Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Be-vor wir in die Tagesordnung eintreten, müssen wir dieWahl eines Vertreters der Bundesrepublik Deutsch-land zur Parlamentarischen Versammlung des Euro-parates durchführen. Die FDP-Fraktion schlägt vor,dass für den aus diesem Gremium ausscheidenden Kol-legen Dr. Stefan Ruppert der Kollege Manuel Höferlinals stellvertretendes Mitglied benannt wird. Ich gehe da-von aus, dass Sie damit einverstanden sind. – Das ist of-fenkundig der Fall. Damit ist der Kollege Höferlin alsstellvertretendes Mitglied der Parlamentarischen Ver-sammlung gewählt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße heuteMorgen besonders herzlich den polnischen Botschafter,der auf der Ehrentribüne Platz genommen hat.
Denn wir gedenken heute in Polen wie in Deutschlanddes jüdischen Aufstandes im Warschauer Ghetto, der vor70 Jahren, am 19. April 1943, begonnen hat.Hinter den drei Meter hohen Mauern des hermetischabgeriegelten Viertels lebten zu dieser Zeit noch Zehn-tausende verzweifelte, größtenteils längst entkräftetegeht, dass die ganze Welt wissen soll, wie hoff-nungslos, schwer und blutig dieser Kampf war.Diese Worte stammen von Leon Rodal, einem der Kom-mandanten des Aufstandes.Die Juden im Warschauer Ghetto wussten, dass siekeine Chance gegen den übermächtigen Angreifer hat-ten. Sie wollten aber kämpfen – einen aussichtslosen,verzweifelten Kampf um die Würde ihres Volkes. „DerKampf war ein Zeichen des Protestes gegen die Gleich-gültigkeit der Welt angesichts des Holocaust und einesheroischen Widerstandes“, heißt es in einer Entschlie-ßung des Sejm der Republik Polen zum 70. Jahrestag desAufstandes.Nur spärlich mit Pistolen, Handgranaten, selbst ge-machten Molotowcocktails und Gewehren bewaffnet,kämpften die etwa 750 Aufständischen fast vier Wochenlang gegen mehr als 2 000 schwer bewaffnete Deutsche,die durch Panzer, Artillerie und Luftwaffe unterstütztwurden. Am Ende war das Ghetto völlig vernichtet.Haus für Haus wurde von den Deutschen in Brand ge-steckt und gesprengt. Die Große Synagoge von War-schau hatte der fanatische SS-General Jürgen Stroop ei-genhändig gesprengt. In seinem Bericht liefert er diepräzise Zahl der Opfer: 56 065 Tote.Menschen. Sie sollten – wie seit 1942 schon rund300 000 Frauen und Männer, Kinder und Greise – in denTod deportiert werden. Im Morgengrauen des jüdischenPassahfestes zur Erinnerung an den im Buch Mose be-schriebenen Auszug aus der ägyptischen Sklaverei mar-schierten SS-Einheiten in das Ghetto ein.Das Datum für die endgültige Vernichtungsaktion warsicher nicht zufällig gewählt. Schon der Beschluss überdie Schaffung des Warschauer Ghettos wurde auf zyni-sche Art am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur,am 12. Oktober 1940, per Straßenlautsprecher bekanntgegeben. Auch die großen Deportationen begannen amVorabend eines jüdischen Feiertages, am 22. Juli 1942.Wir werden alle fallen, manche mit der Waffe in derHand, andere als vergebliche Opfer. Aber es istwichtig, dass das Gedenken um uns nicht verlorenNur wenigen Aufständischen gelang die Flucht durchunterirdische Kanäle. Der Aufstand war militärisch ge-scheitert; er war dennoch nicht vergeblich. DieserKampf wurde in den nachfolgenden Monaten zum Vor-bild für Juden in anderen Ghettos und Lagern. Und ersteht stellvertretend für den vielfältigen jüdischen Wi-derstand, den es während des Nationalsozialismus gege-ben hat.Denn nicht „wie die Lämmer zur Schlachtbank“ ha-ben sich die Juden Europas führen lassen – im Ge-genteil, wo immer sie die Möglichkeit dazu fanden,haben sich jüdische Männer und Frauen gegen dieMörder zur Wehr gesetzt.Das unterstrich der im vergangenen Jahr verstorbeneHistoriker Arno Lustiger, selbst KZ-Überlebender und,wie sich viele von uns erinnern werden, 2005 Redner bei
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29480 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013
Präsident Dr. Norbert Lammert
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CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zur Förderung der Prävention– Drucksache 17/13080 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GOb) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zur Förderung der Sicherstellung des
– Drucksache 17/13081 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzHaushaltsausschuss gemäß § 96 GONach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst dem Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr.
Guten Morgen, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Die Koalition legt Ihnen heute zwei Ge-setzentwürfe vor, die die Versorgung der Versicherten inDeutschland verbessern werden.Das erste Gesetz, das Ihnen vorliegt, ist das Gesetzzur Förderung der Prävention. Wie viele Jahre haben wirhier im Deutschen Bundestag im Rahmen der Debatteüber die Gesundheitspolitik überlegt, wie wir ein Prä-ventionsgesetz gestalten und auf den Weg bringen kön-nen? Die Koalition hat ihr Versprechen aus dem Koali-tionsvertrag gehalten und in dieser Legislaturperiode einGesetz zur Stärkung der Prävention vorgelegt, das end-lich auch in den parlamentarischen Beratungen diskutiertwerden kann.
Solidarität und Eigenverantwortung gehören für diechristlich-liberale Koalition untrennbar zusammen, weilwir wissen, dass die Solidargemeinschaft die großen Ri-siken teilt, weil wir wissen, dass sich die Versichertendarauf verlassen wollen, dass für die großen Risiken dieSolidargemeinschaft eintritt. Wir wissen aber auch, dassdie Solidargemeinschaft sich darauf verlassen möchte,dass jeder Einzelne in Eigenverantwortung für seine Ge-sundheit tut, was der Einzelne in Eigenverantwortungfür seine Gesundheit tun kann. Durch gesunde Ernäh-rung, durch mehr Bewegung, durch das Beschäftigen mitder eigenen Gesundheit können wir selbst bestimmteKrankheitsrisiken minimieren. In einer alternden Bevöl-kerung, in der die Kosten für Gesundheit eher steigenwerden, ist es umso wichtiger, in die Gesunderhaltungder Menschen zu investieren, einen Schwerpunkt aufden Bereich Prävention zu legen. Das genau leistet derEntwurf eines Präventionsgesetzes für den Bereich desGesundheitswesens.Wir haben viele Maßnahmen vorgeschlagen, wie wirdavon wegkommen können, dass die Krankenkassen ihrePräventionsmaßnahmen allein nach Marketing- und Ver-triebsgesichtspunkten ausrichten; denn das ist offenbarder Fall. Wir wollen, dass die Krankenkassen endlich ver-pflichtet werden, mehr Gelder für Präventionsmaßnah-men zur Verfügung zu stellen. Dieser Gesetzentwurf siehtvor, dass die Ausgaben für die betriebliche Gesundheits-förderung verdreifacht werden. Dieser Gesetzentwurfsieht vor, dass auch die Ausgaben der Krankenkassen fürLebensweltenprogramme, das heißt für Programme in so-zialen Brennpunkten, für sogenannte Settingmaßnahmen,mit denen wir Menschen in ihrer Lebenswelt abholen, umsie für das Thema Prävention zu gewinnen, verdreifachtwerden. Das heißt, wir nehmen bei den Krankenkasseneine neue Schwerpunktsetzung im Bereich Präventionvor.
Wir haben zwar festgestellt, dass es schon heute vieleMenschen gibt, die sich mit ihrer Gesundheit beschäfti-gen, wir haben aber auch festgestellt, dass wir diejenigenMenschen erreichen müssen, die sich bisher noch nichtmit ihrer Gesundheit beschäftigen. Die Idee, diese Men-schen über den Betrieb zu erreichen, ist sehr erfolgver-sprechend. Es gibt Studien, die belegen: 1 Euro, inves-tiert in betriebliche Gesundheitsförderung, bringt einensogenannten Return on Prevention von über 2 Euro. Daszeigt: Diese Investitionen lohnen sich sowohl für dieMitarbeiterinnen und Mitarbeiter als auch für den Be-trieb. Wir wissen, dass es viele Großunternehmen gibt,die sehr gute Projekte im Bereich betriebliche Gesund-heitsförderung anbieten. Aber gerade bei den kleinenund mittelständischen Betrieben haben wir Nachholbe-darf. Deswegen ist es richtig, dass mit diesem Gesetzent-wurf ein klarer Schwerpunkt gelegt wird: Mit diesem
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Bundesminister Daniel Bahr
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Wir sehen ferner vor, dass die Versicherten durch ei-nen Check-up die Gelegenheit erhalten, konkrete Prä-ventionsempfehlungen zu erhalten, damit sie wissen,was sie besser machen können. Wir sehen vor, dass dieLücke bei den Grundschulkindern durch eine zusätzlicheKindervorsorgeuntersuchung, eine zusätzliche U-Unter-suchung, geschlossen wird. In diesem Bereich haben wirnämlich eine Lücke. Der Gesetzentwurf schafft die Vo-raussetzung zur Schließung dieser Lücke.Dies sind viele gute Maßnahmen, die Sie, glaube ich,inhaltlich auch gar nicht ablehnen, weil Sie sie für rich-tig halten. Wir können gerne darüber streiten, was manin anderen Bereichen noch tun kann; das sollten wir ma-chen. Aber wir müssen auch diese Maßnahmen, um diees heute geht, in den verbleibenden Monaten noch aufden Weg bringen.Ein zweiter Gesetzentwurf beschäftigt sich mit derVersorgung der Menschen insbesondere im ländlichenRaum. Wir haben mit dem Versorgungsstrukturgesetz,mit dem sogenannten Landärztegesetz, einen ganz wich-tigen Beitrag geleistet, dass die Menschen in Deutsch-land sich weiterhin darauf verlassen können, dass sie ei-nen Arzt vor Ort haben. Wer den Landarzt nicht nur auseiner idyllischen Vorabendserie kennen will und auchnoch eine Landapotheke vor Ort haben möchte, der mussauch einen Beitrag dazu leisten, dass dies finanziellmöglich ist.
Wir wissen, dass gerade die Apotheken in der Flächeviel häufiger einen Notdienst machen müssen, es aberfür sie schwierig ist, das kostendeckend zu machen, weildiese Apotheken nicht so häufig aufgesucht werden.Deswegen wollen wir mit dem Apothekennotdienst-sicherstellungsgesetz für eine Anerkennung dieser Ge-meinwohlpflicht der Apotheker sorgen. Ja, wir als christ-lich-liberale Koalition stehen zu der inhabergeführtenApotheke. Wir wissen, dass der Apotheker Gemein-wohlpflichten wie Nacht- und Wochenenddienst zu leis-ten hat. Weil er unabhängig beraten soll, sind wir auchweiterhin für den Erhalt des Fremd- und Mehrbesitzver-botes. Wir wollen die inhabergeführte Apotheke vor Orterhalten. Mit diesem Gesetzentwurf leisten wir einenBeitrag dazu, dass diese Gemeinwohlpflichten auch fi-nanziell anerkannt werden.Sie von Rot-Grün wollen das Fremd- und Mehrbesitz-verbot abschaffen. Das ist die Beschlusslage bei denGrünen, und das ist die Beschlusslage vom letzten Par-teitag der SPD.
– Wir haben sie ja gar nicht geändert. – Sie wollen Apo-thekenketten. Sie wollen, dass die Menschen sich nichtmehr darauf verlassen können, von einem unabhängigenApotheker vor Ort versorgt zu werden, der rund um dieUhr diese Gemeinwohlpflichten erfüllt. Das macht dieUnterschiede zwischen uns deutlich. Wir setzen uns da-für ein, dass durch die freiberuflich tätigen Apothekerdie gute Versorgung mit Arzneimitteln auch in der Flä-
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Bundesminister Daniel Bahr
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Sie werden hier auch unglaubwürdig, wenn man diebeiden Gesetzentwürfe, über die Sie vorgetragen haben,im Zusammenhang betrachtet. Insgesamt werden für70 Millionen Versicherte für die Vorbeugung aller Er-krankungen etwa 180 Millionen Euro in die Hand ge-nommen, und für die Landapotheker – es gibt etwa10 000 Landapotheker – werden 100 Millionen Euro indie Hand genommen. Somit sind Ihnen die 10 000 Apo-theker ungefähr so viel wert wie die 70 Millionen Versi-cherten. In Wirklichkeit geht es hier um eine Wahl-kampfaktion.
Sie verbeugen sich noch einmal vor dem Apotheker,dem wir übrigens diese Zuschläge gönnen. Das erwähneich, damit wir uns nicht falsch verstehen.
Die Landzuschläge sind nicht falsch, aber die Förderungder Vorbeugemedizin sind Sie schuldig geblieben. Ichwill dies gleich näher erläutern.Sie schaffen mit der Präventionskonferenz eine wei-tere Gruppe, die Sie selbst leiten, verbunden mit büro-kratischem Aufwand; Sie haben darauf hingewiesen.Man wird sich beim Gesundheitsminister treffen, undman wird Runde Tische veranstalten. Dies wird eineweitere große Runde, in deren Rahmen Sie sich vor derPresse zeigen und die 12 Cent pro Monat verteilen kön-nen. Machen Sie sich doch nichts vor, dabei wird nichtsherauskommen. Das ist doch nur das, was Sie bisher im-mer bekämpft haben: eine weitere Runde Bürokratie. Indiesem Fall gehört es zur Wahlkampfhilfe der FDP.
Eine regionale und konkrete Gesundheitsförderung,bei der man Geld in die Hand nimmt und unbürokratischvor Ort hilft, funktioniert. Sie funktioniert beispielsweisein Schweden. Gesundheitsvorsorge muss regional undkonkret sein. Man muss Geld in die Hand nehmen,
und die Förderung muss unbürokratisch sein. Was Sieuns hier und heute vorlegen, ist national, es ist abstrakt,es wird dabei wenig Geld zur Verfügung gestellt– 12 Cent pro Versichertem pro Monat –, und es ist büro-kratisch. Von daher: Dieser Gesetzentwurf scheitert ausmeiner Sicht auf der ganzen Linie. Er ist nichts anderesals ein Etikettenschwindel. Es wird eine neue Vorsorge-bürokratie geschaffen, die wir nicht brauchen. Stattdes-sen hätten Sie das beschließen müssen, was anderswofunktioniert: regionale, konkrete Gesundheitsarbeit mitden Menschen, die sie benötigen, und zwar in Schulen,in Kitas und in den Problembereichen, also im Hinblickauf Drogenabhängige, Menschen, die arbeitslos sind,und Menschen, die große soziale Probleme haben.Nichts zur Verbesserung der Gesundheitschancen undzur Verringerung der Kluft zwischen Arm und Reichkam in Ihrer Rede vor – das scheint Sie schlicht nicht zuinteressieren –, geschweige denn kommt dazu etwas inIhrem Gesetzentwurf vor, meine sehr verehrten Damenund Herren.
Sie lassen aus meiner Sicht erneut die Einkommens-schwachen, die Benachteiligten im Stich. Ich will daskonkret begründen. In Ihrem Gesetzentwurf ist nichtsvorgesehen, was das Rauchen in den Hauptschulen undin den Förderschulen, wo wir derzeit die größten Pro-bleme haben, beseitigen würde. In Ihrem Gesetzentwurfist nichts vorgesehen, was in irgendeiner Weise gezieltarbeitslosen Menschen oder psychisch Kranken zugute-käme. In Ihrem Gesetzentwurf ist nichts vorgesehen, umdas, was Sie vorhaben, in irgendeiner Weise zu integrie-ren in Ihre Politik zur Bekämpfung der Armut, so selbigeüberhaupt vorhanden ist, oder in Ihre Drogenpolitik. Sierichten nur eine abstrakte Präventionskonferenz ein, die,wenn sie sich große Ziele setzt, nicht das erforderlicheGeld hat, um sie zu erreichen, und die, wenn sie sichkleine Ziele setzt, nicht über die notwendige Ahnung,die man vor Ort haben muss, verfügt. Damit scheitern
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Dr. Karl Lauterbach
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Es ist nicht gelungen, auch nur eine einzige großeStudie zur Gesundheitsförderung aufzulegen. Es gibt inDeutschland keine Gesundheitsforschung im Hinblickauf die Vorbeugemedizin. Sie wissen überhaupt nicht,was gemacht werden sollte. Sie sind im Blindflug unter-wegs. Es gibt keine einzige nationale Studie – wie dieszum Beispiel in den skandinavischen Ländern oder inAmerika der Fall ist –, in der es konkret um den Gesund-heitszustand unserer Kinder geht. Die traurige Wahrheitist, dass wir über die Gesundheit unserer Kinder zum jet-zigen Zeitpunkt nicht viel wissen. Eine solche Studiewäre noch nicht einmal teuer gewesen. Dazu, eine solcheStudie durchführen zu lassen, fehlte Ihnen aber schlichtdie Fantasie oder das Engagement. Da wäre das wenigeGeld besser investiert gewesen als in Kaffee und Kuchenim Büro des Ministers.
Die Vision, die nötig gewesen wäre, haben Sie nicht.Sie versprechen, dass Kinder- und Jugendärzte die drin-gend benötigte bessere Unterstützung endlich bekom-men. Sie machen aber nichts, um dafür zu sorgen, dasses in den Problemgebieten mehr Kinder- und Jugend-ärzte gibt. Von Ihnen gibt es keine einzige Initiative, umsicherzustellen, dass es in den Brennpunkten demnächstüberhaupt noch Kinderärzte gibt. Was soll denn ein Ge-setz, in dessen Rahmen man ein paar Cent mehr für nichtvorhandene Kinder- und Jugendärzte in die Hand nimmt,damit diese die Prävention verbessern? Wie soll dasfunktionieren? Derjenige, der vor Ort nicht arbeitet,kann davon nicht profitieren. Hätten Sie sich darüber soviele Gedanken gemacht, wie Sie sie sich offenbar überdie Notfallversorgung der Apotheker auf dem Land ge-macht haben, hätten Sie also auch Maßnahmen zur Ver-besserung der Situation der Kinderärzte vorgeschlagen,dann würde ich sagen: Das ist ein Ansatz, den man ver-folgen kann. – Aber de facto waren Ihnen die Kinder-und Jugendärzte diese Mühe nicht wert. Zumindest lässtIhr Gesetzentwurf dies nicht erkennen, meine sehr ver-ehrten Damen und Herren.Zum Schluss will ich sagen: Man merkt Ihrem Ge-setzentwurf an, dass in der Präventionspolitik über Jahrehinweg in diesem Hause wenig passiert ist. Das bekla-gen Sie. Sie vergessen aber, zu erwähnen, dass es dieFDP und auf Länderebene immer auch die Union waren,die ein Präventionsgesetz verhindert haben. Jetzt legenSie einen entsprechenden Gesetzentwurf vor, sozusagenin den Vorwehen der bevorstehenden Bundestagswahl.Wenn es um diesen Gesetzentwurf geht, muss man dieUmfrageergebnisse der FDP vor Augen haben. Sie ha-ben sich zur Jagd tragen lassen und wollen nun diesenlieblosen Gesetzentwurf beschließen, um sagen zu kön-nen: Wir regieren noch. Wir sind noch da.
Wir machen in der Gesundheitspolitik noch bis zumSchluss etwas. – Aber dieser Gesetzentwurf ist nichtsanderes als ein Etikettenschwindel. Er enttäuscht dieMenschen. Er lässt diejenigen zurück, die es am nötigs-ten gehabt hätten, die Einkommensschwachen, die sozialSchwachen und unsere Kinder. Das ist die Wahrheit zudiesem Gesetzentwurf.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Johannes
Singhammer für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! In die Gesundheit zu investieren, ist tausendmalbesser, als für die Behandlung von Krankheiten teuer zubezahlen. In einem haben Sie recht, Herr KollegeLauterbach: Seit vielen Jahren, seit nahezu zehn Jahrenwird über Präventionsmaßnahmen diskutiert.
Aber eines steht fest: Wir haben jetzt ein umfassendesKonzept vorgelegt. Wir liefern. Das ist ein gutes Kon-zept, und dies wird erfolgreich sein.Was heißt Prävention? Prävention – vereinfacht aus-gesprochen – heißt: gesund essen und möglichst viel be-wegen.
Wir wollen niemanden gängeln, niemanden in seinerFreiheit beschneiden oder gar mit finanziellen Nachtei-len bedrohen. Für welche Art der Lebensführung sich je-mand entscheidet, ist seine Sache. Aber wir wollenschon mit Nachdruck Anreize setzen, werben und über-zeugen, dass sich gesund leben lohnt, einfach weil mansich besser fühlt und weil es solidarisch ist. Wer aberAnreize setzen will, der muss Geld in die Hand nehmen.Nur mit guten Worten geht es nicht.
Die gesundheitspolitische Debatte der letzten Jahr-zehnte war maßgeblich geprägt von finanziell knappenKassen und roten Zahlen. Das hat sich geändert. Das ha-ben wir in der christlich-liberalen Koalition verändert.Jetzt wird nicht darüber diskutiert, wie rote Zahlen be-seitigt werden können, sondern darüber, wie Über-schüsse im Fonds und bei einem Teil der gesetzlichenKrankenkassen richtig angelegt werden können.
Da sage ich Ihnen: Es gibt nichts besseres, als das Geld– das sind rund 200 Millionen Euro zusätzlich – in dieZukunft, in die Gesunderhaltung der Menschen, vor al-lem der jungen Menschen, der Jugendlichen in Deutsch-land zu investieren.
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Johannes Singhammer
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Das fällt in die Kompetenz der Kommunen. Deshalbmüssen die Kommunen dabei sein. Wir wollen dieSportvereine einbinden, damit mehr Kooperation statt-findet.
Wir brauchen eine große öffentliche Aktion; denn wirbrauchen ein Umdenken in den Köpfen, einen Bewusst-seinswandel. Deshalb haben wir bestimmte Kompeten-zen bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklä-rung gebündelt. Wir wollen den finanziellen Rahmen fürviele Bereiche erhöhen. Wir wollen die Qualität von Prä-ventionsangeboten verbessern. Bei der betrieblichen Ge-sundheitsförderung machen wir eine kleine Revolution.
– Hören Sie genau zu! – Bisher sind die Beiträge der ge-setzlichen Krankenversicherung in den meisten Fällenstarr. Wir schaffen jetzt die Möglichkeit, den Beitrags-satz zu verändern, wenn Unternehmensleitung, Betriebs-rat und Krankenkasse zusammen bestimmte Präven-tionsziele vereinbaren. Der Beitragssatz wird natürlichnicht nach oben verändert werden, sondern nach unten,damit alle einen starken Anreiz haben, mitzumachen.Diesen Anreiz brauchen wir, und wir schaffen ihn damit.Ich bin sehr zuversichtlich, dass dies erfolgreich seinwird.
Wir wollen auch diejenigen einbinden, die in der KurVerantwortung tragen. Ich denke, es ist wichtig, dass derEinzelne ermuntert wird, etwas für sich zu tun. Dabeikönnen höhere Anreize zur Teilnahme an Gesundheits-untersuchungen zur Früherkennung von Krankheiten
und Anreize zur Inanspruchnahme geeigneter Präven-tions- und Vorsorgeleistungen helfen. Wir haben einfantastisches Kurwesen in Deutschland, das wir nutzensollten, um Anreize zu setzen, diese Präventionsmög-lichkeiten wahrzunehmen.
Ich bitte alle hier im Deutschen Bundestag, diesenGesetzentwurf zügig zu beraten und zu beschließen. Ichhoffe – und bitte auch darum –, dass dieser Gesetzent-wurf im Bundesrat nicht auf die lange Bank geschobenwird. Wir können uns das in Deutschland nicht leisten.Wenn es uns nicht gelingt, in der Prävention entschei-dende Fortschritte zu machen, wird uns der große Über-schuss, den wir jetzt im Gesundheitswesen haben, nichtdauerhaft nützen; denn es wird eine Explosion der Aus-gaben auf uns zukommen. Dieses Präventionskonzept istgeradezu überlebenswichtig, nicht nur für die Finanzen,sondern vor allem für die Menschen, um die es geht.
Wir beraten heute noch einen zweiten Gesetzentwurf.Wer krank geworden ist und ein Arzneimittel braucht,der braucht dieses Arzneimittel meistens schnell. Ermuss sich auf eine gute Versorgung verlassen können.Für uns ist es ein Anliegen, dass die Gesundheitsversor-gung in den städtischen Ballungsräumen und in denländlichen Regionen gleichwertig bleibt, ohne Unter-schiede, ohne Differenzierung. Die Patientenfrequenz ei-ner Bahnhofsapotheke in München wird sich nachtsüber,im Notdienst, nur wenig von tagsüber unterscheiden: Dawird immer eine Menge Nachfrage sein. In ländlichenRegionen, in dünn besiedelten Gegenden kann es dage-gen schon vorkommen, dass am Wochenende nur zweioder drei Patientenkontakte stattfinden. Das lohnt sichfür den Apotheker nicht. Wir wollen aber die Versor-gungsstruktur erhalten. Deshalb setzen wir, HerrLauterbach, ganz gezielt Geld ein – 120 Millionen Euro –,um einen Ausgleich zu schaffen. Wir wollen gleiche
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Johannes Singhammer
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– Sie brauchen da nicht herumzukritisieren.
Herr Kollege, das ist in einem Parlament allerdings
nicht gänzlich unüblich.
Dann darf ich noch etwas erläutern; vielleicht wird
die Kritik dann noch weiter schrumpfen.
Wir brauchen für die ländlichen Regionen gute Ver-
kehrsverbindungen. Das ist eine Banalität. Auch eine
schnelle Internetverbindung ist von großem Vorteil.
Wenn aber die Gesundheitsversorgung von Ärzten,
Krankenhäusern und Apotheken nicht mehr gewährleis-
tet ist, dann werden alle anderen Infrastrukturmaßnah-
men nichts nutzen; denn die Attraktivität der ländlichen
Regionen wird dann nicht zunehmen.
Deshalb tun wir das alles, und wir werden noch mehr
tun. Wir werden auch ein Krankenhausfinanzierungsge-
setz vorlegen, das genau diesen Zweck hat, die ländli-
chen Regionen zu stärken. Wir sind die Partei der richti-
gen und gerechten Strukturen.
Danke schön.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Martina Bunge für
die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Heute haben wir wieder zwei Gesetzentwürfe auf der Ta-gesordnung, die überhaupt nichts miteinander zu tun ha-ben, nämlich den Entwurf eines Gesetzes zur Förderungder Prävention und den Entwurf eines Apothekennot-dienstsicherstellungsgesetzes. Dieses Zusammenwür-feln zeigt deutlich: Sie wollen kurz vor der Wahl nochein paar Gesetzentwürfe verabschieden, um zu zeigen,was Sie alles gemacht haben und wie toll Sie hier sind.
Wenn man aber dahinterschaut, dann stellt man fest:Das sind keine guten Gesetzentwürfe. Hier geht es umschicke Verpackungen, um für den künftigen Wahlkampfetwas ins Schaufenster legen zu können.
Seit Beginn der Legislaturperiode drängen die Oppo-sitionsfraktionen mit eigenen Vorschlägen darauf, dassdiese Regierung endlich ein Präventionsgesetz vorlegt,weil das mehr als überfällig ist.
Unzählige Engagierte und Enthusiasten vor Ort wartensehnsüchtig darauf, dass die vielen Aktivitäten zur Ge-sundheitsförderung und Prävention endlich flächende-ckend und dauerhaft gesichert werden.
In den letzten Tagen dieser Wahlperiode legen Sie et-was vor. Doch dieser Gesetzentwurf ist eine Fehlan-zeige.
Als die CDU/CSU-Fraktion unlängst die Bürgerin-nen- und Bürgerversicherung kommentierte und dabeiglatt die Ansichten der PKV abkupferte, hat sie demGanzen die Überschrift „Gut ist nur der Name“ gegeben.Ich bin geneigt, bei Ihnen abzukupfern und zu sagen: Beidiesem Präventionsgesetz ist der Name gut, aber dieSubstanz ist mies.
Sie benutzen – das ist ja das Perverse daran –
Vokabeln der modernen Forschung zur Gesundheitsför-derung – Lebenswelten, Ressourcenstärkung und Setting –,verpacken im Detail aber veraltete und verstaubte An-sätze wie Informationskampagnen oder Verhaltensan-sätze. Es geht Ihnen darum, den Namen „Präventionsge-setz“ zu verbrennen. Das Vorgelegte ist in Wahrheit derEntwurf eines Anti-Präventionsgesetzes.
Mit dieser Einschätzung stehe ich und steht die Links-fraktion nicht allein. Sie, Herr Präsident, erlauben sicher,dass ich im Weiteren einige Expertinnen und Expertenzitiere, die mir für diese Debatte ausdrücklich ihre Zu-stimmung dazu gegeben haben.Die Deutsche Gesellschaft für Public Health schriebzu Ihrer Präventionsstrategie – das gilt nach Auskunftvon Frau Professor Birgit Babitsch, Professor Dr. NicoDragano und Dr. Dr. Burkhard Gusy auch für Ihren Ge-setzentwurf –:
Der vorgelegte Referentenentwurf und die Eck-punkte … lassen … eine nachhaltige Verbesserung
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Dr. Martina Bunge
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– Das klingt sehr viel. Aber wenn Sie einmal bedenken,dass das ein reichliches halbes Prozent dessen ist, wasdie Versicherten über die Beiträge für die Leistungenaufbringen müssen, die dazu führen, wieder gesund zuwerden, dann ist das, glaube ich, nicht zu viel.Eines der zentralen Probleme in dieser Gesellschaftist doch, dass Menschen, die ärmer sind oder schlechtergebildet sind, durchschnittlich kränker sind und deutlichfrüher sterben. Menschen mit niedrigem Sozialstatus ha-ben in Deutschland in etwa die Lebenserwartung vonMenschen in Entwicklungsländern. Das kann weder hiernoch dort hingenommen werden.
Diese Regierung tut mit diesem Gesetzentwurf nichtsdagegen, rein gar nichts. Kein Wunder, dass einer dergrößten Experten in Deutschland für soziale Ungleich-heit, Dr. Andreas Mielck, vom Helmholtz-Zentrum inMünchen, diesen Entwurf wie folgt kommentiert – ichdarf zitieren –:Glauben Sie im Ernst, dass so den Personen gehol-fen wird, die am stärksten belastet sind? Können sodie Personen erreicht werden, die geringe Bildungund/oder niedriges Einkommen haben? Es ist dochoffensichtlich: Dieses Gesetz wird die gesundheitli-che Ungleichheit eher vergrößern als verkleinern.Sind Sie so naiv oder handeln Sie wider besseresWissen?Wie der soziale Status die Gesundheit beeinflusst, istgut untersucht, ebenso, dass Ihr vielbeschworenes Ge-sundheitsverhalten nur einen ganz geringen Anteil an dergesundheitlichen Ungleichheit hat. Dennoch tun Sienichts, um sozial bedingte gesundheitliche Ungleichheitzu verringern, und setzen stattdessen auf Verhaltensprä-vention bis hin zu Prämien für die Teilnahme an Kursenzu Verhaltenspräventionsansätzen.Daher bewertet Professor Ullrich Bauer, HochschuleDuisburg, Ihren Gesetzentwurf so – ich darf zitieren –:Dass diese zentralen wissenschaftlichen Erkennt-nisse hierzulande nicht wahrgenommen werden undwider besseres Wissen Entscheidungen getroffenwerden, die gesundheitliche Ungleichheiten nurnoch vergrößern und nicht verringern, ist fahrlässigund in Prozessen der seriösen politischen Entschei-dungsfindung nicht mehr tolerierbar.Ich denke, dieser Aussage stimmen wir einmütig zu.
Bei dieser Bundesregierung werden Ärztinnen undÄrzte zu den Fachleuten für Prävention. Dazu sagt Pro-fessor Rolf Rosenbrock, vormaliges Mitglied des Sach-verständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung imGesundheitswesen und hochangesehener Präventions-fachmann – ich darf wiederum zitieren –:Ärzte haben in der Regel weder Einblick in dieGründe, die Menschen an gesundheitsförderlichemVerhalten hindern, noch verfügen sie über Interven-tionsmöglichkeiten, die Gründe zu überwinden.Professor Raimund Geene, Hochschule Magdeburg-Stendal, ergänzt:Präventive Beratung für junge Familien muss in ih-ren Lebenswelten ansetzen und durch diejenigen,die sich dort auskennen – z. B. Hebammen in denFamilien, Gesundheitsförderer in den Kitas undSchulen.Vernünftige Gesundheitsförderung und Präventionschauen auf die Gesundheit.Gesundheit ist in den Worten der Weltgesundheitsor-ganisation – das wissen Sie alle –ein Zustand des … körperlichen, geistigen und so-zialen Wohlbefindens und nicht nur die Abwesen-heit von Krankheit …Dieser notwendige Perspektivenwechsel fehlt hier voll-ständig.
Noch ein paar Worte zu dem Entwurf eines Gesetzeszu den Apothekennotdiensten. Die Linke begrüßt, dassdie bessere Finanzierung von Notdiensten endlich ange-packt wird. Dies leistet einen Beitrag zur Sicherung dermedizinischen Versorgung durch Apotheken vor allemin den ländlichen Regionen; der Minister hat das bereitsgesagt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013 29487
Dr. Martina Bunge
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Diese 16 Cent zahlen letztlich sowieso die gesetzlichenwie die privaten Krankenkassen. Warum können diesenicht gleich gemeinsam diese Summe Monat für Monatin den Topf abführen?
Auch in ordnungspolitischer Hinsicht macht es wenigSinn, die Notdienstvergütungen quasi an die Medika-mente zu hängen, die Menschen mit plötzlichen Be-schwerden brauchen. In die Situation, Medikamente zubenötigen, kann jede und jeder von uns in jedem Augen-blick geraten. Warum stellen Sie dann einen Zusammen-hang mit den Medikamenten her? Nacht- und Wochen-enddienste sind doch eine öffentliche Daseinsvorsorgefür alle Versicherten. Herr Minister, lassen Sie sich unse-ren Vorschlag, die Kassen direkt zahlen zu lassen, nocheinmal durch den Kopf gehen! Das ist bürokratieärmer.Angesichts des Anspruchs Ihrer Partei, Bürokratie abzu-bauen, stünde Ihnen das gut zu Gesicht.Insgesamt ist der Gesetzentwurf zu den Apotheken-notdiensten wenigstens ein Lichtblick, im Gegensatzzum Entwurf eines Präventionsgesetzes. Dieses Präven-tionsgesetz werden wir nie und nimmer kritik- und wi-derstandslos hinnehmen. Das kann ich Ihnen verspre-chen.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun dieKollegin Klein-Schmeink das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Der Minister hat gerade mit großen Wortenden Entwurf eines in unseren Augen sehr kleinen Geset-zes vorgelegt, eines Gesetzes, das eben schon zutreffendals Etikettenschwindel, sehr durchsichtiges Wahlkampf-manöver und Armutszeugnis bezeichnet wurde.
Schauen wir uns einmal genau an, was hier passiert. Sietun so, als würden Sie heute die Prävention im SGB Vneu erfinden. Das alles ist Quatsch; denn es gibt sieschon seit vielen Jahren. Wir haben in den letzten zwölfJahren mehrfach über die notwendige Weiterentwick-lung gesprochen. Was machen Sie? Sie stellen kleineSchräubchen neu, um verschiedensten Gruppen, die fürden Ausgang der Bundestagswahl bedeutsam sein wer-den, etwas vorzeigen zu können; darum geht es.
Wenn Sie es wirklich ernst gemeint hätten und derPrävention einen neuen Stellenwert hätten geben wollen,dann hätten Sie nicht drei Jahre lang einen Gesetzent-wurf angekündigt und ihn erst jetzt, drei Monate vorEnde der Legislaturperiode, quasi auf den letzten Me-tern, in den Bundestag eingebracht.
Sie sind weit entfernt von dem, was Sie selber im Ko-alitionsvertrag festgelegt haben. Sie wollten ohnehinnicht allzu viel machen, aber Sie wollten zumindest allesauf den Prüfstand stellen und bündeln. Dann haben Sieim Laufe des Diskussionsprozesses gesagt, dass Sie einePräventionsstrategie erarbeiten wollen. Richtig, daskönnten Sie tun. Sie kündigen sie seit drei Jahren an.Aber nichts ist passiert. Jetzt kommen Sie mit einemkleinen Gesetz daher, das mehrere große Webfehler hat.Der erste Fehler ist: Die Themenkomplexe „Armutund Gesundheit“ sowie „soziale Benachteiligung bei denGesundheitschancen“ bleiben vollständig ausgeklam-mert.
Dabei wissen wir, dass genau in diesen Bereichen dasgrößte Potenzial besteht, um mit Prävention und Ge-sundheitsförderung gegenzusteuern. Das ist der erstePunkt.
Zweiter Punkt. Sie sind weit von einem Gesamtansatzentfernt, mit dem Sie die Präventionsmöglichkeiten derverschiedenen Ressorts, der verschiedenen politischenEbenen, der vielen Organisationen der Zivilgesellschaft,der Ärzteschaft, des Sports und der Vereinigungen, diesich mit gesunder Ernährung beschäftigen, sowie vieleranderer mehr zusammenführen können. Sie sind weit da-von entfernt, mit diesen gemeinsam vor Ort regional ge-bündelte, vernünftige, zielgruppenbezogene und sehr ge-nau auf verschiedene Themenstellungen hin orientierteProgramme realisieren zu können.
Genau dieser Ansatz wurde ja schon in der Diskus-sion um das Kinderschutzgesetz verfolgt. Auch in die-sem Fall hat sich der Minister erfolgreich geweigert, sei-nen Anteil, den er als Gesundheitspolitiker zu dieser
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29488 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013
Maria Klein-Schmeink
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Da kann es doch nicht angehen, dass Sie die Hälfteder Mittel, die Sie dafür vorsehen wollen, der BZgA zu-weisen und diese dann im Auftrag des Spitzenverbandesder GKV dort tätig werden soll. Wie sollen wir uns dasvorstellen? Haben Sie keine Ahnung von kommunalerSelbstverwaltung? Haben Sie keine Ahnung von Länder-und Bundeszuständigkeit? Haben Sie keine Ahnung, wieeine Zivilgesellschaft eigentlich funktioniert? Ein voll-kommen verfehlter Ansatz!
Insofern muss man tatsächlich sagen: Sie geben mit180 Millionen Euro zusätzlich auf der einen Seite zu we-nig aus, auf der anderen Seite ist es aber gemessen andem, was Sie damit politisch umsetzen wollen, eigent-lich zu viel. Es ist ein verfehlter Gesamtansatz.
Weiterhin frage ich mich: Wie wollen Sie das denn ei-gentlich organisieren? Sie haben ja durchaus richtig er-kannt, dass Sie in den Lebenswelten tätig werden müs-sen. Nun haben Sie ein Problem: Mit wem wollen Siedas denn absprechen? Wie wollen Sie sicherstellen, dassdie Landesprogramme, die es bereits im Bereich der Ge-sundheitsförderung und Gesundheitsprävention gibt,sich mit Ihren Ansätzen zusammenführen lassen? Wiewollen Sie denn sicherstellen, dass der große Verbund„Gesundheitliche Chancengleicheit“ auch tatsächlichmit einbezogen werden kann?Es gibt 58 große Organisationen, die seit Jahr und Tagversuchen, in diesem Bereich gemeinsame, gebündelteAktionen durchzuführen. Was ihnen fehlt, ist Nachhal-tigkeit, ist eine dauerhafte finanzielle Basis, ist die Mög-lichkeit, alle Akteure, die dort zusammenkommen, zudiesem Verhalten und vor allen Dingen unsere verschie-denen Sozialleistungsträger zu gemeinschaftlichen Akti-onen zu verpflichten. Hierfür hätten Sie einen Ge-samtansatz finden müssen. Das konnten Sie nicht, weilder Minister viel zu spät auf den Trichter gekommen ist,dass man in diesem Bereich endlich tätig werden müsste.Das ist doch der Punkt.
Diesen Notstand hat die CDU genauso gesehen. Des-halb musste sie ja im letzten Jahr mit eigenen Eckpunk-ten Druck machen, damit überhaupt etwas passierte.Viele in Ihren Reihen wissen ja auch, dass der jetzigeAnsatz, mit dem lediglich versucht wird, über die Mitteldes SGB V ein klein wenig umzusteuern, verfehlt ist undso nicht funktionieren kann. Viele von Ihnen wissen dashaargenau.
Das hat doch zu diesem großen Dilemma geführt. Siewollen im Wahlkampf etwas vorweisen können. Sie wol-len sagen können: Ja, wir haben beim Thema Präventionetwas getan. – Aber im Kern machen Sie das Falsche. Sowerden wir diesen Gesetzentwurf auf keinen Fall mittra-gen können. Es ist ein Entwurf, der entweder grundle-gend überarbeitet werden müsste oder besser in den Pa-pierkorb geschoben werden sollte.
Nächster Redner ist der Kollege Jens Spahn für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
einem, Frau Klein-Schmeink, haben Sie recht: Es wurde
über Prävention auch hier im Deutschen Bundestag seit
15 Jahren viel geredet, aber wenig gemacht. Was Sie
doch am meisten wurmt – das wird ja in allen Ihren Re-
den deutlich –, ist, dass wir als christlich-liberale Koali-
tion über Prävention nicht nur reden; vielmehr haben wir
endlich ein Präventionsgesetz vorgelegt. Wir sorgen
ganz konkret für eine verbesserte präventive Gesund-
heitsförderung im deutschen Gesundheitswesen. Das ist
ein wichtiger Schritt nach vorne.
Lieber Kollege Spahn, möchten Sie gleich zu Beginn
Ihrer Rede eine Zwischenfrage beantworten?
Gerne.
Bitte schön, Frau Bender.
Werter Herr Kollege Spahn, Sie haben gesagt, seit15 Jahren werde in diesem Haus über Prävention nur ge-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013 29489
Birgitt Bender
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Das Problem aller bisherigen Ansätze – sie sind im
Übrigen auch in diesen Reden wieder deutlich geworden –
ist, dass die Spannbreite zwischen all den Sonntagsreden
und den tollen Zielen, die man da formuliert, und der
Absicht, den Bund – am liebsten auch Brüssel –, die
Kommunen, die Länder, alle Sozialversicherungsträger,
jede einzelne Stadt, jede kleine Kiezberatungsstelle in
ein Gesetz einzubinden, dazu geführt hat, dass Sie sich
immer, wenn Sie darüber gesprochen haben und wenn
Sie irgendetwas vorgeschlagen haben, an dieser Stelle
völlig verheddert haben. Sie sind im ganzen Gefüge des
Föderalismus untergegangen, weil Sie immer zu viel
wollten.
Wir sagen an dieser Stelle: Wir schaffen eine konkrete
und vernünftige Regelung. Wir setzen beim Sozialge-
setzbuch V, bei der gesetzlichen Krankenversicherung
an. Wir wollen lieber etwas, was am Ende auch funktio-
niert. Wir wollen nicht so überambitioniert starten, wie
Sie es in den früheren Debatten immer getan haben, um
am Ende ganz schlapp zu landen.
Was machen wir da genau? Das eine ist eine Verdrei-
fachung der für die Gesundheitsförderung in Deutsch-
land zur Verfügung stehenden Summe. Das ist übrigens
die Summe, die für die Primärprävention, also für die
allgemeine Gesundheitsaufklärung, zur Verfügung steht.
Natürlich betreiben Krankenkassen bei denjenigen, die
Diabetes, Bluthochdruck oder andere Erkrankungen ha-
ben, auch Prävention, damit diese Erkrankungen nicht
fortschreiten. Hier geht es aber vor allem um die grund-
sätzliche allgemeine Gesundheitsförderung in der Bevöl-
kerung.
Natürlich wollen wir die Menschen in ihrem Lebens-
umfeld erreichen, in den Betrieben, in den Kindergärten,
in den Schulen. Gesundheitsförderung soll Thema wer-
den, am besten in der Kantine bei gesundem Essen. Des-
wegen sollen die Krankenkassen mit den Partnern vor
Ort kooperieren. Über Einzelheiten der Gesundheitsför-
derung soll niemand aus Berlin und auch nicht die Bun-
deszentrale für gesundheitliche Aufklärung in Köln für
alle in Deutschland entscheiden; vielmehr soll Präven-
tion mit den Kooperationspartnern vor Ort betrieben
werden.
Wir wollen Qualitätsorientierung in der Prävention.
Wir haben heute das Problem, dass wir sehr oft eher
marketinggetriebene Aktionen erleben, bei denen es
etwa darum geht, einen Fitnessgutschein groß zu bewer-
ben. Damit werden am Ende aber nicht diejenigen er-
reicht, die wirklich eine präventive Gesundheitsförde-
rung brauchen, sondern eher diejenigen, die sich sowieso
schon bewegen wollten. Wir müssen weg von diesen in-
dividuellen Marketingansätzen, hin zu konkreten Ansät-
zen in den Betrieben, in den Schulen, in den Kindergär-
ten, um auch diejenigen Menschen zu erreichen, die bis
jetzt vielleicht nicht erreicht wurden.
Dazu gehören auch Angebote zu Vorsorge- und Früh-
erkennungsuntersuchungen. Wir haben hier im Deut-
schen Bundestag vor einigen Wochen das Krebsfrüh-
erkennungs- und Krebsregistergesetz beschlossen. Das
gehört für uns zusammen: Vorsorge, Früherkennung.
Wir wollen eine informierte Entscheidung der Bürgerin-
nen und Bürger, ob sie ein solches Angebot zur Vor-
sorge, zur Früherkennung annehmen. Wir wollen sie
nicht gängeln, wir wollen es ihnen nicht vorschreiben;
aber wir wollen sie darüber informieren. Wir wollen,
dass jeder angeschrieben wird. Wir wollen jedem das
Angebot machen, sich gesundheitsbewusst zu verhalten,
Vorsorge zu betreiben, Krankheiten früh zu erkennen.
Wir sind sehr sicher, dass die allermeisten Bürgerinnen
und Bürger mit dieser informierten Entscheidung sehr
gesundheitsbewusst umgehen werden.
Dazu kommen Gesundheitsziele, die wir erstmals
– auch das hat es bis jetzt noch nicht gegeben; auch das
ist ein großer Schritt nach vorne – verbindlich gesetzlich
festschreiben und damit zur Handlungsmaxime machen
werden, auch für die Krankenkassen. Das zielt etwa auf
die Bereiche Diabetes, Bluthochdruck, Brustkrebs und
auf die Frage: Wie bleibt man im Alter gesund? Das ist
angesichts des demografischen Wandels ein wichtiges
Thema. Die Bevölkerung in Deutschland wird kleiner,
und gleichzeitig werden die Menschen älter als früher.
Wir definieren ganz konkrete Gesundheitsziele und
schaffen einen Leitfaden für das Handeln der Kranken-
kassen und aller, die im Gesundheitswesen tätig sind.
Da können Sie von der Opposition sagen, das sei alles
zu wenig, es müsse mehr sein, es müsse größer sein, es
müsse mehr Geld sein. Das ist ja das, was Sie immer
gern tun: bei allem mehr Geld fordern. Was wir machen,
sind konkrete Maßnahmen: mehr Geld für Prävention
ausgeben, den Mindestwert verdreifachen, eine Quali-
tätsorientierung bei dem betreiben, was schon da ist, Ge-
sundheitsziele definieren, eine Stärkung bei den Vor-
sorge- und Früherkennungsuntersuchungen vornehmen.
Sie wissen genauso gut wie wir, dass das die richtigen
Maßnahmen sind. Man kann immer mehr wollen, aber,
ich finde, an dieser Stelle könnte man auch einmal aner-
kennen, dass wir hier konkrete gute Vorschläge machen,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
Kollege Spahn, eine bestimmte Fraktion möchteheute Ihre Redezeit gleich mehrfach verlängern.
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Herr Spahn, Sie haben gerade gesagt, dass Sie die Ak-
tivitäten verdoppeln und ausweiten wollen und dass das
ja nicht falsch sein kann. Das kann man erst einmal so
sehen. Wie erklären Sie dann, dass in den letzten Jahren,
in denen Sie hier die Regierung gestellt haben, das Volu-
men für Prävention massiv rückläufig war? Wir haben
2008 noch 340 Millionen Euro dafür ausgegeben, und
heute liegt das bei 270 Millionen. Wie erklären Sie sich
diesen Rückgang? Womit hat das zu tun? Kann man
nicht auch sagen, dass Sie die Bedeutung der Prävention
in den letzten Jahren deutlich unterschätzt haben?
Das kann man natürlich nicht sagen,
weil wir überall gesagt haben – ich bin noch beim Ant-worten; bleiben Sie bitte stehen –, wie wichtig Präven-tion und Gesundheitsförderung sind. Die Mindestsummevon gut 2 Euro pro Versicherten pro Kasse pro Jahr, dieeinmal festgeschrieben worden ist, verdreifachen wirfast; deswegen verstehe ich Ihre Kritik bezüglich derCentbeträge nicht. Gerade weil die Tendenz der Kassenist, im Zweifel nicht genug in Prävention zu investieren,sagen wir: Wir schreiben es euch gesetzlich vor. Wirschreiben euch vor, mindestens 6 Euro pro Versichertenpro Jahr in Prävention zu investieren. – Wir sagen auchganz klar: Ihr sollt es nicht in Marketingansätze und Gut-scheine investieren, sondern ihr sollt die Menschen inden Betrieben, in den Kindergärten, in den Schulen er-reichen. – Genau deswegen machen wir dieses Gesetz.Insofern war Ihre Frage eine gute Gelegenheit, dasnoch einmal ausdrücklich darzustellen, Frau KolleginKlein-Schmeink.
Das zweite Gesetz, das wir hier heute einbringen, istschon angesprochen worden. Darin geht es um den Apo-thekennotdienst. Wir müssen das in einer Gesamtschausehen. Was haben wir mit dem Versorgungsstrukturge-setz begonnen? Dabei ging es vor allem um die flächen-deckende Versorgung im ländlichen Raum mit Ärzten– ein Thema, das viele Menschen in Deutschland – ichselbst komme aus dem Münsterland; das gilt hier, aberauch in anderen Regionen – im Moment sehr bewegt.Sie fragen nämlich: Ist dann, wenn ein Hausarzt aufhört,noch ein Nachfolger da?Wir müssen natürlich auch schauen: Wie sieht es inden anderen Gesundheitsberufen aus? Hier nehmen wirdie Apotheker mit in den Blick, weil im ländlichenRaum, aber übrigens auch in manchen Stadtteilen inBerlin oder in München oder anderswo wenige Apothe-kerschultern den Notdienst tragen müssen, die Apothe-ker also relativ häufig nachts und am Wochenende mitdem Notdienst dran sind, häufiger jedenfalls als in derStadt allgemein. Das wollen wir finanziell honorieren.Wir werden im Gesetzgebungsprozess das, was wirhier eingebracht haben, noch ergänzen, und zwar um Re-gelungen zur Krankenhausfinanzierung, um auch inso-fern eine flächendeckende Versorgung sicherzustellen.Das heißt, das, was wir mit dem Versorgungsstrukturge-setz begonnen haben, setzen wir mit den Regelungen zuden Apothekern, Krankenhäusern und anderen Berei-chen fort, weil wir eine flächendeckende Versorgung fürdie Menschen wollen, nicht nur Spitzenmedizin in dengroßen Städten, sondern auch ein breites Angebot imländlichen Raum. Dafür ist das vorgelegte Gesetz einwichtiger weiterer Schritt.
Etwas überrascht, Herr Kollege Lauterbach, bin ichdavon, dass Sie das Gesetz eine Verbeugung vor denApothekern nennen.
Ich finde, das, was Sie hier betreiben, ist, ehrlich gesagt,ein Stück weit Hohn. Wir wissen jedenfalls, dass wireine flächendeckende Versorgung der Menschen inDeutschland, eine gute gesundheitliche Versorgung derMenschen in Deutschland nur mit den Ärzten, nur mitden Apothekern, nur mit den Pflegekräften, nur mit den-jenigen hinbekommen, die im Gesundheitswesen tätigsind, und nicht gegen sie.
Was Sie hier rhetorisch immer machen: Sie bauen Ge-gensätze auf zwischen Patienten auf der einen Seite undÄrzten, Apothekern und anderen, die im Gesundheitswe-sen tätig sind, auf der anderen Seite. Wir sehen da keineGegensätze. Es geht um die Zusammenarbeit. Die Men-schen vertrauen ja zu Recht ihrem Arzt, ihrem Apothe-ker, ihrer Hebamme, ihrem Physiotherapeuten, denjeni-gen, die sie behandeln. Deswegen wollen wir geradediese im ländlichen Raum stärken.
Ich will einmal das in einer Gesamtschau betrachten,was wir in den letzten dreieinhalb Jahren gesundheitspo-litisch gemacht haben, und das einordnen, was wir tun.
Denn Sie fragen ja: Warum jetzt?Wir haben zuerst gesagt: Wir wollen in der gesetzli-chen Krankenversicherung eine solide finanzielle Basisherstellen. Denn wir sind gestartet mit einem drohendengroßen Defizit, das uns bevorstand. Wir haben es mitSparmaßnahmen, mit einer Erhöhung des Beitrags, abervor allem durch die gute wirtschaftliche Entwicklung, zuder auch Politik beigetragen hat, hinbekommen, dass wirheute eine solide finanzielle Basis in der gesetzlichen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013 29491
Jens Spahn
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Angelika Graf ist die nächste Rednerin für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichmöchte zunächst etwas richtigstellen, Herr Lanfermann– die Kollegin Klein-Schmeink hat das ja auch schon an-gesprochen –: Es hat sehr wohl – ich bitte Sie, doch ein-mal in die Dokumente des Bundestages zu schauen – ei-nen Gesetzentwurf von Rot-Grün gegeben; der wurde imBundesrat unter anderem auch mit Ihrer Mithilfe ge-stoppt. Und es hat eine zweite Anstrengung vonseitender SPD gegeben – die leider in der Großen Koalitiongescheitert ist –, einen Gesetzentwurf vorzulegen.
Also, bitte schön, stellen Sie keine so dreisten Behaup-tungen auf!
Dieser zweite Gesetzentwurf ist übrigens daran ge-scheitert, dass unser damaliger Koalitionspartner, Ihr jet-ziger Koalitionspartner, einen solchen Gesetzentwurfnicht wollte.
Wir haben hier schon jahrelang auf Maßnahmen derRegierung im Bereich der Prävention gewartet. Ichdenke, das Warten hat sich definitiv nicht gelohnt. Siehaben erst drei Jahre lang die Vorlage eines Präventions-gesetzes abgelehnt, Herr Minister – alle Anträge dazuwurden im Bundestag ebenfalls abgelehnt –, und manhat drei Jahre lang wolkig über eine Präventionsstrategiegesprochen. Jetzt, wo die Diskontinuität in Reichweiteist, wo es zu spät für einen solchen Gesetzentwurf ist, dalegen Sie einen solchen Rohrkrepierer vor.
Ich denke, der Entwurf hat nur einen Zweck – HerrLauterbach hat es auch schon angesprochen –: Er ist einFeigenblatt für Ihren Wahlkampf. Und, bitte schön, esliegt nicht an uns, dass die Zeit so knapp ist, sondern esliegt an Ihnen.
Wie so oft bei Ihnen, gibt es dazu ein nahezu leeres Glas– das ist schon angesprochen worden – mit einem irre-führenden Etikett darauf. Das haben diejenigen, die imBereich der Prävention arbeiten und dort gut arbeitenund die erwartet haben, dass die Regierung vernünftigtätig wird, nicht verdient.Wir haben Ihnen in unseren Anträgen vor zwei Jahrenaufgeschrieben, was ein vernünftiges Präventionsgesetzbeinhalten muss. Auf zwei Hauptprobleme möchte ichheute eingehen; es sind übrigens Hauptprobleme, diealle Oppositionsparteien gleichermaßen so identifiziert
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29492 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013
Angelika Graf
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Der Gesetzentwurf ist Murks, wie auch Ihre Regierungs-bilanz im Gesundheitsbereich in den letzten Jahren.Problem eins: Wie erreichen wir Menschen, die bis-her kaum an Maßnahmen zur Prävention und Gesund-heitsförderung teilgenommen haben? Der sogenannteSetting-Ansatz, der die Menschen in ihrem Lebensum-feld abholt, wird bislang vollkommen unzureichend ver-folgt.
– Sie können sich darauf verlassen, ich habe den Gesetz-entwurf gelesen.Wir wollten mit unserem Antrag diesen Ansatz maß-geblich stärken, die begrenzten Mittel auf diesen Ansatzkonzentrieren. Und was wollen Sie in Ihrem Gesetzent-wurf? Sie wollen 1 Euro pro Versicherten in den Bereichgenerelles Setting geben. Und die Kassen sollen nocheinmal die Hälfte dieser Mittel der BZgA zur Verfügungstellen.
Sie belassen es damit dabei, dass der Großteil der Kas-senausgaben für die Prävention in wenig effektive indi-viduelle Präventionsmaßnahmen gesteckt wird, obwohlwir wissen, dass wir damit vor allem diejenigen errei-chen, die, wie gesagt, sowieso schon etwas tun. Wennman diesen Ansatz in Richtung nicht individuelle Prä-ventionsmaßnahme verfolgen will, geht das nur mithilfeder Kommunen, der Länder und der Player vor Ort.Vor diesem Hintergrund würden Sie mit diesem Ge-setzentwurf wohl ein zweites Problem schaffen. Mit derBundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung habenSie sich meiner Ansicht nach nicht den besten Akteur imBereich des Setting ausgesucht.
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung– damit wir uns nicht falsch verstehen – macht eine her-vorragende Arbeit im Bereich der Aufklärung. Deswe-gen heißt sie ja auch so. Aber für den Bereich der Le-benswelten, in der konkreten Arbeit mit bildungs- undeinkommensschwachen Menschen gibt es bessere Ko-operationspartner. Schauen Sie sich einmal die Stellung-nahme der Caritas an, die Sie sicher auch bekommen ha-ben!
Der Gesetzentwurf wird also nichts daran ändern, dassdiejenigen, die am stärksten von Präventionsmaßnahmenprofitieren könnten, am wenigsten erreicht werden. EinBeispiel hierfür ist die alleinerziehende, psychisch labilearbeitslose Mutter.Auch das zweite Problem, die Projektitis in der Prä-vention, wird mit diesem Gesetzentwurf nicht gestoppt.Kaum ein Programm oder Projekt hat eine längere Lauf-zeit als 18 Monate. Modellruinen, wohin man sieht. Da-ran ändert auch Ihr Gesetzentwurf nichts.
Wer soll denn die Qualität der Präventionsmaßnah-men systematisch überprüfen und gewährleisten? Wersorgt für ein Ineinandergreifen der Programme? Wie sollNachhaltigkeit gesichert werden? Auf all diese Fragengibt dieser Entwurf definitiv keine Antwort. Die Stän-dige Präventionskonferenz, die alle vier Jahre einen Be-richt schreiben soll, wird daran auch nichts ändern.
Es ist keine Überraschung, dass sich die privatenKrankenversicherungen mit Ihrem Gesetzentwurf weiteraus dem Staub machen können. Gönnerisch weisen Sieim Entwurf lediglich darauf hin, dass die PKV die Prä-vention fördern kann, es aber nicht muss. Ihre Versicher-ten werden eventuell von den Maßnahmen profitieren.Die private Kasse wird aber nicht gezwungen, dort ein-zuzahlen.Prävention und Gesundheitsförderung sind eine ge-samtgesellschaftliche Aufgabe. Es müssen sich alle,auch finanziell, an diesem Gesamtprojekt beteiligen.
Deswegen möchte ich in der letzten Minute kurz denBlick darauf lenken, was Sie denn eigentlich in den letz-ten drei Jahren zur Verbesserung der Prävention konkretgemacht haben. Das kann man am besten am Etat fest-stellen.Ich habe mir den Haushalt dazu angeschaut. Sie ha-ben die Haushaltsmittel im Bereich Prävention für dasJahr 2011 um 2 Prozent gekürzt und für das Jahr 2012noch einmal um rund 9 Prozent. Die Mittel für For-schungs- und Entwicklungsvorhaben zur Bekämpfungvon Aids und anderen sexuell übertragbaren Krankhei-ten sind für 2011 um 25 Prozent gekürzt worden. DieMittel für nationale Aufklärungsmaßnahmen zu sexuellübertragbaren Krankheiten kürzte die Koalition für 2012um knapp 10 Prozent. Der Aktionsplan für Ernährung
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013 29493
Angelika Graf
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Täuschen Sie sich nicht: Die Menschen werden sehrgenau auf das Präventionsgesetz und das, was Sie im Be-reich der Prävention gemacht haben, schauen. Die Bür-gerinnen und Bürger und die Wählerinnen und Wählersind nicht dumm. Sie sehen, dass Sie die Mittel auf dereinen Seite gekürzt haben, sich aber auf der anderenSeite jetzt mit einem Feigenblatt in Form des Präven-tionsgesetzes bedecken wollen. Das wird durchschautwerden. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen bei derWahl.
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Erwin
Lotter das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Werte Kollegen von der So-zialdemokratie, bevor Sie hier unterstellen, der Ministerwürde die Unwahrheit darüber sagen, wie Sie sich zuden Apotheken positionieren, empfehle ich Ihnen, denLeitantrag Ihres eigenen Parteivorstandes zur Gesund-heitspolitik zu lesen, wo es wörtlich heißt:Den Arzneimittelvertrieb werden wir liberalisieren,um Preisvorteile von größeren Vertriebsstrukturenzu erreichen.
Sie sollten vielleicht auch lesen, wie sich Ihr Kanzler-kandidat geäußert hat. In einem Brief an die Landesapo-thekerkammer Rheinland-Pfalz spricht er sich nämlichausdrücklich für den Versandhandel aus.Überhaupt ist ja die Abstimmung über das Präven-tionsgesetz für die Opposition die Stunde der Wahrheit.Viele Jahre haben wir miterlebt, wie SPD und Bünd-nis 90/Die Grünen lautstark ein solches Gesetz geforderthaben: Das umfangreiche Präventionsangebot, das wir inDeutschland seit Jahrzehnten entwickelt haben, genügenicht. Die Prävention stehe nicht im politischen Fokus.Die bestehenden Maßnahmen seien unkoordiniert.Nicht, dass etwa die Sozialdemokraten, die erst mitden Grünen und dann mit der CDU/CSU elf Jahre langan der Regierung waren, tatsächlich etwas unternommenhätten; es ist vielmehr die schwarz-gelbe Bundesregie-rung, die nach umfangreichen Vorarbeiten endlich einenGesetzentwurf vorlegt, der umfassend und zukunftsge-richtet ist.
Und was hören wir von SPD und Grünen? Zu wenig,zu spät, zu bürokratisch. Überhaupt hätten Sie alles bes-ser gemacht. Ganz offen drohen Sie, meine Damen undHerren von der Opposition, das Gesetz im Bundesratscheitern zu lassen.Ich möchte Ihnen in aller Deutlichkeit sagen: Daswäre ein Affront gegen die zahlreichen Verbände, gegendie Vertreter der medizinischen Berufe, gegen die Kran-kenkassen und gegen die Bundeszentrale für gesundheit-liche Aufklärung.
– Und gegen die Menschen. – Denn all diese Institutio-nen haben dazu beigetragen, den aktuellen Gesetzent-wurf zu schaffen. All diese Institutionen erwarten, dassnun das lange erwartete Präventionsgesetz endlich ver-abschiedet wird. Dieses Gesetz, meine Damen und Her-ren, ist nicht im luftleeren Raum entstanden, sondern mitUnterstützung einer Vielzahl von Akteuren aus dem Ge-sundheitswesen.
Ihnen allen schulden wir Politiker, endlich tätig zu wer-den.
Ich denke, dass der vorliegende Entwurf wichtig ist,um das Bewusstsein in der Bevölkerung für gesundheits-förderndes Verhalten zu stärken. Es sind nicht nur dieKrankenkassen und Ärzte angesprochen, die sich bemü-hen, auf die Menschen zuzugehen, um bereits im Vorfelddie Zahl insbesondere chronischer Krankheiten zu sen-ken. Auch jeder Einzelne selbst ist gefordert, sich Ge-danken über sein persönliches Verhalten zu machen. Dieentscheidende Frage ist und bleibt: Wie können wir je-den Einzelnen tatsächlich erreichen? – Es reicht dochnicht, die Fahrradwege zu verbreitern; ich muss dieMenschen aufs Fahrrad bekommen.
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29494 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013
Dr. Erwin Lotter
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Dies beginnt bei der Ernährungsberatung und hört beiUntersuchungen zur Früherkennung nicht auf. DieseStrategie wird umso effektiver, wenn sie mit Anreizen,mit Boni verbunden wird, die die präventiven Maßnah-men ihrem Wesen nach begleiten.All die relevanten Lebenswelten zu identifizieren undmiteinander zu verzahnen – dies ist die Aufgabe des Prä-ventionsgesetzes. Natürlich werden wir die Ergebnissenicht sofort, in zwei oder drei Jahren, sehen können; dieReduktion von Krankheiten ist erst nach Jahrzehntenmessbar. Der Gesetzentwurf verfolgt einen langfristigenAnsatz. Diese Nachhaltigkeit ist Kern und Zielvorstel-lung liberaler Gesundheitspolitik.
Meine Damen und Herren, wir wollen nichts unver-sucht lassen, um die Menschen vor vermeidbaren Krank-heiten zu bewahren. Damit werden langfristig auchKrankheitskosten reduziert – im Interesse der finanziel-len Stabilisierung des Gesundheitswesens. Hiermit müs-sen wir jetzt anfangen, nicht erst übermorgen. Ich appel-liere daher ausdrücklich an die Opposition, demPräventionsgesetz zuzustimmen und nicht unnötig Zeitverstreichen zu lassen – im Interesse der Gesundheit un-serer Bürger.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das war voraus-sichtlich meine letzte Rede hier an dieser Stelle, weil ichaus gesundheitlichen Gründen nicht mehr für den Deut-schen Bundestag kandidieren werde. Ich möchte mich andieser Stelle ganz herzlich für die gute Zusammenarbeitmit den gesundheitspolitischen Sprechern aller Fraktio-nen bedanken.
Man erlebt als Parlamentarier nicht unbedingt immernur Glücksmomente. Aber es gab Momente, in denenman jenseits der parlamentarischen Rituale und des Auf-einander-Eindreschens doch bei allen Kollegen das Rin-gen um die beste Lösung gespürt hat. Es gab auch Mo-mente, in denen man das Gefühl hatte: Ja, diemenschliche Basis stimmt. Da möchte ich mich – daswird Sie jetzt vielleicht wundern – stellvertretend für alleanderen beim Kollegen Lauterbach bedanken, weil ichihn trotz der politischen Meinungsverschiedenheiten, diewir haben, immer als sehr kollegial empfunden habe undweil er in menschlicher Hinsicht hochanständig war ge-rade in dem Moment, als ich krank geworden bin. Dafürherzlichen Dank. Ich wünsche mir und dem nächstenDeutschen Bundestag, dass dieser menschliche Aspekterhalten bleibt.Vielen Dank.
Lieber Kollege Lotter, ich möchte den Dank, den Sie
gerade insbesondere an Ihre Kolleginnen und Kollegen
aus dem Bereich der Gesundheitspolitik ausgesprochen
haben, im Namen des ganzen Hauses gerne zurückge-
ben. Die allermeisten von uns haben mit großem Res-
pekt registriert, unter welchen erschwerten Bedingungen
Sie Ihr Mandat in den letzten Monaten wahrgenommen
haben. Deswegen gilt Ihnen unser Dank und Respekt mit
allen guten Wünschen für die Zeit nach Ende dieser Le-
gislaturperiode.
Birgitt Bender erhält nun das Wort für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Kollege Lotter, ich möchte die Gelegenheit nut-zen, mich den Worten des Präsidenten anzuschließen.
Ich wünsche Ihnen alles Gute für die Zeit nach der Ar-beit im Parlament.Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu-rück zur Sache. Der zweite Gesetzentwurf, den wir heuteberaten, heißt „Apothekennotdienstsicherstellungsge-setz“. Sichergestellt wird da aber gar nichts. Es gibt120 Millionen Euro mehr für die Apothekerinnen undApotheker – das wird sie gewiss freuen, und es sei ihnenauch gegönnt –, aber die Belastung für die Apothekenbleibt die gleiche. Die Wege für die Patienten und Pa-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013 29495
Birgitt Bender
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Man müsste sich dafür interessieren, wie die Struktu-ren verbessert werden könnten, wie man die Notdienst-bezirke neu zuschneiden kann,
wie man die ärztliche Notfallversorgung und den apothe-kerischen Notdienst besser aufeinander abstimmen kann.
Das würde Apotheker und Apothekerinnen entlasten.
Es würde für die Patientinnen und Patienten wenigerlange Wege mit sich bringen und damit eine Verbesse-rung der gesundheitlichen Versorgung bedeuten.Aber den Minister interessiert das alles leider garnicht. Das Einzige, was Sie wollen, ist: Ruhe an derApothekerfront vor der Wahl. Ja, Sie werden von derApothekerlobby Zuspruch bekommen, aber ich sage Ih-nen: Die Apotheker und Apothekerinnen an der Basiswerden weiterhin unzufrieden sein, auch wenn sie dasGeld begrüßen. Es ist gut, dass es wenigstens innerhalbder Apothekerschaft eine neue Diskussion darüber gibt,welches Leitbild in Zukunft für Apothekerinnen undApotheker gelten soll. Ich hoffe, dass da auch dieseStrukturfragen eine wichtige Rolle spielen werden.
In einem Kommentar in der Deutschen ApothekerZeitung heißt es, es stehe ein Umbruch bevor hin zu an-deren Dienstleistungen, der ähnlich tiefgreifend seinwerde wie der Wandel vom Hersteller zum Verkäufervon Arzneimitteln: Nicht mehr das Arzneimittel, son-dern die Patienten und Patientinnen sollten im Mittel-punkt stehen. – Das können wir als Grüne nur unterstüt-zen.Mehr Patientenorientierung würde im Übrigen auchheißen: mehr Zusammenarbeit zwischen den verschiede-nen Gesundheitsberufen. Ich hoffe sehr, dass sich auchÄrztinnen und Ärzte solchen Kooperationen – Stichwort„Medikamentenmanagement“ – öffnen. Wir werden dasunterstützen.
In der Anhörung werden wir nicht zuletzt thematisie-ren, welch hoher bürokratischer Aufwand mit Ihrem an-geblichen Sicherstellungsgesetz verbunden ist. Überzeu-gende Reformvorschläge sehen anders aus.
Stefanie Vogelsang ist die nächste Rednerin für die
CDU/CSU-Fraktion.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit Novem-ber 2009 findet vor jeder wichtigen Landtagswahl allezwei bis drei Monate eine Debatte über das Gesundheits-wesen in unserer Republik statt, häufig unterlegt mit An-trägen der Linken, der SPD oder der Grünen, in denenimmer von einer katastrophalen Versorgungssituationund dem Untergang der Gesundheitsversorgung in derBundesrepublik Deutschland die Rede ist.Am Anfang ging es um die finanzielle Situation dergesetzlichen Krankenversicherung: Die gesetzlicheKrankenversicherung geht pleite; wir bekommen diesesund jenes nicht gelöst. Ich erinnere mich an überbor-dende Debatten, die wir hier geführt haben, und an sehrmassive Anschuldigungen von Ihrer Seite. Die Koalitionhat das Gesetz zur wirtschaftlichen Sicherung der Kran-kenkassen, zur Regelung der gesetzlichen Krankenversi-cherung, das GKV-Finanzierungsgesetz, verabschiedet.Heute spricht kaum jemand mehr über dieses Thema.Ein zweiter Bereich, in dem es immer wieder massiveAngriffe gibt: die Pharmaindustrie. Es wird behauptet,die Pharmaindustrie würde sich das Geld der gesetzli-chen Krankenkassen in die Tasche stecken, wir hätteneine überbordende Finanzierung im Pharmabereich, wirhätten eine viel zu starke Finanzierung in diesem Be-reich. Wir haben das Arzneimittelmarktneuordnungsge-setz verabschiedet.
Vor Landtagswahlen haben Sie behauptet, dass wirdie flächendeckende Versorgung der Bevölkerung nichtsicherstellen könnten.
Wir haben uns mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetzdarum gekümmert. Immer wieder wurde auch behauptet,dass der Bereich Prävention nicht thematisiert werde.
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29496 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013
Stefanie Vogelsang
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Das ist eine ganz enorme Leistung unserer Gesell-schaft. Ich finde, das ist es wert, deutlich gemacht zuwerden. Das sollte man immer wieder sagen. Selbstver-ständlich entwickeln sich die Dinge. Selbstverständlichgibt es an der einen oder anderen Stelle Justierungsbe-darf. Darum kümmern wir uns intensiv. Im Großen undGanzen hat das, was Sie hier vorgetragen haben, abernicht gestimmt. Die Menschen empfinden die Situationim Großen und Ganzen auch so. Die Bürgerinnen undBürger wissen das, sie sehen das.Frau Volkmer, Sie haben in Ihrer Rede formuliert – –
– Entschuldigung, Sie haben recht. Ich meine FrauBunge.
– Ja. Frau Graf, zu Ihnen komme ich gleich auch noch.Aber jetzt ist erst einmal Frau Bunge dran. – FrauBunge, Sie haben in Ihrer Rede gesagt, dass Sie an demjetzt vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Förderungder Prävention nichts gut finden außer der Überschrift.Ich möchte ganz klar sagen: Ich finde, dass der Inhalt ei-nen riesengroßen Schritt darstellt. Ich werde gleich aufdie Details eingehen. Das Einzige, was ich persönlichnicht so gelungen und gut finde, weil ich es langweiligund bürokratisch finde, ist die Überschrift.
– Vielleicht haben Sie Experten zitiert, weil Sie nichtsEigenes zu sagen hatten. Ich kann das nicht so genau be-urteilen, Frau Kollegin.
Herr Lauterbach hat vorgetragen, dass er es als sehrschlimm erachtet, dass wir ein nationales Gesetz vorge-legt haben. Ich glaube, Sie wollten ausdrücken, dass wirein zentrales Gesetz formuliert haben.
Das wäre jedenfalls stimmig mit der Kritik, die Sie for-muliert haben. Aber genau das ist es ja nicht; das sehenSie, wenn Sie in den Gesetzentwurf schauen.In diesem Gesetzentwurf werden das erste Mal imDeutschen Bundestag nationale Gesundheitsziele festge-schrieben. Es ist das erste Mal, dass sich das deutscheParlament damit beschäftigt. Dabei geht es nicht um dieProjekte A, B und C einer Kommune. Wir alle wissen,dass wir eine breite Projektlandschaft haben. Diese Pro-jektlandschaft wollen wir aber nicht einfach nur vor sichhinwirken lassen. Vielmehr haben wir gesagt: Wir müs-sen die Kräfte, die wir in unserer Republik haben, im In-teresse der Menschen, die in Deutschland leben, bündelnund auf bestimmte Ziele ausrichten. Deswegen bin ichsehr froh darüber, dass wir bei dieser nationalen Zielfest-legung fünf, sechs konkrete Ziele im Gesetzentwurfbenannt haben und im Bereich der gesetzlichen Kran-kenversicherung einen verpflichtenden Orientierungs-rahmen formulieren.
Ich würde mich sehr darüber freuen, wenn sich die pri-vaten Krankenversicherungen im Rahmen ihrer Arbeitdiesen Zielen bei der Förderung und Finanzierung an-schließen würden.Ich glaube, dass wir uns in unserem Land ganz inten-siv mit diesen Themen beschäftigen und in den Städten,in den Gemeinden, in den Landkreisen darüber diskutie-ren müssen. Wir müssen diese Ziele wirklich als natio-nale Ziele begreifen. In den Schulen oder aber auch inanderen Bereichen, zum Beispiel in Settings, wo Men-schen mit einem relativ niedrigen Bildungsstand viel-leicht eine besonders intensive Versorgung und Aufklä-rung brauchen, könnten wir – unterstützt durch diegesetzliche Krankenversicherung oder die Bundeszent-rale für gesundheitliche Aufklärung – daran arbeiten undgroße Fortschritte machen.Ich denke, dass wir durch die Qualitätssicherung, dieQualitätsprüfung und durch den Orientierungsrahmen inder gesetzlichen Krankenversicherung davon abkommenwerden, dass zum Beispiel der Besuch einer Muckibudefür einen 20-jährigen jungen kräftigen Mann bezahltwird. Das alles sind schöne Leistungen, und junge kräf-tige Männer sollten ruhig auch in ein Bodybuilding-Stu-dio gehen – ich habe überhaupt nichts dagegen –,
aber es muss ja nicht auf Kosten der gesetzlichen Kran-kenversicherung geschehen. Deswegen, denke ich, ist esrichtig, dass wir diese Qualitätsprüfung, diese Qualitäts-sicherung haben. Dadurch wird gewährleistet, dassdurch die gesetzliche Krankenversicherung nur solcheMaßnahmen finanziert werden, die auch den nationalenZielen, die wir formuliert haben, entsprechen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013 29497
Stefanie Vogelsang
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Mit Freude habe ich vernommen, wie viel Angst Sievor der SPD haben,
weil die SPD bei den Apothekern viel an Boden gewon-nen und Sie bei den Apothekern viel an Boden verlorenhaben.
Aus diesem Grunde betreiben Sie hier billigste Wahl-kampfrhetorik.
Schauen Sie in unser Regierungsprogramm! Da stehtkein Wort von Fremdbesitz und Mehrbesitz.
Jetzt werde ich die Gelegenheit nutzen, unsere Mei-nung zum Apothekennotdienstsicherstellungsgesetz dar-zustellen. Wir haben schon immer gesagt, dass die Fi-nanzierung des Apothekennotdienstes nicht sachgerechtund ungerecht ist, weil sie einzig und allein an die Inan-spruchnahme des Notdienstes gebunden ist. Da liegt esauf der Hand, dass eine Apotheke in einem struktur-schwachen Raum schlechter bezahlt wird als eine Apo-theke in einem Ballungsgebiet. Hier muss es eine Ände-rung geben. Aber was haben Sie vorgelegt? Es bleibt ersteinmal bei dem Betrag von 2,50 Euro für die Inan-spruchnahme; an dieser Ungerechtigkeit wird nichts ge-ändert. Obendrauf kommt nun eine Pauschale. Sie ist– mit Ihren Worten – „eine Anerkennung für die Leistun-gen der Apotheker für die Allgemeinheit im Notdienst“.Ja, das ist doch keine sachgerechte Finanzierung! Das isteine kleine Anerkennungsprämie.Wie bringen Sie das Geld dafür auf? Die 120 Millio-nen Euro sollen aufgebracht werden durch einen Zu-schlag auf alle verschreibungspflichtigen Medikamente,die von der Apotheke abgegeben werden. Es stellen sichviele Fragen, warum man das so macht. Man kann allge-mein sagen: Sie haben das gut gemeint. Aber das, washerausgekommen ist, ist Murks.
Das liegt sicherlich auch daran, dass Sie zuerst viel zulange gewartet haben. Jetzt, im Wahlkampf, kurz vor To-resschluss, möchten Sie etwas vorweisen können.
Um die Fristen einhalten zu können, wird alles übersKnie gebrochen. Sie haben den Verbänden und dem Na-tionalen Normenkontrollrat für ihre Stellungnahmenganze zwei Tage Zeit eingeräumt. Dass Sie sich selbstauf diese Weise der Möglichkeit eines unabhängigenFeedbacks berauben, ist Ihnen doch hoffentlich bewusst.Wir haben begründete Zweifel, dass der DeutscheApothekerverband die richtige Instanz für das Manage-ment des Fonds ist. Außerdem muss ja mindestens eineneue Stelle im Bundesgesundheitsministerium geschaf-fen werden, um diese Arbeit zu überwachen. Auch derNormenkontrollrat kritisiert den von Ihnen gewähltenAnsatz. Aufwand und Kosten sind zu hoch, und Sie ha-
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29498 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013
Dr. Marlies Volkmer
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Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Dietrich Monstadt für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Meine Damen und Herren! Wir als Regierungs-koalition legen heute zwei Gesetzentwürfe vor, diedringliche Probleme angehen und durch politische Steu-erung die Lebenswirklichkeit der Menschen aufgreifenund entscheidend verbessern sollen.Im Rahmen dieser Debatte wurden schon sehr vielerichtige Dinge angesprochen. Von herausragender Be-deutung bei der Befassung mit dem Ansatz der Präven-tion und diesem Präventionsgesetz ist die Vermeidungchronischer Erkrankungen und für mich persönlich dasThema Diabetes mellitus. Als selbst Betroffener, alsTyp-2-Diabetiker, verfolge ich die Entwicklung der Zahlder an Diabetes Erkrankten und der Neuerkrankungenseit langem mit großer Sorge. Auch die Wissenschaft be-stätigt Erschreckendes: Tendenz steigend, gerade auchbei jungen Menschen.In Deutschland leben circa 7,5 Millionen Menschen,die an Diabetes erkrankt sind, also circa 10 Prozent derBevölkerung, davon 90 Prozent mit dem vermeidbarenTyp 2. Etwa 3 Millionen wissen noch nicht von ihrer Er-krankung. Jeder vierte Bewohner in Pflegeheimen hatDiabetes. Bis 2020 wird eine Verdoppelung der Anzahlerkrankter Kinder unter fünf Jahren mit Typ-1-Diabeteserwartet. Die Ursache bei dem häufigen Typ 2 sind fami-liäre Veranlagung, zu wenig Bewegung, Übergewicht.Auch Rauchen verdoppelt das Diabetesrisiko.Nicht nur dass die Menschen unter ihrer Erkrankungleiden, auch der Kostenfaktor für die sozialen Siche-rungssysteme ist hoch. Allein im Jahre 2009 verursach-ten Diabeteserkrankungen Kosten von circa 48 Milliar-den Euro.Jeden Tag gibt es rund 100 Neuerkrankungen inDeutschland. Meine Damen und Herren, ich übertreibenicht, wenn ich sage: Auf Deutschland bewegt sich imHinblick auf die gesundheitspolitischen Auswirkungenein Tsunami zu.
Der übergeordnete Ansatz der Prävention gibt hier dieMöglichkeit, gegenzusteuern.
Die Ursachen von Diabetes und anderen Erkrankungensind ebenso wenig krankheitsspezifisch, wie ihre Vor-beugemaßnahmen es sein dürfen. Zu wenig Sport, Über-gewicht, Rauchen und falsche Ernährung lösen genausoHerz-Kreislauf-Erkrankungen aus, wie sie Diabetes ver-ursachen.Was tun wir konkret, um Präventionsansätze im All-gemeinen wie im Speziellen zu stärken? Wir nehmeneine zielgerichtete Ausgestaltung der Leistungen derKrankenkassen zur primären Prävention und Früherken-nung sowie zum Aufbau gesundheitsfördernder Verhal-tensweisen vor. Die Reduktion von Diabetes Typ 1 und 2wird als konkretes Ziel ins Sozialgesetzbuch aufgenom-men. Beim Bundesministerium für Gesundheit wird eineständige Präventionskonferenz eingerichtet. Die Check-up-35-Untersuchungen werden auf bevölkerungsmedizi-nisch relevante Krankheiten umgestellt. Wir stärken diebetrieblichen Leistungen zur Gesundheitsförderung. Ins-gesamt werden 35 Millionen Euro zusätzlich für die Ver-sorgung der Versicherten zur Verfügung gestellt. Daskommt gerade jungen Menschen zugute. Wir sind hiersicher noch nicht am Ziel, aber schon auf einem sehr gu-ten Weg.Erlauben Sie mir, als Abgeordneter eines ländlichenund eher schwach strukturierten Wahlkreises auf einweiteres wichtiges Thema dieses Gesetzespaketes einzu-gehen. Das Apothekennotdienstsicherstellungsgesetzhalte ich für die Region, die ich vertrete, für ausgespro-chen wichtig.
Ein Apotheker in Deutschland ist generell verpflichtet,Not- und Nachtdienste wahrzunehmen, um die Versor-gung der Bevölkerung mit Medikamenten außerhalb nor-maler Geschäftszeiten zu gewährleisten. Wie viele Not-und Nachtdienste ein Apotheker übernehmen muss, legtseine Kammer je nach Bedarf in den Verwaltungsgebie-ten fest. In meinem Wahlkreis im Westen Mecklenburg-Vorpommerns ist die Zahl der Apotheken vergleichs-weise gering. Hier sind deutlich weniger Menschen zuversorgen. So muss beispielsweise eine Apotheke in Ha-genow und Wittenburg einmal pro Woche einen 24-Stun-den-Notdienst anbieten, da es in diesem Verwaltungsge-biet nur sieben Apotheken gibt, die für den Notdienst zurVerfügung stehen. In anderen Bereichen Mecklenburg-Vorpommerns muss gar alle fünf Tage ein 24-Stunden-Not-dienst durchgeführt werden. Finanzieren kann die Apo-theke diese Nachtdienste bisher nur aus den 2,50 Euro,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013 29499
Dietrich Monstadt
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29500 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013
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Die Bundesregierung hat lautstark angekündigt, bisEnde 2012 wolle man einen solchen Schutz auch gesetz-lich verankern. Whistleblower sollen entsprechend ge-schützt werden. Was ist passiert? Bisher nichts!Dieses Untätigsein der Regierung und auch der Koali-tion hat dazu geführt, dass die Unternehmen mittlerweileselbst solche Regeln aufstellen. Wir konnten vor zwei Ta-gen lesen, dass ThyssenKrupp, ein Unternehmen, dasdurch Schmiergeldaffären sehr gebeutelt ist, an die eige-nen Mitarbeiter appelliert, sich vertrauensvoll zu melden,wenn sie solche Vorgänge erkennen, und ihnen versi-chert, dass sie mit keinen Konsequenzen rechnen müs-sen.Es ist richtig, dass ThyssenKrupp so etwas macht,auch im eigenen Interesse, um sich dadurch vielleichtauch von den schwarzen Schafen distanzieren zu kön-nen; aber das ist der falsche Ansatz. Es kann nicht sein,dass Mitarbeiter nur in den Unternehmen geschützt sind,die ihre Mitarbeiter freiwillig zu solchen Hinweisen auf-fordern, während Mitarbeiter in anderen Unternehmenmit Konsequenzen zu rechnen haben.
Deswegen brauchen wir endlich eine gesetzliche Rege-lung dafür, dass Hinweisgeber nicht mit Konsequenzenzu rechnen haben.Ich möchte einen zweiten Punkt ansprechen, derebenfalls in diesem Antrag enthalten ist. Es geht um dieFrage, wie wir mit der öffentlichen Auftragsvergabe um-gehen. Ganz oft erfahren wir nämlich auch hier vonSkandalen.In irgendeiner Stadt XY wird zum Beispiel ein neuesHallenbad gebaut – wenn so etwas in Zeiten von knap-pen Kassen überhaupt noch möglich ist –, oder es wer-den sonstige Aufträge der öffentlichen Hand vergeben.Am Ende des Tages stellt sich dann heraus, dass die Un-ternehmen, an die Aufträge vergeben wurden, entwederkorrupt sind oder schon als Steuerbetrüger oder auch da-für bekannt sind, dass sie Sozialabgaben nicht abgeführthaben. Diese Erkenntnisse liegen aber eben nicht derKommune vor, die den Auftrag vergeben hat, sondernsie liegen irgendwo sonst vor. Deswegen brauchen wirganz dringend ein Korruptionsregister, in dem all dieUnternehmen, die für solche Vorgänge bereits bekanntsind, entsprechend aufgeführt werden.Das wird in vielen Bundesländern schon so gehand-habt, aber das nützt nichts, wenn sich zum Beispiel eineStadt in Hessen erkundigen möchte, ob es in Bezug auf einUnternehmen, das bundesweit tätig, aber eben nicht imörtlichen Register enthalten ist, entsprechende Erkennt-nisse gibt. Deswegen brauchen wir für jede Kommuneund jeden öffentlichen Auftraggeber endlich ein bundes-weites Korruptionsregister, damit Klarheit herrscht, wiemit öffentlichen Geldern umgegangen wird – und zwarauch im Interesse des Steuerzahlers, der das Ganze hin-terher ja zu verantworten hat, wenn etwas schiefgeht.
Ich möchte noch einen dritten Punkt ansprechen. Esgeht um eine Frage, die, wie ich finde, längst hätte be-antwortet werden können.Uns liegt ein Urteil des Bundesgerichtshofs vor, indem ganz klar geregelt ist, dass die Möglichkeiten derKorruptionsbekämpfung im Gesundheitswesen in Bezugauf Ärzte, die in Krankenhäusern beschäftigt sind, nichtauf niedergelassene Ärztinnen und Ärzte anzuwendensind. Durch diese Strafbarkeitslücke besteht hier einmassives Problem. § 299 StGB – Korruptionsstrafbar-keit – greift hier eben nicht.Es ist einfach unglaublich, dass es weiterhin möglichist, dass niedergelassene Ärzte aufgrund von Prämien,die sie von den Pharmaunternehmen bekommen, nichtMedikamente verschreiben, die medizinisch indiziertsind, sondern Medikamente, die für sie lukrativ sind.Das ist zum einen ein unverantwortlicher Umgang mitden Patientinnen und Patienten. Ich verlasse mich dochals Patient darauf, dass mir der Arzt das Medikamentverschreibt, das für mich am besten ist, und nicht das,das ihm die höchste Prämie einbringt. Zum anderen aberwird dadurch auch Schindluder mit den Krankenkassengetrieben, denn auch da gilt natürlich die Ansage, dassdas Geld für das medizinisch sinnvollste und nicht dasfür den Arzt lukrativste Medikament ausgegeben werdensoll. Wir brauchen also ganz dringend die Schließungdieser Strafbarkeitslücke. Es kann nicht länger angehen,dass Verfahren eingestellt werden müssen, weil es hierkeine Möglichkeit der Strafverfolgung gibt. Das ist un-tragbar.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013 29501
Christine Lambrecht
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Handelt es sich bei dem Antrag um einen Beitrag zumheraufziehenden Wahlkampf oder um eine Fleißarbeit?
Ohne Frage sind viele Punkte, die in dem Antrag zusam-mengetragen worden sind, im Einzelnen sogar durchausbedenkenswert.
Aber so ganz im Klaren darüber, wohin die Reise gehensoll, ist sich die SPD wohl selbst nicht;
denn man liest durchaus Widersprüchliches.So zitiert der vorliegende Antrag der SPD eine Studie,laut der jedes zweite Unternehmen von mindestens ei-nem Schadensfall in Sachen Wirtschaftskriminalität be-troffen sei. Das erweckt zunächst den Eindruck, alswolle man etwas für den Schutz von Unternehmen tun.
Dann aber lenkt die SPD den Fokus auf große Unterneh-men und versucht, dort einseitig den Schwarzen Peter zusehen. Mit dem Hinweis auf den Satz: „Die Kleinenhängt man, die Großen lässt man laufen“, der in demBeitrag ständig wiederholt wurde,
wird reflexartig tief in die Populismuskiste gegriffen.Was also will die SPD?
Ich denke, wir sollten das Thema differenzierter sehen.Auch Unternehmen selbst können Opfer von Wirt-schaftskriminalität werden, auch große Unternehmen.Hier sollte man niemanden unter Generalverdacht stel-len. Natürlich muss Justitia blind sein in dem Sinne, dassnicht zwischen groß und klein, bedeutend und unbedeu-tend oder kompliziert und einfach unterschieden wird.Damit sich die SPD nicht selbst entscheiden muss, wo-hin es gehen soll, fordert sie kraftvoll von anderen dieVorlage eines schlüssigen Konzepts.
Das spricht vielleicht dafür, dass sie ihren Antrag nichtals solches ansieht. Gerade deshalb lohnt es sich, ge-nauer hinzusehen und zu fragen: Brauchen wir wirklichein weiteres Konzept, oder sind wir nicht schon viel wei-ter und handlungsfähiger, als es uns die SPD an dieserStelle weismachen will?Ich will mit einem generellen Punkt beginnen. Bei ei-nem Großteil der in dem Antrag formulierten Punkte– Steuerstraftaten, Geldwäsche, Sicherstellung und Ein-ziehung sowie Cybercrime seien stichwortartig genannt –wird gefordert, sich stärker für europäische Lösungeneinzusetzen oder europäische Regelungen im Strafrechtstärker als bisher in deutsches Recht zu übernehmen.Generell verwundert das zunächst ein wenig; denn imUnterausschuss „Europarecht“ sitzen wir jeden Freitag-morgen zusammen und beraten vor allem über solcheEU-Richtlinien besonders intensiv, die die Harmonisie-rung des europäischen Strafrechts zum Gegenstand ha-ben. Es wird dort in fraktionsübergreifender Einmütig-keit jeder Schritt einer strafrechtlichen Harmonisierungkritisch auf Herz und Nieren und seine Notwendigkeitinsbesondere im Hinblick auf die Subsidiarität geprüft.Alle Fraktionen vertreten dabei die Auffassung, dass diestrafrechtliche Harmonisierung, die im sogenanntenStockholm-Programm der EU niedergelegt ist, äußerstsensibel und sehr zurückhaltend zu handhaben ist; denndas Strafrecht ist und bleibt der Kernbereich staatlicherSouveränität. Insbesondere das Bundesverfassungsge-richt hat uns hier eine Reihe von Grenzlinien gesetzt.Das heißt nicht, dass die Zusammenarbeit nicht ausge-weitet werden kann; in vielen Fällen geschieht das auch.Aber es ist zu einfach, in einem Antrag an verschiedenenStellen immer nur „Europa, Europa“ zu rufen, vor allemwenn gleichzeitig im Einzelnen die zurückhaltende Posi-tionierung gegenüber einer strafrechtlichen Harmonisie-rung durchaus von allen geteilt wird, so wie es im Unter-ausschuss „Europarecht“ geschieht.Ein weiterer Punkt, der ebenfalls angesprochen wer-den muss, ist die Frage: Brauchen wir ein Unterneh-mensstrafrecht? Das ist ein Evergreen in der politischenDiskussion.
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29502 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013
Ansgar Heveling
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Im Antrag werden Punkte aufgeführt, die sich auf denersten Blick gut lesen lassen, bei denen sich aber entwe-der die Frage stellt, was daran neu oder noch nicht aus-diskutiert ist, oder bei denen festgestellt werden muss,dass es schon längst angepackt wird.Thema „Sicherstellung und Einziehung“. Der Vor-schlag für eine Richtlinie über die Sicherstellung undEinziehung von Erträgen aus Straftaten in der Europäi-schen Union wurde bereits im April 2012 im Bundestagsowie anschließend im Bundesrat beraten. Es gibt alsoauf europäischer Ebene Bestrebungen, diese Frage EU-einheitlich zu regeln. Das Verfahren läuft aber noch aufeuropäischer Ebene. Sobald es abgeschlossen ist, werdenwir selbstverständlich die Richtlinie in nationales Rechtumsetzen. Fazit: Es läuft.Thema „Reverse Charge im Steuerstrafrecht“. DieMöglichkeiten des Reverse-Charge-Verfahrens wollenwir innerhalb des Steuerstrafrechts ausdehnen, weil esals effizientes Instrumentarium angesehen wird.Deutschland hat sich in der Vergangenheit an vordersterFront dafür starkgemacht. Es war die Große Koalition,die dort sehr aktiv gewesen ist; darauf wird im Antraghingewiesen, und das soll auch nicht kleingeredet wer-den. Wir waren alle zusammen vorneweg. Aber wir sindin Europa an Grenzen gestoßen und müssen nun zusam-men mit den Partnern schauen, wie wir in diesem Ver-fahren weiterkommen. Derzeit befindet sich ein Vor-schlag der Kommission, im Zuge eines Quick ReactionMechanism Reverse-Charge-Verfahren vorzusehen, imeuropäischen Gesetzgebungsprozess. Also auch hierwird etwas getan. Fazit: Es läuft.Thema „Geldwäsche“. Bereits Ende 2011 haben wirdas Gesetz zur Optimierung der Geldwäschepräventionbeschlossen. Damit haben wir die dritte EU-Richtliniezur Geldwäsche umgesetzt. Es ist also erkennbar, dassauch auf europäischer Ebene die Geldwäsche einheitlichbesser bekämpft werden soll. Fazit: Es läuft; wir habenes umgesetzt.Alle diese Punkte zeigen: Es tut sich etwas. Es bedarfdieses Antrages überhaupt nicht.
Wir haben ein Konzept. Es wird engagiert gegen dieWirtschaftskriminalität vorgegangen.
Wir als christlich-liberale Koalition nehmen uns der Pro-bleme an. Den Antrag der SPD benötigen wir dazu nicht.Wir werden ihn ablehnen.Vielen Dank.
Für die Fraktion Die Linke erteile ich jetzt dem Kolle-
gen Richard Pitterle das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegin-nen und Kollegen! Heute geht es um die Bekämpfungder Wirtschaftskriminalität. Ich frage mich: Warumsteigt sie weiterhin so stark an?
Steuerbetrug, Steuerhinterziehung, Korruption, Geld-wäsche, Internetkriminalität, Wirtschafts- und Industrie-spionage sind an der Tagesordnung. Das Geld für Schu-len, Straßen und Brücken fehlt. Unsere Infrastrukturwird immer maroder; denn die Kommunen und Bundes-länder sind klamm. Allein durch die Steuerhinterziehungverliert Deutschland jährlich Steuereinnahmen in Höhevon ungefähr 100 Milliarden Euro. Gravierend ist auchdie Internetkriminalität: Viren- und Spionagepro-gramme, Computerhacking und Phishing, also das Steh-len von Passwörtern. Jede und jeder kann ein Opferwerden. Allein die Wirtschaftskriminalität – ohne Be-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013 29503
Richard Pitterle
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– Herr van Essen, ich weiß, dass Sie nicht Herr Brüderlesind.Jetzt kommt die Krönung. Statt die Behörden perso-nell und finanziell so auszustatten, dass sie effektiv ar-beiten können, verlassen sich einige Bundesländer aufDeals mit Kriminellen. Das geht sogar so weit, dass denDatendieben Aufträge erteilt werden, welche Daten ausSchweizer Banken gestohlen werden sollen. Der Zweckheiligt aber nicht die Mittel. Wohin das führt, sehen wirbei den Geheimdiensten, Stichwort „NSU“. Das ist einSpiel mit dem Feuer. Die Linke warnt davor.Einige Bundesländer hingegen handeln inzwischenrichtig. Sie schaffen neue Stellen für Steuerfahnderinnenund Steuerfahnder und für Betriebsprüferinnen und Be-triebsprüfer. Die von der Union regierten Bundesländerwollen dagegen die Stellenzahlen auf dem niedrigenNiveau halten. Finanzminister Markus Söder von derCSU musste sich im letzten Monat vom BayerischenObersten Rechnungshof vorhalten lassen, dass jedefünfte Stelle bei den Betriebsprüfern unbesetzt ist.
Söder möchte, dass sich die Unternehmen nicht zu oftdurch Steuerforderungen gestört fühlen.
Wir sind der Meinung, dass Bundeskriminalamt, Bun-despolizei und Zoll anders organisiert und ausgerichtetwerden müssen, wenn sie die Wirtschaftskriminalität ef-fektiv bekämpfen sollen. Wir brauchen dringend eineBundesfinanzpolizei; das fordert die Linke, das fordertauch die Gewerkschaft der Polizei.
Diese Bundesfinanzpolizei soll zielgerichtet und effektivorganisierte Geldwäsche, Außenwirtschaftskriminalität,Subventionsbetrug, organisierten Schmuggel – zum Bei-spiel von Waffen, geschützten Tieren oder Pflanzen – undVerstöße beim Verbraucherschutz – zum Beispiel hin-sichtlich kontaminierter Lebensmittel – bekämpfen.
Meine Damen und Herren, der Antrag der SPD gehtin die richtige Richtung. Die meisten Positionen kanndie Linke im Grunde – ich betone: im Grunde – unter-stützen. Unterschiede sehen wir in einigen Details, zumBeispiel bei der Ausweitung des Strafrechts und der Ver-folgungskompetenzen, der Umkehr der Beweislast beiVermögenswerten von Beschuldigten und Verurteilten.Wir sind entschieden gegen den Einsatz von Geheim-diensten.
Trotzdem werden wir dem Antrag zustimmen, weil erdie richtigen Themen aufgreift.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege
Jörg van Essen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alsich mir diesen Antrag der SPD-Fraktion angesehen habe,habe ich mich gefragt: Was soll er eigentlich?
– Frau Lambrecht, Sie sagen: „Wirtschaftskriminalitätbekämpfen“. – Ich erwarte aber von einer großen Frak-tion im Deutschen Bundestag, dass man Klartext redetund keinen Gesinnungsaufsatz schreibt.
Da soll betrachtet werden. Da soll geprüft werden. Dasoll nachgedacht werden. Nein, das ist einfach zu wenig.Von einer großen Fraktion im Deutschen Bundestag er-wartet man klare Vorstellungen.
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29504 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013
Jörg van Essen
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Wirtschaft ist nichts, was unser Land voranbringt. Wirt-schaft vollzieht sich in einem Sumpf von Kriminalität. –Dabei haben Sie sich selbst verraten, Frau KolleginLambrecht.
Sie haben den Anteil der Wirtschaftskriminalität mit2 Prozent beziffert. Richtig ist nicht einmal das; denn imJahre 2010 lag dieser Anteil bei 1,7 Prozent, so schrei-ben Sie es jedenfalls selbst in Ihrem Antrag.
Im Jahre 2011 ist er aber zurückgegangen, Herr KollegePitterle.
Sie haben von steigender Wirtschaftskriminalität gespro-chen. Tatsächlich ist dieser Anteil auf 1,3 Prozent zu-rückgegangen.
Das macht deutlich, dass das Bild, das hier gezeichnetwird – die Wirtschaft ist von Kriminalität geprägt –, völ-lig falsch ist.
Was mich als jemanden, der lange Angehöriger derStaatsanwaltschaft war, auch sehr gewundert hat, ist,dass Sie den Fortschritt, den wir in der Bekämpfung derWirtschaftskriminalität erzielt haben – die Stärkung derWirtschaftsabteilungen der Staatsanwaltschaften, aberauch die Stärkung der entsprechenden Spezialkammernder Landgerichte – überhaupt nicht erwähnen. Viele derVerfahren, die wir erlebt haben, wären vor 10, 15 oder20 Jahren noch nicht möglich gewesen, weil sich dieStaatsanwaltschaft mangels Sachwissen daran nicht he-rangetraut hätte. Ich bin froh, dass sich das geändert hat,dass jetzt auch Vorstandsvorsitzende, Vorstandsmitglie-der großer Firmen damit rechnen können, wegen Wirt-schaftskriminalität verfolgt zu werden.
Aber eigentlich wundert es mich nicht, dass Sie diesenFortschritt nur zurückhaltend ansprechen; denn zur Moti-vation der dort eingesetzten Staatsanwältinnen undStaatsanwälte, Wirtschaftsreferentinnen und Wirtschafts-referenten gehört auch eine angemessene Bezahlung. Esist typisch, dass gerade in Nordrhein-Westfalen die Er-gebnisse der Lohnrunde im öffentlichen Dienst auf diesePersonen eben nicht übertragen werden.
Wenn man engagierte Staatsanwältinnen und Staatsan-wälte, engagierte Wirtschaftsreferentinnen und Wirt-schaftsreferenten will, dann müssen sie auch entsprechendentlohnt werden. Es ist auffällig, dass ausschließlich inrot-grün regierten Ländern eine solche Übertragung aufden höheren Dienst nicht stattfindet.
Deshalb wundert es mich überhaupt nicht, dass Sie da-von so wenig reden.
Die Wirtschaft funktioniert in unserem Land. Dieschwarz-gelbe Bundesregierung hat für vier gute Jahrein Deutschland gesorgt.
Dazu gehört auch, dass die Bundesjustizministerin fürvier gute Jahre in der Rechtspolitik in Deutschland ge-sorgt hat.
Deshalb sind viele der Dinge, die Sie angesprochen ha-ben, auf einem guten Weg.
Zur Frage der Korruption im Gesundheitswesen bei-spielsweise – Frau Lambrecht hat sie angesprochen –finden im Augenblick Berichterstattergespräche statt.
Das geht also voran, und ich bin froh, dass es so ist.
Ich sage ein ganz klares Nein, und zwar auch als lang-jähriger Angehöriger der Staatsanwaltschaft, zu der Da-tenhehlerei, die wir im Zusammenhang mit der Schweizpflegen. Das kann nicht sein. Strafverfolgung kann nurrechtmäßig erfolgen.
Es ist einfach auch die Ehre eines Staatsanwalts, dass sienur rechtmäßig erfolgen kann.
– Nein, das tut sie nicht, Herr Kollege. – Das, was wirdort machen, ist aus meiner Sicht eine klare Datenhehle-rei,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013 29505
Jörg van Essen
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Wir hätten schon Milliardenbeträge in unseren Haushal-ten, wenn das von SPD und Grünen im Vermittlungsaus-schuss nicht verhindert worden wäre.
Damit bin ich bei einem zweiten Thema im Zusam-menhang mit dem Vermittlungsausschuss. Einer derPunkte, die Sie angesprochen haben, ist die Erhöhung derGeldbuße bei Verstößen von Unternehmen. In der GWB-Novelle, die wir im Vermittlungsausschuss hatten, ist eineErhöhung von 1 Million Euro auf 10 Millionen Euro vor-gesehen. Das hätten wir haben können. Gestern sind dieVerhandlungen über die GWB-Novelle in der entspre-chenden Arbeitsgruppe des Vermittlungsausschusses anRot-Grün und niemandem sonst gescheitert.Es ärgert mich, wenn Sie uns hier vorwerfen, dass be-stimmte Dinge nicht kommen, Sie selbst aber dafür sor-gen, dass die entsprechende Novellierung, die die guteBundesregierung vorgeschlagen hat, nicht stattfindet.
Von daher erwarte ich von Ihnen nicht einen Besin-nungsaufsatz, sondern eine klare Ansage, was Sie wol-len, was Sie nicht wollen, wie Sie es ausgestalten wol-len. Darüber kann man reden. Aber über einen solchenBesinnungsaufsatz, wie wir ihn vorgelegt bekommen ha-ben, werden wir – das Gefühl habe ich – nicht zu einemgemeinsamen Ergebnis kommen, obwohl die eine oderandere Anregung sicherlich einer vertieften Betrachtungwert wäre.Vielen Dank.
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort der
Kollege Jerzy Montag.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wirtschaftskriminalität ist im Kern Bereicherungskrimi-nalität rund um die Erzeugung und Verteilung von Gü-tern und die Erbringung von Dienstleistungen. Sie istmeist verflochten mit Firmen, mit Unternehmen, mit an-deren juristischen Personen, und sie umfasst auch alleFormen der organisierten Steuerhinterziehung. Für dieWirtschaftskriminalität ist bezeichnend: Einige wenigeTäter schädigen viele Opfer und verursachen hohe Schä-den. – So steht es jedenfalls im Zweiten Periodischen Si-cherheitsbericht der Bundesregierung. Man kann es auchanders sagen: Auf nicht mehr als circa 1,4 Prozent allerregistrierten Straftaten entfällt mehr als die Hälfte desmateriellen Gesamtschadens durch diese Straftaten.
Dabei sind diese 4 bis 5 Milliarden Euro an jährlichemSchaden sicherlich nur die Spitze des Eisbergs, weil dasDunkelfeld im Bereich der Wirtschaftskriminalität weitüberdurchschnittlich groß ist.Aber nicht nur wegen des hohen materiellen Scha-dens, sondern auch wegen der mit der Wirtschaftskrimi-nalität einhergehenden Entsolidarisierung der Gesell-schaft und der Zersetzung demokratischer Werte undStrukturen sind wir Grüne jedenfalls überzeugt, dassWirtschaftskriminalität sowohl in ihren personalen wieauch in ihren unternehmerischen Strukturen konsequentbekämpft werden muss.
Dabei spielt das Strafrecht eine wichtige Rolle, wenn esauch nicht das einzige staatliche Mittel ist, um Korrup-tion zu bekämpfen. Meine Fraktion hat hierzu vielfältigeVorschläge gemacht, konkrete Gesetzentwürfe vorge-legt; meine Kollegin Hönlinger wird auf einige noch ein-gehen.Die Fleißarbeit der Kolleginnen und Kollegen derSPD, die eine Zusammenfassung vieler sinnvoller undnötiger Maßnahmen vorgelegt haben, begrüßen wir aus-drücklich. Ob es aber, liebe Kolleginnen und Kollegenvon der SPD, Sinn macht, diese schwarz-gelbe Bundes-regierung aufzufordern, gegen Wirtschaftskriminalitätjetzt, kurz vor der Wahl, vorzugehen,
bezweifele ich. Wir sollten dies nach dem 22. Septemberzu unserer Aufgabe machen.
Die vielen positiven Maßnahmen zu würdigen, dafürfehlt mir die Zeit. Dass mir jedenfalls einige Punkte kri-tisch erscheinen, will ich aber nicht verschweigen. Dazugehören zum Beispiel die Beweislastumkehr
bei der strafrechtlichen Sicherstellung von Vermögens-werten, deren strafbare Herkunft unbekannt bleibt, eineweitere Aufblähung des Geldwäscheparagrafen – schonjetzt mit zehn Absätzen und 701 Wörtern ein Ungetümim Strafgesetzbuch –, die Streichung der rechtsstaatlichwohl gebotenen Straflosigkeit der Selbstbegünstigung,besonders aber – das hat mich wirklich gewundert – dasneue Betätigungsfeld für den Bundesnachrichtendienstund die Verfassungsschutzämter im Bereich der soge-nannten Konkurrentenausspähung und der Verletzungvon wirtschaftlichen Geheimnissen. Dieser letzte Punkt– so jedenfalls die Auffassung der Grünen – verbietetsich geradezu, bevor die Geheimdienste nicht einer Ge-
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29506 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013
Jerzy Montag
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Überwachung bestimmter Tätigkeitsfelder und beson-dere Berichtspflichten dazu sind möglich. Wiedergutma-chung und ein Täter-Opfer-Ausgleich gehören auch zumAhndungskasten von Strafgerichten im Unternehmens-strafrecht. Wir werden über den Zaun des deutschenRechts schauen und sorgfältig studieren müssen, zu wel-chen Mitteln viele andere Rechtsstaaten greifen, bei de-nen ein Unternehmensstrafrecht längst eingeführt ist.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die EU arbeitetlängst an Modellen eines supranationalen Unternehmens-strafrechts. Die Abwehrreflexe in Deutschland vonseitender schwarz-gelben Koalition sind längst auf dem Radar-schirm der Europäischen Kommission. Deshalb sind wirgut beraten, uns dieses Themas in der nächsten Legisla-turperiode beherzt anzunehmen.Danke schön.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege
Dr. Matthias Heider das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächsteinmal muss man auch eine anerkennende Anmerkungan dieser Stelle machen: Sie haben mit Ihrem Antrageine lange Sammlung denkbarer Änderungen im Straf-gesetzbuch und in vielen Nebengesetzen vorgelegt. Da-rin sind durchaus detaillierte Befunde zu Delikten imSektor der geschäftsmäßigen Tätigkeit von Unterneh-men, die eine kriminelle Energie aufweisen, zu finden.Spätestens bei einem Satz in Ihrer Einleitung bin ich al-lerdings skeptisch geworden. Ich zitiere:Vom Staat nicht effektiv verfolgte oder sogar gedul-dete Wirtschaftskriminalität verletzt das Gerechtig-keitsgefühl vieler Menschen.Hätten Sie nicht eigentlich von Handlungen oder ei-nem vorwerfbaren Verhalten sprechen müssen? Taten,die unsere Rechtsordnung mit Strafe bedrohen, knüpfenan Handlungen an. Deshalb wird auch bei Wirtschafts-straftaten das strafrechtlich vorwerfbare Verhalten einernatürlichen Person angeklagt. Ermittlungen richten sichzuvor an das verantwortliche Handeln von Vertreternoder Personen in einem Unternehmen. In dem gerade zi-tierten Satz wird einmal eben so der Eindruck erweckt,der Staat schaut zur Seite, Tausende von Polizisten,Staatsanwälten und Richtern schauen tatenlos zu, wennwirtschaftskriminelle Machenschaften auffällig werden,und Bürgerinnen und Bürger werden dadurch ungerechtbehandelt. Das ist nicht in Ordnung.
Zur Sache: Der Begriff „Wirtschaftskriminalität“ istein Auffangbecken vieler Straftaten, die wirtschaftlicheBezüge aufweisen. Wir sprechen von Formen des Dieb-stahls, des Betrugs, der Untreue, der Korruption, derWirtschaftsspionage und der Verletzung geistigen Eigen-tums. Findet ein Teil dieser Taten im World Wide Webstatt, spricht man auch von Cybercrime. Wirtschaftskri-minalität als Ganzes verursacht hohe materielle Schä-den. Nach einer Studie der KPMG aus dem letzten Jahrreichte die Bezifferung des Schadens aus wirtschaftskri-minellen Handlungen im Jahr 2011 von 4 MilliardenEuro bis hin zu 20 Milliarden Euro. Jedes vierte deut-sche Unternehmen mit mehr als neun Beschäftigten warin den vergangen zwei Jahren Opfer von Wirtschaftskri-minalität. Jeder dieser Fälle hat durchschnittlich einenSchaden von 30 000 Euro verursacht. Dabei stammt dieHälfte der Täter aus den Unternehmen selbst.Diese Differenzierung vermisse ich in Ihrem Antrag.Es gibt zwei große Gruppen von Wirtschaftskriminellen.Es gibt zum einen Wirtschaftskriminalität, die zumNachteil des Staates, seiner Bürger, wenn Sie so wollen,begangen wird. Auf der anderen Seite wird die Masse anStraftaten zum Nachteil von Unternehmen und Personenbegangen. Wichtigstes Mittel jedenfalls in Bezug aufUnternehmen ist die Vermeidung von Wirtschaftskrimi-nalität, die Prävention. Auf seinen 23 Seiten enthält IhrAntrag leider nur sehr wenig über Prävention, aber vielmehr über Abschreckung und die Erweiterung vonStraftatbeständen, über ein Gesetz für Whistleblower.Aktionismus in Sachen Cybercrime und Wirtschaftsspio-nage steht im Vordergrund. So verwundert es nicht wirk-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013 29507
Dr. Matthias Heider
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ein angemessenes finanz- und strafpolitisches Instru-ment zur Verfolgung von Steueransprüchen sei.
Dass Sie, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegenvon der SPD, kein Problem damit haben, zeigt dasjüngste Beispiel des Ankaufs von Steuer-CDs durch dasLand Rheinland-Pfalz. Eines möchte ich an dieser Stelleeinmal deutlich machen:
Das Bundesverfassungsgericht geht, anders als Sie in Ih-rem Antrag suggerieren, in seinem Beschluss zur Ver-wertung illegal erworbener Steuerdaten
nicht auf die Frage ein, ob illegal erworbene Daten ei-nem Beweisverwertungsverbot im Strafverfahren unter-liegen. Das Gericht macht lediglich deutlich, dass sichder Anfangsverdacht für eine Wohnungsdurchsuchungauf diese Daten stützen darf. Das ist der entscheidendeUnterschied. Im Übrigen lässt es offen, inwieweit sichdie Amtsträger bei der Beschaffung der Daten nach in-nerstaatlichem Recht strafbar gemacht haben. Das ist eindezidierter Unterschied.
Warum Sie auf der einen Seite rechtliche Grauzonenpräferieren
und davon profitieren wollen, auf der anderen Seite abereinen völkerrechtlich sauberen Vertrag ablehnen und ihnim Bundesrat blockieren, das ist mir schleierhaft.
Ich sage Ihnen im Anschluss an das, was der Kollegevan Essen schon gesagt hat: Die Hehlerei mit gestohle-nen Steuerdaten ist ein mühsamer Weg, um Steuersün-dern auf die Spur zu kommen.
Abschließend vielleicht noch ein Satz zum Gesund-heitswesen; auch diesen Bereich hatten Sie angespro-chen. Es ist unumstritten, dass sich die überwältigendeMehrheit der Ärzte und der Leistungserbringer inDeutschland korrekt verhält.
Genauso klar ist, dass wir bei einem Fehlverhalten tätigwerden müssen. Der richtige Ansatz ist aber nicht, eineBerufsgruppe mit Straftatbeständen zu diskreditieren;der richtige Weg ist, dass wir uns an den einzelnen Stel-len der Sonderstrafnormen Gedanken machen müssen,wie wir das dolose Verhalten mit einer Reaktion belegen.
Richtig ist, dass eine Weiterentwicklung auch in der ärzt-lichen Selbstverwaltung möglich ist. Aber ob es dazudas Instrument des Strafrechts braucht, das ist die Frage.Es gibt einige wenige positive Anregungen in IhremAntrag, die wir durchaus aufnehmen und in der Dis-kussion sowohl im Wirtschaftsausschuss als auch imRechtsausschuss weiter behandeln sollten. Ich bin derAuffassung, dass einige Beratungen sicherlich erforder-lich sein werden. Aber beanspruchen Sie bitte nicht mitdem unterschwelligen Wahlkampfgetöse, das Sie mit Ih-rem Antrag verbreiten, die Aufmerksamkeit für die Ver-änderung strafrechtlicher Normen.Herzlichen Dank.
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29508 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013
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Sie haben noch einmal das Abkommen mit derSchweiz erwähnt. Wir erwähnen es jeden Tag ungefährdreimal. Das will ich jetzt auch machen. Sie haben recht:Bezogen auf die Vergangenheit geht durch die Ableh-nung des Abkommens mit der Schweiz Geld verloren,und zwar aufgrund der Verjährung.
Das stimmt; das ist völlig klar. Wer wollte das bestrei-ten? Aber für die Zukunft hätte das Abkommen eine An-onymisierung für alle Zeit bedeutet. Sie hätten überhauptniemanden mehr erwischt. Sie wollen auch keine Steuer-CDs kaufen. Auf wen wollen Sie sich dann überhauptverlassen, wenn es keinen automatischen Informations-austausch gibt? Wie hätten Sie denn bei vollständigerAnonymität jemals zu Steuereinnahmen kommen wol-len? Jetzt werden Sie natürlich sagen: Wenn ich unter-stelle, da seien Leute anonym, dann unterstelle ich allenMenschen, dass sie anonym bleiben wollen. – Nein, ichunterstelle nur denjenigen, die anonym bleiben wollen,sie seien anonym. Da stimmt es auch. Gegen sie wollenwir vorgehen. Das ist eine sehr zielgenaue Überlegung.
Es war zu der Zeit besonders schlimm, mit derSchweiz über ein Abkommen zu verhandeln. Denn Siesind damit im Grunde den USA in den Rücken gefallen,die ein besseres Abkommen ausgehandelt haben, dasnicht auf bilateralen Überlegungen beruhte, nämlich dasFATCA-Abkommen, den Foreign Account Tax Com-pliance Act. Wir sind froh, dass inzwischen auch dieSchweiz eine neue Stufe der Erkenntnis erlangt hat undjetzt selber sagt: Der Weg der bilateralen Abkommenwar ein Irrweg. – Die Schweiz verlässt diesen Pfad. In-sofern konterkariert jetzt sogar die Schweizer Regierungdas Anliegen Ihres Abkommens, das Sie hier immernoch rückwärtsgewandt verteidigen.
Ich will darauf hinweisen, wie nah einem manchmalProbleme kommen können. Ich kann überhaupt nicht ab-schätzen, welche rechtliche Bedeutung das hat. Mich in-teressiert natürlich schon, wie die Koalition bestimmteVorgänge reflektiert, zum Beispiel, wenn ein Mitglieddes Finanzausschusses einen Praktikanten hat, über dendann in der Zeitung steht, er heiße Bushido und habeKontakte zur Mafia, es gehe um Fragen rund um Kor-ruption und Geldwäsche. So nah können einem die Pro-bleme kommen. Da meine ich auch nicht alle und jeden,sondern nur die, die unmittelbar davon betroffen sind.Gemäß der neuerlichen Rhetorik will die RegierungSteueroasen aktiv bekämpfen. Jetzt ist es aber so: WennSie die Offshore-Leak-Daten wirklich auswerten woll-ten, dann müssten Sie eigentlich in der G-8-Runde undim Zusammenhang mit der EU-Geldwäscherichtlinie
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013 29509
Lothar Binding
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Da besteht schon ein Unterschied. Man sollte sich gutüberlegen, was man schreibt.Jetzt steht hier: „Rot-Grün hat seine Regierungszeitnicht für eigene Initiativen genutzt“. Das kann sein. Esist natürlich zehn Jahre her, dass Rot-Grün regiert hat,und man muss sagen: Das war eine andere Zeit und im-mer begleitet von dem, was ich vorhin sagte, dass näm-lich Sie gegen eine Verbesserung der Kriminalitätsbe-kämpfung waren.
– Wir haben eine Mehrheit im Bundesrat gehabt? WennSie das einmal prüfen, merken Sie, dass Ihre Aussagefalsch ist. Außerdem schreiben Sie: Die BraunschweigerErklärung ist reiner Populismus. Dabei ist es umgekehrt.Ich glaube, Sie haben Angst vor Peer Steinbrück, weiler nämlich anpackt. Er redet nicht nur Klartext, sondernSie müssen auch damit rechnen, dass er tut, was er sagt.
Deshalb reagieren Sie so empfindlich auf seine Vor-schläge. Ich freue mich sehr darauf, ihn eines Tages ineiner Regierung zu sehen, was möglicherweise schonbald eintreten wird.Alles Gute.
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Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! Verbraucher und der ehrbare Kaufmann müssen vor
schwarzen Schafen geschützt werden. Das ist hier Kon-
sens. Wir als schwarz-gelbe Regierung tun auch etwas.
Erst gestern haben wir hier im Hause ein breites Maß-
nahmenbündel gegen unseriöse Geschäftspraktiken auf
unterschiedlichen Ebenen des Rechts beschlossen.
Aber zum Schutz der Verbraucher und des ehrbaren
Kaufmanns vor schwarzen Schafen gehört natürlich
auch das Strafrecht.
Der Kollege Montag hat den Antrag der SPD vorhin
mit dem etwas zweifelhaften Titel einer „Fleißarbeit“
geadelt. Fakt ist, dass die Fleißarbeit insbesondere im
Abschreiben bestand, weil fast alle diese Maßnahmen
seit der Justizministerkonferenz vom 9. November 2011
bekannt sind. Dort ist dieses Maßnahmenbündel nicht
beschlossen worden, weil es eine ganze Reihe sachlicher
Bedenken dagegen gab. Sie wissen, der Deutsche An-
waltverein hat dieses Paket gerügt, weil es den Eindruck
erweckt, dass man allein mit der Androhung höherer
Strafen zu einer besseren Bekämpfung der Wirtschafts-
kriminalität kommt. Fakt ist – alle Kriminologen bestäti-
gen uns das –: Nicht der Strafrahmen ist das Entschei-
dende, sondern die Aufklärungsquote.
Die Aufklärungsquote – das hat das Bundeslagebild
Wirtschaftskriminalität der JuMiKo bestätigt – ist im
Bereich der Wirtschaftskriminalität besser als in den üb-
rigen Kriminalitätsbereichen. Das heißt, das Bild, das
versucht wird zu zeichnen, man täte hier nichts, man
könne Wirtschaftskriminalität betreiben, ohne sich Sor-
gen vor Strafverfolgung zu machen, ist falsch. Das
Ganze ist allein dem Umstand geschuldet – das hat der
Kollege van Essen hier schon herausgearbeitet –, dass
kurz vor Ende der Legislaturperiode versucht wird,
Stimmung zu machen, und zwar gegen die Fakten.
Die absolute Krönung dieses Unterfangens findet sich
in dem einzigen originellen Teil des SPD-Antrags, dem
Vorwort. Dort hat sie nicht abgeschrieben, aber da wird
tatsächlich die These aufgestellt – Sie müssen das einmal
lesen –, am Unterrichtsausfall in Deutschland sei die
fehlende, wenig konsequente Verfolgung von Wirt-
schaftskriminalität schuld. Meine Damen und Herren,
schuld am Unterrichtsausfall ist, dass die rot-grüne Re-
gierung in Rheinland-Pfalz 2 000 Lehrerstellen gestri-
chen hat, dass in Schleswig-Holstein 3 700 Lehrerstellen
gestrichen wurden, dass in Baden-Württemberg 12 000
Lehrerstellen gestrichen wurden und in Nordrhein-West-
falen 25 Millionen Euro aus dem Etat für die Vertre-
tungslehrer gestrichen wurden. Das ist der Grund, wa-
rum wir Unterrichtsausfall haben. Sie zeichnen hier ein
Zerrbild.
Jetzt möchte ich zu dem Maßnahmenbündel kommen.
Es gibt viele Punkte, über die zu diskutieren sich lohnen
würde. Viele Bedenken, die der Kollege Jerzy Montag
hier vorgetragen hat, teile ich, insbesondere hinsichtlich
des Einsatzes der Geheimdienste. In einem Punkt bin ich
aber ganz anderer Meinung, Herr Montag. Das möchte
ich hier beleuchten. Es geht um das Unternehmensstraf-
recht. Hier wird der Eindruck erweckt, wir hätten in
Deutschland keine Sanktionsmöglichkeiten gegen das
Unternehmen, die juristische Person, den Verband. Das
ist aber schlichtweg falsch. Wir nennen das in Deutsch-
land zwar nicht Strafrecht – wir haben das Ordnungs-
widrigkeitenrecht –, aber mit den §§ 30 und 130 des
Ordnungswidrigkeitengesetzes stehen uns scharfe Sank-
tionsmöglichkeiten zur Verfügung. Ihrem Wesen nach
unterscheiden sie sich gar nicht von dem, was andere
Rechtsordnungen machen. In der Schweiz, die in diesem
Zusammenhang immer genannt wird, steht die Rechts-
folge in der Tat im Strafgesetzbuch – deswegen sagt man
immer, sie hätte ein Unternehmensstrafrecht –, tatsäch-
lich ist die Rechtsfolge dort aber eine Geldbuße. Das ist
das Gleiche wie in Deutschland. Wir haben sogar schär-
fere Mechanismen: Die Schweizer beispielsweise betrei-
ben die Abschöpfung des aus dem kriminellen Tun Er-
langten nur bis zu einer Obergrenze von 5 Millionen
Franken. In Deutschland können wir unbegrenzt ab-
schöpfen. Es ist schlichtweg falsch, wenn behauptet
wird, wir hätten in Deutschland keine Sanktionen oder
nur schwächere Sanktionen als in anderen Rechtsord-
nungen. Das muss man bitte schön einmal zur Kenntnis
nehmen.
Herr Kollege Buschmann, das löst eine Frage des
Kollegen Montag aus.
Ich glaube, dass ich diese Frage schon vorweggenom-
men habe und in meinen weiteren Ausführungen noch
beantworten werde.
Also lassen Sie die Frage nicht zu?
Das war damit konkludent zum Ausdruck gebracht.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013 29511
Marco Buschmann
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Das Schuldprinzip ist – anders als es zum Beispiel die
Kollegen der SPD auf Seite 13 ihres Antrags beschrei-
ben – nicht nur ein strafrechtsdogmatischer Lehrsatz.
– Ja, das schreiben die tatsächlich.
Sie sagen, das sei von der Verfassung nicht gedeckt. – In
Wahrheit ist der Grundsatz „Keine Strafe ohne Schuld“
seit dem 20. Band der amtlichen Sammlung der Ent-
scheidungen des Bundesverfassungsgerichts Teil des
Rechtsstaatsprinzips, Ausfluss des Gedankens der mate-
riellen Gerechtigkeit. Wenn dieser Grundsatz nicht ein-
gehalten wird, dann ist der betroffene Bürger in seinem
Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 verletzt.
So geht der Antragsteller hier mit Grundrechtssubstanz
um.
Deshalb ist das, Herr Montag, nicht etwas, hinter dem
wir uns verschanzen. Es handelt sich um einen struktu-
rellen Unterschied: Im Strafrecht geht es um personale
Schuld und im Ordnungswidrigkeitenrecht um Struktu-
ren, die sozusagen auch einen Unwertgehalt, einen Un-
rechtsgehalt produzieren. Dass wir auf diese Strukturen
mit eigenen Behörden, mit eigenen Instrumenten reagie-
ren, ist nicht Willkür und auch kein Versuch, hier irgend-
jemanden oder irgendwelche Strukturen zu decken, son-
dern direkt Ausfluss unseres Verfassungsrechts, und dies
sollten wir achten und wahren.
Herzlichen Dank.
Jetzt konnten wir bei einer anspruchsvollen straf-rechtsjuristischen Seminardiskussion anwesend sein. Füreinen schlichten Ökonomen war das spannend. VielenDank.
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29512 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013 29513
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Es ist ein Gesetzentwurf, der einen Kompromiss darstelltund der von unabhängigen Organisationen wie Transpa-rency International unterstützt wird. Ich bitte Sie alle,auch Sie von der FDP und der CDU/CSU: Geben Siesich endlich einen Ruck! Es ist erbärmlich, dass wir inDeutschland immer noch darüber reden, ob wir die Ab-geordnetenbestechung unter Strafe stellen. Es wirdhöchste Zeit, dass wir darüber reden, wie wir sie unterStrafe stellen.Herzlichen Dank.
Für Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin
Ingrid Hönlinger das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorwenigen Jahren hat der Korruptionsskandal bei Siemensdas Unternehmen nachhaltig erschüttert. Andere Unter-nehmen, die in diesem Zusammenhang genannt werden,sind: MAN, Ferrostaal, Daimler, Infineon, EADS, Thys-senkrupp und Rheinmetall. Das beschreibt die FAZ unterdem prägnanten Titel „Bestechende Großunternehmen“.Korruption ist fast immer ein Element von Wirtschafts-kriminalität. Korruption begünstigt sie. Korruption kos-tet den deutschen Staat und den deutschen SteuerzahlerGeld, sehr viel Geld. Wissenschaftliche Schätzungen ge-hen von einem Schaden von 250 Milliarden Euro jähr-lich aus. Noch viel schlimmer ist, dass Korruption dasVertrauen der Bevölkerung in Wirtschaft und Staat in-frage stellt. Das zeigt: Hier besteht großer Handlungsbe-darf. Wirtschaftskriminalität ist kein Kavaliersdelikt.
Ich möchte Ihnen heute drei Punkte nennen, die ausmeiner Sicht zentral sind. Immer wieder gibt es einzelneMenschen, mutige Insider, die ihr Wissen nach außentragen und Korruptionsskandale aufdecken. Diese Men-schen müssen wir ermutigen, rechtswidriges Handelnanzuzeigen. Wir brauchen ein gesellschaftliches Klima,das es diesen Mitarbeitern ermöglicht, Fehler offen an-zusprechen. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass sienicht den Makel des Verpfeifens oder des Petzens tragen.Diese Menschen verdienen den Respekt unseres Staatesund der Gesellschaft.
Wir müssen eine sichere rechtliche Grundlage für denSchutz von Whistleblowern schaffen. Wir müssen sievor Mobbing und Kündigung schützen. Das zeigt dasUrteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschen-rechte im Fall von Brigitte Heinisch sehr deutlich. WirGrüne haben in dieser Wahlperiode ebenso wie die bei-den anderen Oppositionsfraktionen Initiativen zumSchutz von Whistleblowern in den Bundestag einge-bracht. Nun stehen wir am Ende dieser Legislaturpe-riode, und diese Bundesregierung bleibt weiter untätig.Die Bundesregierung hält sich auch nicht an ihre ei-genen politischen Zusagen. Bereits im Herbst 2010 ha-ben Sie, meine Damen und Herren von der Regierungs-bank, in dem Antikorruptions-Aktionsplan der G-20-Staaten vollmundig erklärt, Sie würden bis Ende 2012Regeln zum Whistleblower-Schutz erlassen und umsetzen.Was haben Sie bisher getan? – Nichts. Damit werdenSie, meine Damen und Herren von der Regierungskoali-tion, unglaubwürdig – national und auch internationalgegenüber unseren Partnerländern.
Wir können noch ein weiteres Instrument schaffen,um Wirtschaftskriminalität effektiv zu bekämpfen. Las-sen Sie uns endlich über die Einführung eines bundes-weiten Korruptionsregisters nachdenken. Hintergrund istfolgender: Länder und Gemeinden vergeben jährlichAufträge im Wert von mehreren Hundert MilliardenEuro an private Unternehmen. Sie müssen auf ein bun-desweites Register zugreifen können, um festzustellen,ob ein Unternehmen, das sich um einen Auftrag bewirbt,bereits in Korruptionsfälle verwickelt war oder nicht.Die Bundesländer haben damit auf Landesebene gute Er-fahrungen gemacht. Diese Korruptionsregister schadenauch nicht den Unternehmen. Ganz im Gegenteil! Siehelfen den Unternehmen, weil sie nämlich die integerenUnternehmen vor den schwarzen Schafen schützen, undsie ermöglichen fairen Wettbewerb. Mit Korruptions-registern tragen wir dazu bei, dass die ehrlichen Unter-nehmen einen Vorteil haben und bei einer öffentlichenAuftragsvergabe nicht die Verlierer sind. Es wirdhöchste Zeit, dass wir hier im Bund endlich einheitlicheRegeln treffen.
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29514 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013
Ingrid Hönlinger
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Führende Vertreter aus der Wirtschaft, liebe FDP, for-dern die Bundesregierung auf, endlich zu handeln, weilhier die Glaubwürdigkeit Deutschlands international aufdem Spiel steht. Die Bundesregierung ist dafür verant-wortlich, dass wir weiter auf einer Stufe stehen mit Län-dern wie dem Sudan, Somalia, Tschad, Syrien oderNordkorea.
Sie reklamieren nach außen Wirtschaftskompetenz fürsich, Kolleginnen und Kollegen von der schwarz-gelbenKoalition; doch bei der Bekämpfung von Wirtschaftskri-minalität gibt es bei Ihnen noch erhebliche Defizite.Wir Grünen haben hier die besseren Konzepte: Wirfordern den Schutz von Whistleblowern, wir fordern dieEinführung eines bundesweiten Korruptionsregisters,und wir fordern eine Ausweitung der strafrechtlichenRegelung für den Tatbestand der Abgeordnetenbeste-chung,
damit wir die UN-Konvention gegen Korruption endlichratifizieren können. Erst eine rot-grüne Koalition wirddie Kraft haben, sich eindeutig gegen Korruption zupositionieren.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Kollege Norbert Geis für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Im Antrag der SPD ist eine ganze Reihe von ge-setzlichen Änderungen und neuen Sanktionsmöglichkei-ten vorgesehen, die wir in dieser Legislaturperiode mitSicherheit nicht mehr durchdiskutieren können, ge-schweige denn, dass wir zu einer weitergehenden Bera-tung dieses Antrags kommen können. Da entsteht schonein bisschen der Eindruck, dass es hier weniger um dieSache und mehr um Wahlkampf geht. Mich wundertauch, dass von der SPD so wenige Vertreter hier sind. Essind, wenn ich richtig zählen kann, nur drei Personen an-wesend. Das ist zu wenig für die Diskussion eines An-trags, der von der SPD gestellt worden ist.
– Entschuldigung, ich nehme das zurück: Es sind vierKolleginnen und Kollegen der SPD anwesend. Ich kannnur bis drei zählen.
Aber lassen Sie mich etwas zur Sache sagen: Sie ma-chen Vorschläge zur Vermögensabschöpfung. Ich haltedie Vermögensabschöpfung in der Tat für ein exzellentesInstrument. Wir kennen die Vermögensabschöpfung ausder Diskussion über die Bekämpfung der organisiertenKriminalität. Auch zur Bekämpfung von Wirtschaftskri-minalität, zum Beispiel von Geldwäsche, ist die Vermö-gensabschöpfung ein exzellentes Mittel. Dieses Mittelist jedoch nur wirksam, wenn es länderübergreifend ge-handhabt wird. Nicht nur in der organisierten Kriminali-tät, auch in der Wirtschaftskriminalität sind die Akteureländerübergreifend tätig. Deswegen wird dieses Themaauch auf der europäischen Ebene diskutiert. Es scheintsich eine Einigung abzuzeichnen. Deswegen bin ich derMeinung, dass wir dieses Thema hier nicht gesondertdiskutieren sollten, sondern erst einmal diese Einigungabwarten sollten. Eventuell kommt eine Richtlinie he-raus, die wir dann umsetzen werden. Warten wir solange!Es werden der Schutz von Whistleblowern und dieEinrichtung eines bundesweiten Korruptionsregisters ge-fordert. Diese Diskussionen haben wir hier doch schongeführt, sie sind doch längst abgeschlossen.
Darüber ist hier schon abgestimmt worden, und der ent-sprechende Gesetzentwurf ist, wie Herr van Essen ebenrichtig dazwischengerufen hat, krachend durchgefallen.Warum sollen wir denn neu über alte Vorschläge debat-tieren? Lassen wir das! Dennoch will ich durchaus zuge-ben, dass hier Ansätze sind, über die nachzudenken undzu diskutieren sich lohnt.Eine zentrale Forderung oder überhaupt der Kern desAntrages – so habe ich ihn jedenfalls verstanden – drehtsich darum, ob man zusätzlich zum Ordnungswidrigkei-tenrecht nun ein Unternehmensstrafrecht einführt. Daswürde bedeuten, dass man also nicht nur im Verwal-tungsrecht entsprechende Vorschriften vorsieht, sondernauch im Strafrecht. Das hat Herr Buschmann schon gutdargestellt; deswegen will ich das nicht ausführlich wie-derholen.Ich will an dieser Stelle nur kurz meine Auffassungkundtun: Ein Unternehmen kann sich nach unseremRechtsverständnis nicht strafbar machen. Es gilt der alt-römische Grundsatz: Societas delinquere non potest –eine Gemeinschaft kann sich nicht strafbar verhalten.Strafbar verhalten können sich immer nur Personen: derProkurist, der Abteilungsleiter, der Geschäftsführer, dasMitglied des Vorstands, das Mitglied des Aufsichtsrats.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013 29515
Norbert Geis
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darüber nachzudenken. Ich hoffe, dass wir zu vernünfti-gen Ergebnissen kommen, wenn auch nicht in Form ei-
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Norbert Geis
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durchaus Sinnvolles vorhanden ist und auch solches, andas man anknüpfen kann.Wenn man sich den Antrag allerdings aufmerksamansieht, stellt man fest, dass er eine ganze Menge an Wi-dersprüchen enthält. So fordern Sie in Ihrem Antrag bei-spielsweise ein bundesweit gleichmäßiges Vorgehen derFinanzbehörden gegen Steuerhinterziehung. Diese Ein-schätzung teilen wir uneingeschränkt. Jetzt kam in derDiskussion um die Steueroasen der Vorschlag – unter an-derem von unserem Staatssekretär Kampeter –, ein ein-heitliches Steuer-FBI ins Leben zu rufen, also eine ArtBundespolizei für die Bekämpfung der Steuerhinterzie-hung. Das wurde von den SPD-Länderchefs sogleich ab-gelehnt.
Das Interessante daran ist, dass die sozialdemokrati-schen Länderchefs damit auch ihrem Kanzlerkandidatenwidersprochen haben; denn Peer Steinbrück hat in sei-nem Acht-Punkte-Plan Anfang dieses Monats gefordert,eine bundesweite Steuerfahndung einzuführen. – Damüssen wir uns ganz generell fragen: Wie verlässlichsind in Zukunft die Klartextaussagen von PeerSteinbrück, der offensichtlich in Ihren eigenen Reihennur noch wenig Beinfreiheit zur Verfügung hat?
Der nächste Punkt, auf den ich gerne eingehenmöchte, ist das Thema Ankauf von Steuer-CDs. Ich habedamit grundsätzlich gar keine Probleme und teile in die-sem Fall die Einschätzung des Kollegen Binding. Aberich sage doch: Der Ankauf dieser CDs – das muss manfesthalten – beschert uns in der Regel nur Einzelerfolgeaufgrund von Einzelmaßnahmen. Es geht nicht um einerechtsstaatlich fundierte, wie der Kollege van Essen daszu Recht bemerkt hat, Ermittlungsmaßnahme, die syste-matische Erfolge und eine wirkliche Austrocknung die-ses Sumpfes Steuerhinterziehung ermöglicht. Darübermüssen wir uns doch einig sein. Eine gescheitere Maß-nahme wäre die Unterzeichnung des Steuerabkommensmit der Schweiz gewesen, was aber ohne Ihre Zustim-mung nicht möglich war.
Herr Kühl aus Rheinland-Pfalz rennt herum und sagt:Ich habe diese tolle Steuer-CD erworben. Sie bringt mirspäter 500 Millionen Euro ein. – Der Kollege Walter-Borjans aus Nordrhein-Westfalen war überhaupt nicht inder Lage, auf Anfrage der CDU-Opposition darüberAuskunft zu geben, wie viel denn der bisherige Ankaufvon Steuer-CDs erbracht habe. Also: Was kommt dabeinachher wirklich an Erträgen heraus? Darüber haben wirbisher überhaupt keine verifizierten Zahlen vorliegen.Die Zahl von 500 Millionen Euro steht im Raum. Ob wirdiese Summe jemals sehen werden, ist reine Spekula-tion. Auch unter diesem Gesichtspunkt muss man die Ef-fizienz dieser Maßnahme hinterfragen.Ich gehe noch einmal auf das Thema Schweiz ein. Ichmache das, weil hier eben nicht zutreffende Behauptun-gen verbreitet wurden. Es wird immer gesagt, die USAhätten mit ihrem Musterabkommen mit der Schweiz,dem FATCA-Abkommen, viel mehr erreicht. Die USAhaben mit diesem Abkommen für die Vergangenheit garnichts geregelt. Es bleibt also ungeklärt, wer früher ein-mal in der Schweiz Geld angelegt hat; da bekommen dieUSA keinen Cent. Das ist die Wahrheit. Bei unseremSteuerabkommen dagegen würden nicht nur die Zinser-träge aus der Vergangenheit, sondern auch das gesamteKapital der Anleger pauschal nachversteuert werden,und zwar mit einem Zinssatz von 21 bis 41 Prozent. ImSchnitt müssten die Steuerzahler ungefähr 26,5 Prozentnachzahlen, und zwar nicht nur auf die dort anfallendenZinserträge, sondern auf das gesamte schwarze Kapital,das dort angelegt ist. Das vergessen viele, insbesondereallzu gerne in Ihren Reihen, Kollege Binding.
Wir hätten damit einige Milliarden an zusätzlichen Ein-nahmen zur Verfügung gehabt. Auf diese müssen wirjetzt bedauerlicherweise verzichten. Insoweit ist IhreKritik, an dieser oder jener Stelle stehe nicht genügendGeld zur Verfügung, nicht viel wert.
Eben wurde gesagt, wir hinkten der Entwicklung iminternationalen Kontext, wenn es um die Bekämpfungvon Steuerhinterziehung gehe, etwas hinterher. Das ge-naue Gegenteil ist der Fall. Wir sind natürlich im inter-nationalen Kontext auf die Zusammenarbeit mit anderenLändern angewiesen. Bisher wurden Doppelbesteue-rungsabkommen, also Verträge zwischen Deutschlandund den jeweiligen Partnerländern, abgeschlossen. DassSie damit ein Problem haben, verwundert mich; dennbisher haben Sie allen Doppelbesteuerungsabkommen,die die Bundesrepublik Deutschland abgeschlossen hat,zugestimmt, und zwar uneingeschränkt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013 29517
Dr. Mathias Middelberg
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Ich sage Ihnen ganz deutlich: Unsere Steuerpolitikkann sich sehen lassen. Wir kommen mit der Kavalleriegerade auf internationaler Ebene nicht so gut voran, ins-besondere dann nicht, wenn sie wie bei Steinbrück auftoten Pferden unterwegs ist. Wir bleiben unserem Stiltreu, verhandeln nachhaltig und setzen auf Diplomatie,Transparenz und Konsequenz.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/13087 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 11 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Verkürzung der Aufbewahrungs-
fristen sowie zur Änderung weiterer steuerli-
cher Vorschriften
– Drucksache 17/13082 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Dann eröffne ich auch schon die Aussprache und er-
teile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Olav
Gutting für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!Warum bringen wir heute einen Gesetzentwurf ein, des-sen wesentliche Inhalte wir bereits vor sechs Monatenhier in diesem Hause beschlossen haben?
Die Antwort ist einfach: Seit Monaten nutzt die rot-grüne Opposition im Bundestag ihre Mehrheit im Bun-desrat als Blockadeinstrument.
Seit Monaten geht es der Opposition und der Mehrheitim Bundesrat nur noch um Machtpolitik und nicht mehrum Sachpolitik.
Ob beim Abbau der kalten Progression, womit wirgerade die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mitmittleren Einkommen entlasten wollten, ob bei der steu-erlichen Absetzbarkeit der energetischen Sanierungsleis-
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29518 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013
Olav Gutting
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Auch das Jahressteuergesetz 2013, das ja wichtigeEntlastungsregeln für die Bürgerinnen und Bürger, fürdie Unternehmen und für die Verwaltung beinhaltete, ha-ben Sie im Bundesrat gegen die Wand gefahren. Nachdiesem Crash stehen wir jetzt wieder hier und versuchen,die Teile des auseinandergeflogenen Gesetzes wieder zu-sammenzusetzen und zusammenzubasteln.Wir haben hier vor wenigen Wochen mit dem Amts-hilferichtlinie-Umsetzungsgesetz schon Maßnahmen ausdiesem gescheiterten Jahressteuergesetz beschlossen undauf den Weg gebracht. Jetzt sollen, wie von uns verspro-chen und vorhergesagt, weitere Maßnahmen folgen, da-runter auch eine Änderung bei der Erbschaftsteuer. Indiesem Haus herrscht ja wohl Konsens darüber, dass derMissbrauch, den es bei den sogenannten Cash-Gesell-schaften gibt, nicht tolerierbar ist. Ich habe an dieserStelle vor wenigen Wochen gesagt, dass wir zeitnah ei-nen Vorschlag auf den Tisch legen werden, wie wir die-sen Missbrauch im Zusammenhang mit Cash-Gesell-schaften verhindern. Das haben wir versprochen, undheute liefern wir.
Wie versprochen unternehmen wir einen nächstenVersuch, um rechtliche Betreuer wie auch die Leistun-gen von Bühnenregisseuren und -choreografen von derUmsatzsteuer zu befreien. Wir hatten das schon einmalhier beschlossen. Das Gleiche gilt für den besonderenGewerbesteuerzerlegungsmaßstab bei der Photovoltaik.Aber ich fürchte, dass auch dieser Gesetzentwurf – ob-wohl das etwas ist, was Sie selbst fordern – im Bundes-rat von der rot-rot-grünen Mehrheit aufgehalten werdenwird.Sie werden dies dann den Menschen erklären müssen,liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition.
Sie werden erklären müssen, warum Sie sich gegen dieVerkürzung der Aufbewahrungsfristen wenden, warumSie unseren Mittelstand und die Industrie in Deutschlandnicht von zusätzlichen Bürokratiekosten in Höhe von2,5 Milliarden Euro entlasten.
Sie fallen damit – das ist ganz interessant – auch IhremKanzlerkandidaten Peer Steinbrück in den Rücken; denner hat vor wenigen Wochen bei einer Mittelstandsveran-staltung gefordert, unnötige, für den Mittelstand kosten-intensive Regelungen abzuschaffen. Dabei hat er explizitauch die Aufbewahrungsfristen angesprochen. Heutehätten Sie die Möglichkeit, Ihren Kanzlerkandidaten hierzu unterstützen. Sie werden diesen Gesetzentwurf aber,wie Sie schon angekündigt haben, wahrscheinlich ableh-nen und auch im Bundesrat blockieren.Sie werden auch erklären müssen, warum Sie diesenGesetzentwurf, mit dem wir eine längere Geltungsdauerder Freibeträge im Lohnsteuerabzugsverfahren einfüh-ren wollen, aufhalten. Sie werden das auch gegenüberder Verwaltung erklären müssen. Das, was geplant ist,wäre nicht nur eine Erleichterung für die Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer in diesem Land, sondern eswäre auch eine Verfahrensvereinfachung für die Finanz-verwaltung.Die rot-grün regierten Bundesländer müssen sich jetztihrer Verantwortung stellen, und sie müssen diese Blo-ckade aufgeben. Hören Sie auf, wichtige Maßnahmen,die wir hier im Bundestag beschließen, immer wiederausschließlich mit dem Blick auf die Bundestagswahl imSeptember zu blockieren und zu verhindern. GlaubenSie, dass diejenigen, die zivilen Freiwilligendienst leis-ten, Verständnis dafür haben, dass Rot-Grün die Steuer-befreiung ihres Taschengeldes verhindert? Glauben Sie,dass die von Ihnen im Bundesrat aufgehaltenen Steuer-befreiungsvorschriften für freiwillig Wehrdienstleis-tende und Reservisten bei diesen auf Verständnis stößt?Die Menschen interessieren sich doch nicht für diesetaktischen Spielchen.
Die Menschen wollen, dass gehandelt wird.
Sie haben diese Regelungen verdient. Sie könnten längstGesetz sein. Wir haben sie hier bereits vor sechs Mona-ten beschlossen.
Ich kann nur sagen – das ist eine Bitte an Sie und auchein Appell an das Verantwortungsbewusstsein von Rot-Grün –: Hören Sie mit dieser Blockadepolitik im Bun-desrat auf.
Alles andere ist unredlich. Es schadet unserem Land. Esschadet den Bürgerinnen und Bürgern in diesem Land.Seien Sie kooperativ. Arbeiten Sie mit bei diesen wichti-gen Regelungen, die den Menschen in unserem Landhelfen und sie voranbringen.Herzlichen Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013 29519
Olav Gutting
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– Ich weiß, welcher Tagesordnungspunkt an der Reiheist. Keine Panik! – Allerdings haben Sie behauptet, dass10 Milliarden Euro in die Staatskasse fließen könnten,wenn das von Ihnen bevorzugte Abkommen mit derSchweiz geschlossen worden wäre. Frage: Wie habenSie das berechnet? Liegt dem nicht viel mehr Spekula-tion zugrunde? Als Herr Koschyk im Ausschuss diesenBetrag nannte, habe ich ihn in einem Zwischenruf ge-fragt: Würden Sie das unterschreiben? Darauf hat er klu-gerweise keine Antwort gegeben. Das ist klar; denn dieHöhe dieses Betrages lässt sich nicht berechnen, sondernist Spekulation. In der Zukunft könnte das ein großesProblem sein.Zum eigentlichen Thema. Wir sind natürlich für dieUmsatzsteuerbefreiung für rechtliche Betreuer, für Büh-nenregisseure und –choreografen, für die Steuerbefreiungdes – da merkt man auch, wie kleinmütig man manchmalsein kann – Taschengeldes für diejenigen, die zivilenFreiwilligendienst leisten. Wir sind für die längere Gel-tungsdauer eines Freibetrags im Lohnsteuerabzugsver-fahren. Wir sind für die neuen Regeln für freiwillig Wehr-dienstleistende. Das sind alles gute Maßnahmen.Der Kollege Gutting hat gefragt: Warum diskutierenwir darüber eigentlich erst heute? Er hat dann gesagt:Das ist im Bundesrat alles blockiert worden. – Nein,Olav; das ist eine Selbstblockade der Regierungskoali-tion.
Wie kommt das zustande? Die Sache ist ganz einfach:Es passiert immer wieder, dass Dinge, die im Koalitions-vertrag dieser Regierung stehen, im Bundestag plötzlichabgelehnt werden. Gestern wurde hier sogar ein CDU-Parteitagsbeschluss eingebracht und von den CDU-Kol-legen einstimmig abgelehnt. Was das für eine Politik ist,bei der man gewissermaßen hier antäuscht und dort da-gegen stimmt? Ist doch klar: Bei diesem Widerspruchgibt es Probleme.So war das hier auch. Es gab ein zu 99 Prozent abge-stimmtes Jahressteuergesetz. Es gab in diesem Gesetz ei-nen einzigen strittigen Punkt, nämlich die steuerlicheGleichstellung von Lebenspartnerschaften. Dazu stehtetwas in Ihrem Koalitionsvertrag. Indem Sie sogar gegenIhren Koalitionsvertrag verstoßen, haben Sie die anderen99 Prozent des Gesetzes zu Fall gebracht. Deshalb gibtes hier keine Blockade durch den Bundesrat, sonderneine Selbstblockade dieser Koalition.
Dass dies alles relativ chaotisch abläuft, kann jedernachvollziehen; denn man kann einfach nicht erklären,dass man gegen sich selbst stimmt. Sie benutzen die Op-position nur, um zu begründen, warum Sie gegen sichselbst stimmen müssen. Das ist eine relativ komplizierteAngelegenheit.
Im Vermittlungsergebnis zum Jahressteuergesetz wa-ren gute Regeln enthalten. Jetzt frage ich mich: Warumsind diese guten Regeln, auf die wir uns schon verstän-digt hatten, in dem heute vorliegenden Entwurf nichtmehr enthalten?
Bei der Einkommensteuer geht es um Goldfinger-Mo-delle. Das ist jetzt gut geregelt; da gibt es keine Kritik.Bei der Erbschaftsteuer muss man ein bisschen ge-nauer nachschauen. Was die Gestaltung über Cash-GmbHs angeht, waren wir uns einig. Mit dem heute vor-liegenden Entwurf schaffen Sie erneut ein Schlupfloch.
Warum? Warum dieser Rückschritt? Wir hatten heuteschon eine Diskussion über Steuerkriminalität undSchlupflöcher. Jetzt gehen Sie schon wieder in dieseRichtung, und das ist natürlich schlecht.Zu den Real-Estate-Transfer-Tax-Blockern, denRETT-Blockern, zur Steuergestaltung bei Grundstücks-käufen. Letztlich fehlt dieser Bereich jetzt ganz. Oder
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29520 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013
Lothar Binding
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Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehr-ten Damen und Herren! Kollege Binding, Sie haben ge-rade im Wesentlichen vorgetragen, was in diesem Gesetznicht steht, von dem Sie aber meinen, dass es im Gesetzstehen müsste. Man sollte vielleicht eher einmal darüberdiskutieren, welche Änderungen die Koalitionsfraktio-nen in diesem Gesetzentwurf vorlegen und welche posi-tiven Auswirkungen diese Änderungen haben,
sodass wir in diesem Hause am Ende gemeinsam einenpositiven Beschluss, eine gute Steuergesetzgebung fürdie Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande, fassen.Wir werden zum Beispiel die Gewerbesteuerzerlegungbei Windkraftanlagen neu regeln. Das ist ein wichtigerPunkt; ich denke, insbesondere auch für die Grünenfrak-tion. Ich kann Sie nur auffordern, dem zuzustimmen, undzwar nicht aus irgendwelchen Gründen. Sie sollten for-mulieren, dass es eine wirklich gute Regelung ist, undsich nicht hinter vorgeschobenen Argumenten verste-cken. Sie sollten nicht wegen irgendwelcher fehlendenRegelungen eine Ablehnung konstruieren.
Wenn wir die freiwillig Wehrdienstleistenden entlas-ten, sie bei ihrem Dienst an der Gesellschaft, bei ihremDienst für dieses Land unterstützen, wenn wir diejeni-gen, die zivilen Freiwilligendienst leisten, entlasten
und sie bei ihrem Dienst an der Gesellschaft unterstüt-zen, dann müssen doch auch Sie das positiv aufnehmenund müssen dem doch zustimmen können.
Also insofern: Lehnen Sie dieses Gesetz nicht ab, son-dern machen Sie mit uns eine gute Steuerpolitik!
Letztendlich muss man sich ja fragen: Was haben Ihnendenn diejenigen, die freiwillig Wehrdienst oder einen zi-vilen Dienst leisten, getan, dass Sie Verbesserungen indiesem Bereich immer wieder mit vorgeschobenenGründen ablehnen?
Die Umsatzsteuerfreiheit für Betreuer ist ein ganz we-sentlicher Punkt in einer Gesellschaft,
in der immer mehr Betreuungsleistungen nötig werden.Das ist eine wichtige steuerpolitische Entscheidung.Stimmen Sie dem zu!
Wenn wir mit diesem Gesetz den Mittelstand durchdie Verkürzung der Aufbewahrungsfristen von Bürokra-tie entlasten, was zu einer Entlastung in der Größenord-nung von 2,5 Milliarden Euro führt – übrigens ausdrück-lich begrüßt vom Nationalen Normenkontrollrat –, dannmüssen Sie dem doch auch zustimmen können. Dennauch dort muss man sich fragen: Was haben Ihnen denn
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013 29521
Dr. Daniel Volk
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Also insofern: Sie können diesem Gesetz mit gutem Ge-wissen, aus gutem Grund zustimmen.Sie können diesem Gesetz insbesondere vor dem Hin-tergrund zustimmen, dass wir ein weiteres Steuer-schlupfloch schließen werden, nämlich mit der Regelungzu den sogenannten Cash-GmbH, womit wir eine miss-bräuchliche Steuergestaltung verhindern bzw. vermeidenwollen, und zwar im Interesse einer gerechten Besteue-rung aller Steuerpflichtigen. Der Sinn ist ja, dass wir hierSteuerschlupflöcher schließen wollen.
Auch da können Sie zustimmen, auch da können Sie einpositives Votum abgeben. Aber bitte lassen Sie es, sichhinter vorgeschobenen Argumenten zu verstecken.Wissen Sie, das Entscheidende an der Sache ist ja,dass all diese Regelungen schon einmal auf dem Tischwaren, nämlich vor ungefähr einem halben Jahr hier imBundestag.
Auch da haben Sie Ihre Zustimmung verweigert.
Im Bundesrat haben auch Ihre Parteifreunde aus denLandesregierungen, die rot-grün regierten Länder, dieseRegelungen abgelehnt.Sie können jetzt noch einmal die Chance ergreifen,diesem Kurs einer vernünftigen Steuerpolitik, einerSteuerpolitik aus einem Guss zuzustimmen, um auf dereinen Seite diejenigen, bei denen wir Entlastungen vor-nehmen müssen, auch wirklich zu entlasten und auf deranderen Seite durch das Schließen von Steuerschlupflö-chern eine gerechte Besteuerung aller Steuerpflichtigenzu gewährleisten. Dem können Sie zustimmen.
Dementsprechend kann ich Sie nur auffordern: GebenSie die Blockadehaltung auf. Machen Sie eine Steuer-politik für die Bürgerinnen und Bürger,
für die Steuerpflichtigen in diesem Land. Folgen Sie un-serer vernünftigen Finanzpolitik.
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort die Kol-
legin Dr. Barbara Höll.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Gute Steuerpolitik und FDP, das schließt sichschon per se aus. Also, diese Grundlage gibt es leidernicht.Ich habe in Vorbereitung der heutigen Rede gedacht:Wo ist die gute alte Zeit hin?
Früher hießen Jahressteuergesetze auch wirklich Jahres-steuergesetz. Da gab es jährlich ein Jahressteuergesetz,und in das wurde alles hineingepackt, was anzupassenist, was notwendig ist. Das wurde diskutiert – auch imBundesrat, eventuell im Vermittlungsausschuss – undverabschiedet.Diesmal ist es so: Es gab ein Jahressteuergesetz 2013.Herr Kollege Binding sagte es schon: Aus dem Koali-tionsvertrag wurde die steuerliche Gleichstellung derEingetragenen Lebenspartnerschaft mit der Ehe – dieswäre eine Umsetzung Ihrer Positionierung im Koali-tionsvertrag – aufgenommen. Deswegen haben Sie allesplatzen lassen. Ich habe im Ausschuss nachgefragt: HerrStaatssekretär Koschyk, wie ist es, kommt ein neues Jah-ressteuergesetz? – Nein.Dann kommt ein Gesetz zur Verkürzung der Aufbe-wahrungsfristen sowie zur Änderung weiterer steuerli-cher Vorschriften. Das ist aber nicht der erste Versuch.Es gab in der Zwischenzeit schon ein Amtshilferichtli-nie-Umsetzungsgesetz. Das alles sind kleine Jahressteu-ergesetze 2013.Also, es findet sich niemand mehr zurecht. Das Amts-hilferichtlinie-Umsetzungsgesetz liegt derzeit im Ver-mittlungsausschuss. Es herrscht ein riesiges Hin undHer. Den heute vorliegenden Gesetzentwurf wollen Sieganz schnell durch den Bundestag bringen. Wir habenuns natürlich die Mühe gemacht, das alles richtig zu be-werten; mein Kollege Binding war sich nicht sicher, ober etwas übersehen hat. Interessant ist, dass die Diskus-sion über das Jahressteuergesetz 2013 im Vermittlungs-ausschuss eigentlich erfolgreich war.
Es wurden Kompromisse gefunden. Diese Kompromissewurden getragen von der CDU/CSU, der FDP, der SPD,den Linken und den Grünen. Diese haben Sie abgelehnt.Nun könnte man den einen Punkt, den Sie nicht habenwollten, der aber im Koalitionsvertrag steht, herauslas-sen. Aber die anderen könnte man so verabschieden.Nein! Im Amtshilferichtlinie-Umsetzungsgesetz stehtwiederum nur ein Teil davon. Auch im heute vorliegen-den Gesetzentwurf steht nur ein Teil. Man versteht nicht,was. Ich habe mir das einmal farblich gekennzeichnet.Hier finde ich vier völlig neue Vorschläge, die wir ganz
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29522 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013
Dr. Barbara Höll
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Wir haben schon im Vermittlungsausschuss gesagt,dass wir natürlich bei den Fragen in Bezug auf die Büh-nenchoreografen und Bühnenregisseure übereinstim-men. Auch hinsichtlich der Kindergeldregelung bei Aus-landseinsätzen besteht kein Problem.Aber warum kommen Sie jetzt wieder mit demThema der Verkürzung von Aufbewahrungsfristen? Diesist doch durchsichtig. Es geht Ihnen dabei nur darum,Herrn Steinbrück vorzuführen. Ob es Ihnen gelingt odernicht, wird man sehen. Das Thema der Verkürzung vonAufbewahrungsfristen wurde im Ausschuss länger dis-kutiert. Ich habe immer wieder nachgefragt, warum Siedie Verkürzung von Aufbewahrungsfristen wollen. Eskommt von Ihnen immer wieder das Argument des Bü-rokratieabbaus. Es geht doch nicht allein um Bürokratie-abbau. Das ist doch Quatsch.
Das meiste wird doch heute elektronisch gespeichert. ObSie die Unterlagen zehn Jahre oder sieben Jahre elektro-nisch speichern, ist kein Unterschied. Der Computerbleibt der gleiche; vielleicht brauchen Sie 3 oder 20 CDsmehr. Diese nehmen nicht sehr viel Platz in Anspruch.Es stellt sich aber die Frage: Was geht verloren, wenndie Aufbewahrungsfrist verkürzt wird? Die Prüfmög-lichkeit verkürzt sich um drei Jahre. Wenn wir in dennächsten Jahren mit Steuerausfällen und Mindereinnah-men von bis zu 3 Milliarden Euro – das ergibt sich ausIhrem Finanztableau – rechnen müssen, dann nehmenSie bewusst, sehenden Auges, in Kauf, dass aufgrundder fehlenden Prüfmöglichkeiten Steuervermeidung oderungerechte Steuerzahlung die Folge sein können.Mich ärgert besonders – das bezieht sich auch auf dieDebatte zur Wirtschaftskriminalität –: Warum nehmenSie hier nicht, wie es im ursprünglichen Jahressteuerge-setz 2013 der Fall war, die Regelungen zu Familienstif-tungen und Trusts auf? Die fallen einfach weg, und zwarohne jegliche Begründung. Bei diesem Gesetzentwurf,den Sie vorlegen, zeigt sich der Unterschied zwischenWorten – Bekämpfung von Steuerumgehung und Steuer-hinterziehung – und Taten.Danke.
Jetzt hat das Wort die Kollegin Lisa Paus für die Frak-
tion Die Linke – Entschuldigung, für Bündnis 90/Die
Grünen.
Gerade noch die Kurve gekriegt, Herr Präsident. – HerrPräsident! Meine Damen und Herren! Am 12. Dezemberhatten wir ein hundertprozentiges Vermittlungsergeb-nis – ohne die Gleichstellungsfrage. Nur um von demKoalitionsstreit um die steuerliche Gleichstellung vonLebenspartnerschaften, die tatsächlich im Koalitionsver-trag verankert war – darauf wurde schon hingewiesen –,abzulenken, machen Sie mit der heutigen Vorlage wiederzwei thematische Fässer auf und legen einen Gesetzent-wurf mit Positionen vor, die bereits von Ihren eigenenschwarz-gelben Landesregierungen beim letzten Durch-lauf im Bundesrat abgelehnt worden sind.
Nur um ein Signal an die eigene Klientel zu senden, ner-ven Sie uns hier. Ich sage dazu nur: Jeder macht sich solächerlich, wie er selber kann.
Erstes Fass: Aufbewahrungsfristen. Die Aufbewah-rungsfristen wollen Sie wieder von zehn auf acht undspäter auf sieben Jahre verkürzen. Dadurch entgehendem Fiskus jährlich Mehrergebnisse aus Betriebs- undAußenprüfungen in der Größenordnung von mehrerenMillionen Euro. Das ist auch in der Anhörung, die wirdazu im Deutschen Bundestag durchgeführt haben, deut-lich geworden.
Außerdem leisten Sie der Verfolgung von Steuerstraf-taten einen Bärendienst. Wenn Gesetzeslage ist, dassSteuerhinterziehung erst nach zehn Jahren verjährt, dieUnterlagen aber nur sieben Jahre aufbewahrt werdenmüssen, dann offenbart das Ihr Verhältnis zum Rechts-staat in Fragen der Steuerhinterziehung. Was soll dennder Steuerfahnder im neunten Jahr machen? Welche Un-terlagen soll er denn prüfen, wenn sie geschreddert sind,meine Damen und Herren von der Koalition?
Das zweite Fass sind die Cash-GmbH. Sie legen hiereinen Änderungsvorschlag vor, der die Cash-GmbH wie-der verfassungskonform machen soll. Cash-GmbH sindGesellschaften, deren einziger Zweck es ist, Steuervor-teile zu sichern. Der Bundesfinanzhof hat Ihnen die gel-tende Regelung um die Ohren gehauen. Deswegenbraucht es eine Änderung. Bisher gab es einen Konsensdahin gehend, dass dies tatsächlich ein Problem ist unddass alle gemeinsam dieses Steuerschlupfloch schließenwollen. Entsprechend hat man sich auf einen Vorschlagim Vermittlungsausschuss geeinigt. Sie machen hierwieder ein Fass auf. Wenn man sich Ihre Regelung an-schaut, dann stellt man fest: Sie wollen das Steuer-schlupfloch gar nicht schließen, sondern Sie wollen esweit auflassen, Sie wollen es nur gesetzeskonform ma-chen. Kommen Sie zu der alten Regelung zurück!
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013 29523
Lisa Paus
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Was haben Sie vor? Wenn es im Unternehmensver-bund irgendwo mehr als 20 Arbeitskräfte gibt, dannkann noch so viel Privatvermögen umgeschichtet wer-den, aber eine Cash-GmbH wäre es nach Ihrer Formulie-rung nicht mehr.Aber das reicht Ihnen noch nicht einmal aus. Sie set-zen noch eins drauf, und zwar richtig. Sie wollen auchnoch Finanzdienstleistungsinstitute von der Regelungausnehmen. Ich verstehe das nicht. Das kann doch nichtwirklich Ihr Ernst sein. Finanzdienstleistungen sind glas-klar nicht begünstigtes Verwaltungsvermögen. Jetztmuss der Cash-GmbH nur noch der Hauptzweck Finanz-dienstleistung angepinnt werden – das wäre noch nichteinmal gelogen –, und schon fällt deren Vermögen ausder Besteuerung heraus, wenigstens zu 50 Prozent. MitIhrer Regelung schaffen Sie neue Umgehungswege. Daist das nächste BFH-Urteil vorprogrammiert. Ihre Rege-lung retten Sie höchstens bis zur Bundestagswahl, aberdefinitiv keinen Tag darüber hinaus.
Deswegen fordere ich Sie noch einmal auf: KehrenSie zu dem Ergebnis, auf das man sich im Vermittlungs-ausschuss zu 100 Prozent geeinigt hat, zurück. Dann,Herr Gutting, wird es auch von uns hier und im Bundes-rat eine Zustimmung dazu geben.
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich erneut dem Kollegen Dr. Mathias Middelberg
das Wort.
Herr Präsident, herzlichen Dank. – Meine Damen undHerren! Liebe Kollegen! Ich will mir ganz kurz erlau-ben, auf den Kollegen Binding und das schöne Schwei-zer Steuerabkommen einzugehen. Ich will gerne nocheinmal erklären, wie man auf eine Schätzung von10 Milliarden Euro kommen kann; man kann den Betragnatürlich nicht exakt berechnen. 2 Milliarden Euro wä-ren ohnehin von den Schweizer Banken garantiert gewe-sen. Die wären in jedem Fall geflossen; auf die habenwir jetzt definitiv verzichtet.Wir hätten in jedem Fall mehr erlangt. Selbst wennwir durch den Ankauf aller möglichen Steuer-CDs alleSteuersünder in der Schweiz hätten identifizieren undnachträglich besteuern können, wäre diese Besteuerungimmer nur auf die Zinserträge fällig gewesen. Bei unse-rer Regelung und laut unserem Steuerabkommen wäreimmer das gesamte Kapital, also das ganze Geld, das dieLeute in die Schweiz geschafft haben, besteuert worden,der gesamte Haufen, nicht nur die Erträge daraus, dieüber die Jahre erzielt worden wären.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, natürlich,denklogisch – das ist für den Grundschüler, der in derersten Klasse Mathematik hat, einfach auszurechnen –erlangt man dabei deutlich höhere Steuererträge, alswenn man nur die Zinsen besteuert. – Das vorweg.
Nachdem wir die Dinge so weit berichtigt hätten,würde ich gerne zu dem heute vorliegenden Gesetzent-wurf etwas sagen. Zum Thema Cash-GmbH ist das Zu-treffende vom Kollegen Volk ausgeführt worden. Ichwürde gerne auf das Thema Aufbewahrungsfristen ein-gehen. Die Kollegin Höll hat eben gesagt, es gehe unshier nur darum, den Kanzlerkandidaten der SPD vorzu-führen.
– Das macht er selbst; das ist völlig richtig. – Aber an die-sem Punkt bin ich einmal ganz präzise. Ich finde, dass sichdie Widersprüchlichkeiten summieren. Herr Steinbrücksagt das eine, die SPD sagt etwas anderes; HerrSteinbrück sagt etwas, die SPD rudert zurück. Ich habedas eben anhand der bundesweiten Steuerfahndung er-klärt: Steinbrück will die bundesweite Steuerfahndung.Wir sind einverstanden und sagen zu, das zu machen;aber eure Länder sagen: Nein, das machen wir dochnicht. Es geht nicht darum, ihn vorzuführen. Man stelltsich bei alldem die Frage – darum geht es –: Inwieweitist Steinbrück, inwieweit sind die Aussagen dieses Man-nes überhaupt noch glaubwürdig? –
Das ist die entscheidende Frage. Die Wähler wollendoch im September wissen, wen sie wählen können, undwollen im Vorfeld verlässliche Aussagen erhalten. Eskann nicht so sein wie 2005, als ihr Wahlkampf gegendie „Merkel-Steuer“ gemacht habt. Ihr habt polemisiertund gesagt, es sei ganz furchtbar, wenn die „Merkel-Steuer“, also eine Mehrwertsteuererhöhung um 2 Pro-zentpunkte komme. Nachher, als ihr mitregiert habt, kames dann zu einer Erhöhung um 3 Prozentpunkte. Sagenwir es doch ganz offen: Ihr habt die Leute getäuscht; daswar nicht sauber.
– Der Unterschied ist: Wir haben vorher gesagt, was wirmachen wollen; ihr habt genau das Gegenteil gesagt,habt damit eine Wahlentscheidung für euch erreicht und
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29524 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013
Dr. Mathias Middelberg
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Jetzt kommen wir zu den Aufbewahrungsfristen undschauen einmal ganz genau hin. Am 4. März hat euerKanzlerkandidat Peer Steinbrück
in den Siegener Thesen für den Mittelstand, also für diekleinen und mittleren Unternehmen in Deutschland,
verkündet:Ich will, dass unnötige, für den Mittelstand kosten-trächtige Regelungen abgeschafft werden …
Das hat Steinbrück gesagt. Dann nennt er ausdrücklichdie „Verkürzung der Aufbewahrungspflichten für Rech-nungen und Belege“.
– Aha! – Exakt das ist Gegenstand unseres Gesetzent-wurfs.
Sie haben uns eben beredt erklärt, warum das allesfurchtbar ist und zu Missbrauch führe. Sie sagten, eswürde die Steuerhinterziehung erleichtern.
Der Gesetzentwurf setzt aber die Forderung von PeerSteinbrück, dem Kanzlerkandidaten der SPD, um; genaudas legen wir euch jetzt hier vor. Wir sagen: Das istheute die Stunde der Wahrheit für Peer Steinbrück unddie SPD.
Ihr müsst euch heute dazu bekennen. Was gilt denn jetzt:die Aussagen des Kanzlerkandidaten zur „Fußfessel“oder die Aussagen, die die SPD von Woche zu Wochemal so oder mal wieder anders trifft? – Hier geht es umGlaubwürdigkeit.
Ich sage es ganz nett und freundlich: Euch kann am22. September einfach keiner wählen, weil man gar nichtweiß, was am Ende herauskommt.
Steinbrück wollte keine Vermögensteuer, weil er genauwusste, dass der unternehmerische Mittelstand und diekleinen Unternehmen die Vermögensteuer in schlechtenJahren aus der Substanz zahlen müssten. Ich sage es ein-mal ganz deutlich: Es geht da nicht nur um reiche, fauleSäcke, die irgendwo auf Mallorca im Cayenne – oderwas weiß ich – herumfahren. Das ist das Bild, das immererzeugt wird, wenn von der Vermögensteuer die Redeist. Da hätte ich gar nichts dagegen: Wenn die mehr be-zahlen würden, wäre das in Ordnung. Aber man kann beider Vermögensteuer gar nicht zwischen betrieblichemund privatem Vermögen differenzieren. Das bekommtman gar nicht hin; da machen das Bundesverfassungsge-richt und der Bundesfinanzhof nicht mit. Man bekommteine solche Differenzierung nicht hin.Euer eigener Ministerpräsident von Baden-Württem-berg, Herr Kretschmann, und sein Finanzminister, HerrSchmid, weisen darauf hin, dass eine solche Unterschei-dung gar nicht möglich ist. Ihr suggeriert den Leuten, dakäme etwas; aber das ist gar nicht zu schaffen. Es istSchwachsinn hoch zehn. Die Leute werden wieder ge-täuscht.
Steinbrück war klug genug, vorher zu sagen, dass dieEinführung einer solchen Vermögensteuer nicht möglichist. Aber ihr verkauft den Leuten jetzt diesen Popanz, da-mit sie euch wählen. Nach der Wahl sagt ihr dann: Dasist jetzt aber ganz schwer umzusetzen; jetzt machen wires doch anders und erhöhen einfach pauschal die Steu-ern.
Was ihr macht, ist ein Katastrophenprogramm: Wirwürden eine riesige Steuererhöhungsorgie erleben, diealle Steuerarten betrifft. Wahrscheinlich würde dochnoch eine neue Vermögensteuer eingeführt.
Dann hätten wir die gleichen Verhältnisse wie in Frank-reich: Da gibt es schon hohe Steuersätze, da gibt es eineVermögensteuer. In Europa gibt es die Vermögensteuernur in Spanien und Frankreich.
Das sind die beiden Länder, die in Europa leider am Bo-den liegen. Die Franzosen fahren im Moment wirtschaft-lich vor die Wand. Sie haben mit dem Steuerrecht, dasihr erreichen wollt,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013 29525
Dr. Mathias Middelberg
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Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/13082 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 39 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses
– zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Recht auf ein Guthabenkonto einführen –
Kontopfändungsschutz sichern
– zu dem Antrag der Abgeordneten Caren Lay,
Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Verbraucherrecht auf ein kostenloses Giro-
konto für alle gesetzlich verankern
– zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole
Maisch, Dr. Gerhard Schick, Ingrid Hönlinger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verbraucherrecht auf Basisgirokonto für
jedermann gesetzlich verankern
– Drucksachen, 17/7823, 17/8141, 17/7954,
17/9798 Buchstabe b bis d –
Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Aumer
Dr. Carsten Sieling
Holger Krestel
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Ralph Brinkhaus für die Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Umnoch einmal die vorausgegangene Debatte und den Bei-trag von Herrn Kollegen Middelberg aufzugreifen: Es istschon erstaunlich, dass die SPD im Wahlkampf durchdie Gegend rennt und sagt „Von Frankreich lernen heißtsiegen lernen“, dabei ist genau das Gegenteil der Fall.Jetzt geht es um das Girokonto. Das ist in der Tat einernstes Thema. Wir alle wissen, dass man heutzutage dasmeiste, was man erledigen muss, nicht mehr bar, sondernnur noch unbar erledigen kann. Das bedeutet, dass je-mand, der kein Konto hat, von wesentlichen Teilen desLebens ausgeschlossen ist, dass die Teilhabe nicht mög-lich ist.Es ist gut und wichtig, dass wir dieses Thema immerwieder analysieren, dass wir uns damit beschäftigen.Deswegen hat die Unionsfraktion zusammen mit derFDP schon im letzten Jahr einen Antrag auf den Weg ge-bracht, der auch im Bundestag verabschiedet worden ist.In diesem Antrag wurde die Bundesregierung aufgefor-dert, sich bei den anstehenden europäischen Verhandlun-gen, die im Übrigen hoffentlich in den nächsten Wochendurch einen guten Vorschlag vorangebracht werden, ein-zusetzen, dass die Bürgerinnen und Bürger die Möglich-keit haben, auf ein Girokonto zuzugreifen, dass sich dieKosten für dieses Konto in einem angemessenen Rah-men bewegen und dass, wenn irgendetwas schiefläuft,ein Schlichtungsverfahren stattfinden kann.Noch etwas zum Thema Schieflaufen. Wir können– auch wenn das von der linken Seite hin und wieder ge-fordert wird – nicht jede Bank verpflichten, jeden Kun-den anzunehmen. Es gibt auch Fälle, in denen dasschlichtweg nicht geht, in denen es Konflikte gibt. Des-wegen ist es durchaus legitim, dass eine Bank sagt: Nein,diesen Kunden kann ich nicht aufnehmen, ich will ihnnicht haben. Für einen solchen Fall gibt es dann dasSchlichtungsverfahren.Nach der Verabschiedung des Antrages ist Folgendespassiert: Die Sparkassen haben sich bereit erklärt, einBürgerkonto einzurichten. Dieses Bürgerkonto soll ge-nau das, was wir auf europäischer Ebene fordern, umfas-sen. Dieses Bürgerkonto soll flächendeckend angebotenwerden; Sparkassen sind mit über 420 Instituten bis inskleinste Dorf in Deutschland vertreten. Das Bürgerkontosoll Menschen, die kein oder wenig Einkommen haben,den Zugang zur Teilhabe sichern. Die Kosten für dasBürgerkonto sollen sich in einem angemessenen Rah-men bewegen. Es soll auch einen Schlichtungsmechanis-mus geben, falls irgendetwas schiefläuft.Man muss feststellen, dass ein Großteil der Problema-tik, zumindest hier in Deutschland, damit erst einmalausgeräumt ist.
Sparkassen sind öffentlich-rechtliche Kreditinstitute, dieden Auftrag haben, so etwas zu machen; teilweise sindsie durch Landesgesetze verpflichtet, so etwas zu ma-chen. Sie haben sich dieser Aufgabe auch über den ge-setzlichen Rahmen hinaus angenommen. Man kann denSparkassen wirklich nur Dank und Lob zollen. Sie habensich nicht nur bereit erklärt, das zu tun. Sie haben durchintensive Zusammenarbeit mit der Presse darauf auf-merksam gemacht, dass es diese Möglichkeit gibt. Dasist gut und richtig. Ich würde mir wünschen, dass die an-deren Säulen der deutschen Kreditwirtschaft den Spar-kassen an dieser Stelle nachfolgen, weil dadurch eine si-gnifikante Verbesserung für die Verbraucher in unseremLand erreicht werden kann.
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29526 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013
Ralph Brinkhaus
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Diese Bundesregierung hat ganz viele kleine Maß-nahmen auf den Weg gebracht. Ich nenne die Haftungs-fristen und die Gebühren für die Nutzung von Geldauto-maten.Diese Bundesregierung hat vor allen Dingen eines fürden Verbraucherschutz getan: Sie hat mit über 25 Geset-zen und Maßnahmen dafür gesorgt, dass die Finanz-märkte sicher und stabil sind.
Meine Damen und Herren, wir sind Ihnen sehr, sehrdankbar, dass Sie uns durch Ihre Anträge immer wiedereine Vorlage bieten, uns immer wieder die Möglichkeitgeben, auch hier im Plenum darauf hinzuweisen, welchgroßartige Arbeit in Bezug auf den sogenannten finan-ziellen Verbraucherschutz vom Finanzministerium– Staatssekretär Koschyk ist anwesend – und natürlichauch von der Verbraucherschutzministerin, Frau Aigner,erbracht worden ist. Jüngstes Beispiel ist das Gesetz zurHonoraranlageberatung, das wir in der nächsten Wochehier im Deutschen Bundestag verabschieden werden.
Ich fasse das Ganze einmal zusammen: Das Giro-konto ist ein ernstes Thema. Dank der Sparkassen ist daszunächst einmal abgeräumt. Auf europäischer Ebenewird das Ganze institutionell verankert. Auch das wirdgut laufen. Zum Verbraucherschutz insgesamt: KeineBundesregierung hat eine derart gute Bilanz hinsichtlichdes Verbraucherschutzes vorzuweisen wie diese Bundes-regierung. Ich kann Ihnen eines versichern: Auch in dernächsten Legislaturperiode wird der finanzielle Verbrau-cherschutz eines der Kernelemente unseres politischenBemühens sein, um die Finanzmärkte stabiler und siche-rer zu machen.
Das Wort hat der Kollege Dr. Carsten Sieling für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die
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Dr. Carsten Sieling
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Hier singen Sie nun wieder dasselbe Lied: Sie predi-gen die Selbstverpflichtung der Branche. Ich will hierausdrücklich sagen: Ich begrüße es, dass die Sparkassendarauf reagiert haben und versuchen, ein erweitertesfreiwilliges Angebot zu unterbreiten. Aber wir alle hierwissen doch, dass dieser Weg nicht zu einer Lösung füh-ren wird. Erstens kann es nicht sein, dass sich nur einBereich des Finanzsektors ernsthaft dieses Problems an-nimmt. Wir müssen den gesamten Finanzsektor heran-ziehen. Zweitens gibt es Selbstverpflichtungen in diesemBereich seit 1995. Seit 18 Jahren ist nichts passiert.Trotzdem gehen Sie diesen Weg weiter. Das zeigt, dassSie nicht wollen, dass etwas passiert, dass die MenschenAngebote bekommen.
Ich will noch einmal sagen, warum das ein wichtigesund dringendes Thema ist: In Deutschland haben nachwie vor etwa 670 000 Bürgerinnen und Bürger keinenZugang zu einem Girokonto, weil der Appell an die Frei-willigkeit nicht gereicht bzw. nichts genützt hat. Dasheißt, man hat keine Möglichkeit, per EC-Karte Geld amAutomaten abzuheben, man hat keine Möglichkeit, ver-schiedene Geldfunktionen wahrzunehmen oder eine Zei-tung zu abonnieren; denn dies läuft über Daueraufträge.Dies gilt vor allem auch für Mietzahlungen. Nein, manmuss ständig zum Bankschalter und Einzelüberweisun-gen machen, und das kostet Geld. Dies trifft gerade dieMenschen, die nicht genug Geld haben, um sich das er-lauben zu können. In der Regel kostet es 10 Euro proFall.
Das sorgt für tiefgreifende Unsicherheit und Ungerech-tigkeit, die Sie festschreiben wollen, indem Sie dieseZweiklassengesellschaft nicht beseitigen.
Ich will Ihnen übrigens auch den Hinweis nicht erspa-ren, den uns in den Beratungen bzw. in der Anhörung,die wir dazu durchgeführt haben, die Bundesagentur fürArbeit vorgetragen hat. Das Fehlen eines Girokontos be-deutet eben auch, dass Bürokratiekosten erzeugt werden.Die Bundesagentur für Arbeit sagt, dass die dadurch ent-stehenden Gebühren wie Mahngebühren und anderes siejährlich etwa 10 Millionen Euro kosten.Darum schlagen wir vor, nicht auf eine Brüsseler Re-gelung zu warten – Sie haben ja zugestanden, dass Siedeshalb noch keine Regelung wollen –, sondern jetzthier zu handeln, wie es in anderen Bereichen ja auch ge-macht wurde. Wir fordern die Bundesregierung auf, end-lich eine gesetzliche Regelung vorzulegen, die vorsieht,dass ein solches Girokonto eingeführt wird; natürlichwürde das eine Verpflichtung für den Sektor bedeuten.Für den Umgang mit Härtefällen wird man eine entspre-chende Regelung ins Gesetz aufnehmen können. Das istkein Argument gegen eine verbindliche Regelung.Wir wollen ein solches Gesetz in Deutschland, wie esschon viele andere Länder in Europa haben. Warummuss Deutschland immer der Letzte im Geleitzug sein?
Das liegt in der Tat an Schwarz-Gelb. Wir wollen, dasses in Deutschland an der Stelle Gleichberechtigung undgleiche Möglichkeiten gibt.
– Weil sie das vernünftig gesetzlich auf Bundesebenemachen müssen. Das wissen auch Sie. Sie müssen einenvernünftigen Rahmen dafür schaffen; das geht nicht mitEinzelvorgängen.
Wir sind übrigens auch entschieden dafür, dass mandas Ganze mit einem Ausbau der Schuldnerberatung undmit einem Ausbau der Verbraucherberatung begleitet.Denn auch das brauchen wir in diesem Land.
Das ist konkreter Verbraucherschutz. Wenn Ordnung aufden Märkten herrscht, führt das auch zu einer Stabilisie-rung der Finanzmärkte. Das ist etwas anderes als dasWerfen von Nebelkerzen, wie Sie es seit dreieinhalb Jah-ren im Verbraucherschutz machen.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Aufgrund der bindenden Selbstverpflichtung der
Sparkassen ist hier derzeit kein Handlungsbedarf mehr
erkennbar. Die schon seit 1995 existierende, jedoch nicht
bindende Empfehlung des Verbandes der deutschen Kre-
ditwirtschaft hat zwar Erfolge gezeigt, konnte jedoch nie
die lückenlose Deckung erzielen, die die Sparkasse nun
zweifellos erreichen wird.
Unter uns allen ist es sicher Konsens, dass sich langfris-
tig auch die privaten Institute stärker an der Kontogrund-
versorgung der Bevölkerung beteiligen müssen.
Ein zentraler Punkt des Antrags der Koalitionsfraktio-
nen vom letzten Jahr war schließlich, dass die Bundesre-
gierung aufgefordert wird, sich bei der Kommission für
eine einheitliche Lösung auf EU-Ebene starkzumachen.
In Zeiten von SEPA mit einem gesamteuropäischen Zah-
lungsraum brauchen wir keine nationalen Alleingänge,
sondern klare und einfache Regelungen über Grenzen
hinweg.
Deshalb ist die Bundesregierung unserem Antrag ge-
folgt. Die Kommission hat bereits für das Frühjahr die-
ses Jahres eine Richtlinie im Hinblick auf den Zugang zu
einem sogenannten Basiskonto angekündigt. Auch wenn
das Frühjahr erst diese Woche wirklich angekommen ist,
müssten wir Ihre Anträge theoretisch jetzt schon wieder
an die europäischen Vorgaben anpassen, bevor irgend-
welche Regelungen überhaupt in Kraft treten könnten.
Deswegen lehnen wir diese ab.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Caren Lay für die Fraktion
Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Sage und schreibe 30 Millionen EU-Bürger be-sitzen kein Girokonto. Alleine in Deutschland sindschätzungsweise 700 000 Menschen ohne ein Konto.Wir sprechen also beileibe nicht über ein Randphäno-men, sondern über eine wichtige Frage sozialer Gerech-tigkeit und gesellschaftlicher Teilhabe. Für uns als Linkeist seit langem klar, dass hier endlich etwas passierenmuss.Kein Girokonto zu haben, schränkt jeden Menschenim Alltag stark ein. Weil ich manchmal das Gefühl habe,dass es noch nicht alle wirklich begriffen haben, möchteich Ihnen einige Beispiele nennen: Wer kein Girokontohat, der kann eben nicht bequem per Bankeinzug undDauerauftrag Miete, Strom- oder Telefonrechnungen be-zahlen. Mal eben im Supermarkt mit der EC-Karte zubezahlen, geht nicht. Und am Geldautomaten Geld abzu-heben, funktioniert auch nicht. Man kann auch nieman-dem Geld überweisen.
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Caren Lay
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Genau deswegen setzen wir uns als Linke seit vielenJahren für ein kostenloses Girokonto für alle ein. Dasvertreten inzwischen auch die Sozialverbände. Ich freuemich, dass es mittlerweile Anträge von allen Opposi-tionsfraktionen, also von Linken, SPD und Grünen, gibt,die im Kern das gleiche Anliegen, nämlich das Recht aufein Girokonto, verfolgen.Man muss der Ehrlichkeit halber schon sagen – das istschon erwähnt worden –, dass auch die rot-grüne Bun-desregierung hier nichts Wesentliches geändert hat.Auch SPD-Kollegen haben vor einigen Jahren in Plenar-debatten noch gesagt: Lasst uns mal auf die freiwilligenSelbstverpflichtungen setzen. Dann wird es schon ir-gendwann etwas werden. – Unter Schwarz-Rot wurde esnicht besser. Auch unter Schwarz-Gelb, wie wir heutegehört haben, gibt es keine ernsthaften Bestrebungen,ein Girokonto für alle einzuführen. Alle setzen auf dieSelbstverpflichtung der Banken. Das Ergebnis ist, dassHunderttausende immer noch kein Konto haben. Deswe-gen sagen wir als Linke: Selbstverpflichtungen bringenes nicht. Wir brauchen endlich eine gesetzliche Rege-lung.
Es kann ja sein, dass es bisher kein Recht auf ein Giro-konto gibt, Herr Brinkhaus, aber wir als Linke wollen eseinführen. Ich finde, das wird höchste Zeit.
Es gibt immer wieder das eine oder andere Argument,mit dem das Recht auf ein Girokonto abgelehnt wird.Sehr abenteuerlich fand ich das Argument der FDP, dasses irgendjemand bezahlen muss. Da sage ich als Bank-kundin ganz ehrlich: Ich sorge mit meinen Kontofüh-rungsgebühren lieber dafür, dass arme Menschen ein Gi-rokonto erhalten, als für die Boni der Bankmanager. Ichwürde mich freuen, wenn Sie das auch endlich so sehenwürden.
– Das ist keine marxistische Mottenkiste. Ich wiederholediesen Zwischenruf, damit es alle hören. Ich finde, es istein Grundrecht, dass jeder Mensch am gesellschaftlichenLeben teilhaben kann. Dass die FDP dies nicht genausosieht, haben jetzt alle hier noch einmal gehört.
Folgendes kann ich ebenfalls nicht akzeptieren: Es istschön, dass die Sparkassen jetzt Basiskonten anbietenwerden – das ist gut so –, aber was wir als Linke nichtakzeptieren, ist, dass es wieder die Aufgabe der öffent-lich-rechtlichen Banken ist, den armen Kunden einBankkonto anzubieten, und sich die privaten Banken diebesseren Kunden, die zahlungskräftigen Kunden heraus-suchen. Das hat mit sozialer Gerechtigkeit wirklichnichts zu tun.
Meine Damen und Herren, wer heute kein Girokontohat, der kann am sozialen Leben nicht teilnehmen. Wirfreuen uns sehr, dass von der EU jetzt endlich eine Initia-tive kommt. Was ich aber nicht durchgehen lassen kann,ist, dass Sie sagen: Irgendwie ist es doch ganz schlimm,aber warten wir doch mal ab, was von der EU kommt. –Ich finde, man kann sich hier nicht hinter der EU verste-cken. Man kann auch hier im Deutschen Bundestag end-lich das Recht auf ein Girokonto einführen. Das wirdhöchste Zeit.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Nicole Maisch für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Kontolosigkeit in Deutschland ist ein ernstzunehmendesProblem; so steht es im mittlerweile sechsten Bericht derBundesregierung zur Umsetzung der freiwilligen Selbst-verpflichtung.
Da finde ich es schon sehr interessant, dass die KollegenBrinkhaus und Krestel mit ihren prophetischen Gabenvorhergesehen haben wollen, dass eine weitere Selbst-verpflichtung, nämlich der Sparkassen, das Problem inabsehbarer Zeit lösen wird. Ich finde, diese Argumenta-tion hat logische Schwächen; aber das müssen Sie untersich abklären.
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29530 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013
Nicole Maisch
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Immer noch haben schätzungsweise 670 000 Menschenin Deutschland kein Konto und können damit ihr sozia-les Grundrecht auf Teilhabe am Markt nicht umsetzen.Diese Menschen warten darauf, dass etwas getan wird,dass sie nicht länger vom bargeldlosen Zahlungsverkehrausgeschlossen bleiben und damit von Verträgen wie beiTelekommunikation, Miete, Strom und anderen Dingen,überhaupt vom Geschäftsverkehr im Netz. Noch immersind sie gezwungen, ihre Bankgeschäfte hart an derGrenze zur Illegalität abzuwickeln: über Konten vonFreunden oder Verwandten. Scham und peinliche Situa-tionen bleiben ihnen damit nicht erspart.Einige Kolleginnen und Kollegen sind schon auf dasThema Baranweisungen eingegangen. Das ist ein le-benspraktisches Beispiel, mit dem Sie sich einmal in dieSituation eines Menschen ohne Konto hineinversetzenkönnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union undFDP. Stellen Sie sich einmal vor, Sie müssten für jedeTransaktion von Ihrem Konto aus zwischen 3 und 7 EuroGebühren zahlen: wenn Sie den Beitrag zum Fußballver-ein Ihres Sohnes zahlen, wenn Sie die Miete zahlen,wenn Sie für den Strom zahlen, wenn Sie fürs Wasserzahlen, wenn Sie Ihrer Tochter, die auswärts studiert,50 Euro überweisen – jedes Mal zwischen 3 und 7 EuroGebühren. Da bleibt gerade bei armen Menschen amEnde des Monats nichts übrig.
– Herr Krestel, wenn Sie sagen: „Die Leute sind selbstschuld, sie wollen sich in der Hängematte ausruhen“,dann sagt das mehr über die FDP aus als über die Men-schen ohne Konto.
Die Menschen, die kein Konto haben, brauchen dieHilfe des Gesetzgebers. Ich finde die Wurstigkeit, mitder Sie dieses Thema hier behandeln, schwer erträglich.
– Wenn Ihnen die Moral nicht sympathisch ist, dannschauen Sie sich die Zahlen an: Auch die öffentlicheHand erwartet sich eine Entlastung von Bürokratie und,wie die Vorredner angesprochen haben, von Kosten inHöhe von 10 Millionen Euro.Wir fordern Sie auf: Sparen Sie dem Steuersäckel undden Betroffenen Ärger und unnötige Ausgaben!
Schaffen Sie einen Rechtsanspruch auf ein Girokontoauf Guthabenbasis! Verstecken Sie sich nicht länger hin-ter Europa! – Das ist auch in anderen Bereichen nichtsinnvoll. – Schaffen Sie den Rechtsanspruch, machenSie noch etwas Sinnvolles mit dem Rest dieser Legisla-tur!Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Kollegin Gitta Connemann für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werkennt ihn nicht, den Hauptmann von Köpenick? Ein ar-beitsloser Schuster befindet sich in einem Teufelskreis:ohne Arbeit keine Wohnung, und ohne Wohnung keineArbeit. – Die Geschichte mit dem Girokonto für jeder-mann erinnert an diesen Teufelskreis: Die Betroffenen,die Verbraucher ohne Konto, stecken darin. Sie sind häu-fig gebrandmarkt durch einen Schufa-Eintrag. Dabeibeginnt der Weg in die Schuldenfalle häufig harmlos:erster Handyvertrag, Bestellungen im Internet, gegebe-nenfalls mit einer Kreditkarte, die Schulden häufen sich,irgendwann wird das Konto geschlossen.Wir sind uns, glaube ich, alle darin einig, dass eineTeilnahme am Wirtschaftsleben in Deutschland ohne Gi-rokonto kaum möglich ist: Lohn, Wasser, Strom, nahezualle Geschäfte des Alltags werden über die Bank abge-wickelt.Ganz im Ernst: Haben Sie schon einmal versucht,eine Wasserrechnung bar zu bezahlen, oder mussten je-den Monat beim Vermieter anklopfen, um einen Geld-umschlag zu überreichen? Sollten Sie das tun, werdenSie mehr als schräge Blicke erhalten und müssen mit kri-tischen Fragen und auch Nachforschungen rechnen. Ichglaube, in dieser Analyse sind sich alle Fraktionen indiesem Haus absolut einig.
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Gitta Connemann
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Lieber Herr Sieling, ich habe mich nach Ihrer Wort-meldung an eine Sparkasse gewandt und gefragt, ob garkeine Daueraufträge eingerichtet werden. – Nein, das istfalsch. Es werden nach Vereinbarung Daueraufträge ein-gerichtet, und es werden – hier ist eine gewisse Fehldeu-tung entstanden – keine anderen Gebühren als von jedemanderen Bankkunden erhoben.
Ich finde, das ist nur gerecht. Bitte überzerren Sie an die-ser Stelle also nicht.
Ich glaube, es steht uns gut an, den Sparkassen an die-ser Stelle auch einmal Danke zu sagen; denn sie tun da-mit etliches für das Gemeinwohl. Ihre Situation ist etwasanders als die der Privatinstitute; denn es sind öffentlich-rechtliche Sparkassen, die übrigens auch durch Landes-gesetze geprägt sind.Ich frage mich deshalb schon, wie das eigentlich inBrandenburg oder auch in Nordrhein-Westfalen aussieht,wo Sie Regierungsverantwortung tragen. Haben Sieeigentlich dafür gesorgt, dass eine entsprechende Ver-pflichtung in die Landesgesetze aufgenommen wird? Ichglaube, nicht. Damit sage ich: Fangen Sie doch auch ein-mal vor der eigenen Haustür an!
Kollegin Connemann, gestatten Sie eine Frage oder
Bemerkung des Kollegen Sieling?
Ja, natürlich, sehr gerne.
Vielen Dank. – Frau Kollegin, Sie haben jetzt, wie
auch andere Rednerinnen und Redner der Koalition, die
Leistung der Sparkassen angesprochen. Meine Frage ist:
Für wie viele der geschätzten 670 000 Menschen ohne
Girokonto ist aufgrund Ihres Vorgehens, für das Sie sich
so loben, ein Girokonto konkret eingerichtet worden?
Wie viele Menschen mehr haben bei den Sparkassen ein
Girokonto bekommen?
– Da Sie sich hier so loben, werden Sie dazu ja eine Zahl
nennen können.
Ich kann vieles sagen, allerdings bin ich keine Hellse-herin. Das Bürgerkonto ist am 1. Oktober 2012 einge-führt worden. Die Sparkassen haben bis dato keine Zah-len zur Verfügung gestellt; denn auch für die Kunden,um die es heute geht, gilt das Bankgeheimnis, auf dasSie sonst übrigens immer sehr viel Wert legen.
Ich finde, dass hier tatsächlich eine Zweiklassenge-sellschaft entstehen würde, wenn die Sparkassen ge-zwungen würden, genau das zur Kenntnis zu geben. Vordiesem Hintergrund kann ich Ihnen heute keine Zahlennennen. Ich bin aber auch nicht so unseriös, das tun zuwollen.Noch einmal: Seit dem 1. Oktober 2012 werden dieseKonten eingerichtet. Sie können bei Ihren Sparkassenvor Ort nachfragen. Ich habe dies getan – auch in Vorbe-reitung dieser Debatte. Dabei wurde mir gesagt: Bislangist niemand abgewiesen worden.
Damit entsteht sicherlich ein Dilemma: Wie sieht esmit Informationen für die Betroffenen aus? Lieber HerrSieling, Sie haben die Verbraucher- und Schuldnerbera-tung zu Recht angesprochen. Das war Ihr entsprechenderBeitrag. Deswegen bekümmert es mich natürlich beson-ders, dass gerade die Mittel für die Verbraucher- undSchuldnerberatung in den von Ihnen geführten Länderndramatisch zusammengestutzt worden sind.
Wenn Ihnen wirklich daran gelegen wäre, dass die Ver-braucherinnen und Verbraucher ihre Rechte kennen,dann würden Sie nicht genau an dieser Stelle kürzen.
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29532 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013
Gitta Connemann
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Aber macht ein solcher Alleingang, wie die Opposi-tion ihn fordert, jetzt Sinn? Nein, denn der akute Hand-lungsbedarf ist durch das Angebot der Sparkassen ent-schärft worden. In den kommenden Wochen, nicht ineinigen Jahren, wird die Europäische Kommission dazueinen Richtlinienvorschlag vorlegen. Die Richtlinie istdann automatisch in nationales Recht umzusetzen. Esbringt wirklich überhaupt nichts, wenn wir jetzt inDeutschland Regelungen treffen, die vielleicht schon ineinem Jahr wieder hinfällig sind.
Das ist Aktionismus. Damit nutzen wir den Verbrauche-rinnen und Verbrauchern in keiner Weise.
Ihnen nützt jede europäische Regelung, die ihnen dieMöglichkeit eröffnet, ein Konto zu eröffnen, und zwarzu einem angemessenen Preis. Aber es braucht mehr.Das beste Recht nützt nämlich niemandem, wenn ernichts davon weiß. Deswegen brauchen wir auf europäi-scher Ebene Informationspflichten und Regelungen. Wirmüssen auch über den Zugang zu Schlichtungsverfahrensprechen. Viele Verbraucherinnen und Verbraucher wis-sen nach wie vor nicht, dass es ein solches Verfahrengibt, und zwar kostenlos.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,hängen Sie Ihr Herz nicht an veraltete und überholte An-träge. Unterstützen Sie uns doch lieber, uns und die Bun-desregierung, und zwar dabei, Brüssel zu überzeugen.Dort liegt jetzt der Ball. Entsprechend einem Motto un-seres Altbundeskanzlers Dr. Konrad Adenauer, dessenTodestag heute ist, sage ich Ihnen: „Jede Partei ist fürdas Volk da und nicht für sich selbst.“
Die Kollegin Kerstin Tack hat nun für die SPD-Frak-
tion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
legen! Sehr geehrte Damen und Herren! Was sagen wir
den Verbraucherinnen und Verbrauchern? Wir sagen seit
vielen Jahren: Auch wir finden es alle nicht gut, dass es
kein Konto für jedermann gibt. – Aber was ist die Lö-
sung für dieses Problem? Die Antwort ist: Wir sehen
keinen Regelungsbedarf in Deutschland.
Die Bundesregierung sagt dazu, dass sie nicht zustän-
dig ist und nichts regeln will. Sie will nicht aktiv eingrei-
fen, um die Situation der 670 000 Betroffenen zu verbes-
sern; das soll Brüssel regeln. Die Bundesregierung weiß
nicht, ob, aber sie hofft, dass irgendwann in Brüssel eine
Richtlinie dazu auf den Weg gebracht wird, diese will sie
dann ratifizieren. Bis dahin nimmt sie die Lage, die wir
bitterlich beklagen, einfach hin.
Frau Connemann hat mit großer Herzenswärme dar-
gestellt, wie schwierig die Situation der Menschen in
Deutschland ist, die kein Konto haben. Dennoch werden
die Betroffenen mit dem Problem alleingelassen, da die
Angelegenheit in Deutschland nicht geregelt wird. – Ich
finde das skandalös. Ich finde das deshalb skandalös,
weil wir uns doch in der Analyse, das nicht zulassen zu
wollen, einig sind. Dann verstehe ich nicht, wie man hier
sagen kann: Die Lösung dieses Problems schieben wir
auf die europäische Ebene, und irgendwann, wenn wir
dann ratifizieren dürfen – wir wissen gar nicht, in wel-
chem Jahr das ist –, werden wir uns auch in Deutschland
bewegen. – Ich halte das für nicht in Ordnung.
Ich will es mit den Worten des Soziologen Ulrich
Beck sagen: „verbale Aufgeschlossenheit bei weitgehen-
der Verhaltensstarre“. – Genau so gehen Sie mit einem
Thema um, das für die betroffenen Menschen existen-
ziell ist. Es stellt sich die Frage: Was wollen wir in
Deutschland für die Leute tun? Nur durch unser Handeln
kann sich ihre Situation verändern.
Es ist gut, wenn die Sparkassen die Einrichtung eines
entsprechenden Kontos anbieten; natürlich. Aber es ist
doch unsere Verantwortung, da politischen Handlungs-
bedarf zu formulieren.
Warum sträuben wir uns, hier zu handeln, wenn wir
uns einig sind, dass wir die Situation der 670 000 Betrof-
fenen so schnell wie möglich verändern wollen? Es gibt
doch keinen Grund mehr, die Sache nicht heute schon zu
regeln: zuerst in Deutschland und dann hoffentlich bald
auch in Europa. Wir freuen uns, wenn es in ganz Europa
einen Rechtsanspruch auf ein Girokonto gibt. Aber heute
können wir auf nationaler Ebene regeln. Das wollen wir,
und dafür werben wir mit unseren Anträgen.
Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 17/9798.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013 29533
Vizepräsidentin Petra Pau
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– Drucksache 17/13058 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GONach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Staats-ministerin Cornelia Pieper.
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Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Der heutige Tag, an dem die erste Lesungdes Auslandsschulgesetzes stattfindet, ist ein schönerTag für die deutschen Auslandsschulen. Für mich ist dassogar ein historischer Moment; denn es ist lange her,dass die Bundesregierung gemeinsam mit den Länderneine gesetzliche Regelung für Schulen – in diesem Fallden Entwurf eines Auslandsschulgesetzes – auf den Weggebracht hat. Ich habe mich, ehrlich gesagt, selbst einbisschen gewundert, dass es bisher kein politisches An-liegen einer Bundesregierung oder eines Parlaments ge-wesen ist, für die deutschen Auslandsschulen ein Gesetzeinschließlich eines Förderanspruchs entsprechend denPrivatschulgesetzen der Länder zu erlassen.Was habe ich vorgefunden, als die Bundesregierung2009 ihre Arbeit aufnahm? Ich habe 132 verwirrte undverunsicherte Auslandsschulen, denen die Mittel geradegekürzt worden waren, sowie ein angedachtes Reform-konzept vorgefunden, das zunächst allein auf Einsparun-gen setzte. Nach kurzer Zeit zogen sich dann die Bun-desländer sogar teilweise aus ihrer bis dahinübernommenen Finanzverantwortung zurück. Plötzlichsollte der Bund auch noch die Hälfte des Versorgungszu-schlages der von den Ländern beurlaubten Beamtenübernehmen.Wir sind uns, glaube ich, einig: Die Deutschen Aus-landsschulen sind Visitenkarten der deutschen Bildungund Kultur in der Welt. Sie tragen wesentlich zum Anse-hen Deutschlands und zur Vermittlung europäischerWerte bei. Sie sind für uns alle Leuchttürme der interkul-turellen Begegnung und des friedlichen, demokratischenMiteinanders.
Deswegen freue ich mich, dass wir diesen Gesetzent-wurf heute gemeinsam beraten können. Für mich ist esimmer wieder schön, zu sehen – das geht Ihnen sichernicht anders, wenn Sie die Deutschen Auslandsschulenbesuchen –, mit welchem Eifer, mit welcher Leiden-schaft nicht nur die Lehrer, sondern eben auch die Schü-ler an diesen Schulen bei der Sache sind. Investitionen indie Köpfe dieser jungen Generation, insbesondere auchin Krisenregionen dieser Welt, sind für mich die besteForm der Friedenspolitik dieser Bundesregierung.
Die Stärkung der Deutschen Auslandsschulen war mirebenso wichtig wie eine Qualitätsoffensive. Ich möchtedafür auch meinen Mitstreitern im Unterausschuss fürAuswärtige Kulturpolitik und allen Fraktionen, die im-mer wieder darauf gedrängt haben und mich ermunterthaben, diesen Gesetzentwurf voranzubringen, danken.Diese Regierung hat sich darüber hinaus zum Ziel ge-setzt, das Netz der PASCH-Schulen bis zum Ende desJahres 2014 auf 2 000 Schulen auszuweiten. Bis Endedes Jahres werden es bereits 1 700 Schulen sein. Klar ist:Qualität und Ausbau sichert man nicht mit dem Rotstift,sondern durch eine angemessene finanzielle Grundlage.Dieses Argument ist angekommen. Noch nie hat eineBundesregierung so viel in die Deutschen Auslandsschu-len und das PASCH-Netzwerk investiert. 2012 waren es238 Millionen Euro, 2013 waren es 244 Millionen Euro.
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29534 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013
Staatsministerin Cornelia Pieper
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Meine Damen und Herren, an dieser Stelle möchte ichnoch einmal allen danksagen, die mitgearbeitet haben.Ich möchte anfangen bei den Fördervereinen, bei den El-ternvereinen, die die Träger der Schulen sind. Das sindverantwortungsvolle Bürgerinnen und Bürger, die unsereDeutschen Auslandsschulen unterstützen. Mein Dankgilt aber auch dem Weltverband Deutscher Auslands-schulen für seine konstruktiv-kritische Haltung bei derVorbereitung des Gesetzentwurfs und des Reformkon-zeptes. Mein Dank geht an die Zentralstelle für DeutscheAuslandsschulen, an die Vertreterinnen und Vertreter derLänder, des BLASchA, des Bund-Länder-Ausschussesfür Schulische Arbeit im Ausland, und natürlich auch anSie für Ihr Interesse an der Beratung.In einer Zeit, in der sich diese Bundesregierung inten-siv um einen strukturell ausgeglichenen Haushalt be-müht, zeigt die Schaffung eines gesetzlichen Förderan-spruchs für Deutsche Auslandsschulen, dass Bildung fürdiese Regierung höchste Priorität hat.
Deswegen – last, but not least – noch einmal herzlichenDank an das Bundesfinanzministerium in personamSteffen Kampeter. Es hat uns geholfen, den Streit mitden Ländern über die Versorgungsrückstellungen für dievermittelten Lehrkräfte zu lösen. Wir, der Bund, werdenjetzt den hälftigen Versorgungszuschlag übernehmen.Meine Damen und Herren, ich kann mir die Spitze nichtverkneifen: Wenn Bund und Länder in der Bildung ko-operieren, kommt immer etwas Gutes dabei heraus. Dassollten wir uns auch in Zukunft zum Ziel machen.Als Allerletztes will ich noch sagen: Als altgedienteParlamentarierin bin ich mir bewusst, dass, wie es PeterStruck schon gesagt hat, kein Gesetz aus dem DeutschenBundestag so herauskommt, wie es hineingegangen ist.Ich freue mich auf die konstruktive Diskussion mit Ih-nen, liebe Kolleginnen und Kollegen, und habe lediglichnoch den Wunsch, dass wir diesen Gesetzentwurf in die-ser Legislaturperiode verabschieden.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Angelika Krüger-Leißner
für die SPD-Fraktion.
Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Gerade die Debatte in dieserWoche hat gezeigt, dass die Notwendigkeit globaler Zu-sammenarbeit über nationale und kulturelle Grenzenhinweg für uns heute dringender denn je ist. Das ist kei-neswegs nur aus wirtschaftlichen Gründen so. Auchpolitisch ist es von eminenter Bedeutung, das Deutsch-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013 29535
Angelika Krüger-Leißner
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Ich begrüße es nun ausdrücklich, dass wir endlich auf ei-nem guten Weg sind, dazu eine vernünftige Verwal-tungsvereinbarung in der nächsten Woche unter Dachund Fach zu bringen.
Dann ist endlich Klarheit in dieser Frage. Wir haben aberauch immer gesagt: Am Versorgungszuschlag darf die-ses Gesetz nicht scheitern.Große Erwartungen waren mit der Ankündigung die-ses Gesetzes geweckt worden. Umso größer ist bei allenBeteiligten die Enttäuschung, zuallererst bei den Schu-len selbst, aber auch bei den Mitgliedern des Unteraus-schusses.Der erste Entwurf, den wir im Frühjahr letzten Jahresgesehen haben, hatte noch die Intention der Kolleginnenund Kollegen getroffen. Darin war erstens die gesetzli-che Finanzierung für alle Auslandsschulen vorgesehen,und zweitens waren auch die Sprachdiplomschulen ein-bezogen. Bezeichnenderweise war dieser Entwurf mit„Auslandsschulwesengesetz“ überschrieben. Jetzt ist esein Auslandsschulgesetz, und es ist ein Rumpfgesetz.Da sind die 870 Schulen ausgeschlossen, die dasDeutsche Sprachdiplom anbieten. Sie sind noch nichteinmal erwähnt. Das Deutsche Sprachdiplom ist ein Ab-schluss, dessen Bedeutung künftig weiter zunehmen
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29536 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013
Angelika Krüger-Leißner
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Es soll bei der freiwilligen Förderung bleiben. Daranwollen wir nichts ändern. Wir müssen davon ausgehen:Was nicht im Auslandsschulgesetz vorkommt, ist ein-fach zur Disposition gestellt. – Wir dürfen uns nichtsvormachen: Im nächsten Jahr, wenn die Schuldenbremsezu wirken beginnt, wird es ein böses Erwachen geben.Wir dürfen die DSD-Schulen nicht aufs Spiel setzen;denn das Deutsche Sprachdiplom ist ein von der Kultus-ministerkonferenz geschaffener Abschluss und basiertauf einem umfassenden Unterricht. Das kann man nichtersetzen durch irgendwelche Sprachprüfungen oderKurse. Hier geht es um Qualität und Nachhaltigkeit vonBildungsabschlüssen.Fakt ist, dass wir uns alle – alle Fraktionen – im Un-terausschuss dafür eingesetzt haben, dass die DSD-Schulen im Gesetz bleiben. Der Bundesrat fordert es undauch die GEW. Auch der WDA, der ja eigentlich in einergewissen Finanzierungskonkurrenz zu den DSD-Schu-len steht, befürwortet die Berücksichtigung dieses Ab-schlusses im Gesetz.Wenn wir unseren Blick jetzt einmal auf die 140 Aus-landsschulen richten, dann müssen wir leider feststellen,dass gemäß den Kennziffern und Kriterien leider nichtalle 140 anerkannten Auslandsschulen die gesetzlich ga-rantierte Förderung erhalten sollen, sondern nur 45. Nurdiese 45 sind im Gesetz enthalten. Und die anderen? Dieanderen wären weiterhin angewiesen auf die Kassenlagedes Bundes.
So, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht das einfachnicht.
Planungssicherheit und Finanzierungssicherheit sehendoch anders aus.Die Förderfähigkeit soll an 20 gleiche Abschlüsse ineinem Jahr gebunden werden, und das können eben nur45 Schulen vorweisen. Denn die Zahl der Abschlüssehängt ja mit dem Standort und den äußeren Bedingungenzusammen. Ich will Beispiele nennen: Man kann dochnicht so eine große Schule wie die Deutsche Schule inSchanghai oder die Deutsche Schule Alexander vonHumboldt in Lima mit 1 400 Schülern nach den gleichenMaßstäben bewerten wie etwa die Deutsche Schule inChangchun in China mit 66 Schülern oder die DeutscheSchule Tripolis mit 49 Schülern.Alle Standorte sind wichtig.Ich will kurz hinzufügen, dass in Teheran eine beson-dere Situation vorliegt. Die Schule in Teheran wäre,wenn wir das Gesetz so beschließen würden, heraus. Siehatte im letzten Jahr 13 Abschlüsse, und in diesem Jahrwerden es wahrscheinlich auch nur vier sein. Damitwürde sie natürlich nicht die Kriterien des Gesetzes er-füllen. Wir sehen gerade an diesem Schulstandort, wel-che Fehler und welchen Mangel dieses Gesetz hat. Wirdürfen das nicht zulassen. Deutsche Außenpolitik siehteinfach anders aus.
Ich kann übrigens auch alle Haushälter beruhigen.Die gesetzliche Förderzusage für alle anerkannten Aus-landsschulen ist haushaltsneutral. Darüber ist sich auchder WDA im Klaren. Es wird nicht mehr Geld geben.Jetzt – das hat, glaube ich, Frau Staatsministerin in ih-ren letzten Worten anklingen lassen – ist das Parlamentgefordert, für die notwendigen Nachbesserungen zu sor-gen, damit das Gesetz seinen Namen auch verdient. Wir,alle Fraktionen im Unterausschuss, haben in den letztendrei Jahren einen Großteil unserer Arbeit den DeutschenAuslandsschulen gewidmet. Viele von uns waren vorOrt, haben sich die Schulstandorte angeschaut, habenGespräche geführt, und die Ergebnisse sind in unsereBeratungen eingeflossen. Vor allen Dingen dem Vorsit-zenden, der ja auch noch zu Wort kommt, gebührt hiergroßer Dank für sein besonderes Engagement.
Unsere gemeinsame Position – ich wiederhole nur,was wir letztens beraten haben – ist zum einen, die För-derfähigkeit für alle anerkannten Auslandsschulen geltenzu lassen, und zum anderen, die DSD-Schulen im Gesetzzu verankern. Das ist für mich das Allerwichtigste. Dannerfüllen wir, glaube ich, auch das, was wir versprochenhaben, nämlich mit diesem Gesetz Planungssicherheit zugeben.Wir haben vereinbart, dass wir einen Änderungsan-trag gemeinsam erarbeiten. Ich hoffe, dass alle ent-schlossen dabei bleiben und für die notwendigen Nach-besserungen kämpfen. Dieses Gesetz wäre, wenn es sobliebe und verabschiedet würde, noch nicht einmal einerster Schritt. Wir würden Schulen erster und zweiterKlasse schaffen,
und das wollen wir nicht.
Als Letztes will ich nur noch die Zusage – –
Das geht eigentlich nicht mehr, Kollegin Krüger-
Leißner. Sie haben es ja gesagt: Sie haben noch Bera-
tungsbedarf und haben auch die Chance, in den Aus-
schüssen darüber zu reden. Vertagen Sie das bitte.
Aber ich sage: Wir stehen zu unserem Wort.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013 29537
Angelika Krüger-Leißner
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Das war das Einzige, was ich noch sagen wollte.
Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Gauweiler für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Es wäre ganz wichtig gewesen, was FrauKrüger-Leißner noch sagen wollte. Ich spreche für sie.
Wir haben uns schon überlegt, wie wir der Bundesregie-rung gemeinsam über die Hürden helfen können.Meine Vorrednerin hat einen ganz wichtigen Punktangesprochen, nämlich dass in Zeiten, in denen es mitder Beliebtheit Deutschlands nicht ganz so gut bestelltist – als Beispiel nenne ich die Debatten im Mittelmeer-raum –, die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik einezusätzliche Bedeutung bekommt. Es ist an dieser Stellegut, darauf hinzuweisen, dass Griechenland, das oft alsBeispiel genannt wird, zurzeit den größten Anstieg anDeutschkursen weltweit zu verzeichnen hat. Eine unse-rer erfolgreichsten deutschen Schulen im Ausland ist dasGymnasium in Thessaloniki. Ganz nebenbei darf manauch darauf hinweisen, dass das erste Goethe-Institut,das nach dem Krieg eröffnet worden ist, auf Einladungder griechischen Regierung in Athen eröffnet worden ist,wofür wir alle sehr dankbar sind.
In dem Unterausschuss „Auswärtige Kultur- und Bil-dungspolitik“ bemühen wir uns um eine substanzielleund auf die Kraft des Arguments gegründete Willensbil-dung. Auch beim heutigen Gesetzentwurf gibt es den al-ten Streit – wie immer bei Regierung und Opposition –:Ist das Glas halb voll oder halb leer? Zumindest ist esgut, dass wir schon einmal ein Glas auf dem Tisch ha-ben. Darüber sollten wir uns einig sein. Insofern ver-dienen die Bundesregierung und Frau Pieper unsere An-erkennung, dass nach all den Schwierigkeiten diesesgesetzliche Gefäß auf dem Tisch steht. Das Parlamenthat die Aufgabe, es zu füllen. Es ist gut, dass es den Ge-setzentwurf gibt. Der Gesetzentwurf, Frau Staatsministe-rin Pieper, geht letztlich zurück auf eine Entschließungdes Bundestages vom 30. Mai 2008. Dort haben wir dieGrundprinzipien formuliert. Herr Kampeter, der hier imSaal sitzt, hat gemeinsam mit der Kollegin MonikaGriefahn, an die ich ebenfalls in Dankbarkeit denke, gro-ßen Anteil daran, dass die Grundzüge dieser Entschlie-ßung festgelegt werden konnten, die der Bundestag danneinstimmig angenommen hat. Das sollte hier schon Er-wähnung finden.Die Koalition hat danach die Forderung nach einemAuslandsschulgesetz ausdrücklich in die Koalitionsver-einbarung aufgenommen. Der diesbezügliche Teil derKoalitionsvereinbarung ist klar und gut formuliert, näm-lich von mir.
Das sei nur nebenbei erwähnt. – Der zuständige Unter-ausschuss hat am 5. April 2011 die Bundesregierungnoch einmal gebeten, diesen Gesetzentwurf vorzulegen.Es ist gut, dass wir nun zum ersten Mal einen Rechts-rahmen haben, in dem sich die Deutschen Auslandsschu-len – wenn wir die Sprachdiplomschulen mitzählen, han-delt es sich um fast 400 000 Schülerinnen und Schüler –in Zukunft bewegen können.Natürlich gibt es Dinge, die wir noch ergänzen müs-sen. Nach dem jetzigen Entwurf erhalten nicht alle klas-sischen Auslandsschulen die Garantie der Sicherheit,was wir aber wollen. Es soll für sie alle ein Leistungsan-spruch bestehen. Es fehlt – wir werden das gemeinsamergänzen; mit dem Kollegen Leibrecht habe ich schonFormulierungsvorschläge ausgearbeitet – die Einbezie-hung der PASCH-Sprachdiplomschulen. Diese müsseneinbezogen sein. Ferner müssen wir eine Regelung überdie Aufgabenwahrnehmung treffen. Hierbei sollten wirdie Zentralstelle für das Auslandsschulwesen wesentlichberücksichtigen. Ich bin froh, dass die Bundesregierungheute bei der Einbringung des Gesetzes die Arbeit derZentralstelle, die seit 50 Jahren das deutsche Auslands-schulwesen prägt, gewürdigt hat. Ich denke, dass dies ei-ner gesetzlichen Erwähnung wert ist.
Wir sind insofern an einem positiven Wendepunkt.Wir stehen, schon wegen der Verzahnung des Bundesmit den Ländern, vor der Aufgabe, dieses Gesetz entwe-der scheitern zu lassen oder gemeinsam durchzubringen.Ich bin aufgrund der guten Zusammenarbeit in unseremGremium ziemlich überzeugt, dass wir Letzteres schaf-fen werden.Ich habe ein bisschen in den Archiven gekramt.Deutschland hatte zwischen 1870 und 1914 900 Aus-landsschulen. Heute sind wir, wenn wir die Sprach-diplomschulen dazu zählen, bei etwas über 1 000. Dasist gut, aber die Zahl ist auch nicht so, dass wir deswe-gen gleich ohnmächtig werden müssten. Das Bessere istder Feind des Guten. Wir können hier noch einiges zule-gen, lieber Deutscher Bundestag, liebe Regierung undliebe Regierungen der Länder.Die Schule der Nation ist die Schule; sie ist auch dasAnsehen der Nation, und wir können damit die beste Re-klame machen.Vielen Dank.
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29538 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eine Bemerkung vorweg: Immer wenn ich in den ver-
gangenen Jahren eine Deutsche Auslandsschule besucht
habe, sei es als Journalistin oder als Parlamentarierin,
war ich tief beeindruckt vom Engagement der Lehrer,
Schüler und auch der Eltern für ihre Schule – Frau
Staatsministerin hat das vorhin auch erwähnt – und be-
sonders von der pädagogischen Atmosphäre in diesen
Schulen. Ich habe dabei gelernt, dass diese Schulen für
Kinder und Jugendliche in der Fremde eine besondere
Bedeutung haben, sie ihr oft nicht einfaches Heranwach-
sen positiv unterstützen und schützen, auch die Bezie-
hung zu ihrer Heimat übrigens. Schüler in Schanghai ha-
ben das einmal so ausgedrückt: Deutschland, das sind
die Großeltern und die Schule hier.
Dass es um so etwas Kostbares wie Kindheit und Ju-
gend geht, wenn wir heute das Gesetz über die Förde-
rung der Auslandsschulen diskutieren, sollten wir beden-
ken, und wir sollten das auch in den Mittelpunkt unserer
Überlegungen stellen, nicht nur unser Image nach außen
und wirtschaftliche Standortfaktoren in aller Welt.
Kindern, Jugendlichen, Heranwachsenden, Lernbe-
gierigen in einer internationalen Welt, Begegnungen mit
Gleichaltrigen anderer Kulturen und Traditionen Su-
chenden soll dieses Gesetz dienen, ihren Lehrerinnen
und Lehrern und – nicht zu vergessen – den Kindern und
Jugendlichen aus den Gastländern ebenfalls, die sich auf
deutsche Kultur und auch auf Begegnung mit Gleich-
altrigen anderer Herkunft einlassen. Das bitte ich zu be-
denken.
Insofern: Ja, es ist gut, dass dieser Gesetzentwurf der
Regierung jetzt endlich vorliegt. Der Unterausschuss
„Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik“ hat seit Jah-
ren fraktionsübergreifend – die Linke war stets dabei –
darauf gedrungen, dass die Deutschen Auslandsschulen
gesetzlich abgesichert werden und nicht länger mit der
auf ein Jahr begrenzten Förderung nach Zuwendungs-
recht arbeiten müssen.
Aber was erleben wir nun, in dem Moment, in dem
das schon so lange als dringend notwendig erachtete Ge-
setz vorliegt? Von 141 bisher geförderten Auslandsschu-
len soll nur ein Drittel gesetzlich abgesichert werden.
Für alle anderen soll es so weitergehen wie bisher. Nur
die großen Schulen mit 20 Abiturabsolventen pro Jahr
oder mehr fallen unter das neue Gesetz. Gut für sie, aber
ganz und gar schlecht, weil das nun auch für die große
Mehrheit der anderen gesetzlich festgeschrieben wird.
Man kann es eigentlich kaum glauben, Frau Staatsmi-
nisterin, aber in dieser großen Gruppe der vom Gesetz
ausgeschlossenen befinden sich traditionsreiche deut-
sche Schulen wie zum Beispiel die Schule in Neu-Delhi,
tapfere Neugründungen im früheren Ostblock wie die
Schule in Bratislava und tapfere Einrichtungen, mehr-
fach erwähnt, die gegen Unwägbarkeiten jahrzehntelan-
ger Diktatur angehen wie die Schule in Teheran.
Die Schule in Neu-Delhi gibt es seit 1961. 2007 er-
hielt sie die Genehmigung zur Einrichtung einer Ober-
stufe. 2012 haben sieben Schüler das Abitur bestanden.
Diese Zahl aber reicht nicht für die gesetzliche Absiche-
rung. Deshalb müssen 180 Kinder und Jugendliche so-
wie 22 Lehrer weiter wurschteln wie bisher.
Die Schule in Bratislava: eine neue Schule, gegründet
2005, die einzige deutsche Schule in der Slowakei, eine
Begegnungsschule, auf der sowohl deutsche wie auch
einheimische Abschlüsse abgelegt werden können, über
200 Kinder und Jugendliche, 26 Lehrer. Der Ausbau er-
folgt schrittweise; ab 2015/16 soll es einen vollständigen
Gymnasialzug geben. Bis die Schule in Bratislava den
Kriterien des vorliegenden Gesetzes genügt, wird es
Jahre dauern. Wollen wir diesem Unsinn wirklich zu-
stimmen?
Das waren nur zwei Beispiele von ungefähr 100. Ich
finde, wenn man schon nach jahrelangen Forderungen
endlich ein Gesetz macht, dann muss es doch einen Nut-
zen haben und nicht wenige Privilegierte und viele Leid-
tragende schaffen. Was ist dann der Nutzen dieses Geset-
zes?
Wie gesagt: Es geht überall gleichermaßen um Kin-
der, Jugendliche, Heranwachsende und ihre Bildungs-
chancen, ihre Lernverhältnisse, die gerade in der Fremde
die Lebensverhältnisse stark prägen. Wird das Gesetz in
der jetzigen Fassung umgesetzt, konterkariert es sein an-
gegebenes, laut gepriesenes Ziel, den deutschen Schulen
im Ausland endlich eine bessere Finanzierungs- und Pla-
nungssicherheit zu verschaffen. Ein Auslandsschulge-
setz muss für alle bisher geförderten und anerkannten
Schulen gleichermaßen gelten.
Nur dann wird es seinem Namen und seiner Zielsetzung
gerecht. Insofern war der hoffnungsvollste Satz in Ihrer
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie haben unsmehr oder weniger versprochen: So wie wir das Gesetzheute beraten, wird es hoffentlich am Ende nicht aus-sehen.Ich danke.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013 29539
Dr. Lukrezia Jochimsen
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Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol-legin Claudia Roth das Wort.
Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Ja, ganz ruhig. Ich bin ganz moderat. – Frau Präsiden-tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben esschon öfter erlebt, dass die Auslandsschulen wunderbareBrücken in die Welt sind, sprachlich, kulturell und auchwirtschaftlich. Wir wollen Kindern dort die Möglichkeitgeben, Deutsch zu lernen, aber auch eine offene, tole-rante, integrative Bildungskultur zu entdecken und De-mokratie im Dialog der Schule praktisch zu erleben.Deswegen begrüßen wir es sehr, dass das Auslands-schulwesen nun endlich auf eine gesetzliche Grundlagegestellt werden soll. Denn eine solche Grundlage schafftVertrauen und Sicherheit für eine nachhaltige Arbeit anden Schulen, die oft über gemeinnützige Trägervereineorganisiert sind – verbunden mit den entsprechendenHaftungsrisiken für die jeweiligen Vereinsvorstände.Im Laufe der Beratungen hat die Regierung den Ent-wurf leider immer wieder abgespeckt. Zwischenzeitlichwar es sogar fraglich, ob wir es in dieser Legislaturpe-riode überhaupt schaffen, das Gesetz auf den Weg zubringen. Die vorliegende Fassung hat gravierende Män-gel; meine Vorrednerinnen und Vorredner haben daraufhingewiesen. Deswegen werben wir, die Mitglieder desUnterausschusses, gemeinsam – über alle Fraktionenhinweg – für deutliche Nachbesserungen. Denn es reichtnun wirklich nicht aus – Luc hat es gerade angespro-chen –, wenn überhaupt nur ein knappes Drittel der bis-her geförderten 141 Schulen von der vorgesehenen ge-setzlichen Regelung erfasst wird
und die anderen Schulen auf der alten, unverbindliche-ren Grundlage weiterarbeiten müssen, vor allem, weil siedie vorgesehene Mindestzahl bei den Abschlüssen nichterreichen. Wir haben es doch erlebt – wir waren mit demAusschuss dort –, was das für die Schule in Teheran,eine Schule mit so engagierten Lehrern und einem wun-derbaren Direktor, bedeuten würde. Diese Schule ist fürviele, für Lehrer, Kinder und Eltern, eine Art Insel fürDemokratie, für Menschenrechte, eine Insel der Hoff-nung auf eine bessere, eine andere Zukunft. Das müssenwir fördern. Wir dürfen das nicht ausschließen, indemwir hierarchisieren, sodass die Schule in Teheran zu ei-ner zweiten Klasse gehören würde, nur weil sie nochnicht genügend Abschlüsse verzeichnen kann.
Ein zweites Beispiel. Rund um Ostern war ich in Erbilin Irakisch-Kurdistan. Es handelt sich um eine Schule imAufbau, die mit unglaublicher Begeisterung von denLehrerinnen und Lehrern, von Eltern und nicht zuletztvon den Schülerinnen und Schülern angenommen wird.Ich habe mit Mädchen aus Mönchengladbach und ausKassel gesprochen, für die diese Schule, auf der sieDeutsch sprechen und lernen können, ein Stück weiteine Verbindung in ihre Auch-Heimat Deutschland ist.Auch solche Schulen brauchen dringend eine klare undnachhaltige Unterstützung.
Dass die PASCH-Schulen, ein sehr erfolgreiches Pro-jekt, das 1 500 Schulen mit Deutschangeboten weltweitvernetzt, überhaupt nicht vorkommen, das ist nicht nach-zuvollziehen. Das ist ein wirklicher Makel. Bitte helfenSie alle mit – vor allem die Bundesregierung! –, dassdiese Lücken und diese Mängel im Gesetz überwundenwerden.Ich will aber darauf hinweisen – Frau Pieper hat sichja echt eingesetzt –, dass es schon ein Problem war, wasdie Länder in dieser ganzen Zeit getrieben haben. Wennsie ihre Kompetenzen für Kultur und Bildung betonen,hinterher aber die Beiträge für die Versorgungszulagender Lehrkräfte einseitig kürzen, dann ist das ein Trauer-spiel. Ich sage das an die Adresse aller Länder, ichnehme keines aus.
Gut ist, dass jetzt ein Modus Vivendi gefunden wer-den konnte und der Bund einspringt; denn sonst wäre dieLage für die Pädagogen und Pädagoginnen, die mit gro-ßer Empathie ihre Arbeit machen, absolut demotivie-rend.Mit Verlaub, lieber Peter Gauweiler, ein bisschenskurril finde ich es schon, wenn die bayerische Staats-kanzlei dem Gesetzentwurf eifrigst hinterherprotokol-liert, dass – ich zitiere –:der Bund … auch in Zukunft die im Rahmen derdeutschen Auslandsschularbeit notwendigen Kos-ten für die erforderlichen Reisen der Beauftragtender Kulturministerkonferenz der Länder überneh-menwird. Ich wünsche den Vertretern der Länder eine guteAuslandsreise.
Ein letztes großes Anliegen will ich noch ansprechen,das für uns wirklich sehr wichtig ist: die Stipendien fürtalentierte Kinder aus Familien, die die Schulgeldernicht aufbringen können. Wir sollten darauf achten, dassdas deutsche System, nämlich dass bei uns der Zugangzu den Schulen eben nicht nur für die Geldeliten möglichist, stärker gefördert wird und dass eine größere soziale
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29540 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013
Claudia Roth
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Jeder von uns ist im Ausland oder bei Besuchen aus-ländischer Delegationen, mit denen wir hier in Berlinsprechen, auf Politikerkolleginnen oder -kollegen ausanderen Ländern gestoßen, die uns im Verlauf des Ge-spräches stolz berichten, dass sie auf einer DeutschenAuslandsschule gewesen sind.
Gerade in diesen Gesprächen kann man förmlich mitHänden greifen, wie aus dieser Erinnerung an den Schul-besuch eine besondere Verbundenheit mit Deutschlandgeworden ist.Man muss sich einmal anschauen, wer alles auf einerDeutschen Auslandschule war – es gibt entsprechendeÜbersichten –: Das ist beispielsweise die frühere griechi-sche Außenministerin Dora Bakojannis, Patricia ExpinosaCantellano, die ehemalige mexikanische Außenministe-rin, oder Tarek Kamel, der ehemalige ägyptische Minis-ter für Kommunikation und Informationstechnologie.Ich wollte auf diesen Aspekt Deutscher Auslands-schulen eingehen, weil dadurch deutlich wird, dass dieMenschen, die auf diese Schulen gehen, später in ihrenLändern zur Elite gehören, jedenfalls in vielen Fällen,und sich ihre Verbundenheit mit Deutschland, die siedurch den Besuch dieser Schulen in ihrer Kindheit er-fahren haben, weiter auswirkt, weil sie sich auch später,wenn sie eine Funktion in der Wirtschaft, der Wissen-schaft oder der Politik ihres Landes innehaben, mitDeutschland besonders verbunden fühlen. In der Zeit derGlobalisierung zählen genau diese persönlichen interna-tionalen Netzwerke. Sie zählen in der Wirtschaft, in derWissenschaft und auch in der Politik. Deshalb gibt eskaum etwas Besseres oder Nachhaltigeres, um die Stel-lung Deutschlands in der Welt, unseren Einfluss in denBereichen Wirtschaft, Wissenschaft und Politik, hier ins-besondere in der Außenpolitik, zu stärken, als in dasdeutsche Auslandsschulwesen zu investieren.Aus diesem Grunde ist ein Gesetz, mit dem das deut-sche Auslandsschulwesen auf eine rechtliche Grundlagegestellt wird, sicherlich eine gute Sache. Dass der Ge-setzentwurf verbessert werden soll, haben die Fachleutehier vorgetragen. Ich hoffe, dass wir zuversichtlich seinkönnen, dass der Unterausschuss „Auswärtige Kultur-und Bildungspolitik“ dazu gemeinsame Vorschläge un-terbreiten wird.Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich beim Unter-ausschuss für die geleistete Arbeit bedanken. Selbstver-ständlich bedanke ich mich auch bei Ihnen, Frau Staats-ministerin, als Vertreterin der Bundesregierung. Ich willauch nicht unerwähnt lassen, dass in den schwierigenVerhandlungsgesprächen mit den Ländern – wir habeneiniges darüber gehört – Kanzleramtsminister Pofallaeine wichtige Rolle gespielt hat, um die Kühe vom Eiszu bekommen.
Steffen Kampeter, ich glaube, auch ohne die Hilfe desFinanzministeriums beim Geradeziehen und Querschrei-ben wäre es nicht gegangen. Deshalb freuen wir unsheute, dass wir so weit sind.80 000 Schüler besuchen 141 Deutsche Auslands-schulen. 60 000 davon sind nicht deutsche Schüler. Siekommen entweder aus den Partnerländern oder ausDrittländern. Ich beziehe mich dabei allein auf die Schu-len, die von diesem Gesetz erfasst werden.Ich möchte mich auch bei den Lehrerinnen und Leh-rern bedanken – das sind etwa 2 000 –, die sich in einemsolchen Auslandseinsatz befinden. Das ist für manchenicht einfach. Die Länder sind auch nicht gleichermaßenattraktiv, um das einmal deutlich zu sagen. Die Lehrerin-nen und Lehrer sind diejenigen, die das Ganze mit Lebenerfüllen. Leider wird nicht immer – das habe ich in Ge-sprächen mit manchen, die aus dem Ausland zurückge-kommen und in den Schuldienst in Deutschland zurück-gekehrt sind, erfahren – das, was sie in der Zwischenzeitgemacht haben, so anerkannt, wie ich mir das wünschenwürde. Ich glaube, wir müssen in den Gesprächen mitden Ländern deutlich machen, dass der Einsatz als Leh-rer oder Lehrerin an einer Deutschen Auslandsschulenicht karriereschädlich sein darf. Im Gegenteil: Mansollte sich darüber freuen, dass jemand diese Aufgabewahrgenommen hat und internationale Erfahrung an dieheimische Schule mitbringt, vielleicht auch Schulkon-takte. An dieser Stelle liegt, glaube ich, noch manchesim Argen.
Ich will zum Schluss noch auf einen Punkt hinweisen.Ich glaube aufgrund meiner Reisetätigkeit, dass wir indiesem Bereich so etwas Ähnliches brauchen wie dasGesetz, über das wir heute diskutieren. Dabei geht es umdie deutschen Universitäten im Ausland. In Oman, in
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013 29541
Ruprecht Polenz
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Abschließend hat ebenfalls für die Unionsfraktion der
Kollege Dr. Thomas Feist das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Esmuss noch einmal gesagt werden: Obwohl wir als Parla-ment Druck gemacht haben und obwohl die Staatsminis-terin von Anfang an gesagt hat, dass wir hier ein Gesetzbrauchen, lagen viele Schwierigkeiten im Weg. Diesesind jetzt weitgehend ausgeräumt. Das ist wirklich toll.Frau Staatsministerin, da haben Sie etwas Tolles auf denWeg gebracht.
Wir beraten heute in erster Lesung einen Gesetzent-wurf. Der Name macht schon deutlich, worum es geht.Im parlamentarischen Verfahren werden wir uns natür-lich genau den Fragen widmen, die jetzt noch zu klärensind. Sicher ist es für die Auslandsschulen nicht befriedi-gend, wenn nur ein Drittel von ihnen momentan in denGeltungsbereich des Gesetzes fällt. Deswegen empfehleich für unsere parlamentarischen Beratungen, darübernachzudenken, wo wir die Auslandsschulen wirklich alsMittel unserer auswärtigen Bildungspolitik, also als aus-wärtige Politik mit verstehen. Denn es macht natürlicheinen Unterschied, ob wir mit großen Schulen an be-stimmten Standorten präsent sind, oder ob wir sagen:Gerade in Krisengebieten müssen wir BildungsangeboteDeutschlands vorhalten. Darüber müssen wir noch bera-ten.
In 71 Ländern sind wir mit den Deutschen Auslands-schulen präsent. Es ist von Ihnen, Kollege Polenz, schonangesprochen worden: 60 000 von den 80 000 Schüle-rinnen und Schülern kommen nicht aus Deutschland. Ichdenke, das ist eine Besonderheit der Deutschen Aus-landsschulen. Denn dort können wir unterhalb der diplo-matischen Ebene, die normalerweise Kinder und Ju-gendliche überhaupt nicht in angemessener Weise in denBlick nimmt, junge Botschafter einer deutschen Bil-dungs- und Kulturrepublik in den Ländern ausbilden. Ichdenke, das müssen wir noch verstärken.Ich freue mich ganz besonders, dass heute zwei leib-haftige Vertreter hier anwesend sind. Auf der Tribüne– so ist mir gesagt worden – sitzen zwei junge Damenaus Kolumbien, die dort an der Deutschen Auslands-schule lernen. Sie sind genau die Hoffnungsträger, diewir in späteren Netzwerken brauchen. Vielen Dank.
Ich möchte auf einen Punkt hinweisen, den die Red-ner vor mir noch nicht angesprochen haben, nämlichdass wir an den Deutschen Auslandsschulen selbstver-ständlich neben den allgemeinbildenden Abschlüssenauch berufsbildende Abschlüsse vergeben, dass wir teil-weise auch die Funktion von Berufsschulen überneh-men. Diese Aufwertung einer dualen Bildung, wie wirsie hier in Deutschland kennen, ist ein ganz wichtigesSegment, das es auszubauen gilt.
Deswegen bin ich froh, dass ich mit meinem KollegenSchummer, aber natürlich auch mit anderen Kollegenaus der Koalition momentan an einem Antrag arbeite, indem wir genau dieses Potenzial der Deutschen Aus-landsschulen aufgreifen, um duale Bildung genau dort-hin zu exportieren, wo es eine hohe Jugendarbeitslosig-keit gibt und wo wir mit unseren Bildungsangeboteneine echte Alternative bieten können.Ich möchte noch einmal den Fokus zurück aufs Inlandlegen. Ich bin nicht so oft im Ausland unterwegs, aberman kann sich ja auch mit Menschen in seinem Wahl-kreis unterhalten. In Leipzig habe ich mich mit Leutenunterhalten, die als Pädagogen an Deutschen Auslands-schulen waren. Sie haben mir von dem Problem berich-tet, dass dies in der späteren Karriere ein Nachteil ist. Ichhabe dann mit den Vertretern der Bildungsagentur da-rüber gesprochen, warum das so ist. Das hängt damit zu-sammen, dass oftmals im Inland der falsche Eindruckentsteht, dass die Deutschen Auslandsschulen eine ArtEliteschulen sind, die mit Deutschland überhaupt nichtszu tun haben. Das ist natürlich völliger Quatsch. Wirmüssen genau diese interkulturellen Kompetenzen, diedie Lehrer mitbringen, wenn sie aus dem Ausland nachDeutschland zurückkehren, aufgreifen und verstärken,und wir müssen im Inland deutlich machen, wie wichtig
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29542 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013
Dr. Thomas Feist
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Abschließend möchte ich den Lehrerinnen und Leh-rern an den Deutschen Auslandsschulen danken. Es istschon angesprochen worden: Es gibt Länder, in die manals Lehrer gern geht. Es gibt aber auch Länder, für diedas nicht unbedingt gilt. Indem die Lehrerinnen undLehrer an den Deutschen Auslandsschulen Deutschlandoftmals für eine lange Zeit im Ausland vertreten, prägensie ganz wesentlich auch das Bild unserer Außenpolitikim Ausland. Das ist ihr Verdienst. Vielen Dank an dieserStelle!
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/13058 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esdazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 41 a und 41 b auf:a) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Konstantin von Notz, Volker Beck ,Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENInformationsfreiheit weiter entwickeln– Drucksache 17/13097 –b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Dr. Konstantin von Notz, Volker Beck
, Memet Kilic, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-
– Drucksache 17/9724 –Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
– Drucksache 17/12490 –Berichterstattung:Abgeordnete Stephan Mayer
Kirsten LühmannGisela PiltzJan KorteDr. Konstantin von NotzNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeDr. Konstantin von Notz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir legenheute nochmals einen Antrag vor, die Informationsfrei-heit endlich entschlossen weiterzuentwickeln. Informa-tionsfreiheit und Transparenz waren und sind ein zentra-les demokratiepolitisches Anliegen meiner Fraktion. Beider Informationsfreiheit geht es uns darum, ein Rechtder Bürgerinnen und Bürger auf Zugang zu Informatio-nen festzusetzen, vor allem gegenüber der Verwaltung,zum Beispiel den Ministerien.Hier gibt es großen Handlungsbedarf. Das habenjüngst die Diskussionen über das Abendessen von HerrnAckermann im Bundeskanzleramt,
die wichtige Debatte um die Nichtoffenlegung der Me-daillenvorgaben für Olympia 2012 und die Verwendungder öffentlichen Mittel in diesem Bereich noch einmalganz deutlich gezeigt.
Auch das bestätigt: Informationsfreiheit ist Vorausset-zung für die notwendige Transparenz in einer modernenDemokratie. Transparenz aber ist kein Selbstzweck, keinAllheilmittel; vielmehr ist die Nachvollziehbarkeit undVerständlichkeit von politischen Entscheidungen undVerwaltungshandeln die Grundlage einer modernen de-mokratischen Gesellschaft.
Sie ist Voraussetzung für Partizipation und Mitbestim-mung, für das Suchen und Finden ausgewogener Ent-scheidungen nach einem offenen Diskurs. Transparenzist die Vorbeugung gegen Korruption und Misswirtschaftmit öffentlichen Mitteln. Sie ist Voraussetzung für öf-fentliche Kontrolle durch Politik und Zivilgesellschaft.Letztlich erhöht die Transparenz auch die Legitimationund die Akzeptanz von politischen Entscheidungen. Dasist eine gute Sache.
All das gewährleistet mehr Transparenz. Deswegen istihre Stärkung ein Gebot der Stunde, Kollegin Piltz.Gleichzeitig ist uns völlig klar, dass natürlich – Ach-tung, dieser Punkt wird Ihnen gefallen – berechtigte In-teressen der Öffentlichkeit, zum Beispiel die Sicherheitund die Funktionsfähigkeit der Verwaltung, oder Priva-ter, zum Beispiel der Datenschutz und die Wahrung vonBetriebs- und Geschäftsgeheimnissen, geschützt werdenmüssen. Aber Geheimhaltung muss die Ausnahme sein.Dafür bedarf es einer wirklichen Abwägung der Interes-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013 29543
Dr. Konstantin von Notz
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Deswegen, Herr Kollege Sensburg, brauchen wir eineReform der Informationsfreiheit in Deutschland.Andere Länder, auch die EU selbst, sind weiter; siehaben bereits ein Grundrecht auf Informationszugang.Wir haben hier Nachholbedarf, meine Damen und Her-ren, und das trotz des Erfolgs auf Bundesebene, dass es2006 zur Einführung des Informationsfreiheitsgesetzeskam – als Ergebnis jahrelanger, beständiger grünerÜberzeugungsarbeit und sehr guter rot-grüner Regie-rungsarbeit.
– Geben Sie sich einen Ruck und klatschen Sie! Ich habepraktisch die SPD gelobt.
Trotzdem gibt es noch immer keinen Paradigmen-wechsel in der Verwaltung. Transparenz als Grundlagefür Partizipation wird viel zu häufig überwiegend als Be-drohung wahrgenommen. Hier müssen wir alle gemein-sam mehr Überzeugungsarbeit leisten, aber das alleinreicht eben nicht. Interessierte kritische Bürger sindkeine Last, sie sind ein Glücksfall für unsere Demokra-tie.
Deswegen appelliere ich an Sie alle, liebe Kolleginnenund Kollegen: Lassen Sie uns jetzt gemeinsam handeln.Wir haben ja auch an anderer Stelle schon Kompro-misse gefunden. Zur Informationsfreiheit haben wir inSpeyer gemeinsam einen Bericht in Auftrag gegeben.Das Ergebnis ist ein 500 Seiten starker Bericht. Auf15 Seiten stehen sehr konkrete Handlungsempfehlungen,zum Beispiel die Einführung einer Abwägungsklauselzur Stärkung des Informationsanspruchs, die Ausgestal-tung des Rechtsweges, Open Data und die Stärkung derRolle des Bundesbeauftragten für die Informationsfrei-heit, um nur einige Punkte zu nennen. Die Reaktion da-rauf war bislang – leider keine. Schwarz-Gelb schweigterschrocken, verdrängt und sitzt aus. Sie haben in Sa-chen Informationsfreiheit und Transparenz, einem derdrängendsten Themen bei der Modernisierung unsererDemokratie, nichts unternommen. Das lang angekün-digte Open-Data-Portal der Bundesregierung ist einFlop. Es bietet nur Zugang zu Informationen, die vorherbereits anderswo öffentlich waren. Die Daten sind man-gels offener Lizenzen nicht kommerziell nutzbar. Und esist derzeit – hoffe ich – wegen technischer Mängel nichterreichbar.Es lässt sich nicht vertuschen: Schwarz-Gelb hat inpuncto Informationsfreiheit und Transparenz komplettversagt. Open Data, Open Government, Transparenz,Mitbestimmung scheinen von dieser Bundesregierungleider nicht erwünscht. Aber wir müssen jetzt ernst ma-chen, Informationsfreiheit weiterentwickeln, ein Grund-recht schaffen. Denn nur damit können wir die Informa-tionsrechte wirklich stärken.Ganz herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Stephan Mayer für die
Unionsfraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-ginnen! Sehr geehrte Kollegen! Wir beschäftigen unsheute zum wiederholten Male mit einem Lieblingskindder Grünen, mit der Informationsfreiheit. Schon im letz-ten Jahr haben wir uns in der ersten Lesung ausgiebigmit dem Gesetzentwurf der Grünen zur Schaffung einesInformationszugangsgrundrechts beschäftigt. Zwischen-zeitlich gab es am 24. September des letzten Jahres dieSachverständigenanhörung. Ich bitte Sie, meine liebenKolleginnen und Kollegen von den Grünen, noch einmalnachzulesen, was die Sachverständigen aller Fraktionenausgeführt haben.
Die überwiegende Mehrheit der Sachverständigen istnämlich der Auffassung, dass es keines Informationszu-gangsgrundrechts in Deutschland bedarf, dass die bishe-rigen einfachgesetzlichen Regelungen vollkommen aus-reichen.
Es gibt ein bestehendes, wirksames, einfachgesetzli-ches Informationsfreiheitsgesetz, das die Verwaltungund die Rechtsprechung natürlich in vollem Umfangbindet. Das bitte ich zur Kenntnis zu nehmen. Schondurch das heutige Informationsfreiheitsgesetz aus demJahre 2006 ist sowohl die Rechtsprechung als auch diegesamte Verwaltung gebunden.
Ich bitte auch zur Kenntnis zu nehmen, dass durcheine sehr ausdifferenzierte und mittlerweile sehr um-fangreiche Rechtsprechung des Bundesverfassungs-gerichtes anerkannt wird, dass es ein grundsätzlichesInteresse der Allgemeinheit an Transparenz und Infor-mationen gibt, zuletzt bestätigt durch ein Urteil aus demJahre 2010. Bereits im Jahr 2001 hat das Bundesverfas-sungsgericht erstmals festgelegt, dass der Zugang zu In-formationen ein wesentlicher Bestandteil unseres Demo-kratieprinzips ist. Neben dieser Rechtsprechung desBundesverfassungsgerichts bedarf es also keiner Ände-rung des Grundgesetzes durch die Aufnahme einesneuen Informationszugangsgrundrechts.
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Stephan Mayer
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Auch aus dieser Erwägung heraus wäre es falsch, IhremGesetzentwurf zuzustimmen.
Ich habe mich natürlich auch mit Ihrem Antrag be-schäftigt, der die Weiterentwicklung der Informations-freiheit zum Inhalt hat. Zunächst war ich sehr hoffnungs-voll. Ich habe gedacht, der Lernprozess bei Ihnen hateingesetzt, weil Sie ja durchaus etwas selbstkritischschreiben: „Transparenz ist kein Selbstzweck und keinAllheilmittel.“
Ich wurde aber – das muss ich offen sagen – sehr schnelldesillusioniert: Als ich weiterlas, musste ich erkennen,dass das nur ein kleiner Fortschritt war. Im weiteren Ver-lauf des Antrags sind Sie nämlich sehr schnell wieder indas bekannte Rollenverhalten zurückgefallen und haben– meines Erachtens holzschnittartig – festgestellt, dassdie gestiegene Zahl von Informationsersuchen gegen-über vielen Bundesministerien und anderen auskunfts-pflichtigen Bundeseinrichtungen ein Indiz dafür sei, dassdas Informationsfreiheitsgesetz einer Erweiterung be-dürfe.Sie haben den Evaluierungsbericht der DeutschenUniversität für Verwaltungswissenschaften Speyer ausdem letzten Jahr erwähnt, lieber Herr Kollege von Notz.Dieser umfangreiche Evaluierungsbericht zeigt sehrschön, dass man die Dinge etwas differenzierter betrach-ten muss: Wenn man sich anschaut, von wem und auswelchen Gründen Auskunftsersuchen gestellt werden,kommt man nämlich zu dem Ergebnis, dass der Großteilder Antragsteller Partikularinteressen verfolgt, dass eseben nicht die Breite der Bürgerschaft ist, die diese An-träge stellt.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich möchte Parti-kularinteressen beileibe nicht diskreditieren. Nur, wennman sich das genau ansieht, stellt man fest: Die Aus-kunftsersuchen an Bundesministerien und andere Behör-den stammen von einer kleinen Anzahl von meistensAnwälten und Journalisten, aber nicht von der Breite derBürgerschaft.
Schade finde ich auch, dass Sie in Ihrem Antrag nichtdarauf eingegangen sind, dass man der Deutschen Uni-versität für Verwaltungswissenschaften Speyer zufolgebei allen Erwägungen, den Auskunftsanspruch des Infor-mationsfreiheitsgesetzes zu erweitern, berücksichtigenmuss, dass dadurch in der Verwaltung erhebliche Res-sourcen gebunden werden. Diesen Auskunftsersuchenzu entsprechen, ist kostenintensiv; dafür werden zusätz-liche Mitarbeiter benötigt. Es wäre insgesamt ein sehrressourcenintensives Unterfangen, den Auskunftsan-spruch des Informationsfreiheitsgesetzes auch noch aus-zuweiten.Meine sehr verehrten Damen und Herren, man mussauch sehen: Die Entwicklung ist, seit das Informations-freiheitsgesetz im Jahr 2006 verabschiedet wurde, in denBehörden, aber auch in den Unternehmen nicht stehengeblieben. Viele Behörden haben seitdem eigene Infor-mationsbeauftragte benannt, die Bürgerinnen und Bür-gern, die berechtigte Auskunftsbegehren an sie richten,jederzeit zur Verfügung stehen.Auch viele Unternehmen haben sich hier in den letz-ten Jahren deutlich weiterentwickelt. Vor diesem Hinter-grund sehe ich keine Notwendigkeit, Ihrem Antrag zufolgen, die Ausnahmevorschrift in § 6 des Informations-freiheitsgesetzes – den Schutz von Betriebs- und Ge-schäftsgeheimnissen – einzuschränken. Sie behaupten,dass Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse absolut ge-schützt seien. Das ist nicht so, lieber Herr Kollege vonNotz. Es gibt hier eine ausdifferenzierte Rechtspre-chung, darunter ein lesenswertes Urteil aus dem Jahre2009. In diesem Urteil ist das Bundesverwaltungsgerichtganz klar zu dem Ergebnis gekommen, dass der Un-ternehmer nachweisen muss, dass er ein berechtigtesInteresse daran hat, dass ein Betriebs- oder Geschäfts-geheimnis nicht weitergegeben wird. Die Abwägungs-klausel, die Sie fordern, ist vollkommen überflüssig,weil eine solche Abwägung bereits stattfindet und, wiegesagt, eine sehr differenzierte Rechtsprechung existiert.
Ich möchte, meine sehr verehrten Kolleginnen undKollegen, weil dieses Thema im Antrag der Grünen an-gesprochen wird, noch etwas zum Thema Open Data sa-gen. Offene Daten sind unstreitig ein sehr kostbares Gut,und in offenen Daten – das möchte ich in aller Deutlich-keit sagen – steckt natürlich ein erhebliches Potenzialzur Weiterentwicklung von Forschung und Wissen-schaft, aber auch zur Ankurbelung der Wirtschaft. Des-wegen gibt es in vielen Ländern schon entsprechendePortale und Plattformen. Es gibt – das ist erwähnt wor-den – seit dem 19. Februar dieses Jahres „GovData –Das Datenportal für Deutschland“. In Ihrem Antrag,
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Stephan Mayer
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Jetzt haben Sie es als Flop bezeichnet. Dieses Datenpor-tal ist seit Februar dieses Jahres online, die Daten sindeinsehbar. Bis heute sind schon über 4 000 Datensätzeeingestellt worden. Es wird auch entsprechend weiter-entwickelt. Ich finde es schade, dass Sie, nur zwei Mo-nate nachdem dieses Datenportal online gegangen ist,rufen: Das war ein Flop, wir brauchen eine Gesetzesän-derung!
Haben Sie doch ein bisschen Geduld! Es gibt überhauptkeine Notwendigkeit, an das Informationsfreiheitsge-setz Hand anzulegen. Dieses Gesetz hat sich wirklich be-währt. Ich glaube, man sollte die weitere Entwicklungjetzt ganz gelassen abwarten.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Die Kollegin Kirsten Lühmann hat nun für die SPD-
Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! LiebeKolleginnen! Wir Abgeordnete haben vor einigen Wo-chen einen Brief von ProSiebenSat.1 bekommen, in demeine Reportage über den Bundestag angekündigt wurde.Sie lief im Rahmen der Sendung Abenteuer LebenSpezial: Geheimnisse Exklusiv.Ein Bericht über den Alltag des Deutschen Bundes-tages wird also als exklusive Enthüllungsstory angekün-digt. Das hat mich schon ein bisschen erstaunt; denn das,was ich in meinem Arbeitsalltag, in den Gesprächen mitden Bürgerinnen und Bürgern, erlebe, wird dem, wasProSiebenSat.1 hier hochstilisiert, nicht gerecht.Es liegt natürlich nahe, dass dieser reißerische Titeleinfach nur Zuschauende anlocken sollte; aber meineBefürchtung ist, dass dahinter auch eine Wahrnehmungsteckt, die ziemlich verbreitet ist, nämlich die Wahrneh-mung, dass der Staat, die Politik und die Verwaltung ei-gentlich eine Art Blackbox ist,
bei der man überhaupt nicht weiß, was darin vor sichgeht und was man möglicherweise nicht zu hören be-kommt.Diese Wahrnehmung ist aus meiner und, ich denke,auch aus unserer Sicht nicht richtig, aber sie ist erklär-bar, und zwar durch das bestehende Amtsgeheimnis. Un-sere darauf beruhende Verschwiegenheitspflicht ist jahr-hundertealt und rührt noch aus einem ganz anderenVerständnis von Staat her. Es ist mit strengen Strafen be-droht, dagegen zu verstoßen. Ein Bewusstseinswandelist hier unheimlich schwer, aber er ist notwendig.
Die SPD hat vor sieben Jahren das Informationsfrei-heitsgesetz initiiert und zusammen mit den Grünen, Herrvon Notz, in der rot-grünen Regierung verwirklichenkönnen.
Das war ein wichtiger erster Schritt in diese Richtung.
Wir haben kürzlich aber einen Bericht auf Zeit Onlinegelesen. In diesem Bericht wird dargelegt, wie Behördenintern Anträge auf Akteneinsicht diskutieren. Wenn mandas gelesen hat, dann konnte man den Eindruck bekom-men: Im Vordergrund steht dabei, wie solche Anträgeabgelehnt werden können – ob man sich auf einen zu ho-hen Aufwand beruft, welche Ausnahmegründe am effek-tivsten sind –, und es scheint so, als gäbe es regelrechteAnleitungen dafür, wie das problemlos erfolgen kann.Wenn das so ist, dann müssen wir das entschieden ableh-nen.
Schauen Sie sich die Zahlen vom letzten Jahr an: Essind über 6 000 Anträge auf Information gestellt worden.Weniger als die Hälfte davon wurde positiv beschieden.Hier beschleicht einen natürlich die Annahme, dass andiesem Artikel vielleicht ein bisschen Wahrheit seinkönnte.Das heißt, wir brauchen eine neue Kultur der Offen-heit. Zu dieser neuen Kultur der Offenheit gehört nichtnur, dass die Anfragen von Bürgerinnen und Bürgerngrundsätzlich als gerechtfertigt und sinnvoll anzusehensind, sondern auch, dass die Behörde von sich aus mehrInformationen an die Öffentlichkeit gibt, und das nachklaren Regeln.Ich denke, Beispiel dafür kann die neue HamburgerRegelung sein, wonach grundsätzlich alle Akten von denBehörden im Internet zu veröffentlichen sind. Das ist einsehr guter Ansatz, mit dem dort sehr große Erfolge er-zielt werden.Wir haben nun sieben Jahre Erfahrung mit dem Infor-mationsfreiheitsgesetz. Die Evaluation ist mehrfach an-gesprochen worden. Das Ergebnis war klar. Es lautet ausunserer Sicht nicht, Kollege Mayer, dass nichts geändertwerden muss, sondern im Gegenteil: Das Ergebnis die-ser Evaluation war, dass wir das Informationsfreiheits-recht weiterentwickeln müssen, und zwar vor allen Din-gen in drei Bereichen:Der erste Punkt ist die Vereinheitlichung des Rechtes.Es gibt zurzeit diverse Einzelgesetze. Ich will nur einpaar nennen: Informationsfreiheitsgesetz, Verbraucher-
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Kirsten Lühmann
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Der zweite Punkt ist die Überarbeitung von Ausnah-metatbeständen. Auch hier, Kollege Mayer, widerspre-che ich Ihnen vehement. Noch viel zu viele Anträge aufInformationszugang werden abgelehnt, teilweise, wiedie Expertenanhörung ergeben hat, aufgrund von Un-klarheiten im Gesetz.Es ist für mich nicht befriedigend, wenn Sie hier meh-rere Urteile zitieren. Das bedeutet nämlich, dass die An-träge auf Informationszugang zunächst einmal abgelehntwurden.
Wenn der Bürger bzw. die Bürgerin die Möglichkeithatte, vor Gericht zu ziehen, dann konnte es sein, dassihm bzw. ihr das legitime Recht zugesprochen wurdeund der Verwaltung gesagt wurde, dass sie nicht richtiggehandelt hat. Aber all die, die diese Möglichkeit nichthaben, müssen mit der Ablehnung zufrieden sein undkommen nicht zu ihrem legitimen Recht. Das müssenwir ändern. Hier muss es ganz klare Regeln geben.
Diese Regeln brauchen wir auch für die Beschäftigtenin den Verwaltungen. Ich kann sie verstehen; bei dieserunklaren Rechtslage würde wahrscheinlich auch ich lie-ber auf Nummer sicher gehen und sagen: Ehe ich etwasherausgebe, was ich nicht herausgeben darf, und hinter-her Probleme bekomme, verweigere ich lieber erst ein-mal die Herausgabe und warte darauf, was ein Gerichtdazu sagt. – Aber ist das denn unser Verständnis von ei-ner offenen Verwaltung und von offener Politik? UnserVerständnis ist das nicht.
Als dritten Punkt hat die Evaluation ergeben, dass dieBehörden von sich aus mehr Akten ins Internet stellensollten. Der Vorteil davon liegt auf der Hand: Alle Ak-ten, die öffentlich einsehbar sind, müssen nicht mehr perAntrag und mit hohem Aufwand von den Beschäftigtenzusammengesucht werden; dieser Aufwand erübrigtsich. Man geht ins Internet und zieht sich heraus, wasman braucht. Das vereinfacht das ganze Verfahren.Die Bundesregierung lässt in ihrer Stellungnahme lei-der keinerlei Bereitschaft erkennen, die Empfehlungenaus Wissenschaft und Praxis aufzunehmen. Sie prakti-ziert die übliche Vogel-Strauß-Politik und handelt wie-der einmal gegen die Interessen der Bürger und Bürge-rinnen.Die Stellungnahme der Bundesregierung beinhaltetmehrere Punkte. So wird behauptet – Herr Mayer, Siehaben das eben angesprochen –, dass es gar nicht dieBürger sind, die den Zugang zu Informationen wollen.Schauen Sie sich doch einmal die Zahlen an! 43 Prozentaller Anfragen kommen von Bürgern und Bürgerinnen,ganz privat. Sie haben vielleicht Partikularinteressen;das sei ihnen zugestanden. Aber sie sind die größte Ein-zelgruppe von Anfragenden. Gut, es gibt sicherlich nochandere Gruppen, die einen Zugang zu Informationenwollen. Mir ist es aber völlig egal, ob es ein Bürger, einJournalist oder ein Politiker ist – leider müssen auch wiruns teilweise auf das Informationsfreiheitsgesetz beru-fen, weil wir ansonsten keine Auskunft von der Regie-rung bekommen –;
sie alle haben ein legitimes Recht auf Zugang zu Infor-mationen. Das können sie im Moment nicht wahrneh-men, und dem müssen wir Rechnung tragen.
Wir müssen auch über den Arbeitsaufwand, den ichsehe, reden. Natürlich dürfen Beschäftigte im öffentli-chen Dienst diese Aufgabe nicht on top machen, alsoquasi nebenbei. Die Frage, die ich mir stelle, ist aber:Was ist uns echte Transparenz wert? Wir beklagen indiesem Haus permanent die Demokratieferne, den Um-stand, dass sich die Menschen nicht mehr für uns interes-sieren. Aber wenn wir wirklich die Möglichkeit haben,Nähe und Akzeptanz herzustellen, dann kommen Sie mitdem Kostenargument, ohne die Vorschläge, die wir ma-chen, wie man das Ganze vereinfachen kann, zu prüfen.
Das ist unlauter; das ist nicht unsere Vorstellung.
Wir nehmen im Gegensatz zur Regierung von FrauMerkel die Empfehlungen der Experten ernst. Wir wol-len sie umsetzen, allerdings, liebe Kolleginnen und Kol-legen von den Grünen, nicht durch eine Änderung desGrundgesetzes. Wir haben eigene Vorstellungen. Wirwerden einen Entwurf für ein neues Informationsfrei-heitsgesetz vorlegen. Wenn er angenommen wird, kannsich die Erkenntnis durchsetzen, dass die Beschäftigtenin den Ämtern die Akten für die Bürger und Bürgerinnennur verwalten und sie nicht vor der Öffentlichkeit schüt-zen müssen.Danke sehr.
Das Wort hat nun Gisela Piltz für die FDP-Fraktion.
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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Verehrte Teilnehmer der heutigen Sitzung, die Sie nichtin die Röhre schauen, sondern Teil der Blackbox sind,wie die Kolleginnen und Kollegen der Opposition gesagthaben. Herzlich willkommen im Bundestag, in unseremtransparenten Haus! Wir freuen uns sehr über Ihr Inte-resse.Passend zur heutigen Debatte schrieb die Zeit gestern:„Behörden tun sich mit Informationsfreiheit schwer“.Auf der Internetseite der Zeit werden dann gleich142 Seiten interner Vermerke der Bundesregierung ver-öffentlicht. Es handelt sich um Besprechungsvermerkezwischen den Ressorts, in denen die unterschiedlichstenFragen zum Informationsfreiheitsgesetz behandelt wer-den.
Ob es der Informationsfreiheit dient, wenn solche Ver-merke an die Öffentlichkeit gelangen, ist fraglich. Ichglaube, wir sind uns alle darüber einig, dass wir dannmöglicherweise solche Vermerke nicht geschrieben odersie anders behandelt hätten. Aber dass man das zum An-lass nimmt, darauf hinzuweisen, dass die Behörden mitder Informationsfreiheit nicht umgehen können, halteich für übertrieben.Dass Informationsfreit dem demokratischen Prinzipdient, stellte schon der ehemalige liberale JustizministerProfessor Dr. Schmidt-Jortzig fest. Frau KolleginLühmann, nur zur Erinnerung: Wenn die Liberalen da-mals nicht dafür gesorgt hätten, dass das Informations-freiheitsgesetz den Bundesrat passiert, gäbe es diesesGesetz heute gar nicht. Ich weiß, dass Sie das gerne ver-gessen.
Ich wollte Sie nur noch einmal daran erinnern.
– Dass wir uns hier treffen, ist immer gut. Da haben Sievöllig recht, Herr Kollege.Es kommt immer darauf an, die gesetzliche Entwick-lung zu beobachten und festzustellen, was richtig undwas falsch läuft. Dass es manchmal einer Nachjustierungbedarf, ist keine Frage. Aber es kommt immer darauf an,was man verändern will. Der Gesetzentwurf der Grünen,über den wir im Mai letzten Jahres zum ersten Mal dis-kutiert haben, ist aus unserer Sicht heute nicht anders zubewerten als damals. In der Gesetzesbegründung zumIFG hieß es 2004:Der Bund erlässt erstmals ein Gesetz zum allgemei-nen Zugang zu amtlichen Informationen des Bun-des.Bekanntermaßen lautet Art. 5 Abs. 1 Satz 1 des Grund-gesetzes:Jeder hat das Recht, … sich aus allgemein zugäng-lichen Quellen ungehindert zu unterrichten.Ganz offensichtlich haben Sie damals gedacht, dass dasim Einklang mit dem Grundgesetz stünde, und wolltenkeine entsprechende Änderung vornehmen. Ich glaubenicht, dass Ihr Gesetz etwas an den Problemen, die wirhaben, ändern würde, weder rechtlich noch politisch.
Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass das, was Siehier machen, aus meiner Sicht absolut populistisch ist.
Sie schreiben in Ihrem Gesetzentwurf, dass bei den Bür-gerinnen und Bürgern „berechtigte Wut“ entstehe,„wenn einmal gewählte Volksvertreter über ihren Kopfhinweg intransparente Entscheidungen treffen“. Das för-dert Ressentiments, und zwar unberechtigte Ressenti-ments, und hat nichts mit unserer Arbeit im DeutschenBundestag zu tun. Wenn Sie so arbeiten, ist das Ihr Pro-blem. Wir tun es nicht.
Ich muss Sie ernsthaft fragen, welches Selbstver-ständnis Sie als Parlamentarier haben. Das, was Sie sa-gen, ist nicht haltbar. Das sind bloße Behauptungen, dieweder dem Haus noch unserem Ansehen helfen. Viel-leicht noch als kleine Nachhilfe für die Kolleginnen undKollegen von Rot-Grün: Das Informationsfreiheitsgesetzbetrifft ausdrücklich die Exekutive und ihre Handlungenund nicht unsere Arbeit als Parlamentarier. So gesehensind all die von Ihnen genannten Beispiele aus dem Par-lament daneben. Wir arbeiten transparent und beratenhier öffentlich. Alle Ihre Vergleiche betreffend das Parla-ment, die Abgeordneten und das Informationsfreiheits-gesetz zeigen, dass Sie es nicht verstanden haben. Ichbin froh, dass wir öffentlich tagen, damit es jeder ver-steht.
Herr Kollege von Notz, Sie warten jetzt sicherlich da-rauf, welche intransparenten Entscheidungen aus der rot-grünen Regierungszeit ich Ihnen vorwerfen werde.
Es ist viel schlimmer.
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29548 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013
Gisela Piltz
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Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, ein Blick auf diegrün-rote Wirklichkeit: Im Koalitionsvertrag für Baden-Württemberg von 2011 wurde die sofortige Schaffungeines Informationsfreiheitsgesetzes versprochen. Jetztbin ich dummerweise Juristin und weiß deshalb: „So-fort“ heißt „ohne schuldhaftes Zögern“. Was hat sichnach zwei Jahren getan? – Nichts! Das ist interessant.Seit zwei Jahren fehlt jede Spur von einer Initiative derGrünen. Auf Anfragen nach Information zum Stand desGesetzgebungsverfahrens war, wie Lars Sobiraj aufwww.gulli.com schreibt, aus dem zuständigen Ressort inder Landesregierung zu erfahren – das ist besondershübsch –: „Haben Sie bitte Verständnis, dass wir Ihnenüber Einzelheiten vorab keine Auskünfte erteilen“. Will-kommen in der Wirklichkeit, liebe Kolleginnen und Kol-legen! Das ist der Unterschied: Sie reden darüber, wirtun es.
Es gibt einen Gesetzentwurf der baden-württembergi-schen FDP-Landtagsfraktion. Dem können Sie zustim-men.
Wenn Sie das machen, Herr Kollege von Notz, könnenwir hier im Haus gerne wieder über Ihre Haltung zum In-formationsfreiheitsgesetz sprechen.Mein Vorredner von der Union hat bereits viel zu denübrigen inhaltlichen Punkten gesagt. Darauf beziehe ichmich vollumfänglich; das ist an einem Freitagnachmittagauch einmal schön.
Ich danke Ihnen und freue mich auf die Initiative derGrünen in Baden-Württemberg. Ich bin gespannt, ob sieda ihre Versprechungen in die Wirklichkeit umsetzen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Petra Pau für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Kennen Sie Herrn Schaar?
Landläufig wird er als Datenschutzbeauftragter bezeich-net. Korrekt heißt es aber: Bundesbeauftragter für denDatenschutz und die Informationsfreiheit – zu Recht;denn Datenschutz und Informationsfreiheit sind Zwil-linge, wenn es um Bürgerrechte und Demokratie, umsouveräne Bürgerinnen und Bürger geht. Der Daten-schutz soll verhindern, dass Bürgerinnen und Bürger glä-sern und damit beherrschbar werden. Die Informations-freiheit soll garantieren, dass Bürgerinnen und Bürgermündig selbst entscheiden können. Kurz gesagt: DerStaat soll über Bürgerinnen und Bürger möglichst wenigwissen. Bürgerinnen und Bürger sollen über den Staatmöglichst viel wissen. Es geht also um ein Kernthemader demokratischen Gesellschaft. Damit rennen Sie beider Linken offene Türen ein.
Das geltende Informationsfreiheitsgesetz wurde 2005beschlossen. Deutschland war damit im internationalenVergleich spät, sehr spät dran. Die Initiative ging vonden damals regierenden Parteien SPD und Bündnis 90/Die Grünen aus. Ich habe das als Linke begrüßt. Zu-gleich wies ich seinerzeit auf ein rot-grünes Dilemmahin. Ich sagte nämlich: Machen Sie das Gesetz trotz Ih-res Bundesinnenministers Schily, dann kann es gut wer-den. Machen Sie es mit Otto Schily, dann wird esschlecht. – Es wurde mit ihm gemacht. Übrigens ernteteich damals von der SPD den Zwischenruf: Warten Siedoch erst einmal die Praxis ab! – Das habe ich, und sieheda: Die Praxis gab und gibt mir recht, ebenso wie übri-gens alle Experten, auf die sich Bündnis 90/Die Grünenheute berufen.Die beiden Hauptmängel des Informationsfreiheitsge-setzes schlagen durch: Erstens. Es gibt zu viele Ausnah-men, nach denen Behörden keine Auskunft erteilen müs-sen und Bürgerinnen und Bürger mithin unmündighalten können. Zweitens. Auskunftsrechte werden mithohen Gebühren belastet. Die einen können sich dasleisten und die anderen nicht. So entstehen Bürgerrechteerster und zweiter Klasse. Als Linke sage ich: Beide De-fizite müssen endlich behoben werden.
Längst kommt eine dritte Herausforderung hinzu. DasInternet bietet uns vordem nie gekannte Möglichkeitenfür die Informationsfreiheit. Dem wurde weder das Ge-setz von 2005 gerecht, noch wird es die Praxis heute.Dieses Manko gilt übrigens wieder für beide Seiten derMedaille: für Datenschutz und Informationsfreiheit. We-der das Recht auf Datenschutz noch die Informations-freiheit sind hierzulande im Internetzeitalter angekom-men; sie sind antiquiert.Überhaupt muss die Demokratie im 21. Jahrhundertneu fundiert werden. Wir sollten uns endlich gemeinsam
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013 29549
Petra Pau
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Der Kollege von Notz fordert eineneue Meinung von unserer Fraktion. Ich glaube, dass un-sere Meinung nicht neu sein muss. Entscheidend ist viel-mehr, dass wir auf der Basis des Grundgesetzes agieren,und das fehlt mir bei Ihrem Gesetzentwurf zur Auswei-tung des Art. 5 des Grundgesetzes und bei Ihrem Antragzur Überarbeitung des Informationsfreiheitsgesetzes.Wenn man sich Ihre letzten Vorlagen anschaut, dannmuss man schon sagen, dass Sie sich hier als Partei derBürger- und Informationsrechte aufführen wollen.
Dann müssen Sie aber auch einmal inhaltlich nachlegen.
Die hohe Geschwindigkeit, mit der Sie Vorlagen einbrin-gen, wird mitnichten von inhaltlicher Substanz begleitet.Das war schon der Fall, als Sie den Entwurf eines Geset-zes zur Änderung des Art. 5 des Grundgesetzes einge-bracht haben. Damals haben wir an dieser Stelle darüberdiskutiert, ob es einer Ergänzung im Grundgesetz be-darf; denn dort ist das Recht auf informationelle Selbst-bestimmung bereits verankert. Aus der Zusammenschauvon Art. 5, dem Recht auf Demokratie und den Normie-rungen zum Rechtsstaat gibt es Ansprüche, die der Bür-ger geltend machen kann.Darüber hinaus haben wir etwas ganz Starkes, das dieKollegin Pau gerade zu Recht angesprochen hat: das In-formationsfreiheitsgesetz, und zwar auf Bundesebeneund auf Landesebene, leider mit Ausnahme bestimmterBundesländer. Vor diesem Hintergrund ist Ihre Forde-rung nach Überarbeitung von Art. 5 des Grundgesetzesreine Schaufensterpolitik. Ich habe Ihnen damals schongesagt: Formulieren Sie doch einmal einen aus IhrerSicht tauglichen Art. 5! Sie machen das zu Recht nicht.Sie stellen einen Forderungskatalog auf; aber es gelingtIhnen nicht, eine eigene Formulierung zu finden. Daranzeigt sich: Sie fordern, um sich gut zu verkaufen; aberinhaltlich kommt nichts.
Viel sinniger wäre das, was die Kollegin Lühmanneben angesprochen hat, nämlich einmal zu schauen, wieviele Gesetze wir eigentlich haben, in denen Informa-tionsrechte für Bürger verborgen sind und die die Bürgerstets daraufhin durchsuchen müssen, ob sie nun einen In-formationsanspruch haben oder nicht. Frau KolleginLühmann, wir haben das einmal in Nordrhein-Westfalenzu Zeiten der CDU/FDP-Regierung unter InnenministerWolf untersucht und festgestellt, dass es dort 50 solcherGesetze gibt. Wir wollten die verschiedenen Informa-tionsrechte in einem allgemeinen Informationsfreiheits-gesetz bündeln. Dann kam der Regierungswechsel. Wasaber macht der neue Innenminister Jäger? Er legt diesePläne ad acta und sagt: Das brauchen wir nicht; das ma-chen wir nicht. – Gehen Sie doch einmal auf Ihre Partei-freunde in den Bundesländern zu, und bringen Sie dieReformierung in Bezug auf die weitverstreuten Informa-tionsrechte, wie wir es uns gewünscht haben, voran. Daswäre eine weise Entwicklung. Die entsprechende Unter-suchung haben übrigens zwei Kollegen und ich für dieFachhochschule für öffentliche Verwaltung gemacht. Ichkann Ihnen die Unterlagen dazu gerne geben.Wenn man sich Ihren heute vorliegenden Antrag ein-mal intensiv anschaut, dann stellt man fest: Sie drehenalles, was mit Datenschutz und Freiheitsrechten verbun-den ist, um. Das ist schon der zweite sehr weise Punktder Kollegin Pau.
– Es kommt nicht oft vor, dass ich die Linke loben kann;aber das, was Frau Pau sagte, war gut. Da kann manauch einmal über seinen Schatten springen. – Die Kom-bination von Datenschutz und Freiheitsrechten, die Ab-wägung von Grundrechten, von im Grundgesetz veran-kerten Rechten ist genau das, worauf das öffentlicheRecht basiert, und genau das, was sich in §§ 3 bis 6 desInformationsfreiheitsgesetzes wiederfindet. Schauen Sieeinmal in § 5 des Informationsfreiheitsgesetzes!
Sie wollen die Abwägung abschaffen. Sie sagen, denTeil des Datenschutzes soll es gar nicht mehr geben. Imöffentlichen Recht haben wir es aber immer – das ver-kennen Sie anscheinend, weil Sie der Außenwelt gerneeine bestimmte Nachricht übermitteln wollen – mit einerAbwägung von Gütern zu tun.
Der Union und mir ist besonders wichtig, dass wir aufder einen Seite den Schutz personenbezogener Daten ha-ben und auf der anderen Seite die Freiheitsrechte.
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29550 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013
Dr. Patrick Sensburg
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Lieber Konstantin von Notz, ich glaube, dass Sie esgut meinen. Ich glaube aber auch, dass Sie selbst ge-merkt haben, dass Sie mit Bündnis 90/Die Grünen nichtim Stande waren, zu formulieren, was Sie wollen. Sonsthätten Sie sicher mehrere Paragrafen in einem Gesetz-entwurf zur Änderung des Informationsfreiheitsgesetzesformuliert. Sie haben wieder nur einen Antrag formuliertmit dem, was Sie sich gerne wünschen. Das lässt sichnicht unterlegen. Es spricht im Grunde schon genau dasaus dem Informationsfreiheitsgesetz, was Sie einfordern.
Von daher hoffe ich, dass Ihr Antrag nicht weiterverfolgtwird.Ich danke Ihnen.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/13097mit dem Titel „Informationsfreiheit weiter entwickeln“.Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen derbeiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen vonLinken und Grünen bei Enthaltung der SPD abgelehnt.Abstimmung über den Gesetzentwurf der FraktionBündnis 90/Die Grünen zur Änderung des Grundgeset-zes . Der In-nenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlungauf Drucksache 17/12490, den Gesetzentwurf der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9724abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurfzustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist inzweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfrak-tionen und der SPD gegen die Stimmen der Grünen beiEnthaltung der Linken abgelehnt. Damit entfällt nachunserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages-ordnungspunkt 40 auf:Beratung der Unterrichtung durch den Wehrbe-auftragtenJahresbericht 2012
– Drucksache 17/12050 –Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss
RechtsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Es gibtdazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Wehrbe-auftragte des Deutschen Bundestages, Hellmut Königshaus.Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deut-schen Bundestages:Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren Abgeordnete! Ich bin dem Deutschen Bundestagsehr dankbar, dass er meinen Jahresbericht in diesemJahr so zeitnah berät, sogar noch bei Tageslicht an einemFreitag. Diese Aktualität ist wichtig, weil es nicht zuletztum die Aufarbeitung von Missständen, Mängeln und ge-legentlich auch Defiziten geht. Davon handelt auch die-ser Bericht.Ich musste in den letzten beiden Jahren von einer tief-greifenden Verunsicherung und einer hohen Belastungder Soldatinnen und Soldaten berichten. Leider kann ichinsoweit noch keine Besserung feststellen. Ich bin in derBeurteilung, glaube ich, einig mit dem BundeswehrVer-band, der hier durch seinen Vorsitzenden, Oberst Kirsch,vertreten ist. Die Einsatzbelastungen sind weiterhin sehrhoch, und es ist noch keine wirksame Abhilfe in Sicht.Immerhin kann man eines feststellen: Ausrüstung undAusstattung im Auslandseinsatz, insbesondere in Afgha-nistan, sind nun auf einem zufriedenstellenden Stand.Wir merken das auch, wenn wir die Zahlen betrachten,den Rückgang der Opferzahlen und den Rückgang auchder Zahl der Verwundungen.Für viele Soldatinnen und Soldaten konkretisierensich jetzt die individuellen Auswirkungen der Neuaus-richtung der Bundeswehr. Sie wissen nun, ob und, wennja, wie sehr sie und ihre Familien davon jeweils selbstbetroffen sind. Die Betroffenheit – das können wir fest-stellen – ist groß. Das belegt nicht zuletzt der Anstiegder Zahl der in den ersten Monaten des Jahres 2013 ein-gegangenen Eingaben. Versetzungen, Umzüge und ent-täuschte Laufbahnerwartungen trüben vielerorts dieStimmung an den Standorten.Aber das ist es nicht allein. Auch die konkrete Umset-zung der Reform schlägt oftmals weitere – vermeid-bare – Wunden. Wenn beispielsweise Soldaten im Ein-satz an einem Freitagnachmittag angerufen werden,ihnen mitgeteilt wird, was ihr Dienstherr mit ihnen vor-hat, und ihnen eine Stellungnahme bis zum Montag ab-gefordert wird, dann hebt das natürlich nicht die Stim-mung. Zu Recht sind die Betroffenen darüber verärgert;denn natürlich müssen auch sie, obgleich fern der Hei-mat, die Möglichkeit haben, solche Entscheidungen, die
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Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus
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Ich kann in diesem Bereich faktisch noch keine wirkli-chen Fortschritte erkennen.Meine Damen und Herren, mehr denn je ziehen Sol-datinnen und Soldaten auch in Zweifel, dass die Bundes-wehr durch die Neuausrichtung wirklich leistungsstärkerund effizienter werde. Sie registrieren vielmehr, dass dieRessourcen in den Mangelverwendungen weiter ver-knappt werden; ich nenne Spezialpioniere, ABCistenund andere. Die zeitliche Belastung der Soldatinnen undSoldaten durch die Auslandseinsätze liegt weiterhindeutlich über dem angestrebten Rhythmus von vier Mo-naten Einsatz und 20 Monaten einsatzfreier Zeit – jeden-falls in der Regel. Die Soldatinnen und Soldaten sehen,dass erfahrene, motivierte und gut ausgebildete Soldatin-nen und Soldaten, die gern bei der Bundeswehr bleibenmöchten, die Bundeswehr verlassen müssen, und das,obwohl es erhebliche Unterbesetzungen gerade bei denMannschaften gibt. Die Nachwuchslage hat in einzelnenBereichen kritische Grenzen erreicht. Es fehlt an Mann-schaften, insbesondere in der Marine. – Diese Problemewerden von Tag zu Tag brisanter. Wenn nicht schnellund wirksam gegengesteuert wird, dann haben wir eindauerhaftes Problem. Der Bericht, den ich hier natürlichnicht vollständig vortragen kann, macht dies anhandkonkreter Beispiele deutlich.Der Bericht räumt auch in diesem Jahr den ThemenBetreuung und Versorgung breiten Raum ein. OhneFrage hat sich die Versorgung der Soldatinnen und Sol-daten im Einsatz und ihrer Familien im Falle vonVerwundung und Tod mit dem Einsatz-Weiterverwen-dungsgesetz, dem Einsatzversorgungs- und dem Einsatz-versorgungs-Verbesserungsgesetz deutlich verbessert.Das ist etwas, wofür ich dem Deutschen Bundestag sehrdankbar bin. Ich weiß, wie sehr insbesondere die Solda-tinnen und Soldaten, aber auch die Berufsverbände esbegrüßen, dass das Parlament, dass die Abgeordnetenhier initiativ geworden und weit über das hinausgegan-gen sind, was der Dienstherr ursprünglich vorhatte.Ungeachtet dessen besteht die Diskrepanz zwischendem Anspruch auf Weiterverwendung und der Zahlungeiner Entschädigung im Falle einer Verwundung fort.Darauf hatte der Abgeordnete Hellmich bereits in derBeratung des vorangegangenen Jahresberichtes nach-drücklich hingewiesen, und zwar zu Recht. Während dasEinsatz-Weiterverwendungsgesetz auch die Einsätze aufdem Balkan in den 90er-Jahren erfasst, gilt die Einmal-entschädigung erst für Fälle, die sich seit dem 1. Dezem-ber 2002 ereignet haben. Es liegt jetzt in der Hand desGesetzgebers, diese Lücke zu schließen. Der Ministersollte, wie von mir bereits angeregt, einen entsprechen-den Gesetzentwurf vorlegen.Auf erhebliche Probleme stößt im Zuge der Ver-schlankung der Strukturen auch die Beurteilungspraxis.Abgesehen von dem noch immer ungelösten Problemder Vergleichsgruppen, zeichnet sich durch die Neu-strukturierung ab, dass zukünftig ein Kommandeur fürdie Beurteilung von mehreren Hundert Soldatinnen undSoldaten zuständig wird, ohne dass er diese alle persön-lich kennt, ja, überhaupt kennen kann. Das wird im Falleeiner gerichtlichen Überprüfung sicherlich keinen Be-stand haben. Höchstrichterlich beanstandet wurde schondie jahrgangsmäßige Betrachtung der Laufbahnentschei-dungen.Die Entscheidung des Bundesministeriums der Ver-teidigung, deshalb die Auswahlkonferenzen in diesemJahr auszusetzen, ist verständlich, befördert aber die Un-ruhe in der Truppe weiter.Meine Damen und Herren, der Dienst in den Streit-kräften war im vergangenen Jahr einmal mehr von denEinsätzen geprägt. Das hat in dem Bericht, aber auch inmeiner kontinuierlichen Berichterstattung an den Vertei-digungsausschuss Niederschlag gefunden. Dies stieß aufhoher politischer und militärischer Ebene auf Kritik. Da-von lasse ich mich aber nicht beeindrucken.
Meine Damen und Herren, die Rechte der Soldatinnenund Soldaten und die Prinzipien der Inneren Führung
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29552 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013
Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013 29553
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Das können Belegplätze sein, das können andere origi-nelle Lösungen sein, die oft viel familiengerechter sindals der Bau eigener Kindertagesstätten. Ich kann Sie aberberuhigen, wenn Ihre Amtszeit bis 2015 geht. In der ers-ten Jahreshälfte 2014 sollen auf dem Campus in Neubi-berg die ersten Kinder einziehen. Vielleicht können wires hinbekommen, dass wir gemeinsam diesen Kindergar-ten eröffnen.
Ich will zum Schluss sagen, weil immer viel über dasVerhältnis des Wehrbeauftragten und seiner Mitarbeiterzum Ministerium und dessen Mitarbeitern geschriebenund gemutmaßt wird: Es ist ganz klar, der Wehrbeauf-tragte beschäftigt sich insbesondere mit Mängeln. Dasist seine gesetzliche Aufgabe. Der Minister und seineMitarbeiter beschäftigen sich auch mit Mängeln, abernicht nur mit Mängeln. Wir sehen auch die Stärken, wirsehen Entwicklungen, und wir wollen die Bundeswehrals solche auch schützen. Eines eint uns aber: Egal wieman auf die Dinge schaut, wir arbeiten sicher mit unter-schiedlicher Methode, in unterschiedlicher Weise und inunterschiedlicher Art beide daran, dass es den Soldatin-nen und Soldaten, den Mitarbeiterinnen und Mitarbei-tern und der Bundeswehr im Ganzen so gut geht, dass sieihren Auftrag erfüllt, dass sie in unserer Gesellschaftverankert ist und dass die Arbeits- und Lebensbedingun-gen so sind, dass die Soldaten gerne Soldaten sind undbleiben.Vielen Dank.
Das Wort hat Karin Evers-Meyer für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Bundesverteidi-gungsminister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ver-ehrter Herr Wehrbeauftragter, Ende Januar haben Sie Ih-ren Jahresbericht 2012 vorgelegt. Ich danke Ihnen undIhren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die gute Ar-beit und – das muss man sagen – für die erneut schnelleVorlage des Berichts.
Für die Tagesschau ist der Wehrbeauftragte „eine Mi-schung aus Kummerkasten und Seismograph für dieStimmung in der Truppe“. Für mich sind Sie dazu nochein geschätzter Kollege mit einem Stab von engagiertenMitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Die Wertschätzunghier in der Debatte über den Bericht des Wehrbeauftrag-ten scheint die Bundesregierung noch nicht ganz erreichtzu haben. Denn einen ungünstigeren Zeitpunkt als denFreitagnachmittag gibt es dafür wohl kaum.
Wahrscheinlich hätten die Kollegen von CDU/CSU undFDP die Debatte am liebsten auf den 1. Mai verschoben,um der sehr berechtigten Kritik in diesem Bericht ausdem Weg zu gehen. Wir von der SPD-Bundestagsfrak-tion hätten es jedenfalls sehr begrüßt, wenn für die De-batte über den Bericht eine prominentere Zeit angesetztworden wäre;
denn viele Kollegen sind schon auf dem Weg in dieWahlkreise, um die Veranstaltungen heute Abend recht-zeitig zu erreichen.Es sind nicht nur wir hier im Bundestag, die sich dieFeststellungen dieses Berichtes genau anhören sollten.Es gibt auch viele Soldatinnen und Soldaten, die unsereDebatte mit Interesse verfolgen. Es wäre meines Erach-tens eine angemessene Geste, dafür einen Platz in derPrimetime zu suchen.
Dass wir uns nun also hier am Freitagnachmittag treffen,ist gleichzeitig Ursache und Symptom der zurzeitschlechten Stimmung in der Truppe.Ich wundere mich nicht darüber, dass im Bericht desWehrbeauftragten festgestellt wird, dass sich die Solda-ten und Soldatinnen bei den Veränderungen durch dieNeuausrichtung der Bundeswehr nur unzureichend mit-genommen fühlen. Viele haben das Gefühl, dass überihre Köpfe hinweg entschieden wird und sie bei Verän-
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29554 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013
Karin Evers-Meyer
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Wir haben wirklich eine großartige Bundeswehr, wir ha-ben großartige Männer und Frauen in der Truppe, die aufder ganzen Welt für ihr Können und ihre Verlässlichkeitgeschätzt werden. Herzlichen Dank für Ihre Arbeit undden Einsatz.Meine verehrten Damen und Herren, in dieses Bildpasst es natürlich nicht, dass einige wenige dieses Anse-hen mit ihrem Verhalten schädigen. Wir akzeptierennicht, dass es in der Truppe unter der Überschrift „AlteSchule“ offensichtlich immer wieder zu verbalen Ent-gleisungen kommt, die zum Teil von den Vorgesetztengeduldet werden. Die Bundeswehr ist kein Ort für eineimaginäre Heldenromantik. Die Bundeswehr ist eine of-fene, moderne, transparente Truppe, in der Respekt, To-leranz und gegenseitige Achtung den Stoff für die Ge-schichten liefern sollten, nichts anderes. Erniedrigungenund Beleidigungen haben da keinen Platz. Solche Dingeschaden dem Ansehen der Soldatinnen und Soldaten,aber auch dem Ruf unseres Landes.Die kritischen Hinweise des Wehrbeauftragten richtensich zu Recht nicht allein an die Truppe selbst; auch derBundesverteidigungsminister gerät erneut direkt in dieKritik. Seine Standortentscheidungen treffen in weitenTeilen der Truppe auf Unverständnis. Es wird eine nach-vollziehbare Begründung vermisst. Wir von der SPD-Bundestagsfraktion teilen dieses Unverständnis. Es istdringend notwendig, den Dialog mit den Soldatinnenund Soldaten zu vertiefen; das erfahren wir in jedem Ge-spräch vor Ort. Das persönliche Wort ist immer noch dasBeste. Solange Sie das nicht tun, werden Ihre zumindestteilweise durchaus ehrenhaften Bemühungen nichtfruchten.Das gilt übrigens auch für die Frage der ungebrems-ten Entwicklung bei der Einsatzbelastung unserer Solda-tinnen und Soldaten. Meine sehr geehrten Damen undHerren, wenn Sie schon Anträge der SPD nicht zurKenntnis nehmen oder verstehen, dann sollten Sie we-nigstens die Ausführungen dazu im Bericht des Wehrbe-auftragten mit der gebotenen Sorgfalt lesen; denn dieBelastungskurve darf nicht weiter steigen, wir habenhier schon überreizt. Wir haben bei zahllosen Gelegen-heiten auf die Belastungen der Truppe hingewiesen undgefordert, in diesem Bereich Abhilfe zu schaffen. TunSie etwas, und tun Sie bitte auch endlich etwas für diebessere Vereinbarkeit von Soldatenberuf und Familie!Dass es nun 2014 an einem Ort etwas geben soll, darüberkann man sich kaum noch freuen. Über Wilhelmshavenreden wir, glaube ich, schon seit sechs Jahren, und es istimmer noch nichts erfolgt. In diesem Bereich fordernwir weiterhin mehr Anstrengungen.Es ist mir in diesem Zusammenhang wichtig, demWehrbeauftragten für die Klarheit in seinen Ausführun-gen ausdrücklich zu danken. Liebe Kolleginnen von derCDU, nehmen Sie sich daran ein Beispiel und sorgen Siein Ihren eigenen Reihen für Klarheit! Gerade auf denhinteren Plätzen schien mir in den letzten Wochen etwasUnklarheit zu herrschen. Deswegen formuliere ich esheute noch einmal und so, dass es hoffentlich alle Abge-ordnete der Union – vom Süden Deutschlands bis Fries-land – verstehen: Hören Sie auf, den Soldaten Lügen zuerzählen und sie für den Wahlkampf zu instrumentalisie-ren! Hören Sie vor allen Dingen auf, zu behaupten, dieSPD wolle die deutsche Marine abschaffen! Das Gegen-teil ist der Fall, und das wissen Sie auch.
Wir stehen ohne Wenn und Aber zu unserer Marine.
Das muss hier einmal gesagt werden; denn Sie sagen dasvöllig ungeschützt.Wir stehen ohne Wenn und Aber zu unserer Marine.Wir wollen, dass sie innerhalb Europas eine starke Rollein Bezug auf Sicherheit und Verteidigung einnimmt.Eine Abschaffung der deutschen Marine ist das Hirnge-spinst aus Ihren Reihen, verehrte Damen und Herren vonder CDU.
Solche Lügen sind unverantwortlich und verunsicherndie Soldaten noch mehr als die Unwägbarkeiten derBundeswehrreform. Das musste ich hier einmal deutlichaussprechen, weil mir das aus Ihren Reihen und aus inte-ressierten Marinekreisen immer wieder erzählt wird.
Man sollte sich überlegen, ob es nicht besser wäre, wennwir vernünftiger zusammenarbeiten und die Bundeswehraus dem Wahlkampf herauslassen.
– Herr Müller-Sönksen, beruhigen Sie sich! Ich fahrejetzt mit harmloseren Themen fort. Es geht um Frauen inder Bundeswehr.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013 29555
Karin Evers-Meyer
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Die im Gesetz zur Gleichstellung von Soldatinnen undSoldaten der Bundeswehr vorgegebene Quote wird we-der im Sanitätsdienst noch in den übrigen Laufbahnenerreicht. Ich finde, das ist ein vernichtendes Urteil.
Noch eins: Der von der Bundesregierung geplanteGesetzentwurf zur Änderung des Soldatinnen-und-Sol-daten-Gleichstellungsgesetzes berücksichtigt in keinerWeise die grundlegend geänderten Organisations- undPersonalstrukturen der Bundeswehr. Gleichstellungsbe-auftragte werden nach dem Bundesgleichstellungsgesetzin Dienststellen ab 100 Beschäftigten gewählt. Die mili-tärischen Gleichstellungsbeauftragten sollen nun auf derEbene der Division oder vergleichbar gewählt werden.Sie sind somit für bis zu 18 000 Soldatinnen und Solda-ten zuständig. Damit ist eine angemessene Ausübungdes Amtes und die Vertretung der Interessen der Wahlbe-rechtigten schon allein wegen der hohen Anzahl der zubetreuenden Fälle gar nicht möglich. Dieser Ansatz kannnicht zu einer wirksamen Gleichstellung führen. Wie wirhören, ist das Kind noch nicht ganz in den Brunnen ge-fallen, aber – so sagen wir in Norddeutschland – es istmit dem Eimer in der Hand auf dem Weg dahin.
Die Bilanz, die der Wehrbeauftragte vorgelegt hat,sieht nicht so gut aus: Es fehlen Tausende Stellen im Sa-nitätsdienst, es wird eine mangelnde Durchhaltefähigkeitder Truppe beklagt, wir haben einen dramatischen Nach-wuchsmangel zu verzeichnen, eine unzulängliche Ver-einbarkeit von Familie und Beruf, eine Truppe, die sichnicht mitgenommen und unzureichend eingebundenfühlt, und dazu noch einen Anstieg von Rechtsextremis-mus in der Armee. Wäre der Bericht des Wehrbeauftrag-ten ein Zeugnis für die Bundesregierung, dann wäre dieVersetzung im Herbst gefährdet.Danke.
Das Wort hat nun Christoph Schnurr für die FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Gleich zu Beginn möchte ich Ihnen, HerrKönigshaus, für Ihre Arbeit, aber auch Ihren Mitarbei-tern ganz herzlich für diesen Bericht danken.Wir beraten heute den 54. Jahresbericht des Wehrbe-auftragten. In diesem sehr umfassenden Bericht werdengleich mehrere Themenfelder aufgegriffen: die Aus-landseinsätze, die einsatzvorbereitende Ausbildung, diepersönliche Ausstattung und Ausrüstung ebenso wie dieVereinbarkeit von Familie und Dienst, um nur ein paarThemen zu nennen. Besonders erfreulich ist, dass dieje-nigen Passagen im Bericht besonders gerne gelesen wer-den, in denen Sie, Herr Wehrbeauftragter, von einerdeutlichen Verbesserung sprechen. Sie erkennen die ste-tig verbesserte Einsatzvorausbildung ebenso an wie Ver-besserungen bei der persönlichen Ausstattung und Aus-rüstung. Wir als FDP-Fraktion können uns Ihrem Urteilnur anschließen.
In der jüngsten Vergangenheit hat sich wieder einmalerwiesen, dass die Bundeswehr eine Armee im Einsatzist. Auf der einen Seite hat die Übergabe der Verantwor-tung in Afghanistan begonnen, auf der anderen Seite ha-ben wir neue Auslandseinsätze wie in Mali und in derTürkei mandatiert. Die Einsatzszenarien bleiben alsovielfältig. Deshalb sind wir Parlamentarier mehr denn jein der Pflicht, unsere Soldatinnen und Soldaten für ihreäußerst schwierigen Aufgaben bestmöglich auszustatten.Außenminister Dr. Westerwelle und Verteidigungsmi-nister de Maizière haben gestern ihre Überlegungen zueinem deutschen Engagement in Afghanistan nach 2014vorgestellt. Es ist absolut richtig, dass die internationaleGemeinschaft auch nach 2014 durch Ausbildung undUnterstützung der afghanischen Sicherheitskräfte einenBeitrag leisten wird. Es ist auch begrüßenswert, dass dieBundesregierung hierzu erste Eckpunkte für eine deut-sche Beteiligung vorgelegt hat.In diesem Zusammenhang möchte ich die Gelegen-heit nutzen, auf die dringend benötigten Light UtilityHelicopter zu verweisen. Wir müssen sicherstellen, dasswir, wenn notwendig, unsere Soldatinnen und Soldaten,aber auch zivile Entwicklungshelfer binnen kürzesterZeit retten und befreien können.Unsere Soldatinnen und Soldaten sind durch die Aus-landseinsätze stark beansprucht. Hinzu kommen Lehr-gänge und Übungen in Deutschland. Die langen Abwe-senheitszeiten der Soldaten von ihren Familien sindschlichtweg belastend und dienen nicht gerade einer bes-seren Vereinbarkeit von Familie und Dienst. Wie im Be-richt erkenntlich, ist die Zahl der Eingaben, in deneneine mangelnde Vereinbarkeit von Familie und Dienstbeanstandet wird, erneut angestiegen. Hier besteht wei-terer Handlungsbedarf. Die Einrichtung von Eltern-Kind-Zimmern sowie die Belegrechte zur Kinderbetreu-ung sind sicherlich ein guter Anfang. Ebenso begrüßens-wert ist die Tatsache, dass Soldaten bei Aus- und Fortbil-dungsmaßnahmen die Kosten für eine Kinderbetreuungerstattet bekommen. Dennoch muss es uns gelingen,auch an Bundeswehrstandorten Kinderbetreuungsplätzeeinzurichten.
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Christoph Schnurr
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Wir unterstützen unsere türkischen Verbündeten imRahmen von Active Fence, und die Türkei ist uns eineenorme Hilfe beim geordneten Abzug unseres Materialsaus dem Afghanistan-Einsatz. Deutschland ist und bleibtein verlässlicher Partner in der NATO. Daher werden wirauch die Mission Active Fence erfolgreich zu Ende füh-ren.Auch in der 18. Wahlperiode wird diese Regierungs-koalition weiterhin alles daransetzen, dass die Bundes-wehr ein attraktiver Arbeitgeber bleibt und so ausgestat-tet wird, dass sie die Aufgaben bestmöglich erfüllenkann.Ich möchte die Gelegenheit heute nutzen, um michbei den Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen fürdie gute Zusammenarbeit herzlich zu bedanken. Wir ha-ben in dieser Wahlperiode einiges für die Bundeswehrtun können. Beispielhaft seien hier nur die Neuausrich-tung, die Aussetzung der Wehrpflicht, das Einsatz-Wei-terverwendungsgesetz wie auch das Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz genannt.Zum Schluss möchte ich unseren Soldatinnen undSoldaten und ihren Familien, den Reservisten und denzivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundes-wehr meine Anerkennung aussprechen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Harald Koch für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Sehr geehrter Herr Königshaus! „Zwei Seelen woh-nen, ach! in meiner Brust“, dies kam mir in den Sinn, alsich den Jahresbericht 2012 des Wehrbeauftragten las.Zum einen möchte ich Herrn Königshaus und seinenMitarbeiterinnen und Mitarbeitern für den Bericht herz-lich danken, vor allem dafür, dass in dem Bericht Miss-stände und Baustellen in der Bundeswehr aufgezeigtwerden.
Dies zu tun, ist die zentrale Funktion des Wehrbeauftrag-ten.Die Linke stimmt überein in der Kritik an der Art undWeise, wie den Soldatinnen und Soldaten sowie den Zi-vilbeschäftigten die Lasten der Neuausrichtung der Bun-deswehr aufgebürdet werden. In der Tat, manche Pro-bleme stinken zum Himmel. Ich will nur dreiherausgreifen.PTBS-Fälle wurden auch 2012 weiter unter den Tep-pich gekehrt. Statistiken werden nur widerwilligst be-richtigt. Die Opfer der Auslandseinsätze werden allein-gelassen, sobald sie der Bundeswehr den Rücken kehren.Bei der Prävention psychischer Erkrankungen klafft einegroße Lücke. Von der Bundeswehr in Auftrag gegebeneForschungen zu PTBS lassen sehr zu wünschen übrigbzw. liefern schlichtweg falsche Ergebnisse.Soldaten, die in den Ruhestand gehen oder aufgrundihres Dienstes bei der Bundeswehr eine Schädigung er-litten haben, werden auseinanderdividiert. PTBS-Opfervon vor 2002 erhalten null Komma null null Euro Ent-schädigung. Bundeswehrsoldaten mit Dienstzeiten ausder DDR sind weiter schlechter gestellt als ihre Westka-meraden. Hier besteht dringender Handlungsbedarf.
Schließlich: Rechtsradikale Vorfälle werden bagatelli-siert und nicht entschlossen genug bekämpft. Die Zahlder sogenannten besonderen Vorfälle mit rechtsradika-lem Hintergrund steigt wieder an. Auch Sie selbst, HerrKönigshaus, wiegeln ab. Angesichts unserer Geschichtewäre hier eine gehörige Portion mehr Aufmerksamkeitgefragt.
Der Bericht zeigt insgesamt deutlich, dass die Neu-ausrichtung der Bundeswehr für die Soldatinnen undSoldaten sowie für deren Familien Unsicherheit und Be-lastungen gebracht hat. Es reicht nicht aus, wenn die Da-men und Herren von der Regierungsbank den Berichtbrav zur Kenntnis nehmen und seinen Inhalt weiter igno-rieren. Viele Baustellen sind schon seit Jahren bekannt;auch ich habe schon öfter auf diese hingewiesen. Esmuss nun endlich entschieden zum Wohle der Soldatin-nen und Soldaten gehandelt werden.
Aber viele der Probleme sind eben ein Resultat Ihresgenerellen Kurses in der Verteidigungspolitik und damithausgemacht. Hier muss ich nun zum anderen auch an
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Harald Koch
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weil alles rücksichtslos der weltweiten Einsatzfähigkeitder Bundeswehr untergeordnet werden soll.
Im Gegenteil: Sie beschwören ja geradezu neue Pro-bleme und Unsicherheitsfaktoren herbei. Zum Beispielhalte ich es für mehr als unglücklich, wenn Sie sich,Herr Königshaus, im Zuge der Neuausrichtung der Bun-deswehr zu Beschaffungsmaßnahmen äußern. Mehr willich jetzt dazu nicht sagen.
Glauben Sie mir, beim An-Land-Ziehen von Aufträgenist die Rüstungslobby gewiss nicht auf Ihre Hilfe ange-wiesen.Kurzum: Der Wehrbeauftragte sollte sich auf seineKernaufgaben besinnen, und die Bundesregierung sollteendlich entsprechend den Bedürfnissen der Soldatenhandeln.
Dafür brauchen wir eine Neuausrichtung der deutschenSicherheitspolitik, die die Bundeswehr wieder auf ihrengrundgesetzlichen Auftrag zurückführt: die Landesver-teidigung.
Auch deshalb haben wir, die Linke im Bundestag, nunschon den 8. Runden Tisch der Friedensbewegung orga-nisiert, der gerade in diesem Augenblick drüben im Ja-kob-Kaiser-Haus stattfindet. Deshalb möchte ich auchmeine Fraktionskolleginnen und -kollegen aus dem Ver-teidigungsausschuss entschuldigen.
Die Linke sagt Nein zum Krieg und zur Aufrüstungder Bundeswehr hin zu einer Armee im Einsatz. Es sindmehr zivile Ausbildungs- und Arbeitsplätze nötig. Wirlehnen Auslandseinsätze ab und fordern ein Verbot vonWaffenexporten. Wir sind die einzige Friedenspartei hierim Deutschen Bundestag.
Danke schön.
Das Wort hat nun Omid Nouripour für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! HerrWehrbeauftragter, es ist eine gute Tradition – ich will sieauch dieses Mal nicht missen –, nicht nur Ihnen persön-lich und Ihrem Stab für die gute Arbeit in den letztenzwölf Monaten zu danken, sondern auch uns allen dazuzu gratulieren, dass wir diese Institution haben.
Der Wehrbeauftragte ist eine Institution, die wirklicheinmalig ist und um die uns viele Parlamentarier auf derWelt zu Recht beneiden können.
Ich möchte kurz etwas zu den drei Themen sagen, diegerade vom Herrn Minister genannt worden sind.Beginnen möchte ich mit dem Thema Familie. Ja, Siehaben völlig zu Recht gesagt: Das Thema „Vereinbarkeitvon Familie und Beruf“ ist sehr wichtig. Es geht darum,dafür zu sorgen, dass die Bundeswehr auch nach Ab-schaffung der Wehrpflicht genug Menschen aus derBreite der Gesellschaft gewinnen kann. Das ist ein At-traktivitätsthema. Aber das ist auch ein Fürsorgethema.Herr Kollege Schnurr, Ihnen kann ich leider nicht bei-pflichten. Ich habe mir sehr viele Eltern-Kind-Arbeits-zimmer angeschaut. Ihre Einrichtung ist kein Schritt indie richtige Richtung. Sie können nicht davon ausgehen,dass ein Kind betreut ist, wenn es hinter Ihnen in derEcke des Zimmers, in dem Sie arbeiten wollen, spielt.Das ist kein Ersatz für Kinderbetreuung. Das ist ein Pla-cebo. Ich bin dankbar, Herr Minister, dass Sie die Ein-richtung von Eltern-Kind-Arbeitszimmern dieses Malnicht als einen Schritt in die richtige Richtung bezeich-net haben und dass Sie nicht gesagt haben, dies sei einegroße Errungenschaft. Ich habe noch keine Kaserne ge-sehen, in der diese Arbeitszimmer von Leuten, die Kin-der haben, tatsächlich genutzt werden.
Vereinbarkeit von Familie und Beruf bedeutet vielmehr. Das Stichwort „Pendlerarmee“ ist schon genanntworden. Natürlich müssen wir die Familien im Blick ha-ben. Ja, auch die Lebenspartner brauchen so manche Un-terstützung; da ist noch sehr viel zu tun. Ich befürchte,dass dieses Thema auch im nächsten Bericht des Wehr-beauftragten einen Schwerpunkt darstellen wird.Was die Einsätze angeht, will ich nur auf einen einzi-gen Punkt hinaus: Die Belastung ist völlig zu Recht an-gesprochen worden. Es ist bekannt, dass es glasklareStudienergebnisse zum Thema „Posttraumatische Belas-tungsstörungen“ gibt, die belegen, dass die Anfälligkeitfür diese Krankheit mit zunehmender Dauer eines Ein-satzes steigt, dass es aber auch einen Zusammenhang mitverkürzten Regenerationszeiten gibt. Wenn man anpeilt,dass die Regenerationszeit zwischen zwei Einsätzen20 Monate dauert, aber die Hälfte der Soldatinnen undSoldaten diese 20 Monate Regenerationszeit nicht be-
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29558 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013
Omid Nouripour
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Herr Minister, ich will nicht alle Zitate, die genanntwurden, wiederholen – Ihre Aussage bezüglich der Gierhat übrigens ebenfalls zu dieser Verunsicherung beige-tragen –, sondern aus Ihrem Diskussionspapier zur Vete-ranenpolitik zitieren. Dort schreiben Sie:In Deutschland sind die Sozialleistungen für aktivewie für ehemalige Bundeswehrangehörige, ein-schließlich ihrer medizinischen Betreuung, bereitsauf hohem Niveau gewährleistet.Es gibt 1 500 Anträge im Jahr zur Begutachtung derPTBS und zwei Gutachter. Angesichts dessen kann maneine solche Aussage nicht treffen, wie Sie es getan ha-ben. Das zeugt von einem Bild der Bundeswehr aus demJahre 1965, als es hieß: Der Soldat ist ein Indianer, undein Indianer kennt keinen Schmerz. – Darum geht esaber nicht. Wir haben heutzutage eine andere Truppe,und wir müssen auch ein anderes Bild von den Soldatin-nen und Soldaten haben. Das sind Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer. Ich sehe nicht, dass deren Rechte hierberücksichtigt werden.Ich erkenne auch nicht, dass grundsätzliche Problemeangegangen werden. Ein Viertel aller IT-Spezialistenfehlt; 4 000 Stellen sind unbesetzt. Wenn man nachfragt,wie man den Mangel beseitigen will, dann lautet dieAntwort: Dann müssen wir halt die Sollstärke verklei-nern. – Beim Sanitätsdienst ist es auch im Inland so, dassSanitätseinheiten eigentlich nur noch pendeln, weil dieZahl dieser Einheiten nicht mehr ausreicht, auch wennsich bereits vieles in dem Bereich gebessert hat.Der Bericht des Wehrbeauftragten ist sehr wichtigund muss hier diskutiert werden. Aber es gibt einige Fix-punkte, bei denen man das Gefühl bekommt, hier grüßttäglich das Murmeltier; denn wir diskutieren seit Jahrenimmer dasselbe. Das Murmeltier ist in dem Fall derWehrbeauftragte. Das ist für alle, für ihn wahrscheinlicham allermeisten, frustrierend. Aber ich kann Hoffnungmachen: Wenn wir den nächsten Bericht diskutieren, istdas alles besser.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Letzte Rednerin zu diesem Debattenpunkt ist Anita
Schäfer für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter HerrWehrbeauftragter! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Na-mens der CDU/CSU-Fraktion möchte ich Ihnen und al-len Mitarbeitern danken, die an der Erstellung des Jah-resberichts 2012 beteiligt waren.Erneut waren zahlreiche Eingaben von Soldaten zuüberprüfen und für den Bericht zu berücksichtigen. Er-freulicherweise ist deren Zahl im Vergleich zum jeweili-gen Vorjahr zum dritten Mal in Folge gesunken, und das,obwohl Zeiten des Umbruchs wie die jetzige Struktur-reform zu immer mehr Eingaben geführt haben. Dochletztlich wissen unsere Soldaten recht gut, dass etwa inAuslandseinsätzen auch mit schwierigen Bedingungenzu rechnen ist, die der Dienstherr nur bedingt beeinflus-sen kann. Sie nehmen diese Herausforderungen auf pro-fessionelle Art an.So waren die betroffenen Soldaten selbst nicht glück-lich über die jüngste öffentliche Aufregung um den Tür-kei-Einsatz. Da sollten wir uns bemühen, eine Wieder-holung zu vermeiden. Dieser Einsatz ist natürlich nichtvergleichbar mit dem Einsatz in Afghanistan, wenn auchbündnispolitisch wichtig und keinesfalls frei von poten-ziellen Gefahren.Mit dem bevorstehenden Ende von ISAF verringertsich zudem nach über einem Jahrzehnt auf absehbareWeise unser militärisches Engagement am Hindukusch.Nach 2014 werden wir dort voraussichtlich nur nochhöchstens 800 Soldaten haben, die vor allem Ausbildungund Beratung fortführen werden.Gerade der Afghanistan-Einsatz hat zu wesentlichenVerbesserungen in Ausstattung, Ausbildung und Für-sorge für die Soldaten geführt. Ich erinnere an dasThema der geschützten Fahrzeuge, das wir hier aufGrundlage der Berichte des Wehrbeauftragten oft dis-kutiert haben. Mittlerweile ist diese Lücke weitgehendgeschlossen. Wir beschaffen aber auch weiterhin Fahr-zeuge, um den einsatzbedingten Verschleiß auszuglei-chen. Bereits in der kommenden Woche werden dieFachausschüsse über eine weitere Tranche entscheiden.Denn weitere Einsätze werden kommen, wie die geradeangelaufenen Missionen in Mali zeigen. In Zukunft soll-ten unsere Soldaten von vornherein mit dem bestmögli-chen Schutz ausgestattet sein.Es bleiben nach wie vor weitere Vorhaben offen, diees trotz angespannter Haushaltslage unbedingt umzuset-zen gilt. Ich nenne beispielhaft die Fähigkeit zur Route
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013 29559
Anita Schäfer
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! In der vergangenen Woche konnte nieman-dem entgehen, dass das Regime Putin die russische Zi-vilgesellschaft flächendeckend mit Repressalien über-zieht. Ausgeführt werden diese Repressionen vonBeamten der russischen Staatsanwaltschaft und der Jus-tiz sowie von Beamten des Innenministeriums. Im Ge-päck haben sie immer gleich noch das Staatsfernsehen.Diese Aktionen zielen ganz offensichtlich auf die Zer-schlagung der zivilgesellschaftlichen Akteure, die fürein freies und demokratisches Russland eintreten, wiewir es alle wollen.Zeitgleich nun erklären der Außenminister und derInnenminister der schwarz-gelben Bundesregierung ge-genüber der EU-Kommission, dass einer Visumsfreiheitfür russische Dienstpassinhaber – also für ebendiese ho-hen Beamten – nichts mehr im Wege stehen soll. ImKlartext heißt das: Reisefreiheit für den Repressions-apparat des russischen Staates, während russische Stu-dierende, Verwandte und andere sogenannte Normalbür-
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29560 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013
Marieluise Beck
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013 29561
Parl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder
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sowohl auf europäischer Ebene als auch im bilateralenBereich.Aber der Reihe nach: Die Europäische Kommissionverhandelt momentan die Weiterentwicklung des 2007verabschiedeten Visumserleichterungsabkommens mitRussland. Ziel solcher Abkommen ist es, insbesondere– ich zitiere aus dem aktuellen Abkommen mit Russland –zwischenmenschliche Kontakte als wichtige Vo-raussetzung für einen steten Ausbau der wirtschaft-lichen, humanitären, kulturellen, wissenschaftli-chen und sonstigen Beziehungen zu fördern …Bei aller Diskussion um die Dienstpassinhaber solltenwir nicht aus den Augen verlieren, dass es bei dieserWeiterentwicklung des Visumserleichterungsabkom-mens vor allen Dingen darum geht, das Reisen für Schü-ler, für Studenten, für Wissenschaftler, für Sportler, fürJournalisten zu erleichtern und vor allem Verwandtenbe-suche zu ermöglichen.
Letztendlich geht es um die Stärkung der russischen Zi-vilgesellschaft. Auf diesem Wege trägt die EU dann zurweiteren Demokratisierung in Russland bei. Wenn Sie sowollen, handelt es sich dabei um eine aktuelle Form desPrinzips „Wandel durch Annäherung“.
Eine Visumsbefreiung für Dienstpassinhaber ist beider Weiterentwicklung derartiger EU-Abkommen völligüblich. Eine solche Regelung ist auch im Zuge der Ver-handlungen als Zugeständnis gegenüber Russlandschlichtweg notwendig, um dann im Gegenzug die er-wünschten Erleichterungen für die Zivilgesellschaft zuerreichen.
– Da haben Sie völlig recht. Gerade in Bezug auf Russ-land muss man das Für und Wider eines solchen Zuge-ständnisses sehr genau abwägen. Das tun wir auch.Die Bundesregierung hat sich deshalb gegenüber derKommission für eine deutliche Reduzierung der Privile-gien für diese Dienstpassinhaber ausgesprochen. ImFalle von Missbrauch einer solchen Regelung muss einWiderruf oder eine Aussetzung möglich sein. Vor demHintergrund der aktuellen Entwicklungen in Russlandstellt sich auch die Frage, ob zum jetzigen Zeitpunkt einesolche Regelung wirklich angebracht ist. Das wird vonder Kommission im Zuge der Beratungen zu berücksich-tigen sein.Nun zu dem zweiten Thema: keine Visumspflicht fürMenschen aus dem Westbalkan. Auch hier sollte man dieRealität sehr genau in den Blick nehmen. Seit 2009 sindalle Staatsangehörigen aus den Staaten Serbien, Monte-negro und Mazedonien, die einen biometrischen Passbesitzen, visumsfrei. Das Gleiche gilt seit 2010 fürAlbanien sowie Bosnien und Herzegowina. Die Visums-freiheit ist für die Bürgerinnen und Bürger dieser Länderder greifbarste Vorteil, wenn es um die Annäherung anEuropa geht.
Sie ist auch ein wichtiger Anreiz, wenn es darum geht,Reformen in diesen Ländern voranzubringen.Auf der anderen Seite müssen sich diese Länder na-türlich an die bestehenden Regelungen halten. Es kannnicht sein, dass die Gewährung von Visumsfreiheit vorallem dazu führt, dass massenweise unbegründete Asyl-anträge in Deutschland oder in anderen EU-Staaten, zumBeispiel in Frankreich, Schweden und Luxemburg, ge-stellt werden. Wir alle kennen die Zahlen. Dennoch seimir gestattet, sie am Beispiel von Serbien zu nennen. ImDezember 2009, also in dem Jahr, als die Visumsfreiheitgeschaffen wurde, gab es lediglich 900 Asylanträge. ImJahr 2012 waren es bereits rund 13 000 Erst- und Fol-geanträge, und das vor dem Hintergrund, dass Serbienein Beitrittskandidat ist. Nach Einschätzung der europäi-schen Grenzschutzagentur Frontex und des Europäi-schen Asylunterstützungsbüros haben wir in diesem Jahrmit weiteren Steigerungen zu rechnen.Mir ist wichtig, zu betonen: Bei alledem liegt die An-erkennungsquote in Deutschland nahe null. Wenn über-haupt, gibt es subsidiären Schutz in ganz wenigen Fäl-len, in denen zum Beispiel eine bestimmte medizinischeBehandlung nur in Deutschland und nicht im Herkunfts-land durchgeführt werden kann.Es ist nicht hilfreich, wenn einige SPD-Landesinnen-minister öffentlich verkünden, dass es über die Winter-monate ein Bleiberecht für Menschen aus diesen Staatengibt. Das führt natürlich zu einer zusätzlichen Sogwir-kung und setzt Anreize, unser Asylsystem zu missbrau-chen. Das ist nicht gut. Solche Aussagen sollte man zu-mindest nicht öffentlich machen.Die Probleme der Staaten des Westbalkans lassen sichnicht dadurch lösen, dass wir eine unkontrollierte Migra-tion in die EU ermöglichen. Unsere Nachbarstaaten aufdem Westbalkan können sich auf unsere Solidarität undUnterstützung verlassen. Sie müssen aber auch selbstihre Probleme insbesondere in Bezug auf Minderheitenlösen. Die Lebensbedingungen für diese Menschen müs-sen sich vor Ort verbessern. Wir können das nicht da-durch lösen, indem wir es ihnen ermöglichen, Asylan-träge in Deutschland zu stellen.
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Parl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder
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Es darf auch nicht hektisch reagiert werden, wie dasder Bundesinnenminister teilweise getan hat, indem ereine Verkürzung der Asylverfahren, eine schnelle Rück-führung, die Wiedereinführung der Visapflicht und sogareine Einschränkung und Reduzierung des Asylbewerber-leistungsrechts verkündet hat. Das sind nicht die richti-gen Antworten, die die Probleme lösen. Das ist auchnicht der Weg zu einem geeinten Europa. Wenn man – sowie bei der Finanzkrise – Missstände bekämpfen will, istes, denke ich, notwendig, auch gemeinsam Armut in Eu-ropa zu bekämpfen. Auch das soziale Gesicht Europasmuss entwickelt werden. Beim Asylbewerberrecht gehtes dann darum, auch das Einzelfallrecht im Auge zu be-halten und nicht zu pauschalieren.
Deswegen ist die Abschaffung der Visafreiheit völligfalsch. Sie ist genauso falsch wie eine öffentliche Dra-matisierung, die großen Schaden anrichtet.Mit der öffentlichen Dramatisierung verhält es sichbei dem anderen Thema genauso – da sollte man auchsehr sensibel sein –: Keine Visafreiheit für Inhaber vonrussischen Dienstpässen. Der ursprüngliche Titel lauteteja ganz anders:
Keine Visafreiheit für den Repressionsapparat.Russland hat in den letzten Jahren eine bewegte Ent-wicklung durchgemacht: von der Diktatur, vom KaltenKrieg, vom kalten Kapitalismus mit ersten demokrati-schen Schritten, die als solche auf die Menschen andersgewirkt haben, hin zum blanken Kapitalismus ohneSchutz und ohne Rechte und schließlich zu einem star-ken Staat, bei dem wir zunehmend wahrnehmen, dass fürDemokratie nach oben noch viel Spielraum besteht.Wenn wir darüber diskutieren, wie wirtschaftlicheund gesellschaftliche Entwicklungen stattfinden, geht esdarum, dies zu berücksichtigen. Deutschland hat ganzenge Beziehungen zu Russland. 7 000 deutsche Unter-nehmen sind in Russland tätig. 2 Millionen Menschen inRussland lernen Deutsch. Es gibt 90 Städtepartnerschaf-ten. Im Austausch von Wirtschaft, Jugend, Kultur undWissenschaft gibt es ein enges Geflecht. Das alles wäreunter einem durch und durch strukturierten Repressions-apparat gar nicht möglich.
Es geht dabei auch um eine Differenzierung im Hinblickauf die Menschen in diesem Apparat.Wir haben das Thema nun zum dritten Mal auf derTagesordnung. Es ist die dritte Russland-Debatte inner-halb eines halben Jahres. Schon in der ersten Debatte ha-ben wir deutlich gemacht, dass uns die Zurückdrängungvon Freiheiten, das Gesetz gegen die Nichtregierungsor-ganisationen, die Verfolgung von Menschen, die versu-chen, sich demokratisch zu betätigen, die Einschränkungder Versammlungs- und der Demonstrationsrechte, dieGesetze gegen die sexuellen Minderheiten, das intensiveVorgehen der Sicherheitskräfte in Form von Hausdurch-suchungen bzw. Verhaftungen derjenigen, die ihre demo-kratischen Freiheiten wahrnehmen wollen, genauso we-nig gefallen wie der Ausschluss von Parlamentariern aus
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Franz Thönnes
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Aber man wird dem nicht gerecht, wenn die Antwortjetzt darin gesucht wird, all diejenigen, die im Staats-dienst sind, unter den gleichen Verdacht zu stellen, undgenauso pauschalisiert wird. Das hilft überhaupt nichtweiter, insbesondere dann nicht, wenn man sich in die-sem Haus in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe und inallen Reden und Anträgen permanent für Visafreiheiteinsetzt und die Bundesregierung kritisiert, weil sie imKern mit dem Fuß auf der Bremse steht.Hier geht es um ein kleines Stück Visaliberalisierung,einen kleinen Schritt, bei dem wir deutlich sagen sollten:Lasst ihn uns gehen, und lasst auch hier die Einzelfall-prüfung zur Anwendung kommen. Wenn klar ist, dasseinige versuchen, sich missbräuchlich oder trotz nachge-wiesener Straftaten und Repression Zutritt zu verschaf-fen, dann haben sie keinen Zutritt. Dann muss das zuspüren sein. Aber wir sollten nicht generalisieren.Deswegen ist das, was die Bundesregierung jetzt un-ternimmt, ein Schritt in die richtige Richtung. Er ist abervöllig unzureichend, weil alles andere, was gesagt wor-den ist, dazugehört. Wir müssen über Wissenschaft re-den. Wir müssen über Jugend reden. Wir müssen überStudenten, über Sport und über Wirtschaft reden. Hierbrauchen wir mehr Freiheiten. Hier brauchen wir mehrLiberalisierung.Es ist wichtig, jetzt nicht ein Spiel nach dem Motto zubetreiben „Wer legt die nächste Sprosse auf der Leiterhöher?“, sodass man sich nachher in Höhen befindet, ausdenen man nicht mehr hinunterkommt und nicht zur De-eskalation beigetragen kann. Denn sonst wäre WillyBrandts Ostpolitik mit der Strategie vom Wandel durchAnnäherung nie so erfolgreich gewesen, wie sie es dennam Ende war.
Die Fortschritte, die wir zwischen Sankt Petersburgund Helsinki, zwischen Kaliningrad und Danzig und inden Häfen an der Ostsee im Rahmen der Visaliberalisie-rung beobachten können, sind Beispiele dafür, dass esgeht.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ja. – Russland hat die Europäische Menschenrechts-
konvention unterschrieben. Diese Werte müssen in die
Praxis umgesetzt werden. Daran werden wir Russland
messen. Aber ein gemeinsames Werteverständnis wer-
den wir nur dadurch erreichen, dass wir die Kooperation
auf allen Ebenen vertiefen und im Zusammenhang mit
diesen Werten die Kooperation miteinander lernen.
Das Fazit dieser Debatte kann eigentlich nur sein
– das sage ich ganz klar und deutlich –: bestehende Visa-
freiheit erhalten, Armut in Europa genauso ernsthaft be-
kämpfen wie die Finanzkrise und Schritt für Schritt zu
mehr Visafreiheit in Europa gelangen.
Das Wort hat Hagen Reinhold für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Tatsache ist, dass es mehr als zwei Jahrzehnte nach demFall der Berliner Mauer immer noch nicht gelungen ist,die Visaschranken zwischen dem Schengen-Raum undden Nachbarstaaten im Osten und Südosten Europas ab-zubauen.Wie wichtig gerade in der jetzigen Zeit Fragen vonVisa und Aufenthalt sind, zeigt, dass der Innenausschussbereits am Montag bei einer Anhörung über den Statusvon Türken in Deutschland und ihre Aufenthaltsrechtedebattiert hat.Heute sprechen wir über Visaabkommen mit Russ-land und dem Westbalkan. Anstoß dieser AktuellenStunde sind die aktuellen Verhandlungen der EU mitRussland über ein erweitertes Visaabkommen, sicherlichauch die jüngsten Durchsuchungen bei ausländischenNGOs, darunter auch der Konrad-Adenauer-Stiftung,durch russische Behörden. Ohne diese Maßnahmenrechtlich bewerten zu wollen: Das entspricht natürlichnicht der Art und Weise des Umgangs unter Freunden.
Wie immer macht auch hier der Ton die Musik, und sol-che Töne gefallen uns ganz und gar nicht.Andererseits müssen wir ab und an auch den Blicknach Deutschland richten und uns an die eigene Nasefassen. Wenn die Bundespolizei, wie der Spiegel aktuellberichtet, zum Beispiel eine russische Studentin mit,wohlgemerkt, gültigem Visum in einer unerträglichenWeise aus einem ICE befördert, da nach den AGBs derBahn der russische Ausweis nicht bei Onlinebuchungenzulässig ist, dann sollte uns das ebenfalls zu denken ge-ben. Bilder werden nämlich auf beiden Seiten aufgegrif-fen.
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Hagen Reinhold
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durch Reisen Erfahrungen mit freien, demokratischenund marktwirtschaftlichen Gesellschaften wie jenen inder EU zu machen.
Sie haben das beim Thema Westbalkan erwähnt. Dannsollten wir das den Russen erst recht zugestehen.
Wie wollen wir es sonst schaffen, eine starke Zivilgesell-schaft zu erreichen?Am stärksten werden von den Neuregelungen des Ab-kommens daher Vertreter der russischen Zivilgesell-schaft profitieren, also Staatsangehörige gerade ohneDienstpässe. Ein solcher Gedanken- und Kulturaus-tausch kommt der Zivilbevölkerung, den Studenten oderauch den NGOs zugute. Das liegt in unserem ureigenenInteresse und im Interesse der russischen Bürger. Visa-schranken bremsen den Austausch von Ideen und Wert-vorstellungen in Europa und bremsen auch Wachstum.Ein neues Visaerleichterungsabkommen zwischen derEU und Russland ist zudem aus russischer Sicht als Zwi-schenschritt auf dem Weg zur Abschaffung der allgemei-nen Visumpflicht für Reisen in den Schengen-Raum zusehen.Aber auch für unsere Wirtschaftsbeziehungen ist essinnvoll, die Einreise für Geschäftsleute zu erleichtern.Fast die Hälfte des deutschen Bruttoinlandsprodukts wirddurch Exporte von Waren und Dienstleistungen erwirt-schaftet. Mehr als jede andere Volkswirtschaft in Europaist Deutschland deshalb auf internationale Geschäftskon-takte und auf einen reibungslosen Reiseverkehr angewie-sen. Das Visaverfahren ist Deutschlands Aushängeschildim internationalen Standortwettbewerb.
Als Abgeordneter aus der Küstenregion in Mecklen-burg-Vorpommern weiß ich, dass dies für unsere Ge-schäftsleute vor Ort von besonderer Bedeutung ist. Dennwer mit dem Schiff von Russland nach Deutschlandfährt, fährt am besten über Mecklenburg-Vorpommern.Dabei ist die Visabürokratie ein erheblicher Zeit- undKostenfaktor für deutsche und russische Unternehmen.Die Visumpflicht behindert Geschäftskontakte und ge-genseitige Investitionen, erschwert den Austausch vonFachkräften und verursacht Wettbewerbsnachteile im in-ternationalen Konkurrenzkampf.Als Folge der demografischen Entwicklung inDeutschland wird die Zahl ausländischer Fachkräfte inden kommenden Jahren gesteigert werden müssen.Deutschland benötigt daher eine echte Willkommenskul-tur.
Die schnelle Liberalisierung des Visasystems im Hin-blick auf die östlichen Nachbarstaaten der EU ist dafüreine Grundvoraussetzung – genau wie auf dem Westbal-kan.Tatsache ist jedoch, dass wir ein Problem mit Zuwan-derern aus dieser Region haben. Aber das ist meinerMeinung nach zum größten Teil ein deutsches Verwal-tungsproblem in Bezug auf die Behandlung der Asylan-träge. Deswegen sollte man noch nicht voreilig die Vi-sumpflicht wieder einführen;
das wäre eine viel zu harsche Reaktion. Bei der Kosten-Nutzen-Rechnung überwiegt weiterhin der Nutzen derVisumfreiheit.Die Sorge der Grünen, dass die Annäherung jungerMenschen vom Westbalkan an die EU durch eine zeit-weilige Visumpflicht verhindert werde, ist angesichts
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Hagen Reinhold
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Als mögliche Reaktion auf künftige Fälle eines be-sonders starken Anstiegs der Asylbewerberzahlen disku-tiert die EU die vorübergehende Suspendierung der Vi-sumfreiheit – ein Gedanke, über den diskutiert werdenmuss. Dabei wird die Bundesregierung in den Verhand-lungen durchsetzen, dass genau das nur auf Vorschlagder EU-Kommission möglich ist. Eine dauerhafte Auf-hebung der Visumfreiheit für Staatsangehörige vomWestbalkan, egal woher dort, ist deshalb völlig indisku-tabel.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Kollege, dies war Ihre erste Rede; Sie sind
Nachrücker. Ich gratuliere Ihnen und wünsche Ihnen al-
les Gute.
Das Wort hat jetzt Sevim Dağdelen für die Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächstzu dem einen Thema, dem geplanten EU-Mechanismuszur Wiedereinführung der Visumpflicht, unter anderembei angeblichem Asylmissbrauch. Ich muss darauf hin-weisen: Die Linke hat schon vor einem Jahr in parlamen-tarischen Anfragen auf den Skandal aufmerksam ge-macht, dass die Abschottungspolitik der EuropäischenUnion dazu führt, dass die Reisefreiheit von Menschenaus den Westbalkan-Ländern eingeschränkt wird, insbe-sondere im Hinblick auf Roma aus Serbien und Mazedo-nien.Damals hatte die EU-Kommission gerade ihren erstenVorschlag für einen Aussetzungsmechanismus in Bezugauf die Visafreiheit vorgelegt. Inzwischen ist die politi-sche Entscheidung auf der EU-Ebene leider längst gefal-len. Dass heute eine Aktuelle Stunde dazu angesetztwurde, zeigt, dass es Ihnen – damit meine ich die CDU/CSU, aber auch die Grünen – um etwas anderes geht.Darauf komme ich etwas später noch einmal zu spre-chen.Ich muss sagen, dass man an rassistischer Hetze indiesem Land mittlerweile einiges gewohnt ist. Mein Vor-redner sprach von einer nötigen Willkommenskultur. Ichmöchte Sie bitten, eine solche Forderung einmal an Ih-ren Bundesinnenminister Friedrich zu richten.
Wie zum Beispiel im Fall des SPD-Mitglieds Sarrazinmuss erst die UNO diesem Land den Spiegel vorhalten,was Rassismus ist. Aber das, was wir von InnenministerFriedrich an Hetze gegen Roma vom Balkan gehörthaben, übertrifft wirklich alles. Roma werden von Ihnenmit saloppen Sprüchen pauschal als Asyl- und Sozial-hilfemissbraucher verleumdet. Sie leisten damit inDeutschland einem Klima Vorschub, in dem ein lebens-gefährlicher – tatsächlich lebensgefährlicher – Rassis-mus möglich ist.Um es ganz deutlich zu sagen: Auch ein Herr Bundes-minister Friedrich ist ein Fall für den UN-Antirassismus-Ausschuss.
Dieser Bundesinnenminister spannt auch noch das Bun-desamt für Migration und Flüchtlinge mit einer bislangbeispiellosen Mobilmachung dafür ein, dass Asyl-suchende aus Serbien und Mazedonien in einem zuletztnur siebentägigen Schnellverfahren abgelehnt wurden.98 Prozent aller Asylablehnungen bei serbischen Flücht-lingen im letzten Quartal des Jahres 2012 lauteten auf„offensichtlich unbegründet“, und das trotz der erhebli-chen Diskriminierung und auch Ausgrenzung von Romain Serbien. Das ist Ihnen offensichtlich gleichgültig.Ich muss mutmaßen: Aber hat die BundeskanzlerinAngela Merkel wieder einmal gelogen, als sie im Okto-ber 2012 bei der Enthüllung des Denkmals für die vomNationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma vorgab,„wo auch immer und innerhalb welcher Staatsgrenzenauch immer sie leben“, für die Rechte von Roma undSinti kämpfen zu wollen? Einerseits sagt sie das, ande-rerseits schickt sie im Jahr 2012 ihren Innenminister los,um gegen nicht einmal 12 000 Roma aus Serbien undMazedonien – die Hälfte von ihnen Kinder – zu hetzen.Da fragt man sich: Warum nur?Die Antwort kann nur sein: Die Bundesregierung willihren Wahlkampf auf dem Rücken der Migrantinnen undMigranten austragen.
Das ist unerträglich. Die Linke ist gegen diese rassisti-sche Hetze. Ich sage Ihnen, Herr Kollege: Sie werdendamit nicht durchkommen.
Was aber die Fraktion der Grünen angeht, bin ichnicht minder erschüttert. Ich finde es völlig daneben,wenn Sie die Visapolitik
für außen- und innenpolitische Anliegen instrumentali-sieren. Sie tun der Visafreiheit einen Bärendienst, wennSie hier lauthals gegen Visaerleichterungen schreien undbrüllen. Was ist das nur für ein Signal, wenn Sie auf dereinen Seite gegen Visaerleichterungen sind und auf deranderen Seite sagen, Sie sind für die Visafreiheit für dieMenschen aus dem Westbalkan!
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Sevim Dağdelen
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Es ist skandalös, wenn Sie in Ihrem Beitrag von Hetzeusw. sprechen. Es erschüttert mich direkt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich werde, wie eshier schon kritisiert wurde, die beiden Themen dieserAktuellen Stunde nicht vermischen, sondern konzen-triere mich auf den Teil eins.Frau Beck, Ihre Einschätzung der Lage in Russlandteile ich. Meine Sorgen spiegeln sich in Ihrem Beitragwider: die Unregelmäßigkeiten bei der Präsidentschafts-wahl, die Durchsuchungen bei deutschen Stiftungen, dieunerhört harten Strafen gegenüber der Mädchen-Punk-band, die Verschärfung des Demonstrationsgesetzes usw.Da haben Sie sicher recht. Das alles zeigt: Russland kon-trolliert aktive Bürger, kriminalisiert kritische Engage-ments und stellt langjährige Partner unter Generalver-dacht.
Ich bin unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel da-her sehr dankbar, dass sie auf der Hannover Messe sehrklare und kritische Worte gegenüber Wladimir Putin ge-funden hat und eine starke Zivilgesellschaft angemahnthat. Ich wäre sehr dankbar, wenn der ehemalige Bundes-kanzler Gerhard Schröder, der ja ein Männerfreund vonWladimir Putin ist, auch einmal sehr deutliche Wortesprechen würde. Aber ich komme aus Hannover und lesedort in den Zeitungen, wie sich die beiden herzen, wiesie sich treffen, wie sie ein Bier oder einen Wein trinken.Dazu gehört auch einmal ein deutliches Wort der Kritik.Das vermisse ich sehr.
Ein kritischer Umgang und Dialog mit Russland istdringend notwendig. Wir wollen ein Russland, das durchRechtsstaatlichkeit, Demokratie und Transparenz ge-prägt ist. Darauf werden wir weiter intensiv hinwirken.Aber Russland ist auch und vor allem für die deutscheWirtschaft ein sehr wichtiger Partner.
In Russland sind mittlerweile 6 300 deutsche Unterneh-men mit Tochterfirmen und Repräsentanzen aktiv.Deutschland ist der zweitgrößte Handelspartner Russ-lands nach China. Vom Handel mit Russland hängen beiuns 300 000 Arbeitsplätze ab. Ihre Reden sollten Sie ein-mal vor den Firmen halten, die einen starken Exportnach Russland haben.Darum: Statt auf Isolation müssen wir auf Koopera-tion setzen. Hier spielt die Visafrage grundsätzlich einewichtige Rolle. Wir werden weiterhin für Erleichterun-gen gegenüber Russland eintreten. Es ist deshalb auchfolgerichtig, dass sich Deutschland auf EU-Ebene kom-promissbereit zeigt. Damit der Ball für den Abschlussder Verhandlungen endlich wieder ins Rollen kommt,müssen wir weiter verhandeln; denn ohne eine Zusagewürde es keine weiteren Erleichterungen für Journalis-ten, Schüler, Studenten, Familien oder Geschäftsleutegeben; das ist klar.Fest steht, dass Russland nun in der Pflicht ist. DieDienstpässe müssen biometrisch sein. Gleichzeitig istdie Zahl der Personen, für die die Visafreiheit gelten soll,strikt einzugrenzen. Das sind sehr wichtige Bedingungenfür uns. Gleichzeitig erwarten wir aber auch von Russ-land Erleichterungen bei der Einreise von EU-Bürgern.Ich denke hier beispielsweise an den Abbau von Regis-trierungspflichten.Meine Damen und Herren, es steht außer Frage, dassVisaerleichterungen erforderlich sind. Sie helfen – daswurde schon mehrmals gesagt –, die Zivilgesellschaft zustärken. Sie sind gut für die politischen Beziehungen,und sie verbessern wirtschaftliche Kontakte. Eine Unter-
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Rita Pawelski
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Ein Beispiel: Deutsche und Russen kosten die gegen-seitigen Beantragungen von Visa jährlich geschätzte162 Millionen Euro. Rechnet man die Bürokratiekostender Unternehmen, die Verluste durch geplatzte Geschäfte,verhinderte Investitionen sowie Verwaltungskosten inden Konsulaten und an den Grenzen hinzu,
so kommt man ganz schnell auf mehrere Hundert Millio-nen Euro. Da wundert es nicht, dass 80 Prozent der deut-schen Unternehmen, die im Ost-Ausschuss organisiertsind, eine Abschaffung der Visapflicht gegenüber Russ-land befürworten. 56 Prozent der Unternehmen würdenim Falle vollkommener Visafreiheit mehr investieren.Mehr Investitionen vor Ort, also in Russland, heißt, dortneue Arbeitsplätze und neue Ausbildungsplätze zuschaffen. Das wiederum fördert und stärkt die Zivilge-sellschaft. Wir alle wollen doch in Russland die Zivilge-sellschaft stärken.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns in der Visa-frage weiterhin mit kritischer Vernunft und viel Augen-maß handeln – im Sinne der deutsch-russischen Partner-schaft, aber vor allem im Sinne der Menschen inRussland.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Hans-Werner Ehrenberg für die
FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Da-men und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esist verschiedentlich angesprochen worden – ich kannmich dem nur anschließen –: Hier werden unter demOberbegriff „Visapolitik“ zwei völlig unterschiedlicheSituationen miteinander verknüpft. Das wirkt außer-ordentlich befremdlich, und ich finde, das riecht nachgrünem Populismus.
Ich will deshalb zunächst einmal auf die Situation aufdem Westbalkan eingehen. Die EU-Innenminister hattender Visafreiheit damals unter der Bedingung zuge-stimmt, dass die neuen Einreisemöglichkeiten nicht fürunbegründete Asylanträge missbraucht würden. Seit ei-nigen Monaten steht jedoch genau dieser Vorwurf imRaum. Der Herr Staatssekretär hat vorhin Zahlen dazugenannt. Ich möchte die einzelnen Anträge hier nicht be-werten; das steht mir auch gar nicht zu. Ich glaube, dasist Sache des Bundesamtes für Migration und Flücht-linge, und dieses Bundesamt macht eine gute Arbeit.Hier sind wir allerdings auch schon genau bei demPunkt, auf den ich aufmerksam machen möchte. Miss-brauch von Asylanträgen ist zunächst einmal ein deut-sches Verwaltungsproblem, kein politisches. Wenn nundie EU-Kommission in Brüssel die Aufhebung der Vi-sumfreiheit für eine bestimmte Zeit festlegen möchteoder sollte, dann wird die Bundesregierung alles daran-setzen – da bin ich mir sicher –, dass dies nur kurzzeitig,also für eine Übergangszeit, und nur bei Überschreitungbestimmter, strenger Kriterien der Fall ist.Eine endgültige und allgemeine Aufhebung der Visa-freiheit für den Westbalkan wäre eine viel zu harscheReaktion, die, nebenbei bemerkt, auch gar nicht denKern des Problems trifft; auch das ist hier verschiedent-lich in der Debatte angesprochen worden. Die Länderdes Westbalkan müssen sich selbst darum kümmern, dieLebensbedingungen ihrer Bürger zu verbessern, und da-bei sollten wir sie unterstützen.Nun zu dem zweiten Thema, das in dieser AktuellenStunde angesprochen wird. Wir von der FDP sehen inder Visafreiheit einen Hebel für Gedankenaustausch undkulturellen Dialog.
Natürlich sehen auch wir die innenpolitische Situation inRussland sehr kritisch. Frau Merkel ist in diesem Zu-sammenhang erwähnt worden. Auch unser Bundes-außenminister Westerwelle hat klare Worte mit Vertre-tern der russischen Regierung gesprochen, als es zumBeispiel um unsere Stiftungen ging.Wer sich aber jedem Dialog verweigert und bei jedemaufkommenden Problem gleich reflexartig Abstrafungfordert, der denkt einseitig. Gerade weil wir mit Russ-land in vielen Dingen nicht einer Meinung sind, weil wirwissen, dass Russland zum Teil willkürlich handelt,müssen wir den Austausch fördern und den Dialog inten-sivieren. Eine Visafreiheit stärkt genau jenen zivilgesell-schaftlichen Dialog, den wir so dringend mit Russlandbenötigen; denn sie käme vor allem der Zivilbevölke-rung zugute.Die EU verhandelt jetzt mit Russland über Visa-erleichterungen – für Jugendgruppen, für NGOs, für dieZivilgesellschaft. Ich kann Ihnen versichern, dass wirexzellente, äußerst erfahrene Diplomaten haben, die esnicht zulassen, dass am Ende des Tages womöglich frag-würdige Personengruppen von der Ausgestaltung der Vi-safreiheit für Dienstpassinhaber in Russland profitierenwerden. Wir respektieren unseren Partner Russland; aberwir werden ihm auch nichts schenken, sondern sehr ge-nau darauf achten, worauf wir uns hier einlassen.Meine sehr verehrten Damen und Herren von denGrünen, Ihnen geht es – das muss ich Ihnen leider vor-werfen – einzig und allein darum, jede Gelegenheit aus-
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Hans-Werner Ehrenberg
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Das ist keine Außenpolitik, das ist Populismus in Wahl-kampfzeiten. Wir von der FDP sind in beiden Fällen füreine möglichst weitreichende Visapolitik; denn wir sindder Überzeugung, dass bei einer Kosten-Nutzen-Rech-nung der Nutzen der Freiheit immer überwiegt.Schönen Dank.
Das Wort hat nun Memet Kilic für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenKolleginnen und Kollegen! Lieber Herr KollegeEhrenberg, Sie haben einiges von dem, was wir hier dis-kutiert haben, nicht verstanden. Sie unterstellen uns,dass wir im Titel der Aktuellen Stunde zwei unterschied-liche Themen vermischen und in einen Topf werfen, dienichts miteinander zu tun haben. Sie irren sich. BeimWestbalkan geht es darum, bereits gewährte Visumfrei-heiten nicht zurückzunehmen. Bei Russland geht es da-rum, dass wir den russischen Staatsbürgerinnen undStaatsbürgern Visumfreiheit einräumen wollen, und da-rum, wie wir das gestalten.
Das ist der Zusammenhang; das sollten Sie sich merken.Wir gehen nicht gegen die russischen Bürgerinnenund Bürger, unsere Freundinnen und Freunde, vor, son-dern legen den Finger auf die Wunde. Wenn es irgendwoeinen Repressionsapparat gibt, dann ist es die Pflicht vonBündnis 90/Die Grünen, in aller Welt darauf hinzuwei-sen. Das tun wir auch.
– Liebe Frau Kollegin Dağdelen, da Sie sich gerade hiermelden, darf ich erwähnen: Auch Sie haben einigesdurcheinandergebracht. Sie haben uns beschimpft, weilwir die Visumerleichterungen der Bundesregierung nichtgutfinden. Gleichzeitig haben Sie selbst diese Visum-erleichterungen kritisiert. Da müssen Sie sich bitte ent-scheiden. Sie müssen Ihre Rede noch einmal lesen. Es istwirklich widersprüchlich.
Ihre Haltung ist ein bisschen komisch. Lesen Sie IhreRede noch einmal. Dann werden Sie merken, dass Sie ei-niges durcheinandergebracht haben.
Als Jurist und Obmann im Petitionsausschuss erfahreich viel über die Praxis der Visavergabe. Viele Petitionenzu Problemen in der Praxis werden eingereicht. Ebensolanden viele Klagen in den Kanzleien und Gerichten.Die Unzufriedenheit ist groß und kein Einzelfall. So-wohl im In- als auch im Ausland beschweren sich sehrviele Menschen darüber.Nehmen wir als Beispiel die Visaregeln für Russland,einem der wichtigsten Handelspartner von Deutschland.Mit einem so wichtigen Handelspartner bedarf es einesumfangreichen Reiseverkehrs und eines ausgezeichnetenAustauschs. Nicht nur wirtschaftlichen Austausch, son-dern auch Austausch zwischen Schulen, Universitätenund Vereinen sollte es geben. Doch leider scheitern vieleBegegnungen an der Visapflicht und der restriktivenVergabepraxis. In der Praxis gibt es viele Hürden: zumBeispiel der große Umfang an geforderten Unterlagen,die Notwendigkeit des persönlichen Erscheinens bei denKonsulaten, der hohe Zeit- und Kostenaufwand und dielange Bearbeitungszeit. Allzu oft stellt sich heraus, dassdas ganze Engagement umsonst gewesen ist, weil manam Ende nur eine Ablehnung erhält.Die Bundesregierung hat vor einem Monat ein neuesVisaabkommen mit Russland verkündet. Viele habeneine generelle Visafreiheit für russische Staatsbürger er-wartet und wurden enttäuscht. Denn die Visafreiheit giltnur für Inhaber russischer Dienstpässe. Das sind – sageund schreibe – etwa 15 000 Staatsbedienstete.
Also erhalten vor allem die Leute Visafreiheit, die fürdie Unterdrückung gegenüber der Zivilgesellschaft ver-antwortlich sind. Möchte man damit genau diese Leutefür Ihre Unterdrückungspolitik in Russland auch gegen-über ausländischen Stiftungen belohnen, liebe Freundin-nen und Freunde?
Warum soll es keine Visafreiheit für die ganze Bevölke-rung geben? Warum fürchtet man sich so sehr vor visa-freiem Besuch aus Russland? Liebe Kolleginnen undKollegen, das ist ein falsches Signal an die russische Be-völkerung.Aufgrund zahlreicher Erfahrungen beurteile ich dieVisapolitik der Bundesregierung als sehr engstirnig undnicht gerade tolerant. Wenn das Auswärtige Amt die Vi-sitenkarte unseres Landes in der Welt ist, dann haben wirzurzeit eine sehr abweisende Visitenkarte. Das muss sichdringend ändern, meine Damen und Herren.
Am schlimmsten an dieser Debatte finde ich die Hal-tung der Bundesregierung zur Einreise von Serben undMazedoniern.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013 29569
Memet Kilic
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In einer solchen Debatte dann auch noch von Asyl-missbrauch und Asylflut zu sprechen und mit den Zahlengnadenlos zu übertreiben, ist wieder einmal typisch fürdie Union. Das ist ausländerfeindliche Stimmungsmacheim Wahljahr. Das werden wir nicht tolerieren.Die Roma müssen in ganz Europa geschützt werden.Gerade Deutschland hat dabei eine historische Verant-wortung. Ein Denkmal für die im Nationalsozialismusermordeten Roma zu errichten, anschließend aber füreine ernste Bedrohung für die Roma in Serbien zu sor-gen, ist ein riesiger Widerspruch und deshalb beschä-mend.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich fordere deshalb die Bundesregierung auf, den
Menschen aus Serbien und Mazedonien die Visafreiheit
nicht zu entziehen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Karl-Georg Wellmann für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als dieGrünen am Montag diese Aktuelle Stunde beantragt ha-ben, hat ihr Geschäftsführer Volker Beck eine Presse-erklärung veröffentlicht, die so infam ist, dass ich kurzdarauf eingehen möchte. Herr Beck schreibt: Die Bun-desregierung würde Menschen gegen die Roma aufsta-cheln, der Innenminister selbst würde die Fluchtgründedieser Menschen schaffen,
die Bundesregierung würde Repressionsapparate unter-stützen. – Das sprengt wirklich jeden Rahmen, selbst imWahlkampf, Frau Kollegin Beck.
Besonders die Behauptung, wir würden die deutsche Be-völkerung gegen die Roma aufstacheln und damit Hetzegegen Ausländer betreiben, ist bodenlos. Sie verlassendamit die gemeinsame Basis der Demokraten in diesemLand.
Herr Beck schreibt noch: Die Visapolitik der Bundes-regierung „nähert sich ihrem historischen Tiefpunkt an“.Das Gegenteil ist richtig. Seit Dezember 2010 könnenMenschen aus Serbien, Montenegro, Mazedonien, Alba-nien und Bosnien-Herzegowina visafrei in die EU einrei-sen. Daran hat die Bundesregierung im Rahmen der EUaktiv mitgewirkt. Sie haben während Ihrer Regierungs-zeit nichts dergleichen bewirkt, Frau Beck.Auch für Osteuropa gilt, dass wir Grenzen überwin-den müssen, statt neue Barrieren zu errichten. Das heu-tige Visaregime ist für uns aus vielen Gründen selbst-schädigend; einige Vorredner haben bereits daraufhingewiesen. Aber mit Ihrem Gerede, man solle jetztwieder Visaeinschränkungen vornehmen, Frau Beck,spielen Sie denen in die Hände, die die EuropäischeUnion nach außen abschotten wollen.
Das ist rückwärtsgewandt wie vieles, was von den Grü-nen jetzt kommt.
Die Menschen in West- und vor allem in Osteuropawollen eines: Sie wollen Arbeit und Wohlstand. Geradein Osteuropa haben sie einen Anspruch darauf, dass esvorwärtsgeht. Dazu brauchen wir Handel und Wandel,und das geht eben nicht mit einem strengen Visaregime.
– Sie sagen: So ist es. Aber Arbeitsplätze werden nichtin Ihren esoterischen Parteizirkeln geschaffen, FrauBeck, sondern draußen an der Front.
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29570 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013
Karl-Georg Wellmann
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Meine Damen und Herren, Frau Beck, ich habe keineAngst vor Inhabern von Dienstpässen. Lassen wir siedoch kommen, und argumentieren wir mit ihnen. Übri-gens sind viele, die wir beide kennen, dabei, die viel fürihr Land tun wollen und nach Europa wollen. Die wollenwir nicht draußen halten.
Es ist und bleibt richtig, dass wir vordemokratische Ge-sellschaften weder mit einer penetranten Wertepädago-gik noch durch Sanktionen und Verbote ändern.Frau Beck, im Umgang mit dem Ausland ist mir beiIhnen zu viel Betroffenheitsrhetorik und zu wenig prak-tische Außenpolitik im Spiel.
Marieluise und Volker Beck, was wir wirklich nichtbrauchen, ist Ihre Oberlehrerattitüde, die sich fatal da-nach anhört: An deutschem Wesen soll die Welt genesen.
Aus dieser muffigen Ecke sollten Sie möglichst schnellrauskommen.
Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen ein schönes Wo-chenende.
Letzter Redner in dieser Debatte und des heutigen Ta-
ges ist Kollege Helmut Brandt für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren im Plenum, aber insbesondere aufden Zuschauerrängen!
– „Das Volk hat die Mehrheit“, Herr Thönnes, Sie habenrecht, und das ist auch gut so.Als Wladimir Putin im März des vergangenen Jahreserneut zum Präsidenten gewählt wurde, haben sicherlichviele von uns gehofft, dass er unter Beweis stellt, dassdie Einschätzung des früheren Bundeskanzlers GerhardSchröder – Herr Staatssekretär Schröder hat eben daraufverzichtet, das auszuführen, aber ich kann es Ihnen nichtersparen –, er sei ein lupenreiner Demokrat, zutrifft.Doch statt mehr Nachsicht und Toleranz wurden in kür-zester Zeit gesetzgeberische und juristische Maßnahmenergriffen, die auf eine wachsende Kontrolle aktiver Bür-ger abzielen und kritisches Engagement bestrafen. Soweit, denke ich, sind wir alle einer Meinung.Dennoch verwundert Ihr Antrag auf Begrenzung derVisafreiheit, Frau Beck;
denn im Grunde genommen steht er in Widerspruch zuIhrem Antrag vom 13. Juni 2012, in dem Sie die Libera-lisierung der Visapolitik fordern.
Wenn Sie aber fordern, dass alle visafrei einreisen kön-nen sollen, dann wären auch die von Ihnen nicht so sehrGewünschten mit dabei. Das ist ein Widerspruch in sich.
Bei zwischenstaatlichen Beziehungen – Frau Beck,das ist Ihnen von mehreren zu Recht gesagt worden;auch Herrn Thönnes kann ich insofern nur beipflichten –macht der Ton die Musik. Sie werden wohl nicht bestrei-ten wollen, dass der Dialog zwischen Russland und derEU hinsichtlich der weiteren Visapraxis von erheblicherBedeutung ist. Da stört schon die sonst nur bei den Lin-ken gängige Formulierung „Repressionsapparat“. Das istkein Ansatz für eine sachliche Auseinandersetzung.Eine Visafreiheit für Inhaber biometrischer Dienst-pässe gibt es im Übrigen derzeit nicht; das wissen Sie.Sie kann und sollte allenfalls nur als Zwischenschritt zuder auch von Ihnen angestrebten Visumfreiheit ins Augegefasst werden. Ein solcher Zwischenschritt wäre aller-dings nach unserer Auffassung dann nicht kritikwürdig.Unstreitig sollte im Übrigen auch sein, dass bei denweiteren Verhandlungen alles unternommen werden soll,eine Angleichung bei Fragen gemeinsamer Wertvorstel-lungen und rechtsstaatlicher Standards zu erreichen. Diejetzigen Repressalien gegen die Konrad-Adenauer-Stif-tung, gegen die Friedrich-Ebert-Stiftung und andere er-füllen uns natürlich mit Sorge. Dennoch ist Russland fürDeutschland der wichtigste strategische Partner jenseitsder östlichen Grenzen der EU. Wir sind in vielen Berei-chen aufeinander angewiesen: beim Klimaschutz, inEnergiefragen, in Fragen der gemeinsamen europäischenSicherheit, bei der Abrüstung oder bei der Lösung inter-nationaler Konflikte wie beispielsweise mit dem Iran.Teil dieser Partnerschaft mit Russland ist natürlich auchdie Erwartung von Respekt und einer fairen Behandlungvon Zivilgesellschaft und Nichtregierungsorganisatio-nen.Wir als Koalition sind dafür, den Visadialog mit Russ-land mit dem Ziel fortzuführen, zu Visumerleichterun-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2013 29571
Helmut Brandt
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(Dvon Frau Dağdelen genutzte Formulierung einer „Mobil-machung“ des Bundesamtes für Migration und Flücht-linge. Lassen Sie solche Formulierungen doch einfachsein.
Ich will einmal die wirklichen Zahlen nennen. 2012gab es immerhin – nur aus Serbien – 12 812 Asylbewer-ber. Damit wird Ihre Behauptung, Frau Beck, und die Ih-res Kollegen gleichen Namens Lügen gestraft, dass diesalles angeblich nicht der Fall sei. Wir gehen vielmehr da-von aus, dass die Zahl im Jahr 2013 noch weiter anstei-gen wird.Vor dem Hintergrund der Bedingungen, die dieseMenschen, die mit dem Wunsch nach einem besserenLeben hierherkommen, in ihren Heimatländern vorfin-den, ist der rasche Anstieg natürlich nicht verwunder-lich. Aber ausgerechnet die sozialdemokratisch geführ-ten Kommunen in meinem Heimatland Nordrhein-Westfalen sind es gewesen, die nach Hilfe gerufen ha-ben.
von Ihnen erzeugten Eindruck gibt es derzeit einen sol-chen Antrag nicht. Das hat im Übrigen aber auch mitAsylrecht überhaupt nichts zu tun. Die Kritik von Bünd-nis 90/Die Grünen, dass mit einer solchen Regelung dasRecht auf Asyl diskreditiert würde, überzeugt schon des-halb nicht, weil die Anerkennungsquote, wie mehrfachgesagt, gleich null ist.Sie hätten uns diese Aktuelle Stunde besser erspart.Schönes Wochenende.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 24. April 2013, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen ein
heiteres Wochenende.