchen im Hintergrund,
müssen greifen, können womöglich das entscheidende
Quäntchen ausmachen, damit sich nun etwas tut und wir
eine weitere Eskalation verhindern.
Die nächsten Schritte für eine bessere Zukunft der
Ukraine müssen sein: ernsthafte Verhandlungen mit allen
Beteiligten, eine Übergangsregierung ohne Janukowitsch,
Neuwahlen. Es muss auch verhindert werden, dass die-
ses Land weiter gespalten wird. Die Oligarchen müssen
entmachtet und Korruption muss bekämpft werden. Hier
wollen wir und hier müssen wir der Ukraine helfen.
Den vielen mutigen Menschen, die aktuell für Frie-
den, Freiheit und Demokratie in der Ukraine kämpfen,
sollten wir von hier aus zurufen, dass sie durchhalten
sollen, so friedlich wie möglich. Gerade wir Deutschen
wissen, dass sich dieser Mut lohnen kann.
Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Manuel Sarrazin,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Es ist nicht leicht, hier zu reden. Im Internetist von sieben Toten die Rede, die allein heute früh inKiew zu beklagen sind. Es ist auch deswegen nichtleicht, weil man nicht weiß, wie es weitergeht, wenn dieMission des Weimarer Dreiecks, so wie es jetzt aussieht,erfolglos ist und die Minister wieder abreisen müssen.Es ist auch nicht leicht, vor dem Hintergrund der Ereig-nisse der Linkspartei heute zuzuhören.
Ich habe Angst vor dem, was passiert. Ich habe Angstdavor, dass es eine Lage geben könnte, in der Stabilitätnicht schnell wiederherzustellen ist. Wer die Verantwor-tung dafür trägt, kann man klar benennen. Die Verant-wortung zeigt sich auch darin, dass spätestens mit demEinsatz zur Räumung des Maidan die Legitimität vonWiktor Janukowitsch in der Ukraine nicht mehr die ist,die sie vor drei Tagen noch war.
Glauben Sie wirklich, wenn Sie hier von Stabilität reden,dass man mit diesem Präsidenten noch in der Lage seinwird, Stabilität in der Ukraine wiederherzustellen?
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1216 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Manuel Sarrazin
(C)
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Meine Damen und Herren, ich glaube, dass heuteBerlin, Budapest, Posen, Stettin, Danzig, Leipzig undVilnius auf Kiew schauen. Ich glaube, dass viele Men-schen, die die Ereignisse in Zentraleuropa im 20. Jahr-hundert miterlebt haben, heute auf Kiew schauen. Ichdenke – mit Verlaub –, dass Ihre Einlassungen hier, sosehr auch ich Herrn Liebich beispielsweise schätze, da-mit zu erklären sind, aus welcher Tradition Ihre Parteikommt.
Ich möchte aber auch sagen: Die Ukraine hat einRecht darauf, auch von der deutschen Außenpolitik zu-erst aus ihrer eigenen Perspektive betrachtet zu werden,mit ihren eigenen Interessen und mit ihrer eigenen Situa-tion wahrgenommen zu werden. Die Ukraine hat einRecht darauf, dass die deutsche Außenpolitik sagt: Wirstehen zu den Menschen, die sich für dieses Land einset-zen. Wir stehen zu denen, die seit Monaten friedlich aufdem Maidan bei klirrender Kälte für Demokratie, fürFreiheit und auch für den Nationalstaat gekämpft ha-ben. – Das müssen sich auch der deutsche Außenminis-ter und die deutsche Kanzlerin zu sagen trauen.
Wenn man sich die Äußerungen der letzten Stundenund Tage anschaut – des polnischen Ministerpräsiden-ten, des Vorsitzenden der Europäischen Volkspartei, desschwedischen Außenministers, der konservativen litaui-schen Präsidentin und auch Obamas –, glaube ich, dasshier vielleicht früher mehr Klarheit und Deutlichkeit gutgewesen wären.
Mit dem Befehl zur Räumung des Maidan ist, wie ichglaube, die Legitimität von Wiktor Janukowitsch nichtmehr gegeben. Mit der Entscheidung, den Maidan zuräumen, hat sich der Charakter des Vorgehens der ukrai-nischen Regierung verändert. Seitdem handelt es sicheher um eine Niederschlagung denn um einen Teil einerpolitischen Lösung. Wenn ich daran denke, wie meineFreunde in Lemberg empfinden, glaube ich, dass es nichteinfach möglich sein wird, Stabilität mit einer Rückkehrzum vorherigen Status wiederherzustellen. Deswegengehört es doch zur Wahrheit dazu – das ist auch ein Bei-trag zur Lösung der Situation –, zu sagen: Die Verant-wortung für diese Desintegration des Staates Ukraine,die viele schreckliche Bilder erst möglich macht – Bil-der, die keiner von uns gutheißt, auch wenn Sie uns dasunterstellen –, trägt das Regime, da es diese Desintegra-tion erst durch das Aussitzen und die fehlende Bereit-schaft, zu einer politischen Lösung beizutragen, herbei-geführt hat.
Herrn Janukowitsch muss doch klar sein, wenn erdenn noch derjenige ist, der dort das Sagen hat, dass erdiese Legitimität nicht wieder herbeiführen kann, indemer einzig und allein eine Anlehnung an den Kreml ver-sucht. Ich glaube sogar, vor dem Hintergrund des Ein-flusses, den der Kreml natürlich in der Ukraine geltendgemacht hat, wie wir in den letzten Monaten erlebenkonnten, ist es notwendig, dass auch die EuropäischeUnion Einfluss geltend macht. Ich teile in dieser Hin-sicht die Einschätzung, dass die Europäische Union nichtein Mittler ist, der sozusagen neutral verhandeln kann.Aber Russland ist auch nicht ein Mittler, der neutral ver-handeln kann. Was Sie letztlich vorschlagen, ist,
dass der russische Einfluss in der Ukraine bestehen blei-ben soll, sich aber die Europäische Union und der Wes-ten schön zurückhalten sollen. Das ist keine Lösung fürdie Ukraine.
Ich glaube, wir dürfen in dieser Situation eines nichtvergessen: Wer glaubt, dass die Ukraine jetzt wie im20. Jahrhundert in einer Art Glacis sei, wo die Einflüsseder Nachbarn durch klare Grenzen eindeutig aufgeteiltwerden könnten, der bewegt sich in der Logik des20. Jahrhunderts. Das ist nicht meine Sicht auf dieUkraine, aber auch nicht auf Russland oder auf uns.
Herr Kollege Sarrazin.
Ich komme zum Schluss. – Ich glaube, wir müssen
deutlich machen, dass die Reaktion darauf, dass diese
Region im 20. Jahrhundert unter den schwersten Verbre-
chen gelitten hat, weil sie immer Objekt der Machtpoli-
tik ihrer Nachbarn war, sein muss, dass wir dafür sorgen,
dass die Menschen in der Ukraine selber entscheiden
können. Den friedlichen Demonstranten, die seit Mona-
ten auf dem Maidan für dieses Ziel einstehen, möchte
ich von dieser Stelle aus sagen: Djakuju!
Danke schön.
Karl-Georg Wellmann ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ge-walt in Kiew ist furchtbar. Eben wird gemeldet, dass vor
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1217
Karl-Georg Wellmann
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dem Hotel „Ukraine“ die Leichen von sieben erschosse-nen Demonstranten liegen. Ich fürchte, das ist heutenoch nicht das Ende. Wenn die Gespräche der Außen-minister erfolglos verlaufen sind, dann wird das weiter-gehen.Gewalt ist keine Lösung und mit den Anforderungender modernen Welt nicht kompatibel. Wir müssenJanukowitsch sagen: Diese Form von Gewalt bringt dichpolitisch ins europäische Mittelalter zurück. Es ist aus-weglos.
Er muss wissen: Die Welt schaut auf Kiew.Ich möchte Sie mit einem sehr skandalösen Vorgangvertraut machen. Wir informieren uns vielfach überWebcams. Viele dieser Webcams sind in Deutschlandgesperrt mit Hinweis darauf, dass die GEMA keineRechte zur Nutzung erteilt habe. Ich habe mit derGEMA gesprochen. Sie sagt: Es ist nicht die GEMA,sondern es ist Google, das über YouTube diese Webcamssperrt. – Die Webcams sind ein ganz wichtiges Instru-ment für Transparenz. Sie sind wichtig dafür, dass sichdie Welt informieren kann, dass sie zusehen kann, wasdort passiert. Es kann nicht sein, dass die Amerikaner,die uns sonst so gerne über Menschenrechte belehren,nicht dafür sorgen, dass diese Webcams freigeschaltetwerden.
Ich kann nur an die Bundesregierung appellieren, dasssie bei der amerikanischen Regierung interveniert, dassdiese Webcams freigeschaltet werden. Das ist ganzwichtig.
Meine Damen und Herren, wahr ist: Allein Sanktio-nen oder allein die Absetzung eines Präsidenten sindnoch kein Konzept. Wir brauchen für die Ukraine einumfassendes politisches und ökonomisches Konzept.Wahr ist auch: Wir werden nicht gegen Russland einenachhaltige Lösung für die Ukraine zustande bringen.Die Russen haben allerdings kein erkennbares eigenesKonzept. Es reicht nicht, sich immer nur gegen eine ima-ginäre Verschwörung zu wenden und uns zu sagen:Mischt euch nicht ein! – Vielmehr müssen sie selbst Ver-antwortung wahrnehmen. Wenn Russland Teil des gro-ßen Europas sein will und mitreden will, muss es Verant-wortung übernehmen und ein Konzept, wie es in derUkraine weitergeht, mit uns besprechen; mit uns heißt:mit der EU, mit Deutschland, Polen, Frankreich und denanderen Ländern. Wir müssen Russland sagen: Wartetnicht, bis die ganze Ukraine in Flammen steht.Der Konflikt ist ja auch nicht im Sinne Russlands. Eswürde ein gespaltenes Land übernehmen. Es müsste al-les bezahlen; das tut es im Moment schon. Es gäbe keineeigene politische Struktur. Und es hätte weiter mit dieserukrainischen Regierung zu tun. Auch die Politik Russ-lands ist ausweglos. Wir müssen Russland sagen:Kommt endlich an den Verhandlungstisch und sprechtmit uns, mit der EU, über konstruktive Konzepte.Die Krise hat vor allem politische Ursachen; das hatNorbert Röttgen schon gesagt. Wir brauchen endlich ei-nen vertrauenswürdigen Ministerpräsidenten. Wir brau-chen ein nationales Rettungsprogramm für die Ukraine.Wir brauchen deeskalierende Schritte. Janukowitschmuss dafür sorgen, dass die Spezialeinheit „Berkut“ zu-rück in die Kasernen kommt und wir nach und nach de-eskalierende Schritte in Kiew durchführen können,
am Ende auch die Räumung von Gebäuden und Barrika-den.Das Ziel aber ist der Verfassungsdialog. In derUkraine muss ein öffentlicher Verfassungsdialog geführtwerden, durch den die Defizite, die im Moment in derVerfassung bestehen, behoben werden. Dieser Verfas-sungsdialog muss demokratische Standards herbeifüh-ren, mit denen die Ukraine eine echte Zukunftsperspek-tive in Europa hat.Ich danke Ihnen.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Bernd Fabritius für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieNachrichten und die Bilder der letzten Tage, ja der letz-ten Minuten, machen zutiefst betroffen. Reuters meldetim Minutentakt weitere Opfer – Verletzte und Tote. Sol-che Bilder erinnern mich persönlich schmerzlich anSelbsterlebtes, und zwar an die Bilder aus Rumänien imWinter 1989.Es muss sich nicht alles wiederholen, wenn Menschenihr Schicksal im Kampf um Demokratie und Selbstbe-stimmung in die eigenen Hände nehmen. Wir haben eshier mit einer schwerwiegenden Krise mitten in Europazu tun, die sich inzwischen zu einem Bürgerkrieg entwi-ckelt hat. Gestern erreichten uns erste Meldungen da-rüber, dass sich das Militär in der Ukraine auf eine Inter-vention vorbereite. Die humanitäre Lage ist prekär:Schulen sind geschlossen, der Nahverkehr steht still, dieKrankenhäuser sind übervoll. Der polnische Ukraine-Vermittler Aleksander Kwasniewski spricht bereits voneinem ukrainischen Tiananmen.Die tragische Zuspitzung der Lage in der Ukrainekann ich nur auf ein gezieltes unverantwortliches Vorge-hen der aktuellen Regierung zurückführen. PräsidentJanukowitsch gibt sich uneinsichtig und spricht von ei-nem Staatsstreich. Zum Schein geht er noch am Wochen-ende auf die Opposition zu, um dann gezielt und geplant,also gar nicht kurzfristig – das wurde heute schon darge-stellt –, volle Härte zu zeigen. Von Terrorabwehr istplötzlich die Rede. Heute Nacht gab es nun ein Gewalt-verzichtsabkommen. Die aktuellen Nachrichten zeigenallerdings, dass es nicht hält. Als verlässlicher Verhand-
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1218 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Dr. Bernd Fabritius
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lungspartner hat sich Janukowitsch in den letzten Mona-ten wahrlich nicht erwiesen – weder im Verhältnis zurEuropäischen Union noch zur Opposition im eigenenLande.Medien sprechen zwar von Provokationen, aber auchdavon, dass die Demonstranten auf dem Maidan viel-leicht „gezielte Störenfriede“ selbst im Griff hatten.Trotzdem räumt die Regierung diese Wirkungsplattformeiner nach Demokratie schreienden Menschenmenge,steckt deren Zelte in Brand und schießt wild um sich.Mit Demokratie, mit Verständnis für die eigenen Bürgeroder auch nur dem Wohl des eigenen Landes hat das we-nig zu tun. Ich muss schon sagen: Dass man das in die-sem Hohen Hause mit Rosa-Luxemburg-Zitaten hinter-legt, kann ich nicht verstehen.
Die Ukraine, meine Damen und Herren, scheint vonRussland vor die Wahl gestellt zu werden, sich zwischender eurasischen Zollunion Putins und einer Annäherungan die Europäische Union entscheiden zu müssen. Nichtanders können die Maßnahmen verstanden werden, dieletztlich zum Aussetzen der Assoziierungsverhandlun-gen und zum Scheitern des Gipfels der Östlichen Part-nerschaft in Vilnius geführt haben. Es kann aber auchnicht um ein Entweder-oder im Sinne Russlands gehen.Für die Ukraine erscheint dieser Konflikt schier unlös-bar, wenn nicht alle Akteure einschließlich Russlands aneiner friedlichen Lösung mitwirken.Die Ukraine und Russland sind eng verbunden. Kiewist als altes Zentrum des ostslawischen Großreichs, derKiewer Rus im 9. Jahrhundert, gleichsam die Wiege undKeimzelle russischer Staatlichkeit und daher Russlandhistorisch nicht gleichgültig. Die Ukraine ist das wich-tigste Bruderland. Sie ist damit Ausgangspunkt und alsehemalige Sowjetrepublik Wegbegleiter der gemeinsa-men Geschichte. Sie ist aber auch ein Land mit einer zu-tiefst christlichen und in weiten Teilen proeuropäischorientierten Bevölkerung, das einen europaorientiertensicherheitspolitischen Kurs und gute Kooperation mitder NATO pflegt.Es muss daher eine ukrainische Lösung im Sinne ei-nes Sowohl-als-auch – selbstverständlich mit der vonden Menschen in der Ukraine gewünschten deutlichenAnnäherung an die Europäische Union – geben, die voneiner breiten demokratischen Mehrheit getragen würde.Wie können wir dazu beitragen? Deutschland sollte ge-meinsam mit den europäischen Partnern über bewährteInstitutionen wie die OSZE und den Europarat den Kon-flikt positiv beeinflussen und hierbei auch Russland indie Pflicht nehmen. Sanktionen, die vornehmlich – dashat Herr Kollege Hahn zutreffend aufgezeigt – Regie-rung und Oligarchen und nicht etwa die Menschen in derUkraine treffen sollen, sind dringend angezeigt. Vor al-lem vom heutigen Treffen der EU-Außenminister er-hoffe ich mir ein klares Signal.
Als zusätzliche Chance sehe ich die Einbindung unsererpolnischen Freunde, die wir darin bestärken sollten, zurdeutlichen Mäßigung in ihren Nachbarländern beizutra-gen.Unsere Außenminister, Frau Kollegin, sind nicht ab-gereist. N-tv berichtete gerade, dass sie noch miteinan-der sprechen. Nehmen Sie das als Zeichen einer hitzigenSituation. Wir brauchen vor allem eine schnelle undnachhaltige Lösung. Es hat oberste Priorität, weitere Op-fer, egal auf welcher Seite, zu verhindern.An Zuständen wie in Syrien kann in Europa niemandInteresse haben: weder Russland noch die Ukraine undschon gar nicht die Europäische Union.Danke.
Herr Kollege Fabritius, das war Ihre erste Rede im
Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratu-
liere, verbunden mit allen guten Wünschen für die wei-
tere Arbeit.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN
Bekräftigung der Empfehlungen des Ab-
schlussberichts des 2. Untersuchungsaus-
schusses der 17. Wahlperiode „Terrorgruppe
Nationalsozialistischer Untergrund“
Drucksache 18/558
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem
Kollegen Clemens Binninger für die CDU/CSU-Frak-
tion das Wort.
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Dass wir heute erneut über Ergebnisse eines Untersu-chungsausschusses debattieren und den dazu vorliegendenAntrag mit hoher Wahrscheinlichkeit einvernehmlich be-schließen werden, ist keine Selbstverständlichkeit. Dassdie Ergebnisse des Untersuchungsausschusses ungekürztin den Koalitionsvertrag übernommen wurden, ist auchkeine Selbstverständlichkeit. Dafür bedanke ich mich
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1219
Clemens Binninger
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noch einmal bei den Parteivorsitzenden; dies war einwichtiges Zeichen.
Dass wir uns heute als 18. Deutscher Bundestag nocheinmal mit den Ergebnissen befassen und die Empfeh-lungen beschließen und damit ein Zeichen für deren Um-setzung geben, ist ein ebenso wichtiger Punkt.Heute soll es nicht darum gehen, die Fehleranalysenoch einmal fortzusetzen. Heute soll der Startpunkt seinfür die Umsetzung unserer Empfehlungen.Eines will ich aber vorwegschicken – das müssen wiruns immer wieder in Erinnerung rufen –: Dass es einemVerbrechertrio gelungen ist, über mehr als zehn Jahrehinweg in Deutschland 10 Morde, 2 Sprengstoff-anschläge und 14 Banküberfälle zu begehen, ohne dassüberhaupt jemand den Zusammenhang erkannt hat, ohnedass jemand diesem Trio auch nur ansatzweise auf dieSpur gekommen wäre, war nicht nur eine Niederlage fürdie Sicherheitsbehörden. Es war mehr: Es war eine Nie-derlage für unsere Gesellschaft. Dies darf sich nicht wie-derholen.
Wenn wir uns die Ursachen noch einmal vor Augenhalten, dann kann man sie sehr komprimiert in fünfPunkten zusammenfassen:Die Zusammenarbeit zwischen Polizei und Staats-anwaltschaften bei den Delikten, die die Ländergrenzenüberschritten haben, war nicht optimal. Die föderale Si-cherheitsarchitektur wurde sehr schnell an ihre Grenzengeführt.Die Zusammenarbeit zwischen Polizei und Verfas-sungsschutz war schlecht; man muss das in dieser Deut-lichkeit sagen. Die Informationsweitergabe geschah nurbruchstückhaft, zu spät oder gar nicht.Das frühe Festlegen auf eine Ermittlungsrichtung beidiesen Delikten – es muss sich um organisierte Krimina-lität handeln – und daran über fast zehn Jahre festzuhal-ten, war ein weiteres Problem.Der teilweise problembeladene Umgang mit den Op-fern und den Familien der Opfer, der diese fast noch ein-mal zu Opfern gemacht hätte, war ein großer Kritikpunktund darf sich nicht wiederholen. Wer Opfer eines schwe-ren Verbrechens wird, darf nicht durch die Ermittlungennoch einmal zum Opfer werden.
Auch der Einsatz der V-Leute war problematisch. Ichsage gleich dazu: Wir können auf dieses Instrumentnicht verzichten. Aber so, wie dieser Einsatz im Bereichdes Rechtsextremismus in diesen 15 Jahren ablief, stan-den Aufwand und Risiko, das man dabei eingeht, undNutzen in keinem Verhältnis. Er hat nicht dazu beigetra-gen, diese Serie zu stoppen oder sie gar aufzuklären.Auch das ist eines der Probleme, die wir klar benennenmüssen, damit so etwas nicht noch einmal vorkommt.
Welche Empfehlungen sprechen wir aus? In dem An-trag, der uns heute hier vorliegt, sind insgesamt 50 ge-nannt. Ich will nur auf ein paar wenige eingehen; ichgehe davon aus, dass die Kollegen nachher ganz gezieltbestimmte Punkte ansprechen werden.Wir sagen zum einen: Wir wollen an der föderalen Si-cherheitsarchitektur festhalten. Aber wenn Ermittlungenüber Ländergrenzen hinweg, in mehreren Bundeslän-dern, geführt werden müssen, dann kann es nicht sein,dass fünf Polizeien, dass fünf Staatsanwaltschaften pa-rallel zuständig sind und man am Ende ein Kunstgebildeerfinden muss, um die Ermittlungen abzustimmen. Insolchen Fällen brauchen wir aufseiten der Polizei wieaufseiten der Justiz eine Stelle, die federführend ist undauch das Sagen hat; das ist eine der entscheidenden Ver-änderungen, die wir empfehlen. Wenn das umgesetztwird, dann werden die Ermittlungen hier besser voran-kommen.Ein weiterer Punkt. Wir brauchen einen besseren In-formationsaustausch zwischen Polizei und Verfassungs-schutz unter Beachtung des Trennungsgebots. Ich weiß,dass das nicht einfach ist. Beim Verfassungsschutz un-terliegen viele Informationen – nahezu alle – der Ge-heimhaltung. Aber es gibt Möglichkeiten, und bei Mord-ermittlungen, bei Kapitalverbrechen wäre dies auch inder Vergangenheit schön möglich gewesen.Der Austausch der Informationen muss hier besserwerden. Ich glaube, dass wir mit der Einrichtung derRechtsextremismusdatei, die wir schon in der letzten Le-gislaturperiode beschlossen haben, einen wichtigenSchritt gemacht haben. Das ist eine der Empfehlungen,die wir geben. Die Sicherheitsbehörden in unseremLand, die den Aufrag haben, gemeinsam für die Sicher-heit der Menschen in diesem Land zu sorgen, müssenvom Gesetzgeber in die Lage versetzt werden, zusam-menzuarbeiten und Informationen auszutauschen. Auchdas ist ein wichtiger Punkt, den wir umsetzen müssen.
Ich habe es gesagt: Wir wollen das Instrument derV-Leute nicht abschaffen. Es gibt Szenen und Phäno-menbereiche, die so abgeschottet sind, dass man ohnedieses Instrument gar keine Informationen bekommenwürde. Dazu gehört aber auch: V-Leute sind keine Mit-arbeiter von Sicherheitsbehörden. Es sind Angehörigeeiner kriminellen oder extremistischen Szene, und dasbleiben sie auch. Sie sind nur gegen Geld bereit, mit denBehörden zusammenzuarbeiten. Deshalb braucht es hierklare Regeln, mit wem man zusammenarbeitet und mitwem nicht. Wenn man, wie hier geschehen, V-Leute aus-wählt, die wegen versuchten Mordes verurteilt sind undsich dann selber als V-Mann bei einer Verfassungs-schutzbehörde andienen, und über viele Jahre führt, dannüberschreitet man im Rechtsstaat, wie ich finde, einerote Linie. Auch das darf sich nicht wiederholen.
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1220 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Clemens Binninger
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Wir müssen aber auch Empfehlungen aussprechen,die über diesen Bereich hinausgehen. Wir alle habendiese Mordserie nicht erkannt, auch wir Fachpolitikernicht. Ich gehöre seit 2002 dem Deutschen Bundestagan, und ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir unsim Innenausschuss vor dem Auffliegen des NSU jemalsausführlich mit dieser Mordserie befasst hätten. Auchwir haben es also nicht gesehen. Auch viele Journalisten,die vom Fach sind, haben diesen Zusammenhang nichtgesehen. Auch über den zu Recht zum Unwort des Jah-res gewählten Begriff „Döner-Morde“ hat sich interes-santerweise niemand empört, bevor der NSU aufgeflo-gen ist – dann zu Recht, aber vielleicht zu spät. Insoferngilt, dass die Empfehlungen nicht nur an die Sicherheits-behörden gehen; sie gehen auch an uns, an die verant-wortlichen Parlamentarier.Dies betrifft auch ein Feld, mit dem wir uns geradebefassen, auch ich in meiner neuen Funktion als Vorsit-zender des Parlamentarischen Kontrollgremiums: Auchdie parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienstemuss reformiert werden, damit sie effektiver, zielge-nauer und ergebnisorientierter durchgeführt werdenkann.
An wen richten sich diese Empfehlungen? Sie richtensich nicht nur an den Bundesinnenminister. Sie richtensich an den Bereich der Polizei, aber auch an den Be-reich der Staatsanwaltschaften. Insofern ist auch derBundesjustizminister gefordert. Ich finde es gut, HerrMaas, dass Sie hier heute kurz reden. Vielleicht durch-brechen Sie da die Tradition Ihrer Vorgängerin, die zwargerne Vorschläge eingebracht hat, vorwiegend für andereRessorts, aber hier eher selten gesprochen hat. Sollte eszu einer solchen Umkehr kommen, dann ist das ein guterStart, um zu Ergebnissen zu kommen.Aber nicht nur die Bundesbehörden, sondern auch dieBehörden der Länder sind in hohem Maße betroffen.Deshalb müssen wir darauf setzen, dass auch die Länderunsere Empfehlungen beherzigen. Die Bundesratsbankist heute zwar nur überschaubar gefüllt, trotzdem gilt dieBotschaft: Ohne Reformen bei den Sicherheitsbehördender Länder wird sich nur wenig verbessern.Wir haben es immer so gehandhabt, dass wir partei-übergreifend dort Kritik geäußert haben, wo sie notwen-dig war. Nun muss ich Kritik an der grün-roten Landes-regierung in Baden-Württemberg üben. Ich habe nichtden Eindruck, dass man den bestehenden Reformbedarfdort wirklich erkannt hat. Ich will das begründen.Innenminister Gall hat vor einigen Tagen seinen Be-richt zur sogenannten Ermittlungsgruppe Umfeld vorge-stellt. Es ging darum, Bezüge des NSU nach Baden-Württemberg aufzuklären. Ich will gleich hinzufügen:Ich kritisiere nicht die Arbeit der Beamten dieser Ermitt-lungsgruppe, die mit hohem Einsatz und trotz begrenzterMöglichkeiten das Beste daraus gemacht haben.In dem Bericht wird festgestellt – und das lässt auf-horchen –, dass von jenen Personen, die Kontakt zumNSU-Trio oder zu dessen Unterstützern hatten, 52 Per-sonen – ich wiederhole: 52 Personen – Bezüge nach Ba-den-Württemberg haben. In keinem anderen Bundeslandhaben wir eine solche Häufung feststellen können.Schon allein aufgrund dieser Feststellung finde ich dieErgebnisse, die Herr Gall präsentiert, sehr mutig. Er legtsich sehr fest in Bezug darauf, was es alles angeblichnicht gibt. Es ist wenig Selbstkritik zu erkennen.Die Ergebnisse der EG Umfeld machen nur einenkleineren Teil des Berichts aus. Auf über 40, 50 Seitensetzt sich der Bericht mit den Ergebnissen des Untersu-chungsausschusses auseinander, relativiert diese, weistdarauf hin, dass doch alles immer gut war und gut lief.Aber die Krönung für mich war – ich sage das, damitSie sehen, warum ich ein bisschen enttäuscht und verär-gert bin –: Auf Seite 102 des Berichtes von Herrn Gall– insgesamt umfasst er 150 Seiten – geht es um die Rolledes Gründers des Ku-Klux-Klans in Baden-Württem-berg. Man muss bedenken, welche Rolle dieser Menschsonst noch gespielt hat. Beim Verfassen des Berichteswar man sich der Sensibilität dieses Themas offenbarnicht bewusst. Man zitiert ernsthaft den Ku-Klux-Klan-Gründer und führt aus, dass auch er seine Rolle immerbestritten hat. Unterschwellig heißt das doch: Dann wirdes wohl so gewesen sein. – Was ist das für ein Berichtzur Aufarbeitung der Vorgänge, wenn trotz der gewon-nenen Erkenntnisse die Aussage des Ku-Klux-Klan-Gründers zitiert wird? Hier ist offenkundig mehr Aufklä-rung gefragt und nicht weniger.
Wir waren kollegial immer eng beieinander. LiebeKollegen der beiden angesprochenen Fraktionen, viel-leicht haben Sie die Möglichkeit, darauf hinzuwirken,dass das eine oder andere noch nachgearbeitet wird. Ichwäre Ihnen wirklich sehr verbunden.
Heute gilt es zu betonen, dass wir uns im Parlamenteinig darüber sind, was zu tun ist. Heute setzen wir denStartpunkt für die Umsetzung der Empfehlungen. Nichtbei allen Empfehlungen wird uns dies von heute aufmorgen gelingen. Aber wir müssen dort Veränderungenvornehmen, wo sie dringend notwendig sind. Wir allesind hier gefragt: der Bund, die Länder, aber auch wir imParlament.Von dieser Debatte sollte das Signal ausgehen, dassMenschen, egal woher sie kommen, in unserem Land si-cher und frei von Angst vor Verbrechen leben können,dass sie nicht fürchten müssen, dass sie aufgrund ihrerHerkunft oder Religion Opfer einer Straftat werden, unddass wir als Parlament alles dafür tun, dass die Bedin-gungen dafür geschaffen werden. Das ist ein Verspre-chen, das wir heute geben. An ihm müssen wir uns mes-sen lassen, nicht mehr, aber auch nicht weniger.Herzlichen Dank.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1221
Clemens Binninger
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Die Kollegin Petra Pau erhält nun das Wort für die
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! EinNazitrio namens NSU, Nationalsozialistischer Unter-grund, war 13 Jahre lang raubend und mordend durchDeutschland gezogen. Nach dem 4. November 2011 floges auf. Das allgemeine Entsetzen war groß, auch über dieIgnoranz und Arroganz in Sicherheitsbehörden. Waslange ausgeblendet wurde, weil nicht sein sollte, wasnicht sein darf, wurde manifest: Es gibt tödlichenRechtsterrorismus in Deutschland, und es gibt Opfer –ebenfalls viel mehr, als bis dato eingestanden wurde. Vorallem ihnen gilt unser erstes Augenmerk.Der damalige Bundestag einigte sich fraktionsüber-greifend auf einen Untersuchungsausschuss. Ich arbei-tete für die Fraktion Die Linke mit. Am 2. September2013 – der Kollege Binninger hat das eben schon vor-getragen – hatte derselbe Untersuchungsausschuss,wiederum fraktionsübergreifend, einen Abschlussbe-richt vorgelegt. Die Linke hatte ihm zugestimmt. DerAbschlussbericht enthält zugleich unsere weiter gehen-den und auch abweichenden Positionen.Grundsätzlich sind das vor allem drei:Erstens halten wir die Ämter für Verfassungsschutzfür nicht kontrollierbar und deshalb auch nicht für refor-mierbar.
Sie waren Teil des NSU-Desasters. Wir sind der Auffas-sung, sie sollten deshalb als Geheimdienste aufgelöstwerden.
Zweitens ist die staatliche Unterstützung für gesell-schaftliche Initiativen gegen Rechtsextremismus, Ras-sismus und Antisemitismus völlig unzureichend. Wirbrauchen folglich ein neues, ein anderes Fördersystem.Drittens muss der grassierende Rassismus in der Ge-sellschaft und institutionell endlich als akutes Problemanerkannt und politisch bekämpft werden. Ignoranz hilftda niemandem.
Militanter Rechtsextremismus hat außerdem eine in-ternationale Dimension, auch für eine soziale und demo-kratische Europäische Union. Nationalismus und Rassis-mus töten die europäische Idee, und das will die Linkenicht.
Mit dem Schlussbericht des Untersuchungsausschus-ses waren wir uns allesamt einig: Keiner der NSU-Morde und keiner der Anschläge ist schlüssig geklärt. Esbleiben viele Fragen. Wir haben ebenso beklagt, dass derAufklärungswille in den meisten Bundesländern undLandesparlamenten zu wünschen übrig lässt. Es wirdblockiert, übrigens ganz egal welche Parteifarben geraderegieren. Ich hatte zwar erwartet, dass Innenminister undauch Sicherheitsbehörden ein bisschen mauern. Ich ge-stehe – das diskutiere ich auch mit meinen Kolleginnenund Kollegen in den Ländern –: Dass aber Parlamenta-rier kneifen, finde ich schlimmer.
Nun komme ich zu der Frage: Was ist seit dem Ab-schlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses desBundestages wahrnehmbar passiert? Dazu drei Bei-spiele:Erstens wurde die sogenannte Extremismusklausel,mit der Initiativen gegen Rechtsextremismus, Rassismusund Antisemitismus von Staats wegen kriminalisiertwurden, abgeschwächt. Das ist ein Anfang.Zweitens hat sich der Kölner Polizeipräsident bei denBetroffenen des NSU-Bombenanschlages anno 2004 inder Keupstraße dafür entschuldigt, dass sie im Zentrumder Ermittlungen standen. Ich sage: endlich!
Drittens. Die Bundesregierung hat seit 1990 knapp60 Tote rechtsextremer Gewalt eingeräumt. Seriöse Re-cherchen registrieren 150 bis 180 Tote. Die Diskrepanzsoll nun überprüft werden. Das ist überfällig.Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, das alles ist zuwenig. Niemand, keine Regierung, keine Behörde – we-der im Bund noch in den Ländern –, war daran gehin-dert, die Schlussfolgerungen, die Empfehlungen aus demBericht des Untersuchungsausschusses umzusetzen.Dies geschah bislang kaum. Das verlängert das Desaster.Die Todesspur gewalttätiger Nazis geht übrigens querdurch die Bundesrepublik, West und Ost, Nord und Süd,und ist auch nicht auf das NSU-Netzwerk reduzierbar. InSachsen-Anhalt begann diese Woche ein Prozess gegengewalttätige Nazis. Sie hatten 2013 in Bernburg einenImbiss überfallen, den Betreiber rassistisch beschimpftund halb totgeschlagen. Es waren Wiederholungstäter,vorbestraft und landesweit bekannt. Trotzdem tun sichPolizei und Justiz schwer damit, überhaupt ein politi-sches Motiv zu erkennen. Ich könnte ähnliche Fälle ausden vergangenen Monaten aufzählen: aus Bayern, Ba-den-Württemberg und immer wieder aus Sachsen. Alldas sind ernste Hinweise darauf, dass zu viele die Lek-tion NSU noch immer nicht gelernt haben, und das musssich ändern.
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1222 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Petra Pau
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Eine aktuelle Zahl möge die Brisanz des militantenRechtsextremismus zusätzlich unterstreichen: Laut einerAntwort aus dem Bundesinnenministerium wurden inden Jahren von 2003 bis 2012 mindestens 1 794 An-griffe registriert, bei denen Nazis Waffen eingesetzt ha-ben oder damit gedroht haben. Mit anderen Worten: Imstatistischen Schnitt gibt es bundesweit jeden zweitenTag eine bewaffnete Attacke durch Rechtsextremisten.Kurzum: Die Gefahr ist nicht gebannt. Sie ist ungebro-chen hoch. Auch deshalb dürfen wir das Kapitel NSUnicht schließen.
In diesem Zusammenhang: Behauptungen aus Sicher-heitsbehörden, die ich gelegentlich höre, der Ermitt-lungsdruck habe die militante Naziszene eingeschüch-tert, sind schlicht falsch. Im Gegenteil: Die NPD und dieautonome Naziszene machen in Wort und Tat bundes-weit mobil, vor allem gegen Menschen in Not, gegenFlüchtlinge und Asylsuchende, wie in den Pogromjahren1991 und 1992. Daher sollten wir, sollten alle demokra-tischen Parteien alles vermeiden, was von diesen Nazisund Rassisten als aufmunternd verstanden werdenkönnte.
Auch deshalb müssen die 50 Schlussfolgerungen ausdem Bericht des NSU-Untersuchungsausschusses end-lich umgesetzt werden. Das wird im aktuellen Antraggefordert. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es drängt.
Die Kollegin Eva Högl hat nun das Wort für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist sehr gut,dass wir heute Morgen hier zusammenkommen, umnoch einmal die Empfehlungen des NSU-Untersu-chungsausschusses mit Nachdruck zu bekräftigen. Ichbedanke mich bei allen, die hier im Deutschen Bundes-tag an dieser Debatte teilnehmen, und bei allen, die diesewichtige Debatte verfolgen.Herr Präsident, wir setzen damit eine Anregung vonIhnen um. Denn Sie waren es, der uns am Ende der letz-ten Legislaturperiode im Kreise der Obleute, die wir unsbei Ihnen versammelt hatten, empfohlen hat, zu Beginnder neuen Legislaturperiode, wenn wir dem DeutschenBundestag wieder angehören, die Empfehlungen desNSU-Untersuchungsausschusses noch einmal auf unsereTagesordnung zu setzen und damit diesen neuen Deut-schen Bundestag zu verpflichten, die Empfehlungen desNSU-Untersuchungsausschusses umzusetzen. Das ma-chen wir heute. Es ist ein ganz starkes, gutes und wichti-ges Signal, dass wir dies verabredet haben.
Die Große Koalition hat verabredet – ich begrüßeganz ausdrücklich, dass uns dies gelungen ist –, alleEmpfehlungen des Untersuchungsausschusses umzuset-zen. Dort, wo der Bund betroffen ist, werden wir das zü-gig und engagiert machen. Dort, wo die Länder betroffensind – das sind zahlreiche Empfehlungen –, werden wirdas in einem konstruktiven Dialog mit den Bundeslän-dern – wir können ihnen nichts vorschreiben, aber wirkönnen Dinge anregen – gemeinsam auf den Weg brin-gen.Es sind mittlerweile mehr als zwei Jahre vergangen,seit wir den NSU und die fürchterlichen Zusammen-hänge entdeckt haben. Es ist in diesen zwei Jahren schoneiniges geschehen; das ist gut. Es bleibt aber noch ganzviel zu tun. Darum soll es hier heute in unserer Debattegehen.Ich möchte gleich zu Beginn sagen, dass eines ge-schafft wurde – dafür sage ich ganz herzlich Danke inRichtung der Bundesregierung, und zwar der Bundesfa-milienministerin Manuela Schwesig und dem Bundesin-nenminister Thomas de Maizière –: Es wurde, quasi alserste Amtshandlung, gemeinsam die Extremismusklau-sel abgeschafft.
Herr de Maizière, schütteln Sie nicht mit dem Kopf. Daswar ein starkes Signal. Es ist für alle Verbände und Ini-tiativen in unserem Land, die sich gegen Rechtsextre-mismus und für unsere Demokratie engagieren, sehrwichtig, dass diese Klausel verschwunden ist und durcheine andere Erklärung ersetzt wurde. Ich begrüße dasganz ausdrücklich.
Auch die Bundesländer haben schon einiges auf denWeg gebracht. Ich nenne nur wenige exemplarisch – nie-mand möge beleidigt sein, wenn sein Bundesland nichtgenannt wird –: Nordrhein-Westfalen und Niedersachsenreformieren den Verfassungsschutz ganz engagiert. Hierin Berlin steht eine Reform der Polizei auf der Tagesord-nung.Ich sage auch etwas zu Baden-Württemberg– Clemens Binninger hat zu Recht kritisiert, dass dieAufarbeitung dort etwas schleppend verlaufen ist –: Ge-rade in Baden-Württemberg haben wir viele Verbindun-gen gefunden. Es gibt dort eine sehr vernetzte rechts-extreme Szene. Natürlich hat der Mord an MichèleKiesewetter in Heilbronn viele Fragen aufgeworfen, dieweit davon entfernt sind, aufgeklärt zu sein.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1223
Dr. Eva Högl
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Aber ich möchte auch sagen: Ich begrüße ganz aus-drücklich, dass jetzt beschlossen wurde, dass sich eineEnquete-Kommission bzw. ein Sonderausschuss desLandtags – ähnlich einem Untersuchungsausschuss,wollen wir einmal sagen – die ganzen offenen Fragennoch einmal vornimmt und sie aufarbeitet. Wir solltenBaden-Württemberg von dieser Stelle aus auf jeden Falldafür danken, dass es in dieser Richtung weitermacht,und diese Bemühungen ganz tatkräftig unterstützen, da-mit vielleicht auch dort noch die eine oder andere offen-gebliebene Frage geklärt werden kann.
Zwei Themen möchte ich ganz kurz ansprechen: Ver-fassungsschutz und Polizei. Es ist so, dass wahrschein-lich – jetzt benutze ich einen Superlativ – am meistenVertrauen beim Verfassungsschutz erschüttert wurde.Auch zwischen den Fraktionen gibt es die größten Un-terschiede, was den Verfassungsschutz angeht. Der Ver-fassungsschutz ist also ein wichtiges Thema. Wir alsSPD sagen ganz klar: Wir brauchen einen Verfassungs-schutz; wir brauchen auch V-Leute.Aber wir wissen auch – deswegen müssen wir ihnganz grundlegend reformieren –: Ein Verfassungsschutzkann nur dann erfolgreich arbeiten, wenn er das Ver-trauen der Bürgerinnen und Bürger hat. Ein Verfassungs-schutz braucht einen festen Platz in unserer Demokratie.Ich werbe deshalb von dieser Stelle aus bei allen, die mitdem Verfassungsschutz zusammenarbeiten und mit denReformen befasst sind, dafür, mehr Kontrolle bzw. parla-mentarische Kontrolle nicht als Misstrauen zu verstehen,sondern als richtige Konsequenz aus dem, was wir imNSU-Untersuchungsausschuss aufgeklärt und herausge-arbeitet haben, nämlich sich selbst an die Spitze der Be-wegung zu setzen und den Verfassungsschutz grundle-gend zu reformieren.
Ich werbe von dieser Stelle aus auch ganz ausdrück-lich bei der Polizei, bei allen, die bei der Polizei arbeiten,dort Verantwortung tragen und mit der Arbeitsweise derPolizei befasst und mit den Reformen betraut sind, dafür,auf unsere Empfehlungen nicht reflexartig nach demMotto zu reagieren: Bei uns gibt es keine Vorurteile; beiuns gibt es keine institutionelle Diskriminierung.Wir haben partei- und fraktionsübergreifend feststel-len müssen – das war eine bittere Erkenntnis –: Wenn dieOpfer andere Opfer gewesen wären, wäre anders ermit-telt worden. Das war, wie gesagt, eine ganz bittere Er-kenntnis. Deswegen sagen wir gemeinsam – wir drückendas unterschiedlich aus –: Es gab institutionelle Diskri-minierung. Sie war in Teilen rassistisch motiviert; manmuss das so deutlich ausdrücken. Ich bitte diejenigen,die uns kritisieren, weil wir das ihrer Meinung nachnicht deutlich genug ausdrücken, und sagen: „Das warinstitutioneller Rassismus“, uns nicht unter Druck zu set-zen. Ich bitte die Verantwortlichen bei der Polizei, dieFehler nicht zu negieren, sondern zu sagen: Ja, es ist et-was schiefgelaufen. Der Untersuchungsausschuss hatdas herausgearbeitet. Wir müssen alle gemeinsam ausdiesen Fehlern lernen.
Eine allerletzte Bemerkung, meine Damen und Her-ren. Es darf nie wieder passieren, dass, wie in Hoyers-werda geschehen, ein junges Paar, das sich aktiv gegenRechtsextremismus engagiert, von der Polizei gesagt be-kommt: Wir können euch nicht schützen; ihr müsst bittewegziehen. – Das darf es nie wieder geben in unseremLand!
Wir müssen die Polizei so stark machen, dass sie alleBürgerinnen und Bürger schützen kann. Wir müssen ander Seite aller Bürgerinnen und Bürger stehen und es allegemeinsam als unsere Aufgabe betrachten, uns überall,an jeder Stelle, zu jedem Zeitpunkt gegen Rechtsextre-mismus zu engagieren. Deswegen darf der Bericht desNSU-Untersuchungsausschusses nicht in einer Schub-lade verschwinden, sondern muss für uns eine Hand-lungsempfehlung sein.Herzlichen Dank.
Als nächster Redner hat Christian Ströbele das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich begrüße ganz besonders die Vertreterinnen und Ver-treter der Amadeu-Antonio-Stiftung und der MobilenBeratung für Opfer rechter Gewalt hier im Raume; ichfreue mich, dass Sie unserer Diskussion heute folgenwollen.
In dieser Debatte geht es um den Bericht des Untersu-chungsausschusses. Wenn ich mich mit den Vorgängenum den NSU beschäftige, bin ich noch immer empörtund fassungslos. Ich habe versucht, Erklärungen dafürzu finden, warum die Sicherheitsbehörden in Deutsch-land – Verfassungsschutz und Polizei – bundesweit mehrals zehn Jahre lang, so unendlich lange, so dramatischversagt haben.
– Leider. – Wir haben nicht den einen Grund dafür fest-stellen können; aber wir haben eine ganze Reihe vonGründen gefunden, die immer wieder eine Rolle gespielthaben – ich will einige davon aufzählen –: bürokratischeIgnoranz, so nach dem Motto „Sind wir überhaupt zu-ständig?“, Inkompetenz, Konkurrenzdenken, Vorurteile,
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Hans-Christian Ströbele
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aber auch das Selbstverständnis des Verfassungsschut-zes: „Wir sind doch nicht zur Unterstützung der Polizeida! Wir sind doch eine eigene Polizei. Was mischen diesich hier ein? Wir sind ein eigener Sicherheitsbereich.“Wir haben auch in Teilen der Sicherheitsbehörden– nicht überall, aber in Teilen; das muss man so sagen –institutionellen Rassismus und gruppenbezogene Men-schenfeindlichkeit gefunden.Der Fall ist mit dem Aufdecken des skandalösen Ver-sagens der Sicherheitsbehörden nicht beendet. Gesternhat mich ein Journalist vom MDR angesprochen – ichglaube, Sie auch, Herr Binninger –, weil man herausbe-kommen hat, dass Uwe Böhnhardts Handy drei Wochennachdem er untergetaucht war abgehört worden ist. Wirfragen uns: Warum eigentlich nur für knapp einen Mo-nat? Über dieses Handy hat sich eine ganze Reihe vonPersonen bei ihm gemeldet, die alle zum NSU-Umfeldgehören; einer von ihnen sitzt inzwischen beim Oberlan-desgericht München auf der Anklagebank. Diese Maß-nahme ist dann abgebrochen worden. Am selben Tag, alssie abgebrochen wurde, sind die Aufnahmen gelöschtworden. Keiner weiß, warum. Die Aufnahmen sind je-denfalls nicht ausgewertet worden. Gegen die Personen,die man identifizieren konnte, ist nichts unternommenworden. – Da fragt man sich, wie so etwas kommt. Insolchen Situationen fällt es mir schwer, an das Zusam-mentreffen so vieler Zufälle zu glauben.
Wir haben der Öffentlichkeit in Deutschland und ins-besondere den Angehörigen der Opfer versprochen,möglichst alles aufzuklären. Wir waren uns beim Verfas-sen des Untersuchungsausschussberichtes natürlich ei-nig, dass wir damit nicht alles aufgeklärt haben. Ein Teilmuss jetzt beim Oberlandesgericht München weiter auf-geklärt werden. Wenn ich solche Sachverhalte erfahrewie gestern, dann weiß ich, dass auch wir Abgeordneteweiter aufklären müssen, und das verspreche ich auchder Öffentlichkeit. Dafür brauchen wir nicht gleich einenneuen Untersuchungsausschuss, sondern das können wirim Innenausschuss und müssen wir im Parlamentari-schen Kontrollgremium tun. Und um diese Aufklärungmüssen sich auch die Bundesregierung und die Länder-regierungen kümmern. Deshalb sollten wir einfordern,dass auf der Tagesordnung unserer parlamentarischenInstitutionen regelmäßig Berichte zur Entwicklung desRechtsextremismus – vor allen Dingen des gewaltberei-ten und gewalttätigen Rechtsextremismus – in Deutsch-land stehen, in denen es um folgende Fragen geht: Wasmachen die da? Was machen V-Leute da? Inwieweit sindV-Leute in solche Taten möglicherweise verwickelt?Welche V-Leute hat man da überhaupt angestellt?In den neuesten Veröffentlichungen aus Berlin undThüringen tauchen immer neue V-Leute auf, die im Um-feld des NSU-Trios tätig gewesen sind. Der Verdacht er-härtet sich, dass sie eine größere Rolle gespielt haben alsnur die, ihren V-Leute-Führern hin und wieder einenTipp zu geben. Was haben sie dazu beigetragen, dassdieses NSU-Trio so lange verborgen bleiben konnte?Haben sie nicht zumindest bei den Behörden, denen sieberichtet haben, die Gewissheit gefördert, die gewaltbe-reite rechtsextreme Szene im Griff zu haben, weil siedort ja ihre V-Leute eingesetzt haben? Dabei wurde al-lerdings übersehen, dass diese nie etwas berichtet haben,was zur Aufdeckung der Zusammenhänge oder gar zurFestnahme dieses Trios geführt hat.
Deshalb ist der Einsatz von V-Leuten im rechten Be-reich nicht zu vertreten. Sie kosten nicht nur viel Geld,sondern sie schaden auch mehr, als sie nützen, weil sieeine Sicherheit vortäuschen, die letztlich gar nicht gege-ben ist.
Wir Grünen haben in einem Sondervotum eine ganzeReihe von Punkten aufgelistet, um die sich die Behördenzusätzlich kümmern müssen. In Bezug auf den Verfas-sungsschutz sind wir anderer Auffassung als die Mehr-heit. Das will ich hier jetzt im Einzelnen nicht mehr dar-legen.Ich erwarte nun, ein halbes Jahr nach der Vorlage desBerichtes, vom Bundesinnenminister, dass er uns vonersten Maßnahmen und auch darüber berichtet, wasim Innenministerium geschehen ist, um solches Versa-gen in Zukunft zu verhindern. Ich erwarte auch, dasswir – nicht nur, weil wir es den Angehörigen der Opferversprochen haben, sondern auch, weil wir es uns selbstund unserer Gesellschaft schuldig sind – alles tun, umaufzuklären und solches Versagen mit solchen entsetzli-chen Folgen in Zukunft zu verhindern.
Jetzt hat Herr Bundesinnenminister Dr. de Maizièredas Wort.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-nern:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Mordtaten der Terrorgruppe „NationalsozialistischerUntergrund“ bleiben, wie wir gehört haben, für uns alle,für den Deutschen Bundestag und für die Bundesregie-rung, Mahnung, Warnung und Auftrag.Aus Hass und Verachtung haben die Täter das Lebenvon zehn Menschen zerstört und noch mehr Menschen-leben gefährdet. Sie haben unendliches Leid über die Fa-milien der Opfer gebracht.Die Täter hatten aber auch zum Ziel, in ganz Deutsch-land Terror und Unsicherheit zu stiften und den Zusam-menhalt in unserer Gesellschaft zu erschüttern. DieserZusammenhalt beruht ganz wesentlich auf dem Respektvor der Würde des jeweils anderen. So hat es auch Ein-gang in unsere Verfassung gefunden: Die Würde eines
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Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
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jeden Menschen ist unantastbar. – Das unterstreicht un-sere Verantwortung.Viele haben es schon gesagt: Wir müssen alles dafürtun, dass jede und jeder in unserem Land sicher lebenkann, in dem Vertrauen, Teil einer freien und tolerantenGesellschaft zu sein, ohne Diskriminierung und ohnejede Zurücksetzung. Das gilt selbstverständlich auch fürFlüchtlinge und Asylbewerber, unabhängig davon, wel-che Staatsbürgerschaft sie haben, und sogar unabhängigdavon, ob sie sich hier legal oder illegal aufhalten.
Deshalb ist schon die Verhinderung und Bekämpfungextremistischer Ideologien und erst recht der daraus er-wachsenen Straftaten eine der Kernaufgaben der Bun-desregierung.Aber nicht nur in den Regierungen, in den Parlamen-ten und in der Justiz, sondern auch in der Bevölkerungmuss diese Verantwortung tief verankert sein. Die Zivil-gesellschaft in Deutschland, die Gesellschaft freier Bür-ger, muss stark und selbstbewusst sein, damit sich Hassund menschenverachtendes Gedankengut bei uns garnicht erst entwickeln und verbreiten können. Es wärefalsch, diese Aufgabe den Sicherheitsbehörden alleinezu überlassen. Ich bin überzeugt: Nur wenn wir als Bür-gergesellschaft und als wehrhafte Demokraten zusam-menstehen, um Toleranz, Vielfalt und friedliches Zusam-menleben in unserem Land zu schützen, wird dies einenachhaltige Wirkung haben, und zwar nicht nur in Not-und Krisenzeiten.
Frau Högl hat ein schönes Beispiel aus Hoyerswerdagenannt. Der Schutz von Menschen, die dort leben unddie sich in ihrer Umgebung nicht mehr sicher fühlen,darf nicht alleine der Polizei überlassen werden, sonderndies ist eine Aufgabe für die Gesellschaft der Bürgerin-nen und Bürger von Hoyerswerda, von Sachsen und vonganz Deutschland.
Die Bundesregierung wird aus den Verbrechen derNSU wichtige Lehren für die Arbeit unserer Sicherheits-behörden ziehen. Hier sind Fehler offenbar geworden,die der Untersuchungsausschuss eingehend analysierthat. Ich möchte erneut dem Untersuchungsausschuss,aber auch den Mitarbeitern des Untersuchungsausschus-ses für ihre fraktionsübergreifende Arbeit herzlich dan-ken.
Ich finde es auch großartig, dass bei dieser Debatte dieFraktionsvorsitzenden fast aller Fraktionen außer der derLinken da sind.
Der Untersuchungsausschuss stellte eine Reihe vonVersäumnissen und Organisationsmängeln bei den Si-cherheits- und Strafverfolgungsbehörden fest, des Bun-des und der Länder. Festgestellt – das wurde hier schongesagt; ich will es mit meinen Worten formulieren –wurde auch eine Art Gleichgültigkeit oder ein Mangel anEmpathie mit Opfern und Angehörigen. In diesem Un-tersuchungsausschuss fiel in diesem Zusammenhang einsehr schöner Begriff: eine unzureichende Arbeitskultur.Wir müssen im Bund und in den Ländern dafür sorgen,dass künftig Ermittlungen nicht eindimensional geführtwerden, Menschen nicht vorschnell verdächtigt werdenund Hassmotive bei Straftaten systematischer untersuchtund aufgeklärt werden. Die Analysekompetenz mussverbessert werden.Zu alledem hat der NSU-Untersuchungsausschuss ei-nen umfassenden Bericht mit 50 sehr konkreten Empfeh-lungen verfasst. Diese Empfehlungen richten sich – dasist vielleicht in der Debatte ein bisschen zu kurz gekom-men – nicht nur an Polizei, Justiz und Verfassungsschutzin Bund und Ländern. Vielmehr richten sie sich auch andie Gesellschaft. Sie richten sich auch an uns, was dieVerstetigung der Programme zur Stärkung der Demokra-tie betrifft – dazu sage ich gleich ein Wort – und die bes-sere Einbindung der Zivilgesellschaft in die Konzeptiondieser Programme. Diese Empfehlungen sind für dieBundesregierung, nicht nur weil es im Koalitionsvertragsteht, Richtschnur für die Zukunft.Frau Kollegin Pau, ich weiß, es gab ein Minderheiten-votum Ihrer Fraktion, was die Arbeit der Verfassungs-schutzbehörden angeht. Aber wenn man gut und frühzei-tig gegen Tendenzen gegen unsere Verfassung vorgehenwill, lange bevor Straftaten verübt werden, dann brauchtman einen besseren Verfassungsschutz, nicht die Ab-schaffung des Verfassungsschutzes.
Kollege Maas und ich werden dem Bundeskabinetteinen Bericht vorlegen, in dem umfassend beschriebenwird, wie es um die Umsetzung der Empfehlungen steht.Dieser Bericht, Herr Kollege Ströbele, wird dem Bun-deskabinett in der nächsten Woche vorgelegt
und dann auch dem Parlament zugeleitet. Heute reichtmeine Redezeit nicht aus, um die einzelnen Umset-zungsschritte vorzutragen.Der Bericht zeigt, dass die Bundesregierung unmittel-bar nach der Aufdeckung der Mordserie erste umfas-sende Maßnahmen getroffen und Konsequenzen gezo-gen hat. Diese reichen von der nachrichtendienstlichenFrüherkennung bis zur Strafverfolgung; auf die Datei hatHerr Binninger schon hingewiesen. Diese Maßnahmenumfassen die Verbesserung der internen Abläufe wieauch strukturelle Verbesserungen bei der Zusammenar-beit der Sicherheitsbehörden.
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Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
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In dem Bericht werden auch die Maßnahmen be-schrieben, die zur Förderung der Demokratie und zurStärkung der Zivilgesellschaft bereits getroffen wurden.All dies stellt eine gute Grundlage dar, um den begonne-nen Reformprozess in enger Zusammenarbeit mit denLändern fortzusetzen.Für die Umsetzung der Empfehlungen werden wirauch gesetzliche Änderungen brauchen. Wir bereitenzurzeit eine Novellierung des Gesetzes über das Bundes-amt für Verfassungsschutz vor. Ziel ist eine effizientereAbstimmung und Arbeitsteilung mit dem Verfassungs-schutzverbund. Es geht auch um eine bessere Analysefä-higkeit im Bundesamt für Verfassungsschutz selbst.Das wollen wir, und wir können es nur erreichen – sohat es der Untersuchungsausschuss gesagt –, wenn wirdas Bundesamt für Verfassungsschutz als eine Zentral-stelle sowie seine Rolle bei der Koordinierung der Ver-fassungsschutzbehörden der Länder stärken.
Das werden wir frühzeitig mit den Ländern besprechenund mit ihnen – und nicht gegen sie – umsetzen. Aberdass es so bleibt, wie es jetzt ist, wird keine Lösung sein.
Ich möchte um Ihrer aller tatkräftige Unterstützungbitten, auch der Innenminister der Union und der SPD,damit wir diese Reformbemühungen erfolgreich umset-zen können.Andere Aufgaben, insbesondere der Wandel – ichnenne noch einmal den Begriff der Arbeitskultur – derSicherheitsbehörden, werden sicher länger brauchen.Hierbei geht es um Führung, um Sensibilität, um offeneAugen ohne Vorurteile. Ich bin zuversichtlich, dass dieangestoßenen Veränderungen das Problembewusstseinder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und der Führungs-kräfte nachhaltig schärfen.Letztlich werden wir die Probleme nur gemeinsammit staatlichen und zivilgesellschaftlichen Maßnahmeneindämmen können. Dazu gehört auch Förderung. Dazugehören auch die Angebote, die die Bundesregierung inverschiedenen Ressorts in einem ganzheitlichen Ansatzdenjenigen unterbreitet, die sich für unsere offene unddemokratische Gesellschaft engagieren.Frau Högl, Sie haben gesagt, die Extremismusklauselsei abgeschafft worden. Dabei habe ich ein bisschen mitdem Kopf gewackelt. Denn zur vollen Wahrheit gehört,dass wir zwar die Erklärung, die die Antragsteller unter-schreiben mussten, abgeschafft haben, aber zugleich indie Förderbescheide eine Nebenbestimmung aufnehmen:die Bedingung, dass sie alles dafür tun, dass mit staatli-chem Geld keine Extremisten gefördert werden. FrauKollegin Schwesig und ich haben exakt das in einer ge-meinsamen Presseerklärung unterstrichen. Wir wollennicht, dass mit staatlichem Steuergeld Extremisten vonrechts oder links gefördert werden.
Deswegen war Ihr Satz zwar richtig, aber nicht ganzvollständig. Das musste ich auch für unsere Seite nocheinmal erklären.Meine Damen und Herren, die Vergangenheit ist hin-reichend aufgeklärt. Die Geschehnisse sind analysiert.Wir müssen jetzt nach vorne blicken und Konsequenzenziehen. Darin sind wir uns einig. Ich bin zuversichtlich,dass wir uns dabei alles in allem auf einem guten Wegbefinden, alles zu tun, damit sich eine solche Mordserienicht wiederholt, damit Hass in unserem Land keineChance hat, und alles zu tun, was den Zusammenhalt un-seres Landes stärkt. Das ist das Mindeste, was wir denOpfern dieser Mordserie schuldig bleiben.
Jetzt hat Martina Renner als nächste Rednerin das
Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen und Kolle-ginnen Abgeordnete! Es geht darum, ein Versprecheneinzulösen, das Politik und Regierung gegeben haben:restlose Aufklärung im NSU-Komplex. Denn für dieAngehörigen der vom NSU Ermordeten und die Verletz-ten der Sprengstoffanschläge gilt noch immer, wasAysen Tasköprü im Februar 2013 an BundespräsidentGauck geschrieben hat. Sie schrieb: „Alles, was ich nochmöchte, sind Antworten.“Wenn wir heute über Konsequenzen und Schlussfol-gerungen aus dem Untersuchungsausschuss sprechen,dann müssen wir nicht nur zu den Vorschlägen Bilanzziehen, die von allen Fraktionen gemeinsam unterbreitetwurden und auf deren vollständiger Umsetzung wir bisheute harren. Wir müssen auch über schmerzhafte Er-kenntnisse sprechen, die viele von uns in den letztenzweieinhalb Jahren gewonnen haben.Ich war Mitglied des Thüringer Untersuchungsaus-schusses. Ich bin unzufrieden, dass wir bis heute nichtwissen, warum die Fahndung nach dem mutmaßlichenKerntrio des NSU seit 1998 erfolglos blieb. Ich bin un-zufrieden, dass wir noch immer nicht wissen, was dasMotiv für die Ermordung der Polizistin MichèleKiesewetter in Heilbronn war. Ich bin unzufrieden, dasswir noch immer nicht wissen, welche Rolle die V-Leuteim NSU-Unterstützernetzwerk tatsächlich innehattenund was am 4. November 2011 in Eisenach tatsächlichgeschah. Aber meine offenen Fragen sind nichts gegendas nicht eingelöste Versprechen auf Aufklärung, wie esdie Angehörigen der durch den NSU Ermordeten bekla-gen, und die mangelnde Bereitschaft, über Rassismus zusprechen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1227
Martina Renner
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Ich will anhand von drei aktuellen Beispielen meineZweifel zum Ausdruck bringen, ob wir wirklich alles,aber auch alles unternehmen, damit menschenverach-tende Einstellungen, Rassismus und daraus folgende Ge-walttaten zurückgedrängt werden.Erstens. Ich erwarte beim Thema Neonazigewalt end-lich eine neue Ermittlungskultur der Polizei. Wenn wievorletztes Wochenende in Thüringen 15 bis 20 Neonaziseine Veranstaltung im Gemeindesaal von Ballstädt über-fallen und ein Dutzend Menschen zum Teil schwer ver-letzen, dann will ich keine Erstmeldungen mehr lesen, indenen zielgerichtete, organisierte Neonaziangriffe alsKirmesschlägerei unter Alkoholeinfluss verharmlost undentpolitisiert werden.
Zweitens. Ich erwarte auch von den Staatsanwalt-schaften ein anderes Umgehen mit der tödlichen Dimen-sion neonazistischer Gewalt. Ende April beginnt vordem Landgericht Kempten der Prozess gegen mehrereThüringer Neonazis, die im Sommer 2013 einen 34-jäh-rigen Mann aus Kasachstan auf einem Volksfest in Kauf-beuren zu Tode geprügelt haben sollen. Einer der Tatver-dächtigen hatte die Opfer des NSU im sozialenNetzwerk Facebook verhöhnt. Die StaatsanwaltschaftKempten ist sich schon vor Prozessbeginn sicher, dasskein ausländerfeindliches, rassistisches oder rechtsextre-mes Motiv vorliegt. Da fühle ich mich an die Justizaktender 90er-Jahre zu schweren Neonazigewalttaten erinnert,die wir alle gelesen und kopfschüttelnd zur Kenntnis ge-nommen haben. So etwas darf sich nie wieder wiederho-len.
Drittens. Und die Politik? Das Innenministerium inStuttgart hat gerade einen Bericht vorgelegt; ich mussden Titel nicht wiederholen, da ihn Herr Binninger be-reits genannt hat. Darin wird jede rassistische Ermitt-lungspraxis gegen Angehörige der Roma-Minderheitnach dem Mord an Michèle Kiesewetter in Heilbronnklipp und klar geleugnet. Das ist Reinwaschen in Rein-kultur. Von der geforderten neuen Fehlerkultur keineSpur! Auch das müssen wir klar benennen.
Kurzum: Das Aufklärungsversprechen von Bundes-kanzlerin Merkel treibt mich und, wie ich gesehen habe,auch viele Kolleginnen und Kollegen in diesem Hausweiter um. Wir alle unterliegen sicherlich parteipoliti-schen Zwängen. Aber wir werden so lange weiterfragen– das versprechen wir –, notfalls jahrelang, bis sich et-was ändert und Aysen Tasköprü endlich Antworten hat.Danke.
Jetzt hat der Bundesjustizminister Heiko Maas dasWort.
Heiko Maas, Bundesminister der Justiz und für Ver-braucherschutz:Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die schrecklichen Verbrechen des NSU sind unsmittlerweile seit mehr als zwei Jahren bekannt. All das,was dort geschehen ist, muss uns nach wie vor mit dop-pelter Scham erfüllen, zum einen Scham darüber, dass inDeutschland wieder Menschen wegen ihres Glaubensund ihrer Herkunft planvoll ermordet wurden, und zumanderen Scham deshalb, weil der Staat und die Behördenfast 14 Jahre nicht in der Lage waren, diese Taten zu er-kennen, aufzuklären und vor allem zu verhindern.Das unsägliche Leid, das die Terroristen des NSU an-gerichtet haben, kann niemand wiedergutmachen. Aberwir haben die Pflicht, gemeinsam dafür zu sorgen, dasssich solche Taten nie wieder wiederholen. Nie wiederdürfen Justiz und Polizei blind sein gegenüber rassisti-schen und fremdenfeindlichen Motiven. Nie wieder dür-fen bei der Aufklärung terroristischer Gewalt die Erfah-rungen des Generalbundesanwalts ungenutzt bleiben.Und nie wieder dürfen Verbrecher von unklaren Zustän-digkeiten bei der Justiz profitieren. Das ist Auftrag ausden Empfehlungen des Untersuchungsausschusses zumNSU.
Der Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundes-tages hat viele konkrete Empfehlungen erarbeitet. Las-sen Sie mich das einmal sagen als einer, der damals dieArbeit von außen beobachtet hat. Nicht nur die Aufklä-rungsarbeit des Bundestages in diesem Zusammenhanghat Maßstäbe gesetzt; auch die Schlussfolgerungen undHandlungsempfehlungen, die gegeben worden sind, sindwegweisend. Deshalb wollen wir diese auch umsetzen.Wir wollen die Zuständigkeit des Generalbundesan-walts erweitern und sicherstellen, dass er zukünftig früh-zeitig eingeschaltet wird, wenn es um rassistische oderfremdenfeindliche Taten geht. Herr Binninger, meinMinisterium wird hierzu noch vor Ostern einen Gesetz-entwurf vorlegen. Also, ich fordere mich hier nur selberzum Handeln auf und nicht andere. Damit dokumentiereich, dass uns die Ergebnisse dieses Ausschusses wichtigsind und wir sie sehr schnell umsetzen wollen.
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1228 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Bundesminister Heiko Maas
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In dem Entwurf soll Folgendes geregelt sein: Erstens.Der Generalbundesanwalt soll künftig immer dann dieErmittlungen an sich ziehen können, wenn objektiv einbesonders bedeutendes Staatsschutzdelikt vorliegt. Diesubjektive Seite, die Motive der Täter bleiben einstwei-len außen vor; denn die sind zu Beginn der Ermittlungenoft noch gar nicht bekannt.Zweitens. Wenn die Staatsanwaltschaften der LänderAnzeichen dafür haben, dass der Generalbundesanwaltfür einen Fall zuständig sein könnte, dann müssen sieden Generalbundesanwalt in Zukunft unverzüglich in-formieren. Das wollen wir im Gesetz klarstellen, und da-mit wollen wir vor allen Dingen erreichen, dass die Ex-perten vom Generalbundesanwalt frühzeitig in dielaufenden Ermittlungen eingebunden werden könnenund ihre Erfahrung dort genutzt werden kann.Drittens. Der Generalbundesanwalt soll – das halteich für ganz wesentlich – zukünftig auch Streitigkeitenüber die Zuständigkeiten – das ist eines der Probleme indiesem Zusammenhang gewesen – entscheiden können.Wenn es, wie im Fall des NSU, mehrere Taten in ver-schiedenen Ländern gibt und die Staatsanwaltschaftensich nicht einig werden, ob und wo die Ermittlungenkonzentriert werden, dann soll zukünftig darüber der Ge-neralbundesanwalt entscheiden. Es darf einfach nichtsein, dass Konkurrenzdenken und Eifersüchteleien Er-mittlungen in solchen Fällen behindern.
Wir wollen außerdem die Opfer einer Straftat überihre Rechte im Strafverfahren besser informieren – dastun wir ohnehin bei der Umsetzung der EU-Opferrichtli-nie im nächsten Jahr –, und wir wollen auch das Strafge-setzbuch ändern.Wir werden sicherstellen – das ist in der Debatte an-gesprochen worden –, dass rassistische, fremdenfeindli-che oder sonstige menschenverachtende Motive bei derStrafzumessung stärker berücksichtigt werden können.Damit sensibilisieren wir zugleich die Ermittlungsbehör-den. Es geht eben nicht nur darum, was jemand getanhat, sondern es geht an der Stelle auch um die Frage, obermittelt werden muss, aus welchen Motiven ein Tätergehandelt hat; denn nur dann können die Gerichte die so-genannte Hasskriminalität auch angemessen bestrafen.Klare Regeln und Gesetze sind notwendig und wich-tig, aber es gibt auch den menschlichen Faktor, auch beiErmittlungen von Behörden. Damit alle unsere Sicher-heitsbehörden wirksam gegen rassistische und fremden-feindliche Taten vorgehen, brauchen wir Mitarbeiterin-nen und Mitarbeiter, die das haben, was wir heuteinterkulturelle Kompetenz nennen. Wer den Betreiber ei-nes Dönerlokals nicht als engagierten Unternehmersieht, sondern ihn in erster Linie schnell mit Mafia, Men-schenhandel oder Drogen in Verbindung bringt, der hatnichts verstanden und dem wird es vor allen Dingenkaum gelingen, einen Fall vernünftig aufzuklären.
Deshalb müssen wir Vorurteile und falsche Klischeesüberwinden, und deshalb kommt es auch darauf an, wieunser Personal in den Behörden zusammengesetzt ist.Ich meine, wir brauchen in Justiz und Polizei nicht nurKollegen, die Heiko oder Thomas heißen, sondern wirbrauchen auch Mehmet und Ayse; denn auch das wirdder Aufklärung zuträglich sein.
Rund 20 Prozent der Bevölkerung in Deutschland ha-ben heute einen Migrationshintergrund. Diese Vielfaltunserer Gesellschaft muss sich auch beim Personal vonJustiz und Polizei niederschlagen. Ich weiß, dass hier vorallem die Länder gefordert sind. Aber auch das ist eineganz wichtige Konsequenz aus dem, was der Untersu-chungsausschuss herausgearbeitet hat, und auch dasmüssen wir in unsere Behörden tragen. Ich meine, dassind wir den Opfern des NSU und ihren Angehörigenschuldig.Herzlichen Dank.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Irene Mihalic
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Wie sind die Ereignisse in der Öffentlichkeit da-mals eigentlich angekommen? Am 4. November 2011fahndete die Polizei in Eisenach nach Bankräubern, undsie fand die NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt und UweMundlos tot in ihrem Wohnmobil. Sie hatten vorher, un-terstützt von Beate Zschäpe, bei 14 Raubüberfällen ins-gesamt 600 000 Euro erbeutet. Bis zu ihrem Tod konntenBöhnhardt und Mundlos nicht gestellt werden. Fast13 Jahre blieben die NSU-Terroristen unentdeckt. Fast13 Jahre konnten sie mit einfachen Mitteln ein unbehel-ligtes Leben führen, Freundschaften zu Nachbarn auf-bauen, ja sogar Urlaub an der Ostsee machen. In 13 Jah-ren haben sie zehn Menschen kaltblütig exekutiert,unentdeckt, unbehelligt und völlig ungestört.Die deutschen Sicherheitsbehörden haben angesichtsdes rechtsextremistischen Terrors dramatisch versagt.
Der Verfassungsschutz konnte den Terror von rechts we-der erkennen noch analysieren. Der NSU-Terror folgteeben nicht dem klassischen Muster mit Führungsspitzeund Bekennerschreiben, welches man zum Beispiel vonder RAF kannte. Durch das Denken in solchen Stereoty-pen war der Verfassungsschutz völlig blind für den Ter-ror von rechts, und diese Blindheit, Herr Minister, lässtsich nicht wegreformieren. Deshalb muss der Verfas-sungsschutz in seiner heutigen Form aufgelöst werden.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1229
Irene Mihalic
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Aber auch die Polizei hat schwere Fehler gemacht.Ein rechtsextremistischer Hintergrund wurde bei den Er-mittlungen von vornherein stets ausgeschlossen.
Stattdessen bestimmten allzu oft rassistische Vorurteilegegenüber den Opfern die Ermittlungsarbeit. Ein mafiö-ser Hintergrund bei so einem Mord – na klar! Ein Ehren-mord – immer vorstellbar im Migrantenmilieu! Das La-bel der Boulevardpresse war „Döner-Morde“. Aufklärensollte eine Soko „Bosporus“. Wenn der Fokus der Er-mittlungen allein auf den Opfern liegt, dann ist es keinWunder, dass man die Täter nicht findet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße sehr,dass wir hier heute noch einmal das interfraktionelle Er-gebnis des Parlamentarischen Untersuchungsausschus-ses zum NSU gemeinsam beschließen wollen. Damitsetzen wir ein ganz wichtiges Zeichen, vor allem mitBlick auf die Familien der Opfer. Wir alle schämen unsdafür, dass die NSU-Morde lange Zeit so gravierendfalsch eingeordnet wurden. Zu Recht fordern daher dieOpferfamilien, dass nicht bereits zwei Jahre nach Aufde-ckung des NSU-Terrors das große Abhaken beginnt.Nein, wir stehen gerade erst am Anfang, und deshalbkann der gemeinsame Beschluss auch nur der ersteSchritt sein. Wir müssen deutlich weiter gehen, wennwir dem Rechtsextremismus den Nährboden für die Saatvon Gewalt und Terror entziehen wollen.
Dafür brauchen wir eine neue Polizei- und Behörden-kultur. Allzu oft wurden gerade die Familien der Opfermit ihren Anliegen nicht ernst genommen. Sie wurdenverhöhnt und waren selbst übelsten Verdächtigungenausgesetzt. Wir brauchen hier einen Neustart in denStrukturen und in der Ausbildung. Dort, wo personellesVersagen nachweisbar ist, muss es auch zu dienstlichenKonsequenzen kommen, in erster Linie natürlich beidenjenigen, die in leitenden Positionen standen undheute teilweise noch stehen.
Die Strukturen des Verfassungsschutzes haben dieAufdeckung des rechten Terrors vereitelt, weil sie denfalschen Mustern gefolgt sind. Er muss daher in seinerheutigen Form aufgelöst werden. Wir brauchen stattdes-sen eine völlig neu strukturierte Inlandsaufklärung miteiner deutlich verbesserten parlamentarischen Kontrolle.
Der Einsatz von V-Leuten, gerade in der rechtenSzene, muss ein für allemal beendet werden.
Wir haben dem Rechtsextremismus mit diesem Instru-ment sowohl Geld als auch Struktur gegeben, anstattwertvolle Erkenntnisse zu gewinnen. Auf der anderenSeite waren die letzten Regierungen – man muss es sa-gen – eher geizig, wenn es um die finanzielle Unterstüt-zung von Initiativen gegen rechts ging, insbesonderewas die Verlässlichkeit einer Finanzierung anging. Wirfordern eine verbindliche Zusage des Bundes, diese Ini-tiativen mit jährlich mindestens 50 Millionen Euro zuunterstützen;
denn diese Mittel werden für Opferberatungsstellen,Ausstiegsprojekte und vieles mehr ganz dringend ge-braucht.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage vom
Kollegen Binninger?
Selbstverständlich.
Vielen Dank, Frau Kollegin Mihalic. – Keine Sorge,
ich will das Bild unserer interfraktionellen Einigkeit
nicht trüben; ich habe einfach eine Bitte an Sie. Sie ha-
ben den Großteil Ihrer Redezeit auf das Thema der Ab-
schaffung des Verfassungsschutzes verwandt. Das ist das
Sondervotum von Grünen und Linken gewesen; da hat-
ten wir keinen Konsens.
Sie kommen aus dem Polizeipräsidium Köln. In Köln
gab es ja den Sprengstoffanschlag in der Keupstraße, bei
dessen Aufklärung im Jahr 2004 wirklich eine Menge
schieflief und es ein Bündel an Fehlern gab, wie wir sie
sonst in keinem Fall gefunden haben. Ich möchte Sie
einfach nur fragen: Wären Sie bereit, vielleicht aus Ihrer
eigenen Erfahrung damals, als Sie dort Dienst gemacht
haben, ein paar Sätze dazu zu sagen?
– Natürlich kein Geheimnisverrat, Frau Kollegin, nur et-
was, was öffentlich ist.
Keine Sorge! Ich werde keine Geheimnisse verraten,Kollege Binninger, selbstverständlich.Sie haben natürlich völlig recht mit Ihrer Kritik – Siewerden es auch meinen Ausführungen vorhin entnom-men haben –, dass nicht nur beim Verfassungsschutz eineklatantes Versagen festgestellt worden ist. Es ist schonbei meinen Vorrednerinnen und Vorrednern angeklun-gen: Wir müssen natürlich auch bei der Polizei in die
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1230 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Irene Mihalic
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Strukturen hinein. Wir müssen auch da dafür sorgen,dass sich solche Ereignisse, wie sie damals in Köln pas-siert sind – es hat auch da eine falsche Einordnung derDinge gegeben –, nicht wiederholen. Ich denke, in derFrage, an diesem Punkt sind wir uns alle einig.
Lassen Sie mich noch einen Aspekt ansprechen, undzwar was die Arbeit der zivilgesellschaftlichen Initiati-ven angeht, die durch die unsägliche Extremismusklau-sel immer noch massiv behindert wird. Da ist es ebennicht von Belang, liebe Kolleginnen und Kollegen vonder SPD, Frau Högl, ob das Bekenntnis zur Verfassungwie bisher durch Unterzeichnung einer solchen Klauseloder in einem verbindlichen Begleitschreiben erfolgt.Diese Klausel muss ganz verschwinden; denn sie ist einevöllige Verkehrung.
Wenn wir den zivilgesellschaftlichen Initiativen ständigKnüppel zwischen die Beine werfen, dann unterstützenwir indirekt Hass und Gewalt von rechts. Letztlich darfder Staat für die rechte Gefahr nicht länger blind sein.Das muss uns beim dringend notwendigen Umbau derSicherheitsarchitektur leiten. Kollege Binninger, alsoauch da der Blick ganz klar auf die Polizei gerichtet!Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Konsequenzenaus den Verbrechen des NSU gehören zu den wichtigstenparlamentarischen Aufgaben für diese Legislaturpe-riode. Lassen Sie uns da gemeinsam an die Arbeit gehen,Punkt für Punkt! Dabei gilt: Kosmetik und gute Vorsätzereichen nicht aus. Die Struktur hat versagt, und deshalbmuss die Struktur verändert werden.Vielen Dank.
Als nächster Redner hat der Kollege Armin Schuster
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Öf-fentlichkeit schockiert, Zuwanderinnen und Zuwandererverunsichert, die Menschen im Land erschüttert, Sicher-heitsexperten sprachlos – das wurde ja schon beschrie-ben –, so war jetzt lange der Zustand oder ist der Zustandimmer noch. Deshalb, finde ich, sollten wir das ganzstarke Signal, dass wir überfraktionell diese Einigkeithaben, nicht überlagern durch eine Debatte, in der viel-leicht hier noch ein bisschen eigenes Votum betont wird,Frau Pau, vielleicht dort noch ein bisschen Votum betontwird, Frau Mihalic. Dass der Deutsche Bundestag so ei-nig zusammensteht, ist ein unglaublich gutes Signal.Ich will Ihnen helfen. Ich würde Ihnen nicht die Fragestellen, ob wir das PP Köln abschaffen sollen; das ma-chen wir natürlich nicht. Ich glaube einfach, dass es eineNummer zu hart ist, zu sagen: Wir schaffen den Verfas-sungsschutz ab, bauen ihn dann neu auf. – Gehen Siedoch mit uns den Weg der Reform! Da können Sie imPrinzip das Gleiche tun. Wir haben ja nicht gesagt, wiestark wir reformieren.Frau Pau, es ist nicht wertlos, wenn ich Ihnen sage: Eswäre schon wahnsinnig gut, wenn die Linke einmal ihrVerhältnis zu dem Begriff „Nachrichtendienst“ ent-decken würde. Wir sprechen von Nachrichtendienstenund nicht von Geheimdiensten.
Ich könnte mir sogar vorstellen, einen Geheimdienst ab-zuschaffen; aber nicht einen Nachrichtendienst. Denbraucht dieses Land.
Wer den Empfehlungskatalog intensiv studiert, er-kennt unendliche Chancen, die SicherheitsarchitekturDeutschlands weiterzuentwickeln. Es ist nötig. Wir ha-ben im September 2013 von einem erheblichen System-versagen der deutschen Sicherheitsdienste gesprochen,nicht nur der Polizei und des Verfassungsschutzes, son-dern auch der Justiz, der Gesellschaft, der Parlamenteund der Regierungen in Bund und Ländern. Wenn manein solch hartes Urteil fällt, wartet man natürlich auf dasEcho der Menschen draußen. Ich reise viel zum ThemaNSU durch das Land. Vor allem nach den Vorträgen sa-gen die Leute mir: Sie haben recht. – Vorher sind sie alleziemlich angefasst, als würde man in einer Wunde he-rumstochern. Wenn man mit ihnen spricht, dann merkendie Leute, dass sich etwas tun muss.Der Bundespräsident hat den Untersuchungsaus-schuss im Januar 2013 gefragt: Was ist das wichtigsteZiel Ihrer Arbeit? – Wir haben übereinstimmend gesagt:Dass das Thema in der 18. Wahlperiode unverändertwieder auf der Tagesordnung ist und wir nicht zur Tages-ordnung übergehen.Das haben wir in drei Punkten erreicht.Erstens. Der Bundesinnenminister hat es vorgetragen.Sehr wohltuend waren die Äußerungen des Bundesjus-tizministers, die mir gut gefallen haben, weil der Aspektder Justiz sehr stark im Vordergrund stand.Zweitens. Der Koalitionsvertrag beinhaltet dasThema geradezu prominent. Das hätte ich mir gar nichtso gut vorstellen können. Herzlichen Dank an die Ver-handler!Drittens. Dass wir die Empfehlungen heute in einemfraktionsübergreifenden Antrag behandeln, bekräftigtdie Ernsthaftigkeit unseres Vorhabens. Wir wollen unbe-dingt weitermachen. So scharf, wie es einige vor mir ge-tan haben, formuliere ich das jetzt einmal nicht. Ich ver-suche es noch auf die konziliante Art. Wir brauchen die
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Armin Schuster
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Länder – wenngleich ich da, Stichwort Baden-Württem-berg, so meine Zweifel habe –, wir brauchen ihre Bereit-schaft, wir brauchen ihre Mitwirkung. Dieser überfrak-tionelle Konsens ist auch deshalb so wichtig, weil Siealle mithelfen können, weil Sie überall mitregieren. Bittenutzen Sie Ihre Vernetzung und Ihre Kontakte. Wir müs-sen die Länder bewegen.Wer hochflexible Ermittlungsgruppen in überregiona-len Verfahren möchte, muss eine Lösung zwischen Bundund Ländern finden. Wer eine Zusammenarbeit zwi-schen den Ländern, zwischen Bund und Ländern, zwi-schen Verfassungsschutz, Polizei und Staatsanwaltschaf-ten erreichen und dabei noch das Trennungsgebotverfassungskonform weiterentwickeln will, braucht einegroße Übereinstimmung. Die Aus- und Fortbildung vonMehmet und Aischa müssen wir deutschlandweit in16 Ländern und im Bund harmonisieren.
– Von Heiko und Thomas auch. – So etwas konnten wirbisher. Ich hoffe, von der Innen- und Justizministerkon-ferenz Impulse für das Land zu bekommen.Meine Damen und Herren, der Fall des NSU ist fürdie föderale Sicherheitsstruktur nicht einzigartig. Wennwir uns den spektakulärsten ungelösten Fall organisierterKriminalität in diesem Land vornehmen und analysierenwürden, was würden wir feststellen? Die Täter operierenländerübergreifend, nutzen ganz stark IT-Strukturen. DieZuständigkeit unserer Behörden würde sich wahrschein-lich über eine Vielzahl von LKA, Staatsanwaltschaften,den Bundesnachrichtendienst, Verfassungsschutzämteretc., etc. erstrecken. Wo liegt der Unterschied? Nicht nuraus dem NSU-Bericht, sondern auch aus den künftigenund heute schon vorhandenen Bedrohungsszenarienziehe ich meine Motivation, die Forderung zu erheben,besser überregional zu kooperieren, bessere gemeinsameBest-Practice-Standards zu etablieren, verlässlichereKommunikations- und Führungsstrukturen in diesemLand zu schaffen.Qualität ist ein Markenzeichen Deutschlands. Qualitätentsteht am besten dezentral. Deswegen bin ich der fes-ten Überzeugung, dass die föderale Struktur für uns gutist. Um es mit den Worten von Tomasi di Lampedusa zusagen: Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist,dann ist es nötig, dass alles sich verändert. Deshalbmöchte ich weiter Finger in Wunden legen. Deshalb sindjetzt, vor allen Dingen in den Parlamenten und Regie-rungen, Vorbilder gefragt, die sich nicht abgrenzen, son-dern kooperieren wollen. Deshalb möchte ich die Arbeitan der deutschen Sicherheitsarchitektur sogar institutio-nalisieren. Herr Bundesinnenminister, ich fand Ihre Ideerichtig – ich lobe Sie in jeder Rede für den damaligenVorschlag –, die Sicherheitsarchitektur in Deutschlandvon einer Kommission analysieren und bewerten zu las-sen. Ich würde mich freuen, wenn es dazu wieder käme.Ich könnte mir übrigens auch vorstellen, dass, wenn Sieressortübergreifend und Bund-Länder-übergreifend50 Empfehlungen in Sachen NSU-Folgerungen zu koor-dinieren haben, auch da eine symbolhafte Institutionali-sierung in Form einer Geschäftsstelle, eines Beauftrag-ten das deutliche Signal – nach innen wie nach außen –senden könnte: Wir meinen es ernst.Meine Damen und Herren, wer die Sicherheitsarchi-tektur fortentwickeln will, hat zwei gute Gründe: erstensdie modernen Erscheinungsformen der Kriminalität undzweitens das Versprechen, das wir einzulösen haben, dasVersprechen, das wir den Hinterbliebenen der Opfer desNSU-Terrortrios hier in diesem Hause gegeben haben:Wir wollen erst ruhen, wenn alle Empfehlungen, die wirgeben konnten, umgesetzt wurden, sodass das nie wiederpassiert.Danke schön.
Als nächster Redner hat der Kollege Sönke Rix das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eigentlich hatte ich – nichts gegen Sie, Frau Präsidentin! –
gehofft, dass Herr Lammert noch im Präsidium ist. Als
ich meine Rede vorbereitet habe, wusste ich, dass die
Debatte in der Kernzeit stattfindet, in der normalerweise
der Bundestagspräsident den Vorsitz hat. Nun hat sich
der Beginn unserer Debatte wegen der Ukraine-Debatte
verschoben. Aber ich wollte Herrn Lammert noch ein-
mal danken; vielleicht können Sie ihm den Dank ja aus-
richten, aber er wird es möglicherweise auch hören.
Das will ich gerne machen.
Danke schön. – Als die Mitglieder des Untersu-chungsausschusses – Frau Högl hat es heute schon ein-mal gesagt – bei ihm waren, hat er die Initiative für einNachdenken über die Frage ergriffen: Wie gehen wir alsParlament mit den Erkenntnissen, die wir im Untersu-chungsausschuss gewonnen haben, um? Wir wissen ja:So mancher Untersuchungsausschussbericht, so man-cher Bericht einer Enquete-Kommission sowie andereDinge verschwinden in Schubladen. Ich finde es richtig,dass wir als neugewähltes Parlament mit der heutigenBeschlussfassung noch einmal bekräftigen, was wir indiesem Bericht überwiegend gemeinsam festgehaltenhaben, auch wenn es einige Einzelvoten gibt. Aber dergemeinsame Bericht ist ein gutes Zeichen auch für dieseWahlperiode und ein guter Auftrag an die Bundesregie-rung und an uns als Parlament. Herzlichen Dank dafür.
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1232 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Sönke Rix
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Ich will ganz kurz auf das kleine Streitthema „Extre-mismusklausel“ eingehen. Denen, die da nur die halbeoder zumindest nicht die ganze Wahrheit gesagt haben,will ich an dieser Stelle sagen: Es gibt jetzt – dafür binich Ihnen, Herr de Maizière, und auch Frau Schwesigsehr dankbar – eine gemeinsame Linie der Bundesregie-rung, wie man mit Projekten umgeht, die staatliche Mit-tel zur Förderung von Demokratie haben wollen. Das istschon einmal sehr wichtig.
Die gab es vorher nämlich nicht. Vorher gab es quasieine Einzelbewertung aus dem Hause der Familien-ministerin. Sie hat darum gebeten, dass die Klausel un-terschrieben wird. Diese Unterschrift ist nun nicht mehrerforderlich. Es wird natürlich den Hinweis geben, dassalles auf rechtlicher Grundlage basiert. Das ist aber eineSelbstverständlichkeit, und darüber hat sich im Zusam-menhang mit den Projekten aus den Häusern auch vorherniemand beschwert. Ich finde es richtig, dass die Unter-schrift nun wegfällt.
Wir haben uns im Untersuchungsausschuss nicht im-mer nur mit der Frage beschäftigt, was die Sicherheitsbe-hörden und die Justiz falsch gemacht haben. Wir habenuns, als wir mit Zeugen gesprochen und Sachverständigeeingeladen haben, auch intensiv mit der Frage beschäf-tigt: Wie kann es eigentlich passieren, dass wir als Ge-sellschaft einen Boden bereitet haben, auf dem ausRechtsextremismus sogar Rechtsterrorismus entstehenkonnte? Wie konnte es passieren, dass, wie im Falle vonBöhnhardt, Mundlos und Zschäpe, junge Menschen, die,wie wir erfahren haben, eine gewisse Perspektive hatten,in den Rechtsextremismus abgewandert und sogar zuRechtsterroristen geworden sind?Wir müssen uns vorstellen: In den 90er-Jahrenbrannte in Rostock ein Asylbewerberheim, und dieNachbarn haben geklatscht. Die Sicherheitsbehördenwaren überfordert. Diese Situation ist für uns heute im-mer noch unbegreiflich. Ich hoffe, dass es nie wieder zusolch einer Situation kommt.
Wir haben im Rahmen unserer Untersuchungen leidererkannt, dass einer der im Rahmen des NSU-ProzessesBeschuldigten Mitglied bei der Bundeswehr war und dortoffen zu Protokoll gegeben hat – das ist aktenkundig –,dass er sich als nationalsozialistisch bezeichnet. Bei derBundeswehr sind daraus damals keine Konsequenzengezogen worden. Er wurde sogar noch zum Gefreitenbefördert und bekam ein relativ durchschnittlichesDienstzeugnis. Auch das gehört zur Wahrheit dazu.Auch an dieser Stelle fehlte die Sensibilisierung in ei-nem Bereich unserer Gesellschaft.In den 90er-Jahren wurden die Anti-Antifa Ostthürin-gen und der Thüringer Heimatschutz gegründet, in de-nen auch Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe Mitgliedwaren. Die Staatsanwaltschaft Gera ging damals jedochnicht von einer kriminellen Gesamtstruktur aus. Auchdas ist wieder ein Beweis dafür, dass die Sensibilität ge-genüber diesen Taten und vor allem gegenüber demRechtsextremismus nicht vorhanden war. Unser Ein-druck ist, dass es die Bereitschaft dazu in der Bundes-wehr, der Gesellschaft und den Medien nicht gab; HerrBinninger hat das angesprochen. Deshalb ist es nach wievor eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, sich gegenRechtsextremismus zu wehren.
Ich bin froh, dass wir in unserem Abschlussberichtgeschrieben haben, dass wir die Zivilgesellschaft an die-ser Stelle weiterhin stärken wollen. Dazu gehören nichtnur der Umgang mit der Extremismusklausel – mit Un-terschrift oder ohne –, sondern auch die Bereitstellungvon mehr Mitteln, um diese dauerhafte Aufgabe einerdauerhaften Finanzierung zuzuführen. Deshalb bin ichdankbar, dass wir heute diesen gemeinsamen Antrag be-schließen werden.Herzlichen Dank.
Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Sensburg das
Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Fast anderthalb Jahre hat der NSU-Untersu-chungsausschuss gearbeitet. Es ist ein starkes Zeichen,dass sowohl die Einsetzung als auch die Beschlussemp-fehlung und der Abschlussbericht einstimmig erfolgtenund dass wir hier im Deutschen Bundestag große Einheitzeigen. Es ist ein wichtiges und richtiges Zeichen. Ge-nauso richtig ist es, dass wir dieses Thema in der18. Wahlperiode quasi nicht als Akte zuklappen, sondernaufgeklappt lassen. Das ist ein starkes und gutes Zei-chen; das haben meine Vorredner bereits hinreichend be-kundet.Mich freut, dass die Kolleginnen und Kollegen – ins-besondere Frau Kollegin Högl, als es um Baden-Würt-temberg ging – hier jetzt nicht in Klein-Klein verfallen,sondern wir uns einig sind, gemeinsam an dem Ziel zuarbeiten, dass weiter aufgeklärt wird. Ich freue mich,dass wir nicht in Fraktionsdiskussionen verfallen, son-dern gemeinsam an einem Strang ziehen. Ich finde, dasist ein sehr starkes Zeichen.Ich finde es genauso wichtig, dass wir in enger Zu-sammenarbeit mit den Bundesländern die weiteren not-wendigen Aufklärungen betreiben. Viele Maßnahmensind nun einmal in den Bundesländern zu treffen. Ich bindaher ein wenig traurig, dass die Bundesratsbank, die
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Dr. Patrick Sensburg
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sonst auch nicht besonders gut gefüllt ist, heute bei die-sem Thema leider auch recht leer ist. Die ersten Kolle-ginnen und Kollegen gehen schon, obwohl die Debattenoch nicht zu Ende ist. Ich hätte mir gewünscht, dass dieBundesratsbank gerade heute etwas stärker gefüllt ist.
Die besondere Einigkeit, die hier zutage tritt, ist bei ei-nem Untersuchungsausschuss keine Selbstverständlich-keit. Es ist in der Regel ein scharfes Schwert der Opposi-tion, um zu ermitteln. Wenn man aber genauer hinschaut,dann erkennt man, dass ein Untersuchungsausschuss ei-gentlich ein zentrales Recht des Parlaments, der parla-mentarischen Demokratie ist. Auch an dieser Stelle giltdaher: Es ist ein gutes Zeichen, dass dieser Untersu-chungsausschuss als ein zentrales Instrument des gesam-ten Parlaments genutzt worden ist.Ich danke allen Mitgliedern des Untersuchungsaus-schusses, die in diesen fast anderthalb Jahren intensivgearbeitet haben: mit doppelter Sitzungszeit, mit vielenSitzungen und einer hohen Schlagzahl. Das war eine in-tensive Arbeit. Ganz herzlichen Dank an alle, dass Siehier so intensiv gearbeitet haben.Ich danke aber auch den Mitgliedern der Bundes-regierung und der Behörden. Es war nicht immer leichtim Untersuchungsausschuss. Es war nicht mit allen Be-hörden einfach. Aber im Ergebnis ist es dann doch ge-lungen. Gerade auch der Innenminister Thüringens, HerrGeibert, der uns viele Erkenntnisse über den ThüringerVerfassungsschutz vermittelt hat, hat dazu beigetragen,dass der Untersuchungsausschuss arbeiten konnte.Von der einen oder anderen Seite wurden die Polizeiund der Verfassungsschutz intensiv kritisiert. Dazu istviel gesagt worden. Vieles ist richtig. Ich möchte aberauf das eingehen, was der Kollege Binninger erwähnthat. Wenn wir den Polizei- und SicherheitsbehördenBlindheit vorwerfen, dann müssen wir auch sagen, dasswir alle blind waren. Das ist eine Lehre des Untersu-chungsausschusses. Nicht nur Polizei- und Sicherheits-behörden haben es nicht gesehen, sondern auch in derBerichterstattung der Presse konnten wir nichts von ei-nem deutlichen Fingerzeig nach rechts lesen. Auch inunseren Debatten gab es keinen Hinweis in diese Rich-tung. Ausnahmsweise muss ich einmal die Linke loben,was ich sehr selten tue. Sie hat deutlich gesagt, dass auchsie trotz erster Nachfragen nicht weitergebohrt hat. DieErkenntnis, dass wir zu wenig gemacht haben, muss unsalle bewegen. Das ist ein ganz wesentliches Fazit diesesUntersuchungsausschusses.Wir müssen wachsamer sein. Wir müssen erkennen,dass in den letzten Jahren – Frau Kollegin Pau hat es ge-sagt – 60 Menschen getötet worden sind. Vor kurzemwurde vor dem Landgericht Halle ein Fall verhandelt,der sich in Eisleben ereignete. Dort wurden auf grau-samste Weise Menschen zusammengeschlagen, weil sieeinen Migrationshintergrund haben. Das muss uns ein-fach stutzig machen und zum Nachdenken anregen. Ichdanke daher allen Vereinigungen, Gruppen und Gesell-schaftsgliederungen, die immer wieder auf rechts zeigen,Sensibilität wecken und sich einsetzen. Auch wir wollenmit den Ergebnissen des Untersuchungsausschusses daansetzen, wo Toleranz, Kompetenz und Sensibilität ge-fordert werden. Das ist ein wesentlicher Bestandteil desUntersuchungsberichtes.Es sind auch Fehler gemacht worden. Bei einigenwurde der Finger in die Wunde gelegt. Ich möchte nichtmehr auf den polizeilichen Bereich eingehen, sondernich möchte auf den Bereich der Justiz eingehen. Wirmüssen feststellen, dass in vielen Bereichen der JustizSachverhalte nicht richtig verfolgt wurden oder nicht zurAnklage gebracht wurden. Es kann nicht sein, dassBöhnhardt 1993 in U-Haft weitere Taten vollbringenkonnte – gemeinsam mit Sven R. und zwei weiteren fol-terte er einen Mithäftling – und dies keine strafrechtli-chen Konsequenzen hatte und es auch nicht zur Anklagekam.
Wir haben 1996 Fotos einer Kreuzverbrennung imStil des Ku-Klux-Klans gefunden. Als später die ZeuginZschäpe vernommen wurde, hat sie konkrete Personen,die den Hitlergruß und den Kühnengruß zeigten, be-nannt. Auch hier wurde wieder nicht strafrechtlich er-mittelt und die Sache zum Abschluss gebracht. Das kannnicht sein. Wir müssen hier stärker sensibilisieren. Ichhoffe, dass wir aus den Ergebnissen den Schluss ziehen,dass Aus- und Fortbildung bei der Polizei und der Justizintensiviert werden müssen. Auch das EDV-Wirrwarrzwischen den Bundesländern muss aufgelöst werden,damit wir effektiv und intensiv arbeiten können.
Meine Damen und Herren, uns muss es gelingen, alleEmpfehlungen aus dem Untersuchungsausschuss umzu-setzen. Wir werden das gemeinsam mit der Bundesregie-rung tun. Ich freue mich, dass heute zwei Minister gespro-chen haben. Wir werden die Umsetzung als Parlamentbegleiten. Ich hoffe, dass wir in dieser Legislaturperiodekonkrete Erfolge erzielen. Das sind wir den Opfernschuldig.
Jetzt hat die Kollegin Ulrike Bahr das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem daskroch.“ Über 50 Jahre alt ist dieser Satz aus BertoltBrechts Arturo Ui. Man könnte meinen, über eine so
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1234 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Ulrike Bahr
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lange Zeitspanne hätte er Staub ansetzen und an Aktuali-tät einbüßen können. Doch weit gefehlt. Dies haben ge-rade die Ergebnisse des NSU-Untersuchungsausschussesuns allen wohl in erschreckendem Ausmaß vor Augengeführt.Umso wichtiger ist es, diesen Bericht nicht in derSchublade verschwinden zu lassen. Das Wiederaufgrei-fen und der Entschluss zur Bekräftigung der Empfehlun-gen des NSU-Untersuchungsausschusses setzen hier einwichtiges und vor allem ein dringend notwendiges Zei-chen im Hinblick auf eine funktionierende, verantwor-tungsbewusste und wehrhafte Demokratie.
Wir müssen uns in der Tat wehren, und leider nicht imSinne von „Wehret den Anfängen!“. Denn dieser Punktist bereits weit überschritten: Rechtsextreme und antise-mitische Einstellungen sind längst in unserer Mitte ange-kommen. Jeder zehnte Deutsche neigt laut der letztenStudie der Friedrich-Ebert-Stiftung von 2012 zu rechts-extremem Denken. Dies zeichnet, wie ich finde, ein sehralarmierendes Bild der Situation in Deutschland, einemLand, das ich persönlich viel lieber als weltoffen, tole-rant und bunt wahrnehmen würde.
Der erschreckende Blick in die braunen Sümpfe inDeutschland darf aber über eines nicht hinwegtäuschen:Es gibt sie – jene, die immer und immer wieder gegenrechtsextreme Aufmärsche, gegen Rassismus und Anti-semitismus aufstehen, die sich von rechten Drohungennicht einschüchtern lassen. In ganz Deutschland wehrensich Bürgerinnen und Bürger, unzählige Vereine und Ini-tiativen sowie viele Kommunen gegen rechte Umtriebe.Sie sagen: Wir sind bunt, und das soll so bleiben.
Dieses Netz von bunten Städten und Gemeinden ziehtsich mittlerweile über ganz Deutschland, und darauf dür-fen alle Beteiligten wirklich stolz sein.Genau hier sind wir auf dem richtigen Weg. Denn dasA und O für einen nachhaltigen und effektiven Kampfgegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitis-mus ist eine lebendige Zivilgesellschaft. Wo Menschenerfahren, was man miteinander bewegen kann, werdensie für extremes Gedankengut weniger empfänglich.Hier sind auch wir als Politikerinnen und Politiker ge-fragt. Politik muss wieder erlebbar und nahbar sein, naham Menschen. Demokratie ist für viele zu abstrakt, zuweit entfernt von ihrem Alltag. Es ist unsere Aufgabe,zivilgesellschaftliches Engagement zu fördern, uns sel-ber daran zu beteiligen und uns immer und immer wie-der dafür starkzumachen.
Dann wird auch wieder verständlicher, was Demokratieim Kern ausmacht: das Recht auf Beteiligung.In Anlehnung an die Empfehlungen des NSU-Unter-suchungsausschusses findet sich auch im Koalitionsver-trag ein klares Bekenntnis zur Förderung zivilgesell-schaftlichen Engagements, um rechtsextremistischenStrömungen entgegenzuwirken. Dafür ist es unbedingtnotwendig, die vielen Projekte, die die Demokratie vorOrt hochhalten, auf eine sichere finanzielle Basis zu stel-len. Wie wir aus dem letzten Jahr wissen, machte dieAngst vor dem finanziellen Aus auch vor so renommier-ten Projekten wie Exit-Deutschland nicht halt, und dasdarf nicht wieder passieren.
Die Wertschätzung, die den Initiativen bei diversen Fei-erlichkeiten immer und immer wieder pathetisch versi-chert wird, muss sich auch in ihrer Finanzausstattung wi-derspiegeln.Zusätzlich muss es unser Ziel sein, erfolgreiche Pro-jekte zu verstetigen, um den Initiativen vor Ort das re-gelmäßig wiederkehrende Zittern um Förderzusagen zuersparen.
Denn für ihre wichtige Arbeit brauchen sie vor allem ei-nes: Planungssicherheit. Die im Koalitionsvertrag fest-gehaltene Aufstockung der Haushaltsmittel ist hier einwichtiger Schritt, um eine ausreichende Finanzierungssi-cherheit zu gewährleisten.
Gerade in diesem Bereich sollte zudem nicht immer gel-ten: Wer zahlt, schafft an.Wir brauchen dringender denn je zivilgesellschaftli-ches Engagement. Deshalb müssen wir eine Partner-schaft fördern, und zwar eine Partnerschaft auf Augen-höhe und mit Beteiligungsformen, bei denen dieExpertise aus der Zivilgesellschaft aufgegriffen wird, umdas Engagement konsequent weiterzuentwickeln.Ein wichtiges Signal im Hinblick auf eine gleichbe-rechtigte Partnerschaft ist hier auch die gemeinsameEntscheidung des Familien- und des Innenministeriums,bei den Bundesprogrammen zur Demokratieförderungzukünftig auf die sogenannte Extremismusklausel zuverzichten. Die Parallelität des gemeinsamen Kampfesgegen Rechtsextremismus und des gleichzeitigen Gene-ralverdachts, damit linksextremen Einstellungen nahezu-stehen, ist weder zeitgemäß, noch entspricht dies einempartnerschaftlichen Verständnis im Verhältnis zwischenPolitik und Zivilgesellschaft.Im Kampf gegen rechts können und müssen wir Par-teilinien überspringen. In meinem Wahlkreis gibt es bei-spielsweise ein „Bündnis für Menschenwürde“, in demsich alles vereint, was in Augsburg aktiv ist. Hier kämp-fen Altlinke Seite an Seite mit wackeren Christsozialen,Jung neben Alt, Kirche mit Gewerkschaften und Polizeigemeinsam gegen rechte Umtriebe und zeigen Flagge,
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Ulrike Bahr
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wenn, wie womöglich am kommenden Wochenendewieder, Nazis aufmarschieren.Gerade hier spielt der Bereich der Bildung eine ganzwesentliche Rolle. Denn Bildung und Aufklärung sindmächtige Schutzwälle gegen extremes Gedankengut.
Vor dem Hintergrund unserer Geschichte müssen wirKindern und Jugendlichen helfen, ihre Persönlichkeit zustärken. Wir müssen ihnen vermitteln, dass unsere De-mokratie ein wichtiges Gut ist und dass unsere Gesell-schaft ohne Solidarität und Respekt niemals eine gutesein kann.Zivilcourage kommt nicht von selbst, aber sie ent-steht, wenn man weiß, wofür wir sie brauchen. UnsereAufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass wir alle wieder be-wusst zu schätzen wissen, was es heißt, in einer Demo-kratie zu leben. Erst dann gibt es für Rechtsextreme kei-nen Nährboden mehr.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das war die erste Rede der Kollegin Bahr, und gleich
zu einem Thema, das uns alle sehr bewegt.
Als nächster Redner hat der Kollege Martin Patzelt
das Wort. Auch für ihn ist das seine erste Rede.
Sie meinen: vor diesem Hause!
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Besucher hier im Bundestag! Die Demokratieför-derung ist zwar die letzte Empfehlung, die der Untersu-chungsausschuss in seinem Abschlussbericht gegebenhat, aber sie ist nicht die letzte in ihrer Bedeutung. Ausmeiner Sicht ist sie von grundlegender Bedeutung.Die Bundesregierung hat Bemühungen um Förderungvon Demokratie und Menschenfreundlichkeit undgegen faschistische Ideologien und extremes Verhaltenseit dem Jahr 2000 gefördert. Seit 2008 wurden rund377 Millionen Euro aus verschiedenen Ressorts zusam-mengelegt, um die Kommunen bei spezifischen Pro-grammen zu unterstützen.Ich konnte in kommunaler Verantwortung erleben,wie durch eine wachsende, sich profilierende Begleitungund Beratung die Ratlosigkeit und die Ohnmacht derMenschen in meiner Stadt angesichts öffentlicher rassis-tischer Übergriffe und einer sich etablierenden Szenevon rechtsradikalen Jugendlichen sich wandelten. Ichkonnte erleben, wie in einer deutsch-polnischen Doppel-stadt mit vielen ausländischen Studenten aus hilflosenund spontanen Aktivitäten der Bürgerinnen und Bürgerein bedachter Widerstand gegen fremdenfeindlicheÜbergriffe organisiert wurde und ein friedliches und to-lerantes Miteinander in der Stadt wuchs. Es waren insbe-sondere die vom Bund bereitgestellten finanziellen Mit-tel, die uns dabei halfen.Wir müssen die Absicht zur Verstetigung der Förde-rung und Entwicklung flächendeckender Beratungs-strukturen unterstützen und, wo nötig und sinnvoll, auchentsprechende Mittel aufstocken, damit die gewonnenenspezifischen Erfahrungen und Kompetenzen nicht verlo-rengehen. Meine Vorrednerin hat das ausführlich be-gründet. Frau Pau, ich kann in diesem Zusammenhangkeine Uneinigkeit im Abschlussbericht des Untersu-chungsausschusses finden. Für mich war beim Lesen ge-rade in diesem Punkt eine große und bewundernswerteEinigkeit erkennbar.Die bislang geforderte Kofinanzierung von besonderserfolgreichen Modellprojekten soll auf den Prüfstand ge-stellt werden. Man überlegt, ob man nicht auf den kom-munalen Anteil verzichten könnte, falls die Kommunenkein Geld dafür haben. Davor warne ich ganz entschie-den. Ohne einen finanziellen Beitrag der Länder undKommunen laufen diese Gefahr, ihre eigene Verantwort-lichkeit zu unterschätzen.
Die Menschen müssen an ihren Lebensorten gemein-schaftlich um Demokratie und Toleranz ringen und sichFremdenhass und politischem Extremismus entgegen-stellen. Dies muss man sich etwas kosten lassen. Siemüssen verstehen lernen, dass es ihr Ding ist, diesen un-ermüdlichen Einsatz für demokratisches Zusammenle-ben zu gestalten. Ausgaben für einen solchen Einsatzsind genauso wichtig oder vielleicht sogar noch wichti-ger als andere Ausgaben, die Kommunen tätigen müs-sen, etwa für gereinigte Straßen, gepflegte Grünanlagenoder Politessen.Der Bund kann und soll dauerhaft helfen, aber er darfnicht die Verantwortung vor Ort mindern. Denn nur anden Lebensorten selbst wird Erziehung und Bildung zudemokratischem Verhalten vollzogen. Die Lebenskon-texte sind geeignet, die Alternativlosigkeit und die Wert-schätzung demokratischen Lebens überhaupt erfahrbarzu machen und demokratisches Zusammenleben gera-dezu zu trainieren. Gedenk- und Feiertagsrituale, Stun-dentafeln und Bildungsreisen sind wichtig, aber sie rei-chen bei weitem nicht aus. Sie können nicht diewidersprüchlichen Alltagserfahrungen, die Konflikteund Frustrationen als Lernfelder ersetzen. Direkte Be-gegnungen mit fremden, mit schwachen, mit hilfebe-dürftigen Menschen, die Übernahme von Verantwortungfür Menschen und für Lebensbereiche, kurzum: die Par-tizipation junger Menschen am Leben der Erwachsenen-generation, das sind die geeigneten Orte der Begleitungund Förderung junger Menschen und auch für spezifi-sche Projekte.
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1236 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Martin Patzelt
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle sind nocham Üben; denn auch verbale Gewalt wird als Gewaltempfunden. Strukturelle Gewalt, zum Beispiel im Ver-waltungshandeln, führt zu Ohnmachtserfahrungen, undein andauernder Entzug von Aufmerksamkeit und Zu-wendung führt zu Vereinsamung.Ich konnte in Vorbereitung dieser Rede nicht daraufverzichten, noch einmal meinen Blick auf die Täter zurichten. Ich habe in der ausgezeichneten Recherche vonChristian Fuchs, Die Zelle, versucht, eine Antwort aufdie Frage zu finden, warum gerade Mittelstandskinder,ohne materielle Not und ohne erkennbare soziale Ver-werfungen aufgewachsen, sich in dem Gestrüpp natio-nalsozialistischer Ideologien verfangen konnten und wa-rum sie zu so furchtbaren und systematischen Mordenfähig wurden.Der Untersuchungsausschuss konnte und wollte aufsolche Fragen keine Antworten geben. Dabei sind dasdie Fragen, die vor allen pädagogischen und politischenInterventionen stehen. Unsere Förderung darf nicht alsein Feuerwehr- oder Reparaturprogramm verstandenwerden, sondern es muss auch nach den Ursachen undden diesbezüglichen Bedingungen des Aufwachsens ge-fragt werden. Fehlende Empathie, ungenügende Frustra-tionstoleranz, keine Konfliktkompetenz und ungezügelteAggression sind Warnzeichen. In diesen Zusammenhän-gen ist es unerlässlich, nach den Entwicklungsbedingun-gen von Kindern in der Drehtür zwischen familiärer undöffentlicher Erziehung zu fragen. Die anthropologischenWissenschaften geben uns dazu heute gute Antworten –wenn wir sie nur hören wollen.Die beabsichtigten Evaluationen von erfolgreich ge-förderten Programmen stimmen hoffungsvoll. Ich binder Bundesregierung dankbar, dass sie sich in dem Ko-alitionsvertrag so einmütig und so geschlossen zur Fort-setzung und Evaluierung dieser Programme entschlossenhat.Noch ein Wort an uns alle: Vielleicht sind es geradeunsere unbewältigten und verdrängten Konflikte undÄngste, die es der nachfolgenden Generation schwermachen, in eine lebbare Zukunft zu gehen. Vielleichtführt unser unbedarfter Zugriff auf Ressourcen jeder Artzu einer Situation, die jungen Menschen Angst macht,die sie fragen lässt, wie sie in Zukunft leben sollen. Einejunge Generation, die nicht vom Beispiel und vom Opti-mismus der Älteren getragen und bewegt wird, kannkein Vertrauen in die Zukunft entwickeln. Deshalb brau-chen junge Menschen vor allem ältere und authentischeKontaktpersonen – angefangen bei den Eltern bis hin zumNachbarn, zum Ausbilder, zum Lehrer –, die sie annehmenmit ihren Eigenheiten und Fehlern, mit ihren Schwächen,mit ihrer anstrengenden eigenen Sprache und ihrer eige-nen Kultur, die ihre Ängste und Fähigkeiten ernst neh-men, die Wertschätzung vermitteln und ihnen bei Proble-men helfen, die mit ihnen im dauernden Gesprächbleiben und dabei erfahren, dass solch eine Kommunika-tion auch ihnen selbst helfen kann, ihre Ideologien auf-zubrechen. Das bleibt schwer. Hier kann und soll pro-fessionelle Beratung aus Sackgassen und Engpässenheraushelfen.Wir selbst müssen mit Blick auf unsere Kultur desUmgangs im Deutschen Bundestag das Miteinander im-mer wieder neu üben – daran entscheidet sich, ob undwie Demokratie gelingt, ob sie wirklich und tatsächlichdie Ultima Ratio unseres Zusammenlebens ist –, indemwir in der Sache scharf die Klingen kreuzen, der Personaber immer die gute Absicht unterstellen; denn immerneues, auch nach Enttäuschung investiertes Vertrauen istdie beste Alternative zu Gewalt und Kraft. Das ermög-licht uns eine gute individuelle Zukunft und eine guteZukunft unseres Landes und unserer Erde.Vielleicht ist es tatsächlich an der Zeit, eine eigene Ju-gendpolitik zu entwickeln, so wie es im Koalitionsver-trag schon anklingt. Ein erster Schritt könnte sein, dasswir die Kinderkommission um eine Jugendkommissionerweitern.Ich danke Ihnen.
Jetzt hat die Kollegin Susanne Mittag das Wort.
– Ich hatte schon darauf hingewiesen. Ich sage es aber
noch einmal: Das war die erste Rede des Kollegen vor
diesem Hause.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich hoffe,als Schlussrednerin kann ich Ihre Aufmerksamkeit nochein bisschen bannen.Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe waren das, wassich deutsche Sicherheitsbehörden anscheinend jahre-lang nicht vorstellen konnten: eine rechtsextremistischeTerrorzelle. Erst nach dem Banküberfall und den darauffolgenden Suiziden von Böhnhardt und Mundlos im No-vember 2011 endeten die Mordanschläge, ohne dass dieSicherheitsbehörden auch nur ahnten, wen sie da tot imbrennenden Wohnmobil vorgefunden haben. In den dar-auffolgenden Wochen und Monaten machte sich Fas-sungslosigkeit auch bei den Ermittlungsbehörden breit.Die Frage, die wir uns alle gestellt haben, lautete: Wiewar es nur möglich, dass dieses Trio ungehindert jahre-lang mordend durch diese Republik ziehen konnte?Die strafrechtlichen Fragen klärt derzeit die Justiz;dafür ist der Deutsche Bundestag nicht das richtige Gre-mium. Allerdings war es bei all diesen gravierendenFehlern, Pannen und fragwürdigen Ermittlungsansätzenunerlässlich, dass wir als Politik klären, was genauschiefgelaufen ist und was wir ändern müssen, damit wirals Gesellschaft solche terroristischen Umtriebe künftigschneller erkennen und auch bekämpfen können.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1237
Susanne Mittag
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Der Deutsche Bundestag ist der zentrale Ort für diepolitische Auseinandersetzung. Hier ringen wir um Posi-tionen – das haben wir heute Morgen schon gemerkt –,suchen Mehrheiten, und wir streiten, manchmal auchhärter, als es eigentlich sein müsste. Ganz anders war esim NSU-Untersuchungsausschuss. Die Aufarbeitungdort war geprägt vom Willen aller Fraktionen, gemein-sam die Missstände aufzuklären und konstruktive Vor-schläge zur Beseitigung zu erarbeiten. Dafür möchteauch ich mich bei allen Beteiligten, die dem Ausschusszum Erfolg verholfen haben, ganz herzlich bedanken.
Die im Untersuchungsausschuss geübte Praxis, demPhänomen des Rechtsterrorismus gemeinsam zu begeg-nen, muss weiterverfolgt werden. Mir als neugewählterAbgeordneten des 18. Deutschen Bundestages ist eswichtig, dass wir hier und heute die Ergebnisse des Un-tersuchungsausschusses fraktionsübergreifend bekräfti-gen und als Arbeitsprogramm mit in diese neue Legisla-turperiode nehmen. Ich denke, alle neuen Abgeordnetenwerden mir da zustimmen.
Das sind wir den Opfern, aber auch unserer Demokratieschuldig.Meine Vorredner Eva Högl und Sönke Rix haben alsMitglieder des NSU-Untersuchungsausschusses die be-schämenden Ergebnisse mit vorgestellt und klare Forde-rungen an die Politik in Bund und Ländern, an die Si-cherheitsbehörden, aber auch an uns alle als Gesellschaftformuliert. Das ist eben schon vorgetragen worden.Bei allem, was wir in den kommenden Jahren in Bundund Ländern als Politik verabschieden werden, ist mireines besonders wichtig: Lassen Sie uns nicht diejenigenvergessen, die es dann auf der Straße umsetzen sollen.Als ehemalige Polizeibeamtin weiß ich, wovon ich spre-che. Wir dürfen also nicht immer nur neue Strukturen,andere Herangehensweisen sowie Eigen- und Fremd-kontrollen bei Ermittlungsabläufen in den Behörden ein-fordern, sondern wir müssen gleichzeitig auch sagen,wie die Kollegen vor Ort das leisten sollen. Denn oft-mals fehlt es an Zeit, an Möglichkeiten und an Personal.Ich sage hier ganz klar und deutlich: Wir werden inBund und Ländern nicht umhin kommen, mehr Geld fürSachmittel und Personal auszugeben, wenn wir unsereForderungen hier ernst meinen. Wir haben ja bald Haus-haltsberatungen.
Ich möchte noch auf einen mir wichtigen Aspekt ein-gehen und klarstellen: Der teilweise erhobene Vorwurf,die Polizei und die Sicherheitsbehörden seien durchgän-gig rassistisch und hätten ein frühzeitiges Erkennen desNSU-Terrors bewusst verhindert, weise ich für die SPDzurück. Gleichmacherei bringt uns hier kein Stück wei-ter.
Vielmehr haben sich in den Sicherheitsorganen unbe-wusste Verdachts- und Vorurteilsstrukturen, Eitelkeitenund mangelnder Informationsaustausch so potenziert,dass sich hier alles zu einem Berg von Fehlern aufge-türmt hatte, der kaum zu begreifen ist.Daher halte ich es für vollkommen richtig, dass nun inden Bundesländern die Altfälle aus den Jahren 1990 bis2011 nach bisher unentdeckten rechtsextremistischenHintergründen erneut überprüft werden. Ich gehe davonaus, dass mit gleichem Nachdruck auch den Altfällennachgegangen wird, bei denen sich keine rechtsextremenAnhaltspunkte ergeben, sondern andere, sei es organi-sierte Kriminalität oder seien es Anhaltspunkte aus demnäheren Umfeld des Opfers.Die Lehre aus dem NSU-Terror ist, dass jedes Opfereiner Straftat das gleiche Recht auf bestmögliche Ermitt-lungen hat, frei von Vorurteilen und Unterstellungen.Das gilt unabhängig von Geschlecht, Rasse, Hautfarbe,Sprache und Religion, unabhängig von politischen undsonstigen Anschauungen, nationaler oder sozialer Her-kunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit,unabhängig von Vermögen oder sonstigem Status. Dennjedes Opfer einer Straftat ist dem Staate und unserer Ge-sellschaft ja wohl gleich viel wert und verdient unsereUnterstützung.Herzlichen Dank.
Auch für die Kollegin Mittag war es ihre erste Rede.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ichdie Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den interfraktio-nellen Antrag auf Drucksache 18/558 mit dem Titel „Be-kräftigung der Empfehlungen des Abschlussberichts des2. Untersuchungsausschusses der 17. Wahlperiode ,Ter-rorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund‘“. Werstimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? –Gibt es Enthaltungen? – Damit ist dieser Antrag einstim-mig angenommen worden – ein gutes Zeichen für diesesHaus.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten HeidrunBluhm, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEMieterhöhungsstopp jetztDrucksache 18/505
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1238 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitb) Beratung des Antrags der Abgeordneten HeidrunBluhm, Caren Lay, Halina Wawzyniak, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEMietenanstieg stoppen, soziale Wohnungs-wirtschaft entwickeln und dauerhaft sichernDrucksache 18/504Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheit
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Wirtschaft und Energiec) Beratung des Antrags der Abgeordneten HeidrunBluhm, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEMarktmacht brechen – Wohnungsnot durchSozialen Wohnungsbau beseitigenDrucksache 18/506Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheit
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Wirtschaft und EnergieNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das auch so beschlossen.Damit eröffne ich die Aussprache. Als erste Rednerinhat die Kollegin Caren Lay das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Werfen Sie mit mir gemeinsam einen Blick aufden deutschen Wohnungsmarkt: Wer ein Studium in Hei-delberg aufnimmt, der darf sich auf eine saftige Kalt-miete von etwa 10 Euro pro Quadratmeter gefasst ma-chen. Eine Rentnerin, die in Prenzlauer Berg wohnt unddort vielleicht auch ihren Lebensabend verbringen will,weil sie seit 50 Jahren in ihrem Kiez zu Hause ist, mussdamit rechnen, bei der nächsten Modernisierung vor dieTür gesetzt zu werden. Eine junge Familie in der Dresd-ner Neustadt muss damit zurechtkommen, dass ihreMiete in wenigen Jahren um 30 Prozent gestiegen ist.Verdrängung, Gentrifizierung und Mietenexplosion aufder einen Seite, Spekulation mit Wohnraum und hoheRenditen aufseiten der Vermieter auf der anderen Seite,das ist die Situation auf dem deutschen Wohnungsmarkt.Hier muss dringend etwas passieren.
Meine Damen und Herren, es wäre die erste gute Tatdieses neu gewählten Bundestages, wenn wir gemein-sam festhalten könnten, dass die Vorgängerregierungkomplett versagt hat, als es darum ging, die Mieterinnenund Mieter vor einer Mietenexplosion zu schützen, unddass wir hier gemeinsam etwas auf den Weg bringenmüssen.
Union und FDP haben doch tatenlos zugesehen! Siehaben zugelassen, dass die Zahl der Sozialwohnungen inzehn Jahren um ein Drittel zurückgegangen ist. Sie ha-ben die Privatisierung öffentlicher Wohnungen nicht nurnicht gestoppt, sondern sie auch selber mit betrieben;noch im letzten Jahr wurden 11 000 Wohnungen, die imBesitz des Bundes waren, ohne Not an eine Heuschreckeverkauft. Sie haben zugelassen, dass der deutsche Woh-nungsmarkt zu einem Eldorado für die internationaleSpekulantenszene geworden ist. Die CDU/CSU zuckt damit den Achseln und sagt: So ist sie eben, die Marktwirt-schaft. – Das Gegenteil ist der Fall: Sie haben die Rechteder Mieterinnen und Mieter weiter reduziert, und zwarim Rahmen des sogenannten Mietrechtsänderungsgeset-zes.Deswegen sagen wir als Linke ganz klar: Die oberstePflicht muss es jetzt sein, dafür zu sorgen, dass Wohnenin Deutschland bezahlbar bleibt – auch und gerade fürMenschen mit geringem Einkommen.
– Ich freue mich über den Applaus aus Reihen der SPD. –Wir haben als Linke heute ein ganzes Maßnahmenpaketvorgelegt. Eine ganz wichtige Forderung ist die Forde-rung nach einer Mietpreisbremse. Eine andere Forde-rung betrifft einen Neustart im sozialen Wohnungsbau;meine Kollegin Frau Bluhm wird gleich näher daraufeingehen.Aber zurück zur Mietpreisbremse: Ich freue mich,dass die Idee einer Mietpreisbremse im Wahlkampf eineRolle gespielt hat, dass dieser Begriff verwendet wurdeund dass es im Koalitionsvertrag Aussagen dazu gibt.Mit Blick auf die Vorstellungen der Koalition verdientdie Mietpreisbremse jedoch ihren Namen nicht.
Die Koalition will nämlich, dass die Mieten bei Wieder-vermietung nicht stärker als um 10 Prozent steigen, ge-messen an der örtlichen Vergleichsmiete. Wir fragenuns: Warum soll die Miete bei einer Wiedervermietungüberhaupt steigen, wenn an der Wohnqualität überhauptnichts verbessert wurde?
Das ist doch völlig unlogisch: Frau A. wohnt in einerWohnung, für die sie 500 Euro Miete zahlt. Wenn jetztFrau B. in diese Wohnung einzieht, soll sie 550 Euro be-zahlen. – Warum soll das so sein? Das kann mir wirklichniemand erklären.Kommen wir zum zweiten Pferdefuß: Diese „Miet-preisbremse“ soll auch nur für fünf Jahre gelten undauch nur dann, wenn die Länder bereit sind, sie umzuset-zen. Da stellen sich zwei Fragen: Was passiert nach die-sen fünf Jahren? Und, viel wichtiger: Was passiert ei-gentlich, wenn die unionsregierten Länder sagen: „Nein,wir setzen das nicht um, wir wollen in unseren Ländern
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1239
Caren Lay
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keine Mietpreisbremse haben“? Meine Damen und Her-ren, das macht wirklich keinen Sinn. Sie delegieren hierdie Verantwortung an die Länder und wollen Ihre Händein Unschuld waschen. Das verdient den Namen „Miet-preisbremse“ nun wirklich nicht.
Mit einer solchen „Mietpreisbremse“ kann man die Mie-ten genauso bremsen, wie man einen Lkw mit einerFahrradbremse bremsen kann.Wir als Linke schlagen etwas rigidere Regeln vor, diedie Mieterinnen und Mieter schützen.
Wir sagen: Erstens. Mieterhöhungen nur aufgrund vonWiedervermietung darf es überhaupt nicht mehr geben;dafür gibt es nun wirklich keinen Grund. Zweitens.Wenn die Miete erhöht wird, soll sie nur im Rahmen desInflationsausgleiches steigen dürfen. Das wäre der ersteSchritt dahin, dass Wohnen in Deutschland bezahlbarbleibt.Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass un-sere Forderung, bei Maklerverträgen ein Bestellerprinzipeinzuführen, jetzt von der Koalition aufgegriffen wird.
Anders macht das wirklich keinen Sinn. Wer beispiels-weise in Berlin eine Wohnung sucht, der muss erst ein-mal mindestens anderthalb Kaltmieten an den Maklerzahlen, selbst wenn der Vermieter ihn bestellt hat. Dafrage ich Sie: Welcher Rentner, welche Studentin kannsich das denn überhaupt leisten? Das muss endlich geän-dert werden.
Meine Damen und Herren, in der Mietenpolitik mussetwas passieren. Wir fordern eine echte Mietpreisbremseund einen Neustart im sozialen Wohnungsbau. Wir wol-len die Spekulation mit Wohnraum eindämmen. Die Pri-vatisierung von öffentlichem Wohnraum muss endlichein Ende haben.
Die Mietenpolitik ist eine der größten sozialen Heraus-forderungen der nächsten vier Jahre. Wir als Linke wer-den hier Druck machen; das darf ich Ihnen versprechen.Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt hat der Kol-
lege Dr. Luczak das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Frau Lay, Sie haben recht: Auf dem Miet-wohnungsmarkt muss etwas passieren; aber – das kannich Ihnen vorab schon einmal sagen – das, was Sie vor-schlagen, das wird jedenfalls nicht passieren.
Man muss sich nur einmal ansehen, welche Wortwahldie Linke in ihren Anträgen bei der Aufstellung ihrerForderungen benutzt. Da heißt es: „Mieterhöhungsstoppjetzt“, „Marktmacht brechen“, „Wohnen in der City[wird] zum elitären Statussymbol“. Meine Damen undHerren, das sind die Schlagworte, die die Linke in ihrenAnträgen verwendet.
Ich muss sagen: Angesichts dieser Wortwahl – sie findetsich eigentlich ständig in den Anträgen der Linken –kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren: Ihnen gehtes nicht um die Sache, sondern allein um populistischeForderungen und um Stimmungsmache. Damit werdenSie den Menschen in diesem Lande nicht gerecht, meineDamen und Herren von den Linken.
Es verwundert ja auch schon, dass Sie gerade jetzt mitIhren Vorschlägen um die Ecke kommen. Sie wissendoch ganz genau, dass wir in wenigen Wochen einen ers-ten Referentenentwurf bekommen werden, in dem wiruns dezidiert und explizit mit diesen Forderungen zumMietrecht auseinandersetzen werden. Auch das zeigtwieder einmal, dass es Ihnen nicht um die Sache geht,sondern dass Sie an dieser Stelle Krawall machen wol-len.
Ich rate Ihnen: Warten Sie den Entwurf ab, und setzenSie sich konstruktiv damit auseinander. Dann könnenwir ja vielleicht über das eine oder andere miteinanderreden.Aber was machen Sie stattdessen? Sie legen uns hierheute – das kann ich gar nicht anders formulieren – einSammelsurium an Unsinn vor.
Sie lassen in Ihren Forderungen jegliche Kenntnis vonwirtschaftlichen Zusammenhängen vermissen. Sie wer-fen Zerrbilder an die Wand und machen vor allen Dingeneines deutlich: Sie sind immer noch nicht in der sozialenMarktwirtschaft angekommen, sondern leben noch im-mer in Ihren sozialistischen Fantasien.
Sie sprechen in Ihren Anträgen zum Beispiel von der„monopolartigen Dominanz des Privateigentums“
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1240 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Dr. Jan-Marco Luczak
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und von Eigentümern, die die angespannte Marktsitua-tion „hemmungslos“ ausnutzen. Sogar das Wirtschafts-strafgesetz wollen Sie jetzt für Eigentümer verschärfen.Bei Ihnen ist immer noch der Eigentümer der Böse. Be-greifen Sie doch endlich einmal: Eigentum ist nichtsSchlechtes, sondern die Grundlage unserer gesellschaft-lichen und auch verfassungsrechtlichen Ordnung.
Ich muss sagen, ich finde es sehr schade, dass Sie sichin dieser Art und Weise mit der Mietenproblematik aus-einandersetzen; denn das Thema ist wirklich sehr wich-tig.Ich finde, am Anfang einer solchen Diskussion mussimmer eine nüchterne Bestandsaufnahme stehen. Ja, esgibt eine dynamische Mietpreisentwicklung. Ja, es gibtauch Menschen, die sich ihre Wohnung nach einer Miet-erhöhung nicht mehr leisten können. Aber zur Wahrheitgehört doch auch, dass diese Phänomene nicht überall zufinden sind. Vielmehr ist das doch vor allen Dingen einProblem von Ballungszentren, von großen Städten undvon Universitätsstädten.
Auf dem platten Land, in weiten Teilen der neuen Bun-desländer und in vielen anderen strukturschwachen Re-gionen, werden Sie oftmals genau die umgekehrte Situa-tion finden: Dort gibt es flächendeckenden Leerstandund Vermieter, die überhaupt nichts mehr in ihre Woh-nungen investieren.Herrscht also einerseits Wohnungsknappheit, werdenan anderen Orten Hunderte Wohnungen abgerissen. In-sofern: Der Wohnungsmarkt ist sehr differenziert, unddeswegen müssen die Antworten auf diese Fragen auchsehr differenziert ausfallen, und das vermisse ich in Ih-ren Vorschlägen hier völlig.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Lay?
Ja, sehr gerne.
Herr Kollege, vielen Dank, dass Sie eine Zwischen-
frage zulassen. – Sie haben darauf verwiesen, dass die
Situation in den verschiedenen Städten und Regionen in
Deutschland unterschiedlich ist. Das ist in der Tat richtig
und auch völlig unbestritten.
Ich darf Sie trotzdem fragen: Was nutzt es eigentlich
jemandem, der in Berlin, Frankfurt oder München hän-
deringend eine Wohnung sucht, weil dessen Arbeitsplatz
nun einmal in der Großstadt ist, dass meinetwegen in der
Uckermark oder auch im Bayerischen Wald die Mieten
noch bezahlbar und günstig sind? Vielleicht können Sie
das dem Hohen Hause einmal erklären.
Liebe Frau Lay, das erkläre ich Ihnen sehr gerne.Es geht darum, dass wir nicht alles über einen Kammscheren,
sondern dass sich die Differenziertheit des Wohnungs-marktes tatsächlich auch in den Lösungsvorschlägen nie-derschlägt. Es macht eben schon einen Unterschied, obman sich mit der Situation in großen Städten oder in Bal-lungszentren oder mit der Situation auf dem platten Landoder in strukturschwachen Regionen auseinandersetzt.Dort müssen wir jeweils andere Lösungen finden.Deswegen haben wir ja zum Beispiel – das haben Siegerade erwähnt – in unserem Mietrechtsreformgesetz derletzten Legislaturperiode in Bezug auf die Kappungs-grenzen, also die Möglichkeit, Mieterhöhungen inner-halb eines laufenden Mietvertrages vorzunehmen, ge-sagt: Wir geben den Ländern die Möglichkeit, zuentscheiden, wo sie das machen wollen, weil die Ländernatürlich am besten wissen, wo Wohnungsknappheitherrscht. – Es macht doch keinen Sinn, alles über einenKamm zu scheren und gleichzumachen. Ich weiß, das istimmer Ihre Politik, aber das führt an dieser Stelle nichtweiter, sondern wir müssen uns zielgenaue Regelungenüberlegen. Das haben wir in der letzten Legislaturpe-riode getan, und das werden wir in dieser Legislaturpe-riode genauso machen, Frau Lay.
Ich will in Bezug auf steigende Mieten aber auch sa-gen: Für die Union und auch für mich persönlich ist esganz wichtig, dass die Menschen – gerade junge Familien –nicht aus ihren angestammten Kiezen verdrängt werdendürfen. Die soziale Ausgewogenheit des Mietrechts warund ist für die Union immer eine Selbstverständlichkeit.Um uns daran zu erinnern, brauchen wir Sie von denLinken nicht.
Die entscheidende Frage ist nur: Wie können wirMietsteigerungen nachhaltig dämpfen? Sie schlagen uns– das haben Sie ja gerade gesagt – ein ganzes Maßnah-menbündel vor: Sie schlagen vor, dass Mieterhöhungenohne Wohnwertverbesserung nur noch zum Ausgleichder Inflation zulässig sind.
Bei der Wiedervermietung einer Wohnung wollen Sie esEigentümern grundsätzlich verbieten, die Miete zu erhö-hen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1241
Dr. Jan-Marco Luczak
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Mieterhöhungen ohne adäquate Gegenleistung sollen zu-künftig sogar strafbar werden.
Diese Vorschläge – es gibt noch viel mehr, die ich hiererwähnen könnte – zielen im Kern darauf ab, privatesEigentum, private Investitionen und letztlich die sozialeMarktwirtschaft auf dem Wohnungsmarkt abzuschaffenund durch ein staatlich reguliertes Mietensystem undstaatlichen Wohnungsbau zu ersetzen. Da sage ich ganzklar: Das wird es mit der Union nicht geben.
Für uns ist völlig klar und eindeutig: Das beste Mittelgegen steigende Mieten ist immer noch der Bau vonmehr Wohnungen;
denn das ist letztlich die Ursache für steigende Mieten:Es gibt schlechterdings zu wenig Angebote auf demWohnungsmarkt. Natürlich, auch hier ist der Staat in derPflicht.
Er muss den Wohnungsbau fördern. Das tun wir umfang-reich mit diversen Förderprogrammen, zum Beispiel mitden Mitteln des Bundes für die soziale Wohnraumförde-rung. Hier stellt der Bund den Ländern immerhin biszum Jahre 2019 jedes Jahr über eine halbe MilliardeEuro zur Verfügung.An dieser Stelle sage ich: Wir als Bund haben dieklare Erwartung, dass diese Mittel zweckentsprechendeingesetzt werden und wirklich für den Bau neuer Woh-nungen verwandt werden, nicht für andere Sachen. Dakönnen Sie sich einmal an die eigene Nase fassen, liebeKolleginnen und Kollegen von den Linken. Sie haben inder Zeit Ihrer Regierungsverantwortung hier in Berlinmit diesem Geld über zehn Jahre lang alte Schulden ge-tilgt. Von diesem Geld ist keine einzige neue Wohnunggebaut worden. Also: Fassen Sie sich mal an Ihre eigeneNase!
Klar ist jedenfalls: Angesichts knapper Haushaltskas-sen werden wir das Problem nicht allein über staatlicheFörderung lösen können; vielmehr sind wir dabei zwin-gend auf private Investitionen angewiesen. Hier geht esauch gar nicht so sehr um die großen Finanzinvestoren,auf die Sie immer so gerne schimpfen, sondern es gehtvor allen Dingen um die privaten Kleinvermieter: Über60 Prozent der Wohnungen in unserem Lande werdenvon privaten Eigentümern angeboten. Das ist etwa derHandwerksmeister, der vielleicht Mitte 50 ist, der sicheine Wohnung oder zwei Wohnungen als Altersvorsorgeangeschafft hat und diese dann vermietet. Solche Men-schen brauchen wir, wenn es auch zukünftig genügendWohnraum in unserem Land geben soll.Diese Menschen investieren natürlich aber nur dannin den Wohnungsneubau, wenn sich das für sie irgend-wie rechnet.
Man muss wissen: Als Anlageform ist die Vermietung vonWohnungen – bei allen Unterschieden, die es da gibt – imKern relativ renditeschwach. Die Durchschnittsrendite beidiesen privaten Kleinvermietern – noch einmal: sie bieten60 Prozent der Wohnungen in unserem Land an – liegt beigerade einmal 2,14 Prozent.Was würde nun passieren, wenn wir Ihre Vorschlägeumsetzten? Dieser Handwerksmeister würde sich sehrgenau überlegen, ob er sein Geld dann nicht lieber aufsTagesgeldkonto legt, statt sich mit Mietnomaden undÄhnlichem herumzuärgern.
Unter dem Strich würde es weniger Investitionen in denWohnungsneubau geben. Weniger Investitionen bedeu-ten aber weniger Wohnungen, und weniger Wohnungenbedeuten weniger Angebote; weniger Angebote bedeu-ten steigende Mieten – so sind die Zusammenhänge inder Marktwirtschaft.Das, was Sie uns als Linke vorschlagen, würde dieMieten also nicht senken. Diese Vorschläge würden um-gekehrt dazu führen, dass die Situation mittelfristig nochviel schlechter wird. Ich sage Ihnen eines: Die Mieterin-nen und Mieter in unserem Land werden sich bei Ihnenbedanken.
Es geht noch weiter – ich glaube, darin sind wir unsalle einig –: Neben dem Ziel, bezahlbaren Wohnraum zuschaffen, wollen wir auch Wohnraum haben, der energe-tischen Ansprüchen genügt und den Anforderungen ei-ner älter werdenden Gesellschaft gerecht wird. Beides istmit Blick auf die demografische Entwicklung und aufunser gesamtgesellschaftliches Ziel des Klimaschutzesvöllig unabdingbar.Natürlich, auch hier gilt wieder: Der Staat muss seinerVerantwortung gerecht werden. Insofern haben wir imKoalitionsvertrag – das ist gut und richtig – vorgesehen,zum Beispiel die Mittel der KfW-Programme zur ener-getischen Sanierung aufzustocken und das Verfahrendeutlich zu vereinfachen. Aber trotzdem: ÖffentlicheFörderung bzw. staatliche Mittel sind begrenzt. Umsomehr brauchen wir Rahmenbedingungen, die Eigentü-mer nicht von Investitionen abhalten. Wir brauchen auchbei der energetischen Sanierung und beim altersgerech-ten Umbau privates Kapital, wenn wir unsere Ziele errei-chen wollen.
Wenn wir nun die Modernisierungsumlage, so wie Siedas vorschlagen, auf 5 Prozent reduzieren und diesedann letztlich sogar abschaffen, dann frage ich Sie: Wel-cher Eigentümer soll zukünftig noch investieren? Wel-cher Eigentümer soll denn noch Geld in die Hand neh-men, wenn sich das für ihn überhaupt nicht mehrrechnet? Niemand wird das mehr machen. Die Folge
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Dr. Jan-Marco Luczak
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wäre, dass privater Wohnraum dem Verfall ausgesetztwäre. Die Folge wäre, dass weniger Wohnungen energe-tisch modernisiert und altersgerecht umgebaut würden.Wozu das führt, konnte man bis 1990 in der damaligenDDR beobachten. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aberich will zu der Situation nicht zurück, die wir da gehabthaben.
Richtig ist, dass wir genau das Gegenteil machenmüssen: Wir müssen Rahmenbedingungen dafür schaf-fen, dass mehr in den Wohnungsneubau und in die Mo-dernisierung des Wohnungsbestandes investiert wird.Deswegen bedarf es für Investitionen wirtschaftlicherAnreize und nicht zusätzlicher Hürden.All das, was ich gerade ausgeführt habe, gilt natürlichauch für die Vorschläge, die unser Justizminister Maas inwenigen Wochen vorlegen wird. Deswegen sage ich andieser Stelle ganz klar: Ja, die Mietpreisbremse aus demKoalitionsvertrag wird kommen, weil sie ein Instrumentist, um kurzfristig gegen steigende Mieten vorzugehen.Aber klar muss auch sein, dass die Mietpreisbremse nurbei den Symptomen ansetzt. Die Ursache für steigendeMieten, nämlich zu wenig Wohnungsneubau, wird damitin keiner Weise beseitigt, im Gegenteil: Mit der Miet-preisbremse werden die Rahmenbedingungen für Eigen-tümer, in Wohnungsneubau zu investieren, sogar ver-schlechtert. Deswegen sage ich ganz klar: Wir müssendie Mietpreisbremse so ausgestalten, dass sie nicht zu ei-ner Investitionsbremse wird, meine Damen und Herren.
Das Gleiche gilt auch für die geplanten Änderungenbei der Modernisierungsumlage. Hier müssen wir zumBeispiel sehr genau im Blick behalten, ob das, was wirgeplant haben, nämlich die Umlagefähigkeit bis zumZeitpunkt der Amortisation zu befristen, richtig ist. Ichpersönlich halte das für eine Regelung, die in der Praxiskaum umsetzbar sein wird. Ich glaube, sie wird auch ingewisser Weise einen Systembruch darstellen, weil miteiner Modernisierung immer eine Erhöhung des Wohn-wertes einhergeht. Dieser Wohnwert bleibt schließlichbestehen, wenn die Modernisierungskosten sich amorti-siert haben.Im Kern würde diese Regelung also bedeuten, dassein Mieter die Wohnwertsteigerung nach Erreichen derAmortisation zum Nulltarif hätte. Damit wäre, glaubeich, das Äquivalenzprinzip in einem sehr wesentlichenPunkt ausgehebelt. Deswegen müssen wir uns sehr ge-nau überlegen, ob das der richtige Weg ist.Zum Schluss, meine Damen und Herren von den Lin-ken: Sie sehen also: Die Wohnungsmarktpolitik ist sehrkomplex und vielschichtig. Ihre einfachen und populisti-schen Parolen leisten überhaupt keinen Beitrag dazu,hier zu angemessenen Lösungen zu kommen. Deswegenwerden wir Ihre Anträge ablehnen.
Als nächster Redner hat der Kollege Christian Kühndas Wort.Christian Kühn (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren auf den Rängen! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Beim Thema Wohnen geht es nicht um ein x-belie-biges Produkt oder eine Ware wie eine Zahnbürste, eineDienstleistung oder ein Möbelstück. Wohnen ist ein hohesGut. Die Lage einer Wohnung entscheidet heute über dieKreditwürdigkeit und den Zugang zu Arbeit, Bildung,Gesundheit und Sicherheit. Ein Stadtteil oder eine Straßesind nicht nur eine Postanschrift; sie sind für viele Men-schen Identität, soziales Umfeld und Heimat.Mit einer Wohnung erhält man einen grundrechtlichgarantierten Schutz. Spricht man mit obdachlosen undwohnungslosen Menschen bei den Vesperkirchen imLand, die gerade ihre Tore geöffnet haben, dann kannman erahnen, was es bedeutet, wenn man den Rückzugs-raum und Schutzraum Wohnung nicht mehr hat.Wohnen ist viel mehr als Markt und Ware. Deswegenist es unsere Pflicht, Wohnraum zu schützen und ihneben nicht rein marktwirtschaftlichen Gesetzen zu über-lassen.
Die Wohnungsmärkte in den großen Städten boomen.Ich finde es ein bisschen untertrieben, das eine normaledynamische Entwicklung zu nennen. Gerade in den Bal-lungsräumen und Universitätsstädten läuft das aus demRuder. Sie können täglich nicht nur in Berliner Zeitun-gen, sondern auch in anderen nachlesen, wie stark dieMietanstiege in diesen Ballungszentren sind.Immer mehr Menschen ziehen in die Städte, und dasist auch gut so. Aber der Platz wird knapp, und dadurchsteigen eben die Preise. Dieser Effekt wird durch dieNiedrigzinspolitik verstärkt: Bei den niedrigen Zinsenlegen immer mehr Menschen ihr Geld in Betongold, alsoin Immobilien, an und wollen dafür eine Rendite, zumTeil auch eine hohe Rendite.An diesem Montag hat eine Meldung der Bundesbankuns Wohnungspolitiker aufhorchen lassen: In den Groß-städten weichen die Preise für Wohnimmobilien um25 Prozent nach oben ab. Sogar eine Immobilienblase istbei lang anhaltender Niedrigzinspolitik nicht mehr aus-zuschließen.Deswegen ist es richtig, jetzt in die Wohnungsmärkteeinzugreifen. Dabei kann man nicht von einer dynami-schen Entwicklung sprechen. Vielmehr laufen in TeilenDeutschlands die Märkte aus dem Ruder.
Unser Mietrecht lässt einen Spielraum für Mietpreisstei-gerungen zu, der gerade in den wachsenden Regionen
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1243
Christian Kühn
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ausgenutzt wird. Das heißt dann: Wer genügend Geldhat, kann in den Städten wohnen bleiben.Die wachsenden Märkte sind überhitzt. Ich finde, wirbrauchen dringend eine Abkühlung bei den Mietmärk-ten, und zwar schnell, damit wir der Polarisierung undsozialen Entmischung in unseren Städten etwas entge-gensetzen können.
Wir Grünen stehen für lebenswerte, durchmischteStädte, in die man gerne investiert, in denen man aberauch gerne lebt. Dafür brauchen wir grundsätzlich einumfassendes wohnungspolitisches Konzept, das an un-terschiedlichen Stellschrauben dreht. Staat, Mieterinnenund Mieter sowie Eigentümerinnen und Eigentümermüssen gemeinsam daran arbeiten, die drei großen He-rausforderungen zu bewältigen: altersgerechter Umbau,energetische Sanierung und sozialer Ausgleich. Leidersehe ich ein solch umfassendes Konzept bei der GroßenKoalition nicht. Bei Ihnen fehlen nämlich die Investi-tionsanreize, Herr Luczak.
– Nein, bei Ihnen fehlen die Investitionsanreize.Wir finden die Mietpreisbremse als ein Instrument,das schnell eingeführt wird, richtig. Sie ist im Kern einRettungsschirm, der schnell aufgespannt werden muss.Sie sagen nun aber: Das verhindert den Neubau. – Dasist falsch. Für den Neubau gilt sie gar nicht. Ich rate Ih-nen, einen Blick in den eigenen Koalitionsvertrag zuwerfen.
Ich rate Ihnen: Rücken Sie von Ihren Wahlversprechennicht ab! Führen Sie die Mietpreisbremse ein! BleibenSie hier standfest, wie man auf dem Bau sagt.Bei der Modernisierungsumlage bin ich sehr skep-tisch, was die geplante zeitliche Begrenzung angeht.Wenn Sie diese einführen, werden Sie sich in juristi-schen Fallstricken verheddern. Deswegen sage ich Ih-nen: Schwenken Sie auf unser Konzept und die inhaltli-che Beschränkung auf den altersgerechten Umbau unddie energetische Sanierung um. Wir brauchen echte An-reize. Auch wir wollen die KfW-Programme verstetigen.Wir wollen sie aus dem nicht funktionsfähigen Emis-sionshandel herauslösen, der letztlich die Finanzierungs-basis dafür bildet. Die Mittel für diese Programme müs-sen auf mindestens 2 Milliarden Euro jährlich erhöhtwerden. Zudem müssen Sie in die Quartierssanierungmehr investieren. Mir fehlen hier die Zahlen der GroßenKoalition. Ich bin gespannt, ob Sie am Ende bei denHaushaltsberatungen wirklich liefern.
Beim sozialen Wohnungsbau sollten wir uns als Woh-nungspolitiker ein bisschen ehrlich machen: Die Feder-führung der Gesetzgebung liegt bei den Ländern. Wir alsBund zahlen die Entflechtungsmittel. Wenn man wirk-lich etwas Substanzielles ändern will, dann muss man ineine neue Föderalismusreform einsteigen, dies dort alsThema gezielt setzen und darüber nachdenken, wie dersoziale Wohnungsbau in Deutschland neu organisiertwerden soll. Ihnen in der Großen Koalition fehlt dieKraft, dieses Thema wirklich anzugehen. Das finde ichschade. Das ist eine vertane Chance für die Wohnungs-politik.
Wir Grünen stehen für eine neue, innovative Woh-nungspolitik, in der alle wohnungspolitischen Instru-mente aufeinander abgestimmt sind. Es geht um dieEnergiewende, den demografischen Wandel und densozialen Zusammenhalt in Deutschland. Beim Wohn-geld – das ist ein Beispiel dafür, was wir unter einerneuen Wohnungspolitik verstehen – wollen wir einenKlimazuschuss obendrauf setzen; denn wenn wir denHeizkostenzuschuss wieder einführen, zahlen wir letzt-lich die Heizkosten für schlecht isolierte Wohnungen.Das macht weder volkswirtschaftlich noch haushalte-risch Sinn. Deswegen bedarf es eines Klimazuschussesbeim Wohngeld.
Das ist das, was wir Grünen mit einer klimafreundli-chen und bezahlbaren Wohnungspolitik meinen. Die An-träge der Linken verstehen wir in Teilen sehr gut. Wirwerden sie in den nächsten Wochen weiter prüfen. Heuteist die erste Lesung. Wir werden darüber im Ausschussweiter beraten.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächster Redner hat der Parlamentarische Staats-
sekretär Florian Pronold das Wort.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Wohnen“ kommt ausdem Althochdeutschen und bedeutet „zufrieden sein“.Wenn ich mir die Entwicklung gerade in Ballungsräu-men und in vielen Universitätsstädten anschaue, dannmuss ich feststellen: Viele Menschen sind mit ihremWohnumfeld nicht mehr zufrieden. Sie sind nicht mehrzufrieden damit, dass die Mieten bei Wiedervermietungin Städten zwischen 20 und 50 Prozent ansteigen, ohnedass tatsächlich irgendetwas an der Wohnung gemachtwurde. Die Menschen sind unzufrieden damit, dass sie,wenn sie eine Wohnung – auch auf angespannten Woh-nungsmärkten – gefunden haben, 2,3 Monatsmieten alsMaklergebühren zahlen sollen. Sie verstehen nicht, warumdas so sein muss.
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1244 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Parl. Staatssekretär Florian Pronold
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Wir als Große Koalition haben darauf reagiert. UnserKoalitionsvertrag gibt – das ignoriert die Linke in ihrenAnträgen komplett – abgestimmte, zielgenaue Antwor-ten auf die Probleme. Erstens erzielen wir Verbesserun-gen beim Mietrecht, indem wir die Mieterinnen undMieter deutlich besser schützen. Zweitens regen wir In-vestitionen an. Wir wissen, dass es auf angespanntenWohnungsmärkten mehr Wohnungsbaus bedarf. Wersich die aktuellen Entwicklungen anschaut, sieht, dassdie Investitionen in den Wohnungsneubau anziehen unddass dies zu einer Entspannung führt.Das sind Themen, die wir angehen wollen. Die Bun-desregierung und insbesondere das neue Umwelt- undBauministerium, wenn ich die Kurzformulierung benut-zen darf, haben sich vorgenommen, in einem Bündnisfür bezahlbares Wohnen und Bauen alle Aspekte, diehier auch von den Vorrednern angesprochen wordensind, zusammenzubringen.Wir brauchen energetisch sanierte Wohnungen, wirbrauchen altersgerecht gestaltete Wohnungen, wir brau-chen aber auch bezahlbaren Wohnraum für viele Men-schen, die heute Sorge haben, ob sie sich als Rentnerin-nen und Rentner ihre Wohnung noch leisten können.Auch der Polizeibeamte oder die Krankenschwester ma-chen sich Sorgen, dass sie die nächste Mietsteigerungnicht mehr tragen können und deswegen ausziehen undan den Stadtrand ziehen müssen. Für all diejenigen wol-len wir etwas machen. Ich finde, wir haben in dem Ko-alitionsvertrag wirklich ganz tolle Dinge aufgeschrieben,die wir Stück für Stück umsetzen werden.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Ströbele?
Fl
Gerne.
Danke, Herr Staatssekretär. – Ich habe eine Frage:
Trifft es zu, dass die Bundesregierung beabsichtigt, eine
Mietpreisbremse einzurichten, diese aber zeitlich zu be-
fristen, auf beispielsweise fünf Jahre?
Wenn das zutrifft, glauben Sie dann nicht mit mir, dass
für die Mieter die Aussicht, dass in fünf Jahren die Miete
völlig freigegeben wird und ohne jede Einschränkung er-
höht werden kann, keine Perspektive, sondern ein Horror
ist?
Fl
Lieber Kollege Ströbele, wir haben bei jeder Miet-rechtsänderung, die wir in diesem Hause machen, einezeitliche Befristung von vier Jahren; denn jede neuepolitische Konstellation kann das bestehende Mietrechtverändern. Wir haben uns in der Großen Koalition da-rauf verständigt, diese Mietpreisbremse unter bestimm-ten Bedingungen einzuführen.Erstens. Wir wollen sie regional ausgestalten, weilwir wissen, dass es das Problem, dass es bei Wiederver-mietung zu solchen Sprüngen kommt, nur bei 10 bis15 Prozent der Wohnungsmärkte überhaupt gibt. Zwei-tens. Wir wollen die Mietpreisbremse zeitlich befristen,um zu sehen, ob das ein Instrument ist, das auch tatsäch-lich wirkt und funktioniert. Deswegen haben wir im Ko-alitionsvertrag festgelegt, dass wir eine Periode von fünfJahren vorsehen, um dieses Instrument zu testen. Solltees sich als wirkungsvoll herausstellen, ist es der nächstenKoalition doch völlig unbenommen, diese zeitliche Be-fristung aus dem Gesetz herauszunehmen und ein be-währtes Instrument – ich bin überzeugt davon, dass esdas ist – weiter fortzuführen.
Ich möchte gerne noch auf den Redebeitrag von derKollegin Lay eingehen. Warum kommen wir auf den Ge-danken, bei der Wiedervermietung nicht die ortsüblicheMiete zugrunde zu legen, sondern einen Betrag, der10 Prozent darüber liegt? Dem liegt doch eine ganzpraktische Überlegung zugrunde, die jeder, der sich ein-mal mit der Vielfältigkeit von Vermietungen beschäftigthat, sofort erkennen muss.Es gibt eine ganze Menge von Vermieterinnen undVermietern – die sind angesprochen worden –, die dieMiete nicht erhöhen. Es gibt eine ganze Menge, die klei-nere Maßnahmen beim Mieterwechsel durchführen, dienicht unter die Modernisierungsumlage fallen. Weil wirverhindern wollen, dass permanent ein Druck zu Mieter-höhungen besteht, und weil wir nicht wollen, dass klei-nere Maßnahmen unterbleiben, wollen wir bei der Wie-dervermietung einen gewissen Spielraum bieten, damitso etwas auch gemacht wird. Wir wollen dafür sorgen,dass es zu einem ausgewogenen Verhältnis kommt. Un-ser Ziel ist es, Exzesse zu verhindern. Wir wollen ver-hindern, dass es, ohne dass etwas an der Wohnung ge-macht worden ist, auf einmal zu Steigerungen von 20 bis50 Prozent kommt. Das werden wir mit dieser Mietpreis-bremse erreichen.
Wir werden gleichzeitig eine weitere Sorge aufgrei-fen: Viele Mieterinnen und Mieter haben selbst bei ansich sinnvollen Dingen wie zum Beispiel der energeti-schen Sanierung Sorge, dass die Wohnung luxusmoder-nisiert wird und dass sie sich die Wohnung nicht mehrleisten können. Das Problem wollen wir angehen, indemwir eine Härtefallklausel für Mieterinnen und Mieterschaffen, wie es im Koalitionsvertrag steht, und indemwir darüber reden, wie wir eine vernünftige zeitliche Be-fristung hinbekommen und welcher Anteil umgelegtwerden kann.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1245
Parl. Staatssekretär Florian Pronold
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– Zunächst einmal gilt der Koalitionsvertrag, und wirwerden ihn umsetzen. Dieses Projekt wird unter der Fe-derführung des Justizministeriums zügigst auf den Weggebracht.
Sie werden das hier sehr schnell auf den Tisch bekom-men, und dann können wir uns darüber unterhalten.Letzter Satz, Frau Präsidentin; Sie ermahnen michschon. Wir werden dafür Sorge tragen, dass wir einenvernünftigen Mix aus sozialer Wohnraumförderung, ausmietrechtlichem Schutz und aus Investitionstätigkeithinbekommen, damit für alle Menschen in der Bundes-republik Deutschland das Wort „wohnen“ mit dem Wort„genießen“ wieder in Übereinstimmung gebracht wird.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Heidrun
Bluhm das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!„Mietanstieg stoppen, soziale Wohnungswirtschaft ent-wickeln und dauerhaft sichern“, „Mieterhöhungsstoppjetzt“, „Marktmacht brechen – Wohnungsnot durch So-zialen Wohnungsbau beseitigen“: Herr Kollege Luczak,ich wiederhole das sehr gerne. Ich finde es extrem arro-gant, wenn Sie sich hier vorne hinstellen und allein dieTitel unserer Anträge so disqualifizieren.
Wissen Sie überhaupt, wie viele Bürgerinnen und Bürgergenau so die Wohnungspolitik empfinden und in diesemParlament ein Sprachrohr brauchen? Dass Sie nur dieVermieterseite vertreten und so tun, als wenn Sie dieMieterseite ebenfalls bedienten, das kennen wir seit Jah-ren.
Hier muss noch einmal deutlich klargestellt werden, dassdem nicht so ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundeskanzle-rin hat in ihrer Regierungserklärung vor ungefähr einemMonat versprochen, im Mittelpunkt des Regierungshan-delns stehe für sie der Mensch. Im Zweifel müsse mansich für die Menschen entscheiden. Nun, wie es scheint,hat die Bundesregierung noch etwas Zeit, sich mit sichselbst oder sich nur mit ganz speziellen Menschen zu be-schäftigen, bevor sie dazu kommt, sich mit den Proble-men der Menschen im Allgemeinen zu beschäftigen –
Zeit, die die Menschen im konkreten, im richtigen Lebenaber nicht haben. Auch können die Bürgerinnen undBürger nichts dafür, dass die Regierung so lange braucht,um zum Handeln zu kommen, und dass wir zwischen-zeitlich durch andere Aufgaben dabei aufgehalten wer-den, uns ihnen zuzuwenden. Wir haben die Zeit genutztund haben unsere Anträge mit diesen Überschriftenheute hier so vorgelegt.Herr Luczak, die Analyse, von der Sie sprechen unddie Sie gern durchgeführt sähen, liegt seit langem vor. Esgibt mehrere Wohnungsmarktberichte, die wir bereits inden vergangenen Legislaturen zur Kenntnis genommenhaben. Es gibt die Studie des Pestel-Instituts vom Okto-ber 2013, in der festgestellt wird, dass in Ballungsgebie-ten 30 bis 50 Prozent aller Haushalte Anspruch auf einenWohnberechtigungsschein, also auf eine sozial gebun-dene Wohnung, hätten. Das entspricht einem Bedarf voncirca 5,6 Millionen Sozialwohnungen oder rund 28 Pro-zent des Mietwohnungsbestandes. Ende der 1970er-Jahre lag der Bestand an Sozialwohnungen in Deutsch-land bei knapp 30 Prozent. Heute beträgt er nur noch7 Prozent am gesamten Wohnungsmarkt, und dieser An-teil ist weiter sinkend.Angesichts dieser Fakten ist die im Koalitionsvertragangekündigte „Wiederbelebung“ des sozialen Woh-nungsbaus nicht zu erreichen. Mit 518 Millionen Eurojährlich, befristet bis 2019, lassen sich nicht einmal diezukünftigen Verluste an Sozialwohnungen ausgleichen.Auch das ist keine Trendwende. Selbst wenn die von unsin unseren Anträgen geforderten 700 Millionen Eurojährlich fließen würden, reichten sie dafür allein nichtaus;
aber sie wären wenigstens ein Signal an die Länder unddie private Wohnungswirtschaft, dass wirklich Wieder-belebung und nicht nur Notbeatmung gemeint ist.
Wenn die Länder dann mit gleicher Summe kofinanzie-ren, könnten wir die Entwicklung auch umkehren.Was wir vor allem und dringend brauchen, ist ein Pa-radigmenwechsel in der politischen Einstellung der Re-gierung. Angesichts der aufgestauten Probleme durchden demografischen Wandel, durch die Klimaverände-rung oder aber auch durch die Zuwanderung von Mi-granten und Flüchtlingen nach Deutschland darf sich derBund nicht länger hinter dieser Länderzuständigkeit ver-schanzen. Die ausschließliche Marktorientierung derbisherigen Politik in der Wohnungswirtschaft muss ins-gesamt auf den Prüfstand gestellt werden.
Die Linke will kommunale und genossenschaftlicheWohnungswirtschaft wieder deutlich stärken und derRenditelogik der Immobilienmärkte weiter entgegenstel-len. Herr Luczak, auch das ist Eigentum; das ist öffentli-ches und solidarisches Eigentum. Es muss genauso ge-schützt werden wie das Privateigentum.
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1246 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Heidrun Bluhm
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Aber die Tendenz Ihrer Politik entwickelt sich immernoch in die entgegengesetzte Richtung: Die Privatisie-rung nimmt weiterhin ihren Lauf. Anstelle einer „Maas-vollen“ Mietpreisbremse des Justizministers brauchenwir eine radikale Privatisierungsbremse.
Wohin die bisher geübte Praxis der Wohnungsprivati-sierungen führt, zeigt uns sehr anschaulich das Beispielder ehemals bundeseigenen TLG-Wohnungen in Ost-deutschland: Nach kurzer Schamfrist hat die TAG Im-mobilien Aktiengesellschaft, die Käuferin der TLGWohnen, die Mieten flächendeckend angehoben, die Be-stands- und erst recht die Wiedervermietungsmieten, inDresden zum Beispiel um 20 Prozent. Die zahnlose, mitder vorherigen Bundesregierung ausgehandelte Sozial-charta und die steuerfinanzierte Ombudsstelle habenkeine der Mieterinnen und Mieter davor geschützt. Umdem Ganzen die Krone aufzusetzen, beteiligt sich jetztdie unter Aufsicht des Bundesfinanzministeriums ste-hende Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder,VBL genannt, also eine Anstalt des öffentlichen Rechts,an der privaten TAG Immobilien Aktiengesellschaft, diediese Mietenpolitik betreibt.Mit über 10 Prozent Aktienanteil ist die VBL einer dergrößten Aktionäre bei der privaten AktiengesellschaftTAG geworden, die von ebendiesem Finanzministeriumrund 11 500 Wohnungen in Ostdeutschland gekauft hat –und das noch unter Umgehung der Grunderwerbsteuer.Nicht nur, dass die VBL dadurch mit Beitragsgeldern derBeschäftigten des öffentlichen Dienstes der TAG Immo-bilien Aktiengesellschaft hilft, den Kaufpreis für dievom Bund erworbenen Wohnungen zu refinanzieren; siewirkt nun auch noch darauf hin, dass ihr finanziellesEngagement sich über steigende Mieten rentiert. Das istso paradox, so krank wie das ganze System.
Aber die Bundesregierung hält das alles, wie sie uns inihrer Antwort auf unsere entsprechende Kleine Anfragein der vergangenen Woche wissen ließ, für legal und völ-lig normal, eben für systemkonform.Dieses System der Wohnungswirtschaft muss sichgrundlegend ändern. Das Entstehen monopolartigerStrukturen auf dem Wohnungsmarkt muss verhindertwerden. Ein weiteres Wuchern von rein renditeorientier-ten Finanzinvestoren in der Wohnungswirtschaft mussunterbunden und zurückgedrängt werden.
Die Wohnungswirtschaft muss verändert und mindestensum das Element eines nicht renditeorientierten Sektorserweitert werden.Der soziale Wohnungsbau, so wie die Linke ihn ver-steht, muss zum Kern eines neuen, gemeinwohlorientier-ten Segments in der Wohnungswirtschaft entwickeltwerden,
nicht durch Enteignung, sondern durch Hinzufügung aufdem Wohnungsmarkt. Mit den Ländern sollten dazu dif-ferenzierte Vereinbarungen geschlossen werden, die so-wohl Neubau als auch Sanierung oder auch den Ankaufvon Belegungsrechten ermöglichen. Wichtig ist: DieZweckbindung muss unbefristet und damit dauerhaftfestgeschrieben sein.
Herr Luczak, Sie haben heute daran appelliert, mit denLändern solche Vereinbarungen zu verabreden. Ich mussIhnen sagen: Herr Schäuble hat sie im letzten Jahr geop-fert und aufgegeben.Mittel müssen überall dort in den sozialen Wohnungs-bau fließen, wo Wohnungsnot besteht, und zur Heraus-bildung eines dauerhaften sozial gebundenen Bestandesin der kommunalen und genossenschaftlichen Woh-nungswirtschaft verwendet werden. Das wäre eine wirk-same Alternative zur rein marktwirtschaftlich aufgestell-ten Wohnungswirtschaft. Nur so wird es uns gelingen,die bestehenden wirtschaftlichen und rechtlichen Un-gleichgewichte zwischen Anbietern und Nachfragern,also zwischen Vermietern und Mietern, auf dem Woh-nungsmarkt aufzuheben.Erinnern wir uns an das, was Frau Merkel in ihrer Re-gierungserklärung gesagt hat: Wir wollen im Zweifel fürdie Menschen sein.
Ich bin sehr gespannt auf die Gesetzesinitiativen der Re-gierung.
Als Nächster erteile ich das Wort unserer Kollegin
Sylvia Jörrißen, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Ich freue mich, dass wir das Antrags-paket der Linken heute nutzen, um über die Wohnungs-situation zu sprechen. Klar ist aber, dass die Situationdeutlich komplexer ist, als von den Kollegen ausgemalt.Erlauben Sie mir, in dieser Debatte darauf hinzuwei-sen, dass die Wohnungspolitik kein Politikfeld ist, dasfür parteipolitische Punktsiege missbraucht werdensollte.
Wir reden beim Thema Wohnung über das unmittelbareZuhause, das Heim der Menschen. Entscheidungen, diewir treffen, haben unmittelbaren Einfluss auf diesesengste und persönliche Umfeld; da stimme ich dem Kol-legen Kühn von den Grünen absolut zu. Aber geradedeshalb muss alles gut überlegt sein. Die Maßnahmen,die wir treffen, dürfen nicht Ausfluss populistischer For-derungen sein.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1247
Sylvia Jörrißen
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Wenn ich mir den Wohnungsmarkt in unserem Landanschaue, dann sehe ich ein Erfolgsmodell. In anderenLändern war der Immobilienmarkt der Auslöser derWirtschafts- und Finanzkrise, bei uns wirkt er bis heutestabilisierend. Seine Mischung aus Eigentum, Miete undgenossenschaftlichem Wohnen macht den entscheiden-den Unterschied. Eine sichere Wohnsituation bedeutetLebensqualität für die Menschen in unserem Land. Dashaben sich CDU/CSU und SPD auf die Fahnen und inden Koalitionsvertrag geschrieben.
Auf der einen Seite gibt es in Deutschland eine ganzeReihe von wirtschaftlich starken und aufstrebenden Re-gionen. Sie sind attraktiv für Zuzüge. Hier passen regiona-les Wohnungsangebot und Nachfrage aktuell nicht immerzusammen. Auf der anderen Seite – das lassen Sie in Ih-rem Antrag bewusst aus – gibt es vor allem in struktur-schwachen Regionen einen massiven Wohnungsleerstand.Diese regional völlig gegensätzlichen Probleme lösen Siemit Ihrer Pauschalforderung nach 150 000 neuen Sozial-wohnungen nicht.
Einzige Lösung ist – da bin ich mir sicher –, dass sichdie regionalen Wohnungsteilmärkte den veränderten Be-dingungen anpassen. Dazu brauchen wir Wohnungsneu-bau – kommunalen, genossenschaftlichen und privaten –und gerade keine Privatisierungsbremse, wie Sie sie for-dern, Frau Bluhm.
Dafür muss die Politik in allen drei Bereichen passge-naue Anreize schaffen.Seit der Föderalismusreform 2006 sind die Länder fürdie soziale Wohnraumförderung verantwortlich. Wirverschanzen uns nicht hinter dieser gesetzlichen Rege-lung; vielmehr wird der Bund die Länder dabei bis Ende2019 mit jährlich 518 Millionen Euro unterstützen. Ichsage ausdrücklich: unterstützen.
Es wird kritisch zu beobachten sein, ob und wie die ein-zelnen Länder ihrer Verantwortung gerecht werden. DieSelbstverpflichtung zur Zweckbindung ist für mich da-bei selbstverständlich. Das Geld muss in den sozialenWohnungsbau fließen.
Es geht nicht an, dass es zum Stopfen selbst verursachterHaushaltslöcher verwendet wird. Ich erwarte aber auch,dass sich die Bundesländer mit eigenen Mitteln beteili-gen. Ursprünglich war die soziale Wohnraumförderunghälftig angelegt. Der Bund hat klare und gesetzliche Zu-sagen gemacht. Auf die Antwort der Länder bin ich sehrgespannt.
Licht ins Dunkel wird der ImmobilienwirtschaftlicheDialog bringen, den wir ausbauen und an dem wir nunauch die Länder beteiligen. Für mich zeigt die Debatteauf Bundesebene, dass wir unseren Blick viel stärker da-rauf richten müssen, was die Länder vor Ort zur Pro-blemlösung beitragen. Ich bedaure sehr, dass das im Ge-setz zu den Kompensationsmitteln nicht zu regeln war.Jetzt müssen wir dringend einen anderen Weg finden,um Transparenz herzustellen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wünschenswert undwichtig sind ausreichende Anreize für den Wohnungs-neubau. Private Investoren wollen mit Verkauf oderVermietung Geld verdienen. Das ist aber, anders als teil-weise dargestellt, nichts Verwerfliches. Der gesellschaft-liche Nutzen liegt in einem ausgeglichenen Wohnungs-markt.
Auch hier wollen wir entsprechende Rahmenbedingun-gen schaffen. Entbürokratisierung und Verschlankungvon Genehmigungsverfahren sind das eine. SteuerlicheAnreize wären das andere.
Diese sind im Koalitionsvertrag nicht erwähnt,
aus unserer Sicht ausdrücklich aber auch nicht ausge-schlossen. Auch hier kommt es wieder darauf an, wiesich die Länder verhalten. Wir sollten uns diese Optionje nach Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt offenhal-ten.
Die Anforderungen an den Wohnungsbau unterschei-den sich nicht nur regional, sondern vor allem auch hin-sichtlich der Zielgruppen. Es werden spezialisierteWohnraumlösungen gebraucht. Wohnen im Alter, Fami-lienwohnen oder auch studentisches Wohnen sind nur ei-nige Beispiele, die aber die Vielschichtigkeit der Heraus-forderungen verdeutlichen.Der viel beschworene demografische Wandel stelltauch an den Wohnungsmarkt neue Anforderungen. Invielen Wohnungsteilmärkten heißt das neben dem Neu-bau vor allem auch Umbau von Bestandswohnungen fürbezahlbares und vor allem altersgerechtes Wohnen. Wirwollen selbstbestimmtes Wohnen und damit ein Höchst-maß an Lebensqualität in allen Lebensaltern. Sie, sehrgeehrte Kolleginnen und Kollegen von den Linken,schlagen eine planwirtschaftliche Verordnung von150 000 neuen, mietpreisgebundenen Wohnungen sozu-sagen als Allheilmittel vor. Wir dagegen wollen indivi-duelle und regional angepasste Anreize schaffen.
Ziel ist für mich ein gesunder Wohnungsmarkt, derdie Nachfrage bedient und auf Veränderungen selber re-agiert. Die Maßnahmen zur Wiederbelebung des sozia-
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1248 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Sylvia Jörrißen
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len Wohnungsbaus und die Mietpreisbremse, auf diemeine Vorredner zur Genüge eingegangen sind, sinderste konkrete Projekte, die wir auf den Weg bringenwollen. Weitere regional angepasste und zielgruppen-orientierte Maßnahmen und Programme zur Förderungdes Wohnungsneubaus und -umbaus werden folgen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, seien Sieversichert: Dieses Thema ist bei CDU/CSU und SPD inguten Händen – auch ohne den Schaufensterantrag derLinken. Wir setzen auf ein vielschichtiges Programm,zielgruppengerechte und regionale Förderung und ge-zielte Anreize. So sieht gute Politik für Deutschland aus.
Das war die erste Rede unserer Kollegin Sylvia
Jörrißen im Deutschen Bundestag. Wir gratulieren ihr
dazu herzlich
und wünschen ihr und uns weiterhin spannende parla-
mentarische Debatten.
Als Nächster erteile ich das Wort der Kollegin Lisa
Paus, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bun-desbank hat in ihrem jüngsten Monatsbericht festge-stellt, dass die Immobilien in deutschen Großstädten um25 Prozent überbewertet sind. Das kann man nicht weg-diskutieren und auch nicht wegrelativieren durch irgend-welche Verweise; vielmehr muss man den Menschen indieser akuten Situation helfen. 25 Prozent Überbewer-tung – das ist nicht nichts, sondern ein dramatisches Zei-chen. Da herrscht Not, und dagegen müssen Sie etwastun.
Die Folgen dieser Überbewertung, die, wie schon ge-sagt wurde, ihre Ursache in der Euro-Krise und in derKrisenpolitik, die von der Bundesregierung mit zu ver-antworten ist, hat, diese Folgen kann man auch hier inBerlin erleben: Häuserzeilen, die in den letzten zehn Jah-ren drei-, vier-, fünfmal verkauft worden sind, – Men-schen, die wegen Luxussanierung aus ihrem Kiez an denStadtrand verdrängt worden sind –, Rentnerinnen undRentner, die sich ihre aktuelle Wohnung, die für sie in-zwischen eigentlich zu groß ist, nicht mehr leisten kön-nen, die es sich aber auch nicht leisten können, umzuzie-hen, weil die neue, kleinere Wohnung wegen der nichtvorhandenen Mietpreisbremse bei der Neuvermietungum 30 bis 40 Prozent teurer wird, und die deshalb zurSchuldnerberatung gehen müssen. Das ist die Situationin Berlin, und deswegen müssen wir jetzt etwas tun indiesem Lande.
Sie haben gesagt, dass Sie die Mietpreisbremse ein-führen wollen. Wir sind da gespannt. Nach allem, wasich bisher gehört habe, kommt sie mir wie ein löchrigerSchweizer Käse vor.
Da gibt es die Fünfjahresregelung; das Thema ist schonangesprochen worden. Und auch für Erstvermietungensoll die Mietpreisbremse nicht gelten. Darüber hinaussoll es weitere Ausnahmen geben. Wir werden sehen,wie bremsend diese Mietpreisbremse tatsächlich wirkenwird. Vor allen Dingen aber ist das zu wenig. Sie habenauf all das verwiesen, was Sie noch machen wollen.Aber dabei ist deutlich geworden, dass Sie sich inner-halb der Koalition nicht in allen Punkten einig sind.Es braucht ein Gesamtpaket. Die Bauministerkonfe-renz zum Beispiel hat unisono darauf hingewiesen, dassder Heizkostenzuschuss ein wichtiges Thema ist, um dassich die Bundesregierung kümmern sollte – bis jetztFehlanzeige. Ein weiteres Thema ist die Modernisie-rungs- und Instandsetzungsumlage. Darüber gibt es of-fenbar Streit in der Koalition, und das ist möglicher-weise der Grund dafür, dass sie in dem Gesetzentwurfnicht enthalten ist. Es gibt aber überhaupt keinen Grund,warum es in dieser Zeit historisch niedrigster Zinsennach wie vor möglich ist, jedes Jahr 11 Prozent der Kos-ten auf die Mieterinnen und Mieter umzulegen. Das istein zentraler Kostentreiber, und deswegen sollten Siediesen Punkt in dem Gesetzentwurf, den Sie im Märzvorlegen wollen, mit unterbringen. Ansonsten helfen Sieden Menschen in diesem Lande eben nicht.
Im Bereich der sogenannten zweiten Miete machenSie ebenfalls gar nichts. Sie haben zwar angesprochen,dass das wichtig ist und Sie zu Runden Tischen einladen.Konkret ist es aber so, dass Sie diesen Punkt in den Koa-litionsverhandlungen am Ende rausgenommen haben. Esgibt eben keine Erhöhung des KfW-Förderprogramms.Es gibt keine steuerliche Förderung bei der energeti-schen Gebäudesanierung. An dieser Stelle machen Siegar nichts.
Deswegen wird bei den Menschen effektiv nichts an-kommen. Deswegen haben es die Menschen weiterhinmit einer Überbewertung der Immobilien von 25 Prozentzu tun. Schnüren Sie ein vernünftiges Paket, und schnü-ren Sie es zügig, um den Menschen tatsächlich zu hel-fen! Dann haben Sie auch unsere Unterstützung. Aberdas, was bisher vorliegt, ist einfach deutlich zu wenig.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1249
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Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen
Dennis Rohde von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Das Wohnungsangebot in Deutschland ist der-zeit sehr unterschiedlich und wenig einheitlich. In Groß-städten, Ballungsräumen und Universitätsstädten istWohnraum rar und oft unerschwinglich teuer. In ländli-chen Gebieten hingegen stehen Wohnungen leer, und dieImmobilienpreise befinden sich im Sinkflug. Der Anteilder Mieterinnen und Mieter in Deutschland liegt beicirca 50 Prozent. Wohnungen sind Lebens- und Rück-zugsraum. Bezahlbares Wohnen sicherzustellen, ist einsoziales Kernthema und damit etwas, was uns Sozialde-mokraten ganz besonders antreibt.
Soziale Schieflagen zu beseitigen, ist bei weitemnicht nur ein Thema der Sozial- und Steuerpolitik. Wirsind nicht ohne Grund vor der Bundestagswahl nie müdegeworden, auch auf die alarmierende Situation auf demWohnungsmarkt aufmerksam zu machen. Für mich stehtfest: Qualitativ gutes und bezahlbares Wohnen darf keinLuxus sein, weder in München noch in Berlin noch inLeipzig oder Stuttgart, weder auf dem Land noch in derStadt.
Es ist Aufgabe der Politik, es ist unsere Aufgabe, dieRahmenbedingungen für einen lebendigen Wohnungs-markt so zu gestalten, dass dort, wo die Menschen zuHause sind, dort, wo ihre Heimat ist, ausreichend guterund bezahlbarer Wohnraum zur Verfügung steht. WirSozialdemokraten setzen dabei auf eine Stärkung der In-vestitionstätigkeit sowie auf die Wiederbelebung dessozialen Wohnungsbaus. Dies flankieren wir mit ausge-wogenen mietrechtlichen und sozialpolitischen Maßnah-men: Wir werden erstens die Mietsteigerungen begren-zen. Wir werden zweitens die Investitionen in densozialen Wohnungsbau stärken. Wir werden drittens dieenergetische Sanierung weiter vorantreiben und viertensden familien- und altersgerechten Umbau von Wohnun-gen unterstützen. All das muss man zusammendenkenund darf es nicht isoliert betrachten.
Es ist Gefahr in Verzug, und zwar nicht erst seit ges-tern. Lassen Sie mich ein konkretes Beispiel dafür brin-gen, was auf dem Wohnungsmarkt los ist: Meine Hei-matstadt Oldenburg hat 160 000 Einwohner. In denletzten fünf Jahren haben wir bei Wiedervermietungeneinen Anstieg der Mietpreise von gut 25 Prozent erlebt.Kostete die kleine 40-Quadratmeter-Wohnung im Jahr2008 noch gut 285 Euro kalt, so muss man heute durch-schnittlich 360 Euro auf den Tisch legen. Das macht mo-natlich 75 Euro weniger im Portemonnaie. Das sindstolze 900 Euro im Jahr. Für viele ist das ein ganzer Net-tomonatslohn weniger, der nun für Miete draufgeht.
Bei solchen Fehlentwicklungen dürfen wir nicht weg-sehen. Hier müssen wir schnell handeln.
Die Folgen sind schon jetzt offensichtlich. In vielenstädtischen Räumen werden sozial Schwächere durchdie Preisexplosionen in Vororte und Randgebiete ge-drängt, oftmals weit weg von ihrem Arbeitsplatz undvon der Schule der Kinder. Sie sind damit raus aus demViertel, in dem sie aufgewachsen sind. Das ist nicht meinVerständnis einer sozialen Demokratie. Das ist auchnicht mein Verständnis eines ausgewogenen Sozialgefü-ges. Das ist nicht sozial gerecht. Das ist nicht in Ord-nung. Ich sage: Das gehört verändert.
Wir alle wissen doch: Meistens trifft es die Schwächs-ten. Ich habe vor meiner Wahl in den Deutschen Bundes-tag unter anderem anderthalb Jahre in einer Schuldnerbe-ratungsstelle gearbeitet. Ich weiß sehr genau: Altersarmutist kein Thema, das uns erst in 10 oder 20 Jahren droht.Ich habe viele Fälle erlebt, in denen insbesondere ältereMenschen ihr vertrautes Zuhause verlassen mussten,entweder aufgrund mangelnder Barrierefreiheit oderweil ihr Zuhause für sie allein einfach zu groß gewordenist. Es sind genau diese Menschen, die dann auf einenMietmarkt treffen, der aus den Fugen geraten ist. Sie le-ben oftmals von einer kleinen Rente und finden dortkeine Wohnung mehr, wo sie ihr Leben lang daheim wa-ren. Gerade für diese Generation brauchen wir zeitnaheLösungen. Wir werden deshalb zur Förderung des gene-rationengerechten Umbaus mit dem Programm „Alters-gerecht Umbauen“ einen neuen Weg gehen.Im CO2-Gebäudesanierungsprogramm möchten wirbei zusätzlichen Maßnahmen zum altersgerechten undbarrierefreien Umbau einen Förderbonus verankern. Ge-meinschaftliche Wohnformen für Ältere wollen wir un-terstützen und fördern. – An diesen und vielen anderenBeispielen wird klar: Es hat zu lange zu vieles brachge-legen. Ich freue mich deshalb, dass die Große Koalitionnun handelt und Lösungen umsetzt. So stelle ich mirpraktische Politik vor.Wie ich mir praktische Politik nicht vorstelle, kannman im Übrigen ausgezeichnet an den Anträgen derLinksfraktion sehen, um die es in dieser Debatte geht.Sie haben immer ganz viele, ganz konkrete Ideen, woman noch ein paar Milliarden ausgeben könnte. Wenn esaber darum geht, diese vermeintlich tollen Ideen auchsolide zu finanzieren, dann bleibt es immer reichlich leerin Ihren Anträgen, wie auch in den heute vorliegenden.Ich sage Ihnen: So geht das nicht.
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1250 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Dennis Rohde
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Im Gegensatz zu Ihren Anträgen, werte Kolleginnenund Kollegen der Linksfraktion, wird das Maßnahmen-paket, welches Bundesminister Maas noch vor der Som-merpause in den parlamentarischen Prozess einbringenwird, dem verfassungsrechtlichen Konflikt gerecht,nämlich der Eigentumsfreiheit auf der einen und demSozialstaatsprinzip auf der anderen Seite. Wir werdendie Preiserhöhungen auf maximal 10 Prozent der ortsüb-lichen Vergleichsmiete bei Neuvermietung beschränkenund damit nachhaltig auf die Bremse für Mietpreise tre-ten, ohne dabei potenzielle Investoren abzuschrecken;denn uns ist auch klar: Das vorhandene Angebot anWohnraum in Ballungsräumen ist längst nicht ausrei-chend. Es braucht Investitionen, die wir nicht blockie-ren, sehr wohl aber ordnen werden. Die Initiative zurSchaffung zusätzlichen studentischen Wohnraums setzenwir übrigens ebenfalls fort.Lassen Sie mich auch das noch sagen: Zur guten Ord-nung gehört auch, dass derjenige, der eine Leistung be-stellt, diese auch bezahlt. Von uns würde niemand aufdie Idee kommen, in einer Gaststätte das teuerste Gerichtzu bestellen und die Rechnung dann wie selbstverständ-lich an den Nebentisch zu reichen. Von daher wird auchin Zukunft für den Wohnungsmarkt gelten: Wenn derVermieter einen Makler beauftragt, dann wird er die Be-zahlung nicht mehr auf die Mieterinnen und Mieter ab-wälzen dürfen. Was ganz normal ist, gilt dann auch imMaklerrecht.
Bei Maklerleistungen werden wir zudem für klare bun-deseinheitliche Rahmenbedingungen sorgen und Mög-lichkeiten der Qualitätssicherung abwägen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, Wohnen istein Grundrecht. Dieses Recht anzuerkennen und zu stär-ken, muss selbstverständliche Aufgabe hier im Parla-ment sein. Wenn fehlende Regelungen, undurchsichtigeBerechnungsvorgänge und ungleiche Entwicklungendazu führen, dass viele Mieter an die Seite gedrängt wer-den, dann ist es ordnungspolitisch geboten, dies abzu-stellen. Die Mietpreisbremse ist dabei der erste Schritt,den die Große Koalition geht. Der zweite und der drittewerden folgen.Vielen Dank.
Das war die erste Rede des Kollegen Dennis Rohde,
SPD-Fraktion, im Deutschen Bundestag. Herr Rohde,
wir gratulieren Ihnen zu Ihrer Rede und wünschen für
die weitere parlamentarische Arbeit alles Gute.
Als nächster Rednerin erteile ich der Kollegin Bärbel
Höhn, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn am Anfang des Monats die Miete überwiesen wer-den muss, dann ist es den Leuten egal, wie hoch dieKalt- oder die Warmmiete ist. Sie müssen nämlich diegesamte Miete überweisen. Wir haben hier sehr viel überdie Kaltmiete geredet. Aber wir müssen auch die Mietne-benkosten beachten; denn diese steigen ebenfalls drama-tisch. Wir haben nicht nur bei der Kaltmiete Unterschiedezwischen Berlin, München, dem Ruhrgebiet oder demländlichen Raum, sondern eben auch bei der Warm-miete. Das betrifft auch die Heizkosten. Wir müssen da-her viel stärker daran denken, endlich damit aufzuhören,das Geld buchstäblich aus dem Fenster zu verheizen,wenn die Fenster nicht dicht sind oder wenn Einfachver-glasung vorhanden ist. Das führt nämlich dazu, dass dieLeute viel zu hohe Mietnebenkosten haben, und das wol-len wir ändern.
Auch in diesem Zusammenhang sind die Leute unter-schiedlich betroffen: Die einen können sich eine Drei-fachverglasung oder einen Passivhausstandard leisten,die anderen haben Ölheizungen und müssen deshalb er-heblich mehr zahlen. Allein in den letzten zehn Jahrensind die Kosten für das Heizöl um 140 Prozent gestie-gen. Das bedeutet, dass eine Familie, die 2002 noch1 000 Euro im Jahr für ihre Heizung bezahlt hat, plötz-lich 2 400 Euro bezahlt. Das ist eine Steigerung von weitüber 100 Euro im Monat; das macht weit mehr aus alsdie Inflationsrate. Dies gilt übrigens nicht nur für Heizöl,sondern auch für Erdgas oder Fernwärme. Das, meineDamen und Herren, müssen wir angehen; ansonsten sub-ventionieren wir etwas, was immer teurer wird.
6,9 Millionen deutsche Haushalte geben mehr als10 Prozent ihres verfügbaren Einkommens für Energieaus; 17,3 Prozent der Haushalte, also fast jeder fünfteHaushalt, sind davon betroffen. Ich finde, das ist nichthinnehmbar. Es geht hier auch darum, den Anteil derHeizkosten an den Kosten der Unterbringung zu senken;denn von den 13 Milliarden Euro, die von den Kommu-nen und der öffentlichen Hand dafür gezahlt werden,entfallen allein 2 Milliarden Euro auf die Heizkosten.Wir wollen das ändern, und zwar vor Ort, in den Kom-munen, weil wir glauben, dass die Leute dort am bestenwissen, was getan werden kann.
Wir wollen das ändern, indem wir den KommunenMittel aus dem Energieeffizienzfonds zur Verfügungstellen. Es gilt nämlich, Förderinstrumente und steuerli-che Förderungen anzubieten. Dazu haben wir hier übri-gens einen Antrag gestellt, den Schwarz-Gelb damalsabgelehnt hat.
Wir wollen eine steuerliche Förderung, und wir wollenMittel aus dem Energieeffizienzfonds gerade für Investi-tionen in Mietshäuser. Wir wollen mehr Geld für Sanierun-gen bereitstellen. Programme zur Erhöhung der Energie-
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Bärbel Höhn
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effizienz sind auch Konjunkturprogramme. Sie schaffenArbeitsplätze und bringen den Menschen, die eineWarmmiete zahlen, Entlastung. Sie schaffen mehr Wert-schöpfung hier in Deutschland und führen dazu, dassKommunen und die öffentliche Hand entlastet werden.Gerade deshalb wollen wir diesen Weg gehen.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.Was wir nicht wollen – das wäre zynisch –, ist, nur aufwarme Winter zu hoffen. Im Übrigen werden wir eineganze Menge kalter Winter bekommen; denn wir könnennicht davon ausgehen, dass wir davon profitieren, wennwir selber das Klima aufheizen. Das PIK hat nämlichfestgestellt: Der Klimawandel wird verstärkt dazu füh-ren, dass wir hier kalte Winter bekommen. Was jetzt inNordamerika passiert, wird auch bei uns häufiger passie-ren; wir haben es zwei Jahre hintereinander erlebt. Tunwir also etwas dagegen, dass die Menschen in kaltenWohnungen sitzen, weil sie sich Wärme nicht mehr leis-ten können! Auch das gehört zum Thema Miete. Wirwollen, dass die Wohnung genau das ist, was mehrfachgesagt worden ist: das Heim, der Ort, an dem sich dieLeute wohlfühlen.Danke schön.
Als Nächster erteile ich der Kollegin Dr. Anja
Weisgerber, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen undKollegen! Ich freue mich, dass ich meine erste Rede indiesem Hause zu einem Thema halten darf, das für un-sere Gesellschaft von großer Bedeutung ist. Deutschlandist ein Land der Vermieter und Mieter. Über 40 Prozentder Deutschen wohnen zur Miete. Die Wohnung, in derman lebt, ist für jeden von uns ein wichtiger Rückzugs-ort. Für uns, die CDU/CSU, hat die Wohn- und Lebens-qualität der Menschen deshalb einen hohen Stellenwert.Ausreichender und bezahlbarer Wohnraum sowie einausgewogenes Mietrecht sind dabei unerlässlich.
Wir sind uns diesbezüglich unserer politischen Ver-antwortung sehr bewusst. Deshalb haben wir im Koali-tionsvertrag ausdrücklich festgehalten, dass wir dasMietrecht ändern, den sozialen Wohnungsbau stärkenund mehr Anreize für Investitionen schaffen wollen; dasist ganz wichtig.
Dabei binden wir alle relevanten Akteure ein, von denKommunen über die Länder bis hin zu den Wohnungs-gesellschaften und den privaten Immobilienbesitzern.Eines ist mir dabei ganz besonders wichtig: Wir arbeitenfür eine lebenswerte Heimat in ganz Deutschland, undzwar in der Stadt und auf dem Land.
Der Wohnungsmarkt in Deutschland entwickelt sichsehr unterschiedlich. In immer mehr Groß- und Hoch-schulstädten unseres Landes haben wir die angespanntenWohnungsmärkte, von denen gerade viel berichtetwurde, mit steigenden Mieten und steigenden Preisen.Ich kann mich an viele Berichte von jungen Studentenerinnern, die entweder gar keine Wohnung oder nur einevöllig überteuerte Wohnung finden. Doch wir stellenauch eine gegenteilige Entwicklung fest – das muss manganz klar sagen –: In den ländlichen Räumen, in man-chen Bereichen der neuen Bundesländer oder auch inmeiner fränkischen Heimat, gibt es auch Wohnungsleer-stände. Auf diese Unterschiede am Wohnungsmarktbrauchen wir passgenaue, regionale Antworten und kei-nen Einheitsbrei, der von oben verordnet wird.
Frau Bluhm, ich möchte ganz klar sagen: Wir ver-schanzen uns, anders als Sie es gerade beschrieben ha-ben, nicht hinter der Länderzuständigkeit, sondern wirgeben mit der regionalisierten Mietpreisbremse genaudie richtige Antwort. Damit geben wir den Ländern beiWiedervermietungen in Gebieten mit angespanntenWohnungsmärkten die Möglichkeit, Mieterhöhungen aufmaximal 10 Prozent oberhalb der ortsüblichen Ver-gleichsmiete zu beschränken. Die Mietpreisbremse wirkteben genau dort, wo sie wirken muss. In den Ländernkennt man die Situation vor Ort am besten und kann sodie Mietpreisbremse zielgerichtet einsetzen.
Es wurde behauptet, dass wir nur die Vermieterseitevertreten. Das ist einfach nicht wahr. Auch wir nehmendie Ängste der Menschen sehr ernst, die befürchten, ihreWohnungen und ihre vertraute Umgebung verlassen zumüssen, weil sie sich die Miete schlicht nicht mehr leis-ten können. Mit unseren Vorschlägen überlassen wir dieMenschen eben nicht den marktwirtschaftlichen Mecha-nismen, wie das gerade beschrieben wurde. UnsereMietpreisbremse ist vielmehr das richtige Instrument ge-gen die immer weiter steigenden Mieten. Das ist sozialeMarktwirtschaft.
Es kommt darauf an, wie man die Mietpreisbremseausgestaltet. In ihrem Antrag fordern die Linken, dassMieterhöhungen nur noch in Höhe des Inflationsaus-gleichs zulässig sind. Da kann ich nur sagen: Bei Ihnenfehlen die Investitionsanreize. Das ist nicht nur eineMietpreisbremse, sondern auch eine Investitionsbremse.Das können Sie doch nicht wollen.
Wenn das, was die Linken vorschlagen, Gesetzwürde, würde sich die Situation am Wohnungsmarktnoch weiter zuspitzen, weil dann keiner mehr in neue
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Dr. Anja Weisgerber
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Wohnungen investieren würde. Dadurch würden dieMieten noch weiter steigen. Ich sage Ihnen: Der besteMieterschutz ist immer noch der Bau neuer Wohnungen.
Wenn wir wollen, dass ausreichend neue Wohnungengebaut werden, dann brauchen wir private Investoren.Hierbei denke ich nicht an renditeorientierte Finanz-investoren, wie die Linken sie nennen, sondern an dieMillionen privater Kleinanbieter auf dem Wohnungs-markt, die mehr als 60 Prozent der Wohnungen inDeutschland halten. Diese investieren aber nur, wenn essich für sie wirtschaftlich lohnt. Das wird bei einer Miet-preisbremse, wie die Linken sie wollen, nicht der Fallsein.
Auch wir denken an die Menschen mit geringem Ein-kommen. Wir wollen ihnen gutes Wohnen ermöglichen.Seit Jahren sinkt die Zahl der Wohnungen mit Mietpreis-bindung. Diesen Trend wollen wir umkehren. Deswegenunterstützen wir die Länder weiterhin und stellen ihnenbis 2019 jährlich 518 Millionen Euro für den sozialenWohnungsbau zur Verfügung.Wir erwarten aber von den Ländern, dass sie dieseMittel zweckgebunden für den sozialen Wohnungsbaueinsetzen. Denn es kann doch nicht sein, dass der Bundden Ländern Millionen Euro an Bundesmitteln für densozialen Wohnungsbau überweist und manche von ih-nen, zum Beispiel das Land Berlin in den letzten Jahren,davon nur Altverbindlichkeiten tilgen und keine einzigeneue Sozialwohnung bauen.
Hier sind die Länder in der Verantwortung. In Bayernzum Beispiel funktioniert das mit der zweckgebundenenVerwendung von Mitteln sehr gut. Deshalb werden wirdarauf hinwirken, dass sich die Länder verpflichten, dieMittel zweckgebunden in den Wohnungsbau zu investie-ren.Als Umweltpolitikerin ist es mir besonders im Hin-blick auf den Klimaschutz wichtig, dass wir Anreize fürInvestitionen in energetische Modernisierungsmaßnah-men setzen. Auf diesem Gebiet müssen wir allerdingsnoch viel tun. Aus meiner Erfahrung als ehemaligeEuropaabgeordnete weiß ich, dass wir in Bezug auf dasThema Energieeffizienz, im Unterschied zum Ausbauerneuerbarer Energien und der Verringerung von Treib-hausgasemissionen, die Einsparziele auf europäischerEbene bis 2020 nicht erreichen werden.Der Gebäudesektor kann einen enormen Beitrag zurSteigerung der Energieeffizienz leisten. Allein 40 Pro-zent der Energie wird im Gebäudesektor verbraucht.Hier gibt es Einsparpotenziale, die wir nutzen müssen.Wir müssen die richtigen Rahmenbedingungen schaffen,damit Vermieter in die energetische Sanierung investie-ren. Frau Höhn, in diesem Punkt gebe ich Ihnen absolutrecht.Energetische Sanierung nutzt nicht nur dem Klima, son-dern sie nutzt auch den Mietern, weil sie durch die sinken-den Energie- und Heizkosten bares Geld im Bereich derNebenkosten sparen. Deshalb werden wir das erfolgreicheKfW-geförderte Gebäudesanierungsprogramm weiterfortschreiben, aufstocken und verstetigen. Das sind dieInvestitionsanreize, die wir geben.
Abschließend möchte ich noch etwas zur Städte-bauförderung sagen. An dieser Stelle sind wir uns garnicht so fern. Ich freue mich außerordentlich darüber,dass wir die Mittel der Städtebauförderung auf ein neuesRekordniveau aufstocken, nämlich von 455 Millio-nen Euro auf 700 Millionen Euro jährlich. Das ist einstarkes Signal an unsere Städte und Gemeinden. Im Ko-alitionsvertrag haben wir festgelegt, dass wir das Pro-gramm „Soziale Stadt“ aufwerten, um damit Gebiete mitbesonderen Integrationsanforderungen zu unterstützen.Als Abgeordnete aus dem ländlichen Raum möchteich – wie zu Beginn meiner Rede; da schließt sich derKreis –, eines abschließend betonen: Wir können unserewirtschaftspolitischen Ziele nicht erreichen, wenn wirnur auf die Metropolregionen und die Städte setzen. Wirbrauchen auch die ländlichen Räume.
Deshalb ist es wichtig, dass wir auch weiterhin nicht nurdie Städte von der Städtebauförderung profitieren lassen,sondern eben auch – wie in der Vergangenheit – dieländlichen Räume. Das ist ganz wichtig; denn wir wol-len gleichwertige Lebensbedingungen in allen TeilenDeutschlands schaffen.Vielen Dank.
Die Kollegin Dr. Weisgerber hat viele Reden im
Europäischen Parlament gehalten; im Bundestag war es
heute die erste. Dazu gratulieren wir herzlich.
Wir begrüßen Sie bei uns und freuen uns auf die weitere
parlamentarische Zusammenarbeit.
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen Dirk
Wiese, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Bei der Durchsicht der Anträge vonseiten derOpposition zu meiner Linken zur heutigen Debatte fielmir spontan ein bekanntes Zitat eines ehemaligen Natio-nalspielers ein:Zu fünfzig Prozent haben wir es geschafft, aber diehalbe Miete ist das noch nicht.
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Dirk Wiese
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So einst Rudi Völler nach kräftezehrendem Spiel. DieSinnhaftigkeit dieser treffenden Analyse unseres ehema-ligen Nationalspielers erschließt sich auch dem leiden-schaftlichen Fußballfan nicht auf Anhieb. So ist dasheute auch mit Ihren Anträgen. Ist es doch die jetzigeBundesregierung aus SPD, CDU und CSU, die im Koali-tionsvertrag – auf die Seite 80 ff. des ausgehandeltenKoalitionsvertrags darf man durchaus selbstbewusst hin-weisen – in einem sehr sozialdemokratischen Passuszum guten und bezahlbaren Wohnen viele richtige undwichtige Weichenstellungen zur Besserstellung vonMieterinnen und Mietern vereinbart hat, und das ist gutso;
denn wir können auf alles Mögliche verzichten, auf dasiPad, auf das Handy, auf den Fernseher, aber nicht aufein Dach über dem Kopf für uns und unsere Familie.Eine Familie mit Kindern braucht eine ordentliche Woh-nung und eine funktionierende Heizung. Das ist eineExistenzfrage und eine Frage der Würde. Deshalb hatdie Politik die Pflicht, dafür zu sorgen, dass Wohnraumbezahlbar ist, auch wenn man weniger Geld zur Verfü-gung hat.
Die alte Bundesregierung – gestatten Sie mir diekleine Anmerkung – hat eher wenig dafür getan. Darumist es gut, dass die SPD jetzt mit in der Regierungsver-antwortung ist und wir die Situation und die rechtlicheStellung von Millionen Menschen verbessern.
Allerdings muss man dazu bereit sein, Regierungsver-antwortung zu übernehmen. Ich glaube, daran fehlt esbei den Antragstellern.
Lukas Siebenkotten, Direktor des Deutschen Mieter-bundes, brachte es in einem Kommentar wie folgt aufden Punkt:Die große Koalition kommt beim Mietrecht gleichzur Sache.Was haben wir im Detail vor? Wir geben den Länderndie Möglichkeit, eine Mietpreisbremse einzuführen. Dasist dringend notwendig. Die Vermieter wollen und sollenordentlich Geld verdienen – keine Frage –, aber manmuss auch Maß halten und darf die Not anderer Men-schen nicht schamlos ausnutzen, wie es vor allem in ei-nigen Großstädten geschieht. Geld verdienen ist völlig inOrdnung, aber nicht mit Wuchermieten. Gegen Wucher-mieten kann man etwas tun, indem man die Mietpreis-bremse zieht, und das machen wir jetzt in der GroßenKoalition.
Künftig sollen nur noch höchstens 10 Prozent derModernisierungskosten auf die Miete umgelegt werdendürfen. Wir passen die Härtefallklausel an, um Mietervor finanzieller Überforderung bei einer Sanierung zuschützen. Für alle Mietverhältnisse wird klargestellt wer-den, dass nur die tatsächliche Wohn- und NutzflächeGrundlage für die Festlegung der Miethöhe sein kann.Oder um es einmal umgangssprachlich auf den Punkt zubringen: Wenn die Bude 100 Quadratmeter zum Wohnenhat, dann sollen die Leute auch nur für 100 Quadratme-ter Miete zahlen. Alles andere ist aus meiner Sicht Be-trug.
Uns geht es darum, dass sich Städte an den Bedürfnis-sen, Ansprüchen und Möglichkeiten ihrer Bewohnerorientieren müssen. Für diese Form der Bürgernähefehlte in der letzten Legislaturperiode an der einen oderanderen Stelle leider die nötige Sensibilität. Darum las-sen wir das Programm „Soziale Stadt“ wieder aufleben.Das ist genau der richtige Weg.
Vor welchen Herausforderungen stehen wir jetzt?Nach den Daten des Statistischen Bundesamtes sinkt dieBevölkerungszahl – so wird es prognostiziert – in denkommenden Jahren rapide. Gibt es daher weniger Nach-frage für ein gleichbleibendes Angebot mit der Folge,dass die Mietpreise sinken? Weit gefehlt. BoomendenRegionen auf der einen Seite stehen auf der anderenSeite Regionen gegenüber, die von einem massiven Be-völkerungsrückgang betroffen sind. Trotzdem steigt inbeiden Regionen die Wohnungsnachfrage tendenziell an,da der Trend zur Individualisierung immer mehr zu einerkleineren Personenzahl pro Wohneinheit führt.Darum ist es wichtig, den Wohnungsbau in den Bal-lungszentren, wie im Koalitionsvertrag vorgesehen, zustärken und die Initiative zur Schaffung von zusätzli-chem studentischem Wohnraum fortzusetzen. Eine Zeitmeines Studiums habe ich in Münster verbracht. Ichkann Ihnen eines sagen: Machen sie niemals den Fehler,eine Anzeige für ein freies WG-Zimmer aufzugeben. Alsich das einmal gemacht habe, dachte ich, vor dem Hausfände eine Demonstration statt, so groß war der An-drang.
Aber – auch das muss man an dieser Stelle sagen – esgibt Regionen, in denen die Bevölkerungszahl schrumpft.Die Leute sterben weg oder ziehen weg. Zurück bleibenHäuser und Wohnungen, die niemand braucht, niemandwill und niemand nutzt. Sie stehen leer, obwohl sie in ei-nem guten Zustand sind. Wenn wir nichts tun, werdensie verrotten. Es wäre aus meiner Sicht ein Trauerspiel,wenn unsere schönen und lebenswerten Dörfer, Klein-städte und ländlichen Regionen eine solche Zukunft hät-ten. Deswegen müssen wir etwas unternehmen, damitunsere Dörfer und gerade die kleinen Städte im ländli-chen Raum so lebenswert bleiben, wie sie es heute sind.Auf die entsprechenden Programme hat mein KollegeDennis Rohde vorhin schon hingewiesen.
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Dirk Wiese
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In meinem Heimatwahlkreis, dem Sauerland, in Süd-westfalen – übrigens ist dies mittlerweile die größte In-dustrieregion von Nordrhein-Westfalen; hier schlägtheute das industrielle Herz von NRW –, ist das eine dergrößten Herausforderungen für die kommenden Jahre.
Noch einmal zurück zu Ihren Anträgen. Herr Luczak,Sie sind vorhin auf die Überschriften eingegangen. Siemüssen aber auch einmal den Inhalt der Anträge betrach-ten. Ausführungen über „die monopolartige Dominanzdes Privateigentums“ oder die Konservierung der herr-schenden Verhältnisse mögen in Ihren Reihen, denReihen der Linken, vielleicht bei dem einen oder ande-ren einen romantisierenden Seufzer des heraufzube-schwörenden Klassenkampfes hervorrufen, ändern abernichts am Ergebnis.
Denn Phrasen bringen, ehrlich gesagt, keine Veränderun-gen.In den kommenden Wochen werden wir als GroßeKoalition die entscheidenden Verbesserungen im Miet-und Maklerrecht umsetzen. Damit lösen wir eines unse-rer zentralen Wahlversprechen ein und zeigen, warum esdie richtige Entscheidung der SPD war, Regierungsver-antwortung zu übernehmen. Endlich können wir das tun,was wir am besten können: die Lebenswirklichkeit derMenschen in diesem Land verbessern und Perspektivenschaffen.
Zum Abschluss sage ich: Das ist insgesamt wesent-lich mehr als die halbe Miete. Das sind Verbesserungenfür Millionen von Menschen. Ich glaube, an dieser Stellewäre auch Rudi Völler begeistert.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das war die erste Rede unseres Kollegen Dirk Wiese
im Deutschen Bundestag. Wir wünschen ihm für seine
parlamentarische Arbeit alles Gute.
Die Frage, Herr Kollege Wiese, wo genau das indus-
trielle Herz Nordrhein-Westfalens schlägt, wird wahr-
scheinlich noch weiter behandelt werden,
aber das kann ja in späteren Debatten erfolgen.
Ich erteile das Wort der Kollegin Yvonne Magwas,
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Vorredner haben schon eine ganzeReihe von Aspekten angesprochen, die die Wohnsitua-tion in Deutschland betreffen. Wer die Debatte in denletzten Monaten verfolgt hat, der weiß, dass wir imWohnbereich einige offene Baustellen haben. Dazubrauchen wir aber keine Anträge der Linken. Ein Blickin den Koalitionsvertrag reicht aus, um zu sehen, dasswir als Koalition das Thema angehen, und zwar gründ-lich und ohne Schnellschüsse.
Dass es sich beim Wohnen um keine Bagatelle han-delt, kann man schon dem Ursprung des deutschen Wor-tes „wohnen“ entnehmen. Der Staatssekretär hat uns jaschon darauf hingewiesen, dass es so viel wie „zufriedensein“ bedeutet.
Wir sind uns sicherlich alle einig, dass wir den Wert desWohnens und einer guten Wohnung sehr schätzen.Schließlich ist das Wohnen eines der Grundbedürfnisseder Menschen. Es ist daher gut und richtig, dass sich derStaat mit diesem Thema auseinandersetzt bzw. beschäf-tigt und auch gesetzliche Regelungen vorhält.Meine Damen und Herren, wie sieht es denn nunwirklich mit der Wohnzufriedenheit der Mieter inDeutschland aus? Da sagen nämlich viele Studien uni-sono, dass sich über 80 Prozent der Mieter ihre Woh-nung leisten können und mit ihrer Wohnsituation zufrie-den sind. Deutschland ist wohl ein Land, in dem sich dieMieter grundsätzlich wohlfühlen.
Uns ist aber auch bewusst, dass Menschen, sei es ver-schuldet oder unverschuldet, in Situationen geraten kön-nen, in denen sie sich eine angemessene Wohnung nichtmehr leisten können. Für diese Fälle halten wir eineReihe von Werkzeugen vor, die sozial schwache Bürge-rinnen und Bürger unterstützen. Wir tun als öffentlicheHand bereits eine Menge. Ich finde, wir sollten bei allendiskussionswürdigen Punkten auch dies einmal positivzur Kenntnis nehmen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie man vielleichthört, komme ich aus Sachsen. Meine Heimat ist dasländlich geprägte Vogtland. Sie gehört sicherlich nichtzu den Gebieten, wo Schlagworte wie „Mietpreis-bremse“ oder „rasante Mietsteigerungen“ in Diskus-sionen breiten Raum einnehmen. Ganz im Gegenteil:Der demografische Wandel führt bei uns eher dazu, dasswir mit Wohnungsleerstand zu kämpfen haben. DasSchrumpfen der Bevölkerungszahl hat aber auch dieFolge, dass die Wohnqualität für die verbleibenden Men-schen stagniert oder sogar sinkt. Welcher Vermieter willnoch investieren, wenn morgen vielleicht der Mieternicht mehr da ist? Das ist eine große Herausforderungfür uns im ländlichen Raum. Ich denke, gegenüber demThema Mietpreisbremse darf das Problem des Leerstan-
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Yvonne Magwas
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des nicht kleingeredet werden. Wir als Koalition tun dasnicht.
Meine Damen und Herren, staatliche Hilfen imWohnbereich sind natürlich für den ländlichen Raum ge-nauso wichtig wie für die urbanen Zentren. Drei Förder-werkzeuge möchte ich kurz hervorheben. Es handelt sichum die Kosten der Unterkunft und Heizung im Rahmendes Bezuges von ALG II, die Mietkostenübernahme imRahmen der Grundsicherung und den Bezug von Wohn-kostenzuschüssen in Form des Wohngeldes. Alle dreiFormen der staatlichen Unterstützung ermöglichen eseinkommensschwachen Bürgerinnen und Bürgern, ihrenWohnraum zu finanzieren.Kurz zu den Zahlen. Allein für die KdU sind im Jahr2012 1,12 Milliarden Euro bereitgestellt worden. Fürdas Wohngeld waren es im gleichen Jahr 591 Millio-nen Euro. Das sind aber nur die Mittel des Bundes.Hinzu kommen noch die Mittel der Länder, die ebenfallsdiese Höhe haben. Ich denke, Bund und Länder meisternhier eine solidarische Aufgabe im Sinne des Gemein-wohls.
In letzter Zeit konnten wir aber auch beobachten, dassdie Haushaltsmittel für das Wohngeld nicht zur Gänzeausgeschöpft wurden. Das kann sicherlich verschiedeneGründe haben. Die gute wirtschaftliche Lage spricht si-cherlich auch dafür, dass viele ehemalige Bezieher vonWohngeld durch einen beruflichen Wiedereinstieg nichtmehr auf die Unterstützung angewiesen sind. Hinzukommt aber auch eine Art Verdrängungseffekt, nämlichdass über die Wohnkostenvollfinanzierung beim ALG IIpotenzielle Wohngeldbezieher faktisch abgeschöpft wer-den; denn der Bezug von ALG II und der Bezug vonWohngeld schließen sich aus.Was heißt das nun für uns? Wir müssen diese Ent-wicklung ernst nehmen und das Förderinstrument Wohn-geld überprüfen, verbessern und neu justieren. Deswe-gen haben wir dies im Koalitionsvertrag festgeschrieben.Unser Ziel bleibt es, mit dem Wohngeld denjenigen zuhelfen, die eigentlich in der Lage sind, auf eigenen Bei-nen zu stehen, denen sozusagen nur ein Quäntchen anfinanzieller Kraft fehlt. Damit meine ich beispielsweiseältere Menschen mit einer geringen Rente oder kurzfris-tig Arbeitslose. Da dies aber keine alleinige Aufgabe desBundes ist, muss es hier eine enge Abstimmung mit denLändern geben. Nach dem, was man aus der Bauminis-terkonferenz hört, bin ich guter Dinge, dass wir einver-nehmlich zu Lösungen kommen.Lassen Sie mich abschließend noch ein Wort zumThema Energie sagen. Ich weiß, es wird darüber disku-tiert, ob man dem Wohngeld wieder einen Energie- undHeizkostenzuschuss aufschlagen sollte. Wenn man dieseDiskussion aufnehmen würde – wofür ich durchaus Ver-ständnis hätte –, dann müsste man sicherlich vorrangigüber eine sinnvolle und vor allem finanzierbare dauer-hafte Lösung sprechen, eine Lösung, bei der auch Auf-wärts- und Abwärtsentwicklungen der Energiepreise be-rücksichtigt wären. Darüber hinaus gibt uns dieEnergiewende auf, auch über Anreize zum Energiespa-ren nachzudenken; das müsste in einer Diskussion übereinen Energie- und Heizkostenzuschuss meiner Meinungnach auch zum Tragen kommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben den Ko-alitionsvertrag unter das Motto „Deutschlands Zukunftgestalten“ gestellt. Als Solidargemeinschaft, die denWert der sozialen Marktwirtschaft fest im Blick hat, wer-den wir auch im Wohnbereich Lösungen finden. Wirwerden die Probleme eindämmen, ohne dabei dieGrundlagen eines intakten Wohnungsmarktes außerAcht zu lassen. Wir tun dies für die Menschen und fürdie Zukunft in unserem Lande.Ich freue mich auf die Ausschussberatungen unddanke Ihnen recht herzlich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das war die erste
Rede der Kollegin Yvonne Magwas im Deutschen Bun-
destag. Wir gratulieren ihr herzlich zu ihrer Rede. Ich
wünsche Ihnen und uns eine interessante parlamentari-
sche Zeit.
– Wir können noch einen kleinen Moment abwarten; mit
Verlauf der Debatte wird die Gratulationscour immer
größer.
Wenn es eine größere Feier wird, würde ich es nach
draußen verlegen;
sonst werden wir hier weitermachen wollen.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kolle-
gen Michael Groß von der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich weiß,wo das industrielle Herz in Deutschland liegt.
Ich bin da noch Traditionalist: Es liegt zwischen Duis-burg und Dortmund.
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1256 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Michael Groß
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Da wollte ich noch einmal betonen: Wir haben noch eineriesige Wertschöpfung in diesem Bereich, und das prägtnatürlich auch das Leben.Uns wurde hier vorgeworfen, dass wir beim ThemaMietpreisentwicklung unsere Hände in Unschuld wa-schen wollten und dass wir hier untätig seien. Sehr ge-ehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, wenn in den ersten 100 Tagen ein Gesetzentwurf füreine Mietpreisbremse eingebracht wird, muss man dochsagen: Schneller geht es wirklich nicht.
Besonders wichtig ist uns, dass ein sozialer Ausgleichzwischen Vermietern, Investoren und Mietern hergestelltwird. Wir werden dafür sorgen – auch im Zusammen-hang mit der Modernisierungsumlage, die wir kappenwollen –, dass die soziale Funktion des Mietrechts wie-der gestärkt wird. Das ist unsere Ambition, unsere Ziel-setzung, und das werden wir umsetzen.
Wir Sozialdemokraten haben uns in den letzten Jah-ren insbesondere für gutes Wohnen und Leben in denStädten eingesetzt. Die „Soziale Stadt“ gehört zur Da-seinsvorsorge. Wir wollen eben nicht, dass sich in denStädten Armen- bzw. Reichenghettos bilden, sondernwir wollen, dass die Menschen integriert in den Städtenleben können, ein Zuhause finden; man kann es als Hei-mat bezeichnen. In einigen Regionen besteht in Bezugauf bezahlbarem Wohnraum ohne Zweifel ein Nachhol-bedarf, und in allen Landesteilen gibt es einen Mangelan generationengerechten und familiengerechten Woh-nungsangeboten – und das insbesondere für die Empfän-ger unterer und mittlerer Einkommen.Es wurde schon mehrfach festgestellt, dass die Wie-dervermietungsmieten in Wachstumsregionen doppelt sostark steigen wie die Bestandsmieten. Das ist insbeson-dere in den Städten mit über 500 000 Einwohnern zu be-obachten. Die Einkommen haben mit dieser Entwick-lung natürlich nicht standgehalten. 35 Prozent derMieterhaushalte haben ein monatliches Nettoeinkom-men von unter 1 300 Euro, und sie müssen 30 bis40 Prozent ihres Einkommens für das Wohnen ausgeben.Hinzu kommt noch das Thema Energiearmut; FrauHöhn ist darauf eingegangen. Ich will an dieser Stellesehr deutlich sagen: Wir müssen alles dafür tun, dassauch die Energie bezahlbar bleibt. Wir dürfen die Men-schen aber natürlich nicht damit überfordern, dass dieBaukosten und die Modernisierungskosten durch zuhohe Anforderungen in den Verordnungen in die Höhegetrieben werden, wodurch die Modernisierung unbe-zahlbar wird.
Wir brauchen also ein Maßnahmenbündel, das geradeschon vorgestellt worden ist:Uns ist wichtig, dass wir das genossenschaftlicheWohnen unterstützen. Der soziale Wohnungsbau soll mitüber 500 Millionen Euro pro Jahr weiter gefördert wer-den, und wir Sozialdemokraten erwarten hier auch einenzweckgebundenen Mitteleinsatz. Ich komme aus NRWund könnte mich natürlich hier hinstellen und sagen: Dashaben wir schon immer getan. – Es gibt aber eben auchandere sozialdemokratische und nicht nur CDU-regierteLänder, die dafür stehen.Die Mittel für die Städtebauförderung – das ist einwichtiges Thema – werden aufgestockt. Für das Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“ werden 150 Millio-nen Euro bereitgestellt. Das ist für uns ein Her-zensthema.Das Wohngeld muss dringend angepasst werden. DieZahl der Haushalte, die Wohngeld empfangen, nimmtdeutlich ab. Fünf Jahre nach der letzten Wohngeldanpas-sung hat sich deren Wirkung halbiert. Hier müssen wirunbedingt etwas tun.Wir brauchen Verlässlichkeit bei der energetischenGebäudesanierung; das ist deutlich gesagt worden. Mo-dernisierung mit Augenmaß ist notwendig, und wir brau-chen eben auch eine Kommission, um die Baukostenent-wicklung zu überprüfen; diese wollen wir einsetzen.Die Linke fordert, dass wir gemeinsam mit den Städ-ten und Ländern Aktionspläne zur Behebung akuterWohnungsengpässe erarbeiten. Wir Sozialdemokratenwollen mehr: Wir wollen ein Bündnis für bezahlbaresWohnen mit allen Akteuren auf dem Wohnungsmarkt– von der Wohnungswirtschaft über die Gewerkschaftenbis zum Mieterbund – und sehr passgenaue individuelleLösungen finden.Sie können sich übrigens das Bündnis für Wohnen inNRW angucken. Das ist ein Erfolgsmodell.Herzlichen Dank. Glück auf!
Als nächster Rednerin erteile ich der Kollegin
Mechthild Heil, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Linke fordert: „Mieterhöhungsstoppjetzt“. Dabei müssten Sie doch eigentlich wissen – unddas nicht erst seit der heutigen Debatte –, dass unserMinister Maas schon im Frühjahr einen Gesetzentwurfzur Mietpreisbremse und zur Maklerprovision vorlegenwill.
Sie als Linke wollen jetzt noch schnell auf den Zug auf-springen. Dass Sie damit nicht glaubwürdig sind und Siedamit auch keiner ernst nimmt, versteht sich von selber.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1257
Mechthild Heil
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Wir sagen: Mieten müssen auch in Ballungsräumenbezahlbar bleiben. – Wir haben im Koalitionsvertragvereinbart, den sozialen Wohnungsbau neu zu beleben.Dazu unterstützen wir die Länder mit sage und schreibe518 Millionen Euro.
Diese Mittel sind zweckgebunden für den Bau neuerSozialwohnungen und für die Sanierung des Bestandes.
Die Länder müssen nämlich einen Teil der Finanzierungmittragen und dürfen sich nicht wieder aus der Verant-wortung schleichen. Wir werden verhindern, dass dieseMittel, wie in der Vergangenheit geschehen, von denLändern zweckentfremdet werden.Wir denken an die Menschen mit geringem Einkom-men. Deshalb werden wir die Regelungen zum Wohn-geld weiter verbessern.
Frau Kollegin, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage
von der Frau Kollegin Bluhm zu akzeptieren?
Von den Linken? – Nein. Ich meine, die haben heutegenug gesagt. Danke.
Wir werden die kostenlose Energieberatung für Haus-halte mit einem niedrigen Einkommen ausbauen. Sievon den Linken fordern eine kostenlose Mieter- undEnergieberatung für alle. Ich frage: Warum sollen dennleistungsfähige Mieter keinen Eigenanteil bezahlen? Esist vernünftig, wenn sie einen Eigenanteil zahlen. Des-halb werden wir das so ins Gesetz schreiben.
Ziel unserer schwarz-roten Koalition ist, ausreichendWohnraum zu schaffen und in Ballungsräumen die Mie-ten bezahlbar zu halten. Unser Ziel ist es aber nicht, eineInvestitionsbremse einzuführen. Wir wollen auch keinendeutschlandweiten Einheitswohnungsmarkt schaffen. Esist nun einmal ein Unterschied, ob ich in der wunder-schönen, aber dafür dünn besiedelten Eifel, aus der ichkomme, wohne oder baue oder eben in München. DieserUnterschied muss sich widerspiegeln und spiegelt sichauch immer im Mietpreis wider.Wir wollen eine Mietpreisbremse, aber bei der Aus-gestaltung werden wir genau hinsehen. Es darf nichtdazu kommen, dass weniger Wohnraum gebaut wird,und es muss am Ende auch in den Wohnungsbestand in-vestiert werden.
Günstige Mieten bringen nämlich überhaupt nichts,wenn es keine Wohnungen mehr zu vermieten gibt oderdie Wohnungen verkommen sind. Billigen, aber maro-den Wohnraum zuhauf – das kennen wir aus der ehema-ligen DDR. Das müsste Ihnen doch eine Lehre sein.Wir müssen aufpassen, dass uns das Ziel, günstigenWohnraum zu schaffen, nicht am Ende einen ganzenMarkt kaputtmacht. Natürlich sieht das die linke Seitedieses Hauses anders. Sie wollen die Bundesregierungauffordern – ich zitiere aus Ihrem Antrag –,geeignete Schritte gegen die Einflussnahme aus-schließlich renditeorientierter Finanzinvestoren aufdem Wohnungsmarkt zu unternehmen …
Das ist weder sozial noch marktwirtschaftlich. Wer solldenn in den Wohnungsbau investieren? Der Staat? Sollder Staat Wohnraum für 80 Millionen Menschen bereit-stellen, am besten mietfrei und mit einem Einheitssofa?
Sie blenden vollkommen aus: Der Wohnungsmarkt inDeutschland ist vielschichtig, vom Häuslebauer mit Ein-liegerwohnung über gemeindliche und genossenschaftli-che Gesellschaften bis zu weltweit agierenden Bauträ-gern – das alles bildet unser deutscher Wohnungsmarktab.Gerade weil ich Verbraucherpolitikerin bin, kann ichIhre Marktskepsis überhaupt nicht nachvollziehen. DenVerbrauchern und in diesem Fall den Mietern ist nichtgeholfen, wenn man die Investoren vertreibt. Stattdessenmüssen wir für Investoren Anreize schaffen, damit siemehr in Wohnungsbau investieren.
Wenn nämlich das Angebot größer ist, erhöht sich auchder Wettbewerb um die Mieter, und die Mietpreise sin-ken. Das passiert aber eben nur, wenn es sich lohnt, inWohnungsbau zu investieren. Ich bin der Überzeugung:Fairer Wettbewerb ist an dieser Stelle der beste Verbrau-cherschutz.Als Abgeordnete einer ländlichen Region möchte ichnoch einen anderen Aspekt in die Debatte einbringen. DieEntscheidung, insbesondere die Ballungsgebiete bzw. dieStädte mit positiver Einwohnerentwicklung zu fördern,würde die ländlichen Räume benachteiligen. Im ländli-chen Raum haben wir einen großen Vorteil, und der heißt:preiswerter Wohnraum. Damit können wir punkten.Städte dagegen können mit guter Infrastruktur, mit flä-chendeckender medizinischer Versorgung, manchmalauch mit einer großen Vielfalt kultureller oder gastrono-mischer Angebote punkten.
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1258 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Mechthild Heil
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Die Höhe der Mietkosten ist Teil der Entscheidung,ob jemand aufs Land zieht oder nicht. Auf diesen Wett-bewerbsvorteil will ich nicht verzichten. Wir sehen ananderen Ländern, welche Probleme eine starke Zentrali-sierung bringt. Schauen wir nach Paris oder nach Lon-don. Eine solche negative Entwicklung will ich inDeutschland nicht haben. Ich will nicht, dass unsereländlichen Regionen weiter entvölkert werden.
Der ländliche Raum braucht deshalb unsere Aufmerk-samkeit, die Aufmerksamkeit der Politik. Aber die Linkezwingt uns auch heute wieder eine Debatte auf, in der esständig und ausschließlich um das städtische Lebens-milieu gehen soll,
und zwar mit drei zum Teil inhaltsgleichen Anträgen zueinem Thema, das wir schon längst auf der Agenda ha-ben.
Im Gegensatz zu Ihnen, sehr verehrte Kollegen vonden Linken, wollen wir bezahlbaren Wohnraum schaf-fen, ohne unser marktwirtschaftliches System aus denAngeln zu heben, und wir wollen genauso Anwalt derBallungsräume sein wie der ländlichen Räume.
Wir sind eben nicht auf einem Auge blind.
Der Wohnungsmarkt ist nämlich ein sozialer und einökonomischer Raum. Beides ist untrennbar, auch wenndie Linke das nie verstehen wird, obwohl sie es eigent-lich aus ihrer Geschichte längst hätte lernen müssen.Vielen Dank.
Zur letzten Rede in dieser Debatte erteile ich das Wort
der Kollegin Ulli Nissen, SPD-Fraktion, die jetzt wiede-
rum ihre erste Rede im Deutschen Bundestag hält.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gesternvor 95 Jahren hat das erste Mal eine Frau in einem deut-schen Parlament gesprochen: Marie Juchacz. Sie warSozialdemokratin, Sozialreformerin, Frauenrechtlerinund Gründerin der Arbeiterwohlfahrt. Heute darf ich,Ulli Nissen, Sozialdemokratin, Frauenpolitikerin und,nicht zu vergessen, AWO-Mitglied, meine erste Rede imDeutschen Bundestag halten,
und dann noch zum wichtigen Bereich Wohnen. Es istfür mich wirklich eine sehr große Ehre, heute hier redenzu dürfen.Ich kann mir kein Thema vorstellen, zu dem ich lieberreden würde. Denn für mich als Frankfurter Abgeord-nete ist ausreichender bezahlbarer Wohnraum von zen-traler Bedeutung. Es gibt immer mehr Regionen inDeutschland, wo Wohnraum knapp wird. Seit Jahren er-leben wir in Städten wie München, Frankfurt und Ham-burg, dass gutes Wohnen immer mehr zum Luxus wird.Ich erlebe es vor Ort in meinem Wahlkreis. Frankfurt isteiner der teuersten Ballungsräume Deutschlands. Inzwi-schen ist es fast der Normalfall, dass 30 bis 40 Prozentdes Haushaltseinkommens für Wohnen ausgegeben wer-den. Bei manchen einkommensschwachen Familien istes schon jeder zweite Euro.Die Bevölkerung Frankfurts wächst, wie die vieleranderer Städte auch, jährlich um mehr als 10 000 Men-schen. Wir haben jetzt schon nicht genügend Wohnraumfür diese Personen. Was bedeutet es, wenn wir nicht han-deln? Die Mieten steigen weiter. Wer eine neue Woh-nung braucht, weil sich zum Beispiel die Lebensum-stände ändern, kann kaum mehr im angestammtenUmfeld bleiben. In Frankfurt zum Beispiel kommen beieiner attraktiven Lage einer Wohnung mehr als 100 Be-werberinnen bzw. Bewerber auf eine Wohnung. ZumTeil werden bei Wiedervermietungen mehr als 50 Pro-zent aufgeschlagen. Wer kann sich das noch leisten?Wir dürfen es nicht zulassen, dass die Mieten insUnermessliche steigen, ganze Stadtteile komplett um-strukturiert werden und sich deren Charakter verändert.Familien, Rentner, Studenten und Normalverdiener inFrankfurt – ich denke, auch in vielen anderen Großstäd-ten – können sich viele Stadtteile nicht mehr leisten. Dashaben wir gerade in Frankfurt durch den Neubau derEuropäischen Zentralbank erlebt: Den „betroffenen“Stadtteil Ostend kann sich kaum noch ein Mensch leis-ten.Ich bin sehr viel im Wahlkreis vor Ort unterwegs, undimmer wieder kommen Menschen verzweifelt auf michzu, die mir sagen: Ich kann mir meine Wohnung nichtmehr leisten. – Dazu tragen auch Luxussanierungen bei.Gentrifizierung ist eine Folge. Dagegen müssen wir vor-gehen. Wir brauchen nicht nur mehr bezahlbaren Wohn-raum, sondern auch dringend Regulierungen. Denn dieSituation in den betroffenen Gebieten wird nicht besser,auch bedingt durch die steigende Zahl von Einpersonen-haushalten. Aufgrund des demografischen Wandels brau-chen wir auch – das ist heute schon öfter angesprochenworden – dringend mehr generationengerechte Wohnun-gen.Wir müssen dringend handeln, und das tut die rot-schwarze Bundesregierung.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1259
Ulli Nissen
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Im ersten Schritt kommt die Mietpreisbremse. Bei ei-ner Wiedervermietung kann künftig in Ballungsräumendie Mieterhöhung auf maximal 10 Prozent über der orts-üblichen Vergleichsmiete beschränkt werden. Das ist einganz, ganz wichtiger Aspekt, insbesondere für Frankfurt.Dass dies eines der ersten Vorhaben der rot-schwarzenKoalition ist, zeigt, wie wichtig uns Mieterinnen undMieter sind.Sinnvoll wäre es, auch beim Mietspiegel Änderungenvorzunehmen, indem bei der Berechnung der Vergleichs-miete alle Mieten und Mieterhöhungen herangezogenwürden.Die Maklergebühren müssen dringend neu geregeltwerden. Wichtig ist: Wer bestellt, bezahlt. Die dement-sprechende Änderung müssen wir ganz dringend vor-nehmen, und ich bin froh, dass wir das machen.Die Modernisierungskosten sollen künftig nur noch inHöhe von bis zu 10 Prozent auf die Mieter umgelegtwerden, und dies auch nur bis zur Amortisation der Kos-ten. Dies haben wir Sozialdemokratinnen und Sozialde-mokraten lange gefordert. Ich bin froh, dass wir das indie rot-schwarze Koalitionsvereinbarung aufgenommenhaben.
Durch eine Neuregelung des Wohngelds wollen wirdie Leistungen verbessern und es an die Bestandsmieten-und Einkommensentwicklung anpassen. Notwendig isthier auch wieder eine Energiekostenkomponente.Verbesserungen beim Programm „Soziale Stadt“ wer-den dazu beitragen, dass mehr Brennpunkte Hilfe erhal-ten. Die letzte Bundesregierung hatte die Mittel dieseserfolgreichen Programms drastisch gekürzt. Ich bin sehrfroh, dass wir das ändern; denn das hatte fatale Folgen invielen Stadtteilen.Zusätzlich setzen wir auf die Wiederbelebung des so-zialen Wohnungsbaus. Wir unterstützen diesen bis Ende2019 mit jährlich 518 Millionen Euro. Diese Mittel müs-sen aber zur Schaffung von bezahlbarem Wohnraum ge-nutzt werden und dürfen nicht für die Förderung vonWohneigentum verwendet werden; die letzte CDU-Lan-desregierung in Hessen hatte diese Mittel ja „fremdver-wandt“.
Außerdem setze ich mich natürlich dafür ein, dass eskeine weiteren Privatisierungen von öffentlichem Wohn-eigentum gibt.Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnenund Kollegen, es ist gut, dass die schwarz-rote – Verzei-hung – rot-schwarze Koalition das angeht.
– Ich wollte meinen Kollegen von der Großen Koalitionein kleines Bonbon geben.Ich freue mich auf die Umsetzung und darauf, dasswir etwas im Sinne der Menschen tun.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Wir gratulieren der Kollegin Ulli Nissen zu ihrer ers-ten Rede.
Ich bin sicher: In der Koalition wird die Frage der No-menklatur im Hinblick auf die Farbreihenfolge noch ge-klärt werden können.
Ich schließe hiermit die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 18/505, 18/504 und 18/506 an die inder Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-gen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe keinenWiderspruch, das ist der Fall. Dann sind die Überwei-sungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-scher Streitkräfte an dem Einsatz der Interna-tionalen Sicherheitsunterstützungstruppe in
auf Grundlage der Resolution 1386
und folgender Resolutionen, zuletzt Resolu-tion 2120 vom 10. Oktober 2013 des Si-cherheitsrates der Vereinten NationenDrucksachen 18/436, 18/602
Drucksache 18/615Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der FraktionDie Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.Über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Aus-schusses zum Antrag der Bundesregierung werden wirspäter namentlich abstimmen.Es wäre übrigens schön, wenn die Kolleginnen undKollegen, deren Aufmerksamkeit sich nicht auf diesenTagesordnungspunkt richtet, uns jetzt verlassen odersich wieder entspannt hinsetzen.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazukeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat dasWort der Kollege Dr. Rolf Mützenich von der SPD-Frak-tion.
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1260 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Fraktion hatte in dieser Woche eineausführliche Aussprache auch über Auslandseinsätze,aber insbesondere über die aktuellen Herausforderungenin der internationalen Politik, vor allem über die Ent-wicklung in der Ukraine; das war am Dienstag. Dieschlimmen Bilder, die schlimmen Berichte und all das,was man in den letzten Minuten und Stunden gehört hat,beschäftigen uns im Deutschen Bundestag den ganzenTag über, also nicht nur heute Morgen, und überschattenin der Tat auch diese Debatte. Es ist schrecklich, wieviele Menschen getötet und verletzt wurden. Gleichzei-tig will ich daran erinnern, wie gut es ist, dass nach Be-endigung des Ost-West-Konflikts die Nachfolgestaatender Sowjetunion auf Atomwaffen verzichtet haben. Wieschlimm wäre die internationale Situation heute, wennein Land, das innenpolitisch so zerrissen ist wie dieUkraine, noch über Atomwaffen verfügen würde! Des-wegen können wir sagen, dass wir zweimal großesGlück hatten, zum einen mit der deutschen Wiederverei-nigung, zum anderen mit der friedlichen Wiedervereini-gung Europas und darüber hinaus.Als wir in dieser Woche in meiner Fraktion über Aus-landseinsätze gesprochen haben, waren sowohl neue Ab-geordnete als auch viele, die schon länger Mitglied desDeutschen Bundestages sind, gemeinsam der Auffas-sung: Wir Außenpolitiker können zwar fachlichen Ratgeben, aber wir können dem einzelnen Abgeordnetennicht die Gewissensentscheidung abnehmen. – Das giltheute genauso wie in Zukunft. Der große Wert solcherDebatten wie der heutigen besteht somit im fachlichenRatschlag, der Einordnung in das Völkerrecht, der Aus-kunft über die internationalen Rahmenbedingungen undder Vergewisserung darüber, ob es eine außenpolitischeStrategie für den Einsatz von Soldatinnen und Soldatengibt. Letztlich muss aber eben jeder selbst die Entschei-dung treffen.Ich glaube, egal ob man mit Ja oder Nein stimmt,manchmal bleibt doch bei dem Einzelnen ein leichterZweifel über das, was in den nächsten Monaten passiert.Umso mehr muss man bei Auslandseinsätzen daraufachten, sie ernsthaft durchzuführen. Es geht hier nämlichnicht nur um ein kulturelles und politisches VermächtnisDeutschlands; auch andere europäische Parlamenteschauen sehr ernsthaft auf den Deutschen Bundestag,weil sie das Recht, das der Bundestag hat, gerne für sichselbst hätten; zum Teil haben sie es ja auch schon er-kämpft. Ein Resultat dieser Ernsthaftigkeit ist, dassRaum für eine Demokratisierung der Außen- und Sicher-heitspolitik geschaffen wird; denn im Gegensatz zu frü-her nimmt das Parlament auch in diesem Bereich mehrund mehr Verantwortung wahr, nicht mehr nur überHaushaltsfragen, sondern auch ganz konkret bei einzel-nen Entscheidungen.In der Tat unterscheiden sich die jeweiligen Aus-landseinsätze. Sie haben unterschiedliche Voraussetzun-gen, und es gibt unterschiedliche Einflussmöglichkeiten.Immer wieder müssen wir uns vergewissern, ob auchwirklich alle nichtmilitärischen Mittel ausgeschöpft wor-den sind. Auf der einen Seite muss das große Risiko, dasder Einsatz von Soldatinnen und Soldaten in militäri-schen Auslandseinsätzen birgt – darin unterscheiden siesich ja von anderen Einsätzen –, immer im Verhältnis zuden Erfolgsaussichten abgewogen werden. Auf der an-deren Seite müssen wir jede Möglichkeit nutzen, auf an-dere Instrumente, insbesondere Instrumente der politi-schen und zivilen Konfliktbearbeitung, zurückzugreifen.Diese Debatte über die Verlängerung des Afghanis-tan-Einsatzes ist auch eine besondere Debatte; denn überdas Mandat in diesem Rahmen wird heute das letzte Malim Deutschen Bundestag in namentlicher Abstimmungabgestimmt. Über dieser Debatte liegt aber natürlich wieauch in den letzten Jahren der Schatten des 11. Septem-ber. Zwar wissen wir in Deutschland und in Europa, dassder 11.09. die Strukturen der internationalen Politik nichtverändert hat, aber persönlich wissen viele von uns nochgenau, wo sie sich am 11. September aufgehalten haben,als diese schrecklichen Bilder die gesamte Welt erreichthaben. Die USA dagegen stehen nach wie vor unter demEindruck dieser Bilder und treffen so weiterhin politi-sche Entscheidungen, die zum Teil zu kritisieren sind.Ich will ganz deutlich sagen: Damals war die Unter-stützung für den Afghanistan-Einsatz in der Tat größer.Deswegen müssen wir Lehren daraus ziehen, auch fürzukünftige Auslandseinsätze. Insbesondere wäre dieSchlussfolgerung richtig, dass man gerade bei so heraus-ragenden Entscheidungen des Deutschen Bundestages– das bezieht sich sowohl auf die Regierung als auch aufdas Parlament – in Zukunft etwas bescheidener formu-liert. So erhält man auch ganz andere Möglichkeiten.Man sollte vor allem die Abstimmung mit anderen Part-nerländern frühzeitiger auf den Weg bringen und durch-aus bereit sein, Fehler einzugestehen. Hinzu kommt,dass man das Land, das um Hilfe bittet, und dessen Be-wohner respektvoll behandelt.Bezüglich Afghanistan sollte man sich immer vor Au-gen führen, dass es sich nicht nur um ein Land im Bür-gerkrieg handelt, sondern auch um ein Land mit einerlangen Geschichte und einer reichen Kultur und dassviele Menschen dort versuchen, eine bessere Zukunftaufzubauen. Dabei können wir helfen. Wir sollten unse-ren Respekt von dieser Stelle aus bekunden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Gesamtschaubleibt der Afghanistan-Einsatz in der Tat umstritten undwidersprüchlich. Wir sollten Schwarz-Weiß-Malerei, zuder vielleicht der eine oder andere neigt, vermeiden unduns stattdessen ernsthaft damit befassen und schauen,wo es Verbesserungen gibt, wo es Rückschritte gegebenhat, wo es Unterlassungen gab, aber auch, wo sich mög-licherweise in den nächsten Monaten neue Chancen er-geben.Ich glaube, keiner von uns ignoriert, dass es weiterhinGewalt und Korruption gibt und dass der Drogenanbaudieses Land belastet. Andererseits ist es mithilfe der in-ternationalen Gemeinschaft – dazu gehören sowohl diemilitärische Komponente als auch die zivilen Helferin-nen und Helfer – gelungen, an der einen oder anderen
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1261
Dr. Rolf Mützenich
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Stelle dafür zu sorgen, dass Grundbedürfnisse nach Was-ser, Medizin und Bildung befriedigt werden können. Wirvergessen oft, dass es für ein Land wie Afghanistan, daswahrscheinlich im Jahr 2050 doppelt so viele Menschenwie heute hat, selbst dann eine Herausforderung wäre,diese Grundbedürfnisse zu befriedigen, wenn es keinenBürgerkrieg gäbe.In dem geschaffenen Sicherheitsumfeld muss nun da-für gesorgt werden, dass das Land vorankommt und eseiner besseren Zukunft entgegengeht, indem einerseitskleine Betriebe und die Landwirtschaft gedeihen kön-nen, auf der anderen Seite aber auch eine kritische Öf-fentlichkeit entsteht. Wir vergessen oft, dass zurzeit einekritische Öffentlichkeit mit Erfolg versucht, auf Korrup-tion und viele andere Mängel hinzuweisen.Wir haben in den letzten Jahren große und kleine Hel-den gesehen. Kleine Helden sind zum Beispiel diejeni-gen, die auch dann zur Schule gegangen sind, wenn ihreEltern letztlich bedroht wurden. Frau Kakar, die wir hierim Deutschen Bundestag empfangen durften, wurde um-gebracht, weil sie ihren Polizeidienst ausgeübt hat. Siewar eine Mutter von sechs Kindern, die gegen Taliban,aber auch gegen den Drogenanbau in Kandahar massivvorgegangen ist. Alles das verbindet sich letztlich mitdiesem Mandat, und auch, dass auf dieser Basis nach denWahlen, die in den nächsten Wochen durchgeführt wer-den, der erste demokratische Machtwechsel in diesemLande garantiert werden könnte. Unter anderem daszeigt, wie wichtig es ist, diesem Land in den nächstenWochen seine Aufmerksamkeit zu schenken und es zuunterstützen.
Meine Damen und Herren, zum zu beschließendenMandat: Es beinhaltet einen deutlichen Rückgang derZahl der einzusetzenden Soldatinnen und Soldaten. Da-bei sollten wir anerkennen, wie aufwendig der Abzugaus Afghanistan ist, wie viel Energie gerade von derBundeswehr in die Logistik gesteckt werden muss, da-mit er ungehindert ablaufen kann. Gleichzeitig findet dieAusbildung der Sicherheitskräfte statt. Herr MinisterMüller hat uns bei der Einbringung des Antrags ja nocheinmal eindringlich darauf hingewiesen, dass wir diesesLand gerade im Hinblick auf den zivilen Aufbau – dashaben wir in den letzten Jahren immer wieder betont –nicht vergessen dürfen.Ich will gegen Ende meiner Rede auch noch einmalauf die diplomatischen und politischen Rahmenbedin-gungen hinweisen, unter denen wir diesen Afghanistan-Einsatz durchführen. Da brauchen wir in dieser GroßenKoalition keine Nachhilfe. Außenminister Steinmeierhat bereits beim G-8-Gipfel in Heiligendamm bewiesen,wie wichtig diplomatische Vorgänge gerade für dieseRegion waren. Dort haben sich nämlich ein pakistani-scher und ein afghanischer Außenminister zum erstenMal getroffen, um überhaupt einmal über die Sicher-heitsbedürfnisse in ihren Ländern zu reden.Wir wollten das Ganze ja immer politisch begleiten.Erst die Obama-Administration – die USA sind dergrößte Truppensteller dort – hat aber erlaubt – auch dasist noch nicht so lange her –, diese politischen Gesprächezu führen. Die Herstellung regionaler Rahmenbedingun-gen und die diplomatischen Anstrengungen, die die Bun-desregierung in der Vergangenheit unternommen hat,aber auch jetzt und auch in Zukunft unternimmt, sindalso sehr wichtig. Wir müssen uns dabei darauf verlas-sen, dass die Regionalmächte im unmittelbaren UmfeldAfghanistans auch in Zukunft ihre Verantwortung fürdieses Land tragen und nicht erneut einen Konflikt aufafghanischem Gebiet austragen. Ich glaube, das im Blickzu behalten, gehört zu einer klugen Außenpolitik dazu.Zum Abschluss. Der Fraktionsvorsitzende der Lin-ken, Kollege Gysi – gerade sehe ich ihn leider nicht; erhat ja bei der Einbringung des Antrags eine sehrschwarz-weiß gehaltene Rede vorgetragen, die nachmeinem Dafürhalten allein innenpolitische Bedürfnissebedient hat –, hat eine interessante Bemerkung gemacht;Herr Kollege Gehrcke, vielleicht können Sie darauf ein-gehen. Herr Gysi hat zum Beispiel gesagt, es sei unterUmständen wichtig, zu überlegen, ob das kommendeMandat nach Kap. VI der UN-Charta gezeichnet werdenkönnte. Darüber müssen wir diskutieren. Das hängt mitdem Truppenstellerstatut und vielem anderen zusam-men. Vielleicht könnten Sie uns heute hier im DeutschenBundestag die Frage beantworten, ob die Linke, wenndieser Einsatz in Zukunft nach Kap. VI der UN-Chartamandatiert wird, bereit ist, diesem Mandat beizutreten.Das könnte eine interessante Debatte nach sich ziehen.Vielen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kolle-
gen Wolfgang Gehrcke, Fraktion Die Linke.
Natürlich bekommt der Kollege Mützenich von mireine Antwort. Was denn sonst?Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ehe ich zuAfghanistan argumentiere, möchte ich schon noch einenAppell loswerden; schließlich befinden wir uns in eineraußenpolitischen Debatte. Bei allen Bildern aus derUkraine, die man sieht, und bei allen Differenzen, diewir sicherlich miteinander haben, müsste von diesemParlament ein Appell ausgehen: Gewalt, wer auch im-mer sie anwendet, gehört nicht nach Europa. Gewaltmuss aus dem Zusammenleben der Völker insgesamtund der innenpolitischen Auseinandersetzung auf alleFälle ausgeschlossen werden.
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1262 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Wolfgang Gehrcke
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Das wollte ich zu Anfang noch einmal sagen, damit dasklargestellt ist.Jetzt zum Afghanistan-Mandat. Ich möchte, dass wiruns als Erstes darüber verständigen, was hier beantragt ist.Es wird so getan und argumentiert, als sei es ein Abzugs-mandat. Tatsächlich ist beantragt, dass über 3 000 Bun-deswehrsoldaten, nämlich bis zu 3 300, in Afghanistanbleiben – mindestens bis Ende des Jahres. Dass es dasletzte Mal ist, lieber Herr Kollege Mützenich, dass wirhier über ein Mandat für Afghanistan sprechen, be-zweifle ich in hohem Maße; denn es wird ein Anschluss-mandat geben, kein ISAF-Mandat, sondern ein anderes,das die UNO formulieren muss. Dafür sollen – so istvorgesehen – 8 000 bis 12 000 NATO-Soldaten bleiben,darunter 600 bis 800 Bundeswehrsoldaten. Das steht imFortschrittsbericht. Das werden wir hier bereden müs-sen. Wir sind also nicht an einem Endpunkt der Debatteüber die Afghanistan-Einsätze.Wir sind für sofortigen Abzug und vollständigen Ab-zug,
aus einem Hauptgrund: Es geht nur über Verhandlungen,auch mit den Taliban. Diese Verhandlungen sind ange-leiert worden; sie finden statt.In Afghanistan ist das Gefühl, dass das Land von aus-ländischen Truppen besetzt ist, das Hauptargument, dasden Taliban und anderen immer wieder die Leute zu-treibt. Man muss deswegen die Besatzung beenden,sichtbar beenden, wenn man über Verhandlungen Er-folge erreichen will.
Das ist unser Motiv dabei. Dafür streiten wir von Anfangan.Heute ist jeder für Verhandlungen. Der arme HerrSteiner wurde als Botschafter strafversetzt, weil er das inGang gebracht hat. Zu Beginn der Mandatierung sindwir verhöhnt und verspottet worden, als wir gesagt ha-ben: Man kann das nur mit Verhandlungen lösen. – Dawaren Verhandlungen tabu. Bekennen Sie sich dazu! Wirwaren in dieser Frage weitsichtiger. Das finde ich garnicht bedeutsam, aber immerhin: Wir haben es gesagt.Das Zweite ist: Hier muss Klarheit darüber geschaf-fen werden, wo die grundsätzlichen Differenzen liegen.Ich zitiere für eine Mehrheit hier im Bundestag einmalden Bundespräsidenten, Herrn Gauck. Er hat in Mün-chen gesagt: „Der Einsatz der Bundeswehr war notwen-dig …“ – Meine Position, die Position meiner Fraktion,ist: Der Einsatz der Bundeswehr, der Eintritt Deutsch-lands in diesen Krieg, war moralisch schändlich, poli-tisch falsch und antihuman.
Das sind die grundsätzlichen Differenzen, und darüberkommen wir nicht hinweg. Das werden wir miteinanderzu diskutieren haben.
Wir werden auch zu diskutieren haben, wer Verantwor-tung dafür trägt, dass in diesem Konflikt 70 000 Menschenumgekommen sind. Ich möchte auch, dass den Opfernvon Kunduz hier von diesem Platz endlich Respekt ent-gegengebracht wird und dass man um Verzeihung bittetfür das, was man dort angerichtet hat. Auch das müsstezur deutschen Politik gehören.
Jetzt muss ich Ihre Frage beantworten. Entschuldi-gung, das ist jetzt ein bisschen Eigenwerbung. Lesen Siemein Buch darüber,
wie der Bundestag in den Afghanistan-Krieg reingelo-gen worden ist! Auf Seite 20 ist eine Rede von mir von2001, in der ich vorgeschlagen habe, dass statt einesKriegseinsatzes nach Kap. VII ein nach Kap. VI der UN-Charta mandatierter Einsatz, also ein Blauhelmeinsatz,das Adäquate wäre, um die Konflikte in Afghanistan zubeenden. Von Ihnen hat keiner zugestimmt. Von Ihnenhat keiner Interesse daran gehabt. Ihnen ging es gar nichtdarum, den Konflikt anders zu lösen. Man hatte sich ent-schieden: Die Bundeswehr wird geschickt. Das soll sogelöst werden.Was Sie jetzt fordern, habe ich also schon 2001 vor-geschlagen. Jetzt werden wir einmal sehen, was dieUNO beschließt. Wir müssen uns damit auseinanderset-zen. Sie sind aber gar nicht an einer inhaltlichen Debattezur Lösung interessiert, sondern nur daran, möglicher-weise bei uns bestehende Konflikte zu eskalieren. Dasgeht schief. Wir sind uns in der Frage einig. Was Sie jetztvorbringen, wurde schon 2001 von mir gesagt. HättenSie mein Buch gelesen, hätten Sie es gewusst.Danke sehr.
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Peter Beyer, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Welches Bild ha-ben wir Deutsche heute von Afghanistan? Seit zwölfJahren kämpfen deutsche Soldatinnen und Soldaten amHindukusch. Der ursprüngliche Aufbaueinsatz sah sichzunehmend mit kriegsähnlichen Zuständen konfrontiert.Es wäre verfehlt, zu glauben, Soldatinnen und Soldatenwürden in ein Kriegsgebiet geschickt und beschäftigtensich dort vor allem mit dem Bohren von Brunnen unddem Bau von Mädchenschulen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1263
Peter Beyer
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Wir haben 2001 Verantwortung übernommen. Diesegibt es nicht zum Nulltarif und auch nicht ohne Risiko.Einmal übernommene Verantwortung kann man nichteinfach wieder abgeben, nur weil einem die Sache unan-genehm wird. Ein solches Handeln wäre verantwor-tungslos. Wer Einfluss auf die weitere Entwicklung inAfghanistan nehmen will, muss einen Beitrag für denErfolg der gemeinsamen Sache leisten, und zwar zivilwie militärisch. Das hat Deutschland in den letzten gutzehn Jahren getan, und zwar mit vorbildlichem Engage-ment unserer Soldatinnen und Soldaten. Sie haben Aus-gezeichnetes geleistet und viel für die Menschen in Af-ghanistan geschaffen.
Herr Kollege – –
Ja, bitte.
Es gibt den Wunsch der Kollegin Buchholz von der
Fraktion der Linken nach einer Zwischenfrage oder Zwi-
schenbemerkung. Möchten Sie die zulassen?
Im Moment nicht.Dafür spreche ich an dieser Stelle den deutschen Sol-datinnen und Soldaten meinen ausdrücklichen Dank aus.
Ich sage auch: Die Entscheidung, die der Bundestagam 16. November 2001 getroffen hat, war richtig. Eswar auch richtig, was Peter Struck seinerzeit gesagt hat:dass deutsche Interessen auch am Hindukusch verteidigtwerden. Denn der Kern der Mission ist nach wie vor,Frieden und Sicherheit zu schaffen, für stabile Verhält-nisse zu sorgen und ein durch jahrzehntelange Kriegezerrüttetes Land wieder aufzubauen.Damals wie heute gab und gibt es keine einfachen Lö-sungen für Afghanistan. Es ist eine Politik der kleinen,deshalb aber nicht weniger wichtigen Schritte. Das hatgerade die kontroverse Debatte in erster Lesung in dervergangenen Sitzungswoche in diesem Haus gezeigt.Unsere Ziele für den Einsatz in Afghanistan waren inder Tat hochgesteckt, mit den heutigen Erfahrungen viel-leicht zu hoch. Dennoch geht es heute nicht um das, wasnicht erreicht werden konnte, und ebenfalls nicht umdas, was versäumt wurde. Wir entscheiden heute viel-mehr über die Zukunft. Vielleicht erscheint es aus unse-rer hochtechnologischen Perspektive als zu wenig, wenneine neugebaute Brücke oder instandgesetzte Straße inder afghanischen Berg- und Steppenwelt einem Kindden Weg zu Bildung oder einer schwangeren Frau denWeg zu medizinischer Versorgung ebnet. Es mag für unsnahezu unvorstellbar sein, ohne Strom und fließendesWasser zu leben. In Afghanistan beschreibt das leiderimmer noch zu häufig die Normalität.Meine Damen und Herren, der Westen muss sich end-lich von der viel zu lange aufrechterhaltenen Illusionbefreien, Afghanistan nach westlichem Vorbild moderni-sieren zu wollen und dabei zu glauben, kulturelle Unter-schiede ebenso überwinden zu können wie 100 Jahre tech-nologischen Rückstands aufzuholen. Vielmehr muss eszukünftig darum gehen, eine erneute Machtübernahmeder Taliban zu verhindern. Es gibt hoffnungsvoll stim-mende Anzeichen dafür, dass die Taliban verstanden ha-ben, dass sie das Land nicht, wie einst 1996, mit einemHandstreich einnehmen können, und dass sie wissen,dass ihre zukünftige Rolle eine politische sein wird –beispielsweise bei den Vorbereitungen für die Präsident-schaftswahlen im April dieses Jahres, auch wenn dieTaliban keinen eigenen Kandidaten aufstellen. Sie unter-stützen die Wahl zwar nicht, rufen aber auch nicht zu ih-rem Boykott auf. Das lässt aufhorchen.Bildung ist einer der Schlüssel bei allen Aktivitäten.98 000 Lehrerinnen und Lehrer wurden in den vergange-nen Jahren aus- und fortgebildet. Darüber hinaus wurdeder Neubau bzw. die Instandsetzung von über 550 Grund-und weiterführenden Schulen finanziert. Heute gehen inganz Afghanistan über 9,2 Millionen Kinder zur Schule.39 Prozent davon sind Mädchen. Diese neu entstandeneISAF-Generation ist alphabetisiert, die Jungen und Mäd-chen können lesen und schreiben.Zum Wichtigsten zählt, dass selbsttragende Sicher-heitsstrukturen geschaffen werden. Ein Beispiel aus demPolizeiaufbau: Allein im laufenden Jahr wurden in Ka-bul und Masar-i-Scharif zwölf Ausbildungsprojekte ab-geschlossen und dabei über 460 Trainees im Rahmenvon Mentoring-Projekten und Professionalisierungskur-sen aus- und fortgebildet.Und doch: Niemand ist ehrlich bei der Betrachtungund Bewertung Afghanistans, der die Probleme beschö-nigt oder gar verschweigt. Die Regierung von HamidKarzai ist korrupt. Die staatlichen Institutionen funktio-nieren noch nicht wie erhofft. Es fällt zunehmendschwerer, sich das Katz-und-Maus-Spiel Karzais mit derNATO und insbesondere mit den Amerikanern längeranzuschauen. Der deutsche Botschafter in Kabul, MartinJäger, äußerte erst kürzlich, dass Karzai die amerika-nisch-afghanischen Beziehungen einer schwerwiegen-den Belastungsprobe aussetze. Das liege nicht allein andessen Verweigerungshaltung bei der Unterzeichnungdes bilateralen Sicherheitsabkommens, BSA, mit denUSA, sondern auch an der Antiamerika-Propaganda.Unter anderem warf Karzai den US-Truppen vor, dieTaliban durch ihre Operationen zu stärken.
Kürzlich hat er sogar angedeutet, die USA steckten hin-ter einigen schweren Anschlägen. Das ist inakzeptabelund nicht konstruktiv.Meine Damen und Herren, wahr ist aber auch, dass esjetzt das falsche Signal wäre, anzudrohen, die Unterstüt-zung nach dem auslaufenden ISAF-Mandat im Dezem-ber dieses Jahres gänzlich einzustellen. Der afghanischePräsident muss begreifen, dass wir sehr zeitnah ein kla-
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1264 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Peter Beyer
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res Bekenntnis erwarten, spätestens nach den Wahlen imApril.Vor dem Land liegt ein bedeutungsvolles Jahr. Im Juli2013 wurde mit der Reform der Wahlgesetze die not-wendige rechtliche Grundlage für demokratische Wah-len geschaffen. Die Wahlvorbereitungen sind auf einemguten Weg. In den Zentren hängen flächendeckendWahlplakate, und es finden öffentliche Diskussionen derKandidaten statt; insgesamt elf Kandidaten stellen sichzur Wahl. Von dieser Wahl hängt letztlich auch die Zu-kunft Afghanistans ab. Wir sollten Vertrauen haben;denn die Dinge haben sich in den Köpfen vieler Men-schen zum Positiven verändert. Deshalb teile ich die oftvernommene Einschätzung nicht, dass die ISAF-Missioninsgesamt gescheitert ist.Nun liegt es auch an uns, die positive Stimmung zuerhalten und dazu beizutragen, eine rasche Klärung derrechtlichen Grundlage für die Nachfolgemission „Reso-lute Support“ herbeizuführen. Denn wenn wir als Teilder internationalen Gemeinschaft dieses Land und seineMenschen moralisch, ökonomisch und politisch alleineließen, wenn wir wegschauten und insgeheim oder ganzoffen froh wären, dass wir 2014 zu mehr oder wenigergroßen Teilen raus sind aus der Sache, dann machten wireinen folgenschweren Fehler. Deshalb möchte ich – hof-fentlich zum letzten Mal – um Ihre Zustimmung zu einerVerlängerung des ISAF-Mandats werben.Vielen Dank.
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der
Kollegin Christine Buchholz, Fraktion Die Linke.
Herr Kollege Beyer, Sie haben hier über Verantwor-
tung gesprochen. Sie wissen wie ich, dass es in der
Nacht vom 3. auf den 4. September 2009 auf Befehl der
Bundeswehr einen Angriff gab, durch den in der Region
Kunduz bis zu 142 Menschen zu Tode gekommen sind.
Sie wissen wie ich, dass es bisher keine angemessene
Entschädigung der Opfer gibt, und Sie wissen wie ich,
dass es keine Entschuldigung seitens der Bundesrepublik
Deutschland gegenüber den Hinterbliebenen und ihren
Familien gegeben hat. Ich frage Sie: Was werden Sie
tun, damit die Hinterbliebenen endlich eine angemes-
sene Entschädigung bekommen?
Mögen Sie darauf antworten, Kollege Beyer?
Herr Präsident, das möchte ich in aller Kürze. – Ich
habe vollstes Vertrauen in die Bundesregierung, dass sie
das verantwortungsvolle Handeln, das sie bisher gezeigt
hat, fortführt und sich dieser Sache ernsthaft annimmt.
Das sollte unser aller Überzeugung sein.
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Omid Nouripour, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am15. April 2010 wurde Oberstabsarzt Dr. Thomas Broervon Taliban getötet, als er Verwundeten helfen wollte. Erwar 33 Jahre alt und ein werdender Vater.Am 24. Dezember 2010 wurde zwischen Kholm undKunduz in der Provinz Balkh ein Berater der KfW Ent-wicklungsbank von Taliban erschossen. Er verbrachteHeiligabend ohne seine Familie, weil er den Bau einerStraße in einer strukturschwachen Gegend betreute.In der Nacht vom 3. auf den 4. September 2009 starbSanaullah auf einer Sandbank im Kunduz-Fluss, als zweientführte Tanklastwagen bombardiert wurden. Er wurdezehn Jahre alt.Vor wenigen Wochen, am 23. Januar 2014, wurden inder Provinz Laghman fünf Kinder von den Taliban er-schossen, weil sie Volleyball spielten.Kann man nach all den Opfern zufrieden sein mitdem, was wir erreicht haben? Ist der Einsatz nach zwölfJahren nicht als gescheitert zu betrachten, weil wir nunabziehen und nicht einmal mit Gewissheit sagen können,ob die afghanischen Institutionen in der Lage sind, dieSicherheit selbst zu tragen?Es ist beileibe nicht alles schlecht in Afghanistan. Esist viel erreicht worden. Nur, wir hätten viel mehr errei-chen können, und wir hätten auch viel mehr erreichenmüssen.
Dass das nicht geschafft wurde, lag nicht an zu wenigMilitär. Es lag an zu wenig Diplomatie, an zu wenig zi-viler Aufbauarbeit, an zu wenig Staatlichkeit und an zuwenig Koordination.Nun geht ISAF zu Ende. Meine Fraktion hat seit län-gerem eine Abzugsperspektive gefordert. Nun wird sievollzogen. Das ist auch richtig so. Es ist allein deswegenrichtig, weil die völkerrechtliche Grundlage für ISAFEnde 2014 nicht mehr gegeben ist. Wir als Fraktion wer-den dem ISAF-Mandat dieses Mal deshalb mehrheitlichzustimmen.Weil es die letzte Debatte ist, möchte ich die Chancenutzen, einigen zu danken. Ich möchte selbstverständlichder Bundeswehr danken. Kein Einsatz hat die Bundes-wehr so verändert wie dieser. Ich möchte aber nicht nurden Uniformierten danken, wobei man niemals die Poli-zei vergessen darf, die in Afghanistan unglaublich vielgetan hat; das kommt in den Debatten immer zu kurz.
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Omid Nouripour
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Wir dürfen auch die vielen Tausend Helferinnen undHelfer nicht vergessen, die als Diplomaten, als Entwick-lungs- und Aufbauhelferinnen und -helfer und in ande-ren Funktionen in Afghanistan waren. Sie haben vielKraft, Herzblut, Zeit und Mühe investiert.
Wir dürfen auch ihre Familien nicht vergessen, die indieser Zeit viele Opfer gebracht haben.Mein größter Dank aber geht an die Afghaninnen undAfghanen, allen voran an die Afghaninnen. Sie leben seitüber 40 Jahren in einem Kriegsland. Sie haben Kriegund Entbehrung erlebt und wagen es dennoch immerwieder, Hoffnung zu schöpfen. Sie arbeiten unermüdlicham Wiederaufbau ihres Landes. Sie sind zu Recht stolzauf das, was in den letzten Jahren erreicht worden ist, al-lerdings leider Gottes fast nur in urbanen Zentren. DieseMenschen haben Freiheit erlebt. Es ist eine neue Genera-tion herangewachsen, die erlebt hat, wie es ist, in einemKonflikt auch einmal eine Atempause haben zu können.Diese Menschen dürfen wir nicht vergessen. Das Wich-tigste ist, dass von hier aus die Botschaft ausgeht, dassunsere Solidarität nach ISAF nicht enden wird.
Mardom mohtaram Afghanestan, payane ISAFpayane hambastegiye ma nist. Ma shoma ra faromoushnakhahim kard.Herzlichen Dank.
Als Nächstes erteile ich das Wort dem Kollegen
Thomas Hitschler, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir stimmen heute zum letzten Mal über dieVerlängerung des ISAF-Mandats ab.
Als einige von Ihnen das erste Mal über das ISAF-Man-dat abstimmten, war ich 19. Der Einsatz der Bundeswehrhat damit fast mein gesamtes bisheriges politisches Le-ben begleitet und auch in besonderer Weise das Lebenvon vielen Menschen in unserer Gesellschaft verändertund beeinflusst.Am 11. September 2001 habe ich zu Hause auf derCouch den feigen Anschlag auf die amerikanische Na-tion verfolgt und gesehen, wie das World Trade Centerin sich zusammengefallen ist. Ich war mir damals derTragweite dieses feigen Anschlages in keiner Weise be-wusst. Wir haben erlebt, wie der Konflikt und der Kriegzum Teil unserer Realität wurden. Plötzlich war vonKrieg und von gefallenen deutschen Soldaten die Rede.Allein die öffentliche Auseinandersetzung über die Be-grifflichkeit des gefallenen deutschen Soldaten hat vielin unserer Gesellschaft verändert.Heute, fast 13 Jahre später, diskutieren wir im Bun-destag zum letzten Mal über die Verlängerung des ISAF-Mandates. Ich bin mir sicher: Keiner von Ihnen hat sichdie Entscheidung zu diesem Mandat bisher einfach undleicht gemacht, und das ist auch gut so. Selbst wenn derKrieg Einzug in unseren politischen Alltag gehalten hat,darf er immer nur der letzte Ausweg in einem Konfliktsein.Ich bin mir sicher, dass es eine besondere Errungen-schaft des deutschen Parlamentarismus ist – um die unsübrigens viele andere Staaten beneiden –, dass diese Ein-satzfragen hier von uns Volksvertreterinnen und Volks-vertretern beraten und beschlossen werden.
Diese besondere Errungenschaft, der wir uns zu jedemZeitpunkt bewusst sein sollten, müssen wir auch in Zu-kunft bewahren und verteidigen. Nur der Deutsche Bun-destag soll darüber entscheiden dürfen, ob unsere Solda-tinnen und Soldaten in Kampfeinsätze gehen.Wenn wir heute nach Afghanistan schauen, sehen wirein Land, das sich sechs Wochen vor einer wichtigen de-mokratischen Entscheidung befindet. Wahlen werdenvorbereitet, und man hat den Eindruck, die Menschenfreuen sich darauf. Sie wollen wählen und wollen an ih-rem Staat mitwirken. Dies zeigen nicht nur die millio-nenfachen Registrierungen für das Wählerregister, son-dern auch die Berichte, die uns unsere Einsatzkräfte vorOrt bei vielen Gelegenheiten gegeben haben. Die Wah-len werden in eigener Verantwortung und in anscheinendrelativer Sicherheit durchgeführt. Drücken wir den Men-schen in Afghanistan die Daumen und wünschen ihnenviel Erfolg für diese wichtige Entscheidung, vor der siestehen.
Afghanistan hat sich aber auch auf den Weg gemacht,eigene institutionelle Prozesse in Gang zu bringen, eineeigene unabhängige Verwaltung zu schaffen und damitauch ein Stück Rechtsstaatlichkeit herzustellen. Es ent-wickelt damit hoffentlich langfristig ein Fundament, umfriedlich leben zu können. Nebenher entsteht eine echteZivilgesellschaft. Wer hätte das vor 13 Jahren gedacht,liebe Kolleginnen und Kollegen? Zusätzlich stellt manfest, dass nach jahrzehntelanger fundamentalistischerBildungsfeindlichkeit heute wieder mehr junge Frauenund Männer Zugang zu Bildung haben. Dies ist die besteVoraussetzung und der optimale Grundstein für einelangfristige positive Entwicklung in diesem Land.In afghanisch-deutscher Kooperation wurden Kran-kenhäuser gebaut, um das Gesundheitssystem wieder auf
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Thomas Hitschler
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stabilere Beine zu stellen. Die enorm hohe Säuglings-sterblichkeit zeigt dennoch, dass wir Deutsche weiterhinUnterstützung leisten sollten, um den Afghanen eine po-sitive Zukunft zu geben.
Derzeit dienen etwa 3 000 Soldatinnen und Soldaten inAfghanistan. Ihnen und den zahlreichen zivilen Helferinnenund Helfern – mein Vorredner hat es gerade gesagt – giltmein besonderer Dank und, wie ich hoffe, auch unsere be-sondere Anerkennung.
Wir müssen aber mehr tun, als einfach nur Danke zusagen. Wir müssen uns darum kümmern, dass diejeni-gen, die ihr Leben in unserem Auftrag riskiert haben,nach ihrer Heimkehr die verdiente Anerkennung erhal-ten. Wir müssen uns darum kümmern, dass diejenigen,die es nicht unversehrt nach Hause geschafft haben, vonunserem Staat dennoch eine gute Lebensperspektive er-halten. Und wir dürfen diejenigen nicht vergessen, dieim Einsatz gefallen sind.Meine Damen und Herren, der Einsatz in Afghanistanist von besonderer Komplexität. Wir alle müssen ge-meinsam anerkennen, dass Fehler gemacht wurden, undsicherstellen, dass die richtigen Schlüsse aus diesen Feh-lern gezogen werden. Zeigen wir Respekt gegenüber derLeistung unserer Soldatinnen und Soldaten, und erken-nen wir an, was noch zu tun ist und vor uns liegt.Am 31. Dezember dieses Jahres wird der Kampfeinsatzenden. Niemand von uns darf naiv sein und glauben, ab die-sem Zeitpunkt ist Afghanistan eine Demokratie nach west-lichem Muster. Es wird in Afghanistan – auch für die Bun-deswehr – noch viel zu tun geben. Wir werden auch künftigals Partner zur Seite stehen und Aufbauhilfe leisten. Wirwerden als Partner bei der Entwicklungszusammenarbeitund dem zivilen Aufbau eine wichtige Rolle spielen müs-sen.Lieber Kollege Gehrcke, wir werden in Verhandlun-gen eintreten. Im Übrigen hat 2007 der Südpfälzer KurtBeck und nicht die Linkspartei den Vorschlag unterbrei-tet, die Taliban an den Gesprächen zu beteiligen.
Wir müssen aber auch erkennen, dass die Diskussionüber Afghanistan noch lange Zeit Teil unseres Alltagssein wird.Junge Menschen, die heute in Afghanistan ungefährso alt sind, wie ich es war, als der Einsatz begann, kön-nen sich nicht mehr an ein Leben ohne Krieg erinnern.Für sie stellt der Übergang vom Kampfeinsatz unsererStreitkräfte hin zu einer Unterstützungsmission einenwichtigen Wegpunkt dar – hoffentlich hin zu Frieden,Freiheit und Demokratie.Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Teenager imJahr 2001 habe ich sicher keine Sekunde daran gedacht,einmal vor Ihnen um die Zustimmung für die finale Ver-längerung des ISAF-Mandates bitten zu können. Neh-men Sie bitte die bisherige Bilanz des langen Einsatzeswohlwollend zur Kenntnis. Gehen Sie auch den letztenSchritt gemeinsam mit uns. Ich bitte Sie deshalb um IhreZustimmung zum Antrag der Bundesregierung.Vielen Dank.
Das war die erste Rede des Kollegen Thomas
Hitschler im Deutschen Bundestag. Dazu gratulieren wir
Ihnen herzlich.
Ich nutze den kurzen Moment der Gratulation, um auf
Folgendes hinzuweisen: Der Kollege Nouripour hat am
Schluss seiner Rede die Fremdsprachenkenntnisse der
Kolleginnen und Kollegen ein wenig überschätzt. Es ist
nett, wenn man zu einem solchen rhetorischen Mittel
greift; nur sollte man vielleicht auch die Übersetzung an-
fügen.
– Das haben wir alle hier oben nicht mitbekommen. Da
bitte ich um Nachsicht. Es ist jedenfalls auf alle Fälle so
zu halten. Danke.
Wir hören als Nächste unsere Kollegin Heike Hänsel
von der Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Laut dem jüngsten Bericht der UN-Mission in Af-ghanistan, UNAMA, ist 2013 das schlimmste Jahr für af-ghanische Frauen, Mädchen und Jungen seit 2009, mitder höchsten Zahl an getöteten und verletzten Frauenund Kindern. Erneut wurden Hunderte Zivilisten von dersogenannten internationalen Schutztruppe ISAF getötet,davon allein 19 Prozent durch Luftangriffe. Was daskonkret bedeutet, zeigt die Aussage eines Arztes überein vierjähriges Mädchen, das nach einem Luftangriff inein Krankenhaus gebracht wurde: Fast ohne Gesicht,beide Augen verloren; ihre gesamte Familie wurde getö-tet, als das Fahrzeug, in dem sie fuhren, bei einem Luft-angriff bombardiert wurde. – In Afghanistan wird täg-lich getötet und gestorben, und deswegen fordert dieLinke seit 13 Jahren ein Ende dieses Krieges und einenAbzug der Bundeswehr aus Afghanistan.
– Genau, weil wir in einer Kriegssituation sind.Übrigens sind allein im letzten Jahr 4 600 afghanischeSoldaten und Polizisten getötet worden. Ich finde, dasmuss man hier, weil Sie jetzt immer auf die Sicherheits-strukturen der Afghanen setzen, auch mal erwähnen.Auch das zeigt, wie brutal es dort zugeht und wie die Si-
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Heike Hänsel
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cherheitslage ist. Jetzt sterben eben afghanische Solda-ten, und auch das lehnen wir ab.
Im Hinblick auf die Erreichung all der Ziele, die Siezur Rechtfertigung dieses Krieges hier immer wieder an-gegeben haben und auch immer noch angeben – Ent-wicklung, Frauenrechte, Demokratie, Frieden –, sind Siegescheitert. Der Afghanistan-Krieg hat mindestens70 000 Menschen das Leben gekostet. Das Land zähltimmer noch zu den ärmsten Ländern der Erde, und dastrotz milliardenschwerer Entwicklungsprogramme. Daszeigt, dass wir unter der Bedingung von Besatzung undKrieg keine nachhaltige Entwicklung ermöglichen kön-nen; das muss doch die Erkenntnis sein.
Und was habe ich letzte Woche von AußenministerSteinmeier gehört? Seine Erkenntnis aus dem Afghanis-tan-Krieg ist: Wir müssen jetzt bessere Militäreinsätzeplanen, müssen uns besser koordinieren und die zivil-militärische Vernetzung verbessern. – Das ist doch keineangemessene Konsequenz aus diesem Krieg. Die Konse-quenz muss sein, dass wir die Bundeswehr generell nichtins Ausland schicken und militärische Interventionen ab-lehnen.
Alle danken hier immer – ich muss sagen, sehr ri-tualhaft – den deutschen Soldatinnen und Soldaten.
Ich möchte heute einmal den Friedensaktivisten danken,die sowohl in Deutschland – übrigens auch heute vordieser Debatte wieder – als auch in Afghanistan undweltweit über Jahre hinweg auf die Straße gegangen sindund gegen diesen Krieg demonstriert und protestiert ha-ben, die afghanische Friedenskräfte vor Ort unterstützenund über 13 Jahre hinweg versucht haben, Alternativenzu entwickeln und zu zeigen, dass es nicht darum gehenkann, den Krieg zu gewinnen; wir müssen den Friedengewinnen.
Sie reden jetzt viel von internationaler Verantwor-tung. Ich frage mich: Warum übernehmen Sie nicht ersteinmal Verantwortung für das, was in Afghanistan pas-siert ist, für die Tausenden von Toten, für die auch dieISAF-Schutztruppe verantwortlich ist? Meine Kolleginhat es angesprochen: Für die Angehörigen der Opfer, derToten des Kunduz-Angriffes – Sie sprachen von einem„verantwortungsvollen Handeln“ der Bundesregierung,Herr Beyer – gab es eine Entschädigung von 5 000 US-Dollar. Das darf ja wohl nicht wahr sein. Sie versteckensich hinter Gerichtsbeschlüssen. Das ist wirklich beschä-mend. Das ist keine menschenwürdige Unterstützung fürdie Hinterbliebenen.
Warum übernehmen Sie eigentlich keine Verantwor-tung für den schmutzigen Drogenkrieg, den die USA inder Grenzregion Pakistan/Afghanistan, und übrigensauch in Afrika, führen? Er wird auch von deutschem Bo-den aus geführt, nämlich von den US-Kommandozentra-len AFRICOM und EUCOM in Stuttgart. Das könntenSie hier unterbinden. Ich frage mich, warum diese Ein-richtungen nicht längst geschlossen worden sind; dennsie sind verantwortlich für diesen schmutzigen Kriegund den Tod von Hunderten von Zivilisten in Afghanis-tan und Pakistan.
Die Linke fordert einen vollständigen Abzug aus Af-ghanistan und keine dauerhafte Besatzung mit US-Trup-pen von bis zu 10 000 Soldaten über Jahre hinweg, wiedas geplant ist. Man spricht vom Jahr 2024, und falls esdie Sicherheitssituation erfordert, auch noch über diesenZeitraum hinaus. Wir wollen einen vollständigen Abzugaus Afghanistan und keine dauerhafte Besatzung. Wirwollen, dass afghanische Friedenskräfte, die eine mutigeArbeit machen, aber bislang wenig unterstützt werden,endlich die Unterstützung bekommen, die sie benötigen.Danke.
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Henning Otte, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Heute beraten wir im Deutschen Bundestag zum letztenMal die Mandatierung des Bundeswehreinsatzes imRahmen der ISAF. Der Kampfeinsatz der Bundeswehrzusammen mit vielen Nationen zur Befriedung Afgha-nistans wird Ende 2014 beendet sein.Bevor man ein Fazit aus ISAF zieht, sollten wir unsvergegenwärtigen, dass der Gesamteinsatz für die Si-cherheit Afghanistans noch lange nicht zu Ende seinwird.
Die internationale Gemeinschaft ist bereit, weiterhin ei-nen Beitrag zur Stabilisierung zu leisten – sofern dasLand Afghanistan dies will, sofern die Bedingungen fürdie deutschen Soldaten stimmen und sofern die USA alsunsere Partner dies leisten wollen.Was wäre wohl aus diesem Land und der gesamtenRegion geworden, wenn die internationale Gemeinschaftnicht bereit gewesen wäre, Verantwortung zu tragen?Frau Hänsel, Sie haben von Besatzung gesprochen.Überlegen Sie bitte: Was war denn mit den Steinigungenin den Stadien?
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1268 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Henning Otte
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Was war denn mit den Anschlägen in New York mit denvielen Toten? Die nehmen Sie offensichtlich billigend inKauf. Das ist beschämend.
Der internationale Terrorismus hätte Deutschland wei-terhin bedroht. Der Beitrag der Bundeswehr und der alli-ierten Streitkräfte hat zu einer Befriedung Afghanistansund damit zur Stärkung der Sicherheit auch Deutsch-lands beigetragen. Das ist ein Erfolg.Wir danken dafür unseren Soldatinnen und Soldaten.Wir danken dafür den Polizisten und auch den zivilenHelfern aus Deutschland, die bereit waren, für die Si-cherheit unseres Landes diesen sehr herausforderndenDienst zu leisten.
Herr Kollege Otte, der Kollege Ströbele hat den
Wunsch nach einer Zwischenfrage bzw. einer Zwischen-
bemerkung. Wollen Sie das zulassen?
Ich würde gerne mit meiner Rede fortfahren, HerrPräsident.Viele Fortschritte – die sollte sich Herr Ströbele erstanhören –
sind in diesem Land erzielt worden. Beispielsweisewurde im deutschen Zuständigkeitsbereich ein Flugha-fen als Lebensader gebaut. Freie Parlamentswahlen ste-hen unmittelbar bevor. Das Land Afghanistan ist, so wievon unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel gefordert,bereit zur Übernahme der Verantwortung für das eigeneLand.Wir können feststellen, dass sich die Situation in Af-ghanistan grundlegend verbessert hat. Das haben gesternim Verteidigungsausschuss nicht zuletzt die Ausführun-gen des zuständigen deutschen Generals im RegionalCommand North mehr als verdeutlicht. Aus dem Ansatzder vernetzten Sicherheit, der von Deutschland aus inder NATO und damit auch in Afghanistan implementiertworden ist, ist eine weitgehend selbsttragende Sicher-heitsstruktur entstanden, die von den Afghanen nunselbst permanent weiterentwickelt werden muss. Siewollen diese Sicherheitsstruktur auch weiterentwickeln.Die Menschen in Afghanistan sind nicht zuletzt durchdie Unterstützung Deutschlands in die Lage versetztworden, ihr Leben selbst zu gestalten. Das ist ein Fort-schritt. Diesen Fortschritt müssen wir weiter begleiten.Es geht darum, dass ein Land, das zu scheitern und zuzerfallen drohte, befähigt wird, eigene starke und belast-bare Staatsstrukturen zu schaffen – auch ein Gewaltmo-nopol –, die Wachstum und Fortschritt ermöglichen. Ei-nen wesentlichen Beitrag dazu hat die Bundeswehrgeleistet: mit Profession, mit Motivation, ja, auch mitLeidenschaft. Leider mussten wir auch Opfer bringen.Ich denke gerade in dieser Stunde auch an die 55 Gefal-lenen und deren Familien. Wir werden sie nicht verges-sen.
Sie sind uns gleichsam Mahnung und Verpflichtung,wenn es um die zukünftige deutsche Sicherheitspolitikgeht. Wir müssen uns zukünftig stärker von vornhereindarüber klar werden, wo und wofür wir uns engagieren.Diplomatie und Entwicklungshilfe müssen immer Vor-rang vor militärischen Mitteln haben. Aber wenn Solda-ten eingesetzt werden, dann müssen die Handlungsan-weisungen klar und am Auftrag orientiert sein. Auchhier haben wir gelernt.Die Einsätze auf dem Balkan, aber vor allem die Ein-sätze in Afghanistan haben aus der Armee der Einheiteine Armee im Einsatz gemacht. Die Ausrüstung ist mitgroßer Kraftanstrengung auf ein Niveau gebracht wor-den, welches auch den internationalen Vergleich nicht zuscheuen braucht. Hier sind wir top.In diesem Zusammenhang möchte ich von einemTruppenbesuch im letzten Jahr in Afghanistan berichten.Wir wurden von dem militärischen Seelsorger gebeten,am Ehrenhain für gefallene Soldaten eine Kerze anzu-zünden. Die Kollegin der Linken hat dies verweigert.Ungeachtet der Leistungen und der Opfer, die unsereSoldaten für die Sicherheit und den Schutz unserer Bür-gerinnen und Bürger erbracht haben, sieht sich die Frak-tion Die Linke nicht in der Lage, Menschlichkeit undAnteilnahme zu zeigen.
Stattdessen bedienen Sie sich auch heute um Ihrer selbstwillen Klischees. Damit erhalten Sie sich offensichtlicheine feste Wählerstruktur.
Sie sind als Linke nicht in der Lage, Verantwortung fürunser Land zu tragen.
Die Bundeswehr ist in der Lage, der Politik die Mittelund Fähigkeiten zur Verfügung zu stellen, die für Ein-sätze im Sinne einer vernetzten Sicherheit je nach Inten-sität und zeitlicher Dauer erforderlich sind. Das istexemplarisch in Afghanistan zu sehen: Wir bilden bei-spielsweise ANA-Kräfte aus, es gibt Kampfeinsätze, esgibt aber auch begleitende Schulungen für die Sicher-heitskräfte. Um der Politik diese Möglichkeiten an dieHand zu geben, muss die Bundeswehr auch zukünftigüber das gesamte Spektrum der Fähigkeiten verfügen.Das ist der Grund, warum die Neuausrichtung der Bun-deswehr an dem Ordnungsmerkmal „Breite vor Tiefe“ausgerichtet ist. Diese Ausrichtung erfolgt anhand der si-
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Henning Otte
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cherheitspolitischen Notwendigkeit, der sicherheitspoli-tischen Realität und des sicherheitspolitischen An-spruchs.Deutschland profitiert wie vielleicht kein anderesLand von der freien Welt. Wir müssen bereit sein, unsdafür einzusetzen, dass die Welt so frei und so gut esgeht auch sicher bleibt. Daher bin ich den Rednern, ins-besondere unserem Bundespräsidenten, unserer Verteidi-gungsministerin und unserem Bundesaußenminister, fürdie Worte bei der Sicherheitskonferenz in Münchendankbar.Das Prinzip der Rahmennation hat sich bewährt undspiegelt sich in der zukünftigen Struktur der Bundeswehrwider, die wir entsprechend weiterentwickeln wollen.Wir haben ein sehr tragfähiges Gleichgewicht zwischensicherheitspolitischer Verantwortung und finanziellerReichweite erreicht. Wir haben die richtigen politischenund strukturellen Schlüsse gezogen. Es hat sich auch ge-zeigt: Die Menschen in Deutschland verstehen den Ein-satz der Bundeswehr, wenn wir ihnen mit Klarheit undWahrheit erklären, warum und wo unsere Streitkräfteeingesetzt sind.
Wir haben am KFOR-Einsatz gesehen, dass die Ein-sätze nicht als beendet erklärt werden können, ehe nichtalle Soldaten wieder nach Hause, zurück in unser Landgekommen sind. In diesem Sinne müssen die zukünfti-gen Mandate für Afghanistan sorgfältig an der tatsächli-chen Lage ausgerichtet sein. Das vorliegende Mandat er-füllt diesen Anspruch. Daher wird die CDU/CSU-Fraktion zustimmen.Herzlichen Dank.
Wir werden jetzt noch zwei Kurzinterventionen hö-
ren, bevor wir in der Debatte fortfahren. Kollege Otte,
Sie haben die Möglichkeit, auf diese zu reagieren.
Als Erstes hat der Kollege Hans-Christian Ströbele
das Wort zu einer Kurzintervention.
Danke, Frau Präsidentin. – Ich habe mich gemeldet,
Herr Kollege Otte, weil das Ziel, der Sinn, der Zweck
dieses Kriegseinsatzes der Bundeswehr nicht nur von
den verschiedenen Rednern unterschiedlich dargestellt
worden ist, sondern in Ihrem Beitrag sogar gewechselt
hat. Geht es beim Kriegseinsatz der Bundeswehr dort da-
rum, die Konsequenzen aus dem 11. September 2001 zu
ziehen – das ist lange her –, oder geht es darum, Straßen
und Brücken zu bauen, oder geht es darum, freie Wahlen
zu ermöglichen? Zu all dem findet sich in dem ursprüng-
lichen Auftrag der UNO überhaupt nichts.
Ich bin ja von Anfang an dabei und kenne auch die
Debatten seit dem November 2001. Deshalb habe ich
eine Frage. Diese Frage wollte ich Ihnen während Ihrer
Rede stellen; jetzt mache ich es im Rahmen einer Kurz-
intervention. Wir stimmen hier nicht über ein Abzugs-
mandat ab. Wir stimmen hier heute in der namentlichen
Abstimmung über die Fortsetzung des Kriegsmandates
ab. Soll weitere zehn Monate wie bisher in Afghanistan
Krieg geführt werden? Das heißt, werden weiterhin ge-
zielte Tötungsaktionen, sei es durch US-Drohnen im
deutschen Verantwortungsbereich, sei es durch Kom-
mandounternehmen im deutschen Verantwortungsbe-
reich – möglicherweise mit deutscher Beteiligung –, und
andere kriegerische Einsätze durchgeführt? Darum geht
es hier. Für einen Abzug brauchen Sie kein Bundestags-
mandat.
Die deutschen Soldaten können jederzeit abziehen, wenn
der Krieg zu Ende ist oder das Ende des Krieges erklärt
wird.
Das heißt, wir müssen uns darüber im Klaren sein: Je-
der, der hier für dieses Mandat stimmt, übernimmt die
Verantwortung für die Tötung weiterer Menschen, Zivi-
listen, Angehöriger der afghanischen Sicherheitskräfte,
aber auch der deutschen Bundeswehr oder anderer
NATO-Streitkräfte, im deutschen Verantwortungsbe-
reich. Das ist die Frage, um die es jetzt geht. Es darf
nicht darum herumgeredet werden. Die Verteidigungs-
ministerin, die ja bezeichnenderweise hier heute nicht
dazu spricht, hat zu keinem Zeitpunkt gesagt, was es ei-
gentlich bedeutet, dass wir den Krieg dort jetzt noch
weitere zehn Monate fortführen, obwohl wir wissen,
dass der Krieg verloren ist. Für die weiteren Tötungen,
die dort stattfinden, gibt es damit überhaupt keine Be-
rechtigung.
Sie haben das Wort zur Erwiderung.
Sehr geehrter Herr Ströbele, es handelt sich hierbeinicht um einen Kriegseinsatz. Ich empfinde auch Ihr Vo-kabular angesichts des Fortschritts dort und der Sorgeum das Wohl der Menschen in Afghanistan als völlig un-akzeptabel.
Dieses Mandat basiert auf einem Beschluss der Ver-einten Nationen; er wird von vielen Nationen getragen.Ich möchte sagen: Zwei Dinge unterscheiden uns,glaube ich, ganz besonders von Ihnen. Wir setzen unsweiterhin für die Sicherheit in einer freien Welt ein, undwir – im Gegensatz zu Ihnen – würden die Menschendort nicht im Stich lassen.
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1270 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
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Zu einer weiteren Kurzintervention hat die Kollegin
Christine Buchholz das Wort.
Herr Otte, Sie wissen ganz genau, dass meine Kolle-
gin auf der Delegationsreise nach Afghanistan an der
Gedenkveranstaltung teilgenommen hat. Das ist auch
richtig so; denn die Linke trauert selbstverständlich um
jeden einzelnen Soldaten, der in Afghanistan zu Tode
gekommen ist.
Allerdings messen wir nicht mit zweierlei Maß. Wir
trauern genauso um die Soldatinnen und Soldaten, die
im Einsatz auf Ihre politische Entscheidung hin ihr Le-
ben lassen oder traumatisiert, an Seele oder Körper ver-
wundet nach Hause kommen, wie wir auch um die Men-
schen trauern, die als Zivilistinnen und Zivilisten in
Afghanistan gestorben sind – durch ISAF, durch die
Bundeswehr. Deswegen haben wir uns selbstverständ-
lich auch an den Gesprächen über ein Gedenken für die
gestorbenen Soldaten beteiligt.
Gleichzeitig sagen wir aber auch: Wir beteiligen uns
nicht an einer Zweiteilung dieses Gedenkens. Wir wol-
len, dass derer, die den Einsatz durchführen, und der zi-
vilen Opfer gleichermaßen gedacht wird. Wir nehmen
zur Kenntnis, dass unsere Vorschläge, beispielsweise der
Vorschlag, hier im Bundestag eine Gedenkveranstaltung
für die Opfer von Kunduz durchzuführen, von Ihnen
vom Tisch gewischt wurden. Von daher: Versuchen Sie
nicht, uns so darzustellen, als gingen die Opfer unter
denjenigen, die letztendlich die politischen Entscheidun-
gen, die Sie hier vorbereiten, ausführen, an uns vorbei!
Auch wir möchten, dass die Soldatinnen und Soldaten
unversehrt bleiben. Das Beste ist, Sie holen sie zurück,
und zwar sofort. Dann wird nämlich niemand weiter
traumatisiert, und dann wird auch niemand weiter zu
Tode kommen.
Kollege Otte, Sie haben das Wort.
Sehr geehrte Frau Buchholz, die Dauer Ihrer Kurz-
intervention zeigt, dass Sie nach Argumenten dafür su-
chen, warum es Ihnen in Ihren Reden nicht gelungen ist,
deutlich zu machen, dass auch Sie für gefallene deutsche
Soldaten Trauer empfinden,
und dass es Ihnen unangenehm ist, dass ich dies ange-
sprochen habe.
Das mag so sein. Aber die deutsche Öffentlichkeit muss
erfahren, in welcher politischen Ecke Sie stehen.
Bevor wir mit der Debatte fortfahren, bitte ich die
schon zahlreich erschienenen Kolleginnen und Kolle-
gen, Platz zu nehmen und dafür zu sorgen, dass wir auch
den weiteren Rednerinnen und Rednern mit der notwen-
digen Aufmerksamkeit folgen können. Sie können mir
glauben: Wir haben hier im Saal für jeden Kollegen und
für jede Kollegin einen Stuhl.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kol-
lege Uwe Kekeritz das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!In der letzten Woche hat Entwicklungsminister Müllerhier Stellung bezogen. Um es ehrlich zu sagen: Bei sehrvielen Themen ist Herr Müller sehr klar. Beim ThemaAfghanistan war er meines Erachtens ziemlich kontur-los.
In Anbetracht der schwierigen Lage in Afghanistanwäre es aber zwingend notwendig, dass sich der Ent-wicklungsminister klar und deutlich positioniert. DerMinister müsste belegen, dass sich die Bundesregierungkohärent, abgestimmt und intensiv auf die Zeit nach demTruppenabzug vorbereitet. Hierfür gibt es verschiedeneSzenarien. – Herr Minister, ich habe Sie nicht gesehen;sonst hätte ich Sie direkt angesprochen. – Es eilt; dennnicht nur der aktuelle Fortschrittsbericht zeigt, wie vielzu tun bleibt.Nur zwei Beispiele: Die Zahl der Binnenflüchtlingeist inzwischen auf über 600 000 angestiegen. Der Dro-genanbau und der Drogenhandel greifen um sich wie niezuvor. Wir alle kennen natürlich die weiteren Probleme,die wir gemeinsam mit den Menschen vor Ort struktu-riert und vor allen Dingen geplant angehen müssen.Heute rächt sich, dass die von uns seit Jahren gestellteForderung nach einer unabhängigen Evaluierung des zi-vilen Engagements in Afghanistan schlicht ignoriertwurde. Die möglichen Erkenntnisse einer qualifiziertenEvaluation würden sich in der zukünftigen Zusammenar-beit mit Afghanistan sehr schnell auszahlen.
Die Weigerung, eine solche Evaluierung heute durchzu-führen, halte ich, Herr Minister, für einen ganz großenFehler.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1271
Uwe Kekeritz
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Anstatt zu evaluieren, plant das BMZ eine Kurzstudiezu Evaluierungsoptionen. Vielleicht ist ein Fachmannoder eine Fachfrau da, der bzw. die erklären kann, wasdas bedeutet. Was auch immer da herauskommen soll,eine Kurzstudie kann nicht die Grundlage der Arbeitnach dem Abzug in Afghanistan liefern. Es scheint so,als ob das BMZ die Bedeutung von Evaluierungen nochnicht begriffen hat. Wer darauf verzichtet, erhöht das Ri-siko eines entwicklungspolitischen Fehlschlages. So et-was dürfen und wollen wir uns einfach nicht leisten.
Der Verzicht auf Evaluierung ist unprofessionell. HerrMüller, nehmen Sie den gewaltigen Umbruch, der uns inAfghanistan im Herbst bevorsteht, sehr ernst und lassenSie sich bitte auch diesbezüglich nicht falsch beraten!Gleiches gilt für die Sicherheit der zivilen Kräfte.Herr Minister Müller, Sie haben im Spiegel angekündigt,die zivilen Kräfte ohne militärischen Schutz vor Ort ar-beiten zu lassen. KfW und GIZ sehen das allerdingsganz anders: Beide Organisationen haben mir auf An-frage schriftlich mitgeteilt, dass sie ohne militärischenSchutz ihr Engagement nicht wie bisher fortsetzen kön-nen. Herr Minister Müller, ich kann Ihnen nur raten: Set-zen Sie sich rasch mit Vertretern der Durchführungsor-ganisationen zusammen und klären Sie das!
Das muss geklärt werden, Herr Müller, nicht in fünf Mo-naten, sondern heute.Viele NGOs positionieren sich übrigens ganz andersals KfW und GIZ: Die Deutsche Welthungerhilfe, Mise-reor und die EKD teilen mir mit, dass sie auf jeden Fallwie bisher weiterarbeiten werden und dass sie auch inZukunft keinerlei Arbeitsbeziehung zur Bundeswehrbzw. NATO wünschen.
Das sind Beispiele, die deutlich machen, wie notwen-dig Vorbereitung und kohärente Abstimmung in denMinisterien für diese Zukunftsaufgabe sind und wiewichtig es ist, gemeinsam mit der Zivilgesellschaft eineStrategie für Afghanistan zu entwickeln. In Afghanistanmüssen wir zeigen, was internationale Verantwortungfür uns bedeutet: mehr Diplomatie, mehr ziviles Engage-ment, mehr kohärente und mit anderen Staaten abge-stimmte Entwicklungszusammenarbeit. Herr Minister,Sie sind in der Verantwortung; wir werden Sie da nichtrauslassen.Danke schön.
Die Kollegin Julia Bartz hat für die CDU/CSU – –
– Es tut mir leid: Mir ist keine Kurzintervention ange-
zeigt worden; dann kann ich das auch nicht erahnen.
– Bei mir ist nichts angemeldet.
– Ich danke dem Fraktionsvorsitzenden der Unionsfrak-
tion, dass er gerade die Arbeit des Parlamentarischen
Geschäftsführers übernommen hat.
Bevor ich das Wort zur Kurzintervention erteile, ma-
che ich darauf aufmerksam, dass wir selbst ohne Kurzin-
tervention noch circa 13 Minuten Debattenzeit haben. Es
gibt also keine Veranlassung, jetzt hier auf dem Sprung
zu stehen. Nehmen Sie bitte Platz, liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sollten Sie der Debatte nicht folgen können
oder wollen, führen Sie notwendige Gespräche bitte au-
ßerhalb des Saales, sodass wir hier auch allen Beiträgen
folgen können.
Das gilt ausnahmslos für alle Fraktionen hier im Hause. –
Machen Sie es Ihren Fraktionsvorsitzenden und Ihren
Parlamentarischen Geschäftsführern doch bitte nicht so
schwer.
– Hinten in den Reihen der Fraktion Die Linke stehen
auch noch zwei.
– Die Zusammenarbeit zwischen Frau Wawzyniak und
Herrn Kauder funktioniert schon. Ich nehme an, dass
Frau Wawzyniak ihm demnächst behilflich ist, auch
noch die Kollegen in den Reihen der Unionsfraktion
zum Hinsetzen zu bewegen.
Ich erteile das Wort zur Kurzintervention.
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Ich mache es auchganz kurz, meine Damen und Herren. Nachdem ich ebenmehrfach angesprochen wurde und hier in dem sehr rele-vanten Bereich der Sicherheit Vorwürfe in den Raum ge-stellt wurden – dass wir die Sicherheit der Partnerorgani-sationen, der GIZ, der Deutschen Welthungerhilfe oderder vielen anderen, die in Afghanistan großartige Arbeit
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Dr. Gerd Müller
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leisten, nicht ausreichend berücksichtigen würden –,muss ich richtigstellen: Die Sicherheit – der Soldatinnenund Soldaten wie der Kolleginnen und Kollegen der Ent-wicklungszusammenarbeit – hat für uns selbstverständ-lich oberste Priorität. Die ISAF und die Soldatinnen undSoldaten haben hier in den vergangenen Jahren großar-tige Arbeit geleistet. Die Zusammenarbeit war sehr gutund reibungslos.Es gibt selbstverständlich ein Konzept der vernetztenSicherheit zwischen dem Außenministerium, dem Ver-teidigungsministerium und dem Entwicklungsministe-rium. Auf diesem Konzept bauen wir auf und werdenwir die Zusammenarbeit fortsetzen.Wir alle haben klargestellt, dass wir Karzai und dieRegierung auffordern, das Sicherheitsabkommen mitden Vereinigten Staaten zu unterzeichnen. Ich habe aberauch gesagt – und das sage ich jetzt auch hier noch ein-mal –: Die Entwicklungsarbeit hat vor ISAF begonnen,und sie wird auch nach ISAF fortgeführt werden, unab-hängig davon, wie die Entscheidungen im militärischenBereich aussehen werden und wie sich Karzai und dieAfghanen aufstellen. Sie wird es auch danach geben; sieist ein unabhängiger Beitrag zur Stabilisierung der Lagein Afghanistan.Auch dafür gibt es natürlich ein Sicherheitskonzept,das so auf die Gefährdungslage abgestellt ist, dass – ichsage es einmal so – die Sicherheit der zivilen Helfer inAfghanistan gewährleistet ist. Das ist sehr wichtig.Herzlichen Dank.
Kollege Kekeritz, Sie haben die Möglichkeit, dem
Kollegen Müller zu antworten.
Herr Minister, danke für Ihre Antwort. – Ich habe
nicht gesagt, dass Sie gar nichts tun. Darum geht es
nicht. Ich habe Sie aufgefordert, das Verfahren, das Sie
in Zukunft anwenden wollen, transparent zu machen und
vor allen Dingen auch mit der NGO-Szene zu bespre-
chen.
Sie werden ja sicherlich nicht nur ein Szenario vorbe-
reiten. Kein Mensch weiß, wie es im November, im De-
zember und in den darauf folgenden Monaten in Afgha-
nistan ausschauen wird. Sie werden also mindestens drei
Szenarien vorbereiten müssen. Diese müssen bitte schön
nicht nur zwischen den Ministerien, zwischen dem
BMZ, dem Verteidigungsministerium und dem Außen-
ministerium, sondern vor allen Dingen auch mit der
NGO-Szene abgesprochen sein. Das ist ein ganz wichti-
ges Kriterium, das Sie erfüllen sollten. Dafür ist die Zeit
jetzt nicht mehr sehr lang. Hier müssen Sie in die Pu-
schen kommen.
Ihre Aussage, dass das Konzept der vernetzten Si-
cherheit großartig und erfolgreich war, wage ich zu be-
zweifeln. Es war kein vollkommener Fehlschlag, aber es
ist doch so, dass viele NGOs heute sagen: Das war der
falsche Ansatz. Für uns wäre ein anderer Ansatz richti-
ger gewesen.
Um in Zukunft solche Probleme zu vermeiden, bitte
ich um Transparenz, und zwar sehr schnell.
Danke schön.
Die Kollegin Julia Bartz hat nun für die CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnenund Kollegen! Heute und vergangene Woche haben wirhier im Hohen Hause über die vielen positiven Entwick-lungen, die ISAF bewirkt hat, gesprochen.Den Menschen in Afghanistan geht es heute zumüberwiegenden Teil deutlich besser als vor zwölf Jahren.Die Kindersterblichkeit hat sich halbiert, die Lebenser-wartung hat sich erhöht, und das Bruttoinlandsprodukthat sich binnen zehn Jahren verdoppelt. Für mehrereMillionen Menschen gibt es neue Straßen und Brücken,Stromversorgung, Trinkwasser und Internetanschlüsse.Im afghanischen Parlament sitzen 28 Prozent Frauen.Bei den Provinzratswahlen im April treten über300 Frauen an.
Unter den 200 000 ausgebildeten Lehrkräften sind61 000 Frauen. Während 2001 nur knapp 1 Million Jun-gen in Afghanistan zur Schule gingen, lernen heute9,2 Millionen afghanische Schulkinder Lesen undSchreiben – darunter 39 Prozent Mädchen.Auch wenn es im Bereich der Frauenrechte in Afgha-nistan noch großen Verbesserungsbedarf gibt: Hierwächst eine gebildete und vielversprechende Generationheran, die eines Tages Verantwortung in ihrem Landübernehmen muss.
Die junge Generation, die mit Unterstützung derISAF heranwächst, gibt Anlass zur Hoffnung. Trotzdemzeigt uns der Fortschrittsbericht der Bundesregierungviele Bereiche auf, die aktuell und auch in Zukunft einegroße Herausforderung bedeuten und unsere Anwesen-heit weiterhin sinnvoll machen. Die aktuelle Lage ent-spricht sicherlich nicht in allen Bereichen den Zielen, diewir mit unseren Verbündeten auf dem gemeinsamenWeg formuliert haben. Nicht immer haben wir die Ereig-
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Julia Bartz
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nisse treffend beurteilt. Mitunter haben wir, daraus ablei-tend, Ziele zu hoch gesetzt, auch wenn wir viel erreichthaben.Deutschlands historisch gewachsene Erfahrung inAfghanistan und die noch 2001 bestehenden institutio-nellen sowie persönlichen Kontakte beschränkten sichdamals im Wesentlichen auf Kabul sowie den paschtuni-schen Osten des Landes. Gleichwohl ließen wir uns auf-grund der dort seinerzeit herrschenden vermeintlichschlechteren Sicherheitslage dazu hinreißen, einer Sta-tionierung in dem als ruhiger wahrgenommenen multi-ethnischen Norden zuzustimmen.Wir setzen künftig auf eine stärkere Vernetzung. Zu-künftig könnten uns auch mehr Gelassenheit bei der La-gebeurteilung und das Ertragen von zum Teil künstlichaufgebautem Druck durch unsere Verbündeten in einebessere Position bringen. Genau das tun wir.
Damit meine ich, dass unsere Bündnispartner manchmaldazu neigen, uns vorzuwerfen, wir würden uns „toolittle, too late“, also übersetzt: zu langsam, zu wenig be-teiligen.
Wir sind jedoch der zweitgrößte Beitragszahler in derNATO. Andere Staaten nutzen die NATO für ihre Inte-ressen ganz klar aus. Wir tun das nicht. Wir haben auchinnerhalb der NATO-Befehlsstruktur nicht die Posteninne, die eigentlich unserem finanziellen Beitrag ent-sprechen würden.
Das liegt aber auch daran, dass wir nicht die Ersten sindund ganz sicher auch nicht die Ersten sein wollen, die„boots on the ground“ sofort Soldaten entsenden.Mit „mehr Gelassenheit bei der Lagebeurteilung“meine ich: Wir zahlen erstens unseren Beitrag, nutzenzweitens unsere Macht nicht für unsere Zwecke aus undhaben drittens eine Parlamentsarmee. Wir entscheidenalso nicht von heute auf morgen, unsere Truppen zu ent-senden, sondern wir entsenden erst, nachdem das Parla-ment entschieden hat.
Dass Krieg nicht erst nach Ausrufen des Verteidi-gungsfalles für deutsche Soldatinnen und Soldaten zurTagesrealität werden kann, wissen wir seit unseren Ein-sätzen auf dem Balkan. Wie wichtig, ja überlebens-wichtig eine moderne Ausrüstung ist, mussten wir inAfghanistan erleben. Bei unseren Rüstungs- und Aus-rüstungsprojekten sollten wir stets im Blick haben, wasunseren Soldatinnen und Soldaten die bestmögliche Um-setzung ihres Auftrags bei höchster Sicherheit ermög-licht. Genau das tun wir auch.
Kommen wir dem nicht nach, werden wir zukünftig im-mer größere Schwierigkeiten haben, Menschen für denfaszinierenden, für die Sicherheit unseres Staates unab-dingbaren, aber auch lebensgefährlichen Beruf der Sol-datin oder des Soldaten zu gewinnen.Bei der zukünftigen Formulierung konkreter Einsatz-ziele sollten wir stets deren Umsetzbarkeit und Erreich-barkeit vor Augen haben und diese auch entsprechendkommunizieren. Darauf werden wir besonders achtge-ben. Diese Schlüsse ziehen wir aus unserer bisherigenBeteiligung in Afghanistan für ihre Fortsetzung sowiefür mögliche zukünftige Missionen andernorts.Kommendes Jahr jährt sich der erste offizielle deut-sche Kontakt mit Afghanistan durch die Niedermayer-Mission zum hundertsten Mal. In diesem vergangenenJahrhundert hat Deutschland über viele Jahre hinweg zuden Stämmen am Hindukusch Kontakt gehalten, die wirheute als Afghanistan kennen, die wir aber in unsererWahrnehmung – stark verkürzt – erst seit 2001 betrach-ten.Lange Zeit waren wir in der Entwicklungs- und Wirt-schaftshilfe in Afghanistan tätig. Wir wollen diese altefreundschaftliche Verbundenheit zum afghanischen Volkfortsetzen. Bundesminister Gerd Müller hat dazu vergan-gene Woche den Fahrplan für 2015 und darüber hinausaufgezeigt. Bis 2016 werden wir bis zu 430 MillionenEuro pro Jahr in die wirtschaftliche, soziale und politi-sche Entwicklung Afghanistans investieren. Das istwichtig und richtig, meine sehr verehrten Damen undHerren.
Ich darf daran erinnern: Fast auf den Tag genau heutevor 25 Jahren verließ die Rote Armee Afghanistan, nachneun Jahren Besatzung, die sie selbst als Hilfe deklarierthatte. Sie ließ das afghanische Volk im Stich.
Die Folgen waren Bürgerkrieg, Unsicherheit und hun-derttausendfacher Tod.Diesen Fehler sollten wir nicht wiederholen, und daswerden wir auch nicht. Unsere Aufgabe in Afghanistanist noch nicht beendet. Es ist auch unsere moralischePflicht, den Prozess der vollständigen Übergabe derSicherheitsverantwortung an die 350 000 afghanischenSicherheitskräfte geordnet zu Ende zu führen.
Damit schaffen wir die Voraussetzung, dass sich dasErreichte manifestiert und darauf aufbauend dem afgha-nischen Volk eine gute Zukunft ermöglichen kann. Die-sen Prozess möchten wir auch über 2014 hinaus beglei-ten. Innerhalb der NATO planen wir dazu eineAusbildungs-, Beratungs- und Unterstützungsmission.
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Kollegin Bartz, achten Sie auf die Zeit? Sonst geht
das auf Kosten der Kollegin Pfeiffer.
Ich komme zum Schluss. – Sehr geehrte Damen und
Herren, mit meinem Werben für eine Verlängerung des
Mandats würdige ich insbesondere den unermüdlichen
Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten, aber auch den
unserer zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Mit
größtem Engagement und unter größten Strapazen für
sie selbst und ihre Familien haben sie in Afghanistan ein
Umfeld geschaffen, in dem sich wie schon in den 20er-,
60er- und 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts
erste Erfolge bei Sicherheit, Freiheit und Selbstbestim-
mung entwickeln konnten.
Es gilt, diesen Erfolg gerade nach den von uns selbst
gemachten Erfahrungen in Afghanistan zukünftig abzu-
sichern und auch der nächsten afghanischen Regierung
dabei zu helfen, den beschrittenen Weg fortzusetzen.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Sibylle Pfeiffer für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Dass ich hier stehe, hat, denke ich, Symbolcharakter.Denn wir werden auf diese Art und Weise dokumentie-ren, was wir auch praktisch umsetzen: den Übergangvon militärischer Stabilisierung zur Entwicklungspolitik.Das wird dadurch sichtbar, dass als letzte Rednerin zurISAF-Debatte eine Entwicklungspolitikerin redet. Dasist nicht selbstverständlich; das wissen wir auch.
– Wir sind nicht am Ende der Kette, sondern am Anfang,liebe Kollegin Hänsel. Denn wir Entwicklungspolitikerkommen jetzt erst richtig in Schwung.
Davon bin ich fest überzeugt, vor allen Dingen, wennwir die Entwicklungspolitik so machen, wie wir sie unsvorstellen, wie sie unser Bundesminister Müller vorgibtund wie wir sie als Große Koalition unterstützen werden.Machen wir uns nichts vor: Die Situation in Afgha-nistan wird nicht besser, jedenfalls nicht sofort. Denn innächster Zeit werden wir erst einmal schwierige Zeitenzu bestehen haben. Das eine ist nämlich, dass Afghanis-tan vor Wahlen steht. Was das in Afghanistan heißt, wis-sen wir nicht. Die Afghanen wählen einen neuen Präsi-denten für ihr Land. Wir wissen definitiv jetzt schon,dass es nicht bei einem einzigen Wahlgang bleiben wird.Das heißt, es wird zu einer Stichwahl kommen müssen,und es wird ein Machtvakuum geben.Die Frage ist: Welche Kräfte haben mittlerweile aufdie Wahl eingewirkt? Wie demokratisch wird dieseWahl? Welche terroristischen Kräfte wie die Taliban undandere haben darauf eingewirkt? Es kann unter Umstän-den sein, dass es ein relativ großes Machtvakuum gebenwird, was ich uns nicht wünsche, weil es unsere Arbeiterschweren und die Arbeit der Entwicklungspolitik stö-ren würde. Es wäre für die Zukunft Afghanistans mit Si-cherheit nicht hilfreich.Das Zweite wird sein, dass wir mit unseren Truppenpeu à peu aus Afghanistan abziehen. Parallel dazu brau-chen wir dann das bilaterale Sicherheitsabkommen. ImGegensatz zu Ihnen, lieber Herr Gehrcke, KollegeKekeritz und Herr Ströbele, fordern wir den Einsatz derRegierung nicht nur dann, wenn es darum geht, unsereHilfskräfte zu unterstützen und zu schützen. Vielmehr istes Aufgabe auch von uns Parlamentariern, unsere Ent-wicklungshelfer vor Ort nicht im Stich zu lassen, sie zuunterstützen und zu schützen. Das ist die zweite großeAufgabe, die wir zu erledigen haben und die wir als Par-lamentarier auch gerne erledigen wollen.Wenn es nun zu einer instabilen Lage in Afghanistankommt: Was ist dann zu tun? Was ist zu tun, wenn dieWahl nicht demokratisch abläuft? Was passiert, wennirgendwelche terroristischen Gruppierungen die Wahltorpedieren? Wir müssen von uns aus die Regierung un-terstützen und für Klarheit in der Zusammenarbeit sor-gen. Wir müssen das von uns aus in die Hand nehmen.Wir müssen mit den Afghanen die Rahmenbedingungenschaffen, die wir schon in Tokio vereinbart haben. Esgeht darum, dass die Afghanen selber Verantwortungübernehmen. Daran müssen wir sie erinnern. Die Afgha-nen müssen aber nicht nur für ihre eigene Sicherheit,sondern auch für die Sicherheit unserer Entwicklungs-helfer, Unterstützer und Experten Verantwortung über-nehmen.Wir sehen aber noch offene Baustellen in Afghanis-tan. Eine davon stellt für meine Begriffe das größte Ent-wicklungshemmnis dar: die Korruption. Wir müssen alsParlamentarier und Regierungsmitglieder darauf hinwei-sen, dass wir Korruption ablehnen und dass dagegen et-was getan werden muss.
Denn Korruption hemmt eine positive Entwicklung undschadet den Afghanen vor Ort. Auch wir tun uns schwer,die Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan zurechtfertigen, wenn es dort Korruption gibt. Schließlichsind wir unseren Steuerzahlern verpflichtet. Natürlichstellt sich grundsätzlich die Frage, ob wir mit korruptenRegierungen zusammenarbeiten sollen. Nein, das tunwir nicht. Deshalb müssen wir Bedingungen stellen undihre Einhaltung einfordern. Erst dann können wir eineordentliche Aufbauarbeit leisten.
Wir wollen zum Wohle aller Afghanen, dass die Men-schenrechte und insbesondere die Frauenrechte in
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Sibylle Pfeiffer
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Afghanistan eingehalten werden. Wir wollen ein Landohne Terror und Unterdrückung. Wir wollen den Men-schen Perspektiven durch eine funktionierende Wasser-,Energie- und Gesundheitsversorgung sowie Bildungs-möglichkeiten geben. Deshalb engagieren wir uns fürdie Afghanen. Sie haben unsere Unterstützung verdient.Wir sagen sie ihnen zu und freuen uns auf die Zusam-menarbeit mit ihnen.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Druck-sache 18/602 zu dem Antrag der Bundesregierung aufFortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscherStreitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicher-heitsunterstützungstruppe in Afghanistan unter Führungder NATO. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 18/436anzunehmen. Wir stimmen nun über die Beschlussemp-fehlung namentlich ab.Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, dievorgesehenen Plätze einzunehmen. Während dies ge-schieht, mache ich darauf aufmerksam, dass mir mehrereErklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung vorlie-gen, die wir entsprechend unseren Regeln zu Protokollnehmen.1)Sind alle Schriftführerinnen und Schriftführer an Ih-rem Platz? – Das ist der Fall. Ich eröffne die namentlicheAbstimmung über die Beschlussempfehlung.Vorsorglich bitte ich schon einmal die Kolleginnenund Kollegen, die an unseren weiteren Beratungen nach-her nicht teilhaben wollen, uns den Blick in den Saalfreizumachen, damit wir nach Abschluss dieser Abstim-mung den nächsten Tagesordnungspunkt geordnet aufru-fen und abwickeln können.Gibt es noch ein Mitglied des Hauses, welches seineStimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Ichschließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerin-nen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnenspäter bekannt gegeben.2)Wir sind noch immer beim gleichen Tagesordnungs-punkt und kommen nun zur Abstimmung über dieEntschließungsanträge. Ich bitte, dem Präsidium zu er-möglichen, die Abstimmungsergebnisse zweifelsfreifeststellen zu können. Dieser Appell richtet sich sowohlan die Regierungsbank als auch an die Fraktionen. Wirkommen zum Entschließungsantrag der Fraktion DieLinke auf Drucksache 18/608. Wer stimmt für diesenEntschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Der Entschließungsantrag ist mit denStimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion1) Anlagen 2 bis 62) Ergebnis Seite 1277 DBündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FraktionDie Linke abgelehnt.Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen auf Drucksache 18/609. Wer stimmt für diesenEntschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Der Entschließungsantrag ist mit denStimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion DieLinke gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen abgelehnt.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten HaraldEbner, Renate Künast, Nicole Maisch, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENzu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Eu-ropäischen Parlaments und des Rates zur Än-derung der Richtlinie 2001/110/EG des Ratesüber HonigKOM(2012) 530 endg.; Ratsdok. 13957/12hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesre-gierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 desGrundgesetzesWahlfreiheit für Verbraucherinnen und Ver-braucher herstellen – Honig mit gentechnischveränderten Bestandteilen kennzeichnenDrucksache 18/578Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzEs handelt sich um eine Überweisung im verein-fachten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 i auf.Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen,zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 22 a:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Ener-gie zu der Verordnung der Bun-desregierungErste Verordnung zur Änderung der Außen-wirtschaftsverordnungDrucksachen 18/299, 18/413 Nr. 2, 18/516Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 18/516, die Aufhebung der Verord-nung auf Drucksache 18/299 nicht zu verlangen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-lung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Ent-haltung der Fraktion Die Linke angenommen.
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Vizepräsidentin Petra Pau
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Tagesordnungspunkt 22 b:Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Recht und Verbraucherschutz
Übersicht 1über die dem Deutschen Bundestag zugeleite-ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs-gerichtDrucksache 18/593Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-empfehlung ist einstimmig angenommen.Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-titionsausschusses.Tagesordnungspunkt 22 c:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 7 zu PetitionenDrucksache 18/507Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 7 ist einstimmig ange-nommen.Tagesordnungspunkt 22 d:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 8 zu PetitionenDrucksache 18/508Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 8 ist einstimmig ange-nommen.Tagesordnungspunkt 22 e:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 9 zu PetitionenDrucksache 18/509Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 9 ist mit den Stimmender Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen dieStimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung derFraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 22 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 10 zu PetitionenDrucksache 18/510Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 10 ist einstimmig an-genommen.Tagesordnungspunkt 22 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 11 zu PetitionenDrucksache 18/511Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 11 ist mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion DieLinke angenommen.Tagesordnungspunkt 22 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 12 zu PetitionenDrucksache 18/512Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 12 ist mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen und der Fraktion DieLinke gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen angenommen.Tagesordnungspunkt 22 i:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 13 zu PetitionenDrucksache 18/513Hierzu liegt mir eine Erklärung nach § 31 unserer Ge-schäftsordnung des Kollegen Frank Tempel vor. DieseErklärung nehmen wir entsprechend unseren Regeln zuProtokoll.1)Wer stimmt für die Sammelübersicht 13? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammelüber-sicht 13 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionengegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 g sowieden Zusatzpunkt 4 auf. Es geht um Wahlen zu Gremien.Tagesordnungspunkt 5 a:Wahl der Mitglieder des Kuratoriums der„Bundesstiftung Magnus Hirschfeld“Drucksache 18/560Es liegen Wahlvorschläge aller Fraktionen auf Druck-sache 18/560 vor. Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Wahl-vorschläge sind einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 5 b:Wahl der Mitglieder des Stiftungsrates der„Stiftung Berliner Schloss – Humboldtforum“Drucksache 18/5611) Anlage 8
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1277
Vizepräsidentin Petra Pau
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Hierzu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen CDU/CSU, SPD und Die Linke auf Drucksache 18/561 vor.Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? – Wer stimmt da-gegen? – Wer enthält sich? – Die Wahlvorschläge sindeinstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 5 c:Wahl der Mitglieder des Beirats für Fragen
Drucksache 18/562Dazu liegen Wahlvorschläge aller Fraktionen aufDrucksache 18/562 vor. Wer stimmt für diese Wahlvor-schläge? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Die Wahlvorschläge sind einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 5 d:Wahl der Mitglieder des Verwaltungsrates beider Bundesanstalt für Finanzdienstleistungs-aufsichtDrucksache 18/563Hierzu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen derCDU/CSU, der SPD und der Fraktion Die Linke aufDrucksache 18/563 vor. Wer stimmt für diese Wahlvor-schläge? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Die Wahlvorschläge sind einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 5 e:Wahl der Mitglieder des Beirats zur Auswahlvon Themen für die Sonderpostwertzeichenohne Zuschlag beim Bundesministerium derFinanzen
Drucksache 18/564Dazu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen derCDU/CSU und der SPD auf Drucksache 18/564 vor. Werstimmt für diese Wahlvorschläge? – Wer stimmt dage-gen? – Wer enthält sich? – Die Wahlvorschläge sind ein-stimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 5 f:Wahl der Mitglieder des Rundfunkrates unddes Verwaltungsrates der Deutschen Welle ge-mäß der §§ 31 und 36 des Deutsche-Welle-Ge-setzes
Drucksache 18/565Hierzu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen derCDU/CSU und der SPD auf Drucksache 18/565 vor. Werstimmt für diese Wahlvorschläge? – Wer stimmt dage-gen? – Wer enthält sich? – Die Wahlvorschläge sind ein-stimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 5 g:Wahl der Mitglieder des Verwaltungsratesund der Vergabekommission der Filmförde-rungsanstalt gemäß der §§ 6 und 8 des Film-förderungsgesetzes
Drucksache 18/566Hierzu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen derCDU/CSU und der SPD auf Drucksache 18/566 vor. Werstimmt für diese Wahlvorschläge? – Wer stimmt dage-gen? – Wer enthält sich? – Die Wahlvorschläge sind ein-stimmig angenommen.Zusatzpunkt 4:Wahl der Mitglieder des Beirats für die grafi-sche Gestaltung der Sonderpostwertzeichenbeim Bundesministerium der Finanzen
Drucksache 18/567Hierzu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen derCDU/CSU und der SPD auf Drucksache 18/567 vor. Werstimmt für diese Wahlvorschläge? – Wer stimmt dage-gen? – Wer enthält sich? – Die Wahlvorschläge sind ein-stimmig angenommen.Ich nehme an, dass ich für das gesamte Haus spreche,wenn ich all den Kolleginnen und Kollegen, denen wirgerade verantwortungsvolle Aufgaben übertragen haben,im Übrigen immer einstimmig, viel Erfolg in ihrer Ar-beit wünsche.
Bevor wir in der Tagesordnung fortfahren, gebe ichIhnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführernermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmungbekannt: abgegebene Stimmen 599. Mit Ja haben498 Kolleginnen und Kollegen gestimmt, mit Nein ha-ben 84 Kolleginnen und Kollegen gestimmt, und es gab17 Enthaltungen. Die Beschlussempfehlung ist ange-nommen.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 599;davonja: 498nein: 84enthalten: 17JaCDU/CSUStephan AlbaniKatrin AlbsteigerPeter AltmaierArtur AuernhammerDorothee BärThomas BareißJulia BartzGünter BaumannMaik BeermannManfred Behrens
Veronika BellmannSybille BenningDr. Andre BergheggerDr. Christoph BergnerUte BertramPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexandra Dinges-DierigAlexander DobrindtMichael DonthThomas DörflingerMarie-Luise Dött
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1278 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Vizepräsidentin Petra Pau
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Hansjörg DurzJutta EckenbachDr. Bernd FabritiusHermann FärberUwe FeilerDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachDirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachThorsten FreiDr. Astrid FreudensteinDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Thomas GebhartAlois GerigEberhard GiengerCemile GiousoufJosef GöppelReinhard GrindelUrsula Groden-KranichHermann GröheKlaus-Dieter GröhlerMichael Grosse-BrömerAstrid GrotelüschenMarkus GrübelManfred GrundOliver GrundmannMonika GrüttersFritz GüntzlerDr. Herlind GundelachChristian HaaseFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtMatthias HauerMark HauptmannDr. Stefan HeckDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilFrank Heinrich
Mark HelfrichJörg HellmuthRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingPeter HintzeChristian HirteRobert HochbaumAlexander HoffmannKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampDr. Hendrik HoppenstedtMargaret HorbBettina HornhuesCharles M. HuberAnette HübingerHubert HüppeErich IrlstorferThomas JarzombekSylvia JörrißenDr. Franz Josef JungAndreas Jung
Xaver JungDr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterSteffen KanitzAlois KarlAnja KarliczekBernhard KasterVolker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterDr. Georg KippelsVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenCarsten KörberMarkus KoobKordula KovacMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Roy KühneGünter LachUwe LagoskyDr. Karl A. LamersAndreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeBarbara LanzingerDr. Silke LaunertPaul LehriederDr. Katja LeikertDr. Philipp LengsfeldDr. Andreas LenzPhilipp Graf LerchenfeldDr. Ursula von der LeyenAntje LeziusIngbert LiebingMatthias LietzAndrea LindholzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsWilfried LorenzDr. Claudia Lücking-MichelDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigKarin MaagYvonne MagwasThomas MahlbergDr. Thomas de MaizièreGisela ManderlaMatern von MarschallHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Reiner MeierDr. Michael MeisterDr. Angela MerkelJan MetzlerMaria MichalkDr. h.c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtKarsten MöringMarlene MortlerElisabeth MotschmannDr. Gerd MüllerCarsten Müller
Stefan Müller
Dr. Philipp MurmannDr. Andreas NickMichaela NollHelmut NowakDr. Georg NüßleinWilfried OellersFlorian OßnerDr. Tim OstermannHenning OtteIngrid PahlmannSylvia PantelMartin PatzeltDr. Martin PätzoldUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferRonald PofallaEckhard PolsThomas RachelKerstin RadomskiAlexander RadwanAlois RainerDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche
Lothar RiebsamenJosef RiefDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenErwin RüddelAlbert RupprechtAnita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleDr. Annette SchavanAndreas ScheuerKarl SchiewerlingJana SchimkeTankred SchipanskiHeiko SchmelzleGabriele Schmidt
Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön
Dr. Ole SchröderDr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-DrüggelteDr. Klaus-Peter SchulzeUwe Schummer
Christina SchwarzerDetlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerTino SorgeJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelDr. Wolfgang StefingerAlbert StegemannPeter SteinErika SteinbachSebastian SteinekeJohannes SteinigerChristian Freiherr von StettenDieter StierRita StockhofeGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerMatthäus StreblKarin StrenzThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenDr. Sabine Sütterlin-WaackDr. Peter TauberAntje TillmannAstrid Timmermann-FechterDr. Hans-Peter UhlDr. Volker UllrichArnold VaatzOswin VeithThomas ViesehonMichael VietzVolkmar Vogel
Sven VolmeringChristel Voßbeck-KayserKees de VriesDr. Johann WadephulMarco WanderwitzNina WarkenKai WegnerAlbert WeilerMarcus Weinberg
Dr. Anja WeisgerberPeter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannMarian WendtKai WhittakerPeter WichtelAnnette Widmann-MauzHeinz Wiese
Klaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerOliver WittkeDagmar G. WöhrlBarbara WoltmannTobias ZechHeinrich ZertikEmmi ZeulnerDr. Matthias ZimmerGudrun Zollner
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1279
Vizepräsidentin Petra Pau
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SPDNiels AnnenIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeike BaehrensUlrike BahrHeinz-Joachim BarchmannDr. Katarina BarleyDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsDr. Matthias BartkeSören BartolDirk BeckerUwe BeckmeyerLothar Binding
Burkhard BlienertDr. Karl-Heinz BrunnerEdelgard BulmahnMartin BurkertDr. Lars CastellucciPetra CroneBernhard DaldrupDr. Daniela De RidderDr. Karamba DiabySabine DittmarMartin DörmannElvira Drobinski-WeißSiegmund EhrmannMichaela Engelmeier-HeiteDr. h.c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerSaskia EskenKarin Evers-MeyerDr. Johannes FechnerDr. Fritz FelgentreuElke FernerChristian FlisekGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagMichael GerdesMartin GersterIris GleickeUlrike GottschalckKerstin GrieseUli GrötschGabriele GronebergBettina HagedornRita Hagl-KehlMetin HakverdiUlrich HampelSebastian HartmannMichael Hartmann
Dirk HeidenblutHubertus Heil
Gabriela HeinrichMarcus HeldWolfgang HellmichDr. Barbara HendricksHeidtrud HennGustav HerzogThomas HitschlerDr. Eva HöglMatthias IlgenChristina JantzFrank JungeJosip JuratovicThomas JurkOliver KaczmarekJohannes KahrsChristina KampmannRalf KapschackGabriele KatzmarekUlrich KelberMarina KermerArno KlareLars KlingbeilDr. Bärbel KoflerBirgit KömpelAnette KrammeDr. Hans-Ulrich KrügerHelga Kühn-MengelChristine LambrechtChristian Lange
Steffen-Claudio LemmeGabriele Lösekrug-MöllerHiltrud LotzeKirsten LühmannCaren MarksKatja MastDr. Matthias MierschKlaus MindrupSusanne MittagBettina MüllerMichelle MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanUlli NissenThomas OppermannMahmut Özdemir
Aydan ÖzoguzJeannine PflugradtDetlev PilgerSabine PoschmannJoachim PoßFlorian PostFlorian PronoldDr. Sascha RaabeDr. Simone RaatzMartin RabanusMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannAndreas RimkusDennis RohdeDr. Martin RosemannRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Bernd RützelJohann SaathoffAnnette SawadeDr. Hans-JoachimSchabedothDr. Nina ScheerMarianne Schieder
Udo SchiefnerDr. Dorothee SchlegelUlla Schmidt
Matthias Schmidt
Carsten Schneider
Ursula SchulteSwen Schulz
Frank SchwabeStefan SchwartzeAndreas SchwarzRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingRainer SpieringNorbert SpinrathSvenja StadlerMartina Stamm-FibichPeer SteinbrückChristoph SträsserClaudia TausendMichael ThewsFranz ThönnesWolfgang TiefenseeCarsten TrägerUte VogtDirk VöpelGabi WeberBernd WestphalAndrea WickleinDirk WieseGülistan YükselDagmar ZieglerStefan ZierkeDr. Jens ZimmermannManfred ZöllmerBrigitte ZypriesBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENLuise AmtsbergKerstin AndreaeAnnalena BaerbockVolker Beck
Ekin DeligözDr. Thomas GambkeKai GehringKatrin Göring-EckardtAnja HajdukBritta HaßelmannDr. Anton HofreiterDieter JanecekTom KoenigsOliver KrischerStephan Kühn
Renate KünastMarkus KurthSteffi LemkeDr. Tobias LindnerDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffCem ÖzdemirBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Manuel SarrazinElisabeth ScharfenbergDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtKordula Schulz-AscheMarkus TresselJürgen TrittinDoris WagnerDr. Valerie WilmsNeinCDU/CSUNorbert SchindlerSPDKlaus BarthelBärbel BasMarco BülowDr. Ute Finckh-KrämerMichael GroßWolfgang GunkelGabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Cansel KiziltepeDaniela KolbeHilde MattheisChristian PetryDr. Wilhelm PriesmeierKerstin TackRüdiger VeitWaltraud Wolff
DIE LINKEDr. Dietmar BartschKarin BinderMatthias W. BirkwaldHeidrun BluhmChristine BuchholzEva Bulling-SchröterRoland ClausDr. Diether DehmKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeDiana GolzeAnnette GrothDr. Gregor GysiDr. Andre HahnDr. Rosemarie HeinHeike HänselInge HögerAndrej HunkoSigrid HupachUlla JelpkeSusanna KarawanskijKerstin KassnerKatja KippingJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichDr. Gesine LötzschThomas LutzeCornelia MöhringNiema MovassatDr. Alexander S. NeuThomas NordPetra PauHarald Petzold
Richard PitterleMartina Renner
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1280 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Vizepräsidentin Petra Pau
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Dr. Petra SitteKersten SteinkeDr. Kirsten TackmannAzize TankFrank TempelDr. Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerDr. Sahra WagenknechtHalina WawzyniakKatrin WernerBirgit WöllertJörn WunderlichHubertus ZdebelPia ZimmermannBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENSylvia Kotting-UhlChristian Kühn
Monika LazarPeter MeiwaldBeate Müller-GemmekeLisa PausCorinna RüfferDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeEnthaltenSPDSönke RixEwald SchurerSonja SteffenBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENAgnieszka BruggerKatja DörnerKatharina DrögeHarald EbnerMatthias GastelBärbel HöhnUwe KekeritzKatja KeulSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkIrene MihalicÖzcan MutluUlle SchauwsDr. Julia Verlinden
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENHaltung der Bundesregierung bei der Zulas-sung der Genmaislinie 1507 und zur Sicher-stellung der Wahlfreiheit in Bezug auf gen-technikfreie LebensmittelIch eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeHarald Ebner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Vorab herzliche Glückwünsche an unseren neuen Minis-ter Schmidt! – Er ist nicht da.Was für ein Start der Großen Koalition! Nach rekord-verdächtigen 59 Tagen ist der erste Minister weg, und inder letzten Woche hat sie schon die erste historischeChance verpasst, in Europa eine Ablehnung der Gen-technik zu erreichen.
Verpasst! Versemmelt! Auf Ihre Kappe geht es, wenn imnächsten Jahr gentechnisch veränderter Mais auf unserenÄckern wächst. Es ist kurios, wie Sie sich jetzt herausre-den wollen. Sie tun so, als ob Ihr Abstimmungsverhal-ten im Rat in Brüssel keine Rolle gespielt hätte. Das Er-gebnis lehrt uns anderes. 19 von 28 Staaten haben gegendie Zulassung gestimmt. Das ist eine überwältigendeMehrheit. Nur 50 Stimmen haben gefehlt, davon 29 vonDeutschland. Die Bundeskanzlerin war doch bei denCO2-Grenzwerten für Pkw auch nicht zimperlich,Deutschlands Gewicht in die Waagschale zu werfen.Aber hier hat sie die Hände in den Schoß gelegt, um siehinterher in Unschuld zu waschen. Das lassen Ihnen dieMenschen in diesem Land nicht durchgehen.
Gänzlich unbeschwert kommt jetzt die CSU daher.Ich zitiere:Die CSU sagt klipp und klar Nein zu den Genmais-Beschlüssen der EU. … Bayern muss frei bleibenvon Gentechnik. … Was auf unseren Äckern undFeldern angebaut wird, bestimmen wir selbst undnicht EU-Bürokraten …
So der Bayernkurier am Samstag.Wo sind wir denn? Sind wir bei Grimms Märchen?Wollen Sie Ihre Kanzlerin jetzt als EU-Bürokratin ab-kanzeln? Sie ist doch für die Zulassung verantwortlich.
Statt wie bei Ausländermaut und Flüchtlingen Eu-ropa-Bashing zu betreiben, hätten Sie doch jetzt zu IhrerVerantwortung stehen und mit Ihrem Lieblingskoali-tionspartner SPD einen Beschluss gegen den Genmaisherbeiführen müssen.
In Brüssel dafür, in Bayern dagegen: Das ist doch nurnoch peinlich.
Bevor Sie weiter Sprüche à la „in Bayern nicht“ klop-fen, schenken Sie den Menschen doch reinen Wein ein.Für regionale Anbauverbote gibt es doch überhauptkeine Rechtsgrundlage. Sie gackern über ungelegten Ei-ern.Aber es kommt noch besser: Für ein nationales An-bauverbot wollen ja weder der CSU-Agrarminister nochdie SPD-geführten Ministerien – Wirtschaftsministe-rium, Umweltministerium – die notwendigen Daten er-heben. Ihnen reicht die Bewertung der EFSA. Was dennjetzt? Sie sind gegen die Zulassung, aber für die EFSA-Bewertung. Wer soll denn das jetzt glauben?Schauen wir einmal auf die Fakten. Pollen der Gen-maislinie 1507 sind 350-mal giftiger als die des VettersMON 810, der unter Kanzlerin Merkel wegen Risikenfür die Umwelt verboten worden ist. Sogar die gentech-nikfreundliche EFSA hat Auflagen zum Schutz von Na-turschutzgebieten und Schmetterlingen gefordert. Diefehlen im Zulassungsvorschlag der Kommission. DasBundesamt für Naturschutz stellt fest: Es gibt keine aus-reichende Risikoprüfung, es gibt kein ausreichendes Ri-sikomanagement. Von der Glufosinattoleranz will ich
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1281
Harald Ebner
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noch gar nicht reden. Und Sie wollen den Menschenweismachen, alles wäre in Ordnung?
Statt die eigene Fachbehörde zu ignorieren und dieZulassung durchzuwinken, hätte die Bundesregierung inBrüssel entschlossen mit Nein stimmen müssen. Das istdas, was die Menschen von Ihnen erwartet hätten.
Wer braucht denn den Merkel-Mais? „Report Mün-chen“ brachte es am Dienstag auf den Punkt. Hinter denHeilsversprechen der Gentechlobby steckt genau: nichts.Die Wirksamkeit gegen Maisschädlinge ist in Brasilienschon nach zwei Jahren dahin. Dort werden mehr Pesti-zide eingesetzt, nicht weniger. Jahr für Jahr steigt dieAnwendung. Was nutzt denn der ganze Zirkus? Dasbraucht kein Mensch.
Wir brauchen nicht noch mehr industriellen Maisan-bau in Europa. Wir brauchen vernünftige Fruchtfolgenund Alternativen zum chemischen Pflanzenschutz.Glaubt die Kanzlerin denn ernsthaft an die Märchen derGentechlobby von höheren Erträgen und trockentoleran-ten Wunderpflanzen? Nach 20 Jahren Gentechanbauherrscht hier völlige Fehlanzeige. Wir haben genug nor-mal gezüchtete Maissorten am Markt, die trockentole-rant sind, aber nur eine einzige gentechnisch veränderte.Wenn Sie also wirklich etwas für die Welternährung tunwollen, dann kümmern Sie sich um die Umsetzung desTAB-Berichts zur Welternährungsforschung und desWeltagrarberichtes.
Die Abstimmung im Rat haben Sie jetzt verbockt.Wir wollen für alle in diesem Land die Wahlfreiheit, sichauch künftig für gentechnikfreie Produkte entscheidenzu können. Da geht es demnächst auch um die Kenn-zeichnungspflicht für gentechnisch veränderten Honig.Wir erwarten von Ihnen die Prüfung der Möglichkeiteneiner Klage gegen die Zulassung von Genmais, denSchutz der Honigrichtlinie vor Aufweichung und dieAussetzung der Verhandlungen zum Freihandelsabkom-men zwischen EU und USA, weil mit diesem Abkom-men die europäischen Gentechnikstandards umgangenwerden könnten. Damit können Sie etwas für die Gen-technikfreiheit und für die Wahlfreiheit in Europa tun.Danke schön.
Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin
Dr. Maria Flachsbarth.
D
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf der Ta-gung des Rates für Allgemeine Angelegenheiten am11. Februar, also in der letzten Woche, wurde der Vor-schlag der Europäischen Kommission zur Anbauzulas-sung für die gentechnisch veränderte Maislinie 1507 er-örtert. Da der Ministerrat am 11. Februar mangelsformaler Abstimmung keine Stellungnahme abgegebenhat, liegt die endgültige Entscheidung über die Anbauzu-lassung nun in den Händen der Europäischen Kommis-sion. Deutschland hat sich im Rat für Allgemeine Ange-legenheiten aufgrund unterschiedlicher Auffassungeninnerhalb der Bundesregierung der Stimme enthalten.Viele Verbraucherinnen und Verbraucher, aber auchLandwirte in unserem Land verbinden mit einem Anbauder gentechnisch veränderten Maislinie 1507 wesentlichmehr Sorgen als die Hoffnung auf einen möglichen Nut-zen. Diese Sorgen nimmt die Bundesregierung sehrernst.
Auf der anderen Seite, liebe Kollegen von den Grünen,ist zu berücksichtigen, dass sich die EU-Kommission beiihrem Vorschlag auf insgesamt sechs Stellungnahmender Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit,also der EFSA, stützen kann, wonach im Ergebnis derAnbau der gentechnisch veränderten Maislinie 1507keine höheren Risiken für die Umwelt zur Folge hat alsder Anbau von herkömmlichem Mais.
Außerdem wurde in den Beratungen darauf hingewie-sen, dass es in der EU bereits rund 30 gentechnisch ver-änderte Maislinien gibt, die eine Zulassung als Lebens-und Futtermittel haben, darunter eben auch diese Maisli-nie 1507, die 2005 als Futtermittel und 2006 als Lebens-mittel zugelassen worden ist.
Eine erforderliche Mehrheit gegen die Anbauzulas-sung der Maislinie 1507 ist dann im Rahmen des im Ratfür Allgemeine Angelegenheiten unter den Mitgliedstaa-ten eingeholten Meinungsbildes nicht zustande gekom-men. Sie wäre übrigens auch nicht zustande gekommen,lieber Herr Kollege Ebner, wenn Deutschland gegen dieZulassung votiert hätte.
Es ist nun vielmehr davon auszugehen, dass die Kom-mission den Vorschlag zur Zulassung des Anbaus dieser
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1282 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Parl. Staatssekretärin Dr. Maria Flachsbarth
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Maislinie veröffentlicht. Dabei bleibt abzuwarten, wanndas definitiv passieren wird.
Unser Haus, das Bundesministerium für Ernährungund Landwirtschaft, geht davon aus, dass aufgrund derzeitlichen Verläufe der Mais in dieser Legislaturperiodeganz sicher nicht mehr angebaut werden wird.
Ein möglicher Anbau würde dann 2015 – das wissenSie – auf sehr restriktive Haftungsregeln des Gentech-nikgesetzes in Deutschland treffen, die wir hier aus gu-tem Grund miteinander verabschiedet haben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Bundes-regierung tritt für eine EU-Kennzeichnungspflicht fürProdukte von Tieren ein, die mit gentechnisch veränder-ten Pflanzen gefüttert werden. Das haben die Regie-rungsparteien, also die Unionsparteien und die SPD, imKoalitionsvertrag miteinander vereinbart. Darüber hi-naus hat die Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertragfestgeschrieben, dass an der Nulltoleranz gegenübernichtzugelassenen gentechnisch veränderten Bestandtei-len in Lebensmitteln und an der Saatgutreinheit selbst-verständlich festgehalten wird.
Die derzeit geltenden gemeinschaftsrechtlichenKennzeichnungsregelungen gehen nach der Auffassungder Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen abernicht weit genug. Denn danach erfolgt der Schutz derRechte der Verbraucher durch die nach EU-Recht gel-tende Zulassungspflicht sowie durch die daneben beste-hende Kennzeichnungspflicht von Futter- und Lebens-mitteln, die aus gentechnisch veränderten Organismenentweder direkt hergestellt werden, diese enthalten oderaus diesen bestehen.Ausgenommen von der Kennzeichnungspflicht sindFutter- und Lebensmittel – das ist wahrscheinlich be-kannt –, deren gentechnisch veränderter Anteil zufälligoder aber technisch unvermeidbar und nicht höher als0,9 Prozent ist. Diese Ausnahmen gelten selbstverständ-lich nur für solche gentechnisch veränderten Organis-men, die auf europäischer Ebene zugelassen sind und so-mit kein Sicherheitsrisiko darstellen.Die Bundesregierung ist der Auffassung, dass Milch-und Fleischprodukte von Tieren, die mit gentechnischveränderten Futtermitteln gefüttert wurden, ebenfalls ge-kennzeichnet werden müssen.
Eine solche umfassende Positivkennzeichnung würdeeine vollständige Verbrauchertransparenz im Hinblickauf die Verwendung von Gentechnik in der Lebensmit-telproduktion bewirken.Um bereits vor der Einführung einer solchen umfas-senden Kennzeichnung auf europäischer Ebene – Siewissen, wie lange das dauern kann – mehr Klarheit überdie Verwendung von Gentechnik in der Lebensmittelpro-duktion zu schaffen, ist in Deutschland schon am 1. Mai2008, also nunmehr vor sechs Jahren, die nationale Re-gelung mit der freiwilligen „Ohne Gentechnik“-Kenn-zeichnung in Kraft getreten. Diese Kennzeichnung er-möglicht Verbraucherinnen und Verbrauchern, sichdurch ihre Kaufentscheidung für Produkte mit dem„Ohne Gentechnik“-Siegel gezielt gegen den Anbau undgegen die Verwendung gentechnisch veränderter Nutz-pflanzen als Lebensmittel oder Futtermittel aussprechenzu können.
Zur Erhöhung von Transparenz und Information undzur Stärkung der Wahlfreiheit unterstützen die Bundes-regierung und insbesondere mein Haus, das Bundes-ministerium für Ernährung und Landwirtschaft, deshalbdie breitere Anwendung der „Ohne Gentechnik“-Kenn-zeichnung.Herzlichen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Dr. Kirsten Tackmann das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Gäste! Meine Damen und Herren von der Union,ich verstehe Ihren Phantomschmerz bei diesem Thema.Ich glaube, dass Sie gerade in dieser Debatte die FDPschmerzlich vermissen. Aber die Kanzlerin tritt ja diesespolitische Erbe an, wie wir aus gut unterrichteten Krei-sen vernommen haben. Zu dumm nur, dass mit der deut-schen Enthaltung in Brüssel der Koalitionsvertrag schongebrochen ist, kaum dass die Tinte richtig trocken ist.Die Demontage des Agrarministers hat auch gleich statt-gefunden, der ja explizit gegen die Zulassung desMais 1507 war.Schlimmer ist aber, dass sich damit Deutschland inder EU isoliert. 19 Mitgliedstaaten haben die Anbauzu-lassung abgelehnt, nur fünf waren dafür, darunterSchweden und Finnland, deren Maisanbau, wie man sa-gen muss, ein sehr übersichtliches Ausmaß hat.Schade, dass das Zulassungsverfahren für diesenMais noch nach den vor den Lissabonner Verträgen gel-tenden Regularien stattfindet. Danach kann die EU-Kommission noch allein entscheiden, weil keine Zwei-drittelmehrheit der Stimmen der Mitgliedstaaten gegen
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1283
Dr. Kirsten Tackmann
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die Zulassung gegeben ist. Nach den neuen LissabonnerRegeln müsste der EU-Agrarrat, also alle Landwirt-schaftsminister der Mitgliedstaaten, mit EU-Parlamentund unter Vermittlung der EU-Kommission in einen so-genannten Trilog treten. Das ist ein kleiner, wenn auchdurchaus wichtiger demokratischer Fortschritt, zumaldas EU-Parlament gerade klar gefordert hat, alle Zulas-sungsanträge für Genmais oder für gentechnisch verän-derte Pflanzen auf Eis zu legen. Diese Position teilen wirvon den Linken vollständig.
Das Brüsseler Abstimmungsergebnis zeigt vor allenDingen drei Dinge:Erstens. Es geht gar nicht um diesen Mais. DessenZulassung soll vielmehr der Türöffner sein für siebenweitere Anbauzulassungen, die noch in der Pipelinesind. Das muss verhindert werden.
Zweitens. Deutschland hat mit seiner Enthaltung dieAnbauzulassung erst ermöglicht. Deutschlands Nein al-lein hätte keine qualifizierte Mehrheit dagegen bedeutet,aber die Kanzlerin – sie ist auch sonst nicht so beschei-den – hat doch politisches Gewicht in Europa und in derWelt. Deshalb wäre es ein starkes Signal gewesen, wennDeutschland Nein gesagt hätte.
Dies gilt übrigens auch für das Freihandelsabkommenmit den USA. Vielleicht war gerade dieses Signal nichtgewollt. Genau das ist inakzeptabel.
Drittens. Gerade weil das EU-Parlament künftig einMitspracherecht hat, sage ich für die Linke: Augen aufbei der EU-Wahl!
Die Befürworter der Gentechnik und ihre Freundevon der CDU behaupten, die Agrogentechnikgegnerin-nen und -gegner hätten keine Ahnung und seien ideo-logisch so verblendet, dass sie die Beglückungen derAgrogentechnik nicht erkennen würden. Deswegen re-den wir doch einmal Klartext. Der Mais 1507 macht dieKritik übrigens besonders leicht. Selbst viele Länderag-rarminister haben die Gefolgschaft verweigert. Der Mais1507 hat gleich zwei gentechnische Veränderungen:Zum einen ist er resistent gegen den Unkrautvernich-ter Glufosinat. Wozu ist das gut? Man kann mit Glufosi-nat alle Pflanzen auf dem Acker totspritzen. Nur dergentechnisch veränderte Mais kann auf diesem Ackerwachsen. Ich finde das gruselig. Aber es kommt nochviel absurder: Glufosinat ist schon seit November 2013in Deutschland für den Maisanbau und ab 2017 in dergesamten EU verboten, weil es so giftig ist. Wer braucht– außer Pioneer – einen solchen Mais?Zum anderen produziert der Mais ein Bakterientoxin,das die Raupen des Maiszünslers abtöten soll. Das ist soähnlich, als ob man eine Kuh genetisch verändert, damitsie ihr eigenes Antibiotikum produziert. Das ist absurdund unverantwortlich.
Aber es geht noch absurder. Ein ähnliches Toxin pro-duziert der Mais MON 810 – Herr Ebner hat gerade da-rauf hingewiesen –, dessen Anbau die Bundesregierungaus gutem Grund längst verboten hat. Das Gift wirktnicht nur gegen den Maiszünsler, sondern auch gegennützliche Insekten. Mais 1507 produziert aber noch sehrviel mehr Bakterientoxin. Deswegen ist es völlig lo-gisch, dass man den Anbau dieser Maislinie jetzt ab-lehnt. Report München hat am vergangenen Dienstagsehr eindrucksvoll berichtet, dass in Brasilien wenigeJahre nach der Anwendung von Mais 1507 Resistenzenaufgetreten sind. Auch hier wieder: Wer braucht diesenMais außer Pioneer?Abschließend noch zur Behauptung, die Wissenschafthabe alles geprüft und hielte das für unbedenklich. Esgibt seit Jahren massive Kritik am Zulassungsverfahren.Um nur die Hauptdefizite zu nennen: Es fehlen Lang-zeituntersuchungen und unabhängige Studien. Es fehltTransparenz im Verfahren. Es fehlen Folgeabschätzun-gen für die gentechnikfreie Land- und Lebensmittelwirt-schaft. Aber auch diese Defizite sind noch nicht alles.Die zuständige Europäische Behörde für Lebensmittelsi-cherheit, EFSA, steht unter dem klaren Verdacht, zugroße Nähe zur Gentechniklobby zu haben. Also: Ge-prüft und für gut befunden? Das ist absurd.Für die Linke sage ich ganz klar: Wir haben die Bun-desregierung agrogentechnisch geprüft, aber nicht fürgut befunden.Vielen Dank.
Die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß hat für die SPD-
Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer auf den Tribünen!Ich gehe jetzt nicht auf die Haltung der Bundesregierungein. Mir ist es wichtig, etwas zur Wahlfreiheit der Ver-braucherinnen und Verbraucher zu sagen. Die FrauStaatssekretärin hat dieses Thema bereits gestreift.Ich denke, es ist wichtig, dass wir zu einer sachdienli-chen Arbeit zusammenfinden, an deren Ende Lösungenstehen, von denen die Verbraucherinnen und Verbrau-cher auch profitieren. Es muss jetzt darum gehen, dafürzu sorgen, dass hier kein gentechnisch veränderter Maisangebaut wird. Es ist schon gesagt worden: In diesemJahr wird der Mais 1507 nicht mehr angebaut.
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1284 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Elvira Drobinski-Weiß
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Aber wir müssen die Zeit nutzen, damit wir rechtzeitigzur nächsten Aussaat eine rechtssichere Regelung haben.Zum Thema Opt-out und regionale Anbauverbote istin der Presse viel zu lesen. Eine Ausstiegsmöglichkeitfür einzelne Mitgliedstaaten ist aber immer nur diezweitbeste Lösung;
Denn die GVO-Verunreinigungen machen nicht an derLandesgrenze halt. Deshalb müssen wir uns auch weiter-hin auf EU-Ebene für die Verbraucherinnen und Ver-braucher einsetzen, die nicht nur in Deutschland, son-dern in der ganzen EU mehrheitlich die Agrogentechnikablehnen.Wir sollten auch aufpassen, dass da keine Missver-ständnisse entstehen. Auf EU-Ebene liegt aktuell einVorschlag für eine Opt-out-Regelung vor. Er ist aus un-serer Sicht indiskutabel. Denn er sieht vor, dass Mit-gliedstaaten, die keinen GVO-Anbau wollen, mit demUnternehmen, das den Antrag auf Zulassung einer Sortegestellt hat, darüber verhandeln. Ich denke doch, da sindwir alle uns einig: Das wollen wir nicht.
Eine Regierung darf doch nicht vom Entgegenkommeneines Unternehmens abhängig sein.
Das entspricht nicht unseren Vorstellungen von Souverä-nität und Demokratie. Aus guten Gründen hat deshalbauch die schwarz-gelbe Vorgängerregierung diese Rege-lung abgelehnt.
– Bitte hören Sie zu.
Der Ausgang solcher Verhandlungen ist absehbar;schließlich beantragt das Unternehmen ja gerade die Zu-lassung auf EU-Ebene, damit das Produkt auch angebautwerden kann. Ohne Gegenleistung geht da also garnichts. Eine mögliche Gegenleistung könnte dann dieZustimmung der Regierung zur Zulassung auf EU-Ebene sein. Wollen Sie das? – Ich denke, das müssen wirablehnen.
Wenn wir eine Opt-out-Lösung, also eine Ausstiegs-klausel wollen, dann sollte sich diese an den am 5. Juli2011 vom Europäischen Parlament mit großer Mehrheitangenommenen Vorschlägen orientieren. Denn darin hatdas Europäische Parlament die Vorlage für eine rechtssi-chere Begründung von Anbauverboten in einzelnen Mit-gliedstaaten geliefert.Eine andere Stellschraube bei der Sicherung derWahlfreiheit ist Transparenz. Die bekommt man als Ver-braucherin oder Verbraucher aber nur, wenn man beimLebensmittelkauf selbst erkennen kann, ob ein ProduktGVO-verändert ist oder nicht. Wir, CDU, CSU und SPD,haben uns im Koalitionsvertrag darauf geeinigt, dass wirfür eine EU-weite Kennzeichnungspflicht für Produktevon Tieren sind, die mit genveränderten Pflanzen gefüt-tert worden sind; die Staatssekretärin hat es auch schonerwähnt. Ich finde, das muss jetzt aktiv angegangen wer-den.
Denn wo landet der gentechnisch veränderte Mais? Na,klar: im Futtertrog. Aber leider können wir das nicht er-kennen, wenn wir die Produkte kaufen; denn bei Milch,Eiern, Käse, Fleisch oder daraus gefertigten Produktenmuss nicht angegeben werden, dass bei der Fütterungder Tiere GVO-veränderte Pflanzen verwendet wordensind.Sie kennen die Umfragen, nach denen die Mehrheitder Bevölkerung GVO-Pflanzen ablehnt, auf dem Ackerwie auch auf dem Teller. Ich finde, die Verbraucher sol-len beim Einkauf endlich selbst entscheiden können, wassie kaufen wollen. Das können wir nur mit einer entspre-chenden Kennzeichnung erreichen. Dafür setzen wir,CDU/CSU und SPD, uns gemeinsam ein.
Das wird die Bundesregierung auf EU-Ebene angehen.Vielen Dank.
Gratulation zur Punktlandung! Das muss man heute
wirklich vermerken. – Das Wort hat der Kollege Oliver
Krischer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich finde, es ist wichtig, hier in der Debatte einmal zu sa-gen, dass es ein Riesenerfolg ist, dass Deutschland freivon Agrogentechnik ist.
Diesen Erfolg, meine Damen und Herren, gäbe es nichtohne das Gentechnikgesetz, ohne das von Renate Künastgeschaffene Standortregister. Das ist die Grundlage da-für, dass wir in diesem Land keine Agrogentechnik ha-ben.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1285
Oliver Krischer
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Ich freue mich, dass das, was Grüne vor zehn Jahren ver-treten haben, in der Politik inzwischen weitgehenderKonsens ist.Wenn man einmal in die Wahlprogramme, in die Re-gierungsprogramme schaut, dann muss man zur Kennt-nis nehmen: Viereinhalb von fünf Parteien in diesemHaus wollen keine Gentechnik, wollen keine Agrogen-technik. Im Koalitionsvertrag findet sich eine eindeutigeAussage dazu. Man kann sie nur so verstehen, dass Sieselbstverständlich nichts zulassen wollen.Jetzt passiert aber das Verrückte: Deutschland enthältsich in Brüssel bei der Abstimmung über den Genmais1507 und ermöglicht so seine Zulassung.
Meine Damen und Herren, ich hätte erwartet, dass Siefür Mehrheiten kämpfen, dass Sie das, was in Deutsch-land Realität ist, europaweit möglich machen. Aber da-von habe ich überhaupt nichts gemerkt.
Frau Drobinski-Weiß, es ist ja schön, dass Sie hier dieKämpferin gegen Gentechnik mimen. Ich hätte mich ge-freut, wenn Sie hier so ehrlich gewesen wären wie imARD-Morgenmagazin. Dort haben Sie gesagt, wie eswirklich ist – ich zitiere –: „Die Kanzlerin will den Gen-mais.“
Damit haben Sie zugegeben, dass es völlig egal ist, wasin Wahlprogrammen, in Parteitagsbeschlüssen oder imKoalitionsvertrag steht. Am Ende zeigt Mutti, wo derHammer hängt, und am Ende entscheidet sie: Wir wollenGentechnik in Europa.
Ich kann Ihnen von CDU/CSU und SPD nur sagen: Beidiesem Thema liegen Sie flach auf dem Boden. Das istkeine Koalition, das ist Kapitulation!
Anstatt jetzt aber zuzugeben: „Ja, allen schönen Wor-ten zum Trotz haben wir das Thema versemmelt, jetztkommt die Zwangsbeglückung mit Gentechnik“, kom-men nur Ausflüchte. Jetzt sind Opt-out-Regelungen imGespräch, die es den Ländern ermöglichen sollen, sichherauszuwinden. Das ist aber keine Lösung, schon alleindeshalb nicht, weil Pollen über große Strecken durch dieLuft fliegen können und bekanntlich vor Ländergrenzenkeinen Halt machen. Sie sehen: Opt-out-Regelungenhelfen uns nicht weiter. Wir brauchen ein flächendecken-des Verbot von Gentechnik. Darum müssen Sie sichkümmern.
Die Opt-out-Regelung und all die anderen Vorhaben,die jetzt diskutiert werden, sind nicht nur von der Sacheher, sondern auch juristisch absurd. Wir wollen keinenFlickenteppich in Europa und erst recht keinen Flicken-teppich in Deutschland, der entsteht, wenn jedes Bun-desland seine eigenen Regelungen trifft. Das machtüberhaupt keinen Sinn.Dahinter steckt Prinzip. Das haben wir beim ThemaCCS schon einmal erlebt. Auch damals standen Sie unterdem Druck, Entscheidungen treffen zu müssen. Vor Orthaben Sie dann so getan, als seien Sie die größten Kriti-ker. Es wurde vereinbart, dass sich die Länder von denRegelungen verabschieden können. Juristisch ist das al-les wackelig. Bei der Gentechnik wird es am Ende auchso sein: Es braucht nur einer zu klagen, dann kippen dieRegelungen. Dann haben Sie mit Zitronen gehandelt unddem Schutz der Verbraucher vor Gentechnik einen abso-luten Bärendienst erwiesen.
Das Thema setzt sich fort. Es geht nicht nur um Gen-mais 1507. Demnächst müssen wir darüber abstimmen,wie Honig gekennzeichnet werden soll. Es stellt sich dieFrage: Gibt es die Möglichkeit, klar zu kennzeichnen,dass eine Honigsorte aus Pollen von gentechnisch verän-derten Pflanzen hergestellt wird? Auch hier muss ich da-von ausgehen, dass Sie wieder umfallen werden.Ich mache mir die allergrößten Sorgen, wenn ich andas Freihandelsabkommen denke. Wenn Sie mit dieserPosition und unter dem Druck, den die Kanzlerin ausübt,verhandeln, dann wird am Ende durch das Freihandels-abkommen der Gentechnik die Tür nach Europa geöff-net. Aber dagegen werden wir mit allem Nachdruckkämpfen.
Ich sage Ihnen zum Schluss: Weder die Menschen inunserem Land noch die Menschen in Europa wollenAgrogentechnik auf ihren Tellern. Wir werden dagegenankämpfen, dass die Menschen durch den Pro-Gentech-nik-Kurs von Angela Merkel, der nun auch öffentlich sobenannt worden ist, zwangsbeglückt werden. Vielmehrsollen sie vor Gentechnik geschützt werden. Wir wollenin Deutschland weiterhin eine gentechnikfreie Landwirt-schaft und eine gentechnikfreie Ernährung.Ich danke Ihnen.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Keesde Vries das Wort.
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1286 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
(C)
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Wir sprechen heute in dieser Ak-
tuellen Stunde auf Antrag der Grünen wieder über die
Maissorte 1507, die sich vor dem Maiszünsler schützt,
dessen Raupen jedes Jahr weltweit bis zu 4 Prozent der
Maisernte zerstören. Dafür sorgt ein Gen, das aus dem
Bakterium Bacillus thuringiensis stammt, kurz: BT. Ich
gebe gerne zu: Es gibt eine Alternative. Man kann dieses
BT-Toxin, wie es übrigens im Biolandbau praktiziert
wird, auch spritzen. Dann hat man nicht das Risiko, dass
auch andere Insekten und Schmetterlinge abgetötet wer-
den.
Nebenbei bemerkt ist diese Maissorte gegen das für
Maisanbau in Europa nicht zugelassene Herbizid Glufo-
sinat resistent. Im Übrigen wird der deutsche Landwirt
diese Maissorte wegen der gesetzlich geregelten ver-
schuldensunabhängigen gesamtschuldnerischen Haf-
tung nicht anbauen können.
Damit ist klar, dass es hier im Grunde nicht um den
Mais 1507 geht. Nein, es geht um die Frage, ob wir die
Forschung an der Grünen Gentechnologie auch in Eu-
ropa fortsetzen und damit die Zukunft in eigenen Hän-
den behalten oder uns von der weltweiten Entwicklung
abkoppeln und dieses Feld anderen überlassen.
Ich spreche mich klar und deutlich dafür aus, dass wir
diese Entscheidung ausschließlich auf der Basis wissen-
schaftlicher Bewertungen treffen.
Natürlich sind dabei die Risiken von genveränderten
Organismen abzuwägen, aber auch die damit verbunde-
nen möglichen Chancen für die Landwirtschaft, die von
Einsparungen bei den Pflanzenschutzmitteln bis hin zu
sicheren Erträgen in benachteiligten Gebieten reichen.
Vielleicht können wir uns die Meinung „Wir brauchen
Grüne Gentechnik nicht!“ in Deutschland zurzeit leisten.
Aber es gibt andere Länder, auch in Europa, und es wird
andere Zeiten geben.
In der Position der Fraktion der Grünen kommen die
Ängste hinsichtlich neuer Techniken, unbekannter Pflan-
zen oder Organismen zum Ausdruck. Diese sind sehr
ernst zu nehmen, weil ein großer Teil der Bevölkerung
diese Ängste teilt. Deshalb ist es wichtig, die Emotionen
in dieser Diskussion herunterzufahren und uns auf ver-
lässliche wissenschaftliche Untersuchungen zu stützen.
Der US-Hersteller DuPont Pioneer hat 2001 die Zu-
lassung durch die Europäische Behörde für Lebensmit-
telsicherheit, EFSA, für die Maislinie 1507 beantragt.
Seitdem gab es in 2005, 2006, 2008, 2011 und 2012 Gut-
achten, die keine wissenschaftlichen Anhaltspunkte er-
gaben, dass diese Maissorte eine Gefahr für Mensch,
Tier oder Umwelt ist. Die Kommission hat aufgrund die-
ser Unbedenklichkeitsbescheinigungen dem Antrag auf
Anbau dieser Maissorte nach Maßgabe des Jahres 2012
stattzugeben. Vergessen wir aber nicht: In den letzten
zwölf Jahren hatten alle die Chance, ihre Bedenken vor-
zutragen, gehört zu werden und den Vorschlag unter al-
len Gesichtspunkten zu diskutieren. Alle Argumente
konnten in dieser Zeit ausführlich ausgetauscht werden.
Trotzdem: Es gab und gibt keine Mehrheit für und es
gab und gibt keine Mehrheit gegen den Vorschlag der
Kommission. Da es auch in unserer Koalition Meinungs-
verschiedenheiten gab, musste sich Deutschland logi-
scherweise der Stimme enthalten. Das hat übrigens auch
Ministerin Künast 2004 bei dem Mais MON 863 getan.
Lassen Sie mich zum Schluss auf Folgendes hinwei-
sen: Wenn wir die Menschen ehrlich informieren wollen
und wenn wir die auf Emotionen basierenden Ängste ab-
bauen wollen, dann brauchen wir eine lückenlose Pro-
zesskennzeichnung in der Lebensmittelproduktion, aber
das nicht nur für Produkte tierischer Herkunft. Nur so
kann jeder die Fakten erkennen, und nur so werden wir
Ängste, die gar nicht sein müssten, abbauen können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Kollege de Vries, das war Ihre erste Rede im Deut-schen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen ganz herzlich undwünsche Ihnen viel Erfolg für Ihre weitere Arbeit. Auchdas sei vermerkt – viele schaffen das nicht –: Sie sind inder vorgegebenen Redezeit geblieben.
Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter fürdie Fraktion Die Linke.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1287
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!88 Prozent der Bevölkerung hier in diesem schönenLand lehnen Lebensmittel, die genmanipuliert sind, ab.
Jetzt höre ich: Das wissen wir. – Dann frage ich Sie: Wa-rum enthalten Sie sich in Brüssel? Ich muss Ihnen vor-werfen: Sie haben sich mit daran beteiligt, Sie waren zu-mindest mit schuld, dass jetzt dieser Genmais eingeführtwird.Es gibt ja drei Parteien in der Koalition. Ich habe IhrInterview sehr genau verfolgt, in dem Sie sehr armseligsagen mussten: Wir wollten ja, aber wir durften nicht. –
Die CSU hat dann ein Flugblatt herausgebracht: KeinGenmais nach Bayern! – Das ist ja schön. Sie wissen,dass die Bayern natürlich auch gegen Genmais sind. DerCSU-Generalsekretär sagt dazu ein klares Nein. Ichfrage mich: Warum setzen Sie sich in dieser Koalitionnicht durch?
Vor der Bundestagswahl hat Horst Seehofer gesagt:Mit unserer Maut setzen wir uns durch. – Dann ging esum den Koalitionsvertrag. Da hat er wieder gesagt: Wirsetzen uns durch wie bei der Maut. – Ich frage mich:Warum setzen Sie sich nicht durch? Sie verteilen solcheFlugblätter in Bayern, geben Presseerklärungen heraus,in denen Horst Seehofer und Marcel Huber zitiert wer-den, die eigentlich alle gegen Genmais sind. Ich sage denbayerischen Wählerinnen und Wählern: Die CSU ist inder Regierung und nicht in der Opposition. – Sie machendas schon seit vielen Jahrzehnten so: Schon unter FranzJosef Strauß hat man gegen die in Bonn geschimpft,dann gegen die „Preißn“ in Berlin und so getan, als seiman nicht beteiligt. Sie sind aber an der Regierung betei-ligt.
Jetzt ist die Frage: Warum ist die CDU so dafür? Dasfragen sich ja viele. Ich habe den Eindruck: Es ist wiedereinmal ein Kotau vor den USA, ein Vorgriff auf dasTTIP-Abkommen. Wenn ich mir anschaue, was in denUSA passiert, sehe ich, dass dort ein Gesetz verabschie-det wird, welches es den Gentechnikherstellern ermög-licht, sich über gerichtlich angeordnete Verkaufsstoppsfür Saatgut hinwegzusetzen. Tolle Demokratie! Es gibtdort die FDA, die Food and Drug Administration, die fürden Schutz der öffentlichen Gesundheit zuständig ist.Wenn man einmal genauer hinschaut, merkt man, dassein Großteil der Beamten dort ehemalige Führungskräfteaus Gentechnikunternehmen sind. Das ist interessant.Die Linke hat dazu schon 2006 eine Anfrage gestellt:Auch bei uns gibt es in den Ministerien Vertreter derPharmakonzerne.Eine Recherche der Initiativen „Kein Patent auf Le-ben!“ und der „Coordination gegen BAYER-Gefahren“belegt, dass zum Beispiel Bayer, aber auch andere Kon-zerne zu den weltweit führenden Anbietern der GrünenGentechnik aufgeschlossen haben. Pioneer ist der um-satzstärkste; aber die anderen Konzerne liegen dicht da-hinter.Jetzt rede ich über Patente, die in München genehmigtwerden: Von rund 2 000 Patenten, die das EuropäischePatentamt in den letzten 20 Jahren auf transgene Pflan-zen gewährt hat, besitzt der Bayer-Konzern 206. Dabeigeht es um Mais, Weizen, Reis, Gerste, Soja, Baumwolleund sogar genmanipulierte Bäume. Bayer liegt auf Platzeins, noch vor Pioneer mit 179, BASF mit 144, Syngentamit 135 und Monsanto mit 119 Patenten. Es werden im-mer mehr. Es gibt dann zum Beispiel die Genmaus unddas Genschwein. Wir demonstrieren immer wieder dage-gen. Die Leute wollen das nicht.
Ich zitiere Ruth Tippe von „Kein Patent auf Leben!“:Bei Pestiziden und Saatgut besitzen die zehn größ-ten Agro-Unternehmen schon heute einen Marktan-teil von über 70 %. Ziel dieses Oligopols ist es, denMarkt unter sich aufzuteilen und letztlich die Er-nährungsgrundlagen der Menschheit zu kontrollie-ren. Patente auf Pflanzen und Tiere sind dabei einzentrales Hilfsmittel.Ich sage Ihnen: Die Menschen wollen das nicht. Ich binder Meinung, Sie sollten das endlich akzeptieren.
Auch wenn Sie eine Große Koalition sind und eine80-Prozent-Mehrheit haben: 88 Prozent der Menschen inDeutschland wollen das nicht. Da nutzt das, was Sie jetztalles fordern, nichts.
– Sie können mir ja eine Frage stellen, wenn Ihnen dasnicht passt. Wen bzw. welchen Konzern vertreten Sie?
Ich möchte Ihnen jetzt noch etwas vorlesen: die Ei-desformel des Bundespräsidenten, des Bundeskanzlersund der Bundesminister:Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle desdeutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren,Schaden von ihm wenden … werde.Ich sage Ihnen: Tun Sie das endlich!
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1288 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Eva Bulling-Schröter
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Einen Schaden durch Gentechnik wollen wir nicht.
Ich habe Ihnen hier einen Biomais mitgebracht. Wirwollen solchen Mais, aber nicht den, den Sie wollen –im Interesse der Konzerne, die Sie vertreten, und ihrerProfite.
Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Miersch für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir haben in dieser Frage einen offenen Dissens inner-halb der Bundesregierung.
Wir haben, Frau Kollegin Lemke, eine Erfahrung ge-macht, die auch Ihnen, glaube ich, nicht ganz fremd ist,wenn man politische Verantwortung übernimmt. Ichglaube sogar, Sie waren damals, als es um die Novellie-rung des Gentechnikrechts ging, Berichterstatterin, undich war als Sachverständiger im Deutschen Bundestag.Ich habe den Eindruck, bei den damaligen Entscheidun-gen wollten die Grünen andere Regelungen.
Aber Sie waren in Verantwortung, und Sie musstenKompromisse schließen.
– Mit der SPD. Trotzdem finde ich, wir haben ein Gen-technikrecht – eben haben Sie es noch gelobt –, das rich-tig klasse ist. Darauf können wir auch stolz sein.
Was ich sagen will, ist: Wenn man politische Verant-wortung übernimmt, dann kann man sich in bestimmtenPunkten durchsetzen. Aber es gibt eben auch Themen,bei denen man sich vielleicht nicht durchsetzen kann.Dann muss man um den besten Weg ringen, HerrHofreiter; dazu lade ich Sie ein. Denn eines steht fest:Wir haben in den Koalitionsvertrag hineingeschrieben,dass die unterzeichnenden Parteien die Vorbehalte desGroßteils der Bevölkerung gegenüber der Grünen Gen-technik anerkennen.
Ich kann nur sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen: AlsAbgeordneter des Deutschen Bundestages kann ich esnicht akzeptieren, wenn sich die Bundesregierung bei ei-ner zentralen Zulassungsfrage enthält. Das ist keine Hal-tung.
Ich glaube, dass es legitim ist, dass der Ball dann,wenn sich die Bundesregierung nicht verständigen kann,wieder beim Parlament liegt, dass wir dann offen darumringen müssen, was es für uns heißt, dass wir die Vorbe-halte anerkennen.
Ethische Fragen sind die Sternstunden des Parla-ments. Deswegen, Herr Hofreiter:
Ich lade Sie ein – das wäre meine Bitte –, dass wir ge-meinsam überlegen, wie wir eine solche Situation künf-tig verhindern können.
Ich bin fest davon überzeugt, dass von dieser BrüsselerEntscheidung ein Signal ausgehen wird und wir in dennächsten Wochen mehrere Anträge auf Zulassung be-kommen werden.
Ich möchte diese Debatte nicht vor dem Hintergrund ei-nes Antrags der Grünen, der Linken, der SPD oder derCDU/CSU führen – denn dann müssten wir alle wiederin unsere Gräben –,
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1289
Dr. Matthias Miersch
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vielmehr ist mir diese Frage so wichtig, dass ich Sie– alle zusammen – einladen möchte, Herr Ebner, ge-meinsam mit uns nach einer Lösung zu suchen. Bei denBiopatenten haben wir das zusammen geschafft.
Lassen Sie uns in den nächsten Wochen überlegen, obwir hier eine breite Debatte über die Fragen der Ethikhinbekommen, auch über die Fragestellung, die Herr deVries angesprochen hat. Ich habe dazu eine völlig andereMeinung, auch aus anwaltlicher Erfahrung: zum Bei-spiel in dem Fall, dass Landwirt gegen Landwirt steht.Ich möchte mit Ihnen gerne über eine Konsultations-pflicht reden: dass dann, wenn man sich innerhalb derBundesregierung nicht verständigen kann, das Parlamentzumindest befragt werden muss. Ich bin mir sicher: Je-der von uns hat eine Haltung, und zwar keine Enthal-tung, sondern eine klare Position: ja oder nein. Diese De-batte wünsche ich mir, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Ich bitte die Bundesregierung darüber hinaus, FrauStaatssekretärin, zu prüfen, ob die Gründe, die Ministe-rin Aigner damals bei der Maissorte MON 810 angeführthat, nicht auch jetzt zutreffen: ob die Gesundheitsrisikennicht derart massiv sind, dass man für ein nationales An-bauverbot plädieren muss.
Das Dritte, was ich mir von dieser gruppenübergrei-fenden Debatte wünsche, ist ein Diskurs darüber, wiewir die europäische Rechtsetzung zukünftig mit beein-flussen wollen.
Ich glaube, dass man über eine Opt-out-Klausel, wie siedie CSU, aber auch SPD-Agrarminister wie TillBackhaus jetzt ins Spiel bringen, zumindest debattierenmuss, wenn die Zulassung auf europäischer Ebene in dieHose gegangen ist.
Diese Debatte, Herr Ebner, wünsche ich mir. Ich glaube,wenn wir sie in diesem Haus sachlich führen, werdenwir dem großen Thema „Gentechnik in der freien Natur“gerecht.Ich lade alle ein, die Entscheidung des Bundesverfas-sungsgerichts zum Gentechnikgesetz einmal zu lesen.Ich bin mir sehr sicher: Uns allen wird bewusst, dass esähnlich wie in der Debatte über Stammzellen oder überdas Klonen um urethische Fragestellungen geht, die wirin diesem Parlament dringend diskutieren müssen, wennwir unserer Aufgabe als Abgeordnete gerecht werdenwollen. Wir können uns bei dieser wichtigen Frage nichtenthalten.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Der Kollege Artur Auernhammer hat nun für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Da-men und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Nachdem ich diesem Hohen Hause jetzt acht Jahre nichtangehört habe, mache ich heute eine Feststellung: DieSachkenntnis in manchen Redebeiträgen von den Grü-nen hat nicht zugenommen, im Gegenteil: Sie hat abge-nommen.
Im Jahre 2004/2005 hat in Deutschland flächenmäßigder größte Anbau gentechnisch veränderter Pflanzenstattgefunden. Wer war damals in der Regierungsverant-wortung, wer war damals Bundeslandwirtschaftsminis-terin? Mir fällt der Name gerade nicht ein. Vielleichtkönnen Sie mir weiterhelfen.
Ich bitte Sie, meine sehr verehrten Damen und Her-ren: Kehren wir zurück zur Sachlichkeit! Kehren wir zu-rück zum Thema: zur eigentlichen Gentechnik. Bei derGentechnik haben wir eigentlich drei Themenbereiche:Bei der sogenannten Roten Gentechnik geht es da-rum, Krankheiten zu heilen. Sicherlich ist keiner von Ih-nen dagegen, Schlaganfallpatienten, Krebskranken oderZuckerkranken zu helfen oder sie zu heilen.
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1290 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Artur Auernhammer
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Es besteht sicherlich Einigkeit in diesem Hause: Wirwollen bei der Roten Gentechnik weiterkommen.Bei der sogenannten Weißen Gentechnik müssen wirfeststellen, dass davon schon sehr viel in unseren Le-bensmitteln enthalten ist. Dass viele Verarbeitungspro-zesse durch die Weiße Gentechnik unterstützt werden,ist, glaube ich, auch bekannt.An der Grünen Gentechnik scheiden sich jetzt dieGeister. Warum? Weil es bei der Grünen Gentechnikjetzt um den Schritt raus aus dem Labor, raus aus derForschung, hin aufs freie Feld geht. Da müssen wir – da-rüber sind wir uns in diesem Hause wahrscheinlich nochnicht ganz einig – besonders achtgeben.
Wobei ich gleichzeitig sagen muss: Zulassung bedeutetnicht gleich Anbau.
Wir haben, nicht nur in Süddeutschland, eine sehr kleinstrukturierte und damit vielfältige Agrarstruktur – mitbäuerlichen Familienbetrieben – und auch sehr vielfäl-tige Vermarktungsstrukturen. Auf der Grünen Woche ha-ben wir gerade wieder erlebt, wie vielfältig unsere Land-wirtschaft in Deutschland sein kann. Diese zu erhaltenund zu fördern, ist auch Aufgabe der Politik.Vieles haben wir in Deutschland den Naturwissen-schaften zu verdanken. Wir sind ein Volk der Dichterund Denker. Wir sollten uns aber auch fragen: Müssenwir all das tun, was die Naturwissenschaften ermögli-chen? Brauchen wir in dem einen oder anderen Bereichnicht auch ethische Leitplanken? Dazu, dieses zu disku-tieren, lade ich Sie ein.
Ich selbst kann Ihnen als praktizierender Landwirtsagen, dass mir der Anbau gentechnisch veränderter Or-ganismen auf meinem Feld nichts nutzt.
Denn wenn über 80 Prozent der deutschen Bevölkerung– ob es 80 oder 85 Prozent sind, ist zweitrangig –, alsodie große Mehrheit, sagen: „Wir wollen keinen Anbaugentechnisch veränderter Pflanzen in Deutschland“,kann ich als Landwirt doch nicht etwas produzieren, wasder Verbraucher mir nicht abkaufen will.
Stellen Sie sich einmal vor: Die deutsche Automobilin-dustrie würde etwas produzieren, was niemand kaufenwill.
Ich als Landwirt stehe ja am Beginn der Wertschöp-fungskette. Das möchte ich hier auch noch betonen.Vorrangig der Landwirt und Produzent sollte für dieseArbeit honoriert werden – und nicht irgendwelche Kon-zerne, die vielleicht in Nordamerika sitzen.Lassen Sie uns deshalb gemeinsam nach Lösungensuchen, um mit der Gentechnik verantwortungsbewusstumzugehen.
Dazu zählt für mich eine wirklich umfangreiche Kenn-zeichnung aller GVO-Produkte. Hier sollten wir gemein-sam nach einer europäischen einheitlichen Kennzeich-nung suchen. Schließlich soll letztendlich derVerbraucher entscheiden dürfen, was er einkauft. Aberauch der Verzicht auf die Nutzung von Gentechnik inDeutschland gehört für mich dazu.
Die Initiativen für gentechnikfreie Anbauregionensind deshalb zu begrüßen. Ich hoffe, wir erreichen diesogenannte Opt-out-Lösung und werden in Zukunft hierin Deutschland, wie bisher auch, gentechnikfrei bleibenkönnen.
Ich lade Sie deshalb nochmals dazu ein, mit der nöti-gen Sachkompetenz gemeinsam nach Lösungen zusuchen – auch die Kolleginnen und Kollegen der Grü-nenfraktion. Es geht um das Wohl des deutschen Volkesund auch um das Wohl der deutschen Bäuerinnen undBauern.Vielen Dank.
Der Kollege René Röspel hat für die SPD-Fraktion
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Viele Jahrzehnte haben Bäuerinnen und Bauern
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1291
René Röspel
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– Ökobauern wie konventionelle Landwirte – dann,wenn der Maiszünsler ihr Maisfeld befallen hat, auf einMittel zurückgreifen können, das sich Bt-Toxin nennt.Das ist das Proteingift aus einem Bodenbakterium, dasin einer inaktiven Form ausgebracht werden kann. Wennes von den Schadinsekten aufgenommen wird, wandeltes sich im Verdauungstrakt in eine aktive Form um undführt dazu, dass der Schädling stirbt. Das nicht ver-brauchte Toxin wird über Sonnenlicht und anderes de-gradiert, also unschädlich gemacht.Das hat lange Jahre funktioniert. Irgendwann kamenkluge Wissenschaftler auf die Idee, sich zu fragen: Wiewäre es, wenn wir aus dem Bodenbakterium das Gen fürdieses Gift herausnehmen und zum Beispiel in eineMaispflanze einbauen, mit dem Vorteil, dass dieseMaispflanze dieses Gift dann ständig produziert? – Dasist in der Tat wissenschaftlich hoch spannend und funk-tioniert – jedenfalls mit unterschiedlichen Auswirkungen –,hat aber eben nicht nur Vorteile, sondern auch eine Reihevon Nachteilen:Die aktive Form dieses Giftes wird während dergesamten Vegetationsdauer permanent in der Pflanzeproduziert. Es wird nicht nur von Schadinsekten aufge-nommen, sondern auch Nützlinge – sogenannte Nicht-zielorganismen – nehmen dieses Gift auf. Dadurch, dassdas Gift permanent produziert wird, ist natürlich die Ge-fahr sehr groß, dass Resistenzen entstehen, und dieWahrscheinlichkeit dafür wird sogar immer größer.Es gibt also eine Reihe von Fragezeichen, die sich mitdieser Technologie in Verbindung bringen lassen.Herr Auernhammer, Sie haben von Wissenschaftlich-keit gesprochen. Ich nehme diesen Ball auf. – Es gibteine ganze Reihe von Studien – wir haben das in denletzten Jahren immer wieder diskutiert –, die die Un-bedenklichkeit dieses Maises bzw. dieser Technologiedarlegen. Meistens werden diese übrigens von Unterneh-men, die dahinter stehen, finanziert und sehr gut ausge-stattet. Sagen wir einmal so: Das ist mittlerweile einrecht hoher Stapel.Aber es gibt eben auch wissenschaftliche Arbeiten,die das in Zweifel ziehen, in denen Bedenken geäußertwerden, ob das unproblematisch ist, oder in denen ge-fragt wird: Was passiert eigentlich, wenn nach einer sol-chen Vegetationsperiode das Gift immer noch im Bodenvorhanden ist und nicht abgebaut wird? – Das ist viel-leicht ein etwas kleinerer Stapel, weil dies die Ergeb-nisse meist öffentlich finanzierter Forschung sind. Wirhaben in den letzten Jahren gemeinsam versucht, zu er-reichen, dass diese kritische Forschung stärker berück-sichtigt wird.Aber dann hat man eben zwei unterschiedliche wis-senschaftliche Positionen. Mir ist es noch nicht gelungen– ich beobachte die Szene relativ gut –, eine eindeutigewissenschaftliche Positionierung herauszufinden. Dannsage ich an dieser Stelle – weil es eben eine politischeEntscheidung geben muss –: Politik muss eine Entschei-dung treffen, wenn wissenschaftlich nicht eindeutig ist,was passiert.
Die SPD hat diese Entscheidung vor vielen Jahren ge-troffen, nämlich vor dem Hintergrund folgender Frage:Was passiert eigentlich, je nachdem, wie wir uns ent-scheiden? Wenn wir jetzt den Anbau zulassen und wir in20 Jahren feststellen, dass tatsächlich Probleme auftre-ten, ist es nicht mehr umkehrbar. Dann sind diese Pflan-zen „draußen“. Das wäre dann so wie bei der Atomener-gie: Wir werden zeit unseres Lebens und darüber hinausim Atomzeitalter leben.Vor diesem Hintergrund – da gebe ich MatthiasMiersch völlig recht – sage ich: Angesichts der Tatsache,dass wir hier Entscheidungen treffen müssen, bei denenes nicht möglich ist, sie in der nächsten Legislaturpe-riode oder vielleicht zwei Generationen später wiederrückgängig zu machen, hat sich die SPD – und übrigensnicht nur sie, sondern auch die Grünen und die Linken –dafür entschieden, diesen gentechnisch verändertenPflanzen in Deutschland noch keinen Raum zu geben.Diese Haltung hat eben auch Auswirkungen in derAbstimmung der SPD-geführten Ministerien innerhalbder Bundesregierung. Das Wirtschaftsministerium unterSigmar Gabriel hat bei der Zulassung des Genmaises mitNein gestimmt. Das Umweltministerium unter BarbaraHendricks hat bei der Zulassung des Genmaises mitNein gestimmt. Und das Justizministerium, auch SPD-geführt, hat ebenfalls Nein gesagt. Die Position der SPDist also ziemlich klar. Wir sind für diese Haltung auch indiesem Hause als „gentechnikfeindlich“ und „Technik-gegner“ jahrelang beschimpft worden; wie auch immer.Interessanterweise hat auch das CSU-geführte Land-wirtschaftsministerium mit Nein gestimmt, gegen dieZulassung. Ich hätte heute gerne eine Begründung dafürgehört, aber diese habe ich leider nicht vernommen.Aber immerhin: Es war ein Nein.Jetzt haben aber Kanzleramt und alle CDU-geführtenMinisterien wie das für Gesundheit und das für For-schung mit Ja gestimmt. Liebe Kolleginnen und Kolle-gen von den Grünen und von den Linken, wären Sie anunserer Stelle, wäre es genauso gekommen,
mit einer Ausnahme: Da eure Fraktionen kleiner sind,hätte es nicht aus drei Ministerien ein Nein gegeben,sondern vielleicht nur aus zwei, weil ihr nicht so vieleMinisterien gehabt hättet.
Aber am Ende ist nach der Gemeinsamen Geschäfts-ordnung der Bundesministerien auf europäischer Ebeneeine Enthaltung herausgekommen. Das finden wir sehrbedauerlich und schlecht. Ich hätte mir auch ein deutli-ches Wort der Kanzlerin im Sinne der Richtlinienkompe-tenz gewünscht: Will sie nun gentechnisch verändertePflanzen zulassen oder nicht?
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1292 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
René Röspel
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Da mogelt man sich ein bisschen durch; das muss ich sosagen.Deswegen kann ich Ihnen versprechen, dass wir unsals SPD weiterhin auf diesem Kurs bewegen und versu-chen, alles dafür zu tun, dass gentechnisch verändertePflanzen in Deutschland nicht angebaut werden.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Rita Stockhofe für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Warum beschäftigen wir uns so inten-siv und so gegensätzlich mit diesem Thema? Sicherlichtragen Umfragen wie die von Greenpeace ihren Teildazu bei. Das Resultat: 88 Prozent der deutschen Bevöl-kerung sind gegen genmanipulierte Pflanzen in unseremLand;
das haben die Kollegin von der Linken und auch anderevorhin schon erwähnt.Wie kam es zu diesem Ergebnis? Bei den Antwort-möglichkeiten gab es „Ja“, „Nein“, „Weiß nicht“. Vielevon Ihnen haben sicherlich häufiger E-Mails in IhremPostfach, in denen zur Teilnahme an solchen Umfragenaufgefordert wird. Ich weiß nicht, wie Sie sich da verhal-ten – ich antworte nur dann, wenn ich meine Antwort be-gründen kann, weil ich finde: Alles andere ist unseriös.
Nichtsdestotrotz ist es so, dass viele Menschen die-sem Thema gegenüber kritisch sind. Woran liegt das?Viele Menschen sind unsicher. Woher kommt diese Un-sicherheit? Wenn bei der Berlinale der Film Tante Hilda!gezeigt wird, der eine manipulierte Pflanze zeigt, die ei-gentlich der Bekämpfung des Welthungers dienen soll,dann aber zu einer Umweltkatastrophe beiträgt, schürtdas Ängste.
Ist es demgegenüber nicht besser, wenn wir sachlich fun-dierte Argumente bringen, um diese Unsicherheiten undÄngste zu nehmen?Wenn dann noch der Vergleich mit der Atomenergiekommt, macht das die ganze Geschichte natürlich nichtbesser. Es gibt über 1 000 wissenschaftlich fundierteStudien, die belegen, dass weder für Mensch und Tiernoch für die Umwelt Risiken bestehen, wenn genverän-derte Pflanzen angebaut oder konsumiert werden. Selbstdas Verdauungssystem der Bienen ist analysiert worden,und sogar darüber gab es keine negativen Erkenntnisse.Bereits seit 18 Jahren wird Gentechnik von Landwir-ten genutzt. Weder ein Mensch noch ein Tier oder dieNatur sind in dieser Zeit dadurch zu Schaden gekom-men. Auch Herr Ebner kennt sicherlich niemanden, derdadurch zu Schaden gekommen ist. Die wenigsten Men-schen wissen, dass sie regelmäßig Produkte konsumie-ren, die gentechnisch veränderte Bestandteile enthalten,und das, obwohl wir eine Kennzeichnungspflicht haben.Lebensmittel von Tieren, die mit gentechnisch verän-dertem Futter gefüttert werden, müssen nicht gekenn-zeichnet werden, und zwar deswegen, weil keine gen-technischen Veränderungen festgestellt werden können.Forscher aus München haben zwei Jahre lang Kühe mitgentechnisch verändertem Mais gefüttert, in der Milchaber keine gentechnischen Veränderungen festgestellt.Somit findet auch hier keine Kennzeichnung statt.Über 80 Prozent des Sojas, das weltweit hergestelltwird, ist gentechnisch verändert. Da Soja ein wichtigerProteinlieferant ist, ist es Bestandteil nahezu jeder Futt-erration von Schweinen. Auch in der Rinderhaltung wirdes regelmäßig eingesetzt. Zur Geflügelhaltung, in derdas nicht gemacht werden soll, ist vorgestern eine Pres-semitteilung herausgegeben worden, dass gar nicht ge-nug GVO-freies Soja zur Verfügung steht, um das Geflü-gel gentechnikfrei zu ernähren.
Wir alle essen also bereits seit Jahren genveränderteLebensmittel, egal ob aus konventioneller Erzeugungoder aus der Biobranche. Bioanbieter nutzen häufig dieCMS-Technik. Dabei werden nützliche Gene zwischenArten transferiert. Biochicorée enthält beispielsweise dieErbsubstanz der Sonnenblume und Brokkoli Gene desjapanischen Rettichs. Das hat nichts mit einer Wertungzu tun; das ist einfach Realität.Enzyme, Hefen und Geschmacksstoffe werden eben-falls gentechnisch hergestellt. Wenn wir nun die For-schung anderen Ländern überlassen, stehlen wir uns ausder Verantwortung und vertun Chancen.
Es kann doch nicht sein, dass die Angst, die aus Unsi-cherheit und mangelnder Aufklärung entsteht, über derVernunft steht, die auf einem fundierten Forschungser-gebnis beruht. Ein Artikel aus der Zeit Online trifft denNagel auf den Kopf mit der Aussage – Zitat –:Es geht nicht um das Ende der Welt, es geht umeine mit 20 Jahren noch immer junge Technologie,die kritisch hinterfragt werden sollte, aber keinGrund zur Panik ist.In der Medizin sind genveränderte Produkte mittler-weile anerkannt.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1293
Rita Stockhofe
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Das war nicht immer so. Aber durch den großen Nutzenbei der Behandlung von Krankheiten ist die Akzeptanzin den Köpfen der Bevölkerung angekommen. Als be-kanntes Beispiel möchte ich Insulin nennen. Aus diesemGrund haben wir die Möglichkeit, diese Medikamentenun in Deutschland selber herzustellen und auch weiter-zuentwickeln. Diese Chance haben wir in der GrünenGentechnik nicht.Mittlerweile gibt es gentechnisch veränderte Lebens-mittel wie den Goldenen Reis, die Krankheiten vorbeu-gen können. Durch die Aufnahme von Vitamin A in die-sen speziellen Reis können Sehstörungen und Blindheit,die in Asien häufig durch Vitamin-A-Mangel ausgelöstwerden, vermieden werden.Hier sind wir jetzt bei einem neuen Thema, dem Welt-hunger. Es gibt keine einheitliche Meinung, die besagt,dass der Welthunger durch genveränderte Pflanzen be-kämpft werden kann. Aber die Chance dazu sollten wiruns offenhalten.
Wir in Deutschland haben Lebensmittel im Überfluss.Das ist nicht selbstverständlich, und das ist auch nichtüberall so, im Gegenteil.Abschließend möchte ich festhalten: Ich bin davonüberzeugt, dass wir es uns nicht leisten können, die Gen-technik zu ignorieren, auch im Hinblick auf die rapidewachsende Weltbevölkerung. Es muss selbstverständlichsein, dass wir verantwortungsvoll damit umgehen. Dazukönnte eine neue transparente Kennzeichnungspflichtbeitragen.Danke schön.
Kollegin Stockhofe, das war Ihre erste Rede im Deut-
schen Bundestag. Wir gratulieren Ihnen dazu herzlich
und wünschen Ihnen Erfolg in Ihrer Arbeit.
Das Wort hat der Kollege Hermann Färber für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir alle sinduns bewusst, dass ein Großteil der Bevölkerung die Gen-technik kritisch betrachtet, dieser neuen Technologie kri-tisch gegenübersteht. Für mich ist ganz klar: Jeder, derfür sich die Gentechnik ablehnt, hat das gute Recht dazu.Er muss sich deshalb auch gegenüber niemandem recht-fertigen. Wir als Abgeordnete aber müssen Entscheidun-gen für andere treffen. Deshalb haben wir auch diePflicht, zu erklären, wie wir zu unseren Entscheidungenkommen.Für mich können Entscheidungsgrundlagen in Fragender Gentechnik nur wissenschaftliche Erkenntnisse sein.Wir können uns hier nicht auf Emotionen oder auf unserBauchgefühl berufen. Wir brauchen eine objektive undverlässliche Grundlage. Diese bietet uns die Wissen-schaft.
Wir haben in Deutschland und auch in Europa renom-mierte Forschungsinstitute. Ich denke an die Helmholtz-Gemeinschaft, die Max-Planck-Gesellschaft und dieFraunhofer-Gesellschaft. Sie garantieren gerade im sen-siblen Bereich der Gentechnik eine verantwortungsbe-wusste Forschung, und zwar – das ist sehr wichtig – un-ter rechtsstaatlicher Kontrolle.
Es muss auch klar sein: Wer diese Forschung inDeutschland verhindert, treibt sie lediglich in andereLänder, und zwar in Länder, wo es weniger Kontrolleund Schutz gibt und wir keinerlei Einfluss darauf haben,in welche Richtung die Forschung geht und wie die da-zugehörige Sicherheitsforschung aussieht.
Bei den Maissorten, die bisher zur Debatte standen,bietet die gentechnische Veränderung im Moment über-haupt keinen Vorteil bei einem Anbau in Deutschland.Bei unseren Fruchtfolgen, die wir Landwirte praktizie-ren, kommen wir mit den konventionellen Sorten her-vorragend klar. Wie gesagt, ist der Anbau genveränder-ter Pflanzen schon allein wegen der Abstands- undHaftungsregelungen in Deutschland völlig unattraktiv.Ich sehe im Moment auch keine Gefahr bzw. keinen An-lass, dass dieser Anbau bei uns stattfinden wird. Ich kannes auch keinem empfehlen, schon allein deshalb nicht,weil es gar keinen Sinn machen würde. Mit anderenWorten – das sage ich Ihnen an dieser Stelle als prakti-zierender Landwirt –: Wir brauchen den Mais 1507 der-zeit bei uns nicht.
Ich kann verstehen, dass ein Konzern wie Monsantobei vielen Menschen Unbehagen auslöst. Es ist abersachlich nicht angemessen, die Diskussion über die Gen-technik allein auf die Problematik und die Patentlizenzenvon Monsanto zu reduzieren. Ich bin der Ansicht: DieDebatte über die Gentechnologie muss von der Debatteüber Patentinhabe und Vermarktungswege getrennt ge-führt werden.Wir brauchen in dieser Diskussion aber auch mehrEhrlichkeit.
Dazu gehört – das haben schon meine Vorredner gesagt –,dass wir anerkennen, wo bisher in Europa und in Deutsch-land Gentechnik schon eingesetzt wird. Das ist nicht nur inder Medizin und bei einem großen Teil von Geschmacks-stoffen, Hefen und Enzymen der Fall, sondern auch bei Fut-termitteln. Heute wurde schon gesagt: Weltweit werden 80bzw. 81 Prozent des gesamten Sojaanbaus mit gentechnischverändertem Saatgut durchgeführt. Seit knapp zwei Jahr-zehnten – auch das muss uns bewusst sein – werden diese
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1294 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Hermann Färber
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Sojabohnen in die Europäische Union importiert; sie wer-den bei uns an Tiere verfüttert, und in unseren Läden findensich Milch und Fleisch dieser Tiere. Der bekannte Schadenaus der Produktion ist gleich null.
Lassen Sie mich noch einen Satz zu diesem Themaanfügen. Es muss auch gesagt werden: Lebensmittel hierin Deutschland sind heute so gut und so sicher, wie sie esnoch nie in unserer Geschichte waren. Auch das ist Er-gebnis wissenschaftlicher Forschung.
Ich möchte zum Schluss kommen. Ich wünsche mireinfach eine sachliche Debatte, eine Debatte, die im Ein-zelfall durchaus Chancen und Risiken betrachtet. Ichhabe Respekt vor jedem hier, der eine andere Ansichthat; ich erwarte aber auch den Respekt vor meiner Posi-tion. Ich schlage Ihnen vor: Lassen Sie uns offen überdie bisherige Forschung und über die bisherigen Erfah-rungen aus dem Anbau diskutieren, und zwar ohneScheuklappen, ohne Vorurteile in die eine oder andereRichtung! Lassen Sie uns dann auf wissenschaftlicherBasis verantwortbare Entscheidungen für jeden Einzel-fall treffen! Ich freue mich auf die Gespräche mit Ihnen.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Herzlichen Dank, Herr Kollege Färber. Das war Ihre
erste Rede. Ich gratuliere Ihnen dazu im Namen des ge-
samten Hauses.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:
a) – Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Antrag der Bundesre-
gierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an der EU-geführ-
ten Ausbildungsmission EUTM Mali auf
Grundlage des Ersuchens der malischen
Regierung sowie der Beschlüsse 2013/34/
GASP und 2013/87/GASP des Rates der
Europäischen Union vom 17. Januar
2013 und vom 18. Februar 2013 in Verbin-
dung mit den Resolutionen 2071 ,
2085 und 2100 (2013) des Sicher-
heitsrates der Vereinten Nationen
Drucksachen 18/437, 18/603
Drucksache 18/616
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
ordneten Dr. Frithjof Schmidt, Omid Nouripour,
Agnieszka Brugger, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu der Abgabe einer Regierungserklärung
durch die Bundeskanzlerin zum Europäi-
schen Rat am 19./20. Dezember 2013 in Brüs-
sel
Drucksachen 18/196, 18/531
Zu dem Antrag der Bundesregierung liegt ein Ent-
schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
vor. Über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der
Bundesregierung werden wir später namentlich abstim-
men.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Damit ist so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie jetzt
bitten, die Plätze wieder einzunehmen. Dann könnte ich
die Aussprache eröffnen und den ersten Redner aufrufen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Niels Annen, SPD-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin, vielen Dank. – Meine sehrverehrten Damen und Herren! Erinnern wir uns: Vor guteinem Jahr waren islamistische Rebellen aus dem Nor-den Malis auf dem Vormarsch in Richtung HauptstadtBamako. Wären sie damals nicht durch das entschlos-sene Eingreifen von Frankreich am Weitermarsch gehin-dert worden, dann könnten wir heute nicht über die Fort-schritte beim Wiederaufbau auch der staatlichenStrukturen im Norden des Landes miteinander diskutie-ren.
Vermutlich wäre ein weiterer afrikanischer Staat zu ei-nem Failed State geworden und in die Hände islamisti-scher Rebellen gefallen.Das ist glücklicherweise nicht eingetreten. Die Tatsa-che, dass sich der politische Prozess gut entwickelt hat,dass Fortschritte beim Wiederaufbau des Landes erzieltwerden konnten, dass Präsidentschafts- und Parlaments-wahlen stattgefunden haben und eine neue Regierungihre Arbeit aufnehmen konnte, hat auch damit zu tun,dass die internationale Gemeinschaft Mali eben nicht imStich gelassen hat. Außerdem hat es damit zu tun, dasswir mit EUTM Mali und mit der UN-MissionMINUSMA unsere Entschlossenheit zum Handeln de-monstriert haben.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1295
Niels Annen
(C)
(B)
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die außen-politische Debatte der vergangenen Wochen hat zum Teilfast skurrile Züge angenommen. So wurde unterstellt,Deutschland beabsichtige jetzt, quasi routinemäßig über-all und gerade in Afrika Soldaten einzusetzen. Ich willan dieser Stelle klar sagen: Das ist eine bewusste Verdre-hung der Tatsachen. Eine Zahl macht das deutlich: Aufdem Höhepunkt unseres Engagements – wir hatten heuteeine Debatte zu Afghanistan – hatte Deutschland 10 000Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz. Heute lie-gen wir bei unter 5 000, mit fallender Tendenz. Stattmehr Soldaten schicken wir weniger Soldaten ins Aus-land.Dennoch beschließen wir heute mit der Verlängerungdes EUTM-Mali-Mandates eine geringfügige Erhöhungder Mandatsobergrenze von 180 auf 250 Soldaten. IhrAuftrag ist es, die malischen Streitkräfte so auszubilden,dass sie zukünftig in der Lage sind, im eigenen Land fürSicherheit zu sorgen. Seit Februar 2013 konnten bereitsknapp 3 000 malische Soldaten ausgebildet werden. Ichfinde, auch das ist ein Anlass, den deutschen Soldatinnenund Soldaten zu danken, die diese schwierige Aufgabebewältigt haben und weiter bewältigen.
Was machen wir in Mali? Wir stärken malische Ei-genverantwortung, indem wir die taktischen Fähigkeitender malischen Soldaten verbessern. Darüber hinaus leis-ten deutsche Soldatinnen und Soldaten Sicherungsaufga-ben sowie Sanitätsdienste. Wir begrüßen den Beschluss,Teile der Deutsch-Französischen Brigade in Mali einzu-setzen.
Dies ist der erste gemeinsame Einsatz in Afrika. Er istauch ein politisches Bekenntnis zur revitalisierten Zu-sammenarbeit zwischen unseren Ländern.Unser Engagement ist keineswegs auf den militäri-schen Part begrenzt. Für die Lösung des komplizierteninnermalischen Konfliktes ist der politische Prozess ent-scheidend; jeder von uns ist sich darüber im Klaren. DieVerhandlungen müssen fortgesetzt werden. Gerade dieEinbeziehung der Tuareg ist eine komplexe Aufgabe.Ziel muss es sein, die Gruppen miteinander auszusöh-nen, in die staatlichen Strukturen, die reformbedürftigsind – das haben die Ereignisse der letzten Monate ge-zeigt –, mit einzubeziehen. Nur dann kann langfristigeine Stabilisierung gelingen.Ich habe hier vor drei Wochen mit dem malischenVersöhnungsminister sprechen können. Ich kann Ihnensagen: Die Erwartungen an uns sind hoch. Wir werdensie gar nicht alle erfüllen können. Umso wichtiger ist es,dass wir auch im Deutschen Bundestag zu prominenterZeit darüber diskutieren. Wir müssen unsere Anstren-gungen verstetigen und auch weiter intensivieren. Dasgilt auch für die Entwicklungszusammenarbeit.Ich will die Gelegenheit nutzen, hier nicht nur dendeutschen Soldatinnen und Soldaten zu danken, sondernauch den Diplomaten, den Entwicklungshelfern. Ich willaber auch die deutschen Stiftungen erwähnen, die vorOrt sind. Sie leisten ihre Arbeit in keiner ganz einfachenSituation. Für unsere Expertise hier im Deutschen Bun-destag haben sie wichtige Beiträge geleistet.
Ich begrüße die Bestrebungen für eine zivile GSVP-Mission in Mali. Das unterstreicht auch den politischenCharakter dessen, was wir hier miteinander diskutieren:dass es um eine frühzeitige und um eine nachhaltigeStärkung funktionstüchtiger, demokratischer, legitimerStrukturen geht. Es ist also ein umfassender Ansatz, überden wir hier reden.Außenminister Steinmeier hat in seiner Rede in Mün-chen zu Recht darauf hingewiesen, dass Deutschland be-reit ist, mehr Verantwortung zu übernehmen. Mali ist einBeispiel dafür, wo wir Verantwortung in einem umfas-senden Sinne übernehmen. Ich glaube, es kann uns allenmiteinander nicht gleichgültig sein, wenn Staaten zerfal-len und in die Hände extremistischer Kräfte gelangen.Lassen Sie uns, meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen, darüber reden, was unser Beitrag zur Stabilisierungdieser Region sein kann! Lassen Sie uns über die not-wendigen politischen und entwicklungspolitischen, dip-lomatischen und, wie in diesem Falle, bescheidenen mi-litärischen Mittel reden! Lassen Sie uns dieses Mandatverlängern und in die notwendige Diskussion darübereintreten, wie wir die krisenhaften Teile des afrikani-schen Kontinents unterstützen können!Ich bitte um Zustimmung und danke für die Aufmerk-samkeit.
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt die Kollegin
Christine Buchholz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit gro-ßem Tamtam hat Angela Merkel gestern in Paris dieAusweitung des Militäreinsatzes in Mali verkündet unddas auch noch als einen großen Beitrag zur deutsch-fran-zösischen Freundschaft verkauft. Richtig ist: Frankreichund Deutschland haben ein gemeinsames Ziel. Paris willEinfluss in Afrika halten; die Bundesregierung will ihrenEinfluss vergrößern. Doch die Haushalte in beiden Län-dern sind klamm. So macht man einen Deal: Paris hatdie Militärbasen und die Beziehungen zu den nicht sel-ten korrupten Machthabern in Afrika; Berlin wird einge-laden, Lasten zu übernehmen. Dafür darf die Bundes-wehr im Huckepack in die Kriegsgebiete.
Militärpartnerschaft ist nicht das, was wir Linke unterder deutsch-französischen Freundschaft verstehen.
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1296 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Christine Buchholz
(C)
(B)
Die militärische Ausbildungsmission der EU in Maligeht an der Lösung der Probleme im Land vorbei:Erstens. Die Ausbildungsmission ist von dem Kampf-einsatz der französischen und der afrikanischen Truppennicht zu trennen. Die malischen Pioniere, Sanitäter undnun auch bald Infanteriekräfte, die die Bundeswehr aus-bildet, werden für den Krieg im Norden eingesetzt.Zweitens. Man kann Terror nicht mit Krieg bekämp-fen,
im Gegenteil: Experten schätzen, dass von den circa2 500 Aufständischen und Dschihadisten, die 2012 denNorden kontrolliert haben, circa 1 500 getötet oder ver-haftet worden sind, aber an die 1 000 sich in den Bergenund in den Dörfern weiter versteckt halten. Sie sind alsonicht weg. Sie beantworten die entscheidende Fragenicht: Was sind die wirtschaftlichen und sozialen Wur-zeln des Widerstands und des Dschihadismus in Mali?Warum hat der malische Staat so wenig Unterstützung inweiten Gebieten des Nordens?Die Menschen, die in die Nachbarländer geflohensind – 160 000 –, können nicht zurück. Medienberichtenzufolge genehmigt die malische Regierung ihnen nichtdie Rückkehr. Gestern mutmaßte der Vertreter des Aus-wärtigen Amtes im Verteidigungsausschuss, warum. Ersagte, die malische Regierung würde vor Angst, Auf-ständische könnten in das Land zurückkehren, die Rück-kehr der Flüchtlinge verzögern. Das zeigt doch nur, dassIhr Ansatz keine Lösung bietet.
Drittens. Es hat bereits vor 2012 militärische Ausstat-tungshilfe und Ausbildung durch die Bundeswehr gege-ben, übrigens auch von Frankreich und den USA. Dashat die Krise nicht verhindert. Vielmehr sind mit Unter-stützung Frankreichs und der internationalen Gemein-schaft die sozialen und politischen Kräfte gestärkt wor-den, die vor 2012 das Sagen im Land hatten und damitmitverantwortlich für die Entwicklung der letzten Jahresind.Viertens. Wir sind gegen diesen Einsatz, weil das mi-litärische Handeln nicht von den wirtschaftlichen Inte-ressen zu trennen ist.
Mali – das müssen auch die Grünen zur Kenntnis neh-men – ist der drittgrößte Goldproduzent in Afrika. DasLand sitzt auf reichen Öl- und Gasvorkommen, und inder Region gibt es Uranabbau. Der BergbauministerBoubou Cissé erklärte im September 2013, dass alle Ver-träge zwischen Mali und den internationalen Bergbau-konzernen sowie alle Lizenzen auf den Prüfstand kom-men. Aber über wie viel Unabhängigkeit verfügt eineRegierung, die zur Herstellung ihrer Macht in der Handjener Länder ist, aus denen die Bergbaukonzerne stam-men?
Cissé erhielt sogleich Gegenwind: von Richard Zink,dem Vertreter der Europäischen Union, aber auch vondem Vertreter des Bergbauverbands in Mali, AbdoulayePona. Die Revision der Bergbauverträge müsse im Inte-resse der Investoren sein, sagte dieser. – Das ist definitiveine Position, die wir als Linke nicht teilen.
Lassen Sie mich eines sagen: Herr Arnold von derSPD hat mir in der letzten Debatte vorgeworfen, es seieine Ungeheuerlichkeit, darauf hinzuweisen, dass dieBundeswehr nicht nur die malische Armee trainiere,sondern auch sich selbst.
Bitte verkaufen Sie die Öffentlichkeit nicht für dumm!
Natürlich muss die Bundeswehr, wenn sie in mehr afri-kanische Einsätze geschickt werden soll, dort Erfahrun-gen sammeln, um fit zu werden.Das ist der Effekt, der ja genau in Ihre außenpolitischeStrategie passt, eine Strategie, um im Rahmen von euro-päischen und anderen multilateralen Einsätzen deutscheSoldaten in die Welt zu schicken. Was mit Transport,Ausbildung und Sanitätern beginnt, kann mit Kampfein-sätzen enden. Wir halten diese Strategie für falsch. Des-wegen werden wir auch heute gegen die Beteiligung anEUTM Mali stimmen.
Es spricht jetzt der Kollege Dr. Andreas Nick, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt den Antrag der Bun-desregierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffne-ter Streitkräfte an der EU-geführten AusbildungsmissionEUTM Mali, der heute erneut zur Beratung und zur end-gültigen Beschlussfassung ansteht. Im Kern beschließenwir die Verlängerung des Mandats bis zum 28. Februar2015 und die Anhebung der Personalobergrenze von 180auf bis zu 250 Einsatzkräfte. Lassen Sie mich noch ein-mal betonen: Es handelt sich bei EUTM Mali ausdrück-lich nicht um einen Kampfeinsatz, sondern um eine Trai-ningsmission.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1297
Dr. Andreas Nick
(C)
(B)
Schwerpunkt des Einsatzes bleibt die Pionierausbil-dung für malische Soldatinnen und Soldaten. Bis Mai2014 werden planmäßig vier Gefechtsverbände die Aus-bildung durchlaufen haben. Einige dieser Verbände ha-ben bereits erfolgreich zur Verbesserung der Sicherheits-lage im Norden des Landes beigetragen.Damit verbunden sind ebenso die Erweiterung umBeratungsleistungen für das Verteidigungsministeriumund die Führungsstäbe in Mali wie notwendige Siche-rungsmaßnahmen zum Schutz der Mission selbst. ImMittelpunkt des Mandats steht also ganz eindeutig dieBefähigung lokaler Sicherheitskräfte mit dem Ziel eineslangfristig stabilen Staates.Teil des Mandats ist auch die sanitätsdienstliche Un-terstützung der deutschen Einsatzkräfte und der beteilig-ten malischen Streitkräfte. Dabei ist auch das Lazarettre-giment 21 „Westerwald“ aus Rennerod in meinemWahlkreis als Leitverband für das fünfte Kontingent inMali vorgesehen, welches im August 2014 startet. Vor-gänger dieses Verbandes waren bereits am allererstenAuslandseinsatz der Bundeswehr überhaupt beteiligt,nämlich im Jahre 1960 an der humanitären Hilfe nachdem verheerenden Erdbeben von Agadir in Marokko,ebenfalls auf dem afrikanischen Kontinent. Ich nutzedeshalb besonders gern die Gelegenheit, allen an derMission EUTM Mali beteiligten Soldatinnen und Solda-ten der Bundeswehr herzlich für ihr Engagement und dieMitwirkung an diesem wichtigen Einsatz zu danken.
Die Mission EUTM Mali ist ein gutes Beispiel dafür,wie Deutschland seiner gewachsenen internationalenVerantwortung gerecht wird.Wir handeln hier erstens gemeinsam mit unseren Part-nern in der Europäischen Union. Soldaten aus 23 euro-päischen Ländern sind im Rahmen der Mission im Ein-satz. Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt ausdrücklich diegestrige Entscheidung, in Mali die Deutsch-Französi-sche Brigade erstmals auch im Rahmen einer EU-Mis-sion einzusetzen.Wir handeln zweitens auf Bitten der malischen Regie-rung, die im Übrigen über den Rahmen des derzeitigenMandats hinaus auch die Ausbildung von weiteren vierGefechtsverbänden anstrebt. Darüber wird zu gegebenerZeit zu entscheiden sein.Wir handeln drittens im Rahmen eines Mandats derVereinten Nationen. Die EU-Mission erfolgt parallel zuder VN-geführten Mission MINUSMA, deren Einsatz-kräfte überwiegend von Soldaten afrikanischer Staatengestellt werden, insgesamt etwa 6 400 Soldaten.Die Verteidigungsministerin hat vergangene Wocheauf das eindrucksvolle Beispiel des aus Ruanda stam-menden Offiziers Jean Bosco Kazura verwiesen, der1994 den Völkermord in seiner Heimat Ruanda – Ru-anda ist übrigens das Partnerland meiner Heimat Rhein-land-Pfalz – miterleben musste und der heute als Kom-mandeur der VN-Mission MINUSMA in Mali aktiv ist.Ich will unterstreichen: Wir unterstützen damit inMali auch die weitere Entwicklung regionaler Sicher-heitsstrukturen, innerhalb derer die afrikanischen Staatenselbst die vorrangige Verantwortung für Stabilität auf ih-rem Kontinent übernehmen.Die Entwicklung in Afrika kann uns nicht gleichgül-tig sein. Das ist nicht nur eine Frage der humanitärenVerantwortung, sondern auch Ausdruck unseres wohl-verstandenen Eigeninteresses.Wir wollen in unserer europäischen Nachbarschaft Si-cherheit, Stabilität und nachhaltige Entwicklung ermög-lichen.Unser Engagement muss eingebettet sein in das Ge-samtkonzept einer Afrika-Strategie. Dabei müssen wirt-schaftliche Zusammenarbeit, Entwicklungshilfe, derAufbau staatlicher Strukturen und, wo nötig, militärischeUnterstützung Hand in Hand gehen. Ich freue mich, dassder frühere Bundespräsident Horst Köhler mit seinergroßen Glaubwürdigkeit bei diesem Thema und mit sei-ner persönlichen Leidenschaft für Afrika unsere Fraktionbei der weiteren Entwicklung einer Afrika-Strategie un-terstützen wird.
Meine Damen und Herren, Deutschland profitiert wiekaum ein anderes Land auf der Welt von der offenen,freien und sicheren Weltordnung. Es ist deshalb dasüberragende strategische Interesse unseres Landes, dieseOrdnung zu bewahren und weiterzuentwickeln. Dazuleisten wir auch mit der Mission EUTM Mali einen Bei-trag. Deshalb bitte ich Sie um die Unterstützung des vor-liegenden Antrages.Herzlichen Dank.
Kollege Nick, das war Ihre erste Rede in diesem
Hause. Auch Ihnen gratuliere ich im Namen aller Kolle-
ginnen und Kollegen.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt
der Kollege Cem Özdemir.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir begrüßen, dass die Bundesregierung eine öffentlicheDebatte über die Verantwortung und das internationaleEngagement Deutschlands angestoßen hat. Richtig istauch, dass die Bundesregierung eine neue Afrika-Strate-gie entwickelt. Aber wenn Sie eine neue Afrika-Strate-gie entwickeln wollen, dann müssen Sie uns, dem HohenHaus, auch die Ziele und vor allem die Interessen benen-nen. Das gehört zu einer ehrlichen Debatte dazu.Ich habe eine herzliche Bitte: Wir dürfen die Debatte– das gilt für die Befürworter, zu denen ich mich aus-drücklich zähle, ebenso wie die Mehrheit unserer Frak-tion, als auch die Gegner – nicht auf die militärischen
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1298 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Cem Özdemir
(B)
Mittel und die Militäreinsätze reduzieren. Aus dem um-fassenden Werkzeugkasten der Außenpolitik darf ebennicht immer nur der Hammer der militärischen Interven-tion benutzt werden; manchmal brauchen wir auch denSchraubenzieher oder den Lötkolben.
Zu verantwortungsvollem Engagement gehören Di-plomatie, Demokratieförderung, zivile Konfliktpräven-tion, humanitäre Hilfe und schließlich die Entwicklungs-zusammenarbeit.
Die Trainings- und Ausbildungsmission der EU in Maliist ein positives Beispiel dafür. Sie hat bislang einen hilf-reichen Beitrag zur Stabilisierung geleistet und damitauch mitgeholfen, den erneuten politischen Dialog undden Versöhnungsprozess in Mali zu ermöglichen. DerAufbau des Sicherheitssektors in Mali ist noch längstnicht abgeschlossen; das wissen wir. Wir wissen auch,dass die Situation im Norden des Landes gerade für dieZivilbevölkerung nach wie vor angespannt ist. Wir,Bündnis 90/Die Grünen, werden mehrheitlich dem Man-dat zustimmen, gerade weil dieses Mandat eine klareAufgabenbegrenzung für die deutschen Soldatinnen undSoldaten vorsieht.Frau Buchholz, die Argumente der Linken hättenmehr Glaubwürdigkeit, wenn Sie sagen würden: Bei die-sem Einsatz, den die UN, die Gemeinschaft afrikani-scher Staaten, die Nachbarstaaten und die Menschen imLand befürworten, sind auch wir dafür; bei anderen sindwir dagegen. Dann wäre es spannend, Ihnen zuzuhörenund Argumente auszutauschen. Aber bei einer Fraktion,die zu jedem Einsatz, egal was die Vereinten Nationensagen, prinzipiell Nein sagt,
lohnt es sich auch nicht, die Argumente anzuhören.
Denn dann ist das einfach Ideologie pur und hat mit denMenschen vor Ort nichts zu tun. Ich bin nicht bei derLinkspartei, sondern bei den Grünen, aber ich habe inden linken Lehren Internationalismus anders gelernt. Esgeht um Internationalismus, nicht um Nationalismus,meine Damen und Herren von der Linkspartei.
Ich sehe den Einsatz der Deutsch-Französischen Bri-gade auch im Rahmen dieser Mission als einen Schritthin zu mehr Abstimmung in der Europäischen Union,und die brauchen wir. Frau Ministerin, allerdings hättenwir da noch eine Frage. Die Brigade ist ja bekannt alseine schnelle Eingreiftruppe. Da würden wir gerne wis-sen, was genau die konkrete Aufgabe dieser Brigade inMali sein soll.Ich finde – das muss in einer solchen Debatte ehrlichgesagt werden –, dass zu jedem Einsatz, also auch zudiesem, eine Evaluierung durchgeführt werden muss.Wir wollen wissen, wie viele Soldatinnen und Soldatenin Mali konkret von der Bundeswehr ausgebildet wordensind, und natürlich auch, wie der weitere Bedarf hin-sichtlich der militärischen Kapazitäten der malischenArmee ist. Es muss künftig zu jeder Debatte in diesemHaus gehören, dass wir anschließend gemeinsam aus-werten und ehrlich sagen, was richtig gelaufen ist, wasfalsch gelaufen ist und wo möglicherweise Konsequen-zen gezogen werden müssen.Frau Ministerin, liebe Kolleginnen und Kollegen, wirhaben eine weitere Bitte an Sie. Vergessen Sie bittenicht: Der Demokratisierungsprozess in diesem Land istnoch längst nicht abgeschlossen. Es stehen noch Kom-munalwahlen an. Die Arbeitsfähigkeit des Parlamentes inMali muss noch hergestellt werden. Der Versöhnungspro-zess im Land muss endlich in Gang gebracht werden. Beidiesen Aufgaben muss die Bundesrepublik Deutschlandmindestens dasselbe Engagement zeigen wie bei derAusbildungsmission.Schließlich müssen wir uns um die Flüchtlinge küm-mern. Es handelt sich um mehr als eine halbe MillionMenschen, wenn wir die Binnenvertriebenen mitzählen.Dies birgt ein hohes Störpotenzial für die Region undkann die Region destabilisieren. Auch hier sind wir ge-fordert. Darum wünsche ich, dass wir auch zur humani-tären Hilfe aktiv beitragen. Die Vereinten Nationen ha-ben uns als Bedarf 6,73 Prozent der entsprechendenHilfe mitgeteilt. Es wird Zeit, dass wir unseren Beitragleisten und uns nicht hinter anderen verstecken.
Ich komme zum Schluss. Wir brauchen eine strategi-sche Koordination der Maßnahmen unter Einbeziehungder Zivilgesellschaft in Mali. Das betrifft insbesonderedie Frauen, weil vor allem sie über die Zukunft des Lan-des entscheiden werden. Wir brauchen ausdrücklich eineEinbeziehung der Nachbarländer – ich nenne nur Alge-rien und Mauretanien –; ohne sie gibt es keine Friedens-lösung. Frau Ministerin, wir wollen auch, dass die Trai-nings- und Ausbildungsmission der EU in die Afrika-Strategie eingebunden wird. Was wir im Land brauchen,ist Ernährungssicherheit, Demokratisierung, Bestärkungder Rolle der Frauen und Korruptionsbekämpfung.Wir stimmen diesem Einsatz zu. Das ist unser Bei-trag, unsere Verantwortung gegenüber Mali. Das machenwir auch aus der Opposition heraus; denn wenn etwasgemacht wird, was richtig ist, dann fällt uns kein Zackenaus der Krone, das auch zu sagen.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gabi Weber, SPD-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1299
(C)
(B)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen
und Kolleginnen! Es ist schön: Ich bin schon die vierte
Rednerin, die sich darüber freut, dass erstmals Teile der
Deutsch-Französischen Brigade im Rahmen des deut-
schen Kontingents an einer EU-Mission beteiligt wer-
den.
Wenn wir in der Welt mit einer starken europäischen
Stimme wahrgenommen werden wollen, dann dadurch,
dass dies nicht nur ein symbolischer Ansatz ist, sondern
ein erster Schritt zu einer wirklich gemeinsamen euro-
päischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Wir verlängern heute das Mandat für die Bundeswehr
in Mali – hoffentlich. Unsere Bundeswehrsoldaten und
-soldatinnen bilden dort malische Streitkräfte aus. Bisher
liegt die personelle Grenze bei 180 Soldatinnen und Sol-
daten; mit dem neuen Mandat wird diese Zahl um 70 auf
dann 250 Einsatzkräfte erhöht. Von einer Invasion Afri-
kas, wie es in den vergangenen Tagen einige Male an-
klang, kann also absolut keine Rede sein.
Im Gegenteil: Wir werden im Verbund mit den europäi-
schen Partnern auch weiterhin auf Bitten der malischen
Regierung im Land sein.
Völkerrechtliche Grundlage dafür ist ein einstimmi-
ger Beschluss des UN-Sicherheitsrates, letztmalig erneu-
ert im vergangenen April. Darin verurteilt der Sicher-
heitsrat die von terroristischen, extremistischen und
bewaffneten Gruppen geführte Offensive gegen den Sü-
den Malis. Dort wird betont – ich zitiere –, „dass der Ter-
rorismus nur durch einen nachhaltigen und umfassenden
Ansatz besiegt werden kann, bei dem alle Staaten und
die regionalen und internationalen Organisationen sich
aktiv beteiligen und zusammenarbeiten, um die terroris-
tische Bedrohung einzudämmen, zu schwächen und zu
isolieren“.
Frankreich hat letztes Jahr schnell reagiert und die
Offensive rasch zurückgedrängt. Die Existenz und Ein-
heit des malischen Staates standen auf dem Spiel. Die
Wahrscheinlichkeit, dass der Staat Mali zusammenbrach,
war hoch. Diese Gefahr ist bis heute nicht ganz gebannt.
Die Kolleginnen und Kollegen aus der Entwicklungszu-
sammenarbeit, aber auch viele andere Fachleute wissen,
wie schwer es ist, ein funktionierendes Staatswesen wie-
der aufzubauen, wenn es einmal zerstört wurde. Dafür ist
Afghanistan zurzeit sicher ein schlimmes und tragisches
Beispiel.
Was tun wir nun in Mali? Und was bedeutet dies für
uns? Ganz sicher keine Kampfeinsätze. Nein, seit letz-
tem Jahr beteiligt sich Deutschland im Rahmen der EU
und als Teil des internationalen Engagements – das be-
tone ich noch einmal – an der Ausbildung der malischen
Armee. Wenn wir eines aus Afghanistan gelernt haben,
dann dass wir nicht früh genug mit der Ausbildung der
einheimischen Sicherheitskräfte beginnen können.
Ziel der Ausbildung ist es, dass der malische Staat
selbst für Sicherheit und Stabilität innerhalb seiner Gren-
zen sorgen kann. Das Motto lautet ganz unspektakulär:
Hilfe zur Selbsthilfe. Dabei können wir aber nicht stehen
bleiben. Durch unsere Beteiligung an der militärischen
Ausbildung kommt uns auch eine Verantwortung gegen-
über dem Land und den Menschen zu. Dieser werden
wir uns mit mittel- und langfristigen Maßnahmen im
wirtschaftlichen und entwicklungspolitischen Bereich
stellen. Ein Beispiel für die zivil-militärische Zusam-
menarbeit könnte ein Beitrag der Bundeswehr zur Ge-
sundheitsversorgung der Bevölkerung sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Malis neue Regie-
rung nimmt bereits die Verantwortung in die eigenen
Hände. Eine wichtige Aufgabe ist dabei, den Versöhnungs-
prozess im Land zu unterstützen. Bildung ist ebenfalls eine
Riesenherausforderung. Bildung fördert Deutschland
über seine Beiträge an die EU und bilateral bei der Leh-
rerausbildung für benachteiligte Kinder.
Im Bereich der Wasserversorgung kooperieren wir
verstärkt mit Mali, insbesondere auch im ländlichen Be-
reich. Wasser ist die Basis für Landwirtschaft und Le-
ben. Bei über 500 000 Flüchtlingen brauche ich nicht
weiter auszuführen, welche humanitäre Katastrophe
potenziell droht, wenn wir hier unser Engagement zu-
rückfahren würden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit Blick auf die
demnächst anstehenden Haushaltsdebatten möchte ich
abschließend darauf hinweisen, dass wir langfristig un-
ser entwicklungspolitisches Engagement erhöhen müs-
sen. Mit militärischer Ausbildung allein ist es dort nicht
getan. Auch deshalb ist es wichtig, die Mission jetzt zu
verlängern und darüber hinaus die Anstrengungen im
Entwicklungsbereich nicht zu vernachlässigen.
Vielen Dank.
Vielen Dank. – Es spricht jetzt der Kollege Michael
Vietz, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Mali steht vor einer wahren Herkulesaufgabe:Sicherheit, Stabilität, Frieden. Leicht gesagt, schwer inder Umsetzung; gerade aufgrund der komplexen Situa-tion vor Ort. Bei dieser Aufgabe stehen wir und unserePartner an der Seite der Republik Mali. Mit einem ver-größerten Kontingent in der EU-Ausbildungsmission
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1300 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Michael Vietz
(C)
(B)
wollen wir auch weiterhin an der Seite der Bevölkerungund zu unserer Verantwortung stehen. Lassen Sie michan dieser Stelle, anschließend an meine Kollegen, einenherzlichen Dank an alle ausrichten, die für uns in Maliunterwegs sind und ihre Aufgaben im Dienste unseresLandes treu erfüllen.
Diese Mission basiert auf dem Ersuchen der mali-schen Regierung, auf Beschlüssen der EuropäischenUnion und Resolutionen des UN-Sicherheitsrates. Wirsind Teil einer verantwortungsbewussten Gemeinschaft.Deutschland ist ein verlässlicher Partner innerhalb derEU und der Vereinten Nationen. Aus dieser Partner-schaft ergibt sich eben auch eine sichtbare und aktiveRolle. Wie diese Rolle dann mit Leben und Charaktergefüllt wird, liegt in unserem Ermessen, wird jeweils imEinzelfall geprüft und letzten Endes richtigerweise hiervon uns im Bundestag entschieden.In den letzten Wochen wurde leidenschaftlich undvielfältig über die drei Münchner Reden diskutiert. So-wohl im Ausland als auch von Teilen dieses Hauses wur-den diese geradezu reflexhaft mit „mehr deutsche Solda-ten an die Front“ gleichgesetzt. Pawlow wäre begeistertgewesen. Diese Reflexe sagen aber im Regelfall deutlichmehr über die jeweiligen Interpreten aus als über dieRealität und die tatsächliche Außenpolitik Deutschlands.Da mag der Wunsch Vater des Gedankens gewesen sein.Lassen Sie uns daran erinnern: 2012 – das ist garnicht so lange her – stand Mali kurz davor, zu zerreißenund zur Beute islamistischer Terroristen gemacht zuwerden. Nachdem Frankreich dies durch sein Eingreifenverhindert und erst einmal grundlegend für Stabilität ge-sorgt hat, gilt es nun Mali zu ertüchtigen, damit es wie-der selbst für Sicherheit, Stabilität und Frieden in seinenGrenzen sorgen kann,
getreu dem Grundsatz: Hilfe zur Selbsthilfe. Je sichererund stabiler die Region ist, desto effektiver gestaltet sichder Wiederaufbau staatlicher und ziviler Strukturen.Nach einem guten Jahr ist in Mali noch lange nicht al-les gut, aber es ist deutlich besser als zu Beginn, mit gu-ten Prognosen für die zukünftige Entwicklung. Die Al-ternative wären eskalierende Konflikte und ein blutigerBürgerkrieg gewesen. Sicherheit, Stabilität und Friedensind Grundvoraussetzungen für eine anhaltende stabileEntwicklung der Region, damit humanitäre Nothilfe wir-ken kann, Entwicklungszusammenarbeit Früchte trägtund der Aufbau einer funktionierenden Zivilgesellschaftgelingt, damit das volle Instrumentarium unserer Außen-politik – von Entwicklungshilfe über wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und alle diplomatischen Wege, die wir ha-ben – wirkungsvoll zur Geltung gebracht werden kann.Idealerweise wird dieser Dreiklang aus Sicherheit, Stabi-lität und Frieden von Mali selbst gewährleistet.Es sollte im Grunde für jeden einsichtig und verständ-lich sein, dass die Menschen Perspektiven vor Ort brau-chen, um sich eine Zukunft aufzubauen, um aus eigenerKraft aus der Armutsspirale auszubrechen, um einenwie auch immer gearteten bescheidenen Wohlstand zuerlangen, um nicht letzten Endes als Flüchtlinge aufdem Mittelmeer ihr Leben zu riskieren, aber auch, damitdie Region nicht zum Rückzugsort für internationalenTerrorismus wird. Das liegt sowohl in unserem ureigens-ten Interesse wie auch in dem unserer Partner und dermalischen Bevölkerung.
Das bisher Erreichte darf nicht leichtfertig aufs Spielgesetzt werden. Alle Beteiligten in der Region leistenAußergewöhnliches und sind doch immer wieder mitRückschlägen konfrontiert. Mali ist immer noch unsi-cheres Terrain. Jüngstes Beispiel ist die Entführung vonfünf Mitarbeitern des Roten Kreuzes, die seit Anfang Fe-bruar vermisst werden. Mittlerweile hat sich eine isla-mistische Gruppe zu der Entführung bekannt; die Suchenach den Entführten ist bislang erfolglos. Solche Mel-dungen schockieren, gerade wenn wir sehen, in welchemAusmaß Mali auf Unterstützung angewiesen ist.Es sollte unstrittig sein, dass für den Einsatz von hu-manitärer Hilfe und den Quasineustart des Staates etwasgetan werden muss, damit Institutionen, NGOs und de-ren Mitarbeiter ihren Job machen können. Auch derenArbeit gedeiht am besten, wenn Sicherheit, Stabilität undFrieden langfristig durch Mali selbst gewährleistet wer-den. Dazu gehört, weitere Gräueltaten an der Zivilbevöl-kerung zu verhindern und die systematische Zerstörungvon Kulturgütern, wie etwa in Timbuktu, zu stoppen.Konfliktpotenzial birgt dabei nicht allein der Nord-Süd-Konflikt, sondern auch die grundlegende Zerrüttungder Zivilgesellschaft. Jahre der Korruption und derMachtkämpfe um Einnahmen aus Drogenschmuggel,Waffen- und Menschenhandel haben ihren Teil zu demKonflikt beigetragen. Hier muss die strukturelle Aufbau-hilfe ansetzen.Es liegt meines Erachtens auf der Hand, dass Plänefür eine positive wirtschaftliche Entwicklung und eineGenesung Malis erst dann greifen können, wenn die Ge-walt beigelegt ist, wenn die malischen Streitkräfte diesaus eigener Kraft gewährleisten können.
Hierauf liegt nach wie vor der Fokus der internationalenGemeinschaft. Derzeit brauchen die malischen Streit-kräfte einfach noch Unterstützung, um in ihrem eigenenLand langfristig selbst für Sicherheit, Stabilität und Frie-den sorgen sowie dem Terrorismus Einhalt gebieten zukönnen.Es fehlt derzeit noch stark an Training, Logistik, Aus-rüstung und Erfahrung. Diese Lücke schließt die Ausbil-dungsmission, an der wir uns beteiligen. Darum ist dieZustimmung zum Antrag der Bundesregierung ein rich-tiger und wichtiger Schritt im Sinne einer verantwor-tungsvollen Außenpolitik.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1301
(C)
(B)
Vielen Dank. Herr Kollege Vietz, das war heute Ihre
erste Rede im Bundestag. Ich gratuliere Ihnen im Namen
aller. Als vorletzter Redner vor einer namentlichen Ab-
stimmung zu reden, ist eine besondere Herausforderung.
Herzlichen Glückwunsch!
Letzter Redner in der Debatte ist jetzt der Kollege
Florian Hahn, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vieles ist schon gesagt worden. Vermutlich
werde ich manches wiederholen, aber das lässt sich als
letzter Redner zu einem Thema, über das so große Einig-
keit herrscht, nicht ganz vermeiden. Im Zweifel gelingt
es vielleicht doch noch, den ein oder anderen von der
Fraktion Die Linke zu überzeugen, dem Einsatz zuzu-
stimmen.
Wir geben die Hoffnung nie auf.
Im Januar 2013 hat sich Frankreich entschlossen, die
malischen Truppen im Kampf gegen islamistische Ein-
heiten im Norden zu unterstützen. So konnte in letzter
Minute ein Vordringen der Rebellengruppen, die für
Flucht und Vertreibung von Hunderttausenden verant-
wortlich sind, in die Hauptstadt Bamako verhindert wer-
den. Deutschland unterstützt Frankreich im Rahmen der
EU-Mission durch Ausbildung und Beratung der mali-
schen Armee sowie im Rahmen der UN-Friedensmission
MINUSMA durch Transportflugzeuge.
Das Mali-Mandat kann als ausgesprochen erfolgreich
bewertet werden. Ausbildung und Beratung tragen
Früchte. Die Lage in Mali insgesamt hat sich vergleichs-
weise beruhigt. Unser Engagement im militärischen Be-
reich beinhaltet die Ausbildung von Sicherheitskräften.
Sie sollen in die Lage versetzt werden, selbst dauerhaft
für Sicherheit und Stabilität zu sorgen. Das ist ein wich-
tiger Teil unseres vernetzten Ansatzes, der auch den
Aufbau von staatlichen und demokratischen Strukturen
sowie wirtschaftliche Entwicklung beinhaltet.
Im Zuge der Verlängerung des Mandats wollen wir
die Mandatsobergrenze um 70 auf 250 Soldatinnen und
Soldaten erhöhen. Dies ist meiner Ansicht nach richtig
und verhältnismäßig, wobei wir im Blick behalten müs-
sen, dass die Zahl Französisch sprechender Soldaten in
der Bundeswehr begrenzt ist. Deshalb ist es gut, dass
gestern in Paris der Einsatz der Deutsch-Französischen
Brigade vereinbart wurde.
Kolleginnen und Kollegen, wir müssen unseren Ein-
satz in Mali verlängern, um militärische Strukturen auf-
zubauen, die nachhaltig und selbstständig funktionieren.
Auch wenn wir das Mandat immer nur um ein Jahr ver-
längern, sollten wir dafür sorgen, die Infrastruktur für
unsere Soldaten deutlich zu verbessern und auf ein län-
geres Engagement auszurichten.
Der Einsatz in Mali zeigt, dass wir bereits erfolgreich
Verantwortung in Afrika übernehmen. Aber die Verant-
wortung besteht nicht allein in der Bereitstellung von
Militär oder Kampftruppen. Es gibt weitere Krisenregio-
nen in Afrika, die uns bereits beschäftigen oder noch be-
schäftigen werden.
Ich bin der Meinung, dass wir insgesamt unser Au-
genmerk verstärkt auf den Kontinent Afrika richten müs-
sen. Die CDU/CSU-Fraktion wird zu diesem Thema ei-
nen eigenen Kongress durchführen; denn Afrika muss
differenziert betrachtet werden, als Kontinent, der sehr
pluralistisch und heterogen ist.
Wann immer es um einen erneuten Einsatz oder mehr
Engagement geht, sollten wir intensiver als bisher fol-
gende Fragen beantworten: Welche Interessen leiten uns
in Deutschland oder Europa? Was wollen wir in wel-
chem Zeitraum erreichen? Können wir das überhaupt er-
reichen? Wie wollen wir das erreichen? Welche Instru-
mente wollen wir einsetzen? Haben wir dafür überhaupt
ausreichende Ressourcen? Das gilt gerade für den Be-
reich Personal. Wir wissen beispielsweise, dass die Ein-
satzbelastung in Teilbereichen der Bundeswehr schon
jetzt sehr hoch und manchmal auch grenzwertig ist. Wir,
das Parlament, wollen zusammen mit der Regierung
Antworten auf diese Fragen erarbeiten, bevor wir neue
Einsätze bestreiten. Auf diesen Prozess freue ich mich.
Er setzt viel Bereitschaft zu Transparenz und Kommuni-
kation bei allen Seiten voraus.
Abschließend möchte ich allen deutschen Sicherheits-
und Hilfskräften speziell in Mali für ihren Einsatz dan-
ken und alles Gute, Erfolg und Gottes Segen wünschen.
Ich bitte um Zustimmung zu diesem Mandat.
Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksa-che 18/603 zu dem Antrag der Bundesregierung zurFortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscherStreitkräfte an der EU-geführten AusbildungsmissionEUTM Mali.Zu dieser Abstimmung liegen drei Erklärungen ge-mäß § 31 unserer Geschäftsordnung schriftlich vor.1)Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung, den Antrag auf Drucksache 18/437 anzunehmen.Wir stimmen über die Beschlussempfehlung namentlichab. Ich darf die Schriftführerinnen und Schriftführer bit-ten, ihren Platz einzunehmen. – Sind die Plätze an denUrnen besetzt? – Das ist noch nicht der Fall. – Jetzt sindalle Plätze besetzt. Ich eröffne die Abstimmung.1) Anlage 7
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1302 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seineStimme noch nicht abgegeben hat? – Ich sehe, das istnicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte dieSchriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-lung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Ab-stimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.1)Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 18/610. Wer stimmt für diesen Entschlie-ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Damit ist der Antrag gegen die Stimmen der Grünen mitden Stimmen des übrigen Hauses abgelehnt.Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusseszu dem Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu der Abgabe einer Regierungserklärungdurch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am19. und 20. Dezember 2013 in Brüssel. Der Ausschussempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 18/531, den Entschließungsantrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/196 abzuleh-nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist die Be-schlussempfehlung mit den Stimmen von CDU/CSU-und SPD-Fraktion angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten MariaKlein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg,Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENUnabhängige Patientenberatung stärken undausbauenDrucksache 18/574Überweisungsvorschlag:Ausschuss für GesundheitNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Die Aussprache eröffnet die Kollegin Maria Klein-Schmeink, Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte FrauPräsidentin und – gerade bei diesem Thema – ehemaligeGesundheitsministerin! Wir bringen an dieser Stelle alsGrüne den Antrag „Unabhängige Patientenberatung stär-ken und ausbauen“ ein. Warum tun wir das? Seit demJahr 2000 gibt es in Deutschland eine unabhängige Pa-tientenberatung, gefördert mit Mitteln der GKV, auf denWeg gebracht durch die damalige rot-grüne Regierung,und zwar als Modellprojekt mit einer zehnjährigen Mo-dellphase, die dann mit den Stimmen aller Fraktionen indiesem Parlament 2011 als Regelaufgabe im Sozialge-setzbuch verankert worden ist.1) Ergebnis Seite 1303 CDiese Entscheidung haben tatsächlich alle Fraktionenhier im Bundestag begrüßt, wenngleich man sagen muss:Die FDP musste vonseiten der Union durchaus zumJagen getragen werden. Das ist vielleicht auch einer derGründe, warum das Potenzial der unabhängigen Patien-tenberatung nicht so entfaltet werden konnte, wie esnach dieser Modellphase vielleicht möglich und nötiggewesen wäre.Gleichwohl kann man sagen: Nach einer Ausschrei-bungsphase und dem Zuschlag hat dann die neue UPD2011 ihren Betrieb aufgenommen. Wir müssen sagen:Wir blicken heute auf eine echte Erfolgsgeschichtezurück. Es hat sich gezeigt, dass viele Patientinnen undPatienten sowohl telefonisch als auch persönlich dieseBeratungsstellen, bundesweit das gesamte Netz, in An-spruch nehmen. Sie suchen neutrale und gut informierteBeratung bei medizinischen Fragen, bei psychosozialenFragen und bei rechtlichen Fragen. Es geht also im Kernum die Wahrnehmung sozialer Bürgerrechte, die Patien-tinnen und Patienten zustehen.
Sehr häufig geht es an dieser Stelle um die Leistungsent-scheidungen der Krankenkassen, aber es geht natürlichauch um das gesamte Versorgungsgeschehen im medizi-nischen Bereich.Gleichzeitig ist verankert worden, dass die Beratungs-stellen der UPD eine Art Seismograf sind, um Verände-rungsbedarf im Gesundheitswesen gerade bezogen aufdie Patienten anzuzeigen und uns als Politik hilfreicheTipps zu geben: Wo müssen wir gegensteuern? Wo müs-sen wir darauf achten, dass die Versorgung besser undpatientengerechter wird? Wo müssen wir als Politik dieentsprechenden Rahmenbedingungen dafür schaffen?Meine Damen und Herren, wir müssen an dieserStelle doch alle das Interesse haben, das, was wir überviele Jahre aufgebaut und zum Erfolg geführt haben,durch passende und zielführende gesetzliche Rahmenbe-dingungen zu erhalten und auszubauen.
Das genau wollen wir mit unserem Antrag erreichen.Warum bringen wir den Antrag jetzt ein? Derzeit läuftdie Vorbereitungsphase der Ausschreibung für denneuen Vertragszeitraum. Wir wissen durch die Begleit-forschung und durch die Rechenschaftsberichte, welcheDinge wir verändern müssen, und sollten jetzt zumindestdie Chance ergreifen, das anzugehen. Dabei geht es umden Ausbau der Beratungsstellen, es geht um die Verlän-gerung der Vertragslaufzeiten, und es geht um die Stär-kung der Unabhängigkeit.Zum ersten Punkt. Wir haben derzeit 21 Beratungs-stellen im gesamten Bundesgebiet. Das heißt übersetzt:In Nordrhein-Westfalen, dem größten Bundesland, ha-ben wir drei Beratungsstellen. Daran sieht man: DieAusstattung ist nicht besonders fürstlich. Wir meinen,wir müssen von heute 21 Beratungsstellen auf eine Ziel-marke von 31 kommen. Das entspricht in etwa einer Re-lation von 2,5 Millionen Versicherten zu einer Bera-tungsstelle.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1303
Maria Klein-Schmeink
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Weiterhin können wir sagen: Durch die enorme Inan-spruchnahme haben wir leider den Zustand, dass vieledieser Beratungsstellen telefonisch kaum noch erreich-bar sind. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass nurnoch 42 Prozent der Anrufenden direkt durchkommenkönnen. Das ist ein zentrales Indiz dafür, dass wir jetzttätig werden müssen, die Anzahl der Beratungsstellenauszubauen.
Zweitens geht es darum, sich noch einmal die Ver-tragslaufzeiten anzuschauen. Vergegenwärtigen Sie sicheinmal: 2011 ist der Zuschlag erteilt worden; heute,2014, denken wir schon wieder über die neue Ausschrei-bung nach. Das zeigt ganz deutlich: Wir müssen die Ver-tragszeiträume verlängern. Wir schlagen vor, sie vonderzeit fünf auf zehn Jahre zu verlängern. Für das Funk-tionieren der Beratungsstellen sind ein enormer Ent-wicklungsaufwand und eine enorme Qualifizierung not-wendig. Das sollten wir nicht durch zu engeVertragslaufzeiten gefährden.
Drittens müssen wir die Unabhängigkeit stärken. Esist ja nicht ohne Grund so, dass wir keine Gewinnorien-tierung haben, dass es um kostenfreie und unabhängigeBeratung geht. Wir müssen sicherstellen, dass die Trä-gerschaft diese Unabhängigkeit tatsächlich unterstützt.Derzeit ist der GKV-Spitzenverband zuständig. Wir mei-nen, das ist nicht die richtige Adresse, um zum Beispieldas jetzt laufende Ausschreibungsverfahren zu beglei-ten. Immerhin werden in 50 Prozent der BeratungsfälleLeistungsprobleme, beispielsweise der Krankenkassen,angesprochen. Daran können wir ganz klar sehen: Hiergibt es ein Spannungs- bzw. Konfliktfeld. Das solltenwir ausräumen, indem wir die Trägerschaft neu ordnenund sie einer wirklich unabhängigen Stelle, beispiels-weise dem Bundesversicherungsamt, übertragen.
All diese Punkte sind geeignet, den Charakter der un-abhängigen Beratungsstellen weiter zu profilieren, dasAngebot auszuweiten, in die verschiedenen Bevölke-rungsgruppen weiter hineinzureichen und gleichzeitig si-cherzustellen, dass unser Gesundheitswesen den Patien-ten dient und den Wünschen der Patienten durchunabhängige Beratung und Hilfe gerecht wird. Im Koali-tionsvertrag haben Sie dazu, wie wir meinen, durchausden einen oder anderen richtigen Schritt formuliert. Bitteschauen Sie sich unseren Vorschlag im weiteren Bera-tungsverfahren ergebnisoffen an.Danke schön.
Vielen Dank. – Bevor ich dem Kollegen ReinerMeier, CDU/CSU-Fraktion, das Wort erteile, möchte ichIhnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführernermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung– Drucksachen 18/437 und 18/603 – bekannt geben: ab-gegebene Stimmen 591. Mit Ja haben gestimmt 526, mitNein haben gestimmt 61, Enthaltungen 4. Damit ist dieBeschlussempfehlung angenommen.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 590;davonja: 525nein: 61enthalten: 4JaCDU/CSUStephan AlbaniKatrin AlbsteigerArtur AuernhammerDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleJulia BartzGünter BaumannMaik BeermannManfred Behrens
Veronika BellmannSybille BenningDr. Andre BergheggerDr. Christoph BergnerUte BertramPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexandra Dinges-DierigAlexander DobrindtMichael DonthThomas DörflingerMarie-Luise DöttHansjörg DurzJutta EckenbachDr. Bernd FabritiusHermann FärberUwe FeilerDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachDirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachThorsten FreiDr. Astrid FreudensteinDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Thomas GebhartAlois GerigEberhard GiengerCemile GiousoufJosef GöppelReinhard GrindelUrsula Groden-KranichHermann GröheKlaus-Dieter GröhlerMichael Grosse-BrömerAstrid GrotelüschenMarkus GrübelManfred GrundOliver GrundmannMonika GrüttersDr. Herlind GundelachFritz GüntzlerChristian HaaseFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtMatthias HauerMark HauptmannDr. Stefan HeckDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilFrank Heinrich
Mark HelfrichJörg HellmuthRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingPeter HintzeChristian HirteRobert HochbaumAlexander HoffmannKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampDr. Hendrik HoppenstedtMargaret HorbBettina HornhuesCharles M. HuberAnette Hübinger
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1304 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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Hubert HüppeErich IrlstorferThomas JarzombekSylvia JörrißenDr. Franz Josef JungXaver JungAndreas Jung
Dr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterSteffen KanitzAlois KarlAnja KarliczekBernhard KasterVolker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterDr. Georg KippelsVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenMarkus KoobCarsten KörberHartmut KoschykKordula KovacMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Roy KühneGünter LachUwe LagoskyDr. Karl A. LamersAndreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeBarbara LanzingerDr. Silke LaunertPaul LehriederDr. Katja LeikertDr. Philipp LengsfeldDr. Andreas LenzPhilipp Graf LerchenfeldDr. Ursula von der LeyenAntje LeziusIngbert LiebingMatthias LietzAndrea LindholzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsWilfried LorenzDr. Claudia Lücking-MichelDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigKarin MaagYvonne MagwasThomas MahlbergDr. Thomas de MaizièreGisela ManderlaMatern von MarschallHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Reiner MeierDr. Michael MeisterJan MetzlerMaria MichalkDr. h.c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtMarlene MortlerElisabeth MotschmannDr. Gerd MüllerCarsten Müller
Stefan Müller
Dr. Philipp MurmannDr. Andreas NickMichaela NollHelmut NowakDr. Georg NüßleinWilfried OellersFlorian OßnerDr. Tim OstermannHenning OtteSylvia PantelMartin PatzeltDr. Martin PätzoldUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferRonald PofallaEckhard PolsThomas RachelKerstin RadomskiAlexander RadwanAlois RainerDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche
Lothar RiebsamenJosef RiefDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenErwin RüddelAlbert RupprechtAnita Schäfer
Dr. Annette SchavanAndreas ScheuerKarl SchiewerlingJana SchimkeNorbert SchindlerTankred SchipanskiHeiko SchmelzleChristian Schmidt
Gabriele Schmidt
Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön
Dr. Ole SchröderDr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-DrüggelteDr. Klaus-Peter SchulzeUwe Schummer
Christina SchwarzerDetlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerTino SorgeJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelDr. Wolfgang StefingerAlbert StegemannPeter SteinErika SteinbachSebastian SteinekeJohannes SteinigerChristian Frhr. von StettenDieter StierRita StockhofeGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerMatthäus StreblKarin StrenzThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenDr. Sabine Sütterlin-WaackDr. Peter TauberAntje TillmannAstrid Timmermann-FechterDr. Hans-Peter UhlDr. Volker UllrichArnold VaatzOswin VeithThomas ViesehonMichael VietzVolkmar Vogel
Sven VolmeringChristel Voßbeck-KayserKees de VriesDr. Johann WadephulMarco WanderwitzNina WarkenKai WegnerAlbert WeilerMarcus Weinberg
Dr. Anja WeisgerberPeter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannMarian WendtKai WhittakerPeter WichtelAnnette Widmann-MauzHeinz Wiese
Klaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerOliver WittkeDagmar G. WöhrlBarbara WoltmannTobias ZechHeinrich ZertikEmmi ZeulnerGudrun ZollnerSPDNiels AnnenIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeike BaehrensUlrike BahrHeinz-Joachim BarchmannDr. Katarina BarleyDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsDr. Matthias BartkeSören BartolBärbel BasDirk BeckerUwe BeckmeyerLothar Binding
Burkhard BlienertDr. Karl-Heinz BrunnerMarco BülowEdelgard BulmahnMartin BurkertDr. Lars CastellucciPetra CroneBernhard DaldrupDr. Daniela De RidderDr. Karamba DiabySabine DittmarMartin DörmannElvira Drobinski-WeißSiegmund EhrmannMichaela Engelmeier-HeiteDr. h.c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerSaskia EskenKarin Evers-MeyerDr. Johannes FechnerDr. Fritz FelgentreuElke FernerChristian FlisekGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagMichael GerdesMartin GersterIris GleickeUlrike GottschalckKerstin GrieseUli GrötschGabriele GronebergMichael GroßWolfgang GunkelBettina HagedornRita Hagl-KehlMetin HakverdiUlrich HampelSebastian HartmannMichael Hartmann
Dirk HeidenblutHubertus Heil
Gabriela HeinrichWolfgang HellmichDr. Barbara HendricksHeidtrud HennGustav HerzogGabriele Hiller-OhmThomas HitschlerDr. Eva Högl
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1305
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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Matthias IlgenChristina JantzFrank JungeJosip JuratovicThomas JurkOliver KaczmarekJohannes KahrsRalf KapschackGabriele KatzmarekUlrich KelberMarina KermerArno KlareLars KlingbeilDr. Bärbel KoflerDaniela KolbeBirgit KömpelAnette KrammeDr. Hans-Ulrich KrügerHelga Kühn-MengelChristine LambrechtChristian Lange
Steffen-Claudio LemmeGabriele Lösekrug-MöllerHiltrud LotzeKirsten LühmannCaren MarksKatja MastHilde MattheisDr. Matthias MierschKlaus MindrupSusanne MittagBettina MüllerMichelle MünteferingDr. Rolf MützenichDietmar NietanUlli NissenThomas OppermannMahmut Özdemir
Aydan ÖzoguzMarkus PaschkeChristian PetryJeannine PflugradtSabine PoschmannJoachim PoßFlorian PostDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeDr. Simone RaatzMartin RabanusMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannAndreas RimkusSönke RixDennis RohdeDr. Martin RosemannRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Bernd RützelJohann SaathoffAnnette SawadeDr. Hans-JoachimSchabedothAxel Schäfer
Dr. Nina ScheerMarianne Schieder
Udo SchiefnerDr. Dorothee SchlegelUlla Schmidt
Matthias Schmidt
Carsten Schneider
Ursula SchulteSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeStefan SchwartzeAndreas SchwarzRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingRainer SpieringNorbert SpinrathSvenja StadlerMartina Stamm-FibichSonja SteffenPeer SteinbrückChristoph SträsserKerstin TackClaudia TausendMichael ThewsFranz ThönnesWolfgang TiefenseeCarsten TrägerRüdiger VeitUte VogtDirk VöpelGabi WeberBernd WestphalAndrea WickleinDirk WieseGülistan YükselDagmar ZieglerStefan ZierkeManfred ZöllmerBrigitte ZypriesBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENLuise AmtsbergKerstin AndreaeAnnalena BaerbockVolker Beck
Agnieszka BruggerEkin DeligözKatja DörnerKatharina DrögeHarald EbnerDr. Thomas GambkeMatthias GastelKai GehringKatrin Göring-EckardtAnja HajdukBritta HaßelmannDr. Anton HofreiterBärbel HöhnDieter JanecekUwe KekeritzKatja KeulSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerStephan Kühn
Christian Kühn
Renate KünastMarkus KurthSteffi LemkeDr. Tobias LindnerIrene MihalicBeate Müller-GemmekeÖzcan MutluDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffCem ÖzdemirLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Manuel SarrazinElisabeth ScharfenbergUlle SchauwsDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtKordula Schulz-AscheDr. Wolfgang Strengmann-KuhnMarkus TresselJürgen TrittinDoris WagnerDr. Valerie WilmsNeinCDU/CSUDr. Matthias ZimmerSPDKlaus BarthelDr. Ute Finckh-KrämerCansel KiziltepeWaltraud Wolff
DIE LINKEDr. Dietmar BartschMatthias W. BirkwaldHeidrun BluhmChristine BuchholzEva Bulling-SchröterRoland ClausDr. Diether DehmKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeDiana GolzeAnnette GrothDr. Andre HahnHeike HänselDr. Rosemarie HeinAndrej HunkoSigrid HupachUlla JelpkeSusanna KarawanskijKerstin KassnerKatja KippingJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichDr. Gesine LötzschThomas LutzeCornelia MöhringNiema MovassatDr. Alexander S. NeuThomas NordPetra PauHarald Petzold
Richard PitterleMartina RennerDr. Petra SitteKersten SteinkeDr. Kirsten TackmannAzize TankFrank TempelDr. Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerHalina WawzyniakKatrin WernerBirgit WöllertJörn WunderlichHubertus ZdebelPia ZimmermannBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENPeter MeiwaldCorinna RüfferHans-Christian StröbeleEnthaltenSPDPetra Hinz
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMonika LazarDr. Harald TerpeDr. Julia Verlinden
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1306 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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Jetzt hat der Kollege Reiner Meier das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das System der Gesundheitsversorgung in Deutschlandgehört zu den besten und leistungsfähigsten Systemenweltweit. Gleichzeitig hatten die Patienten in unseremLand noch nie so viele verbriefte Rechte wie heute. Fastauf den Tag genau vor einem Jahr ist das Patientenrech-tegesetz in Kraft getreten und hat die Grundlage dafürgeschaffen, dass der Patient gleichberechtigter Partnerim Gesundheitssystem geworden ist. Dabei ist gelungen,was im Gesundheitswesen selten genug passiert, näm-lich dass eine für alle Akteure tragbare Lösung herausge-kommen ist.
Die Stichworte hierzu heißen „Transparenz“ und„Rechtssicherheit“. Zum ersten Mal in seiner über 100-jährigen Geschichte gibt es im Bürgerlichen Gesetzbucheine klare gesetzliche Regelung des medizinischen Be-handlungsrechts. Die Zeiten des kunstvollen, aber unge-schriebenen Richterrechts sind jetzt vorbei.Wer zum Arzt geht, hat ein Recht darauf, alles zu er-fahren, was für die Behandlung relevant ist. Das beginntbei der Diagnose und geht über die Folgen und Risikender Behandlung bis hin zu alternativen Heilungsmög-lichkeiten.Die Kosten sind transparenter geworden; denn derArzt muss bei individuellen Gesundheitsleistungen denPatienten vorher aufklären und informieren, wie viel erzuzahlen muss.Es gibt jetzt klare gesetzliche Maßstäbe für die ärztli-che Dokumentation; gleichzeitig hat der Patient grund-sätzlich das Recht, seine Patientenakte jederzeit einzuse-hen.Bei Behandlungsfehlern ist das oberste Ziel die Ge-sundheit des Patienten. Meine Damen und Herren, auchim medizinischen Bereich passieren – leider – Fehler,ganz einfach weil hier Menschen am Werke sind. Heutekann jedoch ein Arzt Behandlungsfehler gegenüber demPatienten zugeben und korrigieren, ohne gleich befürch-ten zu müssen, strafrechtlich belangt zu werden.Diese neue Fehlerkultur gilt auch im stationären Be-reich. Neben einem verpflichtenden Beschwerdema-nagement gibt es eine Förderung für Fehlermeldesys-teme in Kliniken. Auch da gilt: Fehler werden wir nieverhindern können; aber wir können aus Fehlern lernen.
Wie Sie sehen, hat es etliche Verbesserungen für diePatienten gegeben, und das ist gut und richtig. Wir wis-sen aber auch, dass viele Menschen Fragen zu den Vor-gängen im Gesundheitswesen haben. Sie wollen zumBeispiel mehr zur Behandlung, zu Kassenleistungen, zuihren Rechten als Patienten wissen. Dabei brauchen sieUnterstützung und Beratung. Genau deshalb haben wirdie Unabhängige Patientenberatung von Anfang an un-terstützt und konsequent weiterentwickelt. Es war näm-lich zu Zeiten der christlich-liberalen Bundesregierungim Jahr 2011, als aus dem Modellversuch „Patientenbe-ratung“ eine Regelleistung gemacht wurde. Das solltenwir auch nicht vergessen, meine Damen und Herren!
Die UPD leistet seitdem einen wichtigen Beitrag dazu,das Leitbild des mündigen und selbstbestimmten Patien-ten Schritt für Schritt zu verwirklichen.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich diese Ge-legenheit nutzen, um eine Lanze für die vielen engagier-ten Mitarbeiter der Unabhängigen Patientenberatung zubrechen.
Es ist ihre Arbeit, die von den Patienten zu Recht so gutangenommen wird. Dafür gebührt ihnen unser allerDank.
Meine Damen und Herren von den Grünen, in Ihremvorliegenden Antrag fordern Sie den kontinuierlichenAusbau der UPD. Ich gestehe, da sind wir gar nicht weitauseinander.
Wir sollten aber auch nicht vergessen, dass es die UPDin der heutigen Form gerade einmal drei Jahre gibt. Las-sen Sie uns doch erst einmal abwarten, wo sich der Bera-tungsbedarf einpendelt, bevor wir am Geldhahn der Ver-sicherten drehen.Wir sind uns darin einig, dass wir gezielt auf jeneMenschen zugehen müssen, die besondere Unterstüt-zung brauchen. Die UPD hat darauf hingewiesen, dassvor allem ältere Menschen, Menschen mit geringen fi-nanziellen Ressourcen und Bürger mit Migrationshinter-grund besonderen Beratungsbedarf haben. Dem gerechtzu werden werden wir uns selbstverständlich bemühen.
Ich freue mich an dieser Stelle übrigens ganz besondersdarüber, dass Sie das Motto der CSU „Näher am Men-schen“ so gut verinnerlicht haben.
Ihre Forderung, die Zahl der Beratungsstellen von 22auf 31 Büros auszubauen, halte ich dennoch für verfrüht.Natürlich liest sich das auf dem Papier zunächst gut,aber auch wenn Sie den Antrag dreimal einbringen, wirder dadurch nicht stichhaltiger.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1307
Reiner Meier
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Bei den allermeisten Patienten ist völlig unklar, ob amEnde eine spürbare Verbesserung erreicht wird. Nachden aktuellen Zahlen der UPD wählen etwa 80 Prozentder Ratsuchenden das Telefon als Beratungsmedium. Sieselbst schreiben, dass von allen Anrufern bei der UPD– Sie sagten das vorhin auch – nur noch durchschnittlich42 Prozent tatsächlich eine Beratung bekommen. DerRest – immerhin 58 Prozent der Anrufer – bleibt in derWartschleife hängen. Das ist ein Anstieg um 24 Prozent-punkte seit 2010. Da müssen wir, glaube ich, ansetzen.Das Geld sollte dorthin, wo es am meisten hilft, nämlichzur Telefonberatung.Lassen Sie uns an dieser Stelle nicht vergessen, dassauch andere Stellen viel Gutes in der Patientenberatungleisten. Ich denke dabei in erster Linie an die Ärzte, aberauch an die freien Beratungsstellen, die zum Teil ehren-amtlich arbeiten. Auch das muss in dieser Diskussioneinmal gesagt werden.
Sie schlagen in Ihrem Antrag vor, die bewährte Fi-nanzierungsstruktur der UPD umzubauen. Das über-zeugt mich, ehrlich gesagt, nicht. Ihnen schwebt dochnichts anderes vor als eine gesetzlich verordneteZwangsfinanzierung durch die Krankenkassen. Wie Siedas schaffen wollen, dazu steht in Ihrem Antrag aller-dings keine Silbe. Private Krankenversicherungen kön-nen Sie nämlich nicht einfach zur Gewährung einer ent-sprechenden Regelleistung zwingen.Sie begründen das alles mit Konfliktpotenzial, mitmöglicher Beeinflussung, mit angeblich fehlender Neu-tralität. Ich sage Ihnen: Die Behauptung allein ist zu we-nig. Schon heute ist es den Kassen gesetzlich verboten,die Beratung der UPD inhaltlich oder dem Umfang nachzu beeinflussen. Mir liegen keine Anhaltspunkte dafürvor, dass sich die Krankenkassen in die Beratungstätig-keit der UPD inhaltlich einmischen würden. Ebenso we-nig gibt es übrigens belastbare Hinweise darauf, dass sieihren Finanzierungsaufgaben nicht nachkämen. Bevorich bereit bin, die organisatorische Konstruktion derUPD anzutasten, erwarte ich von Ihnen mehr als bloßeBehauptungen und Mutmaßungen, ganz besonders dann,wenn ein Verstoß gegen ein Gesetz im Raum steht.Wir haben vor drei Jahren das Modell zur Regel ge-macht und stehen selbstverständlich weiterhin unabding-bar hinter der Unabhängigen Patientenberatung. Einweiterer Garant für die Unabhängigkeit der UPD ist derPatienten- und Pflegebeauftragte der Bundesregierung,Karl-Josef Laumann.Die Patientenberatung ist aber auch ein lernendesSystem. Dazu gehört, das System auch lernen zu lassenund nicht voreilig und unüberlegt daran herumzubasteln.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben– damit möchte ich auch schließen – in den letzten Jah-ren viel für die Patienten erreicht. Wo es sinnvoll ist,sind wir auch immer für Gespräche offen.Ein gesunder Mensch hat viele Wünsche, ein krankernur einen Wunsch. Ich wünsche Ihnen und uns allen,dass wir viele Wünsche haben. Aber deswegen ist derDeutsche Bundestag noch lange kein Wunschkonzert.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Das war Ihre erste Rede. Herzlichen
Glückwunsch im Namen aller Kolleginnen und Kollegen
dazu!
Das Wort hat die Kollegin Kathrin Vogler, Fraktion
Die Linke.
Lieber Herr Kollege Meier, auch ich gratuliere Ihnenzu Ihrer ersten Rede hier im Haus. Wozu ich Ihnen nichtgratulieren kann, ist diese ultimative Lobhudelei,
die Sie gerade auf das sogenannte Patientenrechtegesetzder letzten Koalition vorgetragen haben, aber dazu spä-ter.Die Unabhängige Patientenberatung, wofür brauchenwir die eigentlich? Zu mir kam neulich ein Bürger insWahlkreisbüro zur Sprechstunde, der sich von verschie-denen Ärzten, von seiner Krankenversicherung, vomMedizinischen Dienst schlecht beraten und schlecht be-handelt gefühlt hat. Er hatte durchaus erstzunehmendeHinweise darauf, dass er einen Arbeitsunfall erlittenhatte, der nicht richtig diagnostiziert und nicht richtigbehandelt worden ist.
In der Folgezeit haben sich seine Beschwerden ver-schlimmert. Er hat inzwischen dauerhaft Schmerzen. In-zwischen ist er Erwerbsunfähigkeitsrentner mit einer sokleinen Rente, dass er davon noch nicht einmal seineKrankenkassenbeiträge bezahlen kann. Also eine kom-plexe Problemlage, bei der auch ich als Bundestagsabge-ordnete nicht alle offenen Fragen beantworten konnte.Da war ich natürlich froh, dass es nicht nur für diesenBürger, sondern auch für viele Tausend andere das An-gebot der Unabhängigen Patientenberatung, der UPD,gibt. Dieses Angebot ist kostenlos. Es wird inzwischenbis zu 80 000-mal jährlich in Anspruch genommen:
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1308 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Kathrin Vogler
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entweder an der gebührenfreien Telefonhotline oder per-sönlich in den Beratungsstellen.Ich habe also die Hotline angerufen und musste fest-stellen, dass man da sehr schwer durchkommt. MeinRatsuchender wird keine der Beratungsstellen aufsuchenkönnen, obwohl seine Fragen eigentlich im persönlichenGespräch hätten geklärt werden müssen; denn von mei-ner Heimatstadt sind es bis zur nächsten Beratungsstellein Dortmund oder Bielefeld 80 Kilometer. Er kann sichdie Fahrtkosten in Form eines Bahntickets einfach nichtleisten. So geht es vielen der allein bei uns im Münster-land lebenden 1,5 Millionen Menschen.Die Beraterinnen und Berater der UPD leisten seitvielen Jahren eine hervorragende Arbeit.
Aber ihre Erreichbarkeit für die Menschen, die nicht inunmittelbarer Nähe einer Beratungsstelle leben, ist tat-sächlich auch aus unserer Sicht verbesserungswürdig.
An der Hotline ist oft kein Durchkommen. Da müssensich die Menschen im wahrsten Sinne des Wortes dieFinger wundwählen, weil es einfach zu wenig Beraterin-nen und Berater gibt. Wir haben es schon gehört: Nurungefähr 42 Prozent der Anrufenden kommen innerhalbder ersten Stunde durch. Deswegen meint auch dieLinke: Die UPD braucht dringend mehr Personal für dietelefonische Beratung und für den Ausbau des Bera-tungsnetzes.
Darauf haben wir übrigens gemeinsam mit den Grünenschon vor vier Jahren hingewiesen. Das Modellprojekt,das 2010 ausgelaufen ist, wurde damals in ein Regelan-gebot überführt, nur leider viel zu spät, sodass bis zur er-neuten Ausschreibung schon viele Strukturen weggebro-chen waren, da sich zum Beispiel Beraterinnen undBerater wegbeworben hatten. Deshalb war der Neustartin den Beratungsstellen ausgesprochen mühsam.Auch dass die Mittel für die Beratung nicht erhöhtund nicht an die allgemeinen Kostensteigerungen ange-passt wurden, war ein Schönheitsfehler, den auch wirschon damals kritisiert haben. Die Grünen fordern in ih-rem Antrag, zunächst einmal 10,5 Millionen Euro für dieUPD bereitzustellen. Das ist bei insgesamt 200 Milliar-den Euro im Gesamttopf keine sehr große Summe, aberdas würde doch einige Verbesserungen ermöglichen.Weil die Beratungsstellen nicht danach fragen, ob je-mand privat oder gesetzlich versichert ist, finde ich esnur logisch, auch die privaten Versicherungen verpflich-tend mit in die Finanzierung einzubeziehen.
Auch ein längerer Förderzeitraum von jeweils zehnJahren wäre gut; denn damit könnte besser geplant wer-den, und auch die Beschäftigten hätten eine bessere Per-spektive. Qualifiziertes Personal könnte auch langfristiggehalten werden.Wir unterstützen auch die Idee, dass die Finanzierungunabhängig von den Krankenkassen erfolgen soll.Schließlich sind es in vielen Fällen die Krankenkassen,mit denen die Ratsuchenden Probleme haben. Deswegensind sie nicht neutral.Ergänzend schlage ich vor, dass wir auch eine Lösungfür das Problem der Fahrtkosten für Bedürftige suchen,damit der Besuch von Beratungsstellen nicht weiter zumPrivileg für Großstädter und Besserverdienende wird.Insgesamt ist zu sagen, dass die Grünen einen Antragvorgelegt haben, der die wichtigsten Probleme korrektbenennt und vernünftige Lösungsvorschläge unterbrei-tet. Die Linke unterstützt diese Forderungen, und zwarwirklich von ganzem Herzen. Ich hoffe, dass wir in denAusschussberatungen gemeinsam auch die Kolleginnenund Kollegen der Koalitionsfraktionen davon überzeugenkönnen. Denn nur gut informierte und selbstbewusste Pa-tientinnen und Patienten, die ihre Rechte kennen, könnensich heute im Dschungel des Gesundheitswesens zu-rechtfinden.Wenn es uns dann noch gelingt, diese Koalition dazuzu bringen, endlich ein Patientenrechtegesetz zu erarbei-ten, das diesen Namen wirklich verdient, wäre das einrichtig guter Tag für die Patientinnen und Patienten indiesem Land.
Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die
Kollegin Helga Kühn-Mengel.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Sie wissen es: Das Wort „Patient“ ist lateinischenUrsprungs und hat zu tun mit Dulden, Leiden und Ge-duldhaben. Das wird auch in diesem Gesundheitssystemverlangt. Es ist zwar sehr gut ausgestattet und steht imPrinzip auch weltweit gut da, aber die Patientinnen undPatienten bzw. die Versicherten, die sich in diesem Ge-sundheitssystem bewegen, müssen teilweise sehr vielGeduld haben.Sie müssen etwa lange warten, wenn sie Einsicht inBehandlungsunterlagen nehmen wollen, oder sie erle-ben, wenn sie das endlich tun konnten und die rechtlicheKlärung eines Behandlungsfehlers angehen wollen, wiesie von den Gutachtern der Gegenseite immer wieder ge-fordert und in ganz schwierige Situationen gebracht wer-den.Sie müssen Geduld haben beim Warten auf einenFacharzttermin.
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Helga Kühn-Mengel
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Psychisch kranke Menschen, die Psychotherapie be-nötigen, müssen warten, wenn sie zu der Gruppe der– ich sage das in Anführungsstrichen – „nicht Wartezim-mer-fähigen“ Patienten gehören, ein Ausdruck, über denman wirklich nachdenken muss.Sie müssen Geduld haben als gestresste, körperlichund seelisch kranke Mütter, deren Antrag auf eine Mut-ter-Kind-Kur abgelehnt wurde.Sie müssen sich als Privatversicherte damit auseinan-dersetzen, dass ihnen bestimmte Leistungen, zum Bei-spiel eine ambulante Reha oder die KomplexleistungFrühförderung, verwehrt werden.Demenziell Erkrankte, die eine gerontopsychiatrischeReha haben müssten, erhalten sie nicht.Ganz schwierig wird es im zahnärztlichen Bereich,wo Patientinnen und Patienten gar nicht mehr durchbli-cken, was Regelleistung und was IGeL-Leistung ist undwarum sie hohe Zuzahlungen leisten müssen. Die UPDstellt in diesem Zusammenhang fest, dass nirgendwo soviel begutachtet wird wie im privatärztlichen Bereich.Nicht zuletzt gibt es auch die Patientinnen und Patien-ten, die sehr viel Geduld haben müssen, wenn sie imKrankengeldbezug sind, aber von der Krankenkasse inden Rentenbezug abgedrängt werden sollen.Und viele wollen nach ihrem Krankenhausaufenthaltwissen, wie es weitergeht. Wir kennen die Studien: Über50 Prozent wissen an dieser Stelle nicht, was dann folgt.Wir alle müssen viel Geduld haben, wenn zum Bei-spiel der Gemeinsame Bundesausschuss sechs bis siebenJahre braucht, um eine neue Leistung in den Leistungs-katalog aufzunehmen. Denken wir zum Beispiel an dieKnochendichtemessung. Wenn so etwas endlich Leis-tung der Krankenkasse wird, dann erleben wir, wie ge-schehen, dass auf einmal in diesem Bereich doch wiedereine IGeL-Leistung angeboten wird, die mehr bringt alsdie Kassenleistung. In diesem Bereich herrscht also sehrviel Intransparenz.All die Fälle, von denen wir als Gesundheitspolitikerund -politikerinnen Kenntnis erhalten, laufen erst rechtund in größerer Zahl bei der Unabhängigen Patientenbe-ratung Deutschland auf. Diese erfreut sich über die Jahrehinweg zunehmender Akzeptanz. Wie gesagt handelte essich um ein rot-grünes Projekt, zunächst ein Modellpro-jekt, das dann vor ein paar Jahren in die Regelleistungüberführt wurde. Es ist nun Bestandteil einer ganzenKette zur Stärkung von Patientenrechten. Dazu gehörtauch die Stärkung der Selbsthilfe. Ich rechne auch dasIQWiG und vor allem die dritte Bank im GemeinsamenBundesausschuss dazu. Ich wünsche mir, dass endlichauch die Patientenvertreter und -vertreterinnen einStimmrecht bekommen.
Aber nicht alles, was wir uns wünschen, konnten wir imKoalitionsvertrag durchsetzen.Auf jeden Fall ist festzustellen, dass die UPD enormeKompetenzen in diesen Jahren entwickelt hat. Dazuzähle ich Qualitätssicherung, hohe Standards und Eva-luationen, zum Beispiel Auseinandersetzungen mit derFrage, welche Patienten wir erreichen und welche nicht.
Natürlich muss sich die PKV stärker beteiligen. Na-türlich müssen wir über die Beziehungen zu den Kran-kenkassen reden. Ich stimme dem Kollegen Meier zu,dass die Erhöhung der Anzahl der regionalen Beratungs-stellen auf 31 nicht die Lösung ist. Die Verdichtung desTelefonnetzes scheint auch mir sinnvoller zu sein. DieMenschen wollen nun einmal sprechen. Den Förderzeit-raum auf zehn Jahre zu erweitern, mag verwaltungstech-nisch und mit Blick auf die Mitarbeiter sinnvoll sein, istaber von der Steuerung und der internen Planung hernicht unproblematisch.Auch wir sind für eine Stärkung der UPD. Das istzwar nicht im Koalitionsvertrag verankert; aber Koali-tionspartner und -partnerinnen können sich damit aus-einandersetzen, hierbei bewegen und für Veränderungensorgen. Festgehalten im Koalitionsvertrag ist auf jedenFall – das ist ganz entscheidend für die Versorgungsland-schaft – das neue Institut für Qualitätssicherung undTransparenz im Gesundheitswesen.
Entscheidend für Patienten und Patientinnen ist, dassdieses Institut in seinem Internetauftritt Krankenhaus-vergleiche und viele Informationen zum Gesundheits-system auf evaluierter, harter Faktenbasis zur Verfügungstellen wird. Das ist ein wichtiger Punkt in der Versor-gungslandschaft. Natürlich kann alles noch besser wer-den.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt der Kollege Dr. Roy Kühne.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrte Damenund Herren! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!Die Unabhängige Patientenberatung Deutschland, kurzUPD, ist, wie bereits mehrfach gesagt, ein erfolgreicherBaustein zur Stärkung der – wir kennen das Wort inzwi-schen – selbstbestimmten und selbstbewussten Patien-ten. Dies sollte der oberste Tenor aller Diskussionenwerden.Seit ihrer Überführung von einem Modellvorhaben indie Regelversorgung und der Sicherstellung der Finan-zierung durch die GKV im Jahre 2011 – es wurde bereitsmehrfach gesagt, wer das veranlasst hat – steht die UPDden ratsuchenden Patientinnen und Patienten in Deutsch-land als kompetenter Partner mit Rat und Tat zur Seite;
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Dr. Roy Kühne
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das bestreitet niemand. Die Fragestellungen der Men-schen sind vielfältig und spiegeln im Grunde die alltägli-chen Probleme, die es im Gesundheitswesen gibt, wider.Ich glaube, wir alle kennen aus unserem eigenen Umfeldund wahrscheinlich auch aus eigener Anschauung genaudie Probleme, die ich jetzt im Sinn habe.Man muss dabei bedenken: Qualifizierte Mitarbeite-rinnen und Mitarbeiter, die sich durch Fortbildungen be-müht haben, sich ihren Stand zu erarbeiten, versuchen inden Beratungsstellen oder am Beratungstelefon, fach-kundige und wissenschaftlich fundierte Hilfestellung zugeben. Dafür gebührt ihnen selbstverständlich höchsterRespekt.
So konnten 2013, wie schon gesagt wurde, in über80 000 Beratungsgesprächen beispielsweise Fragen zuden Themen Patientenrechte, Behandlungsfehler, finan-zielle Absicherung, aber auch zu psychischen Krankhei-ten erörtert werden.Die Patientinnen und Patienten sind im täglichen Um-gang mit den Akteuren in unserem Gesundheitswesen inder Tat verschiedensten Szenarien ausgesetzt. Wie ge-sagt, schlechte Beratung, Probleme beim Zugang, Warte-zeiten – ich glaube, wir kennen das – wurden eindeutigim „Monitor Patientenberatung 2013“, einem sehr inte-ressanten Werk, von der UPD genannt. Diese Berichteund Daten der UPD sollten in der Tat Anstoß für diePolitik sein. Sie sollten als Grundlage dienen, um Pro-blemstellungen im Gesundheitswesen zu benennen.Ross und Reiter sollten ruhig beim Namen genannt wer-den.
Das Problem ist – ich glaube, das können wir allenachvollziehen –, dass momentan die Daten und Be-richte von der UPD selber kommen. Es sollte ruhig be-tont werden: Als Grundlage für Anpassungen solltendiese Daten unabhängig erhoben werden und evidenzba-siert sein. Wir sollten schauen, dass auch dieses Produktneutral beobachtet wird.
Es ist nicht so, dass die Ergebnisse der UPD in letzterZeit keine Auswirkungen gehabt hätten. Sie kennen das:Patienten können reagieren. Wir haben die Zahlen mehr-fach genannt.Ein weiteres Beispiel ist das im Jahr 2013 in Kraft ge-tretene Patientenrechtegesetz, das auch in der Praxis sehrdazu beigetragen hat, bei den Menschen Unsicherheitenabzubauen und – ich sage das ganz offen – bei denen, dieMedizin veranstalten, Vorsicht aufkommen zu lassen.Der Patient hat Rechte, und diese werden gestärkt.
Es geht aber nicht nur um den Leistungsanbieter– nennen wir ihn Arzt, Apotheker, Physiotherapeutenoder Logotherapeuten –, sondern das größte Problem isthäufig die Situation bei den Krankenkassen. Hier ist esoftmals so, dass Wartezeiten unnötigerweise entstehen.Ich denke, genau hier sollten das Gesetz und natürlichauch die unabhängige Patientenberatung ansetzen; denndie dortigen Entscheidungen müssen tagtäglich an diePatienten herangetragen und schneller umgesetzt wer-den. Keiner hat Lust, sechs Monate oder auch nur sechsWochen auf Entscheidungen zu warten, die ihn unmittel-bar betreffen und in seiner Lebensqualität durchausnachhaltig negativ beeinflussen.
Die UPD bietet somit einen geschützten Raum für dieRatsuchenden, und das ist gut so. Dort sollen das Selbst-bewusstsein und das Wissen der Patienten gestärkt wer-den. Daher ist die Unabhängigkeit der Beratung das ent-scheidende Element der UPD. Diese Unabhängigkeit derPatientenberatung haben wir in § 65 b SGB V festgelegt.Auch sind hier die Kriterien für die Förderung dieserEinrichtungen genannt. Diese Kriterien sind eindeutig.Zudem werden die Ausschreibung und die Vergabe anzukünftige Träger – ich habe das heute noch einmal ganzgenau nachgelesen – einvernehmlich mit dem Beauftrag-ten der Bundesregierung für die Belange der Patientin-nen und Patienten sowie Bevollmächtigten für Pflegedurchgeführt, sodass auch hier die Unabhängigkeit unddamit die Qualität gewährleistet werden.
Mit der erstmaligen Ernennung eines Staatssekretärsfür Patientenrechte und Pflege hat die jetzige Bundesre-gierung ganz deutlich gezeigt – ich denke, darauf kön-nen wir stolz sein –, wie sehr ihr das Wohl der Patientin-nen und Patienten in Deutschland am Herzen liegt. Es istnicht mehr nur ein MdB, der diese Aufgabe ehrenamt-lich erfüllt. Damit haben wir eine große Stärkung imSystem erreicht, und zwar für alle Seiten.
Jährliche Berichte des GKV-SV legen die Entwick-lung der UPD dar und zeigen mögliche Handlungspoten-ziale auf. Wenn hier ein nachweisbar erhöhter Förderbe-darf besteht, dann kann und muss auch entsprechendgehandelt werden. Der Förderzeitraum von fünf Jahren– dies ist sicherlich überlegenswert – und die anschlie-ßende erneute Ausschreibung dienen auch als Kontroll-funktion. Von dieser Seite her wird sich erweisen, ob dieTräger der Unabhängigen Patientenberatung erfolgreichsind. Sie werden sich, wenn sie gute Arbeit leisten, ge-gen Neubewerber auch wieder durchsetzen können.
Dieser Prozess sollte in jedem Fall transparent sein.Wir dürfen nicht vergessen, dass im Rahmen der UPDBeiträge der Versicherten ausgegeben werden. Es gehtum Beiträge der Bürgerinnen und Bürger, und wir habenverdammt noch mal die Pflicht, damit sorgsam umzuge-hen. Wenn sich ein entsprechender Bedarf ergibt, ist demAusbau der Beratungsstrukturen der UPD auch nichtsentgegenzusetzen. Er muss allerdings – auch das istschon mehrfach gesagt worden – bedarfsgerecht undnach Abwägung und Ausnutzung aller Effizienzreserven
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erfolgen, und es darf nicht einfach nur Geld ins Systemgesteckt werden.
Abschließend möchte ich festhalten: Die UPD hatsich sicherlich als ganz konkrete Hilfestellung für ratsu-chende Menschen erwiesen, und sie muss sich inDeutschland weiter beweisen. Herr Meier hat es gesagt:Sie ist seit drei Jahren am Start. Da kann man so einBaby noch nicht beurteilen. Auf diesem Weg sehen wiraber zunächst die Evaluierung und Optimierung der be-stehenden Strukturen und die Optimierung und Konsoli-dierung der Prozesse im Vordergrund. Man darf Geldnicht einfach nur in ein System stecken, an dessen inter-nen Management man durchaus noch arbeiten kann.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Das war Ihre erste Rede. Auch Ihnen
die herzlichsten Glückwünsche aller Kolleginnen und
Kollegen.
Die erste Rede ist es auch für die letzte Rednerin in
dieser Debatte. Das ist die Kollegin Bettina Müller,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damenund Herren! Viele der Kolleginnen und Kollegen, dieheute hier sitzen, sind, mit Verlaub, alte Hasen im Ge-sundheitswesen.
Trotzdem müssen auch sie manchmal noch aufwendigrecherchieren, was wo wie geregelt ist, welche Leis-tungsansprüche bestehen, welche Leitlinien oder Richtli-nien gelten.Für Neulinge in der Gesundheitspolitik wie mich giltdas noch viel mehr, und das, obwohl ich als Anwältinmit den Schwerpunkten Betreuungs- und Sozialrechtsehr viel an der Schnittstelle zwischen Versicherten,Kostenträgern und Leistungserbringern gearbeitet habe.Wie soll es da erst den – so nenne ich sie mal – Otto Nor-malversicherten gehen? Wie sollen sie alle Leistungsan-sprüche kennen und die dann auch noch mit Nachdruckdurchsetzen? Wie sollen sie den Durchblick im dichtenDschungel des Gesundheitswesens wahren, einem Di-ckicht, bei dem Behandlungs- und Therapievorschlägenoch dazu oft interessengeleitet sind?Daher hat die SPD seinerzeit die Unabhängige Patien-tenberatung erfolgreich gestartet. Sie wird von nieman-dem mehr angezweifelt.
Die hohen Kontaktzahlen in den 22 Beratungsstellen un-terstreichen die große Bedeutung dieses Angebotes.Aber natürlich gilt auch hier: Was gut ist, kann noch bes-ser werden.Ob uns dabei die fünf Vorschläge des Antrags derGrünen weiterbringen, müssen wir in den Ausschussbe-ratungen noch diskutieren. Die Vorschläge laufen ja imKern darauf hinaus, die Zahl der regionalen Beratungs-stellen um 50 Prozent zu erhöhen, die Fördersumme zuverdoppeln und einen unterstellten, vermeintlichen Ein-fluss der Kostenträger zu reduzieren.Nun zeigen uns die vorliegenden Daten der Evaluie-rungsberichte aber Folgendes: Nur etwa 10 Prozent derBeratungsleistungen erfolgen vor Ort in den regionalenBeratungsstellen. Die telefonische Beratung liegt bei80 Prozent. Die meisten Anrufe landen nicht bei den re-gionalen Beratungsstellen, sondern bei der bundesweitenHotline. Auch die Beratung über das Internetportal steigtstetig an.Ob daher die Erreichbarkeit durch neun zusätzlicheStandorte in der Praxis zu einer nennenswerten Verbes-serung der Situation führt, ist zweifelhaft. Dazu sind ge-rade die Wege im ländlichen Raum zu weit, die Mobili-tät von älteren und kranken Menschen – mit ihnen habenwir es ja weitgehend zu tun – zu eingeschränkt. Dahersollten wir in den anstehenden Ausschussberatungennoch einmal prüfen, mit welchen Strukturen die Bera-tung am besten gewährleistet werden kann. Wir solltendas vor allem deshalb ernsthaft prüfen, weil wir in derGroßen Koalition einige Veränderungen planen, die sichauf die Beratungsintensität auswirken werden.
Denken Sie nur an die Termingarantie bei Fachärzten,oder denken Sie an den Anspruch auf eine Zweitmei-nung bei stationären Behandlungen. Auch hier wird dieNachfrage nach Beratung eher noch steigen; denn dieLeute wollen natürlich wissen, welcher Arzt, welcheKlinik hierfür infrage kommt.Wir müssen uns also Gedanken machen, wie wir dieUnabhängige Patientenberatung in die geplante Qualitäts-offensive der Großen Koalition einbinden und nutzenwollen. Qualität ist schließlich eine der wesentlichenSäulen der Wirtschaftlichkeit. Und für eine qualitativgute Behandlung ist die Mitwirkung des Versichertenwichtig. Mündige, unabhängig und gut informierte Pa-tienten wirken besser mit als ratlose und verunsicherte.
Es ist sinnvoll, die Weiterentwicklung der UPD in dasKonzept der Qualitätsverbesserung einzubinden. Überdie Instrumente dafür werden wir uns in den nächstenMonaten im Ausschuss unterhalten. Dazu zählt unter an-derem – das ist schon gesagt worden – auch ein Institutfür Qualitätssicherung, das insbesondere im stationären
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Bettina Müller
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Bereich Krankenhäuser bewerten und diese Ergebnisseauch an die Versicherten weitergeben soll.Die Koalition plant also umfangreiche Vorhaben mitmehr Information und Beteiligung von Patienten als zen-tralem Baustein. Das alles muss dann ohnehin mit beste-henden Informationsangeboten vernetzt werden. DieUPD sollte dann in diese Angebote passgenau eingefügtsein. Deshalb gilt: Das neue Qualitätsinstrumentariummuss von der Koalition jetzt zügig gesetzlich umgesetztwerden. Dann muss es seine Wirkung entfalten. Darananschließend sind unabhängige Beratungsangebote wiedie UPD in dieses System zu integrieren.Dafür sollten wir uns, meine Damen und Herren, Zeitnehmen. Eine erneute Ausschreibung und eine Laufzeitvon weiteren fünf Jahren lässt Raum für sinnvolle Bera-tungsangebote, wenn notwendig sogar für eine grund-sätzliche Neuausrichtung der Beratungsangebote. Wirsind ja nicht gezwungen, damit bis 2020 zu warten. Wirkönnen auch schon 2016 oder 2017 beginnen. EinSchnellschuss führt am Ende zu keiner wirklichen Ver-besserung, und für Experimente ist uns, ist der SPD dieUnabhängige Patientenberatung einfach zu schade.Ich bedanke mich.
Vielen Dank und herzlichen Glückwunsch von allen
zur ersten Rede!
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/574 an den in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN
Einsetzung des Parlamentarischen Beirats für
nachhaltige Entwicklung
Drucksache 18/559
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parla-
mentarische Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter.
Ri
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit der na-tionalen Nachhaltigkeitsstrategie verfügt die Bundesre-gierung nun schon seit über zwölf Jahren über eine be-währte und sich ständig weiterentwickelnde Strategie füreine Politik, die darauf abzielt, heute und in Zukunft al-len Menschen die Chance auf ein Leben in Wohlstand,Gerechtigkeit und einer intakten Umwelt zu ermögli-chen.Die nationale Nachhaltigkeitsstrategie wird bereits inder vierten Legislaturperiode und über drei verschiedenepolitische Koalitionen fortgeführt. Der Grund für denanhaltenden Erfolg dieser übergreifenden Politikstrate-gie liegt sicher in den grundlegenden und langfristigenFragen zur Erhaltung der Lebensgrundlagen, der Le-bensqualität und der Gerechtigkeit, auf die die StrategieAntworten sucht und finden will.Es liegt aber auch daran, dass Nachhaltigkeit die ge-samte Gesellschaft etwas angeht. Nachhaltigkeit lebtvom persönlichen und vom zivilgesellschaftlichen Enga-gement. Von Beginn an wurden gesellschaftliche Grup-pen mit einbezogen. Wenn man einmal zurückblickt: Vorzwölf Jahren war das schon ziemlich innovativ, und dashat sich bewährt. Die Zustimmung der Bürgerinnen undBürger zu den Grundprinzipien der nachhaltigen Ent-wicklung – das machen die Veranstaltungen, die Online-dialoge und die direkten Gespräche der vergangenenJahre deutlich – ist weiterhin sehr groß. Generationenge-rechtigkeit, Lebensqualität, sozialer Zusammenhalt undinternationale Verantwortung sind die Grundziele derNachhaltigkeitsstrategie, die die Menschen heute undauch in Zukunft weiter beschäftigen und die sie als wich-tig erachten.Für die Bundesregierung war und ist die Mitwirkungdes Parlaments bei der Umsetzung des Leitbilds einernachhaltigen Entwicklung von großer Bedeutung. Seit2004 wurden viele der Vorschläge und Anregungen desParlamentarischen Beirats aufgenommen oder gaben derWeiterentwicklung der Nachhaltigkeitspolitik wichtigeImpulse. Ich erinnere zum Beispiel an den Austauschdes Ziels und des Indikators beim Thema „Kriminalitätund persönliche Sicherheit“ im vergangenen Fort-schrittsbericht 2012. Dieses Ziel liegt dem Beirat unduns sehr am Herzen. Es zeigt auch, wie die Ausrichtungeines solchen Indikators zu mehr Zielschärfe führt undden ganzen Prozess verbessert.Auch international steht die Nachhaltigkeitspolitikvor großen Herausforderungen, sei es bei der Weiterent-wicklung der EU-Nachhaltigkeitsstrategie im Span-nungsfeld mit der EU-2020-Strategie oder den Verhand-lungen über die Post-2015-Agenda für nachhaltigeEntwicklung der Vereinten Nationen. Auf diesen Ebenenwird sich der Beirat sicher wie schon in der Vergangen-heit engagieren. Ich begrüße insbesondere, dass sich derBeirat mit der Nachhaltigkeitspolitik der Vereinten Na-tionen stärker befassen will.
Dies ist ein wichtiger Rahmen und Impuls für die Bear-beitung der Zukunftsfragen unserer Bürgerinnen undBürger, unserer Volkswirtschaft und Gesellschaft.
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Parl. Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter
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Aus diesen Gründen ist die Fortsetzung der Arbeit desParlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklungauch in der aktuellen Legislaturperiode der Bundesregie-rung ein sehr wichtiges Anliegen. Wir begrüßen denheute vorliegenden Einsetzungsbeschluss und unterstüt-zen den Beirat bei seinen Aufgaben.Nachhaltigkeit kann nur gemeinsam gelingen. Wirfreuen uns auf die Zusammenarbeit zur wirksamen Um-setzung des Leitbildes; denn sowohl national als auch in-ternational wie global trägt Nachhaltigkeitspolitik auchdazu bei, den Menschen ein gutes Leben zu ermöglichenund gleichzeitig unser gemeinsames natürliches Erbe,unsere natürlichen Lebensgrundlagen zu erhalten und zuschützen.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Es spricht jetzt die Kollegin Annette
Groth, Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Finanzkrise, Euro-Krise, Klimakatastrophe, Sterben derArten, Ressourcenkrise, Energiekrise, Ernährungskrise,jährlich über 40 Millionen Tote als Folge von Hungerund sozialen Krisen. Der Theologieprofessor UlrichDuchrow beschreibt diese Krisen im Publik-Forum, ei-ner katholischen Zeitschrift – ich zitiere –:Meine These ist, dass alle diese Krisen eine zentraleUrsache haben: Es ist die Zivilisation des Kapitalis-mus. Ich sage ausdrücklich: Es ist nicht nur die ka-pitalistische Ökonomie, sondern die gesamte Zivili-sation. Denn alle Bereiche des Lebens, Denkensund Fühlens sind inzwischen unter die Herrschaftdes Geldes in der Form des Kapitals geraten. Unddieses hat nur ein Ziel: zu wachsen – ohne Rück-sicht auf die Folgen. …Unsere Zivilisation zerstört die Lebensgrundlagender Menschheit und der Erde. Die Frage ist deshalbnicht, ob wir eine neue Kultur des Lebens entwi-ckeln müssen, sondern ob wir sie noch aus Einsichtgestalten wollen – oder ob wir erst durch immergrößere soziale und ökologische Katastrophen zurUmkehr gezwungen werden müssen.Mit anderen Worten: Wenn wir Nachhaltigkeit disku-tieren und Vorschläge machen, wie Nachhaltigkeit um-gesetzt werden kann, müssen wir uns wohl oder übel mitunserem kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschafts-system auseinandersetzen.
– Doch.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, schon heute wissenwir, dass das 2-Grad-Ziel von Kioto nicht erreicht wer-den wird. Der Klimawandel wird viele Hundert Millio-nen Menschen zu Klimaflüchtlingen machen. Trotzdemsetzt die Kohlelobby weiterhin auf das massenhafte Ver-brennen von Kohle für die Stromproduktion. Trotzdemwird der Flottenverbrauch der hochtechnisierten undhochgerüsteten Autos nicht relevant abgesenkt. Trotz-dem wird eine Wachstumsstrategie für den Luftverkehr,beim Ausbau von Flughäfen und bei der Subventionie-rung von Flugbenzin wider besseres Wissen weiterver-folgt.Neulich war zu lesen: „Peking unbewohnbar“ – we-gen der wahnsinnigen Luftverschmutzungswerte, jedenTag weit über 400 Milligramm; 10 Milligramm in derLuft wären eigentlich erlaubt. Dieses „unbewohnbar“dürfte auch auf viele andere chinesische Städte zutreffen.Immer mehr Menschen wehren sich gegen umwelt-schädliche Projekte wie zum Beispiel Stuttgart 21. Einexplosionsartiger Bürgerprotest entwickelt sich geradein der Oberpfalz. Ja, Sie haben richtig gehört: in derbeschaulichen Oberpfalz. Dort wird jetzt ein Teil der450 Kilometer langen Stromtrasse Süd-Ost gebaut. Manmuss sich das so vorstellen: 75 Meter hohe Masten,40 Meter breite Querträger, und in den armdicken Lei-tungen soll Gleichstrom mit 500 000 Volt fließen. Links500 000 Volt, rechts 500 000 Volt. Jetzt regt sich Wider-stand, da die Menschen in der Region direkt davon be-troffen sind.Ich selbst komme aus Stuttgart und bin davon über-zeugt, dass S 21 ein absolut widersinniges und ökolo-gisch schädliches Großprojekt ist. Mit Nachhaltigkeithat das nun wirklich gar nichts zu tun.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Verkehrsaus-schuss ist eines der Hauptthemen der Transport. Über10 Prozent des Verkehrs entfallen allein auf den Trans-port von Nahrungsmitteln. Nahrungsmittel werden durchdie Welt gefahren, obwohl viele davon auch regional be-zogen werden könnten. Das ist der völlige Wahnsinn unddas Gegenteil von Nachhaltigkeit.
Hier bin ich wirklich für eine ganz starke Regionalisie-rung. Das heißt, mein Joghurt und mein Gemüse sollenaus der Nachbarschaft kommen. Auch darum spricht sichdie Linke gegen das Freihandelsabkommen EU/USA aus,das noch viel mehr solcher Transporte nach sich ziehenwürde.Für uns Linke bedeutet Nachhaltigkeit, dass wir Ge-sellschaft und Ökonomie so gestalten müssen, dass öko-logische, soziale und wirtschaftliche Gesichtspunktegleichermaßen berücksichtigt werden. Heutige gesell-schaftliche und politische Entscheidungen müssen dennächsten Generationen die Chance auf eine möglichst in-takte Natur eröffnen und ihnen Grundlagen für ein ge-sellschaftlich verträgliches Wirtschafts- und Sozialsys-tem übergeben.
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Annette Groth
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Die Fraktion Die Linke begrüßt die Einrichtung desParlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklungund wird ihre Aufgabe darin sehen, immer wieder diesoziale Dimension in die Nachhaltigkeitsdebatte einzu-bringen.Danke schön.
Vielen Dank. – Es spricht jetzt Andreas Jung, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwick-lung wird in diesem Jahr nach den Jahren 2004, 2006und 2010 zum vierten Mal eingesetzt. Damit ist er imzehnten Jahr seines Bestehens. Das ist ein rundes Jubi-läum. Er hat damit zwar noch nicht ganz die Volljährig-keit erreicht, aber wir können, glaube ich, sagen, dassder Nachhaltigkeitsbeirat damit aus dem Gröbsten he-raus ist. Er hat sich ganz sicher einen festen Platz im par-lamentarischen Gefüge erarbeitet und ist etabliert.Das ist gut und richtig, weil wir die gemeinsameÜberzeugung haben, dass ein Querschnittsthema wieNachhaltigkeit auch ein Querschnittsgremium braucht.Deshalb begrüße ich es und freuen wir uns, dass wirheute über einen Einsetzungsantrag beschließen, den alleFraktionen des Deutschen Bundestages gemeinsam ein-bringen. Dafür eine möglichst breite Mehrheit zu finden,knüpft an unsere von Konsens geprägte Arbeitsweise an.Denn wir wissen: Je mehr wir uns einig sind, desto stär-ker ist unser gemeinsames Eintreten für nachhaltige Ent-wicklung.
Ich will den Einsetzungsbeschluss und diese Debattezum Anlass nehmen, um folgende Frage zu stellen: Wa-rum brauchen wir ein solches Gremium für Nachhaltig-keit überhaupt? Wir brauchen ein solches Gremium des-halb, weil die Politik sowie jede und jeder Einzelneständig in der Versuchung sind, mehr an die nächstenTage als an die nächsten Jahrzehnte zu denken, in derVersuchung sind, zu glauben, dass kurzfristige Effektelangfristiges Denken überlagern. Wir als Nachhaltig-keitsbeirat verstehen uns als Wachhund für Nachhaltig-keit im Parlament, der immer dann aufbellt, der immerdann Laut gibt, der immer dann dazwischengeht, wennEntscheidungen drohen, die dieser langfristigen Verant-wortung nicht gerecht werden, wenn Entscheidungendrohen, die später zum Bumerang werden könnten.
Das wird auch in Zukunft notwendig sein. Wir kön-nen dabei an unsere Arbeit der letzten Jahre anknüpfen.Diese möchte ich kurz damit umschreiben, dass wir je-des einzelne Gesetz auf Nachhaltigkeit prüfen. Wir ha-ben in der letzten Wahlperiode den Nachhaltigkeitscheckeingeführt und untersuchen jede einzelne Gesetzesvor-lage darauf, ob Ausführungen zu nachhaltiger Entwick-lung darin enthalten sind und ob dieses konkrete Vorha-ben mit den Vorgaben der Nachhaltigkeitsstrategietatsächlich vereinbar ist.Wir haben damit – ich glaube, das können wir für unsin Anspruch nehmen – Pionierarbeit geleistet.
Wir haben einen Beitrag dazu geleistet, dass die Gesetz-gebung besser wird, dass sie nachhaltiger wird. Nach an-fänglichen Anlaufschwierigkeiten ist es uns zum Endeder letzten Legislaturperiode gelungen, dass bei den Ge-setzentwürfen der Bundesregierung tatsächlich diesemformalen Erfordernis Rechnung getragen wird.Unsere Aufgabe wird jetzt sein, zu überlegen, wie wirüber diese formalen Prüfungen hinaus tatsächlich in me-dias res gehen können, in die materielle Prüfung eintre-ten können. Da spielt die Musik. Darüber werden wiruns im Beirat unterhalten.
Das soll nicht heißen, dass wir bisher nicht auchschon dort tätig waren, wo die Musik spielt, und dass wirbei dieser Musik nicht auch mitgespielt haben. Wir ha-ben solche Themen, die wir als besonders wichtig ange-sehen haben, die über die einzelnen Fachbereiche hin-ausgehen, herausgegriffen. Ich will unsere Initiativen zurnachhaltigen Mobilität, unsere Anträge zu Umwelttech-nologien, unsere Eingaben zur Reduzierung der Flächen-inanspruchnahme ansprechen. An diesen Themen solltenwir dranbleiben und uns Schwerpunkte suchen, bei de-nen wir in besonderer Weise auf nachhaltige Politikdrängen.Unsere Kernaufgabe ist – das ist auch im Einset-zungsbeschluss beschrieben – die Begleitung der natio-nalen Nachhaltigkeitsstrategie und der EU-Nachhaltig-keitsstrategie. Ich glaube, das ist eine besonders wichtigeAufgabe. Es ist vorhin gesagt worden: Vor zwölf Jahrenhat Deutschland als eines der ersten Länder eine solcheNachhaltigkeitsstrategie eingeführt. Sie ist seitdem im-mer wieder verbessert worden. Unser Anspruch solltesein, die Nachhaltigkeitsstrategie erstens weiterzufüh-ren und zweitens neue Impulse zu geben, sie zu verbes-sern und besser zu verzahnen, auch mit den Aktivitätender Europäischen Union und in den Ländern. Wir solltentatsächlich eine konsistente Politik für Nachhaltigkeitliefern und ein Vorbild für andere abgeben, wie das Fort-kommen, wie der Fortschritt bei der nachhaltigen Ent-wicklung tatsächlich transparent gemacht werden kann.Das sollten wir hier tun und damit ein Beispiel für an-dere geben.
Da ich von der nationalen Ebene und der EU gespro-chen habe und davon, ein Beispiel für andere zu geben:
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1315
Andreas Jung
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Eine Aufgabe sehe ich in der schon angesprochenen Be-teiligung an der internationalen Debatte. Heute leben7 Milliarden Menschen auf der Erde, 2050 sollen es9 Milliarden Menschen sein. Diese werden selbstver-ständlich ihr Recht auf Nahrung, auf Wasser, auf Energieund auf Rohstoffe geltend machen. Wir wissen: Wennnichts passiert, wenn die Entwicklung ausgehend vomStatus quo einfach fortgeschrieben wird, wenn es unsnicht gelingt, das Ruder hin zu globaler nachhaltigerEntwicklung herumzureißen, dann wird uns diese Weltum die Ohren fliegen, dann wird sie im wahrsten Sinnedes Wortes explodieren.Deshalb müssen wir einen Beitrag leisten. Ich finde,wir Deutsche haben eine besondere Verantwortung, diewir als Parlament wahrnehmen müssen. Wir erwartenvon der Regierung, dass das Eintreten für eine globalenachhaltige Entwicklung die Leitlinie der deutschen Au-ßenpolitik wird. Deutschland muss in besonderer Weiseals Vorreiter, als Dränger auftreten, andere mitnehmenund international zu solchen Ergebnissen kommen. Dasist mehr als nötig.
Das alles können wir nur, wenn wir selber glaubwür-dig sind. Dazu gehört die Fortschreibung der Nachhal-tigkeitsstrategie. Dazu gehört aber auch, dass wir in deneinzelnen Fachbereichen glaubwürdig sind und denPunkt „nachhaltige Entwicklung“ umsetzen. Dazu ge-hört auch – in der mir verbleibenden Redezeit kann ichnur noch zwei Beispiele nennen – die Finanzpolitik. Wirmüssen die Nullverschuldung erreichen, weil SchuldenSünde an den nächsten Generationen sind.
Unsere besondere Aufgabe ist – hier schaut alle Weltauf uns –, dass wir die Energiewende hin zu erneuer-baren Energien und Energieeffizienz zum Erfolg führen.Wir müssen den Anstieg der Treibhausgase stoppen. DerKlimawandel bleibt global gesehen die wichtigsteHerausforderung in unserem Jahrhundert. Es gibt vieleAufgaben. Ich freue mich, diese Aufgaben mit den Kol-leginnen und Kollegen aller Fraktionen anzugehen. DieUnion stimmt dem Einsetzungsbeschluss zu.Herzlichen Dank.
Danke, Herr Kollege. Schönen Abend von mir. – Jetzt
hat Dr. Valerie Wilms für Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Kollege Jung, Sie haben sehrdeutlich dargestellt, wie wir in den letzten vier Jahrengearbeitet haben. Wir haben beide schon in diesem Gre-mium gesessen.Werte Kollegin Groth, ich bin über Ihre Ausführun-gen ein bisschen erstaunt. Wir haben einen gemein-schaftlichen Antrag aller Fraktionen vorliegen, und Siehaben gerade Revue passieren lassen, wo es im Nachhal-tigkeitsbeirat hingehen soll. Dann landen Sie jedoch aufeinmal bei der Kapitalismuskritik. Ich fühlte mich ineine andere Welt versetzt.Vielleicht erinnern Sie sich daran: Heute vor einerWoche haben wir über Wachstum geredet. Heute versu-chen wir, das Ganze etwas anders einzuordnen. Wir re-den nämlich über Nachhaltigkeit. Bei Nachhaltigkeitgeht es nicht um das Gegenteil von Wachstum, sondernum die ökologische und soziale Flankierung des Wachs-tums. Darum geht es und nicht um Nullwachstum odergar kein Wachstum, was uns die Vertreterin der Links-partei versucht hat zu erläutern.
Über diese ökologische und soziale Flankierung hätteder Wirtschaftsminister bei seiner Rede zum Jahreswirt-schaftsbericht am Donnerstag letzter Woche reden sollenoder, besser gesagt: müssen. Heute ist vom Wirtschafts-ministerium erstaunlicherweise niemand anwesend. DieEnquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebens-qualität“, die es in der letzten Wahlperiode gab und dereinige von uns angehörten, hat gut zwei Jahre lang darangearbeitet. Der Bundestag hat beschlossen, dass bei jederWachstumsdebatte auch über soziale und ökologischeFortschritte oder Rückschritte geredet werden soll. Dashabe ich letzte Woche nicht gehört.Die Debatte vor einer Woche hat gezeigt, dass die vonder Enquete-Kommission entwickelten zwanzig W3-In-dikatoren, die Wohlstandsindikatoren, bislang in derPolitik wirklich niemanden interessieren.
Der Witz war, dass sie vormals hochgelobt wurden, aberdie Redner zum Jahreswirtschaftsbericht letzte Wochekeine Ahnung davon hatten.
Damit die ökosoziale Flankierung aber nicht verlorengeht, gibt es im Deutschen Bundestag, wenn wir nachherabgestimmt haben, endlich wieder den Parlamentari-schen Beirat für nachhaltige Entwicklung. Er begleitetschon seit zehn Jahren die nationale Nachhaltigkeitsstra-tegie und wirft auch einen Blick auf Europa. Wenn mansich die Nachhaltigkeitsstrategie dort ansieht, danngruselt es einen manchmal. Man ist da irgendwie aufverlorenem Posten. Wir erstellen zudem regelmäßig ei-nen Bericht zu einer entsprechenden Veröffentlichungdes Statistischen Bundesamtes.Das ist der Unterschied zu dem, was die Enquete-Kommission gemacht hat: In der Nachhaltigkeitsstrate-gie haben wir nicht nur Indikatoren, sondern auch kon-
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Dr. Valerie Wilms
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krete Ziele vorgegeben. So enthält die Nachhaltigkeits-strategie beispielsweise im Hinblick auf die Reduzierungder Treibhausgasemissionen ein Ziel; sie sollen bis 2050um 80 bis 95 Prozent gegenüber 1990 gesenkt werden.Der Indikatorensatz der Enquete-Kommission soll nurdafür sorgen, dass irgendwo ein Lämpchen, ein Warn-lämpchen oder ein Hinweislämpchen, blinkt. MeineDamen und Herren, bitte nicht lachen! Jene, die das inder letzten Wahlperiode beschlossen haben, meinten daswirklich ernst. Das ist das Traurige an dieser Geschichte.Werte Kolleginnen und Kollegen, damit der Nachhal-tigkeitsbeirat in jeder Legislaturperiode neu eingesetztwerden kann, braucht es in jeder Fraktion Befürworter;wir haben sie gefunden. Wir haben einen gemeinsamenEntwurf zustande gebracht. Vor zehn Jahren haben wirdie parlamentarische Begleitung der Umsetzung dernationalen Nachhaltigkeitsstrategie im Beirat in Ganggesetzt. Aber ich habe heute in dieser kurzen Debattegemerkt: Kaum ein Wort wird derart missbraucht wiedas Wort „nachhaltig“.
Deshalb soll hier nochmal für alle buchstabiert werden,was das bedeutet: Bei einer nachhaltigen Entwicklunggeht es darum, eine in sich geschlossene Wirtschafts-und Lebensweise zu finden, die die Würde des Men-schen als Arbeitnehmer achtet – nicht nur hier, sondernweltweit – sowie die ökologischen Grenzen unseres Pla-neten respektiert. Kurz gefasst: Wir brauchen eine dauer-haft tragfähige Wirtschafts- und Lebensweise für jetzigeund künftige Generationen gleichermaßen. Daran, liebeKolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns in den nächs-ten vier Jahren arbeiten, mit neuen Projekten.Danke.
Danke, Frau Kollegin. – Carsten Träger ist der
nächste Redner für die SPD.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Als mittlerweile fünfter Redner stehe ich hier,und ich kann nicht anders: Auch ich werde das Hoheliedder Nachhaltigkeit singen. Wie die vier Kolleginnen undKollegen vor mir bin natürlich auch ich von dem Kon-zept überzeugt. Wie die vier Kolleginnen und Kollegenhalte auch ich Nachhaltigkeit für unerlässlich, ja, für dasentscheidende Kriterium für gute Politik.Ich sehe es aber ein bisschen so wie Frau Dr. Wilms:In dem allumfassenden Konsens liegt auch eine gewisseGefahr. Wir führen den Begriff Nachhaltigkeit mittler-weile so häufig, bei so vielen Gelegenheiten, und das oftso unreflektiert, dass sich der geneigte Zuschauer unterUmständen manchmal gelangweilt abwendet. Es gibtinzwischen einen geradezu inflationären Gebrauch desBegriffs Nachhaltigkeit. Das Wort schmückt Hoch-glanzbroschüren von Konzernen. Keine politischeGrundsatzrede kommt ohne einen Absatz zur Nachhal-tigkeit aus. Auch was wir konsumieren, ist mittlerweilenachhaltig; Mode, Autos, sogar Urlaubsreisen sind nach-haltig. Der Begriff läuft Gefahr, fast alles zu meinen unddamit dann auch wieder nichts.Hubert Weiger, der Vorsitzende des BUND, der übri-gens auch aus meiner schönen Heimatstadt Fürthstammt, spricht sogar von einem Missbrauch des Be-griffs. Ich zitiere:Ein bisschen weniger Straßenbau wird als nachhal-tiger Straßenbau bezeichnet, ein bisschen wenigerSchulden werden als nachhaltiges Haushalten cha-rakterisiert.
Ich schlage vor, dass wir hier verbal ein bisschen abrüs-ten und dem Begriff wieder Trennschärfe geben.
Ich möchte jetzt nicht alles wiederholen, was meineVorredner schon gesagt haben. Stattdessen möchte ichIhnen kurz sagen, warum ich Nachhaltigkeit für wichtighalte. Worauf sollte sich ein enger gefasster Begriff vonNachhaltigkeit konzentrieren? Wo setzen wir dieSchwerpunkte?Wir alle, die wir hier sitzen, kennen natürlich denUrsprung des Begriffs: Fälle niemals mehr Holz, als an-gepflanzt wird. – Das ist ein schönes, griffiges Bild, daszum Ausdruck bringt: Wirtschaftliches Handeln ist er-laubt, aber bitte nur mit Blick auf die Zukunftsfähigkeitund auf das Gemeinwohl. Übertragen auf heute heißt das– das wurde schon gesagt –: Wir müssen unseren Kin-dern und Enkelkindern ein intaktes ökologisches, ökono-misches und, ich betone, soziales Gefüge hinterlassen. Inder öffentlichen Wahrnehmung steht im Zusammenhangmit dem Begriff Nachhaltigkeit meist die Versöhnungvon Ökonomie und Ökologie im Vordergrund.Ich schlage vor, dass wir den Fokus ein kleines biss-chen hin zum sozialen Aspekt verschieben. Ich bin festdavon überzeugt, dass die Bereiche Ökologie und Sozia-les eng miteinander verknüpft sind. Nachhaltigkeit kannes nur geben, wenn die Bereiche Soziales, Umwelt sowiewirtschaftliche Interessen gleichermaßen berücksichtigtwerden.
Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass wir keineabgehobene Diskussion über das Thema Nachhaltigkeitführen. Sie sollte nicht bloß auf Gutverdiener abzielen,die im Biomarkt einkaufen können oder Hybridautosfahren. Im Gegenteil: Ich möchte, dass wir unseren Blickein bisschen drehen und uns fragen: Wer sind die Leid-tragenden von nicht nachhaltiger Politik? Das sind die
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Carsten Träger
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Menschen, die an einer stark befahrenen Straße wohnen,weil die Mieten dort billiger sind, die aber unter Abgas-belastung und Lärm leiden müssen.
Das sind jene Menschen, die keine Bioprodukte kaufen,und zwar nicht, weil sie es nicht wollen; vielmehrkönnen sie es nicht, weil die Produkte ein bisschen teu-rer sind.Nach meiner Vorstellung bedeutet mehr Nachhaltig-keit mehr soziale Gerechtigkeit, und mehr soziale Ge-rechtigkeit bedeutet mehr Nachhaltigkeit. So gesehen istnachhaltige Politik nicht nur gute Politik, sondern auchsozialdemokratische Politik und christliche Politik, sieist auch sozialistische Politik und grüne Politik. Hierschließt sich der Kreis. Denn wir alle beanspruchen fürunsere Politik den Ansatz einer zukunftsfähigen Verbin-dung von Ökologie, Ökonomie und Sozialem. Wir sinduns nicht nur heute, sondern generell einig, dass Nach-haltigkeit sehr wichtig für uns ist.Ich freue mich auf die Diskussion im Parlamentari-schen Beirat für nachhaltige Entwicklung. Wir solltendaran arbeiten, den Fokus zunächst ein bisschen unddann ein Stück weiter zu verschieben. In diesem Sinneübergebe ich jetzt an den sechsten Redner dieser De-batte.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Kollege. Übergeben dürfen Sie
nicht, das darf nur ich.
Wir gratulieren Ihnen von Herzen zu Ihrer ersten
Rede im Deutschen Bundestag und wünschen Ihnen viel
Erfolg in diesem sehr wichtigen, auf die Zukunft bauen-
den Bereich.
Jetzt übergebe ich das Wort dem nächsten Redner und
begrüße Matern von Marschall für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-ginnen und Kollegen! Wir alle wissen: Die Krise derEuropäischen Union, die durchaus eine Krise der Nach-haltigkeit ist, ist keineswegs überwunden. Bedrückenderfinde ich heute allerdings eine ganz andere Krise. MitBlick auf die Ukraine kann ich nur sagen: Derzeit befin-det sich ganz Europa in einer Bewährungskrise.Wenn die Union ihren östlichen Nachbarn einePartnerschaft anbietet, muss sie dafür sorgen, dass dieLänder, denen sie die Partnerschaft anbietet, diese auchannehmen können, sonst ist eine Außenpolitik, die nach-haltig sein soll, nichts wert. Der Begriff „Nachhaltig-keit“ wäre nicht mehr als eine Worthülse. Darüber istvorhin schon gesprochen worden.In der Ukraine kann es in allerletzter Minute viel-leicht noch gelingen, das Allerschlimmste abzuwenden.Es kann der Weg in die Rechtsstaatlichkeit noch gebahntwerden, wenn die Europäische Union Klarheit und Ent-schlossenheit zeigt. Ob aber die Europäische Union aufDauer, das heißt nachhaltig, stark ist, darüber entschei-den ihre Bewohner. Wenn ich einige Tage zurückschaueund mir den Volksentscheid in der Schweiz ansehe, er-kenne ich, dass dort Ängste vor einer Außenwelt, dieman als Bedrohung empfindet, zum Ausdruck gebrachtwurden. Das muss uns als Warnhinweis dienen, auch fürdie Europäische Union, auch in die Europäische Unionhinein. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass dieÄngste auch bei uns vorhanden sind. Wir dürfen sienicht ignorieren, sondern wir müssen den Menschen er-klären, welchen Wert diese starke und stabile Europäi-sche Union hat. Das ist eine Frage der Nachhaltigkeit.
Unser Ansatz ist also weder Rückzug noch Abschot-tung. Unser Ansatz ist nicht ein Kurs der Konfrontation,sondern ein Kurs der Kooperation, und zwar, weil wirüberzeugt sind – das ist in unserem Menschenbild veran-kert –, dass der Mensch zur Zusammenarbeit, zur Ko-operation geschaffen ist – und zur Toleranz. Das ist derWeg der Nachhaltigkeit.
Die Europäische Union hat gezeigt, dass sie Zukunftfriedlich gestalten kann. Nach zwei Weltkriegen lebenwir unterdessen fast 70 Jahre in Frieden – das gilt füreine halbe Milliarde Menschen auf diesem Globus – infreiheitlichen, in solidarischen, in friedlichen Rechts-staaten. Zu dieser Europäischen Union gehören zumBeispiel auch Rumänien und Bulgarien. Stellen Sie sicheinen Moment lang vor, in welcher Situation diese Län-der sich befinden würden, wenn sie heute nicht Mitglie-der der Europäischen Union wären. Stellen Sie sich ein-mal vor, wie zum Beispiel in Polen über diese Frageheute gedacht wird.Unsere Friedensgemeinschaft ist also – das sehen wirin diesen Tagen mit großer Bestürzung – nicht selbstver-ständlich, sondern wir müssen täglich daran arbeiten, sietäglich neu beleben und die Menschen von ihrem Wertüberzeugen. Das ist nachhaltige Politik.
Ich will auf die vielen anderen Politikfelder, die auchzur Nachhaltigkeit gehören und hier angesprochen wor-den sind, nicht näher eingehen: die soliden Haushalte,die Energiepolitik, die ganz wichtigen Themen, die Siealle kennen. Ich wollte auf dieses aktuelle Thema in be-sonderer Weise eingehen, auf eine nachhaltige Außen-politik.
Schlüssel zum Erfolg einer Nachhaltigkeitspolitik– das möchte ich zum Schluss sagen – ist die Subsidiari-
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Matern von Marschall
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tät. Das heißt, wir müssen die Menschen vor Ort mitneh-men, einbeziehen und dürfen nicht ex cathedra eineLehre von oben verkünden; das geht nicht. Wir müssenalso die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und ökolo-gischen Gegebenheiten vor Ort berücksichtigen. Nurdann kann Nachhaltigkeit gelingen.Der Parlamentarische Beirat bemüht sich darum. Wirmöchten seine Arbeit stützen. Ich bitte Sie von Herzen:Tun Sie das auch.Danke.
Vielen Dank, Herr Kollege. Wir gratulieren Ihnen von
Herzen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag
und hoffen, dass Sie in diesem Gremium, in diesem Be-
reich sehr viel Erfolg haben beim grenzüberschreitenden
Denken und bei der Suche nach nachhaltiger Politik.
Der letzte Redner in dieser Debatte ist Dr. Andreas
Lenz für die CDU/CSU.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir ha-ben es schon gehört: Zum vierten Mal setzen wir heuteden Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwick-lung ein. Gibt man in der Suchmaschine Google denBegriff „Nachhaltigkeit“ ein, erscheinen ungefähr6 590 000 Treffer. Gibt man den englischen Begriff„Sustainability“ ein, erscheinen gar 38 Millionen Tref-fer.Das sind Zahlen, die man sonst nur von Haushaltsbe-ratungen gewohnt ist, die aber auch zeigen, dass der Be-griff Relevanz hat, auch wenn er mittlerweile, wie wirschon gehört haben, inflationär verwendet wird.Der Begriff der Nachhaltigkeit stammt ursprünglich– wir wissen es alle – aus der Forstwirtschaft und be-schreibt hier den Umstand, dass der Natur auf Dauernicht mehr Ressourcen entnommen werden können, alssie imstande ist, selbst zu reproduzieren. Im sogenanntenBrundtland-Bericht von 1987 wird Nachhaltigkeit alsdann gegeben betrachtet, wenn die gegenwärtige Gene-ration ihre Bedürfnisse befriedigt, ohne die zukünftigenGenerationen zu gefährden. Die Konferenz der Verein-ten Nationen in Rio de Janeiro 1992 definierte Nachhal-tigkeit als ein Gleichgewicht unter Berücksichtigungökologischer, ökonomischer und sozialer Faktoren.Diese Definition ist mittlerweile sehr weit verbreitet. Sieist jedoch auch in ihren Zielkonflikten zu verstehen.
Der Beirat für nachhaltige Entwicklung übernimmtseit 2001 die langfristig angelegte Aufgabe, die natio-nale Nachhaltigkeitsstrategie dauerhaft parlamentarischzu begleiten. Eine seiner wichtigsten Aufgaben ist dieNachhaltigkeitsprüfung bei Gesetzesfolgenabschätzun-gen. Der Beirat prüft sämtliche Gesetzentwürfe und Ver-ordnungen der Bundesregierung unmittelbar nach Zulei-tung an den Bundesrat auf ihre Nachhaltigkeit.Schauen wir uns einige politische Handlungsfelder imHinblick auf eine nachhaltige Entwicklung an. Zunächsteinmal ist die finanzielle Nachhaltigkeit zu erwähnen.Gerade die Haushaltskonsolidierung kann als Teil einernachhaltigen Politik für die folgende Generation verstan-den werden. Hier leisten wir mit der Vorlage eines aus-geglichenen Haushalts ab 2015 einen wichtigen Beitrag.
Im Übrigen ist hier ein gesellschaftlicher Prozess zu spü-ren, der eine nachhaltige Haushaltspolitik ausdrücklichunterstützt.Nachhaltigkeit heißt aber auch Ressourcenschonung.Ein wichtiges Thema diesbezüglich ist der Flächenver-brauch, der immer noch zu hoch ist. So werden inDeutschland täglich rund 80 Hektar – das sind circa 120Fußballfelder – neu versiegelt.Ein weiteres Handlungsfeld ist die Stärkung derKreislaufwirtschaft. Unser Land ist hier bereits sehr gutaufgestellt und genießt weltweit hohes Ansehen. Müll istin Deutschland eine wichtige Ressource.Lassen Sie mich das Potenzial, das wir hier haben, amBeispiel der Handyaltgeräte aufzeigen. In Deutschlandliegen rund 106 Millionen Handyaltgeräte in den Schub-laden der Bundesbürger. Diese Geräte enthalten vielewertvolle Rohstoffe wie Gold, Silber, Palladium oderKupfer. Bei diesen besagten 106 Millionen Handys sinddies 3 Tonnen Gold, 30 Tonnen Silber, 1 900 TonnenKupfer, 151 Tonnen Aluminium und 105 Tonnen Zinn.Hinzu kommen Seltene Erden, die sonst in hohem Maßeauf anderen Wegen beschafft werden müssen. Das be-deutet: Wir müssen das Potenzial der Kreislaufwirtschaftnoch stärker nutzen.
Aber auch der Verbraucher hat mit seiner Kaufent-scheidung enormen Einfluss darauf, welche Produktesich auf dem Markt behaupten. Es wird deswegen künf-tig noch stärker darauf ankommen, das Bewusstsein fürnachhaltige Produkte zu schärfen. Dies kann auch durchmehr Transparenz – Stichwort „Kennzeichnung“ – ge-schehen.Da es um die Zukunft der nächsten Generation geht,beinhaltet eine nachhaltig angelegte Politik immer aucheine moralische Komponente. Jede Nachhaltigkeitbraucht ein Stück weit Gemeinsinn und – vor allem des-halb, weil sie in die Zukunft gerichtet ist – Verantwor-tung. Nachhaltigkeit bedeutet auch Rücksicht auf diekommenden Generationen und ein Hintanstellen egoisti-scher und kurzfristiger Bedürfnisse. Vielleicht heißtnachhaltiges Wirtschaften auch ein Stück weit Verzicht.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1319
Dr. Andreas Lenz
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Für die Arbeit des Parlamentarischen Beirats fürNachhaltigkeit wird weiterhin entscheidend sein, dasswir uns über die Fraktionsgrenzen hinweg auf langfris-tige Ziele verständigen. Dass dies zeitintensiv ist, brau-che ich Ihnen nicht zu sagen. Aber, ich glaube, es lohntsich, dass wir miteinander um diesen Konsens ringen.Ich habe heute im Laufe des Tages mitgezählt, wie oftdas Wort „Nachhaltigkeit“ vor dieser Debatte verwendetwurde und bin auf 25 Mal gekommen. Daran sieht man –das wurde ja schon gesagt –, wie inflationär das Wortverwendet wird, aber auch, wie wichtig das Wort ist.„Nachhaltigkeit“ ist ohne Zweifel ein Modewort gewor-den, auch ein Schlagwort, und manchmal ist es, wie wirgehört haben, eine Worthülse.Lassen Sie uns versuchen, den Begriff mit neuem Le-ben zu füllen. Ich freue mich auf eine gute Zusammenar-beit im Beirat mit nachhaltigen Ergebnissen.Herzlichen Dank.
Danke, Herr Kollege. – Auf die nachhaltigen Ergeb-
nisse freuen wir uns alle.
Ich schließe damit die Aussprache. Wir kommen zur
Abstimmung über den interfraktionellen Antrag auf
Drucksache 18/559 zur Einsetzung des Parlamentari-
schen Beirats für nachhaltige Entwicklung. Wer stimmt
für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Antrag ist einstimmig angenommen. Ich
wünsche von Herzen eine gute Arbeit in diesem wirklich
wichtigen Gremium. Damit ist der Parlamentarische
Beirat für nachhaltige Entwicklung eingesetzt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Ernst, Dr. André Hahn, Ulla Jelpke, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE
Straffreiheit bei Steuerhinterziehung durch
Selbstanzeige abschaffen
Drucksache 18/556
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Der erste Redner in der Debatte ist Klaus Ernst für die
Linke.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Heute sprechen wir die zweite Woche hinter-einander über dieses Thema. Trotzdem noch einmal: Umwas geht es uns? Es geht uns darum, dass wir die strafbe-freiende Selbstanzeige abschaffen wollen. Warum? Esgibt eigentlich in § 370 der Abgabenordnung die klareRegelung: Steuerhinterziehung wird mit Freiheitsstrafebis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft, in besondersschweren Fällen sogar mit sechs Monaten bis zu zehnJahren Freiheitsstrafe.Ich weiß nicht, ob das auch Ihnen aufgefallen ist. Mirist aufgefallen, dass, obwohl wir dauernd von schwerenFällen der Steuerhinterziehung hören, niemand sitzt.Keiner! Offensichtlich gibt es bei uns Möglichkeiten,sich bei Steuerhinterziehung von der Strafe zu befreien,sozusagen die Möglichkeit der Strafhinterziehung.Meine Damen und Herren, ich denke, dass wir diesesThema sehr ernst nehmen müssen, weil in der Bevölke-rung langsam der Eindruck entsteht: Die Großen lässtman laufen, und die Kleinen gehen in den Knast.Warum ist das so? Warum kann man sich bei Steuer-hinterziehung sozusagen der Strafe entziehen? Weil wirdie §§ 371 und 398 a der Abgabenordnung haben, diebesagen, dass es automatisch – das unterscheidet diesenPunkt von vielen anderen – zu keiner Strafe kommt – au-tomatisch! –, wenn der Steuerhinterzieher sich selbst an-zeigt, die Steuern nachzahlt – nicht alles, sondern nur füreinen bestimmten Zeitraum – und in besonders schwerenFällen 5 Prozent Strafsteuer zahlt. Dann wird von einerStrafverfolgung automatisch abgesehen. Das heißt, manist auch nicht vorbestraft. Man muss im Gegensatz zuvielen anderen, die eine Straftat begangen haben, vorkeinen Richter.
– Ja, Zinsen muss man auch zahlen. Wer die zahlt, wirdsich hinterher wahrscheinlich vom Balkon stürzen.Meine Damen und Herren, da fragt man sich als Bür-ger natürlich: Ist das eigentlich gerecht? Natürlich fragtsich auch der kleine Ladendieb, der vor den Richtermuss: Ist das in Ordnung? Der Verkehrssünder, derZechpreller, der Kleinkriminelle, alle fragen sich: Ist daseigentlich okay? Auch wenn es um relativ geringe Be-träge geht, müssen sie zumindest vor den Richter. DerRichter hat dann die Möglichkeit, zu entscheiden: Ist dasein ganz besonders schlimmes Vergehen? Muss der inden Knast oder nicht? – Bei Riesenbeträgen greift aberdie Automatik, dass man sich nicht einmal für seine Tatzu verantworten hat.Meine Damen und Herren, unser Antrag will – des-halb stellen wir ihn – wieder Gleichheit vor dem Rechtfür alle Bürger herstellen; das ist das Ziel unseres An-trags. Das haben wir gegenwärtig nämlich nicht. Genauaus diesem Grund erscheint die Straftat Steuerhinterzie-hung dem Bürger nach wie vor als Kavaliersdelikt. Ichhabe in der letzten Woche viele Reden gehört, in denenes hieß: Ja, aber wir wollen nicht, das ist kein Kavaliers-delikt.
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1320 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Klaus Ernst
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Durch die Straffreiheit machen wir Steuerhinterziehungjedoch zum Kavaliersdelikt. Deshalb müssen wir dasGanze ändern.
Wir schlagen vor, die Strafbefreiung bei Selbstanzeigeabzuschaffen; dann ist alles wieder im Lot und jederwird gleich behandelt.Ich freue mich, dass der Kollege Andreas Schwarzvon der SPD in der Debatte letzte Woche gesagt hat:Wer trotz der aktuellen Debatte künftig Steuern hin-terzieht und somit den Bürgerinnen und Bürgern inunserem Land Schaden zufügt, der sollte sich nichtmehr auf Strafbefreiung verlassen dürfen.Genau darum geht es. Dann kann der Richter abwägen,wie schwer die Straftat eigentlich ist; aber es gibt keineAutomatik mehr. Herr Schwarz hat eine Übergangsfristfür das Auslaufen der aktuell gültigen Regelung vorge-schlagen. Das kann man machen für eine bestimmteZeit; aber dann muss Schluss sein.Natürlich müssen wir Bagatellen regeln: Wenn einerbei seiner Steuererklärung eine Frist nicht eingehaltenhat, ist das sicherlich anders zu werten, als wenn einerMillionenbeträge hinterzogen hat.Über einige Argumente in der letzten Debatte habeich mich gewundert, meine Damen und Herren. HansMichelbach hat letzte Woche gesagt: „Es ist nicht verbo-ten, Geld im Ausland anzulegen.“ Der ist aber schlau!Als wäre es in der Debatte darum gegangen, dass mankein Geld mehr im Ausland anlegen dürfe. Also, mitwelcher Ernsthaftigkeit manchmal die Debatten hier ge-führt werden, da dreht es einem ja wirklich langsam denMagen um. Dann hat er gesagt:Damit wären wir beim eigentlichen Thema der heu-tigen Aktuellen Stunde. Diese Debatte mit der Atti-tüde des Klassenkampfes zu führen …Also wenn man fordert, dass sich bitte schön auch Steu-ersünder vor dem Kadi zu verantworten haben, dann istdas schon Klassenkampf? Für jemanden, der so denkt,muss dann eine Ansammlung von drei Bürgern mit Pla-katen schon Bürgerkrieg sein. Da kann ich wirklich nichtmehr folgen, meine Damen und Herren.
– Dann gehen Sie einmal zu Herrn Michelbach; er hatdie Debatte so begonnen.
Herr Graf Lerchenfeld, ich habe auch Ihnen genau zu-gehört. Sie haben gesagt, auch Brandstifter könntenStrafbefreiung bekommen: wenn sie löschen. Das Ein-zige, was mir an diesem Argument gefällt, ist, dass SieSteuerhinterzieher mit Brandstiftern vergleichen. Andiesem Vergleich ist was dran: Das eine betrifft viel-leicht ein Häuschen, das andere das Klima in der Gesell-schaft. Sie haben jedoch vollkommen vergessen, daraufhinzuweisen, dass derjenige, der ein Haus angezündethat, sich in jedem Fall vor einem Richter verantwortenmuss, der prüft, ob er auch anständig gelöscht hat undnicht nur ein wenig gespritzt hat. Genau das ist das Pro-blem bei der strafbefreienden Selbstanzeige: Kein Rich-ter prüft, was der Steuerhinterzieher eigentlich wirklichgemacht hat.Meine Damen und Herren, warum hat sich denn HerrHoeneß angezeigt, Herr Graf Lerchenfeld? Weil er tätigeReue zeigen wollte? War es tätige Reue bei HerrnHoeneß? Herr Graf, das kann doch nicht Ihr Ernst sein!Herr Hoeneß hat sich angezeigt, weil er aufgeflogen war.Er hat zu diesem Mittel gegriffen, um sich letztendlichvor dem Knast zu retten. Vielleicht gelingt ihm das jetztnicht – das ist eine andere Frage –; aber das war seinMotiv. Mit der Strafbefreiung bei Selbstanzeige hat dasnur insofern etwas zu tun, als dass sie dazu beigetragenhat, dass der Fall in die Öffentlichkeit kam.Ein letztes Argument; dann bin ich auch gleich fertig,Frau Präsidentin.
Ja – ein letztes!
Da ging es um die Frage „Volle Kassen statt voller
Gefängnisse“. Wenn das im Strafrecht zu Ihrem Prinzip
wird, dann bin ich gespannt darauf, wie unser Land
künftig aussieht.
Ich sage zum Schluss: Wir brauchen Rechtsgrund-
sätze, die für alle gelten, und wir brauchen ein Klima in
unserem Land, das so beschaffen ist, dass es den reiche-
ren Bürgern auch nicht gelingt, sich von Strafverfolgung
freizukaufen – so wie es jetzt Tatbestand ist.
Danke, Herr Kollege.
Als Nächste hat das Wort Bettina Kudla für die CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen undHerren! Die Fraktion Die Linke – wir haben es gerade vonHerrn Ernst gehört – fordert in ihrem Antrag die Abschaf-fung der angeblichen Straffreiheit bei Steuerhinterzie-hung bei einer Selbstanzeige. Als Begründung führenSie an, dass keine Strafverfolgung erfolgen würde.Bemerkenswert ist: Die Erzielung von Steuereinnah-men zuzüglich Zinsen durch das Eintreiben von hinter-zogenen Steuern spielt in Ihrem Antrag überhaupt keineRolle.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1321
Bettina Kudla
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Steuerhinterziehung ist eine Straftat, und wer beiSteuerhinterziehung durch die Strafverfolgungsbehördenerwischt wird, hat sich in Deutschland strafrechtlich zuverantworten.Leider wird Steuerhinterziehung in vielen Fällen abernicht entdeckt. Daher wurde vor Jahrzehnten das wirk-same Instrument der Selbstanzeige geschaffen. Die Fi-nanzbehörden sind nämlich darauf angewiesen, dass derSteuerpflichtige richtige und vor allem vollständige An-gaben macht.Die Abschaffung der Selbstanzeige würde nichtzwangsläufig zu weniger Steuerhinterziehung führen. ImGegenteil! Die Finanzbehörden können Steuerhinterzie-hung nämlich in der Regel nicht aufdecken, wenn derSteuerpflichtige nicht mitwirkt.Das Instrument der Selbstanzeige wurde vor fast dreiJahren durch das Schwarzgeldbekämpfungsgesetz ver-schärft. Die Selbstanzeige ist folglich nicht mehr als Ge-staltungsinstrument für Steuerhinterziehung nutzbar.Selbstverständlich muss die Selbstanzeige aber weiter-hin als Korrekturmöglichkeit, insbesondere bei der Um-satzsteuer, bestehen bleiben.Durch den Strafzuschlag von 5 Prozent bei größerenBeträgen stellt sich der Steuerhinterzieher schlechter alsder steuerehrliche Bürger. Das ist der springende Punkt,und den haben Sie in Ihren Ausführungen verschwiegen,Herr Ernst.Wer gegen Steuerhinterziehung vorgehen will, musssich vor allem aber auch dem Thema Steuervermeidungwidmen. Wir leben in einer globalisierten Volkswirt-schaft. Internetunternehmen und Unternehmen mit ei-nem hohen Exportanteil haben es etwas leichter, dieSteuerpflicht von einem Land in ein anderes zu verschie-ben. Sie können sich also viel leichter der Besteuerungentziehen als andere Unternehmen.Wir müssen daher gegen aggressive Steuergestaltungvorgehen. Das Regelwerk, welches die OECD zum auto-matischen und grenzüberschreitenden Informationsaus-tausch vergangene Woche vorgelegt hat, wurde von derBundesregierung begrüßt, und auch der Koalitionsver-trag enthält in dem Kapitel „Steuerhinterziehung be-kämpfen – Steuervermeidung eindämmen“ wichtigesteuerpolitische Ziele, wie zum Beispiel die Bekämp-fung der doppelten Nichtbesteuerung und des doppeltenBetriebsausgabenabzugs. Die DBAs sollten diesbezüg-lich überprüft werden. Insbesondere der Betriebsausga-benabzug bei Geschäftsbeziehungen mit Briefkastenfir-men ist ebenfalls kritisch zu hinterfragen.Wir brauchen mehr Transparenz in Steuersachen, undzwar insbesondere in den Branchen, in denen Steuerhin-terziehung besonders leicht möglich ist, nämlich in derFinanzbranche und in der Rohstoffbranche.Wir wollen Besteuerungslücken schließen. Das schaf-fen wir insbesondere mit einem verbesserten Informa-tionsaustausch. Es gilt, diesen Teil des Koalitionsver-trages trotz aller Komplexität und Hürden zügigumzusetzen;
denn das liegt nicht nur im Interesse der öffentlichenHaushalte, sondern das ist auch eine Frage der Wettbe-werbsfähigkeit.Kleine und mittelständische Unternehmen sind hiergegenüber großen Unternehmen häufig benachteiligt, dasich große Unternehmen leichter der Besteuerung entzie-hen können. Ich warne allerdings vor einem Generalver-dacht und vor einer zu emotionalen Debatte. Nicht jedergroße Konzern begeht Steuerhinterziehung.Grundsätzlich gilt: Ziel aller Maßnahmen gegen Steu-erhinterziehung ist meines Erachtens nicht, die Leute un-bedingt in den Knast zu bekommen, Ziel der Maßnah-men ist in erster Linie, die Steuern einzutreiben. DerStaat muss das eintreiben, was ihm gesetzlich zusteht.Die Steuergesetze müssen eingehalten werden.Wir müssen uns immer fragen: Was steht denn jetztim Vordergrund: die strafrechtliche Verfolgung oder dieZahlung von Steuern? Steuern stehen der Allgemeinheitzu. Wer hier die Abschaffung der Selbstanzeige fordert,der verhindert Steuereinnahmen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zusatzfrage oder
Bemerkung von Herrn Ernst?
Bitte schön.
Kollege Ernst, bitte.
Herzlichen Dank, dass Sie die Frage zulassen. – Wenn
ich Sie richtig verstehe, ist bei Ihnen das oberste Motiv
des Strafrechts, die Einnahmen des Staates zu erhöhen,
oder habe ich Sie da falsch verstanden?
Sie haben gerade gesagt: Wir wollen mit diesem Instru-
ment dazu beitragen, zu möglichst hohen Einnahmen für
den Staat zu kommen. Das ist gut und schön; das wollen
wir ja auch. Aber es handelt sich hier um eine Straftat,
die unterschiedlich behandelt wird.
Wenn dieser Grundsatz prinzipiell gelten würde, dann
wäre es nicht das oberste Ziel der Strafverfolgung, künf-
tige Straftaten durch Androhung einer Strafe zu vermei-
den, sondern das oberste Ziel wäre es dann, die Einnah-
men des Staates zu fördern. Würde das dann allgemein
gelten oder nur bei Steuerhinterziehung?
Sie führen die Diskussion ideologisch.
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1322 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Bettina Kudla
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Oberstes Ziel der Steuergesetze ist es, die Steuern einzu-treiben. Wie ich bereits sagte: Steuerhinterziehung iststrafbar. Die Selbstanzeige ist ein Instrument, das zumehr Steuerehrlichkeit beiträgt. Machen wir uns nichtsvor: Wenn wir das Instrument der Selbstanzeige abschaf-fen, dann werden wir der Steuerhinterziehung kaum bei-kommen. Wir werden diese Straftaten schlichtweg nichtaufdecken.
Nach wie vor gilt die Regelung: Wer Steuern hinter-zieht, macht sich strafbar.
Durch die Zahlung des Strafzuschlages von 5 Prozent er-langt der Steuerpflichtige zwar Straffreiheit, aber ermuss diese Strafe zahlen. Damit ist es für den Staat er-heblich günstiger.
Gut, danke schön. Weiter in Ihrer Rede!
Lassen Sie mich noch ein paar Worte zur Schweiz sa-
gen. Die Ausgangslage für Gespräche mit der Schweiz
ist nach der Ablehnung des bilateralen deutsch-schwei-
zerischen Steuerabkommens durch den Bundesrat und
auch nach dem aktuellen Schweizer Referendum zur Zu-
wanderung nicht einfacher geworden. Trotzdem sollte
man hier den Willen des Volksentscheids akzeptieren.
Aber die Europäische Kommission sollte gleichzeitig die
Gespräche mit der Schweiz über die Revision des Zins-
besteuerungsabkommens fortsetzen.
Fazit: Es gilt, den Koalitionsvertrag umzusetzen und
die Regelungen zur Selbstanzeige gegebenenfalls zu ver-
schärfen, sobald die Vorschläge der Arbeitsgruppe, wel-
che von der Finanzministerkonferenz eingesetzt wurde,
vorliegen. Keinesfalls darf die Verschärfung aber dazu
führen, dass die Selbstanzeige wirkungslos wird und
dass sich faktisch niemand mehr anzeigt. Die Regelung
zur Selbstanzeige ist übrigens nicht mit der Zielrichtung
der Abschaffung in den Koalitionsvertrag aufgenommen
worden, –
Frau Kollegin, denken Sie an Ihre Redezeit.
– sondern mit der Absicht, diese zielgenauer auszuge-
stalten. Der Antrag der Linken ist abzulehnen.
Danke, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin ist Lisa
Paus für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heuteging in Hessen am Amtsgericht Eschwege ein Prozessgegen drei Jugendliche zu Ende. Den dreien drohte biszu fünf Jahren Gefängnis, und zwar dafür, dass sie imJuni letzten Jahres weggeworfene Lebensmittel aus ei-nem Abfallcontainer eines Supermarktes genommen ha-ben sollen, um auf die Verschwendung von Lebensmit-teln aufmerksam zu machen und sie der Tafel fürBedürftige zu übergeben. Fünf Jahre Gefängnis!
Gegen dieses Strafverfahren hat sich aus meiner Sichtvöllig zu Recht eine Welle der Empörung entwickelt.Vor gut zwei Stunden ist nun der salomonische Urteils-spruch erfolgt: Die drei Jugendlichen sind aus Mangel anBeweisen freigesprochen worden. Das ist die gute Nach-richt.
Aber das Entwenden von Lebensmitteln aus Müllcon-tainern ist weiterhin eine schwere Straftat. Das ist dieschlechte Nachricht, meine Damen und Herren.Warum erzähle ich das heute? Weil sich an diesemFall einmal mehr zeigt, wie sich das Gerechtigkeitsemp-finden und geltendes Recht einander in Deutschlandwidersprechen. Es ist kaum zu vermitteln, dass AliceSchwarzer straffrei davonkommt, weil sie ihre Steuer-hinterziehung selbst beim Finanzamt angezeigt hat,während die Staatsanwaltschaft junge Menschen wegeneiner Weiterverwendung bereits weggeworfener Lebens-mittel anklagt.Aber, meine lieben Kolleginnen und Kollegen vonder Linken, es greift dennoch deutlich zu kurz, jetzt ein-fach im Umkehrschluss ebenso drakonische Strafenschon für kleinste Steuerhinterzieher einzufordern,
zumal die Abschreckungswirkung von hohen Strafen oh-nehin zweifelhaft ist. Entscheidend ist das Entdeckungs-risiko. Daran wollen wir arbeiten.
Wir Grünen wollen die strafbefreiende Selbstanzeigenicht abschaffen. Aber wir wollen sie überflüssig ma-chen. Das geht zunächst einmal, indem wir das Ent-deckungsrisiko deutlich erhöhen. Das schaffen wir ers-tens mit Transparenz, zweitens mit mehr Transparenzund drittens mit noch mehr Transparenz.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1323
Lisa Paus
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In diesem Zusammenhang ist uns Grünen zusammenmit der SPD mit der Verhinderung des deutsch-schwei-zerischen Steuerabkommens ein entscheidender Durch-bruch für eine europäische Dynamik zugunsten vonmehr Transparenz gelungen.
Denn seitdem wissen die Steuerbetrüger: Es wird inDeutschland keine anonyme Amnestie für Steuerhinter-ziehung im Ausland geben.
Aber es muss weitergehen. Die Instrumente dafür lie-gen auf dem Tisch: Erstens. Wir brauchen einen automa-tischen Informationsaustausch nicht nur für Zinsen, son-dern für alle Kapitalerträge in der EU und im Übrigenauch mit Nicht-EU-Ländern wie der Schweiz.Zweitens. Wir machen einen automatischen Informa-tionsaustausch in allen Doppelbesteuerungs- oder Steuer-informationsabkommen mit anderen Staaten verpflich-tend.Drittens. Wir wollen die Abschaffung der Abgeltung-steuer in Deutschland, damit auch in Deutschland Kapi-taleinkünfte nicht mehr anonym bleiben.
Aber auch die derzeitigen Regelungen für die strafbe-freiende Selbstanzeige gehören auf den Prüfstand. Dennnach den derzeitigen Regelungen ist der Ehrliche nochimmer zu oft der Dumme. Wer wie Alice Schwarzer über20 Jahre Steuern auf Erträge von Auslandskonten nichtgezahlt hat und sich dann selber anzeigt, für den hat essich wegen der geltenden Verjährungsfristen eben dochnoch gelohnt, Frau Kudla. Das ist nicht in Ordnung, unddas wollen wir ändern.
Von der strafbefreienden Selbstanzeige darf kein zusätz-licher Anreiz zur Steuerhinterziehung ausgehen.Wir wollen auch über die Höhe des Steuerzuschlagesund darüber reden, warum ein Zuschlag erst ab50 000 Euro fällig wird. Schließlich wollen wir auchüber die Mindeststrafen reden. Wir wollen sie überprü-fen, damit wir diese klare Dreiteilung haben. Der Steuer-ehrliche muss belohnt werden. Das ist das, was wirwollen. Die strafbefreiende Selbstanzeige ist etwas da-zwischen. Wer trotz alledem immer noch weiter Steuernhinterzieht, muss mit entsprechenden Strafen rechnen.Für eine entsprechende Reform stehen wir bereit undhoffen, dass Sie das in den nächsten Wochen entspre-chend angehen werden.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin. Jetzt kann ich die Rede-
zeit, die Sie nicht gebraucht haben, niemand anderem
gutschreiben. Aber gut.
Nächster Redner in der Debatte ist Metin Hakverdi
für die SPD.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Das Thema strafbefreiende Selbstanzeige beiSteuerhinterziehung, deren Abschaffung die Linke heutewieder einmal fordert, haben wir im Rahmen der Aktuel-len Stunde in der letzten Woche ausführlich besprochen.Die wesentlichen Argumente wurden vorgetragen undausgetauscht. Wir können das jede Woche wiederholen,wenn Sie wünschen.
– Ich komme gleich darauf zurück, durchaus versöhn-lich, Herr Ernst.Die Debatte hat aufgezeigt – das kann man im Proto-koll nachlesen –, dass wir durchaus einen Konsens imHause haben, dass wir alle gemeinsam mehr Steuerge-rechtigkeit in Deutschland wollen.
Steuergerechtigkeit ist eines der Kernanliegen der SPD-Fraktion. Auch wir wollen an dem Erreichen des Zielsmehr Steuergerechtigkeit konsequent weiterarbeiten.Keine Einigkeit haben wir darüber erzielt, wie diesesZiel mehr Steuergerechtigkeit erreicht werden kann. Mitder Union haben wir uns zuerst darauf geeinigt, dieSteuerhinterziehung stärker zu bekämpfen. Im Koali-tionsvertrag haben wir vereinbart – darüber war schoneiniges zu hören –, dass wir gegen grenzüberschreitendeGewinnverlagerungen von international operierendenUnternehmen vorgehen werden. Wir haben vereinbart,dass wir auf nationaler, europäischer und internationalerEbene weiter konsequent gegen Steuervermeidung durchNutzung von Offshorefinanzplätzen vorgehen wollen.Außerdem haben wir vereinbart, dass wir im Lichte desBerichts der Finanzministerkonferenz die Regelung zurstrafbefreienden Selbstanzeige, deren Abschaffung Sieeilfertig fordern, weiterentwickeln und verschärfenwollen.Wenn man das Ziel mehr Steuergerechtigkeit konse-quent ansteuert, dann genügt es eben nicht, einen einzel-nen Baustein aus dem System der Steuergestaltung zubetrachten und zu kritisieren. Mehr Steuergerechtigkeitwerden wir nur dann erreichen, wenn wir ein Bündelverschiedener Maßnahmen weiterentwickeln und aufei-nander abstimmen. Die Abschaffung der strafbefreien-den Selbstanzeige allein wird eben nicht zu mehr Steuer-gerechtigkeit führen.
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1324 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Metin Hakverdi
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Mit der Abschaffung der strafbefreienden Selbstanzeigeallein werden Steuerbetrüger nicht zu rechtschaffenenBürgern, die sich in die Schlange vor dem Finanzamteinreihen, um ihre Steuern zu zahlen.
Wenn die strafbefreiende Selbstanzeige allein abge-schafft würde, würden in diesem Land künftig – so para-dox das klingen mag – mehr Steuern hinterzogen. Wennwir Ihrem Antrag heute folgen würden: Was würde sichfür die Menschen, die bisher Steuern hinterzogen haben,ändern? Durch die ersatzlose Streichung der strafbefrei-enden Selbstanzeige machen wir die Tür zu, durch diediese Menschen bisher gehen können, um ihrer Steuer-pflicht nachzukommen. Hierdurch bekommt der StaatEinnahmen in nennenswerter Höhe: 3 Milliarden Euro.Das ist viel Geld. Wenn wir allein das Institut der Selbst-anzeige abschaffen würden, bekämen wir auch mit demAnkauf von Steuer-CDs eine so hohe Summe nicht her-ein.Die strafbefreiende Selbstanzeige ist in weitererHinsicht nützlich. Durch sie bekommen wir wichtigeHinweise auf weitere Steuerstraftaten; denn in diesenVerfahren sind die Steuerbürger zur Mitwirkung bei derAufklärung verpflichtet. Es gibt kein Zeugnisverweige-rungsrecht. Alle Steuersachen müssen lückenlos aufge-deckt werden. Solche wichtigen Informationsquellenwürden verschüttgehen, wenn wir dem Antrag der Lin-ken folgten.
Die Steuerfahnder würden in der Praxis tatsächlich we-niger Steuerstraftaten aufdecken.Im Ergebnis muss man also fragen: Worauf kommt esuns bei der Steuergerechtigkeit an? Wollen wir gesin-nungsethisch oder verantwortungsethisch entscheiden?Ist es uns bei der Steuergerechtigkeit wichtiger, sagen zukönnen: „Wir haben die richtige Gesinnung“, oder ist esuns wichtig, dafür zu sorgen, dass möglichst viele Men-schen tatsächlich ihre Steuern zahlen?
Die Wahrheit ist: Wir wollen beides. Wir wollen auchdem Gerechtigkeitsempfinden der Gesellschaft Rech-nung tragen. Der Bericht der Bund-Länder-Fachgruppezur Evaluierung der §§ 371 und 398 a der Abgabenord-nung hat gute Vorschläge gemacht. Diese sollten wiraufgreifen und fortentwickeln. Zum Beispiel sollen beieinfacher Steuerhinterziehung vollständige Angaben zudem für die Nachversteuerung relevanten Zeitraum ge-macht werden. Mit Blick auf diese Erkenntnisse solltenwir darüber diskutieren, ob wir die strafbefreiendeSelbstanzeige in Fällen schwerer Steuerstraftaten tat-sächlich abschaffen wollen. Das haben wir schon vor ei-nigen Jahren vorgeschlagen. Wir wollen keinen Ablass-handel für Superreiche und Schwerkriminelle, die sichteure Berater bei der Selbstanzeige und beim Zuschlagleisten können. Das Papier der Bundesländer enthältweitere Vorschläge, über die wir diskutieren und die wirfür eine Novellierung dieses Instruments heranziehensollten.Im Ergebnis ist festzuhalten: Solange wir ein interna-tionales Umfeld von sogenannten Steueroasen haben, istes richtig, wenigstens die Möglichkeit der strafbefreien-den Selbstanzeige zu haben. Aber die Steuergerechtig-keit und das Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerungverlangen, dass wir die Brücke zur Straffreiheit durchdie Selbstanzeige neu justieren. Hierfür ist der Berichtder Bund-Länder-Facharbeitsgruppe zur Evaluierung der§§ 371 und 398 a der Abgabenordnung eine gute Dis-kussionsgrundlage. Wir werden Ihren Antrag deshalbablehnen.Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Metin Hakverdi. Das
ganze Haus gratuliert Ihnen zu Ihrer ersten Rede im
Deutschen Bundestag.
Nächster Redner in der Debatte ist Philipp Graf
Lerchenfeld.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Hohes Haus! Wissen Sie, KollegeErnst, durch ständiges Behaupten von Halbwahrheitenwerden Tatsachen und Fakten nicht verändert, und fal-sche Behauptungen werden einfach auch nicht wahrer.
Vielleicht erziele ich mit der Wiederholung meinerDarstellung aus der Aktuellen Stunde der letzten Wocheeinen gewissen Lernerfolg bei Ihnen. Man sagt ja: Repe-titio est mater studiorum. Frei übersetzt: Die Wiederho-lung ist die Mutter des Lernerfolgs. Oder: Wenn ich esIhnen oft genug sage, kapieren auch Sie es vielleicht ein-mal.
Ich will es noch einmal ganz deutlich sagen: Steuer-hinterziehung ist nicht die einzige Straftat, bei der eineSelbstanzeige zur Straffreiheit führen kann. Sie habendas Beispiel des Brandstifters selbst genannt. Hier soll-ten Sie in das Gesetz schauen. Dort steht nämlich, dassschon der Versuch des Löschens dazu führen kann, dassStraffreiheit gewährt wird.
Gleiches gilt für die Hinterziehung von Sozialabgaben,bei Geldwäsche, bei Geldfälschung, bei Subventions-betrug, und es gibt, worauf ich hingewiesen habe, sogareine Straffreiheitsregelung im Parteiengesetz.Wir sind uns über alle Fraktionsgrenzen hinweg einig,dass Steuerhinterziehung kein Kavaliersdelikt ist. Steu-erhinterziehung ist Betrug an der Gesellschaft und muss
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1325
Philipp Graf Lerchenfeld
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deshalb entsprechend verfolgt und bestraft werden. InIhrem Antrag, Kollege Ernst, wird auch korrekt daraufhingewiesen, dass das Steuerstrafrecht in der letztenLegislaturperiode erheblich verschärft worden ist. Au-ßerdem haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart – dashaben Sie allerdings nicht in Ihren Antrag geschrieben –,dass wir weitere Maßnahmen für notwendig halten. Nunaber wegen der spektakulären Fälle, die in letzter Zeitdurch die Medien gegangen sind, gleich die Abschaf-fung der strafbefreienden Selbstanzeige zu fordern, heißtdoch, das Kind mit dem Bad auszuschütten, und istwirklich nichts anderes als schnöder Populismus.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Linken,Ihnen geht es doch gar nicht darum, vermeintliche Unge-rechtigkeiten zu beseitigen. Sie versuchen, mit IhremAntrag alle finanziell besser situierten Bürgerinnen undBürger erst einmal unter einen Generalverdacht zu stel-len. In Ihrer Vorstellungswelt ist anscheinend jeder, derVermögen besitzt, per se ein Straftäter, den der Staatdurch die strafbefreiende Selbstanzeige schützen will.
Sie sprechen vom gleichen Recht für alle. Bei Steuer-hinterziehungen, bei denen durch eine umfassendeSelbstanzeige Straffreiheit gewährt wird, geht es dochnicht nur um die spektakulären Fälle, sondern es gehtzum Beispiel auch um Eltern, die weiter Kindergeld be-ziehen, weil sie das Alter ihrer Kinder in der Steuer-erklärung nicht angegeben haben. Es geht auch um denRentner, der glaubt, seine Rente nicht versteuern zumüssen, oder um den Lehrer, der wider besseres Wissenein Zimmer seines Hauses als Arbeitszimmer angibt,oder um die eigentlich ehrlichen Bürger, die in Unkennt-nis unseres wirklich komplizierten Steuerrechts fehler-hafte Erklärungen abgeben. In allen diesen Fällen hilftdie Strafbefreiung bei Selbstanzeige, den Weg zur Steu-erehrlichkeit wieder zu öffnen.
Die Finanzbehörden sind gehalten, alle steuerlichenSachverhalte zu erfassen. Es ist schon gesagt worden,dass hierzu die Mitwirkung der Steuerpflichtigen not-wendig ist und eine Strafbefreiung auch dazu führt, dassbei einer Selbstanzeige alle Tatsachen aufgeklärt wer-den. Sonst hätte der Steuerbetrüger ein Aussageverwei-gerungsrecht, und wir würden nicht zu den angestrebtenErgebnissen kommen.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
Bemerkung vom Kollegen Ernst?
Vom Kollegen Ernst immer besonders gerne.
Echt? Gut, dann Kollege Ernst.
Danke schön. – Das scheint der Beginn einer grenzen-
losen Freundschaft zu werden.
Das müssen wir noch abwarten, würde ich sagen.
Ich wollte Sie, Herr Graf, darauf hinweisen, dass wir
genau die Delikte, die Sie ansprechen, mit der Abschaf-
fung der strafbefreienden Selbstanzeige nicht erfassen
wollen und sie deshalb ausnehmen. Wenn Sie unseren
Antrag gelesen hätten, wüssten Sie das. Vielleicht ist es
Ihnen auch entgangen. Es heißt dort – ich möchte zitie-
ren –:
Die Institution der strafbefreienden Selbstanzeige
dient auch als Korrekturmöglichkeit von nicht ab-
sichtlich begangenen Fehl- oder Falschangaben.
Dies betrifft insbesondere den Bereich der komple-
xen umsatzsteuerlichen Melde- und Erklärungs-
pflichten. Leichtfertige Steuerverkürzung ist nicht
gleichzusetzen mit bewusster Steuerhinterziehung.
Genau diesen Punkt greifen wir also auf.
Wir wollen nicht, dass Steuerhinterziehung in Millio-
nenhöhe mit der Tat von jemandem gleichgesetzt wird,
der vielleicht vergessen hat, seine Steuererklärung recht-
zeitig abzugeben. Genau das wollen wir nicht. Insofern
stimme ich Ihnen vollkommen zu, dass wir das Ganze
entsprechend regeln müssen.
Wenn Sie mir so weit zustimmen, dann könnte dasmit der Freundschaft vielleicht noch etwas werden.
Ich möchte Ihnen nur sagen: Sie fordern gleichesRecht für alle. Gleichzeitig sagen Sie, dass die reichenund superreichen Steuerbetrüger stärker als die anderenbestraft werden sollen. Steuerhinterziehung ist grund-sätzlich eine Straftat, und das gilt für jeden, in welcherHöhe er auch immer Steuern hinterzieht. Wir braucheneine Strafbefreiung, damit Steuerhinterziehung geahndetwerden kann.
Ich möchte noch auf eine Sache hinweisen, auf die ichauch in der letzten Rede hingewiesen habe: Das Steuer-geheimnis ist auch ein Dienstgeheimnis. Wir haben inder letzten Zeit sehr viel von Dienstgeheimnissen gehörtund viel darüber gesprochen. Ich meine, dass es notwen-dig ist, dass jeder, der ein Steuergeheimnis verletzt, un-nachgiebig verfolgt wird.
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1326 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Philipp Graf Lerchenfeld
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Es kann nicht sein, dass jemand in der Öffentlichkeitdurch den Dreck gezogen wird, weil man bei ihm Steu-erhinterziehung vermutet oder weil an bestimmte Fern-sehanstalten die Information weitergegeben worden ist,dass eine Hausdurchsuchung stattfindet. So kann manmit vermeintlichen Steuerhinterziehern nicht umgehen.Solches Fehlverhalten muss genauso geahndet werdenwie die Steuerhinterziehung.
Wir können über eine Verschärfung der Regeln zurSelbstanzeige durchaus reden. Aber wir müssen die an-dauernde Verletzung von Steuergeheimnissen ebenso insKalkül ziehen. Eine Abschaffung der Selbstanzeige füralle Steuerdelikte, wie es die Linke in ihrem populisti-schen Antrag fordert, ist ebenso unsinnig wie kontrapro-duktiv und geht an der eigentlich zu führenden Debattevorbei. Deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen. Ichhoffe, das tut unserer Freundschaft keinen Abbruch.Vielen Dank.
Die Steuer verbindet. – Vielen Dank, Herr Kollege. –
Nächster Redner ist Lothar Binding für die SPD.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Die Linke hat die Be-griffe Straftat, Strafverfolgung, Strafrecht und Gerech-tigkeit sehr stark strapaziert. Ich denke, es ist klug, wennman nur Vergleichbares miteinander vergleicht. Schauenwir einmal, wie der Antrag der Linken eigentlich be-ginnt:Keine Schwarzfahrerin, kein kleiner Betrüger kanndurch Selbstanzeige einen gesetzlich zugesichertenAnspruch auf Straffreiheit geltend machen.Das stimmt.Interessanterweise wird in diesem Antrag mit derÜberschrift „Straffreiheit bei Steuerhinterziehung durchSelbstanzeige abschaffen“ ein Schlupfloch für die klei-nen Leute gefordert. Da steht nämlich, Bagatelldeliktesollten künftig nur als Ordnungswidrigkeit behandeltwerden. Es geht dabei um genau diejenigen kleinenLeute mit ihren kleinen Fehlern, auf denen Sie die Be-gründung Ihres Antrags aufbauen. Dann müssten Siekonsequenterweise auch eine Bagatellgrenze fürSchwarzfahrer und für Betrüger fordern. Sie müssenGleiches mit Gleichem vergleichen. Dass Sie das nichttun, führt in Ihrem Antrag zu einem logischen Fehler.Eigentlich ist Ihr Antrag gar nicht schlecht. – Ich lassejetzt keine Zwischenfrage zu. –
Interessanterweise haben Sie in der 17. Legislatur-periode etwas anderes vorgelegt, nämlich einen Antragohne die Forderung nach dieser Bagatelldeliktregelung.Das ist doch bemerkenswert. Interessanterweise habenwir vor zwei Jahren ebenfalls beantragt, die pauschaleStraffreiheit nach einer Selbstanzeige abzuschaffen. Dasgeschah teilweise auch, um bestimmte Leute zu erschre-cken; das stimmt. Damals hatten wir nämlich schon imHinterkopf, dass es sich bei manchen Vergehen umKavaliersdelikte handelt. Von Jugendsünden war dieRede. – Ich assoziiere mit „Jugendsünde“ ganz andereSachen.
Steffen Kampeter hat am 26. April 2013 etwas gesagt,was auch in der Rückschau ganz anders klingt – MartinGerster hat es hier schon einmal zitiert; ich wiederholees gern noch einmal –:Der Fall Hoeneß ist doch nur ein Einzelfall – einZierfisch, ein dicker, fetter Zierfisch.Über einen Zierfisch könnte man ja diskutieren. Aberich würde es doch als zu weitgehend bezeichnen, von ei-nem Einzelfall zu sprechen, weil es nach dem Bekannt-werden dieses Falles zu 50 000 Selbstanzeigen gekom-men ist. Ein Einzelfall ist es also nicht. Hier merkt man,warum die Selbstanzeige nicht funktioniert, wenn mansie nicht mit Straffreiheit verknüpft. Warum? Wenn mandie Straftäter ganz korrekt verfolgen würde, würde mangrößenordnungsmäßig vielleicht 2 000 Straftäter findenkönnen. Sie können die Verwaltungen aber noch so sehraufrüsten mit noch so vielen Steuerfahndern, Buchfüh-rungshelfern, Buchprüfern, Bilanzprüfern: Sie würdenimmer nur eine bestimmte Zahl von Straftätern finden– nämlich die angenommenen 2 000 –; aber die anderen50 000 würden sie nie entdecken. Sie hätten einen dop-pelten Schaden. Sie würden die Gauner, die Nichtent-deckten, belohnen. Die blieben nämlich straffrei, obwohlsie straffällig geworden sind; das Entdeckungsrisiko istnämlich nahe null. Gleichzeitig hätte der Fiskus großeAusfälle. Auch das ist eine große Ungerechtigkeit.Deshalb glauben wir: Die Strafbefreiung bei derSelbstanzeige ist ein Instrument, das auf dem Entde-ckungsrisiko aufbaut, sodass insgesamt Gerechtigkeithergestellt wird. Wir haben ja gesehen, wie es funktio-niert: Wir kaufen eine CD. Einige Prominente werdenentdeckt. Durch diese Kombination werden alle anderenSteuersünder sich selbst anzeigen, werden damit offensichtbar. Dadurch kommt sozusagen eine selbstindu-zierte Steuergerechtigkeit zustande. Das ist eine ganzgute Sache, um das so zu rechtfertigen.Ich glaube, an der Stelle muss man das beachten, wasMetin Hakverdi gesagt hat. Er hat nämlich gesagt: Manmuss ein bisschen aufpassen, dass die Verantwor-tungsethik nicht hinter der Gesinnungsethik zurück-bleibt. – Wir sind der Meinung: Die Verantwor-tungsethik gegenüber dem Staat ist so hoch, dass sich dieStrafbefreiung bei der Selbstanzeige für den Staat nichtnur rechnet, sondern auch dazu führt, die Kriminellen,die andernfalls unentdeckt bleiben würden, zu entde-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1327
Lothar Binding
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cken. Deshalb lohnt es nicht, ein solches Gesetz, wie vonIhnen vorgeschlagen, zu beschließen.
Wir werden natürlich eine Verschärfung der Regelnbei der Selbstanzeige herbeiführen. Wir wollen dieGrenze von 50 000 Euro absenken. Wir wollen den Zu-schlag, also den Strafzins, erhöhen. Wir wollen überle-gen, wie wir die Menschen stärker sensibilisieren, sodasssie selbst dahin kommen, weniger Steuern zu hinterzie-hen. Ich glaube, dass wir auf einem sehr guten Weg sind,ein Gesetz zu erarbeiten. Wir wollen die Gesetzeslageverschärfen. Wir wollen aber nicht die Straffreiheit beider Selbstanzeige abschaffen – aus den genanntenGründen.Schönen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Binding. – Das Wort für
eine Kurzintervention hat der Kollege Klaus Ernst.
Herr Kollege Binding, vielleicht leihen Sie mir noch
kurz Ihr Ohr.
Ich wollte nur darlegen, wie wir das mit den Bagatellde-
likten sehen.
Der wesentliche Unterschied zur strafbefreienden
Selbstanzeige ist der, dass das Gesetz vorschreibt, dass
der Steuerhinterzieher straffrei bleibt. Wenn jemand
schwarzfährt, dann kann der Richter zum Beispiel die
Lebensumstände des Straftäters berücksichtigen. Ich
meine, der Richter würde die Tatsache berücksichtigen,
dass der Straftäter deshalb schwarzgefahren ist, weil –
ein Beispiel – seine Mutter überraschend ins Kranken-
haus gekommen ist und er kein Geld in der Tasche hatte.
Wenn der Richter einen Steuerhinterzieher vor sich hat
und verurteilen muss, sollte er auch berücksichtigen
können, was dessen Motiv war. Vielleicht musste er für
irgendetwas sparen, weil zum Beispiel eine große Ope-
ration bevorstand, sodass er seine Steuern gar nicht zah-
len konnte. Es müsste der Einzelfall berücksichtigt wer-
den.
Der wesentliche Unterschied zur – wie haben Sie das
im Zusammenhang mit der Straffreiheit bezeichnet? –
selbstinduzierten Steuergerechtigkeit besteht darin, dass
ein Richter diesen Straftäter nicht einmal zu sehen be-
kommt. Sonst könnte er sagen: Der hat viel hinterzogen
– im Gesetz ist ja auch ein Rahmen für das Strafmaß vor-
gesehen: sechs Monate bis zehn Jahre –; danach richtet
sich, welche Strafe er bekommt. – Aber dass der Steuer-
hinterzieher im Fall der Selbstanzeige von vornherein
per Gesetz straffrei bleibt, obwohl er Straftäter ist, das ist
ein Unterschied auch zum Brandstifter. Darauf wollte
ich nur noch einmal hinweisen.
Herr Binding, wenn Sie mögen, können Sie darauf
antworten.
Ich will nur eine ganz kurze Erwiderung geben. – Ver-
gleichbarkeit wäre erst dann hergestellt, wenn man in
den von Ihnen genannten Fällen eine automatische Straf-
zahlung vorsehen würde. Das ist aber nicht so. Jemand
kommt vor den Richter, und dann wird sein Fall verhan-
delt. Aber bei der Steuerhinterziehung ist es anders. Hier
zeigt sich jemand selbst an. Er muss Mitwirkungspflich-
ten erfüllen – eine ganz harte Strafe; das ist doch klar.
Aber viel schlimmer ist, dass er eine Strafzahlung leisten
muss, und zwar automatisch. Diese wollen wir erhöhen
oder auch staffeln, damit jemand, der wenig Steuern hin-
terzieht, eine geringere Strafe zu zahlen hat als jemand,
der viel Steuern hinterzieht. Deshalb können wir uns
auch vorstellen, dass jemand, der sehr viel Steuern hin-
terzieht, auch sehr hohe Strafzahlungen leisten muss,
und zwar automatisch. Durch die Selbstanzeige ver-
pflichtet er sich dazu. Das macht für mich den großen
Unterschied zu den von Ihnen vorgetragenen Fällen aus,
die damit nicht vergleichbar sind.
Vielen Dank, Herr Kollege Binding. – Als letztem
Redner in dieser Debatte gebe ich das Wort Uwe Feiler
für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnenund Kollegen! Auch wenn man durch die öffentliche Be-richterstattung der vergangenen Wochen einen anderenEindruck gewinnen könnte, schicke ich eines vorweg:Die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes sind keinVolk von potenziellen Steuerhinterziehern.
Bis auf wenige Ausnahmen zahlen die Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer, die Rentnerinnen undRentner, die Unternehmerinnen und Unternehmer und,Herr Ernst, auch Vermögende in Deutschland brav ihreSteuern. Das kann ich Ihnen aus meiner 28-jährigen Tä-tigkeit in der Finanzverwaltung versichern. Das sagenaber auch alle Statistiken. Damit versetzen die Bürgerin-nen und Bürger nicht zuletzt uns als Abgeordnete in dieLage, mit ihrem Geld die Aufgaben des Staates zu finan-zieren. Gerade deshalb ist es ja wichtig, dass alle ihrenBeitrag dafür leisten.Jeder Steuerpflichtige muss bei der Steuererklärungversichern, dass seine Angaben richtig und vollständigsind. Die Finanzbehörden haben diesen Angaben, soweitsie schlüssig und glaubhaft sind, zu folgen. Diejenigen,
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1328 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Uwe Feiler
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die sich nicht an die steuerlichen Vorschriften halten,unrichtige oder unvollständige Angaben machen und da-durch Steuern verkürzen, begehen eine Straftat. DieseStraftat muss – das ist in diesem Hause unstreitig – ver-folgt und geahndet werden, so man sie denn erkennt.Aber genau hier liegt das Problem. Wie in kaumeinem anderen Rechtsgebiet ist der Staat bei der Steuer-festsetzung auf die Mitwirkung des Steuerpflichtigenangewiesen. Straftaten müssen folglich erkannt und diestrafbare Handlung des Täters nebst der Besteuerungs-grundlagen ausermittelt werden. Das erfordert Zeit,enormen Aufwand und vor allem qualifiziertes Personalin unseren Finanzämtern. Dabei stellt das Delikt derSteuerhinterziehung durch das Verschweigen etwaigerZinseinkünfte nur einen kleinen Ausschnitt aus derBandbreite möglicher Fallgestaltungen dar.Das Institut der strafbefreienden Selbstanzeige wurdevor knapp 100 Jahren eingeführt, um dem Steuerhinter-zieher unter tätiger Reue den Weg zurück in die Gemein-schaft der ehrlichen Steuerzahler zu ermöglichen. Sie istaber auch – das muss man ehrlicherweise dazusagen –eine deutliche Arbeitserleichterung für die Finanzbehör-den. Meinem Heimatland Brandenburg bescherten dieseSelbstanzeigen immerhin zusätzliche Einnahmen vonknapp 4,2 Millionen Euro seit dem Jahr 2010. Da mutetes schon seltsam an, dass das von einem linken Ministergeführte Finanzministerium in Brandenburg öffentlicheine neue Rekordzahl von Selbstanzeigen feiert, dasGeld gerne nimmt und gleichzeitig die Abschaffung derstrafbefreienden Selbstanzeige fordert.
Unsere Abgabenordnung eröffnet dem Steuerpflichti-gen nach § 371 die Möglichkeit der strafbefreiendenSelbstanzeige unter gewissen Bedingungen. So muss fürden nicht verjährten Zeitraum die Steuer verzinst, nach-entrichtet und ein etwaiger Strafaufschlag nach § 398 ader Abgabenordnung bezahlt werden. Der Ankauf vonSteuer-CDs hat zweifelsohne den Druck auf die Tätererhöht und ist in Fällen, in denen kein automatischer In-formationsaustausch von Steuerdaten möglich ist, auchvertretbar. Dennoch bleibt hier ein hoher Ermittlungs-aufwand bestehen.Was würde eigentlich passieren, wenn wir die Mög-lichkeit der strafbefreienden Selbstanzeige gänzlich ab-schaffen würden? Das kann man sich gut am Beispieldes gescheiterten Steuerabkommens mit der Schweiz vorAugen führen. Ich bitte bereits jetzt um Nachsicht fürdas von mir verwendete Bild des Staates als Fischer.Mit diesem Abkommen wäre es möglich gewesen,mit einem großen Schleppnetz alle Fische zu fangen, zu-gegeben zum Preis der Straffreiheit und zum Preis, dieFische nicht einzeln beim Namen zu kennen. DiesesNetz wurde gekappt. Nicht zuletzt mit dem Kescher derSelbstanzeige wurden immerhin noch einzelne, mitunterauch große Fische gefangen. Diesen Kescher wollen Sievon der Linken nun auch noch über Bord werfen. Statt-dessen wollen Sie es mit der Angelrute versuchen unddarauf hoffen, dass ein Fisch anbeißt.
Da kann ich Ihnen nur viel Glück wünschen; die Aus-beute wird wesentlich schlechter sein.Wir sollten uns vielmehr darüber unterhalten, wie wirdas Mittel der Selbstanzeige modifizieren können. Ichkönnte mir vorstellen, den Zeitraum, für den sich derSteuersünder zu erklären hat, auszuweiten. Wichtig wäreauch, den Aufschlag nach § 398 a AO zu erhöhen, um zuvermeiden, dass der von vornherein ehrliche Steuerzah-ler schlechter gestellt wird als derjenige, der sich selbstanzeigt und darauf vertraut, durch die Verjährung trotzdes Aufschlages einen finanziellen Vorteil zu erlangen.Der Vorschlag der Linksfraktion ist in meinen Augenvollkommen ungeeignet, die Steuerehrlichkeit und Steu-ergerechtigkeit zu erhöhen, die Einnahmen zu sichernund die Finanzbehörden in ihrer Arbeit zu unterstützen.Verlassen Sie daher Ihren Irrweg, denn – frei nach ErichKästner – nicht jeder, der nach Indien fährt, entdecktAmerika.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Kollege Feiler. Das ganze Hausgratuliert Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Bundestag.
Bleiben Sie der Literatur verbunden. Sie haben geradevon Fischen und von Steuerpolitik geredet. Ich empfehleeine Geschichte von Bert Brecht: „Wenn die HaifischeMenschen wären“. Das ist auch eine schöne Geschichte;sie gefällt Ihnen sicherlich.Damit schließe ich die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/556 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:– Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-nen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Ent-wurfs eines Vierzehnten Gesetzes zur Ände-rung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch
Drucksache 18/201Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Gesundheit
Drucksache 18/606– Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der GeschäftsordnungDrucksache 18/617Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der FraktionDie Linke sowie ein Entschließungsantrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen vor.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1329
Vizepräsidentin Claudia Roth
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Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auchfür diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und begrüße den Bundes-minister für Gesundheit, Hermann Gröhe.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wer krankist, hat Anspruch auf bestmögliche Versorgung und da-mit auch auf die besten Medikamente. Im Krankheitsfallgilt nicht der Geldbeutel, sondern das Solidarprinzip un-seres Gesundheitswesens. Diese Grundidee, die sich seitJahrzehnten bewährt hat, funktioniert deshalb so gut,weil wir in der Politik stets aufs Neue die Rahmenbedin-gungen überprüft haben mit dem Ziel, sie unter Quali-täts- und Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkten jeweilsneuen Herausforderungen anzupassen.Das gilt gerade auch für die Arzneimittelversorgung.Wir alle wollen im Krankheitsfall die besten Medika-mente. Eine patientenorientierte Arzneimittelversor-gung, die auf Qualität, auf Innovation, auf Bezahlbarkeitund auf Zuverlässigkeit setzt, wird deshalb wie in denvergangenen Jahren auch in dieser Legislaturperiode un-ser Ziel sein.
Mit dem 14. SGB-V-Änderungsgesetz, das wir heuteabschließend beraten, knüpfen wir dabei an die Arznei-mittelpolitik der letzten Jahre an. Uns geht es in diesemGesetz um eine nachhaltige, finanzierbare Arzneimittel-versorgung für Deutschland als wichtigen Bestandteilunserer qualitativ hochwertigen Gesundheitsversor-gung, eine Arzneimittelversorgung, die die Menschen imKrankheitsfall mit der besten und wirksamsten Arzneiversorgt, die Preise und Verordnungen wirtschaftlich undkosteneffizient gestaltet und die schließlich auch verläss-liche Rahmenbedingungen für Innovation schafft.In der letzten Legislaturperiode haben wir mit demArzneimittelmarktneuordnungsgesetz bereits eine guteGrundlage dafür geschaffen, diese Zielsetzungen zu er-reichen. Wir haben dabei stets betont, dass das AMNOGein lernendes System ist und wir Erfahrungen sammelnmüssen und sie einfließen lassen müssen in die Weiter-entwicklung stabiler Rahmenbedingungen der Arznei-mittelversorgung.Mit dem vorliegenden Gesetz lösen wir diese Ankün-digungen ein; denn es hat sich inzwischen gezeigt, dasswir für die Bereiche Bestandsmarktbewertung, Preismo-ratorium, Herstellerrabatte und Erstattungsbetrag ange-passte Lösungen finden müssen, um Rechtssicherheit zuschaffen und der Versorgungswirklichkeit unseres Arz-neimittelmarktes gerecht zu werden. Wir legen im Rah-men des Gesetzes solide Lösungen für diese Bereichevor.
Beispiel Bestandsmarktbewertung. Im Gegensatz zuder inzwischen bewährten frühen Nutzenbewertung fürneue Arzneimittel, die seit 2011 auf den Markt gekom-men sind, mussten wir erkennen, dass die Bestands-marktbewertung für patentgeschützte Arzneimittel, dievor 2011 ihre Marktzulassung erhalten haben, eine Reihevon Problemen hervorruft. Dabei handelt es sich umProbleme, die sowohl rechtlicher als auch praktischerNatur sind und die die Frage aufwerfen, ob der Aufwandim richtigen Verhältnis zu den Entlastungen steht, diewir uns für die gesetzlichen Krankenkassen oder die pri-vaten Krankenversicherer versprechen. Wir haben des-halb beschlossen, die Bewertung des Bestandsmarkteszu beenden. Bereits gefasste Beschlüsse in diesem Zu-sammenhang behalten ihre Gültigkeit.Unsere Entscheidung, das Preismoratorium zu verlän-gern, sollte eine breite Unterstützung finden. Nicht nur,dass wir hier mit dem Votum der Patientenverbände, desGKV-Spitzenverbandes und des Gemeinsamen Bundes-ausschusses übereinstimmen, auch der Bundesrat hat imDezember kurzfristig – dafür waren wir sehr dankbar –in einem ersten Schritt der Verlängerung des Preismora-toriums bis zum 31. März 2014 zugestimmt.
Am Preismoratorium halten wir nun bis 2017 fest.Das bedeutet: Für Medikamente, die bislang unter dieBestandsbewertung fallen würden, gilt wie für alle ande-ren Arzneimittel der Preis vom 1. August 2009 bis zumJahr 2017 fort. Ausgenommen sind die Arzneimittel, fürdie ein Festbetrag gilt.Zugleich werden wir den Herstellerrabatt von 6 auf7 Prozent erhöhen. Auch von dieser Regelung sind Arz-neimittel ausgenommen, die patentfrei und wirkstoff-gleich sind, da in diesem Bereich ein guter Wettbewerbfür eine entsprechende Preisregulierung sorgt. Damitgreifen wir ein Ergebnis der Anhörung ausdrücklich auf.
Mit diesen Regelungen sparen wir bei der gesetzlichenKrankenversicherung rund 650 Millionen Euro im Jahrund stellen eine bezahlbare Arzneimittelversorgung aufhohem Niveau sicher.
In diesem Sinne wollen wir weiterarbeiten. Ich werdedeshalb mit der Pharmaindustrie in einen Dialog eintre-ten; denn bei aller Kostendiskussion, die notwendig ist,wollen wir uns immer wieder vor Augen führen: Ohnedie Innovationsfähigkeit unserer forschenden Arzneimit-telhersteller müssten die Menschen auf viele Verbesse-rungen im Arzneimittelbereich verzichten, auf Innova-tionen, auf die wir zukünftig gerade im Hinblick aufMehrfacherkrankungen im Zuge der demografischenEntwicklung dringend angewiesen sein werden. Nur ge-meinsam mit der forschenden Arzneimittelindustrie kön-nen wir eine moderne Arzneimittelversorgung für dieMenschen in unserem Land sicherstellen.
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1330 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Bundesminister Hermann Gröhe
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Meine Damen, meine Herren, neben guten Rahmen-bedingungen für eine nachhaltige Arzneimittelversor-gung setzen wir mit dem vorliegenden Gesetz noch einweiteres Zeichen für eine gute Patientenversorgung;denn wer krank ist, braucht seine Hausärztin oder seinenHausarzt.
Dieser Wunsch kann aber nur erfüllt werden, wenn eineausreichende Anzahl an Hausärzten vorhanden ist. Mitdem vorliegenden Gesetz treffen wir deshalb weitereEntscheidungen, um die hausärztliche Versorgung in un-serem Land für die Zukunft zu sichern. Mit den Neu-regelungen in § 73 b SGB V erweitern wir die Gestal-tungsspielräume der Vertragspartner. Wir machen damitden Weg frei für verbesserte Versorgungs- und Vergü-tungsstrukturen im Bereich der hausarztzentrierten Ver-sorgung. Hiermit schaffen wir Rahmenbedingungen undPerspektiven gerade für den hausärztlichen Nachwuchs,auf den wir dringend, nicht zuletzt für die Hausarztver-sorgung auf dem Land, angewiesen sind.
Wir bringen also heute ein für die Arzneimittelversor-gung wichtiges Gesetz zum Abschluss und stärken zu-gleich die Hausarztversorgung in unserem Land. Des-halb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung.Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Minister Hermann Gröhe. – Das Wort
hat Kathrin Vogler für die Linken.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Verehrter Herr Minister, der Titel des Ge-setzentwurfs, über den wir heute debattieren, machtnicht besonders neugierig auf den Inhalt. Aber ich finde,es lohnt sich, beim 14. SGB V-Änderungsgesetz hinterdie Kulissen zu schauen.Worum geht es? In ihrem Koalitionsvertrag habenUnion und SPD einen aus meiner Sicht äußerst fragwür-digen Deal zugunsten der Pharmaindustrie und zulastender Patientinnen und Patienten und der Beitragszahlerin-nen und Beitragszahler ausgehandelt.Vor anderthalb Stunden habe ich in der Debatte überdie UPD, bei der es um wenige Millionen Euro ging, ge-hört, dass Vertreter der Union sehr sorgsam mit Versi-chertengeldern umgehen wollen. Jetzt schenkt die GroßeKoalition den Pharmakonzernen etwa 2 Milliarden Eurojährlich, natürlich nicht aus ihrer eigenen Tasche; denndann wäre die geplante Diätenerhöhung ziemlich raschverbraucht.
Sie greifen wieder einmal in die Taschen der Versi-cherten, also der Beschäftigten, der Rentnerinnen undRentner und aller Kassenmitglieder. Damit sie das nichtso bemerken, nehmen Sie den Pharmafirmen wieder einbisschen weg; aber nicht mehr als eine halbe MilliardeEuro. Das macht alles in allem eine Belastung von1,5 Milliarden Euro. Die durchschnittliche Beitragszah-lerin in der gesetzlichen Krankenversicherung wird alsoin jedem Jahr circa 30 Euro draufzahlen müssen.Wie machen Sie das? Die Krankenkassen erhaltenvon den Pharmafirmen einen gesetzlichen Herstellerab-schlag, den sogenannten Herstellerrabatt. Bis Ende desletzten Jahres lag er bei 16 Prozent. Dann fiel er auf6 Prozent, weil weder die alte noch die neue Koalitionetwas unternahm, um die Dauer dieser Regelung zu ver-längern. Jetzt erzählt uns Minister Gröhe etwas von einerErhöhung auf 7 Prozent. Das, liebe Kolleginnen undKollegen, ist ein Taschenspielertrick: linke Tasche rein,rechte Tasche raus. Das lassen wir Ihnen nicht durchge-hen.
Zudem wollen Sie für die patentgeschützten und diebesonders teuren Medikamente, die vor 2011 auf denMarkt gekommen sind, die Nutzenbewertung abschaf-fen. Das ist wirklich ärgerlich, weil dadurch einige Hun-dert Millionen Euro aus den Taschen der Versicherten inandere Taschen wandern. Das wäre schon ein ausrei-chender Grund, zu diesem Gesetz Nein zu sagen. Unsgeht es aber vor allem um die Behandlungsqualität. DiePatientinnen und Patienten haben ein Recht darauf, dasses für ihre Arzneimittel eine Bewertung des Nutzens unddes Zusatznutzens aus Patientensicht gibt; denn leiderhaben die meisten teuren Präparate keinen Nutzen, außerfür diejenigen, die damit Geld verdienen wollen.Passend zur Zweiklassenmedizin schaffen Sie auchnoch Zweiklassenmedikamente. Die ganz neuen Medi-kamente müssen sich der Prüfung unterziehen, die nichtganz so neuen bleiben außen vor. Dafür haben Sie in deröffentlichen Sachverständigenanhörung jede Menge Kri-tik bekommen. Nicht nur die Vertreter der Kassen, son-dern auch die Ärzteschaft und Patientenorganisationenunterstützten den Änderungsantrag der Linken, die Nut-zenbewertung im Bestandsmarkt fortzusetzen.Sie argumentieren, dass die bisherige Regelung zukompliziert und rechtlich angreifbar gewesen sei. Ichmeine, wenn das so ist, muss man die Regelung einfa-cher, klarer und juristisch weniger angreifbar machen.Daran sollten wir gemeinsam arbeiten. Die Abschaffungder Bewertung ist aus Patientensicht der falsche Weg.Deswegen lehnen wir den Gesetzentwurf ab.
Wir hätten auch mindestens einen Lösungsvorschlag.Die Linke fordert seit Jahren ein Studienregister, in dasalle Studien zu Arzneimitteln vor Beginn verpflichtendeingetragen werden müssen. Das gilt auch für die Stu-dien, die später abgebrochen werden. Sämtliche Ergeb-nisse müssen öffentlich zugänglich sein. Wenn wir aufdiese Art und Weise die gesamten Informationen trans-parent haben, dann würde auch die Nutzenbewertung
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Kathrin Vogler
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mit geringerem Aufwand möglich sein, und die Herstel-ler könnten die Ergebnisse nicht mehr so leicht frisieren.Das fordern auch die Grünen in ihrem Entschließungsan-trag. Dieser Forderung schließen wir uns an. Lassen Sieuns entsprechende Regelungen gemeinsam auf den Wegbringen; denn damit wäre ein großer Schritt zu mehrTransparenz und Qualität in der Arzneimittelversorgunggetan.Ich werbe hier jetzt ausdrücklich um Ihre Zustim-mung zu unseren Änderungsanträgen. Wir wollen dieNutzenbewertung des Bestandsmarkts erhalten und denHerstellerrabatt für die teuren patentgeschützten Arznei-mittel bei 16 Prozent fortschreiben. Grundsätzlich haltenwir die Preiskontrolle mit dem Rasenmäher – nichts an-deres sind diese Herstellerrabatte – allerdings nicht füroptimal. Deswegen wollen wir die Regelung bis Ende2015 befristen und die Zeit nutzen, um einen anderen,nutzenorientierten Mechanismus der Preisbildung zuschaffen.
Ihrem Gesetzentwurf können wir in der jetzigen Formnicht zustimmen. Für Taschenspielertricks zulasten dergroßen Mehrheit der Menschen steht die Linke nicht zurVerfügung.
Das Wort hat die Kollegin Hilde Mattheis für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Herr Minister! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Frau Vogler, ich bin für meine große To-leranz bekannt, was die Linke anbelangt; aber nicht im-mer ist eine starke Behauptung besser als ein Beweis.Ich erkläre Ihnen gerne noch einmal, was wir jetzt hiermachen.
– Ja, das ist meine pädagogische Langmut.Wir haben uns im Koalitionsvertrag wirklich eineMenge vorgenommen.
Wir wollen uns da an drei Zielen messen lassen: Erstenswollen wir die Versorgungsqualität für Patientinnen undPatienten verbessern. Zweitens wollen wir die Situationder Beschäftigten im Gesundheitswesen stärken. Drit-tens wollen wir sicherstellen, dass unser System bezahl-bar bleibt. Mit diesem 14. SGB-V-Änderungsgesetz stel-len wir die Weichen in diese Richtung. – Das AMNOGist ein lernendes System; da gebe ich Ihnen gerne recht.Mit dem vorliegenden Gesetz wollen wir dafür sor-gen, dass eine hohe Qualität in der Arzneimittelversor-gung gewährleistet bleibt. Auf der anderen Seite wollenwir die rapiden Kostensteigerungen bei Arzneimittelneinschränken und dafür sorgen – das sage ich als SPD-Politikerin auch sehr gerne –, dass Arbeitsplätze in mit-telständischen Unternehmen, zum Beispiel bei Generi-kaherstellern, nicht gefährdet werden.
Wir wollen die Herstellerabschläge auf die Abgabe-preise pharmazeutischer Unternehmen sowie das Preis-moratorium erhalten. Diese beiden Instrumente habensich bei der Dämpfung der steigenden Ausgaben beiArzneimitteln wirklich bewährt. Deshalb wollen wir dasPreismoratorium bis zum 31. Dezember 2017 verlängernund den allgemeinen Herstellerrabatt – auch wenn es Sienicht freut – von 6 auf 7 Prozent erhöhen. Sie wissendoch: Der Rabatt von 16 Prozent auf patentgeschützteArzneimittel wäre jetzt sowieso ausgelaufen.
Ohne die Neuregelung, die wir im Gesetz vornehmen,würden die Ausgaben für Arzneimittel im Jahr 2014 um2 Milliarden Euro steigen. Mit unseren Maßnahmen ver-hindern wir also einen überproportionalen Anstieg derAusgaben und leisten einen wichtigen Beitrag zur Finan-zierung der gesetzlichen Krankenversicherung.
Ferner haben wir mit dem Gesetz eine rechtlicheKlarstellung vorgenommen. Denn durch die Änderungder Arzneimittelpreisverordnung stellen wir sicher, dassder vereinbarte Erstattungsbetrag die Berechnungs-grundlage für die Handelszuschläge des Großhandelsund der Apotheken ist. Damit schließen wir eine gesetz-liche Lücke und stellen sicher, dass für die Zuzahlungender Patientinnen und Patienten in der Apotheke der nied-rige Rabattpreis maßgeblich ist und nicht der höhere Lis-tenpreis. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.Was die Nutzenbewertung anbelangt, sind wir alleuns vielleicht darüber einig, dass wir mehr darüber wis-sen müssen, welchen Nutzen ein Arzneimittel tatsäch-lich für Patientinnen und Patienten hat. Darauf kommeich gerne später noch einmal zu sprechen.Was uns auch sehr wichtig ist, ist der Änderungsan-trag zur Stärkung der hausarztzentrierten Versorgung,den wir in den Ausschuss eingebracht haben; das ist ei-ner der wesentlichen Punkte.
Wir sind es den Patientinnen und Patienten schuldig, dasswir unmissverständlich – auch über die Fraktionsgrenzenhinweg – die Versorgungssicherheit im Blick haben.Deshalb ist dieser Antrag einer der wesentlichen Be-standteile unseres Vorhabens. Durch ihn bestätigen wir,dass wir den hausärztlichen Nachwuchs fördern wollen.Das ist ein wichtiges Signal an die Hausärztinnen undHausärzte: Wir wollen die jungen Ärzte ermutigen, sichals Hausärzte niederzulassen. Das ist ein ganz zentraler
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Hilde Mattheis
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Punkt. Sie, Frau Vogler, und auch andere hier wissendoch: Wenn man mit den Bürgern über Gesundheitsvor-sorge spricht, dann stellt man fest, dass die Versorgungs-struktur ein wichtiges Thema ist.Lassen Sie mich auf den Bereich Generika zu spre-chen kommen. Nach der Anhörung im Ausschuss waruns klar: Wir müssen das, was wir in erster Lesung vor-gelegt haben, nachbessern.
Ein wichtiger Punkt ist: Wir dürfen nicht die Rabatte auf17 Prozent erhöhen. Wir müssen deutlich machen: DerGenerikamarkt leistet zur Wirtschaftlichkeit unseres Ge-sundheitssystems einen wichtigen Beitrag. Dass die bei-den Änderungsanträge für eine Stärkung sorgen, ist un-strittig. Das kam nicht nur in der Anhörung zumAusdruck. Auch die beiden Oppositionsparteien haben– ich meine, zu Recht – immer deutlich gemacht: Ja, dasbrauchen wir.Zur Nutzenbewertung. Ich gebe gerne zu: Wir habenerkannt, dass die Nutzenbewertung einen hohen verwal-tungstechnischen Aufwand bedeutet. Deshalb sind wirbereit, uns in einem der nächsten Gesetzgebungsverfah-ren mit diesem Thema noch einmal auseinanderzuset-zen. Es geht in diesem Zusammenhang nämlich auch umQualität und Sicherheit. Wenn wir uns über dieses Zieleinig sind, wäre es doch schön, all die wichtigen Ände-rungen in Bezug auf die Finanzierbarkeit unseres Ge-sundheitssystems heute gemeinsam auf den Weg zu brin-gen.Vielen Dank.
Danke, Frau Kollegin. – Das Wort hat KordulaSchulz-Asche für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Minister! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Im Jahre 2011 gelanges in Deutschland endlich, zumindest teilweise ein heh-res Ziel zu erreichen: Für neu zugelassene Medikamenteund bereits auf dem Markt befindliche patentierte Arz-neimittel wurde eine Nutzenbewertung eingeführt. Ichbetone: Bei der Nutzenbewertung geht es um den Nutzenfür die Patientinnen und Patienten.Das war längst überfällig. Frau Mattheis, ich möchtedaran erinnern: Die SPD hat das damals genauso gese-hen. Wir beide haben ursprünglich mehr gefordert, alsdann tatsächlich beschlossen wurde. Das war längstüberfällig; denn laut der Arzneimittelkommission derdeutschen Ärzteschaft haben viele der bei uns zugelasse-nen Arzneimittel keinen Nutzen bzw. keinen Zusatznut-zen für Patientinnen und Patienten. Umso erstaunlicherist es nun, dass eine der ersten Maßnahmen der GroßenKoalition ist, die Bewertung des Nutzens von Medika-menten im sogenannten Bestandsmarkt abzuschaffen.
Bei allem Verständnis für die Interessen der Pharma-industrie: An erster Stelle bzw. im Mittelpunkt der Ge-sundheitspolitik müssen immer die Interessen der Pa-tienten stehen.
Das ist bei CDU/CSU und SPD offensichtlich nicht derFall.
Das ist das erste Armutszeugnis Ihrer Gesundheitspo-litik. Dass wir damit hinter die europäischen Standardszurückfallen, ist ein zweites Armutszeugnis. Ein drittesArmutszeugnis für die Gesundheitspolitik der GroßenKoalition konnte gerade noch verhindert werden.Wir erinnern uns gut, dass Sie im Dezember versuchthaben, die jetzt vorliegende Gesetzesänderung imSchnellverfahren ohne Anhörung durchzuziehen.
Wäre das so geschehen, Frau Mattheis, dann hätten Siedurch die vorgesehene Einbeziehung von Generika inden Herstellerrabatt und das Preismoratorium einer gan-zen Branche der Pharmaindustrie schweren Schaden zu-gefügt. Das ist der Fall gewesen. Sie wollten diese An-hörung, die jetzt stattgefunden hat, nicht. Unter IhrenMaßnahmen hätte der Generikamarkt schwer gelitten.
Wir freuen uns, dass Sie das eingesehen haben und bereitsind, mit einer Änderung diesen schweren Fehler zu kor-rigieren.Die Regierungskoalition hat sich bei diesem Gesetz-entwurf selbst unter extremen Zeitdruck gesetzt. Daszeigt sich nicht nur bei den Generika. Das zeigt sichauch daran, dass die Anhörung, die vor einer Wochestattgefunden hat, von Ihnen offensichtlich noch nichtumfassend ausgewertet wurde.Diejenigen, die bei der bestehenden Regelung zur Be-standsmarktbewertung zu Recht rechtliche Umsetzungs-probleme benannt haben, zum Beispiel die Bundesar-beitsgemeinschaft Selbsthilfe, der VerbraucherzentraleBundesverband, das IQWiG sowie die Einzelsachver-ständigen Professor Wille und Professorin Niebuhr, ha-ben Änderungsvorschläge gemacht, die wir Grünen fürsehr sinnvoll halten und daher in unseren Entschlie-ßungsantrag aufgenommen haben.Dabei geht es uns erstens darum, eine Nutzenbewer-tung für alle patentgeschützten Medikamente mit neuemAnwendungsbereich bzw. neuer Anwendungsformdurchzuführen. Lassen Sie mich anmerken, dass seitensder Koalition gestern im Ausschuss angekündigt wurde,dass auch auf Ihrer Seite Änderungsbedarf gesehen wird.Das zeigt aber auch, dass Sie die Anhörung bisher tat-sächlich kaum ausgewertet haben.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1333
Kordula Schulz-Asche
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Dadurch, dass Sie diese Änderung nicht jetzt vorneh-men, sondern wieder verschieben, schaffen Sie neue Un-gerechtigkeiten. Auch das zeigt, wie wenig GedankenSie sich gemacht haben. Wir müssen in Ruhe entschei-den. Hier ist nicht mit Schnellschüssen zu arbeiten. Daszeigt, wie wichtig gerade bei einer Großen Koalitioneine Opposition ist. Wenn man so eine satte Mehrheithat, dann gehen einem offensichtlich manchmal diePferde durch, und es kommt zu Schnellschüssen.
Zweitens – auch das steht in unserem Entschließungsan-trag – halten wir die Nutzenbewertung des Bestandsmarktsin den Fällen des Wettbewerbsaufrufs für die Vergleichbar-keit und bei biotechnologischen Medikamenten weiter fürnotwendig.Drittens fordern wir eine gesetzliche Verpflichtungder Hersteller zur Herausgabe von Studienberichten,wenn der Gemeinsame Bundesausschuss oder dasIQWiG anfragt.Viertens – auch das gehört dazu; das ist schon er-wähnt worden – fordern wir eine verpflichtende Regis-trierung und Veröffentlichung der Ergebnisse aller Arz-neimittelstudien, auch derjenigen, die wegenmangelnder Erfolgsaussichten abgebrochen wurden.
Dadurch können wir hinsichtlich der NutzenbewertungPatientensicherheit herstellen. Denn sowohl bei der Nut-zenbewertung von Medikamenten als auch bei der Infor-mation über Forschungsergebnisse geht es im Wesentli-chen um Transparenz. Arzneimittelstudien dürfen nichtin Schubladen verschwinden, sondern müssen veröffent-licht werden, um auf einer soliden Basis Einschätzungenzum Nutzen von Wirkstoffen gewinnen und überflüssigeStudien vermeiden zu können.Eventuell wird es weitere Nachbesserungen durch dieGroße Koalition geben. In der vorliegenden Form kön-nen wir dem Gesetzentwurf leider nicht zustimmen.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Danke, Frau Kollegin. – Das Wort hat Stephan
Stracke für die CSU/CDU-Fraktion.
Guten Abend, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenKolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Ge-setzentwurf beenden wir insbesondere den Bestands-marktaufruf bei patentgeschützten Arzneimitteln undstärken die hausarztzentrierte Versorgung.Dabei setzen wir wesentliche Vereinbarungen um, diewir im Rahmen der Koalitionsvereinbarungen getroffenhaben. Wir reden zu Recht viel über die Koalition, überihre Funktionsweise und ihre Arbeitsweise. Wenn wirsagen, dass diese Koalition sich zumindest derzeit alsArbeitsverhältnis definiert, dann nutzen wir dieses Ar-beitsverhältnis, um die Chancen zu verbessern, dass fürdie Patientinnen und Patienten sachgerechte und passge-naue Lösungen gefunden werden, damit die Versor-gungssituation in Deutschland besser wird. Und genaudas tun wir. Den Grundpfeiler dafür bildet der Koali-tionsvertrag, den wir stringent umsetzen. Unser Bundes-gesundheitsminister, Herr Gröhe, verfügt über großeUmsicht und zeigt praxisgerechte Lösungen auf, die indiesem Gesetzentwurf ihren Niederschlag finden. Genauso wollen wir weitermachen. Dafür sage ich Ihnen herz-lichen Dank.
Das Preismonopol im patentgeschützten Arzneimit-telmarkt gehört der Vergangenheit an. Der Zusatznutzenvon Medikamenten steht im Mittelpunkt und bestimmtden Preis. Die frühe Nutzenbewertung, mit dem Arznei-mittelmarktneuordnungsgesetz eingeführt, ist ein wir-kungsvolles Instrument, das sich bewährt hat. Patientenwollen, dass Innovationen möglichst schnell auf denMarkt kommen. Gleichzeitig wollen Beitragszahler, dassihre Beiträge für wirkliche Innovationen ausgegebenwerden und nicht für bloße Innovationsglobuli, das heißtfür diejenigen Innovationen, die tatsächlich halten, wassie versprechen.Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen müssen einennachweisbaren Zusatznutzen gegenüber der Vergleichs-therapie aufweisen. Daran halten wir fest. Wir sagenauch: Das AMNOG – der Minister hat es deutlich ge-macht – ist ein lernendes System. Deshalb werden wirden Bestandsmarktaufruf beenden. Wir beenden ihn,weil der Aufruf mit hohen Risiken und Unsicherheitenverbunden ist. Wir sorgen nun für Planbarkeit undRechtssicherheit. Dafür gibt es gute Gründe. Die Anhö-rung hat dies noch einmal deutlich gemacht.Ein Grund ist die Studienlage. Die einschlägigen Stu-dien sind gerade bei Arzneimitteln, die schon sehr langeauf dem Markt sind, zum Teil sehr alt. Dies führt zu pro-blematischen Bewertungen, gerade auch hinsichtlich derMarktdurchdringung und der Abwägungen in diesemBereich. Es gibt auch ganz pragmatische Gründe: Wennder Aufwand sehr hoch ist und das Verfahren mit sehrhohen rechtlichen Risiken behaftet ist, macht es Sinn,den Bestandsmarktaufruf zu beenden. Gleiches gilt fürden Wettbewerbsaufruf.Jetzt können Sie sagen: Das ist uns egal, egal, wasRechtsrisiken angeht, und egal, was den Aufwand be-trifft. Hauptsache die Ökonomie stimmt in irgendeinerWeise. – Darauf muss man Ihnen, insbesondere den Kol-leginnen und Kollegen von den Linken, sagen: Der Pa-tentschutz für alle infrage kommenden Arzneimittel läuft2018 aus, sodass wir in dieser Beziehung einen unglaub-lichen Zeitdruck haben. Die Erwartungen, die geradehinsichtlich des Einsparpotenzials damit verknüpft sind,können nicht in dem Maße erfüllt werden. Das beziehtsich auch gar nicht auf die Qualität. Denn wir haben na-
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Stephan Stracke
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türlich sehr wohl Möglichkeiten, die Qualität weiterhinsicherzustellen, gerade was die Therapiehinweise, dieVerordnungsausschlüsse oder die Bildung von Festbe-tragsgruppen angeht.Ich möchte noch zu einem weiteren Aspekt ausführenund Stellung nehmen: Das betrifft die Hausarztverträge.Sie stellen ein sinnvolles und effektives Instrument zurFörderung der hausärztlichen Versorgung dar. Wir habenin Deutschland eine qualitativ hochwertige Hausarztme-dizin, und es ist unbestritten: Unsere Hausärzte sind dasRückgrat der medizinischen Versorgung. Der niederge-lassene Hausarzt gerade im ländlichen Raum ist häufigder einzige wohnortnahe ärztliche Ansprechpartner. AlsGeneralist übernimmt er oftmals auch eine Lotsenfunk-tion.Wir haben uns jetzt darauf verständigt, § 73 b SGB Vzu verändern. Damit stärken wir die hausärztliche Ver-sorgung. Wir streichen die Vergütungsbeschränkungenim Hausarztvertrag. Dies hat sich in der Praxis als gro-ßes Hemmnis für den Abschluss herausgestellt. DiesesHemmnis beseitigen wir nun. Wirtschaftlichkeit undQualität spielen weiterhin eine hervorragende Rolle. DieVertragspartner sind nun gefordert, entsprechende Ver-einbarungen zu treffen. Vor allem die Refinanzierungs-klausel hat sich in der Praxis als ein großes Problem he-rausgestellt. Jetzt gilt eine Vierjahresregel, in der dieWirtschaftlichkeit nachgewiesen werden muss. Diesschafft auch den notwendigen Spielraum. Das ist einwichtiges Signal für die ökonomische Perspektive ange-hender Hausärzte und wird die Bereitschaft jungerÄrzte, sich der hausärztlichen Tätigkeit zuzuwenden,weiter fördern.In der Gesamtschau: ein gutes Gesetz. Lasst es unsbeschließen.Herzlichen Dank.
Danke, Herr Kollege. – Das Wort hat Martina Stamm-
Fibich für die SPD.
Verehrte Frau Präsidentin! Verehrter Herr Bundes-gesundheitsminister Gröhe! Verehrte Kolleginnen undKollegen! Ich kann mich inhaltlich nur meiner Frak-tionskollegin Hilde Mattheis anschließen. Als neu in denBundestag gewählte Abgeordnete freut es mich ganzbesonders, dass ich einen Aspekt hervorheben kann. Zu-sätzlich zum Gesundheitsausschuss bin ich auch Mit-glied im Petitionsausschuss. Petitionen sind auf Bundes-ebene ein hervorragendes Instrument der Demokratie.Umso mehr möchte ich auf den Änderungsantrag zu§ 129 SGB V verweisen, der die Ersetzung eines Arznei-mittels durch ein wirkstoffgleiches neu regelt. Ein Ur-sprung dieser Neuregelung ist eine Petition der17. Wahlperiode. Im Jahr 2010 lieferte die DeutscheSchmerzliga e. V., vertreten durch Dr. Marianne Koch,den Anstoß. Die Petition fand mit 72 000 Unterzeich-nern eine breite Unterstützung und wurde demzufolgeauch öffentlich in diesem Haus beraten.Hauptanliegen der Petentin war, Betäubungsmittelaus der automatischen Austauschpflicht herauszuneh-men. Begründet wurde diese Forderung damit, dass dieUmstellung von einem Präparat auf ein anderes nicht nurin Einzelfällen, sondern bei der Mehrzahl der Patientenzu erheblichen Problemen führe. Die Umstellung sei da-her kein sinnvoller, dafür aber ein sehr teurer Prozess, daauch die entstehenden Folgekosten nicht außer Acht ge-lassen werden dürften.Dem GKV-Spitzenverband und dem Deutschen Apo-thekerverband wurde die Möglichkeit gegeben, sich übereine sachgerechte Lösung zu verständigen. Letztendlichverliefen die Verhandlungen der beiden Akteure abernicht zufriedenstellend. Die Kolleginnen und Kollegender 17. Wahlperiode mussten die Akteure wiederholtzum Handeln auffordern.Um wieder mehr Bewegung in die stockenden Ver-handlungen zu bringen, verabschiedeten die Gesundheits-politiker aller Fraktionen im Juni im Gesundheitsaus-schuss eine Entschließung, die eine Frist zur Einigungbis 1. August 2013 vorsah. Bis dahin sollten die Rah-menvertragspartner, GKV-Spitzenverband und DAV,übereinkommen. Auf nur zwei Wirkstoffe konnte mansich letztlich einigen. Vor diesem Hintergrund wird dasProblem jetzt mit diesem Änderungsantrag von uns aufeine andere institutionelle Entscheidungsebene gehoben.Die Änderung sieht konkret Folgendes vor: Der Ge-meinsame Bundesausschuss bestimmt erstmals bis30. September 2014 die Arzneimittel, bei denen die Er-setzung durch ein wirkstoffgleiches Arzneimittel ausge-schlossen ist. Dabei sollen insbesondere Arzneimittelmit geringer therapeutischer Breite berücksichtigt wer-den. Falls bis 30. September keine Liste vorliegt, bestehtdie Möglichkeit einer Ersatzvornahme durch das Bun-desministerium für Gesundheit.
Ziel ist es, den Therapieerfolg und die Sicherheit der Pa-tienten nicht durch den unnötigen und ausschließlichökonomisch begründeten Austausch von Medikamentenzu gefährden.Die Koalition handelt an dieser Stelle und erteilt ei-nen klaren Auftrag. Es freut mich außerordentlich, dassder Änderungsantrag eine breite Mehrheit im Ausschussgefunden hat. Ich möchte mich für die Unterstützungausdrücklich bedanken.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, für michsteht fest: An erster Stelle steht das Wohl des Patienten.Mit diesem Änderungsantrag gehen wir in die richtigeRichtung.Herzlichen Dank.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1335
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Das ganze Haus gratu-
liert Ihnen zu Ihrer ersten Rede.
Wir wünschen Ihnen viel Erfolg bei der Arbeit im Peti-
tionsausschuss und im Gesundheitsausschuss. Nächstes
Mal dürfen Sie Ihre Redezeit mit großer Lust ausfüllen.
Alles Gute!
Die Debatte wird mit Michael Hennrich für die CDU/
CSU-Fraktion abgeschlossen.
Frau Präsidentin! Herr Minister Gröhe, es freut mich,dass Ihr Haus nahezu in Bestbesetzung angetreten ist.Auch die beiden Staatssekretärinnen darf ich ganz herz-lich begrüßen. Das dokumentiert, wie wichtig und ernstSie diese Debatte nehmen.
Frau Vogler, als ich Ihren Redebeitrag gehört habe, istmir das Bild von der Kuh in Erinnerung gekommen, dieim Himmel gefüttert und auf Erden gemolken wird. DasMotto lautet: Die Pharmaindustrie hat’s ja; da könnenwir es locker mitnehmen. – Es gibt da aber eine gewisseWidersprüchlichkeit: Sie sagen selber, dass im Bereichder Generika Preismoratorium und erhöhter Hersteller-abschlag gravierende Folgen für die Industrie habenkönnten.
Preismoratorium und erhöhter Herstellerabschlag kön-nen für die forschende Arzneimittelindustrie aber ge-nauso gravierende Folgen haben. Deswegen war es rich-tig, dass wir den erhöhten Herstellerabschlag von16 Prozent auf 6 Prozent gesenkt haben.
– Das gehört dazu. Frau Vogler, Sie müssen eines beden-ken: Als wir den erhöhten Herstellerabschlag im Jahr2009 beschlossen haben, mussten wir davon ausgehen,dass wir im Gesundheitssystem im Jahr 2013 ein Defizitvon rund 15 Milliarden Euro haben. Heute haben wir ei-nen Überschuss von 30 Milliarden Euro.
Schauen Sie einmal in die europäische Transparenzricht-linie, wie da die Regelungen sind! Ihre Kollegin FrauBunge, die ich sehr geschätzt habe, hätte das sicherlichetwas präziser und besser dargestellt.Meine sehr verehrten Damen und Herren, über dieBeendigung des Bestandsmarktaufrufes kann man disku-tieren. Ich gebe ganz offen zu, dass mich die Äußerun-gen von Professor Ludwig von der Arzneimittelkommis-sion der deutschen Ärzteschaft schon nachdenklichgestimmt haben. Er hat gefragt: Macht das Sinn? Wirmüssen den Nutzen bewerten, auch von den Produkten,die im Bestand sind.Die Beendigung des Bestandsmarktaufrufes war abereine Abwägungssache. Wir haben auf der einen Seite inder Tat das Problem, dass wir auch für den Bestands-markt eine Bewertung wollen. Aber es war kein originä-rer Wunsch der Politik, den Bestandsmarktaufruf zubeenden. Dieser Wunsch wurde zum einen vom Gemein-samen Bundesausschuss an uns herangetragen, zum an-deren auch von den Kassen. Mich hat schon erstaunt,dass der GKV-Spitzenverband das Einsparvolumendurch den Bestandsmarktaufruf auf maximal 230 Millio-nen Euro geschätzt hat.
Das war für mich ein Signal, dass auch die Krankenkas-sen gesagt haben: Für den großen Aufwand, den wir datreiben, haben wir zu wenig Erfolg.Man muss auch sehen, mit welchen Problemen wir tat-sächlich zu kämpfen gehabt hätten. Da gibt es rechtlicheProbleme: Wie bekommt man den Bestandsmarktaufrufdiskriminierungsfrei hin? Was hat es für Folgen für denWettbewerb, wenn einzelne Produkte aufgerufen wer-den, die Unternehmen dafür Dossiers erstellen müssen,diese Produkte einen schlechten Preis bekommen, an-dere Produkte aber nicht? Das kann man nicht einfach soregeln, wie das hier einige formuliert haben, sondern dasist eine komplizierte Materie. Ferner stellen sich metho-dische Probleme: Wie sollen denn die passenden Ver-gleichsstudien aussehen? Bei der Bestandsmarktbewer-tung handelt es sich in der Regel um Produkte, die heuteden Therapiestandard darstellen. Wenn ein solches Pro-dukt bewertet werden soll, stellt sich die Frage: Soll die-ses Produkt mit sich selbst verglichen werden? Auch da-rauf gibt es keine vernünftige Antwort.Ein letzter Aspekt ist, was der Bestandsmarktaufruffür den Gemeinsamen Bundesausschuss und das IQWiGan Arbeitsbelastung bedeutet hätte.Von daher glaube ich, es war richtig, dass wir unsdazu entschlossen haben, den Bestandsmarktaufruf zubeenden, zumal – das ist für mich ganz wichtig – trotz-dem die Möglichkeit besteht, Arzneimittel zu bewertenoder sie von der Verordnung auszuschließen. Ich sage alsStichworte nur: Therapiehinweise, Leitlinien. Wir habenmit dem AMNOG eingeführt, dass der GemeinsameBundesausschuss von den Unternehmen neue klinischeStudien einfordern und einzelne Produkte von der Ver-ordnung ausschließen kann.Wenn man das alles gegeneinander abwägt, kommtman zu dem Schluss, dass wir heute die richtige Ent-scheidung getroffen haben.
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1336 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Michael Hennrich
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Ich habe jetzt noch 20 Sekunden. Ich hätte gern nocheiniges zum Erstattungsbetrag gesagt. Auch den Erstat-tungsbetrag haben wir neu geregelt; wir sorgen für mehrTransparenz. Auch das stellt für die Industrie eine Belas-tung dar.Ich hätte auch gern noch etwas zu der Substitutions-ausschlussliste gesagt, einer guten Regelung, die Siewunderbar dargestellt haben. Auch das ist ein wesentli-cher Aspekt, für den wir einen guten Ansatz gefundenhaben.Ich glaube, wenn man das alles zusammen betrachtet,sieht man, dass wir ein gelungenes Gesetz vorgelegt ha-ben. Es wäre schön, wenn die Opposition zustimmenwürde. Aber das hat sie schon beim AMNOG nicht ge-tan;
deswegen verwundert es uns nicht, wenn sie auch heutenicht zustimmt.Herzlichen Dank.
Danke, Herr Kollege. – Wir werden gleich sehen, wer
wie abstimmt.
Wir kommen damit zur Abstimmung über den von
den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrach-
ten Entwurf eines Vierzehnten Gesetzes zur Änderung
des Fünften Buches Sozialgesetzbuch. Der Ausschuss
für Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 18/606, den Gesetzentwurf der Fraktio-
nen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/201 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegen zwei
Änderungsanträge der Fraktion Die Linke vor, über die
wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksa-
che 18/621? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Damit ist der Änderungsantrag mit den Stimmen der Ko-
alition aus CDU/CSU und SPD bei Enthaltung von
Bündnis 90/Die Grünen und Zustimmung der Antrag-
steller abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck-
sache 18/622? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Änderungsantrag ist mit dem gleichen Ab-
stimmungsergebnis abgelehnt, also mit der Mehrheit von
CDU/CSU und SPD bei Enthaltung von Bündnis 90/Die
Grünen und Zustimmung der Antragsteller.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Zu-
stimmung von CDU/CSU und SPD und Ablehnung von
Bündnis 90/Die Grünen und den Linken angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Will sich jemand enthalten? –
Nicht. Der Gesetzentwurf ist damit durch die Mehrheit
von CDU/CSU und SPD angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 18/623. Wer stimmt für diesen Ent-
schließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Der Entschließungsantrag ist mit der Mehr-
heit von CDU/CSU und SPD bei Zustimmung der
Antragsteller und Enthaltung der Linken abgelehnt.
Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Restabend
– der Abend ist noch lange nicht vorbei – und übergebe
an meinen Kollegen Singhammer.
Guten Abend! Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11auf:Beratung des Antrags der AbgeordnetenChristian Kühn , Dr. Julia Verlinden,Oliver Krischer, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENHeizkosten sparen – Energiewende im Gebäu-debereich und im Quartier voranbringenDrucksache 18/575Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitIch bitte die Kolleginnen und Kollegen, die zu diesemTagesordnungspunkt einen Beitrag leisten werden, Platzzu nehmen.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem KollegenChristian Kühn, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.Christian Kühn (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):Danke, Herr Präsident. – Sehr geehrte Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der für dieEnergiewende zuständige Minister Sigmar Gabriel hat inseiner Rede vor dem Deutschen Bundestag 22 Minutenlang über die Energiewende und die Wirtschaftspolitikgesprochen, dabei aber leider nichts Substanzielles zurenergetischen Gebäudesanierung gesagt. Es ist bis heuteunklar, wer in der Großen Koalition und zwischen denHäusern bei der energetischen Gebäudesanierung denHut aufhat.
Ich finde, das geht so nicht weiter. Mit dem Kompetenz-gerangel auch zwischen den Ministerien muss endlichSchluss sein. Wir haben heute Abend diesen Antrag aufdie Tagesordnung gesetzt, damit Sie sich zur energeti-schen Gebäudesanierung verhalten.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1337
Christian Kühn
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Es geht hier nicht nur um die Energiewende oder denKlimaschutz, sondern auch um die Heizkostenbelastungder Menschen in Deutschland. Es geht im Kern um dieFrage der sozialen Gerechtigkeit. Die Heizkosten stiegendreimal so schnell wie die Löhne, beim Öl sogar achtmalso schnell. Unser Vorschlag ist: Machen Sie aus IhremBündnis für bezahlbares Wohnen, das Sie hier angekün-digt haben, ein Bündnis für klimafreundliches und be-zahlbares Wohnen!
Nehmen Sie mehr Akteure mit auf, etwa die Umweltver-bände! Nehmen Sie diejenigen mit auf, die sich mit Hei-zungsanlagen auskennen, die die Produkte verkaufen,also den Mittelstand, damit dieses Bündnis endlich auchein Bündnis für Klimaschutz und bezahlbares Wohnenwird, auch hinsichtlich der Heizkosten.Wenn Sie in diesem Bündnis nicht auch das ThemaGebäudesanierung im Kern behandeln, dann wird diesesBündnis scheitern; denn Klima- und Sozialpolitik gehenhier Hand in Hand. Wenn Sie dem Thema energetischeGebäudesanierung in dieser Großen Koalition keineAufmerksamkeit schenken, dann zeigen Sie nicht nurden Menschen mit hohen Heizkosten die kalte Schulter,sondern eben auch dem Mittelstand, der große Hoffnun-gen in Sie setzt, gerade bei der Frage des energetischenUmbaus von Gebäuden.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hateine Studie herausgebracht, die besagt, dass bereits beieiner Sanierungsrate von 2 Prozent 30 000 Arbeitsplätzein Deutschland geschaffen werden können. Ich finde,das ist ein Wort. Deswegen sollten wir uns alle gemein-sam dieser Frage widmen. Ich frage Sie aber: Wie wol-len Sie die Sanierungsrate steigern, wenn Sie keine plan-baren und verlässlichen Mittel für die energetischeGebäudesanierung zur Verfügung stellen? Rein über Be-ratung und Information wird das nicht gelingen. Hiermüssen Sie als Große Koalition deutlich mehr Substanzliefern.
Liebe CDU, tun Sie endlich etwas für den deutschenMittelstand! Liebe SPD, tun Sie etwas für die Mieterin-nen und Mieter hinsichtlich der Heizkosten!
Wenn Sie bei der energetischen Gebäudesanierung ver-sagen, dann versagen Sie bei der Wohnungspolitik insge-samt. Immer nur nach Neubau zu rufen, reicht nicht aus.Wir müssen auch bei den Bestandsgebäuden vorankom-men. Das Gebot der Stunde heißt eben nicht nur „Bauen,bauen, bauen“, sondern auch „Sanieren, sanieren, sanie-ren“.
Zum Thema Sanieren will ich Ihnen sagen: MachenSie nicht den gleichen Fehler wie ihre Vorgänger. Bisjetzt haben wir leider zu viel Polystyrol an der Wand,aber zu wenig intelligente, innovative Konzepte. Entwi-ckeln Sie schlaue, innovative Konzepte, und bringen Siediese natürlichen und ökologischen Bau- und Dämm-stoffe auf die Baustellen und in die Häuser.
Wir brauchen eine ganzheitliche Betrachtung bei derWärmeversorgung, bei der ganze Quartiere in den Blickgenommen werden. Wir brauchen eine Offensive bei denWärmenetzen und auch im Bestand.Bauministerin Hendricks spricht immer davon, dasssie die Sanierungsrate auf 2,5 Prozent erhöhen will. DieRealität ist: Zwei Drittel der Fassaden und ein Drittel derDächer sind ungedämmt; vier Fünftel aller Gas- und Öl-heizungen sind nicht auf dem neusten Stand der Technik.Das ist eine immense Leerstelle, zum einen in der Ge-sellschaft – damit müssen wir uns beschäftigen – undzum anderen in Ihrer Politik, weil Sie hier keine Sub-stanz liefern. Ich hoffe – ich sage Ihnen ganz klar: dieHoffnung stirbt zuletzt –, dass Sie bei den Haushaltsbe-ratungen deutlich nachlegen werden, dass Sie Zahlen lie-fern, dass sich die beiden Ministerien, die sich hier zu-ständig fühlen, einigen werden. Dann können wirgemeinsam hier im Bundestag etwas für Mieterinnenund Mieter und die Gebäudeeigentümer tun.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und bingespannt auf Ihre Ausführungen.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Herlind
Gundelach, CDU/CSU.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirdebattieren heute einen Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der sich wie ein Wunschkatalog kurz vorWeihnachten liest. Das ist das gute Recht der Opposi-tion; denn sie muss sich in der Regel über die Finanzie-rung keine Gedanken machen. Ob das allerdings zu einerhöheren Akzeptanz bei den Wählern führt, wage ich indiesem Punkt zu bezweifeln.Wir als Koalition von CDU/CSU und SPD tragen dieGesamtverantwortung, und das heißt für uns – für uns inder CDU/CSU ganz besonders –, dass wir nicht mehrGeld ausgeben wollen, als wir einnehmen. Sie, meineDamen und Herren von den Grünen, würden vermutlichsagen – das haben Sie vor der Wahl auch ausreichend ge-tan –: Lassen Sie uns doch einfach mehr einnehmen,dann können wir auch mehr ausgeben.
Das aber ist nicht unsere Politik. Wir wollen weder unse-ren Bürgern noch unserer Wirtschaft höhere steuerlicheBelastungen zumuten.
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1338 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Dr. Herlind Gundelach
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Nun aber zu Ihrem Antrag. Unter Ihren Forderungenfindet sich der Wunsch nach einer steuerlichen Förde-rung der energetischen Modernisierung als zusätzlicherAnreiz. Meine Damen und Herren von den Grünen, eszeugt schon von einer ganz besonderen Chuzpe, dass ge-rade Sie die steuerliche Förderung als einen der Königs-wege fordern, nachdem Sie in der vergangenen Legisla-turperiode alles dazu beigetragen haben, diese imBundesrat und im Vermittlungsausschuss durch immerneue Forderungen an die Wand fahren zu lassen.
Wir waren schon immer der Auffassung, dass diesteuerliche Förderung einer der erfolgversprechendstenWege ist. Aber wir haben uns im Koalitionsvertrag da-rauf verständigt – das hat in den Verhandlungen aucheine ganz erhebliche Rolle gespielt –, dass wir keineSteuererhöhungen wollen. Die Kehrseite davon ist aller-dings, dass wir uns auch keine Steuermindereinnahmenleisten können, wenn wir unsere politischen Vorhabennicht gefährden wollen. Ich kann Ihnen aber versichern,dass wir den Pfad der steuerlichen Förderung wieder be-treten wollen, sobald finanzielle Spielräume dies zulas-sen. Ich jedenfalls werde mich dafür einsetzen.Meine Damen und Herren, ich denke, wir alle in die-sem Hause sind uns darin einig, dass die Energieeffi-zienz neben dem Ausbau der Erneuerbaren eine tragendeSäule der Energiewende ist. Deshalb werden wir noch indiesem Sommer, wie die Vertreterin der Bundesregie-rung gestern im Ausschuss vorgetragen hat, unsere Maß-nahmen zur Umsetzung der EU-Effizienzrichtlinie vor-legen.Wir sind uns in der Koalition auch darüber einig, dasswir in unserer Politik und unseren Maßnahmen der Stei-gerung der Energieeffizienz noch mehr Gewicht beimes-sen wollen; denn wie wir alle wissen, sind die Einspar-potenziale vor allem im Gebäudebereich riesig. Daherwollen wir neben der sachgerechten Umsetzung der EU-Energieeffizienz-Richtlinie Märkte für Energieeffizienzentwickeln, 2014 einen Nationalen Aktionsplan fürEnergieeffizienz erarbeiten, die KfW-Programme verste-tigen und vor allem auch vereinfachen, eine fundierteund unabhängige Energieberatung ermöglichen undselbstverständlich auch das Erneuerbare-Energien-Wär-megesetz im Einklang mit der Energieeinsparverord-nung fortentwickeln.Dabei ist für uns wichtig, dass wir ohne ordnungs-rechtlichen Zwang und ohne Eingriff in Eigentum för-dern; denn das geht nach hinten los, wie wir alle wissen.Eine Steigerung der Sanierungsrate ist damit jedenfallsnicht verbunden.
Lassen Sie mich auf einen Punkt zu sprechen kom-men, den Sie gerade angesprochen haben und der fürmich als ehemalige Wissenschaftspolitikerin von ganzbesonderer Bedeutung ist. Wir müssen auch in der For-schungspolitik einen Schwerpunkt auf die Förderungvon Effizienztechnologien und Innovationen legen. Des-halb ist es wichtig, dass wir unsere Forschungspro-gramme aus den letzten Legislaturperioden zielgerichtetfortführen. Präferenzen für eine bestimmte Technik oderZwang hemmen Investitionen, statt sie zu fördern.Genau so haben wir in den letzten Jahren mit unserenMaßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz bereitsviel erreicht. Betrachten wir beispielsweise den Zeit-raum von 2008 bis 2011: In diesen Jahren haben wir dieEnergieeffizienz um durchschnittlich 2 Prozent pro Jahrverbessert und liegen damit nur knapp unter der Ziel-marke von 2,1 Prozent. Wir haben dafür das energeti-sche Gebäudesanierungsprogramm ausgebaut und jähr-lich 1,8 Milliarden Euro an Fördermitteln zur Verfügunggestellt. Das war so viel wie bei keiner Regierung zuvor.Dieses Programm werden wir aufstocken, verstetigenund vor allem deutlich vereinfachen. Auch darauf habenwir uns im Koalitionsvertrag verständigt.Im Rahmen dieser Förderung wurden zum Beispielauch Einzelmaßnahmen wie Heizungserneuerungen ge-fördert. In Anbetracht der Kosten für eine umfassendeSanierung eines durchschnittlichen Einfamilienhausesvon circa 60 000 bis 75 000 Euro ist dies ein ganz wich-tiger Punkt. Denn setzen wir bei der Gebäudesanierungden bisherigen Hebel von 1 : 12 an, haben wir damitEnergieeffizienzinvestitionen in Höhe von 21 MilliardenEuro angeschoben.Wir haben außerdem das Mietrecht angepasst, umdem sogenannten Vermieter-Mieter-Dilemma zu begeg-nen. So konnten wir sowohl erreichen, dass den Eigentü-mern das energieintensive Sanieren erleichtert wird, alsauch, dass die Mieter über sinkende Nebenkosten vonenergetischen Sanierungsmaßnahmen profitieren undnicht überfordert werden.
Bei einer Mieterquote von 57 Prozent in Deutschlandwar diese Mietrechtsanpassung von enormer Bedeutung.Lassen Sie mich aber noch einen weiteren Punkt IhresAntrags ansprechen. Sie fordern auch ein weiteres KfW-Programm. Wissen Sie, wie viele Programme zur Förde-rung der Erneuerbaren und der Energieeffizienz esbereits gibt? Allein in der Datenbank des Bundeswirt-schaftsministers finden Sie 180 Programme von EU,Bund und Ländern.
Laut einer kürzlich erfolgten Umfrage vom Dachver-band Deutscher Immobilienverwalter und der KfW führtdies dazu, dass eine hohe Prozentzahl der Eigentümergenau wegen dieser Fülle von Programmen und derkomplizierten Antragstellung keine Förderung in An-spruch nimmt. Deswegen wollen wir hier für mehr Ver-einfachung und mehr Übersichtlichkeit sorgen.Außerdem fordern Sie eine Absenkung der möglichenmaximalen Erhöhung des Mietzinses von 11 auf 9 Pro-zent nach einer Sanierung. Vor der Mietrechtsnovelle in
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1339
Dr. Herlind Gundelach
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der letzten Legislaturperiode hatten wir immensenSanierungsstau. Es war für Eigentümer schlichtweg un-möglich, eine energetische Sanierung wirtschaftlichdurchzuführen; denn es gab geradezu absurde Regelun-gen, welche zum Beispiel eine Mietminderung durchden Mieter von bis zu 50 Prozent zuließen, wenn imSommer während der energetischen Modernisierung dieHeizung nicht richtig funktionierte. Daher war unsereMietrechtsnovelle dringend geboten. Wir haben dieseauch sozialverträglich ausgestaltet, beispielsweise durchHärtefallregelungen, um sicherzustellen, dass sich dieMieter auch nach der Sanierung ihre Wohnung noch leis-ten können.Eine maßvolle und gerechtfertigte Mietzinsanpassungnach einer Sanierung steht dazu nicht im Widerspruch.Zahlreiche Studien belegen, dass sanierungsbedürftigeMehrfamilienhäuser durchaus warmmietenneutral sa-niert werden können; denn eine Mieterhöhung wirddurch Einsparungen bei den Nebenkosten weitestgehendausgeglichen. Das gilt im Übrigen nicht nur für Einzel-objekte, sondern auch für ganze Quartiere, wie wir inHamburg-Wilhelmsburg – Wilhelmsburg ist ein Stadtteilmit einem sehr geringen Durchschnittseinkommen –durch ein Projekt im Rahmen der Internationalen Bau-ausstellung im vergangenen Jahr unter Beweis gestellthaben.Eine erneute Absenkung der zulässigen maximalenMieterhöhung würde sich erneut als Hemmschuh erwei-sen, da viele Eigentümer schlichtweg befürchten müss-ten, wieder alleine für die Kosten einer energetischenSanierung aufkommen zu müssen. Darüber hinauszeichnen Sie ein Bild von deutschen Vermietern, dasschlichtweg falsch ist. Entgegen der häufigen Darstel-lung sind diese eben keine Spekulanten. In der Praxiswerden Mieten nach einer Sanierung durchschnittlichum circa 80 Cent pro Quadratmeter angehoben. Durcheine energetische Sanierung kann ein durchschnittlicherHaushalt bis zu 1 000 Euro Nebenkosten im Jahr einspa-ren.Eine erneute Anpassung des Mietrechts ist also nichterforderlich und wäre aus unserer Sicht auch kontrapro-duktiv.
Es gibt bei der energetischen Sanierung und bei derEnergieeffizienz keinen Königsweg. Wir müssen nebenstandardisierten Methoden individuelle und angepassteLösungen finden und zulassen. Wir müssen dabei vorallem offenbleiben für Fortschritt und Innovation. Damitunterstützen wir zugleich unsere mittelständische Wirt-schaft; denn sie ist der Innovationstreiber in unserer Ge-sellschaft.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Frau Kollegin Dr. Gundelach, das war Ihre erste Rede
im Deutschen Bundestag. Ich beglückwünsche Sie dazu,
insbesondere zum Zeitmanagement, und wünsche Ihnen
weitere erfolgreiche Reden hier im Hohen Hause.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Heidrun Bluhm,
Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieFraktion Bündnis 90/Die Grünen trifft in ihrem Antragviele richtige Feststellungen und erhebt Forderungen,die meinem Anliegen und dem meiner Fraktion inSachen Heizkostenersparnis und energetische Sanierungweitgehend entsprechen. Heizkosten sind keine reinfiskalische Frage für Familien und Haushalte im Land,sondern sind eine zutiefst soziale Frage der Daseinsvor-sorge.
Das müssen wir uns immer wieder vor Augen führen.Neben viel Zustimmung zum Antrag Ihrer Fraktion,Herr Kühn, habe ich einen Kritikpunkt und kleine Ände-rungswünsche. Die Kritik zum Anfang: Meine Kritikrichtet sich gegen den Vorschlag, die Mieterhöhung nachModernisierung von 11 auf 9 Prozent jährlich zu senken,wie Sie das in Ihrem Antrag fordern. Die damit mögli-cherweise beabsichtigte wirtschaftliche Entlastung derMieterinnen und Mieter ist von der Tendenz her sicher-lich richtig. Aber das Prinzip der Modernisierungsum-lage ist aus unserer Sicht grundfalsch. Zum einen ist dieModernisierungsumlage auf die Modernisierungskostenfixiert. Auf diese haben die Mieterinnen und Mieter vorModernisierung leider fast keinen Einfluss. Zum ande-ren bleibt der Nutzen der Modernisierungsmaßnahme,nämlich der Wertzuwachs der Immobilie, beim Immobi-lieneigentümer, nachdem die Mieterinnen und Mieterdiesen Wertzuwachs vollständig bezahlt haben, egal obsie das in neun Jahren wie bisher, in zehn Jahren, wie esdie Koalition vorhat, oder in elf Jahren, nach Ihrem An-trag, abzustottern haben.Nach unseren Vorstellungen sollte die Höhe derModernisierungsumlage nicht an den Kosten orientiertwerden, sondern am Nutzen, den die jeweilig Beteiligtenam Prozess daraus ziehen.
Mieterinnen und Mieter sollen Kosten in der Höhe tra-gen, in der sie Einsparungen bei der Heiz- und Energie-kostenrechnung am Ende des Jahres tatsächlich erzielenkönnen. Vermieterinnen und Vermieter sollen den Wert-zuwachs ihrer Immobilie tragen, und der Nutzen, den dieganze Gesellschaft durch die energetische Gebäude- undQuartiersentwicklung erlangt, soll auch gemeinschaft-lich aus öffentlicher Förderung finanziert werden,
dann aber aus Sicht der Linken mehr über Zuschüsse undweniger über Kredite, die auch wieder nur die Gesamt-rechnung belasten.
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1340 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Heidrun Bluhm
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Die Linke will auf 5 Prozent der Modernisierungs-kosten absenken, aber nur um in Stufen aus der unge-rechten Modernisierungsumlage zu einem späteren Zeit-punkt ganz auszusteigen; denn wir wissen, dass wir von11 Prozent ausgehen und nicht von jetzt auf gleich aufnull Prozent senken können.Damit bin ich bei meinen Ergänzungswünschen. Einwirklich tragfähiges Klimaschutzkonzept im Gebäude-bereich braucht ein nachhaltig tragfähiges Finanzie-rungskonzept. Die Größenordnung, die im vorliegendenAntrag angepeilt wird, nämlich 2 Milliarden EuroBundesmittel jährlich für die Gebäudesanierung bereit-zustellen und 3 Milliarden Euro jährlich in einen Ener-giesparfonds einzuspeisen, deckt sich mit dem, was auchwir für notwendig halten. Aber warum trennen Sie dieMittel in zwei Fonds? Wäre es nicht flexibler, auch fürdiejenigen, die darauf zurückgreifen wollen, wenn dazueine Position im Haushalt mit insgesamt 5 MilliardenEuro veranschlagt wäre und dann sicher für viele Jahrezur Verfügung stünde?Der zweite Wunsch, den ich hätte: Heiz- und Energie-kosten zu sparen und dabei die erneuerbaren Energienvoranzubringen, hat auch mit der kostengünstigen, flä-chendeckenden Versorgung mit solchen Energien zu tun.Neben einem bedarfsgerechten, nicht renditeorientiertenTrassenausbau gehören auch nachhaltige Konzepte zumAusbau regionaler Energieversorgung in den Werkzeug-kasten der Energiewende. Auch das zu unterstützen,muss von der Bundesregierung verlangt werden.Ansonsten – Herr Kühn, Sie ahnen es –: Wir stimmendem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu.Wir werden uns darüber in den entsprechenden Aus-schüssen noch unterhalten. Ich hoffe, dass wir am Endedarüber abstimmen und unsere Änderungswünsche ge-gebenenfalls Berücksichtigung gefunden haben werden.Danke schön.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Nina Scheer,
SPD.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Die Energiewende im Wärmebereichist eine sozial- wie auch umweltpolitisch herausragendeAufgabe. Insofern ist die mit dem Antrag von Bünd-nis 90/Die Grünen vorgenommene Thematisierung derEnergiewende im Gebäudebereich gut und zu begrüßen.Die Bedeutung der Energiewende im Wärmebereichfindet sich auch im Koalitionsvertrag wieder, dem dervorliegende Antrag in vielen Punkten inhaltlich ent-spricht.
Wenn es nun aber um die Umsetzung weiterer Schritteder Energiewende im Wärmebereich geht, eröffnet diesauch die Chancen auf ein Umdenken der Politik im Wär-mesektor. Ein Umdenken fehlt im Antrag der Grünen.Ein Umdenken ist notwendig auf der Grundlage bis-heriger Erfolge und Erfahrungen bei der Steigerung derEnergieeffizienz sowie dem Ausbau erneuerbarer Ener-gien.
Ein Umdenken ist aber auch mit Blick auf die kom-mende neue Rolle des Wärmesektors erforderlich. Wäh-rend der technologischen und akteursbezogenen Ent-wicklungen der letzten Jahre zeichnete sich ab, dass derWärmesektor als kostengünstige, effiziente und somitsinnvolle Flexibilitätsoption für den Ausbau fluktuieren-der erneuerbarer Energien im Strombereich genutzt wer-den kann.
Um diese ökonomisch sinnvollen Ansätze sowie um-weltpolitischen Chancen zu nutzen und darin enthalteneSynergien auszuschöpfen, ist bei der Konzeption einerWärmestrategie und einer Politik für eine Wärmeener-giewende mehr Systemdenken abzuverlangen.Welche Konsequenzen ergeben sich nun aus den bei-den genannten Punkten? Um die CO2-Reduktionszielevon mindestens 40 Prozent im Jahr 2020 und langfristigeine vollständige Dekarbonisierung zu erreichen, müs-sen die ökonomischen Rahmenbedingungen für die Wär-meenergiewende verbessert werden. Gemäß einer Studiedes BBSR, des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- undRaumforschung im Bundesamt für Bauwesen undRaumordnung, vom März 2013 wurde ermittelt, dass esfür die Zielerreichung 2020 erstens auf Maßnahmen imGebäudebestand ankommen wird und, zweitens, bei ei-ner Haushaltsfinanzierung jährlich 6 Milliarden Euro zurVerfügung gestellt werden müssten. Es dürfte allenVertretern des Hauses klar sein, dass dies gerade bei Ge-sprächen mit den Haushältern kein politischer Selbstläu-fer ist. Nichtsdestotrotz wird man in der Koalition offendarüber reden müssen, auf welchem Weg die offenkun-dig notwendigen Verbesserungen der ökonomischenRahmenbedingungen erreicht werden können: ob mithaushalterischen Finanzmitteln oder mit haushaltsunab-hängigen Instrumenten oder mit einem Mix aus beidem.Bei den Effizienzmaßnahmen hat man in den letztendrei Jahrzehnten viele kostengünstige Potenziale zumTeil schon gehoben. Weitere Potenziale sind zwar nochvorhanden, aber unabhängig davon, wie sehr man die Ef-fizienzmaßnahmen verstärkt und auch verhältnismäßigteurere Potenziale erschließt: Am Ende wird man so oderso den Restwärmebedarf durch erneuerbare Energien de-cken müssen.
Man wird also heute schon die Maßnahmen für erneuer-bare Energien im Wärmesektor verstärken müssen, umden aktuellen Stillstand aufzubrechen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1341
Dr. Nina Scheer
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Insofern springt es zu kurz, schlicht die Sanierungs-rate zu erhöhen. Hiermit ist für sich genommen keineAussage über sinnvolle Effizienz- oder gar Wärmeener-giewende-Maßnahmen getroffen. Die deutsche Wärme-politik ist bisher sehr stark von dem Fokus auf das ein-zelne Gebäude geprägt. Nutzt man aber die Chance, denWärmesektor als kostengünstige Flexibilitätsoption zuerschließen, muss der Fokus auf das einzelne Gebäudeverändert werden.
Stärker müssen größere kommunale Einheiten, Quartiereoder Stadtteile, bei der Wärmeversorgung in den Mittel-punkt rücken; denn die sehr enge Systemgrenze des Ge-bäudes kann zu Ineffizienzen führen.Auch wenn der Antrag von Bündnis 90/Die Grünendie Quartiere benennt, lässt er eine solche systemisch-umdenkende Betrachtung nicht erkennen. Es gilt, durchNah- und Fernwärmenetze größere Wärmequellen zu er-schließen und diese gleichzeitig zu flexibilisieren, etwamit Wärmespeichern und einer bivalenten Auslegungvon Kraft-Wärme-Kopplung. Der Kraft-Wärme-Kopp-lung sowie der großtechnischen Anwendung von Solar-thermie und Großwärmepumpen in Quartieren undStadtteilen wird damit eine größere Bedeutung zukom-men. Dänemark bietet ein gutes Beispiel dafür.Dies bedeutet aber auch, dass man sich das Planungs-recht von Bund und Ländern genau anzuschauen habenwird und den Städten und Gemeinden bei der Planungder Wärmeversorgung eine größere Rolle zugestandenwerden muss.
Gute Ansatzpunkte hierzu finden sich etwa im Erfah-rungsbericht zum Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz.Bei der verstärkten Vernetzung des Stromsektors mitdem Wärmesektor wird man sich auch die geltendenGesetze und Verordnungen anzusehen haben, um beste-hende Hemmnisse für eine verstärkte Nutzung von soge-nanntem Power-to-Heat abzubauen. An dieser Stelle seinur kurz auf die Energieeinsparverordnung und die Be-rechnung des Primärenergiefaktors hingewiesen.Zusammen mit einer verbesserten Finanzierung derWärmeenergiewende und der eventuellen Schaffungneuer Instrumente, etwa im Rahmen der noch vorzuneh-menden Umsetzung des Art. 7 der Energieeffizienz-Richtlinie, ergeben sich mit diesem neuen Fokus neueGeschäftsfelder und Geschäftsmodelle, die durch neue,vielfältige und dezentrale Akteure und Dienstleister be-reitgestellt werden können. So kann und sollte eine neueAufbruchdynamik bei der Wärmeenergiewende geschaf-fen werden.Vielen Dank.
Frau Kollegin Dr. Scheer, das war Ihre erste Rede hierim Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen sehr herz-lich dazu und wünsche Ihnen weitere erfolgreiche Rede-beiträge im Hohen Hause.
Ich schließe damit die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/575 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 bauf:a) – Zweite und dritte Beratung des von den Frak-tionen der CDU/CSU und SPD eingebrach-ten Entwurfs eines Gesetzes zur Festset-zung der Beitragssätze in der gesetzlichenRentenversicherung für das Jahr 2014
Drucksache 18/187Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
Drucksache 18/604
Drucksache 18/618b) Zweite und dritte Beratung des von den Abge-ordneten Matthias W. Birkwald, SabineZimmermann , Katja Kipping, weite-ren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKEeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sta-bilisierung der Beitragssätze in der gesetzli-
Drucksache 18/52Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Arbeit und Soziales
Drucksache 18/604Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/CSUund SPD liegt ein Entschließungsantrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen vor.Alle Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. –Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind.Damit kommen wir zur Abstimmung über den vonden Fraktionen von CDU/CSU und SPD eingebrachtenEntwurf eines Gesetzes zur Festsetzung der Beitrags-sätze in der gesetzlichen Rentenversicherung für dasJahr 2014. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales emp-fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 18/604, den Gesetzentwurf der Fraktionenvon CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/187 anzu-nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-stimmen wollen, um das Handzeichen. – Ich stelle fest,dass das die Koalitionsfraktionen und die Fraktion DieLinke sind. Wer stimmt dagegen? – Dagegen stimmt
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1342 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Vizepräsident Johannes Singhammer
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Bündnis 90/Die Grünen. Damit kann ich mir die Frage,wer sich der Stimme enthält, sparen. Der Gesetzentwurfist damit in zweiter Beratung angenommen.Wir kommen jetzt zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Niemand.Der Gesetzentwurf ist damit mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Linken gegen die Stimmen von Bünd-nis 90/Die Grünen angenommen.Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent-schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenauf Drucksache 18/611. Wer stimmt für diesen Ent-schließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Der Entschließungsantrag ist damit mit denStimmen von CDU/CSU und SPD bei Enthaltung derLinken und Zustimmung von Bündnis 90/Die Grünenabgelehnt worden.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von derFraktion Die Linke eingebrachten Entwurf eines Geset-zes zur Stabilisierung der Beitragssätze in der gesetzli-chen Rentenversicherung.Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt un-ter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 18/604, den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linkeauf Drucksache 18/52 abzulehnen. Ich bitte jetzt diejeni-gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um dasHandzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Damit ist dieser Gesetzentwurf mit den Stimmenvon CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegendie Stimmen der Linken abgelehnt. Damit entfällt nachunserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 13 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten NiemaMovassat, Heike Hänsel, Wolfgang Gehrcke,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEEU-Afrika-Gipfel – Partnerschaft an Gerech-tigkeit und Frieden ausrichtenDrucksache 18/503Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
VerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionDiese Reden sollen ebenfalls zu Protokoll gegebenwerden. – Ich sehe, dass alle damit einverstanden sind.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/503 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe auch dazuEinverständnis. Dann ist die Überweisung so beschlos-sen.Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 14 auf:Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrateingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zurÄnderung des SchulobstgesetzesDrucksache 18/295Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Ernährung und Landwirtschaft
Drucksache 18/601Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der FraktionDie Linke vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist dieKollegin Katharina Landgraf, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt siealso doch, die gute Nachricht aus Brüssel. Als Berichter-statterin für gesunde Ernährung habe ich die Botschaftder Kommission und die folgende Aktion des Bundesra-tes mit Wohlwollen aufgenommen. Die Länder sollen fürdas Schulobstprogramm mehr Geld erhalten und selberweniger dafür zahlen. Der Kofinanzierungsanteil von50 Prozent wird jetzt also auf 25 Prozent gesenkt. Dasklingt gut und verführerisch. Das trifft auch auf die ak-tuelle Ankündigung zu, dass Brüssel die Obst- undSchulmilchprogramme zusammenführen will, sodassman künftig gegebenenfalls gar nichts mehr zuzahlenmüsste.Mit den heutigen Gesetzesänderungen zum Schulobstöffnen wir für die Interessenten in Deutschland weit dieTore und Türen. Das ist erst einmal die wichtigste Vo-raussetzung dafür, den symbolisch aus Brüssel angebote-nen Apfel annehmen zu können, mehr nicht. Ich kann esmir hier getrost sparen, etwas zu den einzelnen Fristver-änderungen zu sagen. Das geht schon in Ordnung. Einenneuen Sündenfall müssen wir da nicht befürchten.Jetzt kommt es aber darauf an, etwas daraus zu ma-chen. Bei der praktischen Umsetzung sollte darauf ge-achtet werden, dass vor allem Obst und Gemüse in dieSchulen kommt, das auch in den betreffenden Regionengewachsen ist. Für eine solche Entscheidung brauchenwir keine Brüsseler und auch keine Berliner Bürokratie.Wenn sich die Europäische Union dafür einsetzt, diegesunde Ernährung der jungen Generation zu unterstüt-zen, so haben wir damit das eigentliche Ziel noch längstnicht erreicht. Die Begeisterung für die tägliche PortionObst und Gemüse wird mit einem aus EU-Mitteln finan-zierten Programm zwar durchaus positiv begleitet, ge-weckt wird sie damit aber eher nicht. Auf den Ge-schmack kommen Mädchen und Jungen im wahrstenSinne des Wortes doch wohl erst, wenn in ihren frühenJahren die entsprechenden Nerven dafür sensibilisiert
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Katharina Landgraf
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worden sind. Das wiederum kann die Politik nicht wirk-lich leisten. Das können nur die Erwachsenen, die dieSchutzbefohlenen auch in Sachen Nahrung betreuen underziehen.Unsere Kompetenz als Politiker ist da eher begrenzt.Wir können lediglich die entsprechenden Rahmenbedin-gungen organisieren. Das tatsächliche Leben mit Obstund Gemüse wird vor Ort entschieden: in den Familien,Kindertagesstätten und Schulen. Dass es da läuft, hängteinzig und allein von der Kompetenz der Akteure, derEltern und Pädagogen, ab. Der Idealfall wäre, wenn Va-ter und Mutter selbst mit dem Thema gesunde Ernährungund vor allem mit Obst aufgewachsen sind.
Die eigene Erfahrung, die man in seiner persönlichenEntwicklung, in seiner Umgebung, in seiner Familie ge-macht hat, ist die beste Wissens- und Handlungsgrund-lage. Ist das nicht gegeben, so braucht man eine entspre-chende pädagogische Begleitung. Klar ist, dass derIdealfall im Alltag eher unüblich ist. Deshalb kann ichein Obst- und Gemüseprogramm in den Kitas und Schu-len nur begrüßen. Wünschenswert ist, dass die Schulenein solches Angebot nicht als ein von oben verordnetesÜbel ansehen, das nur mehr Arbeit macht. Das Pro-gramm sollte Bestandteil des gesamten Schulbetriebsund des Unterrichtsprogramms sein. Kurzum: Es solltezum ganz normalen Alltag in den Schulen und Einrich-tungen gehören.Wie das entwickelt wird, ist Sache der Träger. Dakönnen wir von hier aus nur Appelle aussenden und al-len Akteuren vor Ort danken, die sich wirklich für einegesunde Ernährung in Kitas und Schulen engagieren.Ich persönlich wünsche mir, dass nach den heute zubeschließenden Veränderungen des Gesetzes möglichstalle Bundesländer das Angebot annehmen und sie nichtständig den bürokratischen Aufwand solcher Programmedagegen aufwiegen. Mein Dank gilt letztlich dem Bun-desrat wie auch dem Freistaat Bayern dafür, dass sie dieGesetzesinitiative auf den Weg gebracht haben. Dankesage ich auch den Landfrauen für ihr Engagement. DenDamen und Herren aus der Opposition danke ich im Vo-raus dafür, dass sie mitziehen; denn es gibt sie wirklich:gute Nachrichten aus Brüssel.Vielen Dank.
Als Nächstes spricht die Kollegin Karin Binder, Die
Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Gäste! 918 582 Kinder haben laut der Pressemit-teilung vom Bundesministerium für Ernährung undLandwirtschaft im Schuljahr 2012/2013 an dem EU-Schulobstprogramm teilgenommen. Das ist eine tolleZahl; aber es ist leider nur ein Bruchteil der Kinder, diein Deutschland in die Kindergärten und Schulen gehen.Es sind über 11 Millionen Kinder; das heißt, über 10Millionen Kinder kamen leider nicht in den Genuss die-ses Programms.Dabei wissen wir alle: Obst und Gemüse sind uner-lässlich für eine ausgewogene und gesunde Ernährung.Wer schon als Kind Obst und Gemüse gegessen hat,wird diese schöne Gewohnheit sicherlich nicht soschnell aufgeben und ein Leben lang davon profitieren.Übergewicht und ernährungsbedingten Erkrankungenwie Herz-Kreislauf-Erkrankungen wird hier gut vorge-beugt. Die Linke unterstützt deshalb dieses Schulobst-programm der EU, und wir unterstützen auch den vorlie-genden Gesetzentwurf, wonach der Finanzierungsanteilentsprechend steigen soll.Allerdings wünschen wir uns deutlich mehr Engage-ment vom Bund.
Mit unserem Entschließungsantrag fordern wir deshalbdie Bundesregierung auf, sich um die Kofinanzierung zubemühen. Der Anteil würde vorerst wahrscheinlich nurungefähr 5 Millionen Euro betragen, aber wir würdenweit mehr Kinder erreichen als bisher. Für die Kofinan-zierung gibt es mehrere gute Gründe:Erstens hat der Bund eine Fürsorgepflicht gegenüberallen Kindern und Jugendlichen in diesem Land
und trägt auch die Verantwortung für die Gesundheits-vorsorge.Zweitens ist dieses Schulobstprogramm Teil einesAbsatzförderungsprogramms für die Landwirtschaft.Das ist wunderbar; auch wir begrüßen das. Wir sind sehrdafür, dass regionale Landwirtschaft und Gartenbaube-triebe unterstützt werden.
Diese Absatzförderung ist aber aus meiner Sicht eineAufgabe des Bundes.Drittens nehmen bisher leider nur sieben Bundeslän-der an diesem Programm teil. Grund dafür ist, dass vieleBundesländer schlichtweg die Mittel nicht mehr haben,um sich an der Finanzierung zu beteiligen.Ein weiterer Grund liegt in der Bürokratie. Im Mo-ment kann nicht die Rede davon sein, dass bundesweitgleichwertige Verhältnisse bestehen. Eine Aufgabe desBundes ist doch die Angleichung der Lebensverhältnissezwischen Nord und Süd, Ost und West. Wir von den Lin-ken fordern den Bund auf, sicherzustellen, dass alle Kin-der und Jugendlichen an diesem Programm teilnehmenkönnen. Deshalb brauchen wir die Kofinanzierung desProgrammes durch den Bund und nicht über die Länderalleine; denn allen Schulen muss die Möglichkeit eröff-net werden, daran teilzunehmen.Wichtig ist auch, die bürokratische Hürde herunterzu-setzen.
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Karin Binder
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Ich höre den Amtsschimmel ganz laut wiehern ange-sichts dessen, dass Lehrerinnen und Lehrer nach Vorga-ben der EU-Bürokratie nicht mitessen und um Himmels-willen nicht in den Obstkorb greifen dürfen. DasGegenteil muss doch der Fall sein: Die Lehrer sollen alsVorbilder fungieren; sie sollen den Kindern zeigen, dassObst und Gemüse toll schmecken, und sie ermuntern, hi-neinzubeißen. Einen solchen bürokratischen Unsinnkann ich überhaupt nicht verstehen. Deshalb fordere ichdie Bundesregierung auf, diesem ein Ende zu setzen undihr ganzes Gewicht in die Waagschale zu werfen, damitdas auf europäischer Ebene geändert wird.
Abschließend ein weiterer Punkt. Wir müssen errei-chen, dass in den Schulen Trinkwasserbrunnen aufge-stellt werden, damit sich die Kinder nicht auf dem Klodas Glas Wasser füllen müssen. Das machen Kids oderTeenager bestimmt nicht gerne. Die Möglichkeit, Trink-wasser aus Trinkwasserbrunnen zu nehmen, führt dazu,dass Kinder keine süße Limonade oder gesüßte Säfte zusich nehmen; denn auch das hat – das wissen wir alle –einen erheblichen Anteil an der Entstehung von Überge-wicht. Trinkwasser kostenfrei und flächendeckend inden Schulen zur Verfügung zu stellen, ist eine wichtigeForderung. Davon hätte der Bund ganz viel Gewinn,nämlich gesunde Kinder und gesunde Erwachsene mitweniger Übergewicht.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Jeannine Pflugradt,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Mit der Verabschiedung des deut-schen Schulobstgesetzes Ende September 2009 fandDeutschland eine Antwort auf das von der EuropäischenUnion eingeführte Schulobstprogramm. Das Schulobst-gesetz ist die Voraussetzung dafür, dass sich deutscheSchulen an dem von der EU mitfinanzierten Programmbeteiligen können. In Deutschland sind, wie schon er-wähnt, die Bundesländer für die Umsetzung des Pro-gramms zuständig. Momentan beteiligen sich siebenBundesländer – Baden-Württemberg, Bayern, Nord-rhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen-Anhalt und Thüringen – am EU-Schulobstprogramm.Ab dem Schuljahr 2014/2015 wird voraussichtlich Nie-dersachsen in das Programm mit einsteigen.Heute sprechen wir über das Schulobstgesetz, weildie EU ab 2014 die Mittel für das Schulobstprogrammfür alle Mitgliedstaaten auf 150 Millionen Euro erhöht.Das sind 60 Millionen Euro mehr als im vorigen Jahr;das ist eine ganze Menge. Für Deutschland werden fürdas nächste Schuljahr voraussichtlich 19,7 MillionenEuro zur Verfügung stehen. Die EU übernimmt 75 Pro-zent der Kofinanzierung statt bisher 50 Prozent. Der Ei-genanteil der Länder sinkt somit auf – in Anführungszei-chen – „nur noch“ 25 Prozent.Damit die Mitgliedstaaten von den Änderungen aufEU-Ebene profitieren können, wurde die Frist für dieEinreichung der Strategien von Ende Januar 2014 aufEnde April 2014 verschoben. Der vorliegende Gesetz-entwurf des Bundesrates nimmt diese Neuerungen aufund passt sie an das deutsche Recht an. Bis zum 3. Aprildieses Jahres haben die Bundesländer nun noch Zeit, ihrInteresse beim Bundesministerium zu bekunden. BisEnde April muss der Bund schließlich seine regionaleStrategie bei der EU-Kommission eingereicht haben.Ohne die vorgeschlagenen Veränderungen könnten dieteilnehmenden Bundesländer die erwartete Erhöhungdes Kofinanzierungsanteils nicht in Anspruch nehmen.Zusätzlich enthält der vorliegende Entwurf eine Ver-ordnungsermächtigung für das zuständige Bundesminis-terium für Ernährung und Landwirtschaft, das in Zu-kunft durch Rechtsverordnung auf solche Mittel- undFriständerungen der EU zeitnah reagieren soll. Die zurVerfügung gestellten Mittel sollen für den Ankauf vonObst und Gemüse und dessen Verteilung an Schulen,Kindergärten und anderen Vorschuleinrichtungen sowie– ganz wichtig – für begleitende Informationsmaßnah-men verwendet werden.Ziel ist eine dauerhafte Erhöhung des Konsums vonObst und Gemüse bei Kindern, um einen Beitrag zur ge-sunden Ernährung zu leisten. Momentan haben 1,9 Mil-lionen Kinder in Deutschland Übergewicht. Meine Da-men und Herren, das ist eine besorgniserregende und,wie ich finde, eine erschreckende Zahl.
Neben dem Angebot einer gesunden Ernährung müs-sen deshalb auch die Ernährungsbildung verbessert undvor allem das Bewegungsangebot optimiert werden;denn das Wissen um eine ausgewogene Ernährung alleinreicht nicht aus, um das tatsächliche Ernährungsverhal-ten zu verändern. Beispielsweise sollten die Kinder ler-nen, woher die Nahrung kommt, die gerade verzehrtwird, wie gesunde und ausgeglichene Ernährung funk-tioniert oder wie mit Lebensmitteln umgegangen werdensoll.90 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer, der Schullei-terinnen und Schulleiter der in Deutschland beteiligtenSchulen sagen übereinstimmend, dass ein Schulobstpro-gramm ohne große Probleme in den Schulalltag integ-riert werden kann. Wichtig ist jedoch ein kostenfreiesAngebot für die Kinder, damit niemand aus sozialenGründen ausgeschlossen wird.
Ein gemeinschaftlicher Verzehr beeinflusst maßgeb-lich sowohl das Zusammengehörigkeitsgefühl als auchdie Denkweise über die Ernährung. Ich persönlich haltegesunde Essgewohnheiten von klein auf für enorm wich-tig und auch für eine Grundlage für einen gesunden Le-bensstil. Obst und Gemüse sind dabei unentbehrlich für
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Jeannine Pflugradt
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eine vollwertige und ausgeglichene Ernährung. DieseLebensmittel enthalten neben Vitaminen, Mineralstof-fen, Ballaststoffen sowie Kohlenhydraten auch einen ho-hen Wasseranteil. Ein hoher Verzehr von Obst und Ge-müse hat eine positive Wirkung bei der Vorbeugung vonzahlreichen Erkrankungen.Schulobstprogramme können und sollen einen direk-ten Einfluss auf die Ernährungsgewohnheiten der Schü-ler nehmen. Sie sollen helfen, Kindern Obst und Gemüseschmackhaft zu machen. Gerade in der heutigen Zeit istdie Schule auch ein Lernort für gesellschaftliche Aufga-ben geworden. Schulen müssen mehr Verantwortungübernehmen, da viele Eltern sich leider aus dieser Ver-antwortung aus den verschiedensten Gründen zurückzie-hen. Wertevorstellungen werden nicht nur von den El-tern weitergegeben, sondern auch von Lehrern undMitschülern. Wenn in einer Familie nicht regelmäßigObst und Gemüse auf dem Tisch stehen, kann der Ver-zehr als geplante Routine während der Schulzeit neueEssgewohnheiten schaffen.Durch die Einführung von Schulobstprogrammenübernimmt der Staat eine wichtige Mitverantwortung füreine gesunde Ernährung von Schulkindern. Deshalb seheich auch den Vorschlag der EU-Kommission zur Zusam-menlegung der beiden EU-Programme „Schulobst“ und„Schulmilch“ sehr positiv. Wie Sie bereits wissen, habendie ersten Beratungen im Europäischen Rat stattgefun-den. Es wird vorgeschlagen, einen gemeinsamen rechtli-chen und finanziellen Rahmen für die Verteilung vonObst und Gemüse sowie Milch an Schulkinder zu gene-rieren und durch verstärkte pädagogische Maßnahmenzu unterstützen. Die bereitgestellten Mittel sind sicher-lich nicht ausreichend, um das Gesamtproblem vonÜbergewicht und Fettleibigkeit in den Griff zu bekom-men. Programme wie die Verteilung von Obst, Gemüseund Milch an Schulen sind da sicherlich nur ein Anstoß.Aber dieser ist meiner Meinung nach sehr wichtig.
Ich appelliere hier an dieser Stelle an alle Bundeslän-der, sich an diesem für unsere Kinder und Jugendlichensehr wichtigen Programm zu beteiligen. Und an Sie,liebe Kolleginnen und Kollegen, appelliere ich, sich inIhrem jeweiligen Bundesland und Wahlkreis über dieses– gute – Programm weiter intensiv zu informieren.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir müssenheute dieses Geld in unsere Kinder investieren; denn da-durch minimieren wir unkalkulierbare hohe Kosten auf-grund gesundheitlicher Probleme unserer Mitmenschen,die unsere Gesellschaft auf Dauer belasten können. Nurgesunde Kinder sind leistungsfähig, und die Wahrschein-lichkeit, ein dauerhafter Leistungsempfänger zu werden,sinkt durch eine gesunde Ernährung.Einen persönlichen Wunsch habe ich anschließend:Lassen Sie uns gemeinsam nach Wegen suchen, diesesProgramm zu erweitern, und beziehen wir die vielenSportvereine ein. In diesen Sportvereinen betätigen sichdie Kinder in ihrer Freizeit oder im Rahmen von Ganz-tagsschulen. Auch das fördert ihre Gesundheit.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Frau Kollegin Pflugradt, das war Ihre erste Rede hierim Deutschen Bundestag. Meinen Glückwunsch dazu!Ich wünsche Ihnen, dass Sie hier zahlreiche weitere Re-den halten können.
Nächster Redner ist der Kollege Friedrich Ostendorff,Bündnis 90/Die Grünen.
– Die Glückwünsche werden noch abgewickelt und mi-nimieren nicht die Redezeit. –
Ich würde vorschlagen, dass wir jetzt doch starten, HerrKollege Ostendorff.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die beab-sichtigten Änderungen im Schulobstgesetz finden dieUnterstützung unserer Fraktion.
Es ist gut, dass die von den Ländern für die Kofinanzie-rung aufzubringenden Mittel durch die Aufstockung derEU-Mittel zukünftig stark absinken werden.Die Schulen sind wichtige Multiplikatoren. UnsereKinder sind die Verbraucher von morgen. Hier müssenGesundheitserziehung und Ernährungsbildung ansetzen.Hier müssen die Leitbilder nachhaltigen und regionalenWirtschaftens vermittelt werden.Meine Damen und Herren, wir Grünen wollen keinekrankmachenden, verdorbenen Erdbeeren aus China vonSodexo für 8 Cent pro Kilo, wo doch bei uns Pflaumen,Äpfel, Birnen, Kirschen und die ganze Vielfalt an Früch-ten an den Bäumen hängt, das Gemüse auf den Feldernwächst oder in unseren Lagern liegt. Wir Grüne wollenlokal produzierte Lebensmittel. Wir wollen eine regio-nale handwerkliche Verarbeitung und eine gesunde Ess-kultur.
Wir wollen aber auch die Folgen einer globalisiertenNahrungsproduktion problematisieren. All das lässt sichdurch intelligent gestaltete Schulernährungsprogrammeerreichen.Es geht darum, dass sich die Kinder die Bauernhöfemit den Obstbäumen und Gemüsefeldern anschauenkönnen und sehen, wie ihre Nahrungsmittel produziertwerden. Es geht darum, den Bezug zu den Lebensmittelnund ein Gefühl ihrer Wertschätzung zu erreichen. Das
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Friedrich Ostendorff
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kann kein Lehrbuch vermitteln, sondern nur das eigeneErfahren, Entdecken und Erschmecken. Es geht alsonicht um Abfüttern, sondern um Gesundheits- und Er-nährungserziehung. Ich sage nur: Der Spruch „An applea day keeps the doctor away“ gilt hier immer noch.
In Deutschland beteiligen sich leider erst sieben, zu-künftig acht Bundesländer an diesem hervorragendenProgramm. Wer hätte denn gedacht, dass sich auf euro-päischer Ebene Italien am stärksten engagiert? Ich habedie Umsetzung dieses Programms, mit dem Regionalitätund Qualität sehr gut umgesetzt werden, in Nordrhein-Westfalen, dem Vorreiterland bei der Schulobsternäh-rung, von Anfang an begleitet.Zentral für ein erfolgreiches Schulobst- und -gemüse-programm ist die Auswahl der Anlieferer; das ist diezentrale Frage. Die Auswahl erfolgt nicht über eine Aus-schreibung, die nur den billigsten Anbieter fördert undam Ende zu besagten chinesischen Erdbeeren oder zu ei-nem Lieferanten führt, der am Großmarkt zum Schlussden Ramsch abräumt. Die Anbieter aus der Region – siemüssen die Lieferanten sein. Das sind oft Bauern undBäuerinnen, die direkt vertreiben, oder auch lokaleHändler. Sie werden von den Schulen in NRW vorge-schlagen, beruhend auf guter Erfahrung und Zusammen-arbeit. Die Zulassung erfolgt zentral auf Landesebene.Die Vergütung erfolgt in NRW nach einem Festpreismo-dell.Wichtig ist auch die Einbindung von Eltern, Lehrkräf-ten und ehrenamtlichem Engagement in das Programm.Dies ist notwendig, weil das Obst und Gemüse – wennes geht, in Bioqualität – ordentlich gewaschen und ge-schnitten präsentiert werden muss. Leider essen die we-nigsten Kinder einen ganzen Apfel. Mein Dank geht hierausdrücklich – es wurde eben schon erwähnt, aber auchich will es sagen – an die Landfrauen, die oftmals diepraktische Umsetzung dieses Programms mit ermöglichthaben.
Meine Damen und Herren, das ist der Weg, den wirweitergehen müssen, um zu verhindern, dass unsereSchulen in Zukunft von den gerade vorgestellten neuenPaketen von Amazon Fresh beliefert werden.Bei der Schulverpflegung mit den unmoralisch niedri-gen Tagessätzen pro Kind sind wir leider längst nochnicht bei ausgewogenen, qualitativ hochwertigen Mahl-zeiten angelangt. Viele Kinder sind heutzutage leidervon morgens bis abends aus dem Haus und daher oft inder Auswahl ihrer Ernährung auf sich allein gestellt undder irreführenden Werbung der Ernährungsindustrie aus-geliefert. Deshalb müssen wir uns in der Politik viel stär-ker um das Thema ausgewogene Ernährung kümmern.Für uns alle gilt: Hier gilt es, anzusetzen, um Bewusst-sein für gesunde Ernährung auszubilden und regionaleVersorgung flächendeckend umzusetzen. Das heißt füruns: grüne Ernährungswende.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kolle-
gen Alois Rainer, CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Vielleicht wird es Sie überraschen, dass ge-rade ich als Metzgermeister
in meiner ersten Rede zum Thema Schulobst sprechendarf. Aber unbestritten ist, dass eine gesunde und vor al-lem ausgewogene Ernährung ein wichtiger Beitrag zumehr Lebensqualität ist. Obst und Gemüse sind unent-behrlich für eine vollwertige Ernährung. Vitamine undMineralstoffe sind besonders für Kinder und deren Ent-wicklung wichtig.Leider müssen wir in der heutigen Zeit oft feststellen,dass viele Kinder und Jugendliche wenig bis gar keinObst oder Gemüse essen.
In vielen Familien ist es nicht selbstverständlich, dassfrisches Obst und Gemüse regelmäßig auf den Tischkommen. Umso wichtiger ist es, dass die Kinder dort,wo sie sich lange aufhalten, nämlich in der Schule, Obstund Gemüse zu sich nehmen können.
Denn regelmäßige Obst- und Gemüsemahlzeiten in derSchule beeinflussen das Ernährungsverhalten der Kinderlangfristig positiv. Eine gesunde Esskultur beginnt vonklein auf. Wir alle kennen doch den Ausspruch: WasHänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit derheute vorgesehenen Änderung des Schulobstgesetzesstellen wir langfristig die Weichen für eine bessere Ver-teilung der Gemeinschaftsbeihilfe unter den Ländern.Das Schulobstgesetz regelt das Verfahren zur Durchfüh-rung des EU-Schulobstprogramms. Insbesondere regeltes die Fristen für die jährlich einzureichenden Strategiender Länder und die Verteilung der Gemeinschaftsbei-hilfe.Das bisherige Gesamtbudget der EU für dasSchulobstprogramm wird von 90 Millionen Euro auf150 Millionen Euro jährlich erhöht. Damit wird der Ko-finanzierungsanteil für die Mitgliedstaaten von 50 Pro-zent auf 25 Prozent gesenkt. Ich hoffe, dass sich dasdann das eine oder andere Land auch leisten kann, liebeFrau Kollegin.
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Alois Rainer
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Aufgrund dieser Änderung hat die Europäische Kom-mission die Frist für die Einreichung der Strategien fürdas aktuelle Schuljahr vom 31. Januar auf den 30. April2014 verschoben. Damit es den Ländern bereits im kom-menden Jahr möglich ist, von dieser Verbesserung zuprofitieren, hat der Bundesrat am 19. Dezember 2013 be-schlossen, einen Gesetzentwurf einzubringen, durch deninsbesondere die Fristen angepasst werden.Die Mittelaufstockung der EU und die Reduzierungdes Kofinanzierungsanteils für die Mitgliedstaaten von50 Prozent auf 25 Prozent machen das Schulobstpro-gramm noch viel attraktiver. Das müsste eigentlich füralle Länder Grund genug sein, das Programm durchzu-führen.
Bayern hat hier von Anfang an die Initiative dazu ergrif-fen. Als immer noch amtierender Bürgermeister kannich bestätigen, dass wir das Programm an unseren Schu-len schon durchgeführt haben.
Ich freue mich, dass sich die Länder Baden-Württem-berg, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, das Saar-land, Sachsen und Sachsen-Anhalt dem angeschlossenhaben und weitere Länder mit Sicherheit folgen werden.Ich würde mich riesig freuen, wenn sich dem Programmalle Länder anschließen;
denn, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir allewollen, dass unsere Kinder frühzeitig an gesundes Essenherangeführt werden und sich die Ernährungsgewohn-heiten damit langfristig ändern.
Dies ist und muss uns sowohl auf nationaler wie auf eu-ropäischer Ebene ein wichtiges Anliegen sein.Ich möchte mich abschließend bei allen bedanken, diesich schon jetzt für dieses Programm einsetzen, bei denLandfrauen – sie sind schon genannt worden –, denObst- und Gartenbauvereinen und den vielen freiwilli-gen Helfern. Wir sind bereits auf einem guten Weg. Las-sen Sie uns darum die erforderliche Gesetzesänderungbeschließen.Vielen Dank.
Herr Kollege Rainer, Sie haben es erwähnt: Sie habenals Metzgermeister Ihre erste Rede zum Schulobstgesetzgehalten. Ich beglückwünsche Sie dazu und wünsche Ih-nen weitere erfolgreiche Reden im Hohen Hause.
Die Glückwünsche werden noch entgegengenommen.Ich darf aber schon mitteilen, dass damit die Aussprachezu diesem Tagesordnungspunkt geschlossen ist.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den vomBundesrat eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderungdes Schulobstgesetzes. Der Ausschuss für Ernährungund Landwirtschaft empfiehlt in seiner Beschlussemp-fehlung auf Drucksache 18/601, den Gesetzentwurf desBundesrates auf Drucksache 18/295 in der Ausschuss-fassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-setzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen,um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Bera-tung von allen Fraktionen des Hohen Hauses angenom-men.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte jetzt diejenigen, diedem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit istdieser Gesetzentwurf mit Zustimmung aller Fraktionenangenommen.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent-schließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksa-che 18/612. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-trag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damitist dieser Entschließungsantrag mit den Stimmen vonCDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Linken beiEnthaltung von Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 15, den letztenin unserer heutigen Tagesordnung, auf:Beratung des Antrags der AbgeordnetenAgnieszka Brugger, Katja Keul, OmidNouripour, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKeine Rüstungsexporte nach Saudi-ArabienDrucksache 18/576Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Auswärtiger Ausschuss
VerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungFederführung strittigNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-nerin der Kollegin Agnieszka Brugger, Bündnis 90/DieGrünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 8. Juli2011 forderte Sigmar Gabriel hier im Plenum in Bezugauf die Panzerlieferungen nach Saudi-Arabien die Vor-gängerregierung dazu auf – ich zitiere –, „die Genehmi-gung zur Ausfuhr entweder zurückzuziehen oder, wennsie noch nicht endgültig gefallen ist, nicht zu erteilen“.
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1348 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Agnieszka Brugger
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Noch im Februar 2013 griff Herr Oppermann Schwarz-Gelb massiv an, weil es Saudi-Arabien – auch hier wie-der ein Zitat – „total hochrüsten“ wolle und „aus den öf-fentlichen Protesten gegen Waffenlieferungen in diesesLand nichts gelernt“ habe. Ich würde sagen: Damit ha-ben die beiden völlig recht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, lassenSie diesen schönen Ankündigungen jetzt, wo Sie Teil derRegierung sind, konkrete Taten folgen. Heben Sie denVorbescheid für den Export von Patrouillenbooten undinsbesondere auch den für die Panzerlieferung an dasKönigreich Saudi-Arabien auf.
Ich könnte noch viel mehr Zitate der SPD anführen, diebelegen: Eigentlich sind Sie – soll ich besser sagen: wa-ren Sie? – gegen Rüstungsexporte
in Länder, wo Menschenrechte mit Füßen getreten wer-den.Nun versuchen Sie, sich hinter Schwarz-Gelb zu ver-stecken, und verweisen auf die in der Vergangenheit ge-troffenen Beschlüsse. Aber das lassen wir Ihnen nichtdurchgehen. Denn jenseits schöner Ankündigungen inInterviews besteht Ihre erste wahrnehmbare Handlung inRegierungsverantwortung bei den Rüstungsexporten da-rin, dass Sigmar Gabriel federführend und aktiv Hermes-bürgschaften für die Lieferung von Patrouillenbootennach Saudi-Arabien auf den Weg bringt.
Statt dieses von Ihnen kritisierte Geschäft zu stoppen,geben Sie nun also auch noch ganz bewusst die Zustim-mung, diesen Deal mit deutschen Steuergeldern durchHermesbürgschaften abzusichern. Liebe Genossinnenund Genossen, Sie verhalten sich wie ein Fähnchen imWind.
Meine Damen und Herren von Union und SPD, hörenSie endlich auf, Rüstungsexportpolitik als Wirtschafts-politik zu betreiben! Denn das ist ein ziemlich kurzsich-tiger und riskanter Kurs.Zu den Hauptabnehmern deutscher Waffen gehörenneuerdings vor allem die zahlungskräftigen Staaten derArabischen Halbinsel. Die Kanzlerin bezeichnet dieseLänder als strategische Partner, die wir mit deutschenWaffen ertüchtigen müssen. Doch damit rüstet Deutsch-land eine sicherheitspolitisch höchst instabile Regionhoch und heizt die Rüstungsspirale an. Neben dem Ri-siko, dass diese Waffen für innere Repression eingesetztwerden, wissen wir doch alle auch, dass islamistischeKämpfer von diesen Regimen auf der Arabischen Halb-insel finanziert und ausgerüstet werden, wie zum Bei-spiel in Syrien und Mali. Sie sehen, meine Damen undHerren: Diese sicherheitspolitische Kurzsichtigkeit vonKanzlerin Merkel ist aus vielen Gründen höchst gefähr-lich.
Auch die Forderung nach mehr Transparenz und par-lamentarischer Beteiligung bei der Kontrolle von Rüs-tungsexporten müsste den Kolleginnen und Kollegen ausder SPD-Fraktion ebenso wie die Äußerungen zu denRüstungsexporten nach Saudi-Arabien doch sehr be-kannt vorkommen. Denn bis vor ein paar Monaten wa-ren dies noch Ihre eigenen Vorschläge. Aber auch hiersind Sie sehr schnell eingeknickt und haben der Unionnachgegeben. Nun wird es aufgrund Ihrer Untätigkeitkein gesondertes Gremium im Bundestag geben, dasüber Rüstungsexporte unterrichtet wird und die Regie-rung an dieser Stelle kontrollieren kann.
Gerade solche sensiblen und kritischen Entscheidungenwie die Genehmigung von Waffengeschäften muss eineRegierung doch begründen.
Sie kann sich dabei nicht hinter den verriegelten Türendes Bundessicherheitsrates verstecken. Es muss endlichSchluss sein mit dieser Geheimniskrämerei. Ich finde,das ist ein unwürdiger Zustand in einer Demokratie,auch im Hinblick auf uns Abgeordnete.
Liebe Kolleginnen und Kollegen in der Koalition,halten Sie sich an Ihre eigenen Rüstungsexportrichtli-nien, halten Sie sich an Ihre Versprechen und Ihre mora-lischen Ansprüche! Seien Sie kein Fähnchen im Wind,sondern eine verlässliche Beschützerin der Menschen-rechte, egal ob Sie regieren oder ob Sie opponieren!Vielen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kolle-
gen Klaus-Peter Willsch, CDU/CSU.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Es ist schön, dass wirnach dem Schulobst noch zu den Patrouillenbooten vorSaudi-Arabien kommen. Frau Brugger, ich will einfacheinmal erklären, um was es eigentlich geht. Es geht umeinen Auftrag, den der Innenminister von Saudi-Arabiendeutschen Schiffsbauern erteilen möchte. Saudi-Arabienmöchte seine Grenzschutzflotte modernisieren und ausdiesem Grund 146 Boote verschiedenen Typs bei uns
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1349
Klaus-Peter Willsch
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kaufen: 2 Führungsboote, 33 Patrouillenboote, 79 schnelleEinsatzboote und 32 Arbeitsboote. Dafür gibt es inSaudi-Arabien natürlich auch einen konkreten Bedarf.Die Boote sollen im Roten Meer und im Persischen Golfeingesetzt werden: zur Überwachung von Küstenlinien,zur Kontrolle und zum Schutz der Hoheitsgewässer undder internationalen Seewege, zum Schutz von Hafenan-lagen und zur Unterbindung von Piraterie, Sabotage undTerrorismus.Saudi-Arabien will auch seine Tanker und Ölplattfor-men bzw. die seiner Kunden vor Piraten und Terroristenam Horn von Afrika und im Persischen Golf schützenund seine Grenzregionen gegen Terror jeglicher Art si-cherer machen. Ich halte es für völlig legitim, dassSaudi-Arabien das tut. Ich freue mich darüber, wennSaudi-Arabien dafür deutsche Technologie einsetzenwill.
Wir müssen uns einmal vor Augen führen, in welcherRegion Saudi-Arabien liegt;
diese Region ist ja nun alles andere als eine Insel derGlückseligen: Hier liegen Afghanistan, Iran, Irak, Ägyp-ten, Sudan, Somalia, und es gibt Stützpunkte des interna-tionalen Terrorismus, zum Beispiel von Terrorgruppenwie al-Qaida. Aber diese Region ist auch – das wissenwir; deshalb sind auch wir selbst dort tätig – für denWelthandel von herausragender Bedeutung. Die viel-befahrenen Handelsrouten, auf denen die Tanker das Ölnach Europa und in die USA bringen, liegen in diesemRaum und brauchen Schutz. Die Straße von Hormus vorder Küste Irans und der Suezkanal zwischen dem RotenMeer und dem Mittelmeer sind Achillesfersen des Öl-transports. Durch die relativ schmalen Wasserstraßenschleusen die Tanker einen Großteil des weltweit ver-brauchten Öls, viele Millionen Barrel täglich. Wenn ei-ner der angrenzenden Staaten oder Terrororganisationendiese Wege blockieren, gehen bei uns die Lichter aus.Deshalb ist es wichtig, dass dort Ordnung gehalten wird.
Wir sollten uns über jeden, der daran mitwirkt, freuen.
Dass die Piraterie in diesem Bereich ein großes Pro-blem darstellt, sollte Ihnen nicht entgangen, sondernaufgrund der allgemeinen Nachrichten und unserer Mit-wirkung an den entsprechenden Mandaten durchaus ge-läufig sein. Saudi-Arabien hat in den zurückliegendenJahren nach Schätzungen 100 Millionen Dollar allein anLösegeld verloren, das man dort an Piraten zahlenmusste. Ich halte es für absolut legitim, dass Saudi-Arabien als souveräner Staat seine Küsten optimal schüt-zen möchte; ich finde, wir müssen dafür Verständnis ha-ben. Wenn deutsche Hightechfirmen dafür die geeigne-ten Gerätschaften haben und sie dorthin verkaufenkönnen, sollten wir sie dabei unterstützen. Das tun wir.
Wir können uns unsere Handelspartner natürlich nichtimmer aussuchen oder sie nach unseren Vorstellungenmalen. Aber wenn Sie sich einmal die Rolle Saudi-Arabiens in der Region anschauen, dann werden dochwohl auch Sie konzedieren, dass Saudi-Arabien sowohlbeim Friedensprozess im Nahen Osten als auch beimAntiterrorkampf auf unserer Seite stand.
Bei Einmischungen in die Innenpolitik anderer Staa-ten sollten wir uns eine gewisse Zurückhaltung auferle-gen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass nicht über-all eine Situation herrscht wie bei uns in Westeuropa, wowir seit Jahrzehnten Frieden, Menschenrechte undRechtsstaatlichkeit haben.
Wenn wir das zur Voraussetzung für den Handel in derWelt machen würden, hätten wir nicht mehr viele Part-ner.
Saudi-Arabien ist bei aller berechtigten Kritik an seinerinneren Verfasstheit
– darüber brauchen wir nicht zu streiten; das ist dochvöllig klar – ansonsten ein stabiler Faktor für die Zusam-menarbeit, ein stabilisierender Faktor im Nahen Ostenund insofern ein wichtiger Partner.
Nehmen Sie zum Beispiel die arabisch-israelischeFriedensinitiative von 2002. Damals war Abdullah nochKronprinz; heute ist er der König von Saudi-Arabien. Erhat diese Initiative angestoßen.
Nehmen Sie den Schlichtungsversuch 2011 im Jemen.Auch in Ägypten spielt Saudi-Arabien eine konstruktiveRolle. Außerdem ist Saudi-Arabien Gründungsmitgliedund Sprachrohr der Arabischen Liga. Insbesondere inseiner Politik gegenüber Syrien und beim Nahost-Friedensprozess agiert es hauptsächlich im Rahmen derBeschlüsse der Arabischen Liga.
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Klaus-Peter Willsch
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Im außenpolitischen Konzept der Bundesregierungvom Februar 2012 mit dem Namen „Globalisierung ge-stalten – Partnerschaften ausbauen – Verantwortung tei-len“ heißt es ganz konkret:Kein Staat der Welt kann heute nur mit militäri-schen Mitteln oder allein für seine Sicherheit sor-gen. Hierbei misst die Bundesregierung insbeson-dere der Entwicklung und weiteren Vertiefungsicherheitspolitischer Partnerschaften mit Staaten inentfernten Regionen sowie deren jeweiligen Regio-
große Bedeutung zu.Genau dafür steht auch hier Saudi-Arabien.
Deutschland hat in Sachen Export von Rüstungsgüternhohe Hürden, hohe Standards.
Wir liefern keine Waffen an solche Länder, die weitläu-fig als Schurkenstaaten bezeichnet werden. Wir verkau-fen keine Waffen an Regierungen, bei denen wir davonausgehen müssen, dass sie diese gegen ihre eigene Be-völkerung richten. Das spielt aber in diesem Kontextüberhaupt keine Rolle, weil wir von Booten reden.Frau Brugger von den Grünen hat den Wirtschafts-minister zitiert, den Koalitionswunschpartner der Grü-nen.
Ich will jetzt auch einmal Sigmar Gabriel zitieren: DieDebatte um die Bürgschaft sei nicht besonders ehrlich,hat er gesagt; denn mit Patrouillenbooten könne mannicht auf Plätzen die eigene Bevölkerung unterdrücken. –Genau so ist das.
Ich will den Blick einmal zurückrichten auf die Zeit,als die Grünen selbst Verantwortung trugen. Rot undGrün haben zwischen 1998 und 2002 Genehmigungenfür Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien im Wert von125 Millionen Euro erteilt.
Darunter waren Teile für Feuerleiteinrichtungen, Kampf-flugzeuge, Schießanlagen, Pistolen, Maschinenpistolen,Herstellungsausrüstung für Maschinenkanonen usw.
In der zweiten Wahlperiode von Rot-Grün, von 2002 bis2005, beliefen sich die Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien, obwohl es nur drei Jahre waren, auf 130 Millio-nen Euro, darunter Pistolen, Gewehre, Scharfschützen-gewehre, Maschinenpistolen, Dekontaminationsausrüs-tung, Munition usw. usw.
Das sind also Oppositionsspielchen, mit denen uns dieGrünen heute Abend die Zeit stehlen.
Wir reden heute über Boote für den Küstenschutz. Ichhabe Ihnen gerade all das vorgelesen, wozu Sie Ja gesagthaben. Ich will gar nicht kritisieren, wozu Sie Ja gesagthaben; ich mahne nur ein bisschen Ehrlichkeit an: dassSie hier nicht den einen Tag so handeln und den nächstenTag anders reden.
Die zentralen Merkmale der deutschen Rüstungs-exportpolitik sind seit Jahrzehnten konstant. Sie sindähnlich wie die Außenpolitik, wenn überhaupt, nurgeringfügigen Schwankungen unterworfen. Natürlichhaben wir auch ein kommerzielles Interesse: Wir wollen,dass unsere Hightechfirmen mit dem Export Geld ver-dienen können.
Unsere Bundeswehr ist als Nachfrager inzwischen näm-lich allein nicht mehr in der Lage, ihre Systemfähigkeitin verschiedenen Bereichen zu erhalten. Wir müssendeshalb versuchen, andere Märkte mit zu erschließen,damit wir systemfähig bleiben und damit die Fähigkeitzur Herstellung eigener Verteidigungstechnologie erhal-ten.Zur Situation in Mecklenburg-Vorpommern: In derPeene-Werft in Wolgast freut man sich auf diesen Auf-trag; es geht um 1,4 Milliarden Euro. In einer Region,die als strukturschwach zu bezeichnen ist und in der eseine große Schiffbautradition gibt, freut man sich, dassmit diesem Auftrag die Tradition fortgeschrieben wer-den kann. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.
In Mecklenburg-Vorpommern betrug die Arbeitslosen-quote im Januar 2014 13,2 Prozent. Die Firma Lürssen,zu der die Peene-Werft in Wolgast, die den Auftrag be-kommen soll, gehört, hat 1 400 Mitarbeiter. Allein durchdiesen Auftrag werden bis zu 500 Schiffbauer für min-destens zwei Jahre beschäftigt sein.
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Klaus-Peter Willsch
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Das sind wichtige Argumente, finde ich; das sollte manbei so einer Gelegenheit auch einmal erwähnen, ehe mansich hier zu einer moralisch vermeintlich überlegenenPosition aufschwingt und die Dinge sehr einseitig be-leuchtet.
Seien Sie froh, dass unsere Produkte – ob es Schiffesind, ob es Boote sind, ob es Panzer sind, ob es Haubit-zen sind, ob es Pkw sind – in aller Welt gefragt sind. Wirliefern Spitzentechnologie; darauf können wir stolz seinals Deutsche. Wir sehen keinen Grund, warum wir die inAussicht gestellte Genehmigung für die Zusammenar-beit zwischen Saudi-Arabien und Lürssen infrage stellensollen. Wir freuen uns darüber.Danke sehr.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Inge Höger, Die
Linke.
Wir wollen gar keine Rüstungsexporte!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es sindschon einige Zitate von Herrn Gabriel genannt worden.Ich möchte noch ein anderes nennen. Noch vor kurzemsagte er: „Es ist eine Schande, dass Deutschland zu dengrößten Waffenexporteuren gehört.“ Dem kann ich nurzustimmen. Umgekehrt sollte Herr Gabriel dem hier vor-liegenden Antrag zustimmen – zumindest wenn er das,was er verschiedentlich gesagt hat, ernst meint.Selbst wer nicht grundsätzlich wie die Linke gegenRüstungsexporte ist, muss doch sehen, dass Waffenliefe-rungen an Saudi-Arabien falsch sind. Dagegen sprechensowohl die Menschenrechtslage als auch die Spannun-gen in dieser Region.Die deutschen Rüstungsexportrichtlinien wurdeneben zitiert, aber nicht richtig. Sie sind hier nämlich ein-deutig: Genehmigungen für Waffenexporte dürfen nichterteilt werden, wenn interne Repression und Menschen-rechtsverletzungen zu befürchten sind oder wenn durchzusätzliche Waffen bestehende Spannungen und Kon-flikte aufrechterhalten oder verschärft werden könnten. –Beides trifft auf Saudi-Arabien zu. Deshalb ist meindringender Appell an die Bundesregierung: Nehmen Siewenigstens die eigenen Richtlinien ernst.
Waffenlieferungen in diese Region sind ein gefährli-ches Spiel mit dem Feuer. Auf Nachfragen erhielt ichwiederholt die Antwort, Saudi-Arabien sei für die Bun-desregierung ein wichtiger Partner bei der Lösung regio-naler Konflikte. Saudi-Arabien ist aber Teil der regiona-len Konflikte. Eine weitere Aufrüstung dieses Landesbringt keine Lösung, sondern verschärft die Spannun-gen. Oder glauben Sie wirklich, dass eine AufrüstungSaudi-Arabiens den Iran zur Abrüstung motivierenkönnte?Deutsche Waffengeschäfte beschleunigen die Aufrüs-tungsspirale im gesamten Nahen und Mittleren Osten.Wir brauchen aber Initiativen für Abrüstung. Dazu ge-hört zum Beispiel die UN-Initiative für einen Nahen undMittleren Osten ohne Massenvernichtungswaffen.
Auch ich begrüße die arabische Friedensinitiative, dieKönig Abdullah 2002 angestoßen hat. Das könnte tat-sächlich ein Weg zur Lösung des Nahostkonfliktes sein.Ich weiß aber auch, dass sein Land Israel nach wie vornicht anerkannt hat. Ich habe mit Erschrecken die Satel-litenbilder einer saudischen Raketenbasis zur Kenntnisgenommen, die der Telegraph im letzten Sommer veröf-fentlichte. Die dort stationierten ungelenkten Raketensind auf zwei Ziele ausgerichtet: auf Tel Aviv und aufTeheran.
Mit diesem Land, das als Teil seiner Militärstrategieauch Angriffe auf Israel plant, wollen Sie tatsächlichRüstungsgeschäfte machen? Ich finde das unerträglich.
Es ist wirklich peinlich, dass Saudi-Arabien inzwi-schen der wichtigste Abnehmer deutscher Waffen ist.Dieses Geschäft mit dem Tod wird auch noch durchstaatliche Ausfallbürgschaften abgesichert. Ich frage Sie:Warum hat die Lürssen-Werft überhaupt eine Hermes-bürgschaft beantragt? Zweifelt sie an der Zahlungs-fähigkeit des saudischen Königreiches? Wohl kaum!Offensichtlich hält das Werftmanagement einen Zah-lungsausfall aus politischen Gründen durchaus für mög-lich.Niemand weiß, wie lange sich das repressive politi-sche System in Saudi-Arabien noch an der Macht haltenkann. Doch mit umfangreichen Waffenlieferungen undmit Überwachungstechnologie aus Deutschland könnensich die saudischen Eliten auf jeden Fall etwas sichererfühlen. Wenn der innenpolitische Druck eines Tagesdoch zu stark wird, ist es für die Rüstungsunternehmenein sogenannter politischer Schadensfall. Für die saudi-sche Bevölkerung ist das weniger schön. Das könnte ei-nen blutigen Bürgerkrieg nach sich ziehen, bei demdeutsche Panzer und deutsche Gewehre gegen Demons-trierende eingesetzt werden.
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Inge Höger
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– Es geht um Panzer und Boote. Beides ist nicht notwen-dig, sondern erhöht nur die Spannung in dieser Region.Ein Risiko für deutsche Rüstungsschmieden gibt esallerdings nicht, weil hier die staatliche Hermesbürg-schaft einspringt. Die Absicherung weltweiter Rüstungs-geschäfte durch Hermesbürgschaften muss endlich been-det werden.
Rüstungsgeschäfte sind menschenverachtend. Ich for-dere die Regierung auf, ihre eigenen Ansprüche ernst zunehmen. Zu einer verantwortungsvollen Außenpolitik,von der in der letzten Zeit immer viel gesprochen wurde,gehört auch, Rüstungsgeschäfte mit Saudi-Arabien künf-tig nicht mehr durchzuführen. Außerdem bin ich für einVerbot von sämtlichen Rüstungsexporten, ganz egal inwelches Land.
Nächster Redner ist der Kollege Bernd Westphal,
SPD.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich hätte mir für meine erste Rede hier imDeutschen Bundestag eine andere Tageszeit gewünscht.Aber da ich einmal in einem Dreischichtbetrieb gearbei-tet habe, bin ich Nachtschichten durchaus gewohnt.
Die Frage, ob Rüstungsgüter exportiert werden sol-len, darf für Politiker nie eine leichte Entscheidung sein.Jeder muss sich der Verantwortung und der Tragweiteseiner Entscheidung bewusst sein, gerade deshalb, weildie Geschäftspartner oft in hochsensiblen Regionen zufinden sind.Der Export von Rüstungsgütern in Drittländer wird inDeutschland restriktiv gehandhabt, und das ist gut so.
Die Grundlage für den Export bilden die „PolitischenGrundsätze der Bundesregierung für den Export vonKriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern“, die übri-gens von der damaligen rot-grünen Regierung beschlos-sen wurden und in der Fassung vom 19. Januar 2000weiterhin Gültigkeit besitzen.Auch im Koalitionsvertrag zwischen SPD und CDU/CSU ist verankert, dass die Bundesregierung eine zu-rückhaltende und verantwortungsvolle Rüstungsexport-politik betreibt.
Deutschland verpflichtet sich im Koalitionsvertrag,keine Waffen an Länder, in denen Bürgerkrieg herrscht,zu liefern. Auch Unrechtsregime erhalten deshalb keineWaffen, die gegen die eigene Bevölkerung eingesetztwerden können.Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel hat diese Positionvor wenigen Tagen noch einmal bekräftigt und sich klarfür eine restriktive Haltung beim Waffenexport ausge-sprochen.
Der Minister hat angekündigt, dass er für jedes Waffen-geschäft eine Einzelfallprüfung vornehmen wird, undrechnet insgesamt mit einem weiteren Rückgang vonRüstungsexporten.
Deutsche Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien sor-gen immer wieder für kontroverse Diskussionen. Vondaher ist der Antrag der Grünen richtig; denn er ermög-licht es, dass es hier in diesem Hause eine Debatte da-rüber gibt.Es steht außer Frage, dass sich Saudi-Arabien in denletzten Jahren zu einem großen Absatzmarkt für deut-sche Rüstungsexporte entwickelt hat. Der Rüstungsex-portbericht 2012 zeigt, dass mehr als ein Viertel der ge-nehmigten Lieferungen für Saudi-Arabien bestimmt war– Aufträge mit einem Wert von insgesamt 1,2 MilliardenEuro. Dazu gehört allerdings auch eine Anlage zur Si-cherung der 9 000 Kilometer langen Grenze des Wüsten-staates. Allein dieses Geschäft hat ein Volumen von1,1 Milliarden Euro. Daher muss man bei der politischenBewertung schon berücksichtigen, wann was an wenund wohin geliefert wird.Es ist also irreführend, sehr geehrte Kollegin Brugger,wenn man alle Waffen in einen Topf wirft. Genau diesenFehler begehen aber die Grünen mit ihrem Antrag. Indem Antrag wird gefordert, dass die Rüstungsexportge-nehmigung für Saudi-Arabien aufgehoben werden soll,berücksichtigt wird dabei aber nicht, dass eine Lieferungvon Patrouillenbooten an Saudi-Arabien ein völlig ande-rer Fall ist, als wenn es Leopard-2-Panzer wären.
Kann ich die Kritik an einer Lieferung von Leopard-2-Panzern durchaus nachvollziehen, weil dabei ebennicht ausgeschlossen werden kann, dass die Panzer unterUmständen gegen die eigene Bevölkerung einsetzt wer-den können, so stellt sich beim Verkauf von Patrouillen-booten die Situation völlig anders dar.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014 1353
Bernd Westphal
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Die Boote sollen vor allem zur Erkundung und Aufklä-rung eingesetzt werden. Das saudi-arabische Innenmi-nisterium beabsichtigt, die Patrouillenboote zum Schutzseiner Küsten im Roten Meer und im Arabischen Golfeinzusetzen. Da Saudi-Arabien ein souveräner Staat ist,ist dies ein legitimer Wunsch. Saudi-Arabien hat darüberhinaus auch eine hohe strategische Bedeutung für dieweltweite Energieversorgung. Die Boote sollen deshalbauch Hoheitsgewässer, internationale Seewege, Off-shoreöl- und -gasfelder sowie Hafenanlagen schützen.Weitere beträchtliche Probleme stellen die in dieserRegion starke Piraterie und der latente Terrorismus dar,wodurch die internationalen Seewege massiv beeinträch-tigt werden. Ich erinnere an die Anstrengungen der inter-nationalen Gemeinschaft, die Seewege vor den KüstenSomalias zu schützen. Auch die Bundesmarine leistetdort eine sehr gute Arbeit, um den Piraten und Terroris-ten Einhalt zu gebieten.
Saudi-Arabien könnte mit dieser Ausrüstung einen eige-nen Beitrag zum Schutz vor diesen Gefahren leisten unddie internationalen Streitkräfte dabei unterstützen. Eshandelt sich hierbei also um legitime staatliche Aufga-ben Saudi-Arabiens, die letztlich auch im deutschen undinternationalen Interesse sind.Deutschland hat auch als Industrie- und Exportna-tion durchaus berechtigte Interessen. Die Verteidigungs-und Sicherheitsindustrie in Deutschland ist mit fast80 000 hochqualifizierten Arbeitskräften und mehrerenHunderttausend Beschäftigten in der Zulieferindustrieein großer Beschäftigungsfaktor. Der Wunsch der saudi-arabischen Regierung, Patrouillenboote von einem deut-schen Hersteller zu erwerben, zeigt die hohe Qualitätund Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Verteidigungs-und Sicherheitsindustrie.
Der Auftrag wird auch in ganz erheblichem Maßezum Erhalt von Arbeitsplätzen an den Standorten derLürssen Werft und bei ihren Zulieferern beitragen. Diepositiven Arbeitsplatzeffekte betreffen insbesonderestrukturschwache Gebiete. Aber ich gebe Ihnen recht:Das allein begründet nicht die politische Legitimationder Lieferung. Es ist trotzdem ein wichtiges Argument.Der Blick auf den Einsatzzweck der Boote rechtfer-tigt allerdings nach Ansicht der SPD-Fraktion diesenRüstungsexport. Es kann ausgeschlossen werden, dassmit Patrouillenbooten gegen die eigene Bevölkerungvorgegangen werden kann.Allerdings halte ich eine Hermesbürgschaft für dieLieferung der Boote aufgrund der wirtschaftlichenStärke Saudi-Arabiens für nicht erforderlich. DieseBürgschaft sollte die Bundesregierung neu bewerten. Indiesem Punkt ist die Formulierung im Antrag richtig. Inanderen Bereichen allerdings fallen die Formulierungenweit hinter unsere Bewertung zurück.Lassen Sie mich zum Schluss noch auf die Frage derParlamentsbeteiligung eingehen. Für die SPD steht fest,dass wir die Transparenz bei diesen hochsensiblen Ent-scheidungen der Rüstungsexporte dringend erhöhenmüssen.
Dabei geht es ausdrücklich nicht um die Vermischungzwischen Exekutive und Legislative. Das lässt schon dasGrundgesetz nicht zu. Die Verantwortung für Rüstungs-exporte trägt allein die Bundesregierung. Wir müssenaber dafür sorgen, dass das Parlament mehr Interven-tionsrechte erhält, verbunden mit größtmöglicher Trans-parenz.Zwei Punkte sind dabei aus meiner Sicht besondersbedeutsam:Erstens. Es muss dem Parlament und der Öffentlich-keit grundsätzlich zeitnäher berichtet werden. Wir for-dern deshalb die Veröffentlichung des jährlichen Rüs-tungsexportberichtes noch vor der Sommerpause desFolgejahres und einen unterjährigen Zwischenbericht.Zweitens. Über die abschließenden Genehmigungs-entscheidungen im Bundessicherheitsrat soll die Bun-desregierung den Deutschen Bundestag innerhalb einerFrist von 14 Tagen informieren.Diese Maßnahmen erhöhen zweifelsfrei die Transpa-renz und sollen – so beinhaltet es der Koalitionsvertrag –in dieser Legislaturperiode umgesetzt werden.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Glück auf!
Das war die letzte Rede in dieser Debatte und zu-gleich die erste Rede des Kollegen Bernd Westphal, denich dazu beglückwünsche.
Ich bin zuversichtlich, dass er auch bald zu anderen Ta-geszeiten Reden halten wird.Ich schließe damit die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/576 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Besonderheit istjedoch dabei, dass die Federführung strittig ist. DieFraktionen von CDU/CSU und SPD wünschen die Fe-derführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie.Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht die Feder-führung beim Auswärtigen Ausschuss.Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen – Federführung beimAuswärtigen Ausschuss – abstimmen. Wer stimmt fürden Überweisungsvorschlag an den Auswärtigen Aus-schuss? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
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1354 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2014
Vizepräsident Johannes Singhammer
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Dieser Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen vonCDU/CSU und SPD gegen die Stimmen von Bünd-nis 90/Die Grünen und der Linken abgelehnt.Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag derFraktionen von CDU/CSU und SPD abstimmen, die Fe-derführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energieanzusiedeln. Wer stimmt für diesen Überweisungsvor-schlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Damit ist der Antrag mit den Stimmen von CDU/CSUund SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grü-nen und der Linken federführend an den Ausschuss fürWirtschaft und Energie überwiesen.Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-ordnung angekommen.Ich danke allen und berufe die nächste Sitzung desDeutschen Bundestags auf morgen, Freitag, den 21. Fe-bruar, 9 Uhr, ein.Die Sitzung ist geschlossen.